Böttiger-Lektüren: Die Antike als Schlüssel zur Moderne. Mit Karl August Böttigers antiquarisch-erotischen Papieren im Anhang 9783050094199, 9783050059549

Karl August Böttiger, über den man oft, ohne ihn zu lesen, schreibt, wird hier als Autor ernst genommen. CONRAD WIEDEMAN

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German Pages 452 [456] Year 2012

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Böttiger-Lektüren: Die Antike als Schlüssel zur Moderne. Mit Karl August Böttigers antiquarisch-erotischen Papieren im Anhang
 9783050094199, 9783050059549

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Der Altertumskenner im Garten der Moderne
Böttiger trifft Schadow
Der Wortführer der Bürgerkultur
Poesien der Warenwelt
Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet?
Das Land der Griechen mit dem Körper suchend
Vorstellungen und Visionen von einem idealen Antikenmuseum
Juno die Schwanzsaugerin
Anhang: Karl August Böttigers antiquarisch-erotische Papiere
Bildnachweise
Personenverzeichnis
Danksagung

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Böttiger-Lektüren

René Sternke (Hg.)

Böttiger-Lektüren Die Antike als Schlüssel zur Moderne Mit Karl August Böttigers antiquarisch-erotischen Papieren im Anhang

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandkonzept: hauser lacour Einbandgestaltung: pro:design, Berlin, unter Verwendung einer Fotografie der sog. Aphrodite (Venus) Kallipygos (Gipsabguss in der Mengs’schen Sammlung, Inv. ASN 2369, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden) Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005954-9

Inhaltsverzeichnis

René Sternke: Der Altertumskenner im Garten der Moderne. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Conrad Wiedemann: Böttiger trifft Schadow. Fachgeschichtliche und kulturtopographische Voraussetzungen des Briefwechsels zwischen Karl August Böttiger und Johann Gottfried Schadow . .

1

Klaus Gerlach: Der Wortführer der Bürgerkultur. Karl August Böttigers Diskurs über das Theater . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Bernhard Fischer: Poesien der Warenwelt. Karl August Böttigers Messberichte für Cottas Allgemeine Zeitung . . . . . .

55

Peter Witzmann: Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet? Karl August Böttigers Carmina Graeca für den Prinzen Johann von Sachsen

75

Felix Saure: Das Land der Griechen mit dem Körper suchend. Karl August Böttigers Äußerungen über Agonistik und Athleten in Hellas . .

111

Kordelia Knoll: Vorstellungen und Visionen von einem idealen Antikenmuseum. Karl August Böttigers Texte zur Dresdner Antikensammlung . . . . . . . . .

159

René Sternke: Juno die Schwanzsaugerin. Karl August Böttigers erotisch-antiquarische Studien . . . . . . . . . . . . . Anhang: Karl August Böttigers antiquarisch-erotische Papiere . . . . . . . .

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Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V

Der Altertumskenner im Garten der Moderne Einführung Freunde! kommt in meinen Garten, Den gefühlten, den modernen. Goethe Als sich der junge Philologe Karl August Böttiger in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts auf das literarische Parkett wagte, war der Antiquar bereits eine komische Figur geworden, schien Polyhistors Glück sein Ende gefunden zu haben.1 Dieses Prestigeverlusts der klassischen Gelehrsamkeit war sich der junge Gubener Rektor durchaus bewusst. Dass man dazu übergegangen war, die Lektüre deutscher Bücher in den Schulunterricht einzubeziehen, war bereits Ausdruck der Krise, in welche das Studium der alten Sprachen geraten war. Und so lehnt Böttiger in seiner 1787 erschienenen Schrift Ueber den Misbrauch der Deutschen Lectüre auf Schulen und einigen Mitteln dagegen die neue Methode auch gar nicht grundsätzlich ab, sondern regt unter Verweis auf seine eigene pädagogische Praxis dazu an, sie einer Kontrolle und Steuerung zu unterwerfen. Im Zentrum dieses Vorgehens steht die Selektion geeigneter Autoren, die er mit den Ausdrücken ›Klassiker‹ und ›Nationaldichter‹ bezeichnet. Für diese gilt: Die vortreflichsten Stücken unserer deutschen Klaßiker sind Nachbildungen der Alten: und man versteht und genießt unsere guten Schriftsteller nicht einmal ganz, wenn man nicht durch das Studium der Alten zu ihrem Verständnis vorbereitet und gleichsam eingeweiht ist.2

Auf diese Weise lieferte Böttiger nicht nur das Kriterium zum Erkennen der Klassiker und Nationaldichter, sondern gab auch dem Studium der Alten die Würde, die Bedeutsamkeit und die Funktion wieder, um welche es die Pedanten gebracht hatten. Festzuhalten ist, dass Böttiger zwar davon ausgeht, dass es bereits deutsche klassische 1 Vgl. Ingo Herklotz: Der Antiquar als komische Figur. Ein literarisches Motiv zwischen Querelle und altertumswissenschaftlicher Methodenreflexion, in: Ulrich Heinen (Hg.): Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, 2 Bde., Wiesbaden 2011, Bd. 1, S. 141– 182. – Conrad Wiedemann: Polyhistors Glück und Ende. Von Daniel Georg Morhof zum jungen Lessing, in: Ders.: Grenzgänge. Studien zur europäischen Literatur und Kultur, hg. von Renate Stauf und Cord-Friedrich Berghahn, Heidelberg 2005, S. 107–132. 2 Karl August Böttiger: Ueber den Misbrauch der Deutschen Lectüre auf Schulen und einigen Mitteln dagegen, Leipzig 1787, S. 29.

VII

René Sternke

Schriftsteller gebe, die er zum Teil auch nennt, dass er die Produktion klassischer Werke aber keinesfalls als abgeschlossen ansieht und sich keineswegs sämtlichen aktuellen Strömungen entgegenstellt. Einige davon lehnt er allerdings aus moralischen Gründen ab: Der arme, durch solche Geist- und Herzverderbliche Lectüre verwahrloßte Schüler und Jüngling schüttelt Regeln, Grundsätze, Ordnung, Application, alles von sich ab, überspringt mit seiner durchglühten, in eine idealische Romanenwelt entzückten Phantasie alle Gränzen seiner wirklichen Verhältnisse, wird selbst Romanenheld, verführt unschuldige Mädchen, oder fällt, in Ermangelung jener, in die Fallstricke feiler Dirnen, vertändelt seine Zeit, versplittert sein Geld, wimmert, siegwartisirt, singt Mondenserenaden, wird ein Geck, ein fader Süßling, wird unglücklich auf immer – oder er geräth ins tragische, wird ein Kraftgenie mit großen Stiefeln und knotichtem Stock, wertherisirt, oder repräsentirt, wie die unglücklichen Schüler in Leipzig, Schillers Räuber in natura. Und aus solchen Knaben und Jünglingen sollen Männer mit Thatkraft und Strebsamkeit, mit Selbstverleugnung fürs Gemeinwohl, und Muth im Selbsthandeln, sollen würdige Bürger, Gatten, Väter werden? Eine herrliche Generation, die diese Zuckerpuppen, oder Kraftmänner einst geben werden! 3

Hier stehen Goethe und Schiller, die den Sturm und Drang repräsentierenden Urheber des Werther und der Räuber, als Vertreter einer verderblichen Tendenz in einer Reihe mit Johann Martin Miller, dem für die Empfindsamkeit stehenden Verfasser der Klostergeschichte Siegwart. Mit der Weigerung, seiner Zeit zu folgen, eilt Böttiger ihr voraus, denn sein Festhalten an der Mustergültigkeit der Alten wird ihn einige Jahre später vorübergehend zum Weggefährten und Mitstreiter jener hier noch abgelehnten Autoren machen, die dann ihrerseits in der Nachahmung der Alten eine mögliche Antwort auf aktuelle Fragestellungen und einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise der Literatur erblicken. In Goethes Italiänischer Reise heißt es in einer mit dem Datum 28. Januar 1787 publizierten, doch erst später verfassten Passage: Die zweyte Betrachtung beschäftigt sich ausschließlich mit der Kunst der Griechen und sucht zu erforschen, wie jene unvergleichlichen Künstler verfuhren, um aus der menschlichen Gestalt den Kreis göttlicher Bildung zu entwickeln, welcher vollkommen abgeschlossen ist und worin kein Hauptcharakter so wenig als die Uebergänge und Vermittlungen fehlen. Ich habe eine Vermuthung, daß sie nach eben den Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur verfährt und denen ich auf der Spur bin.4

Der Ruf nach dem Klassischen geht generell und somit wie bei Goethe und Schiller auch bei Böttiger mit einer Verwerfung der gegenwärtig vorherrschenden Tendenzen einher: 3 Ebenda, S. 16f. 4 Johann Wolfgang von Goethe: Italiänische Reise, in: Ders.: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 27, Stuttgart, Tübingen 1830, S. 265. – Olaf Kramer bemerkt dazu: »Diese These ist in den unbearbeiteten Dokumenten des Reisenden noch nicht erkennbar.« Olaf Kramer: Goethe und die Rhetorik, Berlin, New York 2010, S. 155.

VIII

Der Altertumskenner im Garten der Moderne Und doch, welch ein himmelweiter, unendlicher Abstand vom Schriftsteller- und Bücherwesen Griechenlands in den frühen Zeiten eines Plato, bis zu den Meßkatalogen, allgemeinen Bibliotheken und der ganzen leidigen Büchermacherei des jezt laufenden Zeitalters! 5

Dass Böttiger an dieser Position Zeit seines Lebens festhält, wird ihn keineswegs hindern, später selbst schwärmerische Messberichte zu verfassen und beliebige Neuerscheinungen auf Bitten der Buchhändler anzupreisen. Bereits der junge Böttiger weiß, dass nicht nur das Klassische, sondern auch die von ihm und den Klassikern abgelehnten modernen Tendenzen ihren Stammbaum bis in die Antike zurückverfolgen können und dass bereits »die ausgearteten Abkömlinge« der Griechen »zusammengestoppelte Blumenlesen und Romane« hervorgebracht hatten und die Alten nicht nur »in jedem wahrhaft Schönen so früh Originale aufzuweisen« hatten, sondern, »als ihr Geschmack schon tief herabgesunken, und durch überverfeinerte Cultur für mänliche Einfalt und Größe abgestumpft war«, auch die »Auswüchse müßiger oder üppiger Einbildungskraft« kennengelernt hatten.6 Die Wahrnehmung einer nichtklassischen Antike, sei sie nun archaisch, dekadent oder christlich, lässt sich bereits in dieser Frühschrift, in der Böttiger für eine deutsche Klassik eintritt, nicht ganz unterdrücken. Später wird Böttiger die Antike nicht nur als Muster, sondern immer wieder auch als warnendes Beispiel für die Gegenwart aufstellen und die klassischen und romantischen Bildungsprojekte, die auf einer Idealisierung der Antike beruhen, damit erheblich stören. Für ihn ist der Bruch mit dem Altertum trotz allen vielfältigen Aktualisierungsmöglichkeiten endgültig und er verweist in seinen Vorlesungen zur Kunst-Mythologie auf Herders Pygmalion, in welchem es heißt: Das Neue kommt; das Alte ist verschwunden. Was wir bedürfen, ist, der Menschen Herzen Von innen aus zu bilden, zu erziehn. Sie für gemeinsam Wohl in Freud’ und Schmerzen Tief zu erregen, daß sie göttlich glühn.7

Herder deutet die ästhetisch vollendeten Kunstwerke des Altertums als Versinnlichungen sittlicher Ideen. Diese moralische Funktion weist auch Böttiger der Kunst zu. Böttiger sieht in der Kunst den Ausdruck einer Religion und spricht den Religionen eine Versittlichungsfunktion zu. Die Überlegenheit der antiken Kunst gegenüber der modernen sieht er darin, dass die Alten den Menschen in seiner Schönheit und Lebensfülle gestaltet haben. Über die Schicksalsgöttinnen etwa bemerkt er: »Warum sollten sie immer als alte Mütterchen erscheinen? Das Altertum hatte auch 5 Böttiger: Ueber den Misbrauch der Deutschen Lectüre (wie Anm. 2), S. 3f. 6 Ebenda, S. 4. 7 Johann Gottfried Herder: Pygmalion. Die wiederbelebte Kunst. Erster Gesang, in: Adrastea, 1801, 2. Bd., S. 210–220, hier S. 217. – Vgl. dazu Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus. Stammbaum der Religionen des Alterthums. Einleitung zur vor-homerischen Mythologie der Griechen. Aus den für seine Zuhörer bestimmten Blättern herausgegeben, Dresden, Leipzig 1826, S. 164.

IX

René Sternke

hier vergnüglichere Bilder.« 8 Mit diesen Worten knüpft Böttiger an Lessing an. Dieser benennt in seiner Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet noch einen weiteren Vorzug der antiken Kunst gegenüber der modernen, welcher für Böttigers Beschäftigung mit der Antike richtungweisend war: Hier nehme ich einen Satz zu Hülfe, von welchem sich nur wenige Ausnahmen finden dürften. Diesen nehmlich, daß die Alten die sinnliche Vorstellung, welche ein idealisches Wesen einmal erhalten hatte, getreulich beybehielten. Denn ob dergleichen Vorstellungen schon willkührlich sind, und ein jeder gleiches Recht hätte, sie so oder anders anzunehmen: so hielten es dennoch die Alten für gut und nothwendig, daß sich der spätere dieses Rechtes begebe, und dem ersten Erfinder folge. Die Ursache ist klar: ohne diese allgemeine Einförmigkeit, ist keine allgemeine Erkenntlichkeit möglich.9

Die antike Kunst wird somit als eine allgemeinverständliche Formensprache aufgefasst. Böttiger unterscheidet natürliche und künstliche Zeichen. Dabei sind nicht nur die einzelnen Gestalten Bedeutungsträger, sondern es bestehen auch syntaktische Beziehungen zwischen denselben. So untersucht Böttiger etwa, wie die mythologischen Figuren in Handlungen eingebunden sind. Wenn Böttiger auf eine genaue Bestimmung des antiken Formengebrauchs hinstrebt, handelt es sich nicht um selbstgenügsame Pedanterie, sondern um ein hermeneutisches Unternehmen, wie es die Grundlage für ein Verstehen der antiken Kunstwerke und eine Erneuerung der alten Kunst ist. In diesem Sinne arbeitet Böttiger bereits in seiner Weimarer Zeit an verschiedenen größeren Werken, etwa einem mythologischen Lexikon, das sein Koautor Friedrich Mayer schließlich allein herausgeben wird, oder einer Didaskalie des antiken Theaters, deren Vorarbeiten handschriftlich überliefert sind. In der Res scenica heißt es über die Masken: Man hatte nur ein bestimmtes Ideal für jede Heldenrolle, das durch das Gesicht verschiedener Histrionen die Täuschung nicht gestört werden konnte. Hercules, Oedipus, Agamemnon sahen stets s o aus. Jederman erkannte ihn sogleich, wenn er auftrat. Die Vortheile dieser Bestimmung haben die neuen Italiener ihrer einen Narrenrolle (Zanni) sehr gut eingesehn.10

Diese Forschungen, die sich gleichermaßen der Rekonstruktion der antiken Grundtypen (der Ideale) und der Untersuchung ihrer Adaptionen in der nachantiken Zeit widmeten, hatten direkte Auswirkungen auf die klassizistischen Experimente in Weimar und Berlin:

8 Karl August Böttiger: [Antiquarische Analecten, 2. Sammlung, Nr. 74, aus Allgemeine LiteraturZeitung. 1799. Nr. 104], in: Ders.: Kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts, gesammelt und hg. von Julius Sillig, 3 Bde., Dresden, Leipzig 1837/38, Bd. 2, S. 369–371, hier S. 370. 9 Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet: eine Untersuchung. 1769, in: Gotthold Ephraim Lessings vermischte Schriften. Zehnter Theil, Berlin 1792, S. 103–225, hier S. 119f. 10 Karl August Böttiger: Res scenica, Msc. Dresd. Dd 230, 24, ohne Blattzählung.

X

Der Altertumskenner im Garten der Moderne Die kostbare, schwer nachzubildende Maske können wir uns in unserer Nussschale vom Theater füglich ersparen. Aber falsche Nasen und ein Stirnstück sind doch anzurathen. Als von Einsiedel in Weimar seine Brüder nach Terenz zum ersten Male auf die Bühne brachte, glaubten Heinrich Meyer und ich, als wir uns mit Göthe darüber beriethen, doch die an Stirnstreifen zu befestigenden Nasen nicht entbehren zu können. Sie haben unstreitig diese Brüder mit der colorirten Bildertafel, wie sie bei Göschen in Leipzig erschienen ist. Nach diesem Vorbilde sind sie wohl acht Jahre hinter einander in Berlin unter Iffland gegeben worden –.11

Die gemeinsame Suche nach den Formen und Regeln, welche für die Alten verbindlich gewesen waren, sowie nach Möglichkeiten, sie unter veränderten Bedingungen zu reaktualisieren, verband Böttiger, Goethe und ihren gemeinsamen Freund Johann Heinrich Meyer in einer mehrjährigen, sehr produktiven Arbeitsgemeinschaft. So entstand Böttigers Aufsatz Die Furienmaske im Trauerspiele und auf den Bildwerken der alten Griechen12 aus dem Jahre 1801, wie das Publikum aus dem Journal des Luxus und der Moden erfahren konnte, in engem Zusammenhang mit der Aufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris: Ein ganz neues und überraschendes Tableau bildet der Chor der Furien, die den Orest umschlingen. Ihre Costumirung ist ganz nach den Angaben des Alterthums und nach antiken Vasengemälden veranstaltet worden, worüber neulich der Hr. OCR. Böttiger eine eigene Schrift mit colorirten Abbildungen ins Publikum gebracht hat, die auch als ein Beytrag für Schauspieldecorationen angesehen werden muß. Das Bunte der Kleidung, die Windungen der Schlangen, das Schwingen der Fackeln, alles thut in der theatralischen Zusammenstellung eine sonderbar befremdende, schauerliche Wirkung und rechtfertigt den Geschmack des Alterthums, der uns auch hierin noch immer Vorbild und Richtschnur seyn sollte.13

In einer Anmerkung dazu weist das Journal des Luxus und der Moden nicht allein auf Böttigers Furienmaske hin, sondern erläutert auch die praktische Umsetzung der Böttiger’schen Forschungen in der Goethe’schen Inszenierung: »Die auf der 2ten Kupfertafel nach einer in Paris befindlichen Vase abgebildete Furie diente hier zum Modell.«14 Der Philologe und Archäologe Böttiger, der Maler und Kunsthistoriker Meyer und der Dramatiker und Theaterleiter Goethe setzten ihre spezifischen Kompetenzen ein. Kunst und Wissenschaft wurden gleichermaßen befördert. So fand Böttiger bei der archäologischen Rekonstruktion der antiken Farbgebungen die Unterstützung Meyers:

11 Karl August Böttiger: Ueber die Sclaventracht der Fabula Palliata, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 292–294, hier S. 292. 12 Weimar 1801. 13 [Karl August Böttiger:] Weimar, den 5. Jan. 1801, in: Journal des Luxus und der Moden, Januar 1801, S. 30–32, hier S. 32. 14 Ebenda, Anm. *).

XI

René Sternke Die Forschungen die ich zum Behuf dieser Furienmasken anstellen mußte, waren in der That mühsamer, als ich anfänglich geglaubt hatte. […] Ohne den treuen Beistand unsers gelehrten Meyer wäre es mir unmöglich geweßen, die colorirten Tafeln dazu zu liefern. Die Farbengebung ist bei solchen antiken Gegenständen, wenn man nicht Gaukelspiele der Phantasie dafür verkaufen will, ungemein schwierig. Von dieser Seite, denk ich, ist nichts gethan worden, was ich nicht beweißen könnte, und darum verdient vielleicht dieser Versuch als der erste in seiner Art einige Nachsicht.15

Als Böttiger, der sich mit Goethe in Bezug auf die Aktualisierbarkeit antiker Moral uneinig war, die Goethe’sche Inszenierung der Adaption eines antiken Stücks vor allem mit moralischen Argumenten öffentlich kritisieren wollte, kam es zum Bruch. Wenn Böttiger auch den Autor des Anton Reiser bereits 1787 als einen Musterautor ansah, dessen »abschreckendes Gemälde eines lesesüchtigen Jünglings« er mit seinen Gubener Schülern »zur Warnung und Lehre aller Jünglinge« las,16 und den Autor der Anthusa, deren Programm einer »Weihung des würklichen Lebens«17 er adaptierte,18 1791 in Weimar unter »unsere Classiker« setzte,19 so übernahm er doch im Unter15 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, 16. November 1800, in: Karl August Böttiger: Briefwechsel mit Christian Gottlob Heyne, hg. von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 2012, Nr. 97, Z. 7–19. 16 Böttiger: Ueber den Misbrauch der Deutschen Lectüre (wie Anm. 2), S. 18f. 17 »Ich habe es versucht, die heiligen Gebräuche der alten Römer, in so fern sie bloß eine Re lig ion der Phantasie voraussetzten, und eigentlich nur eine Weihe des wür klichen Le b en s waren, durch eine Beschreibung ihrer Feste, anschaulich darzustellen. Ob nun jene alten Gebräuche noch itzt die Menschheit interessiren könne, beruht auf einer Vergleichung die sich sehr natürlich und von selbst darbietet.« Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe, hg. von Anneliese Klingenberg u. a., Bd. 4: Schriften zur Mythologie und Altertumskunde, Teil 1: Anthusa oder Roms Alterthümer, hg. von Yvonne Pauly, Tübingen 2005, S. 9. 18 Z. B. »Und so wie in Weimar und Berlin der 28 Aug. auch ferner noch durch sinnreich geordnete Festlichkeiten und Liedertafeln begangen und den Manen des Dichterfürsten in und außer der Schaubühne an diesem Tage noch manche Weihe dargebracht werden wird; so könnte ja, wie man einst dem Weisen von Gargettus alljährlich die ächte Cikade feierte, auch Goethe’s Geburtstag sich unter den Musen- und Naturfreunden immer erneuern.« Nach Goethe’s Tod, in: René Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs, Berlin 2008, S. 534–544, hier Z. 558–604. 19 Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von René Sternke und Klaus Gerlach, Berlin 1998, S. 47. – Dort heißt es über Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach: »Doch ist die Italienische Spr a che, in die sie unsere Classiker übersetzt und ihren Freundinnen in Rom u. Neapel zuschickt, wenn sie es vorher ihrem Bibliothekar, dem Rath Jagemann zur Prüfung vorgelesen hat, die Musik und die Malerei ihr Lieblingsgeschäft.« – Yvonne Pauly führt dieses wichtige Rezeptionszeugnis zur Anthusa nicht auf, da es weder ihr noch der Weimarer Archivarin Roswitha Wollkopf während der von Pauly eingehend geschilderten Bemühungen gelungen ist, die Handschrift des Weimarer Bibliothekars Christian Joseph Jagemann in den Manuskripten der Herzogin zu identifizieren, und beide die Literarischen Zustände und Zeitgenossen offenbar

XII

Der Altertumskenner im Garten der Moderne

schied zu Goethe das Moritz’sche Kunstautonomiekonzept nicht und trennte weder die Kunst von ihren vielfältigen sozialen Funktionen noch den Kunstgenuss von der Erotik, aus welchem Grunde ihm die Kunst der Alten in der modernen gemischtgeschlechtlichen Gesellschaft unmöglich zu sein schien. Hier erblickte Böttiger in Heinrich von Kleist einen Gleichgesinnten: S. Kleist’s Schriften von Tieck in Tiecks Vorrede p. XVI. Die Frauen sind zuletzt an dem ganzen Verfall unserer Buhne Schuld, und sie sollten entweder gar nicht ins Schauspiel gehn, oder eigene Buhnen haben, schreibt Kleist dort an einen Freund.20

Angesichts des Antagonismus von Kunst und Moral votierte Böttiger im Gegensatz zu Kleist nicht für die Kunst, sondern für die Moral und verspottete den von Goethe inszenierten Schlegel’schen Ion. Goethe ließ den Druckbogen des Journals des Luxus und der Moden konfiszieren, denn er duldete keine öffentliche Diskussion innerhalb von Weimar. An Wieland schrieb er über Böttiger: Da ihn nun der Weg ins Modejournal verrannt ist […], so wünschte ich nicht daß er den Merkur zum Gefäß seiner Unreinigkeiten ersähe. Mag er sich doch der auswärtigen Organe, nach Belieben bedienen! […] Wie ich denn auch, bey einer Anstalt, die ich, in Auftrag von meinem Fürsten, mit so vieler Aufopferung verwalte, wenigstens eine schickliche Behandlung von meinen Mitbürgern erwarten darf.21

Als Böttiger sich dann tatsächlich der auswärtigen Organe und in erster Linie Kotzebues Freimüthigen bediente, nutzte Goethe die Dichtung als Ventil. Publiziert wurden seine verbitterten Verse erst nach seinem Tode, mitkonstitutiv für die Weimarer Klassik wurden sie erst im Kaiserreich. In jener Zeit, die uns heute aufgrund der Entstehung einer klassischen Moderne fasziniert, wurden Goethes modernitätsfeindliche Verse zur Moderneabwehr eingesetzt. In diesem Zusammenhang wurden Böttiger, Kotzebue, Merkel und andere Pioniere der Moderne in Verruf gebracht. Die Herausbildung der Weimarer Klassik ereignete sich im Wesentlichen über Ausgrenzungsverfahren. In diesem Prozess hatten verschiedene Autoren, wie am Beispiel Kotzebues nachgewiesen worden ist,22 die Funktion von Sündenböcken zu übernehmen, deren Misshandlung und Ausstoßung der Festigung des sozialen nicht kannten. Vgl. Karl Philipp Moritz: Anthusa (wie Anm. 17), S. 414f. sowie S. 439–443 (Dokumente zur Rezeptionsgeschichte). – Böttigers Zeugnis vom 4. November 1791 gestattet eine »genaue Datierung der Niederschrift über den Terminus post quem […] hinaus«, wie sie laut Pauly »bei dem gegenwärtigen Kenntnisstand nicht möglich« sei, vgl. ebenda, S. 416. 20 Res scenica (wie Anm. 10). 21 Johann Wolfgang von Goethe an Christoph Martin Wieland, Weimar, 13. Januar 1802, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 15.1, bearb. von Thomas Lindenberg und Siegfried Scheibe, Berlin 2004, Nr. 542, Z. 13–16, 25–27. 22 Simone Winko: Negativkanonisierung: August v. Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: Renate von Heydebrand: Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart, Weimar 1998, S. 341–364.

XIII

René Sternke

Zusammenhalts diente. Dieser Vorgang vollzog sich vor allem während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, in jener Zeit, in der die monumentalen Ausgaben der Weimarer Klassiker entstanden. In dem von Goethe und Schiller unter dem Titel Xenien veranstalteten literarischen Rundumschlag befinden sich die späteren Sündenböcke jedoch noch unter vielen und stehen nicht einmal im Vordergrund. Viel augenfälliger ist in diesen mit ihrem Titel an eine Publikation Böttigers anknüpfenden geschriebenen Neujahrsgeschenken23 die Front, welche in ihnen gegen Berlins großstädtischen Kulturbetrieb aufgebaut wird und deren Ausbau während des Kaiserreichs die Wahrnehmung einer mit der Weimarer Klassik konkurrierenden Berliner Klassik verhindert hat.24 Böttiger selbst kommt in den in Schillers MusenAlmanach publizierten Xenien nicht einmal vor, wohl aber in Goethes unveröffentlichten Xenien und den erwähnten satirischen Gedichten, die schon bald nach Goethes und Böttigers Tod erschienen und auch 1893 im Nachlassband der Weimarer Ausgabe ihren Platz unter den Gedichten fanden, wobei die Verschlüsselungen der früheren Ausgaben nun teilweise aufgehoben wurden. Häufig werden Böttiger und Kotzebue in diesen Spottgedichten im selben Atemzug genannt. Da heißen K… und B… »Die gründlichsten Schuften, die Gott erschuf«, deren eigenster Beruf es sei, »Die Menge zu kirren und zu krauen«.25 Da erscheint Böttiger als der »Herr Überall«, der sich anschickt, »Den Lumpenbrei der Pfuscher und der Schmierer / Mit B † r zum Meisterwerk zu stempeln«.26 Vorgeworfen wird ihm also, falsche Wertmaßstäbe zu setzen. Weiterhin heißt es über B. und K., dieser liefere Hexen – womit auf Böttigers 23 »Auch die Alten hatten ihre Fr ucht- und Küchenstücke in der Malerei und nannten sie von der ersten und vorzüglichsten Veranlassung Gastgeschenke. […] Sie hiessen mit einem griechischen Worte, das die Römer mit der Sache selbst beibehielten, Xenia. […] Doch so bequem und kostensparend es auch sein musste, statt eines wirklichen wilden Schweines nur ein Täfelchen mit einem gemalten Schweine […] zu schicken, so erfand doch Wirthschaftlichkeit und der Wunsch, diese Geschenke bei’m Gedränge der Menschen in einer ungeheuer bevölkerten Stadt bald in’s Unendliche vervielfältigen zu können, bald ein neues Mittel, da mit baaren Worten auszuzahlen, wo man, die Sachen wegzuschenken, nicht Lust oder nicht Geld genug hatte. Es fanden sich gutwillige Dichter, die für die Bücher- und Scripturenhändler in Rom, wahrscheinlich für einen sehr mässigen Ehrenpfennig, kleine Gedichtchen, die nur aus zwei Reihen bestanden und daher ganz eigentlich D i s t i ch a hiessen, zu Dutzenden und Schocken ausfertigten und darin alle Gegenstände besangen, die nur verschenkt werden konnten.« Karl August Böttiger: Gemalte und geschriebene Neujahrsgeschenke der alten Römer, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 8), Bd. 3, S. 302–306, hier S. 303, ebenda, Anm. *) sowie S. 305. – Der Aufsatz erschien zuerst im Januarheft des Journal des Luxus und der Moden, Goethes und Schillers Xenien darauf in Schillers Musen-Almanach auf das Jahr 1797. 24 Zur Berliner Klassik vgl. René Sternke: Les classicismes comme systèmes culturels de référence, in: XVII e siècle, Nr. 254, 64. Jg., Nr. 1, Paris 2012, S. 117–129, hier S. 125–129. 25 Johann Wolfgang von Goethe: K… und B…, in: Ders.: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 5,1, Weimar 1893, S.173. 26 Johann Wolfgang von Goethe: Triumvirat, ebenda, S. 172.

XIV

Der Altertumskenner im Garten der Moderne

Ilithyia oder die Hexe, archäologisches Fragment nach Lessing 27 angespielt wird –, jener Huren: »Und beide hören sich aus einer vollen / Parterrecloak’ bejubeln und beklatschen«.28 Vorgehalten wird Böttiger und Kotzebue ihr Erfolg bei einem Publikum, welches nicht weniger stark als seine Helden beschimpft wird. Für die Urteilsunfähigkeit dieses Publikums macht Goethe Böttiger und Kotzebue verantwortlich. In dem Gedicht Gottheiten zwei, ich weiß nicht wie sie heißen – zeichnet er sie als Gottheiten »Von böser Art«, die »dem deutschen Volk ein Unheil bringen« wollen: Sie lachten gräßlich, fingen an zu formen Schlecht schlechten Teig, und kneteten beflissen. Figuren waren’s; aber wie . . . . . Das sind nun Bött’ger, Kotz’bue, die Enormen! 29

Immer wieder assoziiert Goethe Kotzebue und Böttiger mit dem Fäkalen, um die Wert- und Formlosigkeit ihrer Werke zu charakterisieren. Dem Redakteur des Journals der Moden wirft er vor, dass er nicht »was des Menschen Geist / So aus sich selbst entwickelt«, »Ein Wissen das in’s Ganze strebt / Und Kunst auf Fundamenten«, hervorbringe, sondern vielmehr sein Wissen gleich der Mode, »wie Fall und Zufall weis’t, / Confus zusammenstückelt«.30 In Der neue Alcinous attackiert Goethe Kotzebue, der seinen an der Jena mit Weimar verbindenden Straße gelegenen Garten in ein Zentrum bürgerlicher Geselligkeit verwandelt hatte. In dieser Satire werden Böttigers Werke als unverdaulich charakterisiert: Hahnebutten wählte Bött’ger Aus Pomonen’s bunten Kindern; Leidlich schmecken sie durchfrostet, Doch sie kratzen mich im H . . . . . .31

Der Garten, in welchem Böttigers und Kotzebues ungenießbare Früchte angebaut werden, ist der Garten der Moderne: Laßt mir den Phäaker schlafen! Jenen alten, jenen fernen; Freunde! kommt in meinen Garten, Den gefühlten, den modernen.32

Auch hier, im Neuen Alcinous, knüpft Goethe an eine Schrift Böttigers an, indem er dessen Argumentation im Grunde aufgreift, denn in den Racemationen zur Garten27 Karl August Böttiger: Ilithyia oder die Hexe, archäologisches Fragment nach Lessing. Als Einladung zu einer Schulfeierlichkeit den 4 ten October 1799, Weimar 1799. 28 Johann Wolfgang von Goethe: B. und K., in: Ders.: Goethes Werke, Bd. 5,1 (wie Anm. 25), S. 171. 29 Johann Wolfgang von Goethe: Gottheiten zwei, ich weiß nicht wie sie heißen –, ebenda, S. 174. 30 Johann Wolfgang von Goethe: Journal der Moden, ebenda, S. 170. 31 Johann Wolfgang von Goethe: Des neuen Alcinous erster Theil, ebenda, S. 164–166, hier S. 165. 32 Ebenda, S. 164.

XV

René Sternke

kunst der Alten merkt Böttiger kritisch an, wie wenig Beachtung die Gartenkunst der Alten gefunden habe, hätten die einschlägigen Werke doch »die Phäakischen Obstgärten des Alcinous mit einem bedeutenden Kopfschütteln an sich vorübergehen« lassen.33 Er unternimmt in dieser Studie eine archäologische Rekonstruktion zweier in der Odyssee gelieferter Muster antiker Gartenarchitektur, des Gartens des Alkinoos und der Grotte der Kalypso, um den Nachweis zu erbringen, dass die antike Gartenkunst der neuen, die in einer Horace Walpoles bekanntes Werk zitierenden Anmerkung als mo der n g ardening bezeichnet wird,34 durchaus nicht nachgestanden habe. Allerdings deutet Böttiger bereits die antiken Gärten als »romantische«35 Antizipationen der modernen Gartenkunst, erinnert »an die liebliche Grotte der Amaryllis bei’m Theokrit III, 13., in welche der schmachtende Hirt als summendes Bienchen durch Epheu und Farrenkräuter, die sie umweben, eindringen möchte«,36 und macht die Schilderungen in der Odyssee kompatibel mit einem empfindsamen Diskurs, für den bereits Homers antiker Garten ein »gefühlter« ist: Der weise Dichter überlässt es der Phantasie seiner Zuhörer, diese zauberische Naturanlage nun im Einzelnen noch weiter auszustatten, und sie so verschwenderisch zu begaben, dass selbst ein Unster blicher mit süssem Staunen dabei ver weile. Gewiss, mit diesem einzigen Zuge malte der Dichter weit mehr als mit Allem, was Tasso und Ar iost in den Feengärten Armidens und Alcinens, jener jüngeren Schwestern der Kalypso, versammeln, oder Mar in o und Sp en cer in den ungezügelten Ausschweifungen ihrer Phantasie aufhäufen konnten.37

Hier sieht Böttiger den Triumph der Antike über die Moderne darin, dass die Gartenkunst der Alten das mo der n g ardening an Modernität noch übertrifft. Dem modernen, nach süßem Staunen und ungezügelten Ausschweifungen seiner Phantasie dürstenden Publikum wusste Böttiger die Antike auf diese Weise schmackhaft zu machen, bei den Verfechtern eines Klassizismus, der den Objektbereich der Kunst auf die gemäßigte und gebändigte Natur reduzieren wollte und die Gemütsfreiheit des Rezipienten reklamierte, erregte er damit nicht minder starken Unwillen als ein Kotzebue, der dem Altertum zugunsten der Moderne eine klare Absage erteilte.38 Modern war auch Böttigers starke Betonung der dionysischen Züge der Antike, an der sich Goethe ebenfalls störte. Goethes negatives Urteil erstreckt sich auf die Persönlichkeit wie auf das Werk Böttigers. Die traditionell und wohl mit Recht 33 Karl August Böttiger: Racemationen zur Gartenkunst der Alten, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 8), Bd. 3, S. 157–185, hier S. 157. 34 Ebenda, S. 173, Anm. *). 35 »Von diesen romantischen Umgebungen der Grotte, wo Kalypso waltete […].« Ebenda, S. 185. 36 Ebenda, S. 182, Anm. †). 37 Ebenda, S. 182. 38 Vgl. dazu René Sternke: Distinktionsverlust, Charakterverfall, Modernität, in: Klaus Gerlach (Hg.): Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland. August Wilhelm Iffland als Theaterdirektor, Schauspieler und Bühnenreformer, Berlin 2009, S. 31–77, hier vor allem S. 68.

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Der Altertumskenner im Garten der Moderne

auf Böttiger bezogene Stelle aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe leitet das gescheiterte Wirken Böttigers aus seinen charakterlichen Schwächen her: *** hätte bey seinem großen Talent, bey seiner weltumfassenden Gelehrsamkeit der Nation v ie l seyn können. Aber so hat seine Characterlosigkeit die Nation um außerordentliche Wirkungen und ihn selbst um die Achtung der Nation gebracht.39

Dass sich die Stelle tatsächlich, wie bisher einhellig von den Germanisten angenommen, auf Böttiger bezieht, ist darum wahrscheinlich, weil in dem ihr vorausgehenden Abschnitt die in den Invektiven erhobenen Vorwürfe gegen das Böttiger’sche Networking (»seine Characterlosigkeit«) wiederholt werden: Einer hegt und trägt den Andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große ist ihnen widerwärtig, und sie möchten es gerne aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten.40

Goethes Dikta bilden den Kern des späteren negativen Böttigerbildes, in welchem heterogene Elemente verarbeitet worden sind. Die Genese dieses Böttigerbildes kann hier nicht im Einzelnen untersucht werden. Skizziert werden sollen jedoch die Verschiebungen, welche es seit der Goethezeit und besonders in letzter Zeit erfahren hat. Einige der Komponenten eines negativen Bildes wurden bereits zu seinen Lebzeiten manifest und schon von Böttiger selbst bemerkt. So fällte Johann Traugott Leberecht Danz im Jahre 1800 in seinen anonymen Briefen eines ehrlichen Mannes bey einem wiederholten Aufenthalt in Weimar über Böttigers Person folgende, wie Böttiger selbst meinte, »sehr schneidenden Urtheile«,41 welche im Wesentlichen im Hause Herder über ihn gefällt worden waren: Bötticher habe ich nun näher kennen gelernt. Er sagte mir sogleich bey der ersten Unterhaltung, daß er den Tag, an dem er meine Bekanntschaft zu machen die Ehre gehabt hätte, unter die glüklichsten seines Lebens zähle. Welch Compliment! So soll er sich aber überall benehmen, jedem Artigkeiten und Süßigkeiten sagen, und sich unentbehrlich zu machen suchen. Ich weiß nicht, ob ein solches Verhältniß, aller Welt Freund zu seyn, im bürger39 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823–1832. Erster Theil, Leipzig 1836, S. 226. 40 Ebenda, S. 225f. 41 »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mittheilte, was ich nach Herders Tod aus dem Munde unsers Herzogs selbst weiß, daß er es war, der hinter meinem Rücken, als ich vor einigen Jahren den Antrag nach Copenhagen hatte und jeden Schritt den ich in dieser Sache that, näher mit ihm überlegte und seine Zubilligung dazu erhielt, ein sehr gehässiges Gutachten gegen mich ausstellte, so daß der Herzog selbst daran irre wurde, ja wenn ich Ihnen mittheilte, daß H[er]r Danz, jetzt Rector in Jena, einst auch Ihnen sehr wohlbekannt, einst unter dem Titel: Briefe eines freimüthigen Mannes über Weimar, sehr schneidende Urtheile über mich drucken ließ, die, wie sichs wunderbar geoffenbart hat, alle im Herderschen Hause über mich gefällt worden waren, wo der kriechende Schmeichler eine Zeitlang Zutritt hatte.« Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Weimar, 16. März 1804, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 15), Nr. 170, Z. 11–22.

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René Sternke lichen Leben statt haben kann, ohne bald den Einen bald den Andern zu compromittiren. Er muß eine ganz eigne sonderbare Erziehung gehabt haben, die ein solches Betragen bewirken konnte, oder er muß stets unter Menschen gelebt haben, die nicht fein genug waren, solche Schmeicheleyen nicht zu verlangen. Auch besizt er die Kunst alle Menschen zu seinem Vortheil zu nutzen.42

Die Böttiger durch Danz zugeschriebenen negativen Eigenschaften, Schmeichelei, Wichtigtuerei, Zudringlichkeit und Verschlagenheit, finden sich ein Jahrhundert später in Ludwig Geigers Charakteristik Böttigers wieder: Er hatte seine Fehler und Schwächen. Er war ein plumper Geselle, dessen Häßlichkeit Manchem widerwärtig sein konnte. Er war ein geschworener Lobredner und schmeichelte unmännlich den Hohen der Erde und den Großen des Geistes. Den Freuden der Tafel war er mehr hold, als einem Geisteskämpen zukam. Auch war er zudringlich und ein Wichtigthuer, gern spielte er den Geheimnißvollen und liebte den Klatsch. Auch krumme Wege ging er wohl, insbesondere bei wirklichen oder vermeintlichen Berufungen, um in den Augen Anderer seine Bedeutung zu steigern und seine Unentbehrlichkeit darzuthun.43

Böttigers negativen Charaktereigenschaften stellt der von den Herders in Kenntnis gesetzte Danz Böttigers Gelehrsamkeit entgegen: Was seine Gelehrsamkeit – besonders Philologie betrift – so habe ich nicht leicht einen Mann gesehn, der sie in einem so hohen Grade besizt. Ein wahrer Polyhistor, der jeden Schlupfwinkel im alten Rom und Griechenland, jede zerbrochene Vase im neuen kennt. Ja ich glaube, daß er unter den jetzlebenden Philologen Deutschlands der vielwissendste ist. Er besizt zugleich scharfsinnige Kritik und viel Liebe für die Künste.44

Dieses positive Urteil wiederholt Geiger noch im Jahre 1897: Seinen Fehlern und Schwächen aber standen bedeutende Vorzüge gegenüber. Er war ein Gelehrter von weit umfassendem Wissen, dessen philologische und archäologische Arbeiten, Aufsätze, Editionen, kritische Forschungen und darstellende Werke hochberühmt waren und noch heute geschätzt sind. Mit tiefeindringender Gelehrsamkeit verband er weiten Blick und die Gabe anmuthender Darstellung.45

Geiger erkennt Böttigers Arbeiten noch 42 Jahre nach dessen Tod anhaltende Wirkung zu. Konfrontieren wir diese Urteile mit der Rezension von Julia SchmidtFunkes Böttiger-Monographie durch Jochen Strobel, welcher die in jenem Buch vorgetragenen Urteile nach Abschälung des reichen positivistischen Fleisches freilegt, so beobachten wir eine deutliche Verlagerung der negativen Bewertung Böttigers von seiner Person auf sein Werk: 42 [Johann Traugott Leberecht Danz:] Briefe eines ehrlichen Mannes bey einem wiederholten Aufenthalt in Weimar, Deutschland [Altona] 1800, S. 80f. 43 Ludwig Geiger: Aus Alt-Weimar. Mittheilungen von Zeitgenossen nebst Skizzen und Ausführungen, Berlin 1897, S. 39f. 44 [Danz:] Briefe eines ehrlichen Mannes (wie Anm. 42), S. 81. 45 Geiger: Aus Alt-Weimar (wie Anm. 43), S. 40.

XVIII

Der Altertumskenner im Garten der Moderne Der Altertumswissenschaftler und Journalist Karl August Böttiger lebt vor allem als Karikatur. […] Die wohl bis heute bekannteste unter Böttigers Namen erschienene Veröffentlichung, der postum publizierte Band Literarische Zustände und Zeitgenossen, […] schien den altbekannten Ruf des indiskreten Schwätzers zu bestätigen. Es ist längst an der Zeit, dieses Urteil zu revidieren. Prädestiniert dazu war mit Julia Schmidt-Funke eine (ehemalige) Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereichs 482 Ereignis Weimar-Jena. […] Doch obgleich er noch 1820 ein streng wissenschaftliches, dabei recht kurzlebiges Fachorgan begründete (Amalthea oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde), blieb sein wissenschaftlicher Ruf bald schon auf der Strecke. […] Vor allem mit den Romantikern, ihrer Aktualisierung des Mythologischen, ihrer Naturphilosophie und ihrem aus seiner Sicht unwürdigen Umgang mit der Antike konnte Böttiger nichts anfangen.46

Die Indiskretionen eines in der Gelehrtenrepublik oftmals die Rolle eines Doppelagenten zwischen verfeindeten Lagern spielenden Böttiger 47 werden nun, indem von »seiner angeblichen Klatschsucht« die Rede ist,48 kurzweg geleugnet. Und wie sollte gegen ihn der Vorwurf der Schmeichelei wiederholt werden, da bereits SchmidtFunkes Buch voller Schmeicheleien für den SFB Ereignis Weimar-Jena 49 ist? Die Worte der Tieck’schen Böttigerkarikatur könnte heute Mancher sprechen: […] ein eigentlicher Gelehrter wie ich, der mit der ganzen kultivirten Welt in Verbindung steht, hat unendlich viele Rücksichten zu nehmen […]. Es geschieht mehr, um diesen angehenden Schriftsteller aufzumuntern, als daß mein Lob eigentlich ein kritisch begründetes sei. Dazu kommt, daß ich gern lobe, ja ich halte es sogar für mein größtes Talent, und da ich mich auch gern loben höre, so wäscht denn eine Hand die andere, wie man zu sagen pflegt.50 46 Jochen Strobel: [Rezension:] Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760 –1835), in: http://www.sehepunkte.de/2008/06/13911.html 47 Vgl. René Sternke: Kabale und Kritik. Die Ilias malorum gegen Christian Gottlob Heyne im Mai 1803, in: Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2012 (im Druck). – Eine Reihe altbekannter Anekdoten wurde erst jüngst noch einmal kompiliert: Dirk Sangmeister: Der federflinke Carl August Böttiger in und über Weimar, in: Freundesgesellschaft des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar e.V. (Hg.): Manuskripte 4, Weimar 2011, S. 51–77. 48 Strobel: Julia A. Schmidt-Funke (wie Anm. 46). 49 »Eine flächenübergreifende Zusammenarbeit der Geisteswissenschaften, wie sie der Sonderforschungsbereich 482 in Jena und Weimar ermöglicht, muß deshalb auch in zukünftigen Bildungslandschaften geschätzt und gefördert werden.« – »Durch dessen [d. i. des Mythos Weimar] Integration in Böttigers Biographie entstand eine Narration von der inspirierenden Kraft des Musenhofes, eine Narration vom – so könnte man in Anlehnung an Schaarschmidt und den Titel des Jenaer Sonderforschungsbereichs gesagt werden – ›Lebensereignis Weimar Jena‹.« Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006, S. 7 und 180. – Zu diesem Buch vgl. Klaus Gerlach: [Rezension:] Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter. Heidelberg 2006, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, 2007/1, S. 208f. 50 Ludwig Tieck: Die Vogelscheuche. Märchen-Novelle in fünf Aufzügen, in: Ders.: Novellenkranz. Ein Almanach auf das Jahr 1835, 4. Jg., Berlin [1834], S. 104.

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Unrichtig fasst Strobel Böttigers Verhältnis zur Romantik, welches er so darstellt, als ob Böttiger die neuen Ideen, welche die Romantik ins Spiel gebracht hatte, nicht verstanden hätte. Böttiger war nicht nur ein Weggefährte Caspar David Friedrichs und Carl Maria von Webers, er war ein Anreger und Kritiker der Creuzer’schen Symbolik und arbeitete deren Thesen eklektisch in seine eigenen mythologischen Forschungen ein, setzte sich in seinen mythologischen Schriften mit der Schelling’schen Mythologie kritisch auseinander, publizierte in Lorenz Okens Isis und kämpfte gemeinsam mit diesem 1826 auf der Versammlung der deutschen Ärzte und Naturforscher um eine kritische Ausgabe der Historia naturalis des Plinius mit Kommentar und Übersetzung. Er führte mit Friedrich Schlegel über Jahrzehnte eine heftige Auseinandersetzung um die soziale Rolle der Frau in der griechischen Antike. Hier warf er Schlegel nicht den respektlosen Umgang mit der Antike, sondern eine Idealisierung der antiken Zustände vor. Einen sehr genauen Beobachter des Schlegel’schen Denkens erkennt Dorit Messlin in Böttiger in ihrem Werk über Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst: Der Dualismus als Lehre von den widerstreitenden Prinzipien, welche das Leben als ›ewiges Ringen und Kämpfen lebendiger Kräfte und Tätigkeiten‹ sieht, nach der die Welt aus Widersprüchen besteht und aus dem ›lebendigen Kampfe widerstreitender Elemente hervorgeht‹, entspricht zudem auch Schlegels Selbst- und Weltwahrnehmung. Dieser Akzent des ›Dualismus‹ auf der widersprüchlichen Natur der Wirklichkeit und des Lebens ist ein zentrales Thema in der Spätphilosophie Schlegels. So beobachtet Karl August Böttiger treffend an Friedrich Schlegels spätem Denken, dass dieses von der Idee christlicher Kunst und Schönheit getragen, dabei aber von ›gnostische[n] Vergeistigungen der Symbolik […] sehr modifiziert wurde.‹51

In seinen Dresdner Vorlesungen sprach sich Böttiger gegen einen Rückfall in die Mythologie aus. Gleichzeitig aber wurden diese Vorlesungen bereits von den Zuhörern als Einweihungen »in die tiefere Kunde der sinnig deutungsvollen Götterlehre« durch einen »ächten Priester Appollo’s« empfunden.52 Böttigers Projekt eines nationalen Goethekults, der Apotheose, Tempel, Opfer und Feiern umfassen sollte, zielte auf die Wiederbelebung von Formen antiker Religionen ab. Unangemessen ist Strobels Bewertung der Zeitschriften Amalthea und Archäologie und Kunst, der durch Böttiger begründeten ersten archäologischen Fachzeitschriften überhaupt, als kurzlebig. Von 1820 bis 1828 erschienen insgesamt vier Bände, deren voluminösester fast 550 Seiten aufweist. Zurückzuweisen ist auch Strobels Abwertung von Böttigers wissenschaftlichem Werk, zumal Julia Schmidt-Funke, welche die »Analyse […] seines 51 Dorit Messlin: Antike und Moderne. Friedrich Schlegels Poetik, Philosophie und Lebenskunst, Berlin, New York 2011, S. 266. 52 Vgl. Therese Emilie Henriette aus dem Winckel an Karl August Böttiger, Paris, 29. Januar 1808, in: René Sternke: L’archéologue Millin – modèle de l’archéologue Böttiger, in: Geneviève Espagne, Bénédicte Savoy (Hg.): Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclopédique – Les lettres à Karl August Böttiger, Hildesheim 2005, S. 79–93, hier S. 85.

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geistigen Schaffens«53 ohne die Analyse seiner Schriften unternimmt, irreleitende54 Vorstellungen vermittelt. Zudem fragt sich, ob ein Autor, der den doppelstirnigen Janus, den Janus bifrons, in einem Personenregister als Person mit dem Familiennamen Bifrons aufführt,55 mit den Arbeiten eines Altertumswissenschaftlers, der über jene »alte mystische Allegorie«56 mehrfach geschrieben hat, vertraut genug ist, um die darin erbrachte wissenschaftliche Leistung aburteilen zu können. Die Böttigerkarikatur entsteht erst jetzt durch den leichtfertigen Umgang mit seinem Werk. Auch die Leugnung der längerfristigen Wirkung des Böttiger’schen Schaffens steht im Widerspruch zu den Tatsachen. Wählen wir nur ein einziges Beispiel und betrachten allein Böttigers Forschungen zu den heilbringenden Göttern. Sie setzen 1802 mit einer Gelegenheitsschrift ein, einer »unbedeutenden Neujahrschrift«, wie 53 Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (wie Anm. 49), S. 22. 54 So begreift der sich an Schmidt-Funke orientierende Theodore Ziolkowski nicht im Mindesten, worum es in Böttigers archäologischen Vorlesungen geht. Böttiger betrachtete die Kunstmythologie als zentrales Forschungsfeld der Archäologie und schreibt am 21. November 1808, seine Vorträge zur Mythologie des Zeus ankündigend, an Heyne: »Mit Neujahr werden meine archäologischen Vorlesungen wieder ihren Anfang nehmen. Es wird eine Fortsetzung der in den letzten Vorlesungen angefangenen Kunstmythologie seyn.« Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 15), Nr. 226, Z. 84–87. – Ziolkowski jedoch stellt die Kunstmythologie der Archäologie entgegen: »Böttiger betrachtete die Kunst-Mythologie vor allem als Möglichkeit, die Zeit zu überbrücken, bis er mit seinen Ideen zur Archäologie der Malerei (1811) zu seiner ersten Liebe, der Archäologie, von der er vorläufig durch die Kriegsereignisse getrennt worden war, zurückkehren konnte.« Dresdner Romantik. Politik und Harmonie, Heidelberg 2010, S. 160. – Die Gewährsmännin für diese verfehlte Auffassung ist Julia Schmidt-Funke: »Siehe hierzu vor allem Schmidt-Funke, S. 53–77. Sternke, Böttiger und der archäologische Diskurs, ist vor allem eine diskursanalytische Besprechung der späteren Schriften und erwähnt die Dresdner Vorlesungen nur nebenbei (S. 233–241).« Ebenda, S. 202, Anm. 57. – Einige Seiten danach entsinnt sich Ziolkowski jedoch, dass jene »späteren Schriften«, die in Böttiger und der archäologische Diskurs ausführlich analysiert werden, ein Wiederabdruck der Dresdner Vorlesungen sind, welchen er dann auch anstelle der Erstdrucke zitiert: »Die Blätter aus der ersten Reihe wurden bereits 1809 als Ideen zur Kunst-Mythologie gedruckt […]. Erst 1826 stellte Böttiger die Blätter erweiternd zusammen und veröffentlichte sie, weil andere Gelehrte inzwischen seine Blätter mit und ohne Quellenangabe in ihren eigenen Schriften benutzt hatten. Hier wird aus dieser Ausgabe zitiert.« Ebenda, S. 205, Anm. 29. – Im Übrigen bringt Ziolkowski, wenn man von Irrtümern absieht, in seiner Dresdner Romantik keine neuen Forschungsergebnisse. 55 »Bifrons, Janus«. York-Gothart Mix, Jochen Strobel (Hg.): Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten, Berlin u. a. 2010, S. 355. 56 Vgl. Karl August Böttiger: Die Neujahrslampe, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 8), Bd. 3, S. 307–321, hier S. 317, Anm. ††). Vgl. auch: Ders.: Sabina an der Küste von Neapel, ebenda, S. 243–301, hier S. 289. – Ders.: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen über die Archaeologie im Winter 1806. gehalten von C. A. Böttiger. Erste Abtheilung. Algemeine Uebersichten und Geschichte der Plastik bei den Griechen, Dresden 1806, S. 46. – Ders.: Nach Goethe’s Tod (wie Anm. 18), Z. 638–645.

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Böttiger selbst mit gleichermaßen gespielter wie ungespielter Bescheidenheit an Christian Gottlob Heyne schreibt.57 Bereits Heynes Antwort ist enthusiastisch: Ihre kleine Neujahrsschrifft, mein geehrtester Freund, enthält eine Iliade von neuen Ideen; nur überlasse ich es Ihnen sie auszuführen und geltend zu machen; ich sehe nur quasi per transennam daß herrliche Keime darinn liegen. Sie können einst der ganzen Mythologie eine andre Gestalt geben.58

Tatsächlich werden Böttigers Forschungen zu den heilbringenden Göttern das ganze 19. Jahrhundert hindurch in zahlreichen enzyklopädischen, archäologischen, kunsthistorischen, literarhistorischen, medizinhistorischen und religionshistorischen Werken aufgegriffen.59 Eine Untersuchung der wissenschaftlichen Rezeption des Böt57 »Jenen von hier abgehenden Exemplare werde ich eine unbedeutende Neujahrsschrift beilegen und es wagen, Sie mit der Abgabe an einige andre Göttinger Freunde zu belästigen.« Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Weimar, 31. Dezember 1802, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 15), Nr. 141, Z. 33–36. 58 Christan Gottlob Heyne an Karl August Böttiger, Göttingen, 16. Januar 1803, ebenda, Nr. 142, Z. 2–6. 59 Vgl. z. B. Christian Daniel Beck: Grundriß der Archäologie oder Anleitung zur Kenntniß der Geschichte der alten Kunst und der Kunst-Denkmäler und Kunstwerke des classischen Alterthums, Leipzig 1816, S. 196. – Johann Andreas Leberecht Richter: Phantasien des Alterthums, oder Sammlung der mythologischen Sagen der Hellenen, Römer, Aegypter und anderer orientalischen Völker. Vierter Theil, Leipzig 1818, S. 559 und 563. – Friedrich Gotthilf Klopfer: Paul Fr[iedrich] A[chat] Nitsch neues mythologisches Wörterbuch für studirende Jünglinge, angehende Künstler und jeden Gebildeten überhaupt. Zweite ganz umgearbeitete und vermehrte Auflage von Friedrich Gotthilf Klopfer, 2 Bde., Leipzig, Sorau 1821, Bd. 1, S. 90. – Johann Andreas Leberecht Richter: Uebersicht der Indischen, Persischen, Aegyptischen, Griechischen und altitalischen Mythologie und Religionslehre, mit Beziehung auf die Phantasien des Alterthums. Ein Leitfaden für den mythologischen Unterricht in höhern Schulen, Leipzig 1823, S. 156f. – Das Weltall. Ein geographisch-statistisch-naturhistorisches Handwörterbuch mit Berücksichtigung des Wissenswürdigen aus der Weltgeschichte. Aus authentischen und den neuesten Quellen geschöpft und in alphabetischer Ordnung zusammengestellt, Bd. 7, Frankfurt/M. 1829, S. 17. – Johann Heinrich Dierbach: Flora Mythologica oder Pflanzenkunde in Bezug auf Mythologie und Symbolik der Griechen und Römer. Ein Beitrag zur ältesten Geschichte der Botanik, Agricultur und Medicin, Frankfurt/M. 1833, S. 170. – Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber (Hg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet. Zweite Section H–N, hg. von Andreas Gottlieb Hoffmann, 12. Teil, Leipzig 1835, S. 395f. – Adolph Carl Peter Callisen: Medicinisches SchriftstellerLexicon der jetzt lebenden Verfasser. Nachtrag. Enthaltend: Berichtigungen, Ergänzungen, die neuere Literatur, und die seit 1830 verstorbenen medicinischen Schriftsteller, Bd. 26, Kopenhagen 1838, S. 359. – Johann Christian Ludwig Schaaff: Encyclopädie der klassischen Alterthumskunde, ein Lehrbuch für die oberen Klassen gelehrter Schulen. Vierte Ausgabe. Ersten Theiles dritte Abtheilung. Mythologie der Griechen und Römer, hg. von Johann Christian Gotthelf Schincke, Magdeburg 1839, S. 229. – Julius Rosenbaum (Hg.): Kurt Sprengel’s Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde. Vierte Auflage. Mit Berichtigungen und Zusätzen versehen, 1. Bd., Leipzig 1846, S. 27. – Johann Georg Theodor Gräße: Handbuch der allgemeinen Literaturgeschichte aller bekannten Völker der Welt, von der ältesten Zeit bis auf die

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tiger’schen Schaffens liegt nicht vor und würde den Gegenstand eines umfangreichen Werkes bilden, denn Böttigers Arbeiten sind, obschon sie nach und nach – wie früher oder später jede Forschung – veraltet sind, auf eine gesunde Art gealtert. Die Breite der Böttiger’schen Forschungen, wie sie bereits die Vielzahl der Gebiete signalisiert, auf welchen seine Studien zu den heilbringenden Göttern rezipiert worden sind, hat in den letzten Jahren ein breitgestreutes und breit zerstreutes Interesse an seinen Schriften hervorgerufen, das in Schmidt-Funkes Forschungsbericht unberücksichtigt geblieben ist. Wie Böttigers modernes mythopoetisches Verfahren der Textproduktion durch Achim von Arnim rezipiert und appliziert wurde, hat Andreas B. Kilcher freigelegt.60 Georg Czapla hat skizziert, wie die Klassiker Böttiger, den »Fachmann für Antikes«, konsultierten, um Schillers in den Kranichen des Ibykus getätigten Rückgriff auf eine minderwertige Quelle, die Acerra Philologica, ein frühneuzeitliches Lehrbuch, zu camouflieren.61 Christiane Holm hat aufgezeigt, welch wichtige Rolle Böttigers Auffassung des Mythos von Amor und Psyche in der Geschichte der Interpretationen und Anwendungen desselben in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur spielte.62 Böttigers Rezeption innerhalb der europäischen und insbesondere der französischen Archäologie bis ins 20. Jahrhundert hinein ist ebenfalls vor nicht langer Zeit dargestellt worden.63 Die in Böttigers erster archäologischer

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neueste Zeit, zum Selbststudium und für Vorlesungen. Ein Auszug aus des Verfassers größerem Lehrbuche der allgemeinen Litterärgeschichte. Erster Band. Literaturgeschichte der alten Welt. Zweite Ausgabe, Leipzig 1850, S. 128. – Johann Heinrich Kurtz: Geschichte des alten Bundes, Berlin u. a. 1855, Bd. 2, S. 430. – Wilhelm Siegmund Teuffel: Pauly’s Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft in alphabetischer Ordnung. Ersten Bandes erste Hälfte. Zweite völlig umgearbeitete Auflage, Stuttgart 1864, S. 467. – Jacob Achilles Mähly: Die Schlange im Mythus und Cultus der classischen Völker, Basel 1867, S. 31f. – Ludwig Schenck: De Telesphoro deo, Göttingen 1888, S. 51. – Karl Sittl: Archäologie der Kunst. Nebst einem Anhang über die antike Numismatik, Bd. 2, München 1895, S. 819. – Wolf Wilhelm Graf Baudissin: EsmunAsklepios, in: Carl Bezold (Hg.): Orientalische Studien Theodor Nöldeke zum siebzigsten Geburtstag (2. März 1906) gewidmet von Freunden und Schülern und in ihrem Auftrag herausgegeben, 2 Bde., Gießen 1906, Bd. 2, S. 729–755, hier S. 745. Andreas B. Kilcher: Philologie in unendlicher Potenz. Literarische Textverarbeitung bei Achim von Arnim, in: Lutz Danneberg u. a. (Hg.): Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin 2004, S. 46–68, hier S. 63 und 68. Georg Czapla: Peter Laurembergs Acerra Philologica – eine Quelle für Schillers Ballade Die Kraniche des Ibykus? Zur Bedeutung frühneuzeitlicher Erzählsammlungen für die poetische inventio in der deutschen Klassik, in: Veit Rosenberger (Hg.): Die Acerra Philologica. Ein frühneuzeitliches Nachschlagewerk zur Antike, Stuttgart 2011, S. 115–136, besonders S. 118f. und 129. Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765–1840), München, Berlin 2006. Corinne Bonnet: Les « religions orientales » dans le Dictionnaire des Antiquités grecques et romaines de Daremberg-Saglio Pottier : circulation et mise en forme des savoirs en France, à la fin du XIX e et au début du XX e siècle, in: Stefan Rebenich u. a. (Hg.): Translating Antiquity. Antikebilder im europäischen Kulturtransfer, Basel 2010, S. 99–118. – Ève Gran-Aymerich: Les correspondances d’antiquisants allemands et français au XIX e siècle : sociabilité savante et

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Monographie, Über den Raub der Cassandra auf einem alten Gefässe von gebrannter Erde,64 erbrachte keramologische Leistung hat Hildegard Wiegel ins Licht gestellt.65 Hans-Uwe Lammel hat sich intensiv mit Böttigers in Kurt Sprengels Beiträgen zur Geschichte der Medicin publizierten Forschungen auseinandergesetzt, in denen philologisches und medizinisches Wissen zur gegenseitigen Erhellung miteinander verbunden werden.66 Böttigers »Abhandlung über die im Alterthum zu findenden Spuren von der algemeinen Sitte roher Menschen sich zu bemahlen u. zu tättowiren«,67 hat Hans-Georg von Arburg in seiner Studie zu Bilderschriften auf Häuten und Häusern im 19. Jahrhundert eingehend berücksichtigt.68 Lothar Müller weist in seiner Geschichte des Mediums Papier seinem Vorläufer69 Böttiger den Platz eines Brückenbauers zwischen der Entdeckung dekorativer Elemente im Altertum und modernem Design zu.70 Welche praktische Umsetzung Böttigers Theorie der Arabeske in der Architektur des beginnenden 19. Jahrhunderts erfuhr, hat Matthias Hahn dargelegt.71

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« fabrique de la science », ebenda, S. 211–240. – Vgl. auch Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 18) sowie Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung: Katalog der antiken Bildwerke II, hg. von Kordelia Knoll, Christiane Vorster, Moritz Woelk, München 2011. Karl August Böttiger, Johann Heinrich Meyer: Über den Raub der Cassandra auf einem alten Gefässe von gebrannter Erde. Zwey Abhandlungen, Weimar 1794. Hildegard Wiegel: Anna Amalias »Prachtgefäße«. Eine – fast – unbekannte Sammlung griechischer und unteritalischer Vasen, in: Hellmut Th. Seemann (Hg.): Anna Amalia, Carl August und das Ereignis Weimar, Göttingen 2007, S. 31–64. Hans-Uwe Lammel: Klio und Hippokrates. Eine Liaison littéraire des 18. Jahrhunderts und die Folgen für die Wissenschaftskultur bis 1850 in Deutschland, Stuttgart 2005. Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 19), S. 52. – Böttiger las die Abhandlung am 7. Februar 1792 in der Freitagsgesellschaft vor. Er publizierte sie im Neuen Teutschen Merkur, 1792, 2. Bd., S. 139–164: Cyclopen. Arimaspen. Sitte der Alten sich den Körper zu mahlen und zu punktieren. Hans-Georg von Arburg: Bilderschriften auf Häuten und Häusern. Das Motiv der Tätowierung in der Literatur und Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts und das Gedächtnis der Kunst, in: Harald Tausch (Hg.): Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung, Göttingen 2003, S. 287–310. In der Frage nach der Verfügbarkeit des Mediums Papier sah Böttiger das Kernproblem der durch Wolf ausgelösten Homerdiskussion. Vgl. Karl August Böttiger: Ueber die Erfindung des Nilpapyrs und seine Verbreitung in Griechenland, in: Neuer Teutscher Merkur, 1796, 1. Bd., S. 133–147, 310–328. Heyne schreibt dazu: »Mit dem Agyptischen Papyr sind Sie auf den rechten Punkt gekommen u. folglich auch auf die Epoche des häufigen Schreibens: sie lag vor Herodot […]. Alles lag in der Bemerkung, daß von einer Erfindung bequemer Schreibe materialien, alles abhieng; Auf das Geschwätz von Erfindung der Schrifft kam so viel als nichts an.« Christian Gottlob Heyne an Karl August Böttiger, Göttingen, 11. Mai 1796, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 15), Nr. 37, Z. 26–31. Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers, München 2012, S. 300. Matthias Hahn: »… und mit Ornamenten ausgezieret«. Dekorationsmalerei um 1800 in Wohnräumen des (klein-)bürgerlichen Milieus, in: Claudia Sedlarz (Hg.): Die Königsstadt. Stadtraum und Wohnräume in Berlin um 1800, Hannover 2008, S. 275–302.

XXIV

Der Altertumskenner im Garten der Moderne

Erika Simon hat Böttigers anhand antiker Quellen vorgenommene Rekonstruktion der Handlung der Wurzelschneiderinnen, einer verlorengegangenen Tragödie des Sophokles, gewürdigt. Sein Schluss, dass in diesem Werk das Schicksal des Pelias behandelt worden sei, werde noch heute akzeptiert. Simon geht davon aus, dass Goethe Böttigers Arbeit rezipiert habe.72 Marilyn Katz nennt den Autor der Sabina, die sie als ›novel‹ bezeichnet, in ihrem Aufsatz Ideology and ›the Status of Woman‹ in Ancient Greece »the founder of the genre of ›antique domestic literature‹«.73 Böttigers anonym in London und Paris veröffentlichte Karikaturenexegesen sind in der neueren Forschung mehrfach auf Interesse gestoßen, wobei man sich seiner Autorschaft nicht immer bewusst war.74 Die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Geisteswissenschaften dürfte das Interesse an einem Autor, der selbst kulturwissenschaftlich gearbeitet hat, noch verstärken. Strobel bemerkt in Anknüpfung an Eckhard Richter75 und Julia Schmidt-Funke, dass Böttiger »noch den polyhistorhaften ›Gelehrtentypus des humanistisch gebildeten Spätaufklärers‹ verkörperte«.76 Das »noch« indiziert, dass Geschichte hier teleologisch gedacht wird. Dagegen fasste Peter Burke in seinem am 7. Mai 2009 im Forschungszentrum Gotha gehaltenen Vortrag The rise and the fall of the polymath den Polyhistor in der Bemühung, eine historische Begriffsbestimmung mit einer typologischen zu verbinden, als einen transhistorischen Typus, der sich zyklisch regeneriert, um immer wieder auf Spezialisierungs- und Vereinseitigungstendenzen in den Wissenschaften zu reagieren und die zerfallende Einheit des Wissens einzuklagen und wiederherzustellen zu suchen. Böttiger schreibt in einem der überlieferten Entwürfe zu seinem Plädoyer für eine Plinius-Ausgabe: Wir leben im Zeitalter der Encyclopädien. Sie gleichen den Rettungsboten bei Ueberschwemmungen.77

Dabei beurteilt Böttiger, der »die einzige uns aus dem klassischen Alterthum übrig gebliebene Encyclopädie« ediert sehen will, die »algemein encyclopädische Tendenz« 72 Erika Simon: Die ›Klassische Walpurgisnacht‹ und die Antike, in: Anne Bohnenkamp (Hg.): Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Göttingen 2004, S. 152–177, hier S. 155. 73 Marilyn Katz: Ideology and ›the Status of Woman‹ in Ancient Greece, in: Mark Golden, Peter Toohey (Hg.): Sex and Difference in Ancient Greece and Rome, Edinburgh 2003, S. 30–43, hier S. 36f. 74 Christiane Banerji, Diana Donald: Gillray observed. The Earliest Account of His Caricatures in »London und Paris«, Cambridge 1999. – Wolfgang Cilleßen u. a. (Hg.): Napoleons neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar, Berlin 2006. – Bruce Redford: Dilettanti. The antic and the antique in eighteenth-century England, Los Angeles 2008. 75 Eckhard Richter: »Verehrtester Herr Hofrath«. Tieck und Böttiger, in: Walter Schmitz: Ludwig Tieck. Literaturprogramm und Lebensinszenierung im Kontext seiner Zeit, Tübingen 1997, S. 169–191, hier S. 174. 76 Strobel: Julia A. Schmidt-Funke (wie Anm. 46). 77 SLUB Dresden, Msc. Dresd. Dd 209, Bd. 1, Bl. 2r, Auffoderung zu einer neuen Uebersetzung der Naturgeschichte des Plinius. d. 22. Sept. 1826.

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seines Zeitalters kritisch.78 Dieses zeichnet sich in seinen Augen keineswegs durch das Aufkommen von Spezialisierung, sondern durch deren Verlust aus: Unser großer Joh. Christoph Ade lung hätte das Werk einer ganzen Academie, sein vor ihm nie unternommenes, nach ihm leicht zu übertreffendes Wörterbuch nicht ganz allein ausarbeiten und vollenden können, wäre er nicht absichtlich vielen Dingen ganz fremd geblieben. Während er zwanzig Jahre lang als Oberbibliothekar hie lebte und sich um die neue Anordnung der öffentlichen K[öniglichen] Bibliothek unsterbliche Verdienste erwarb, hat er nie einen Schritt in die berühmte Dresdner Gemälde gallerie gethan. Er schämte sich nicht dieß laut einzugestehn. Nenne man es Einseitigkeit, Pedanterie oder wie man sonst will; so viel ist gewiß, daß nur solche Beschränkung und Entsagung etwas Großes hervorbringt. Wie ekelhaft ist jetzt das altägliche Kunstgeschwatz und Herumlaufen auf der Gallerie! 79

Derartige Reden überraschen aus der Feder eines Mannes, der vor dem Bildungsbürgertum öffentliche Vorlesungen hielt, der unter anderem für die Allgemeine Zeitung Messberichte und für die Abend-Zeitung Theaterkritiken schrieb und als Beilagen zu letzterer ein Artistisches Notizenblatt und einen literarischen Wegweiser im Gebiete der Künste und Wissenschaften herausgab. Als Polyhistor wurde Böttiger nicht nur von Danz (wie wir oben gesehen haben) wahrgenommen. Garlieb Merkel überschrieb ein Kapitel seiner Darstellungen und Charakteristiken mit dem Titel Der Polyhistor Böttiger.80 Creuzer nannte Böttiger ebenfalls einen Polyhistor: Wenn dieser Name heut zu Tage mit Recht oft sehr zweideutig klingen mag, so kann er von Böttiger nur im besten Sinne verstanden und nur in der Bedeutung genommen werden, wie man ihn wohl jenen Alexandrinern beilegt, die als Stifter der Philologie in der Geschichte der Wissenschaften genannt werden, oder wie man ihn von jenen, den ganzen Umfang der Sprachen- und Alterthumskunde umfassenden Männern des 16. und 17. Jahrhunderts zu gebrauchen pflegt. […] Da war denn, auf welchem Felde es sein mochte, keine Bemühung so gering, er wusste ihr als ein ächter Humanist eine vortheilhafte Seite abzugewinnen und sie von derselben den Zeitgenossen darzustellen. Diese Beweglichkeit des Geistes verleitete ihn natürlich nun auch selbst, an Schriften und Sammlungen der verschiedensten Fächer Antheil zu nehmen. […] Und sind auch in der Alterthumswissenschaft manche Sätze besser begründet, sind manche neue Wege eingeschlagen worden, so wird man doch einen Gelehrten, wie er war, der die gründlichsten Kenntnisse in alten und neuen Sprachen besass, der als Redner und Schriftsteller des Lateinischen und des Deutschen Meister war, und überall durch Lehre und Uebung die streng-classische Schulbildung förderte, ohne die grösste Ungerechtigkeit nicht einer modernisirenden Begünstigung eines flachen materiellen Realismus bezüchtigen können. / Nein, die Schriften dieses Mannes behalten für Sprach- und Alterthumsforscher einen entschiedenen und grossen Werth und wiegen in ihrer Gesammtheit durch inneren Gehalt 78 Karl August Böttiger: Ueber eine neue Bearbeitung des Plinius Naturgeschichte. Vortrag im Verein deutscher Naturforscher und Aerzte gehalten den 21 Sept. 1826, ebenda, Bl. 3v. 79 Ebenda. 80 Garlieb Helwig Merkel: Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben, 2 Bde., Leipzig 1840, Bd. 2, S. 164.

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Der Altertumskenner im Garten der Moderne den voluminösesten Folianten auf, an den allein nach vormaliger Sitte ein Literator wohl sein ganzes Leben zu setzen pflegte.81

Die in Creuzers Würdigung Böttigers in der Problematisierung der Bezeichnung ›Polyhistor‹ mitschwingende Kritik an den »Vielwissern und Vielschreibern«,82 wie sie der Vielwisser und Vielschreiber Böttiger in seiner Pliniusrede unverblümt ausspricht, wie auch die Historisierung der Erscheinung, die in Creuzers Verweis auf vergangene Epochen anklingt, fordern uns auf, den Begriff ›Polyhistor‹ nicht allein anhand quantitativer Kriterien (Viel…….), sondern vor allem anhand qualitativer, d. h. inhaltlicher und struktureller Merkmale zu bestimmen. Der typologische Gebrauch des Begriffs ›Polyhistor‹, wie ihn Burke anregt, setzt eine derartige Bestimmung voraus, wenn die Phänomene, auf die er in dieser Weise bezogen wird, nicht sogleich als anachronistisch abgewertet werden sollen. Martin Mulsow zeichnet den Typus des Polyhistors am Beispiel Jakob Friedrich Reimmanns folgendermaßen: Reimmann war der Ansicht, ein echter Gelehrter müsse den ganzen Raum des Wissens ausmessen. Aber er hatte keine harmonistische Vorstellung von Wissen. Zu jedem Thema hat es in der Geschichte des menschlichen Denkens eine Unzahl von Meinungen gegeben, und diese Meinungen widersprechen sich natürlich. Historia literaria […] war also gleichsam die Wissenschaft von den widersprüchlichen Meinungen zu jedweder Sache. In jeder Klasse von Wissenschaften […] müsse man die ersten, letzten, besten, seltensten und paradoxesten Bücher kennen.83

Die Anhäufung des Mater ials und die Plur alität der Meinungen, wie sie sich im Wu ch er n der Anmerkungen und Exkurse entfaltet, die üb er r aschenden Persp ekt iv we chse l und die unversöhnten Widersprüche finden wir auch in Böttigers Texten. Das St re b en na ch Vol lständig keit versetzt den Urteilenden in einen Zustand des Schwebens. Die Ordnungskriterien müssen ihren prov isor ischen Char akter eingestehen. Al les Wissen erscheint als vorlä uf ig un d be g re n z t . Der Leser, der ein systematisches und widerspruchsfreies Denken liebt, wird sich bei der Lektüre der Böttiger’schen Texte oft ärgern. Wer positive Aussagen oder gar Lehrmeinungen erwartet, wird enttäuscht und geht leer aus. Wer das Denken jedoch als ein Abenteuer betrachtet, dessen Ausgang ungewiss ist und das ohnehin stets unabgeschlossen bleibt, wer die Wahrheit als etwas ansieht, das niemandem gehört, wer die Purzelbäume und Volten des Geistes zu genießen versteht, wird den Autor Böttiger schätzen. Die rigide Moral, die Böttiger propagiert und der per se unmoralischen Ästhetik entgegenstellt, wird immer wieder ästhetisch 81 Friedrich Creuzer: Würdigung Böttigers als Alterthumsforscher, in: Ders.: Deutsche Schriften, Zweite Abtheilung, 1. Theil: Zur Archäologie oder zur Geschichte und Erklärung der alten Kunst. Abhandlungen, hg. von Julius Kayser, Leipzig, Darmstadt 1846, S. 434–437, hier S. 435f. 82 Böttiger: Ueber eine neue Bearbeitung des Plinius Naturgeschichte (wie Anm. 77), Bl. 3v. 83 Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2007, S. 205.

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unterlaufen. Böttiger traut der Vernunft, die er predigt, keinen Augenblick, der Sinnlichkeit, die er verurteilt, aber allemal. Das Ästhetische aber ist nicht das Schöne, das in sich selbst Vollendete, sondern das An-, Auf- und Erregende, mitunter aus der Form Gleitende, das zur Antistruktur wird, Figuren bildend, »aber wie . . . . .«, um mit Goethe zu reden. Immer wieder mobilisiert Böttiger Verführungsstrategien, die ihre eigene Dynamik entwickeln und die Vernunft, der sie zum Siege verhelfen sollen, alt aussehen lassen. Skeptizismus, Ironie, Scherz und Erotik höhlen alle Gewissheiten aus und lösen alle Formen auf. Der Strukturalist Roland Barthes träumte einmal von einer antistrukturalen Kritik, eben derjenigen der Polygraphie. Nicht nach der Ordnung, sondern nach der Unordnung wird gesucht. Das Disparate des Wissens und Fühlens wird enzyklopädisch inszeniert mittels der rhetorischen Figuren der Metonymie und des Asyndetons. Dem Strukturalisten Barthes kam eine solche Polygraphie, Auflistung des Heterokliten, dunkel und verrückt vor.84 Ein Buch über Böttiger müsste wie Böttiger selbst sein: innovativ – multiperspektivisch – extrauniversitär – fragmentarisch – essayistisch. Alle im vorliegenden Band versammelten Beiträge betreten Neuland. Conrad Wiedemann rekonstruiert die beiden Begegnungen zwischen Böttiger und Schadow aus den Jahren 1797 und 1803 und erzählt damit die Vorgeschichte eines langjährigen und intensiven brieflichen Gedankenaustauschs zwischen einem Wissenschaftler und einem Künstler, deren Auffassungen über die Aneignung der Antike durch die moderne Kunst stark differieren, obgleich beide in derselben Tradition (Lessing, Winckelmann) stehen. Während Böttiger und Goethe, wie wir eingangs gesehen haben, in den überlieferten Werken aus dem klassischen Altertum nach einer verbindlichen und aktualisierbaren Formensprache suchen, geht Schadow mit den als schön empfundenen Formen der alten Kunst vollkommen frei um und verwendet sie gemäß seinen Aussageabsichten, unbekümmert um den Gebrauch, welchen die Alten von ihnen machten. In seiner Untersuchung der Fehde der um den Freimüthigen versammelten Gruppe gegen Goethe spricht Klaus Gerlach von Schadows Ästhetik als einer Ästhetik des Lebendigen oder des Natürlichen.85 Böttiger hat mit diesen Kunstwerken, die »weder ganz antik noch ganz modern«86 sind, seine 84 »L’œuvre comme polygraphie. J’imagine une critique antistructurale ; elle ne rechercherait pas l’ordre, mais le désordre de l’œuvre ; il lui suffirait pour cela de considérer toute œuvre comme une enc yclopédie : chaque texte ne peut-il se définir par le nombre des objets disparates (de savoir, de sensualité) qui met en scène à l’aide de simples figures de contiguïté (métonymies et asyndètes) ? Comme encyclopédie, l’œuvre exténue une liste d’objets hétéroclites, et cette liste est l’antistructure de l’œuvre, son obscure et folle polygraphie.« Roland Barthes par Roland Barthes, Paris 1995, S. 131. 85 Klaus Gerlach: Berlin versus Weimar. Kotzebues gescheiterte Berliner Klassik, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Berlin 2012, S. 281–300. 86 Karl Wilhelm Böttiger (Hg.): Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin. 1797, in: Ders. (Hg.): Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse, Zweites Bändchen, Leipzig 1838, S. 102–137, hier S. 132.

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Der Altertumskenner im Garten der Moderne

Schwierigkeiten und bewundert sie gegen seine archäologisch-kunsthistorischen Einsichten: Doch abgesehen von dieser antiquarischen Krittelei ist diese Figur gewiß eine der schönsten und vollendetsten, die ein neuer Bildhauer arbeitete.87

Erst später im Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der antiken griechischen Plastik, wie sie Kordelia Knoll und Felix Saure im vorliegenden Band aus archäologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive erörtern, wird Böttiger Schadow als »Lysippus Berolinensis«88 in seiner modernen Ästhetik nach antiken Grundsätzen unterzubringen wissen, ist ihm doch Lysipp »der unübertroffene Meister der veredelten Portraitbildung«:89 Er sah, das man auf dem Wege zu hohen Idealen sich doch zu weit verstieg, und indem man Ideale aus Idealen schuf, die Natur ganz vergass. […] kurz, er idealisirte die höchste Individualität […].90

Wiedemann zeigt nicht nur die von der Forschung oft genug übersehene Vielfalt der um 1800 konkurrierenden Klassizismuskonzepte auf, sondern stellt diese Pluralität in einen kulturtopographischen Zusammenhang. Altertumsspezialisten wie Böttiger, Schadow oder Hirt orientieren sich in der kulturpolitischen Landschaft ihrer Zeit auf der Suche nach Orten, an denen sie wirken können. »Die Fürstin v. Dessau schrieb mir viel Hübsches, Sie betreffend, und Sie haben sehr bey ihr gewonnen«, schreibt Hirt nach einer gemeinsamen Rundreise an Böttiger nach Weimar und: »Legen Sie mich der besten Herzogin zu Füßen«.91 Aus der kulturtopographischen Perspektive liest sich Böttigers Berliner Reisetagebuch als Auseinandersetzung mit dem Phänomen der modernen Großstadt. Gleichzeitig zeichnet Wiedemann auf der Grundlage einer präzisen Texthermeneutik ein eindringliches psychologisches Portrait Böttigers und skizziert damit, auf welche Weise jenseits von Karikatur und Apologie eine Biographie geschrieben werden könnte, die dem problematischen Charakter Böttigers gerecht würde. Klaus Gerlachs Beitrag widmet sich Böttigers Projekt, das Theater wieder zu einem öffentlichen Bürgerforum zu machen. Es geht Böttiger darum, das Potential einer antiken Institution in der modernen Gesellschaft theoretisch und praktisch zu 87 Ebenda, S. 133f. 88 Karl August Böttiger: Franc. Volkm. Reinhardo, doctori Germaniae inclyto, amico, genethliacon. Addito capite aerato, Ioannis Mulleri magni historici, amici, dum in vivis esset, spectatissimi, instar habente. A. D. XII. mart. MDCCCX., in: Ders.: C. A. Boettigeri opuscula et carmina latina. Collegit et edidit Iulius Sillig. Accedunt effigies et specimen Autographi B. auctoris figuraeque aeri incisae, Dresden 1837, S. 503–507, hier S. 505, Anm. **). 89 Böttiger: Andeutungen (wie Anm. 56), S. 184. 90 Ebenda, S. 183 und 186. 91 Aloys Hirt an Karl August Böttiger, Berlin, 6. September 1797, SLUB Dresden, Msc. Dresd. h 37, Bd. 37, Nr. 2.

XXIX

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erproben. In seiner Res scenica entwirft Böttiger ein komplexes Bild vom Theater. Er beschränkt sich nicht auf die Werke, sondern interessiert sich für die Autoren, das Publikum, die Aufführungspraxis, die Szenen und Dekorationen, die Beschaffenheit der Bühne, die Skenographie, die Maschinen, die Kostüme, die Masken, die Stimme, die Theaterstruktur, die Rollen, Gang und Einteilung des Stücks, den Chor, die Schauspieler, die Anlässe, nämlich die drei Bacchusfeste, zu denen die Stücke gegeben wurden, die verschiedenen Formen des Kampfstreits, die Tanzkunst, welche in Verbindung mit Musik und Poesie ein unentbehrliches Hauptstück des griechischen Gottesdienstes war, den mimischen Charakter der Tänze, die Tänze während der Weinlese, aus welchen Komödie und Tragödie entstanden, die Musikinstrumente, wie sie nach und nach in Gebrauch kamen, die Tonleiter, die Noten, vor allem aber für die soziale Funktion des Theaters. Eine derartige kulturwissenschaftliche Auffassung brachte ihm jenen Materialismusvorwurf ein, den Creuzer in obigem Zitat abwehrt. Wiedemanns Kulturtopographie fortschreibend, zeigt Gerlach, wie Böttiger die Modernisierung dieses komplexen Konzepts an den beiden verschieden gearteten Orten, an denen er lebte – Weimar und Dresden –, und somit im höfischen und im bürgerlichen Kontext mit unterschiedlichem Erfolg erprobt. Dabei unternimmt Gerlach eine grundsätzliche Um- und Neubewertung der Dresdner Bürgerkultur, welche von der Germanistik traditionell mit dem Schimpfwort ›Pseudoromantik‹ abgetan wird. Er zeigt das programmatische Zusammenwirken Böttigers, Carl Maria von Webers, Theodor Winklers, Friedrich Kinds u. a. für eine Bürgerkultur, welche die künstlerische Aktivität sämtlicher Bildungswilliger mit der Herausbildung eines Kanons klassischer Werke in allen Künsten verbindet. Die Theaterkritiken, die Böttiger mehrere Jahre lang für die Abend-Zeitung schrieb, sind Vorläufer, Vorbild und Gegenmodell zu Tiecks Dramaturgischen Blättern, wurden aber niemals wie jene Blätter zu einem Werk zusammengestellt. – En passant entdeckt Gerlach einen bisher unbeachteten Goethebrief und erkennt in Böttigers Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprillmonath 1796 eine zentrale Quelle für Heinrich von Kleists berühmten Aufsatz Ueber das Marionettentheater. Bernhard Fischers Beitrag über Karl August Böttigers Messberichte ist neben Gerlachs soeben erwähntem Aufsatz zu Böttigers Theaterkritiken eine der ersten Arbeiten, in denen ein Ausschnitt aus Böttigers umfangreichem journalistischen Schaffen inhaltlich und formal analysiert wird. Der Aufsatz beginnt mit einem Überblick über die damalige Verlags- und Zeitschriftenlandschaft. Während die AbendZeitung in der Biedermeierzeit die führende Kulturzeitschrift des deutschen Bildungsbürgertums war, war Cottas Allgemeine Zeitung, für welche Böttiger regelmäßig Messberichte verfasste, die deutsche Zeitung mit dem größten internationalen Renommée. Hier wird Böttiger in der letzten Zeit seines Lebens gleichzeitig mit Heinrich Heine publizieren. Désiré Raoul-Rochette, dem bedeutendsten französischen klassischen Archäologen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gegenüber bezeichnet Böttiger diese Zeitung 1828 als das beste Blatt, das Deutschland aufzuweisen XXX

Der Altertumskenner im Garten der Moderne

habe, und teilt ihm im selben Atemzuge mit, in welchen Pariser Salons es zur Lektüre ausliegt: Vous lisez peut-être chez Mr de Ferussac ou chez Cuvier la gazette d’Augsbourg, la meilleure que nous ayons en Allemagne.92

Vier Jahre später weist Böttiger, der seiner Begeisterung über die Leipziger Messe in dieser in erster Linie doch fachlichen Korrespondenz immer wieder Luft macht,93 seinen Briefpartner auch auf seine Messberichte hin: Malgré toutes ces sollicitudes il m’a fallu donner une apperçu de la foire de Leipzig, y compris le commerce de libraires et un coup oeil sur les nouveautés de notre Literature, que Vous trouveriez dans la gazette d’Augsbourg dite die algemeine Zeitung .94

Fischer untersucht, wie Böttiger den Messbericht, eine Gebrauchsform, literarisiert, auf diese Weise zur Konstitution des modernen Feuilletons beitragend, und dabei den Gegenstand dieser Textsorte, die moderne Warenwelt, poetisiert. Zu Recht nennt er Böttiger einen Apologeten des Kapitalismus. Den Schlüssel zum Verständnis einer noch unverstandenen Gegenwart liefert Böttiger auch hier die Antike. Böttiger benutzt die Sprache und die künstlerischen Mittel der Vossischen Übersetzung der Homerischen Ilias, um die moderne Warenwelt zu beschreiben. In Peter Witzmanns Studie über Böttigers Carmina Græca für den Prinzen Johann von Sachsen äußert sich erstmals ein Altphilologe zu Böttigers Dichtungen in altgriechischer Sprache, sieht man von einer Miszelle Theodor Distels ab, die einen kurzen griechischen Text Böttigers dem Prinzen Johann zuschreibt. Dieser Zuschreibungsfehler wird durch Witzmann korrigiert. Gedruckt und handschriftlich überliefert ist eine Fülle von Gelegenheitsgedichten in deutscher, lateinischer und griechischer Sprache. In vorliegendem Band behandelt Witzmann gemäß dem Stand der Texterschließung nur eine Auswahl aus den Carmina Græca. Okkasionaldichtung ist in der Goethezeit stark verbreitet. So schreibt Böttiger im Sommer 1803 in einem Lagebericht aus Weimar nach Leipzig an Auguste Duvau:

92 Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 8. Oktober 1828, in: Ders.: Briefwechsel mit Raoul-Rochette, hg. von René Sternke, Berlin, in Vorbereitung, Nr. 25, Z. 11–12. 93 »Vous y devriez assister une semaine au moins, pour voir comme cette reunion de 300 libraires de Riga jusqu’à Paris fait circuler les idees les plus neuves et interessantes dans toute l’Allemagne jusqu’à Ney-York !« Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 1. Mai 1826, ebenda, Nr. 10, Z. 4–6. – »La foire de Leipzig sera brillante tant par l’affluence de marchandises qui ne sont plus entravées presque par toute l’Allemagne associé à present contre le systeme fou de Vos ministres, tant par le commerce de 500 libraires Allemands dont plus que 300 frequentent eux mêmes la foire et bâtiront une vaste bourse pour cette interessante branche du commerce genéral.« Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 4. April 1834, ebenda, Nr. 66, Z. 105–110. 94 Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 28. August 1832, ebenda, Nr. 51, Z. 13–17.

XXXI

René Sternke Göthe u. Schiller denken auf Bewilkommnungsstücke für unsre künftige Erbprinzessin u. sitzen zu Hause.95

Über Böttigers griechische Gedichte an den Prinzen Johann ist bisher sehr leichtfertig geurteilt worden: Der agile Böttiger versäumte fortan keine Gelegenheit, sich bei Johann mit griechischen Versen in Erinnerung zu bringen.96

Tatsächlich lässt Böttiger eine Vielzahl von Gelegenheiten, den Prinzen zu behelligen, aus. Aber handelt es sich bei diesen Gedichten, wie Ingo Zimmermann suggeriert, nur um Schmeichelei und Networking? Ausgehend von einer Gattungsanalyse untersucht Witzmann, in welcher Weise antike Genera in der modernen Welt refunktionalisiert werden. Witzmann stellt dar, wie Böttiger auf die antike symbuleutisch-parainetische Elegie zurückgreift, ihre Funktion, den Appell und die Mahnung, mit Bezug auf ein aktuelles Thema beibehält, ihre Form aber modernisiert. Böttiger schmeichelt dem Prinzen nicht, sondern mahnt ihn und rät ihm. Wenn Böttiger dem Prinzen von der Annahme der griechischen Königskrone abrät – ernüchternd zeigt Witzmann das junge befreite Griechenland als Spielball europäischer Interessen –, so wird das durch den Schrecken der französischen Besatzung verständlich, welcher dem Bildungsbürgertum der Restaurationszeit noch unter der Haut sitzt. Als die Göttinger Universität 1808 durch eine rigorose Sparpolitik reformiert und à la française bürokratisiert wird, schreibt Heyne an Böttiger: So groß die Noth auch in Sachsen seyn mag, so haben Sie doch noch ein Vaterland, eine vaterländische Regierung, einen nationalen Landesfürsten. Was eine Umschmelzung der Denk- und Handelsweise in eine fremde die gar nicht paßt, für Ubel erweckt, ist wenn man es nicht sieht, nicht zu denken. Tausend schiefe Ansichten, Verkehrtheiten immer neue Umänderungen u. ewiger Unbestand u. Unsicherheit; nichts als Rechnen, Tabellen, Brüche der Pfennig zu 1151 Bruchtheilchen – Zum Verzweifeln ist das Leben; u. doch muß man froh seyn, nur endlich etwas zu erjagen, das man berechnen u. vertheilen kan.97

Der Nationalismus war auch von Selbstbestimmungsansprüchen getragen. Vor diesem Hintergrund sind auch diejenigen Gedichte an den Prinzen zu verstehen, in welchen Böttiger den Nachwuchs im sächsischen Königshause für den Fortbestand der Dynastie herbeiwünscht und herbeizureden sucht. Dabei unterscheiden sich unter Böttigers Gedichten solche, in denen ein Böttiger-Ich zu einem Prinz-JohannDu spricht, von anderen, in welchen ein Wir zu diesem Du spricht. Wer aber ist 95 Karl August Böttiger an Auguste Duvau, Weimar, 1. August 1803, in: Ders.: Briefwechsel mit Auguste Duvau. Mit einem Anhang der Briefe Auguste Duvaus an Karl Ludwig von Knebel, hg. und kommentiert von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 2004, Nr. 58, Z. 38–40. 96 Ingo Zimmermann: Johann von Sachsen. Philalethes. Die Zeit bis zur Thronbesteigung, München, Berlin 2001, S. 55. 97 Christian Gottlob Heyne an Karl August Böttiger, Göttingen, 27. Dezember 1808, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 15), Nr. 228, Z. 48–56.

XXXII

Der Altertumskenner im Garten der Moderne

dieses Wir? Ein pluralis auctoris oder eine wirkliche Gemeinschaft? Tatsächlich wurden derartige Gedichte, wie die im Böttiger-Nachlass überlieferten Gedichte des Dresdner Mediziners, Ästhetikers und philhellenischen Dichters August Wilhelm Hedenus bezeugen,98 in der Gesellschaft Albina vorgetragen. Wenn dort der Prinz, der gar nicht anwesend war, in den Gedichten angesprochen wurde, so bedeutet das, dass diese Anrede in erster Linie der Konstitution und Befestigung der Gemeinschaft diente. Eine derartige Funktion wird Böttiger 1832 auch dem von ihm angeregten Goethekult zuweisen: Und daß man nur nicht grämelnd sage, dis sey Gözendienst und zieme weder dem Gefeierten noch den Feiernden. Ihn kümmert es wenig, wo auch das seyn mag, was von ihm fortdauert. Aber in dieser gräulichen Zerwürfniß thun uns Deutschen mehr als jemals s o l ch e Vereinigungspunkte Noth! 99

Hier lohnt es sich, Witzmanns Studie vor dem Hintergrund von Gerlachs Darstellung der Dresdner Bürgerkultur zu lesen. Auch zu Fischers Analyse der Messberichte lassen sich aufschlussreiche Bezüge herstellen: Die Sprache zur Konzeptualisierung aktueller Phänomene liefert wiederum in erster Linie das Epos Homers. Witzmanns Studie bietet darüber hinaus neue Erkenntnisse zur Geschichte des Philhellenismus. Felix Saure, der bereits in mehreren Publikationen Beiträge zu einer Ideengeschichte des Sports vorgelegt hat,100 hat die in Böttigers umfassendem Werk verstreuten Aussagen zu Agonistik und Athleten in Hellas zusammengestellt. Die heutigen Konzepte des Sports und der Olympiade existierten zu Böttigers Zeit noch nicht. Einerseits gab es jedoch vor allem in England zahlreiche Praktiken wie Boxwettkämpfe oder Pferderennen, die noch heute als sportliche Disziplinen fortexistieren, andererseits kannten die Altertumskenner eine breite textliche und bildliche Überlieferung über derartige Praktiken in der Antike, deren Ursprung religiöse Feierlichkeiten bildeten und die – laut Böttiger – eine Voraussetzung für den hohen Entwicklungsstand der antiken Kunst darstellten, indem sie die zur Hervorbringung von Idealen notwendigen realen Modelle zu bilden halfen. Die Wiederkehr des antiken Körperkults, eines durch und durch unchristlichen Phänomens, und somit auch der höchsten Blüte der Kunst hält Böttiger im Namen des Fortschritts der Menschheit nicht für wünschbar: Myron trat in die Schranken und errang durch die strotzende Regsamkeit und Gediegenheit, durch die schwellende und schwebende Lebens- und Muskelfülle seiner bis zur 98 Vgl. Franz Schnorr von Carolsfeld: Carl August Böttigers handschriftlicher Nachlass, [Dresden] 1866, SLUB Dresden, Bibl. Arch. III. H, Vol. 735.a, S. 112. 99 Böttiger: Nach Goethe’s Tod (wie Anm. 18), Z. 604–608. 100 Felix Saure: »Körperliche Stärke und Behendigkeit zu ehren« oder Olympia in Berlin. Der deutsche Idealismus, die Sportwettkämpfe im antiken Griechenland und das moderne Deutschland, in: German as a Foreign Language (GFL), 8, 2007, Nr. 2, S. 7–27. – Ders.: Beautiful Bodies, Exercising Warriors and Original Peoples. Sports, Greek Antiquity and National Identity from Winckelmann to ›Turnvater Jahn‹, in: German History, Oxford 2009, Bd. 27, Heft 3, S. 313–330.

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René Sternke letzten Vollendung ausgearbeiteten, in die gewagtesten Stellungen gebrachten Athletenkörper, die sich nur einmal so in der ganzen Völker und Menschengeschichte zeigen konnten und – ist uns ein Glaube an fortschreitende Menschheit heilig – nach unseren Wünschen auch nie wieder zeigen mögen, die erste Palme der ikonischen Plastik.101

Nach dieser Grundsatzerklärung vermittelt Böttiger jedoch eine derart komplexe Vorstellung von der antiken Agonistik und Kosmetik, wie sie sich kaum bei einem anderen Autor findet. Felix Saure fokussiert vor allem die Wechselbeziehung zwischen Körper und Kunstwerk, die durch Böttiger so weit getrieben wird, dass die Grenze zwischen Beidem aufgehoben wird. Auch Böttigers Sabina evoziert und antizipiert eine Dekadenz, in welcher die Natur ganz in der Kunst aufgeht.102 Wie Wiedemann unterwirft auch Saure Böttigers Wörlitzer Reisetagebuch einer Relektüre. Während Wiedemann Böttigers Verspottung des fürstlichen Spielwerks betont, hebt Saure den komplementären Aspekt, die Auffassung der Drehbergspiele als etwas romantisch im Geiste der Alten Gedachtes, hervor. Saure erweitert Wiedemanns Kulturtopographie durch einen im wissenschaftlichen Bewusstsein rekonstruierten Ort: Böttigers archäologische Evokation des antiken Olympia berücksichtigt dessen materielle Ermöglichungsbedingungen und die soziale, sakrale, politische und ökonomische Funktion dieses kultischen Orts: Handel, Verkehr, Bauten, Menschenmassen, Herrschaftsverhältnisse, Praktiken, Interaktionen. Saures um die in Böttigers Schriften inszenierten Körper und Orte zentrierter Beitrag macht das große kulturwissenschaftliche Potential dieser Texte sichtbar. Kordelia Knoll analysiert Böttigers Schriften über die Dresdner Antikensammlung. In diesem Beitrag wird Böttigers archäologisches Schaffen seit mehr als einem Jahrhundert erstmals in seiner Komplexität mit archäologischer Fachkompetenz beurteilt. Die Dresdner Antikengalerie, eine der ersten und über lange Zeit die bedeutendste Sammlung im nördlichen Europa, mit ihrer einzigartigen Kollektion antiker Plastik und den Mengs’schen Gipsabgüssen spielte bei der Konstitution des deutschen Klassizismus eine grundlegende Rolle. Heyne hatte in Dresden gelebt, Winckelmann hatte auf die Dresdner Antiken aufmerksam gemacht, Lessing hatte darüber geschrieben103 und andere wie Nicolai dazu angeregt, sie ihrerseits zu besichtigen.104 1795 kam es in Dresden zu einer Begegnung zahlreicher bedeutender

101 Karl August Böttiger: Myron und der athletische Kreis, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 8), Bd. 2, S. 59–84, hier S. 67. 102 Vgl. René Sternke: Karl August Böttiger, der archäologische Diskurs und die moderne Dichtung, in: Veit Rosenberger (Hg.): »Die Ideale der Alten«. Antikerezeption um 1800, Stuttgart 2008, S. 93–112, besonders S. 111. 103 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Ueber die so genannte Agrippine, unter den Alterthümern zu Dresden. 1771, in: Lessings vermischte Schriften. Zehnter Theil (wie Anm. 9), S. 226–230. 104 Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel mit Karl Wilhelm Ramler, Johann Joachim Eschenburg und Friedrich Nicolai. Nebst einigen Anmerkungen über Lessings Briefwechsel mit Moses Mendelssohn, Berlin, Stettin 1794, S. 365.

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Kunstkenner: Goethe, Meyer, Ramdohr, Herder, Wieland, Böttiger.105 Als Böttiger Heyne darüber Bericht erstattet, bemerkt dieser: Von dem vergangenen Sommer hoffe ich auf künftige Früchte des Dreßdnischen Kunstvorraths, auf mehr als eine Weise: so viel Kunstkenner kamen dießmal in Dreßden zusammen. Welche Fortschritte auch in diesem Fach! Wie ich in Dreßden lebte, war doch keine Seele, welche darauf achtete! u. ausser Dreßden, wer dachte daran! Bloß durch den K[önig] v[on] Pr[eußen] der den großen Garten verwüstete, wurden sie bekannt. Dann kam Winkelmann.106

Böttiger arbeitet seit seiner Hofmeisterzeit in Dresden daran, einst die Direktion der Galerie zu übernehmen. Zunächst begeistert und unkritisch, wird er zu einem der heftigsten Kritiker sowohl der Ergänzungen als auch der Aufstellung der Antiken. Später als Böttiger endlich den begehrten Posten erhalten hat, sucht er jedoch nach anderen Tätigkeitsbereichen, wie sie in Gerlachs Beitrag beschrieben werden, und widmet sich der Herausgabe der archäologischen Fachzeitschriften. Die Erarbeitung des neuen Kataloges überlässt er seinem Unterinspektor, Heinrich Hase, und äußert sich Raoul-Rochette gegenüber eher abfällig über die Arbeit seines Kollegen, die er im Vergleich mit Friedrich Gottlieb Welckers unter dem Titel Das akademische Kunstmuseum zu Bonn erschienenem Katalog der Bonner Gipsabgusssammlung schlecht abschneiden lässt: Cependant je me suis empressé de Vous envoyer cet exemplaire en y joignant un exemplaire du Catalogue de notre gallerie d’antiques fait par mon collègue Mr. Hase. Il ne resemble pas à celui que Mr. le Professeur Welcker de Bonne a donné des platres qui se trouvent au Musée de l’université de Bonn. La le savant Welcker a donné d’excellentes observations sur les sculptures les plus distinguées de l’Antiquité Grecque que l’on a moulé chez Vous. Je ne doute nullement que Mr. Welcker pendant son sejour à Paris ne Vous eut presenté ce catalogue qui renferme à peu près toutes les opinions de nos plus savans archéologues. Notre catalogue de Dresde se borne à faire l’énumeration de nos statues avec quelques legeres indications.107

Allerdings hat Böttiger, wie Knoll in vorliegendem Buch zum ersten Male darstellt, in seiner Amtszeit bereits mit der Entrestaurierung von Dresdner Statuen begonnen und damit für die spätere Entwicklung der Sammlung den Weg gewiesen. Der Beitrag von Kordelia Knoll ist auch darum von grundlegender Bedeutung für das Verständnis des kunsttheoretischen Diskurses des 18. und 19. Jahrhunderts, weil er die Dresdner Sammlung, die eine wesentliche Referenz dieses Diskurses war, in der Gestalt, in der sie in der klassizistischen Ära existierte, im wissenschaftlichen Bewusstsein rekonstruiert. Inzwischen sind die Kunstwerke infolge der durch 105 Vgl. Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 19), S. 335f. 106 Christian Gottlob Heyne an Karl August Böttiger, Göttingen, 16. Oktober 1794, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 15), Nr. 25, Z. 40–46. 107 Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette. Dresden, 4. November 1827, in: Ders.: Briefwechsel mit Raoul-Rochette (wie Anm. 92), Nr. 14, Z. 19–30.

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Böttiger eingeleiteten Modifikationen neuinterpretiert, umbenannt, umgeordnet und entrestauriert worden, so dass es dem heutigen Besucher der Sammlung ohne die hier von Knoll vorgelegte Arbeit kaum möglich ist, die Stücke, an denen sich damals eine lebhafte Diskussion entzündete, wiederzuerkennen. Der letzte Beitrag im vorliegenden Band beschäftigt sich mit Böttigers handschriftlich überlieferten erotisch-antiquarischen Studien, welche zur Vermittlung eines Eindrucks von Böttigers Arbeitsweise im Anhang faksimiliert werden. Der Titel Juno die Schwanzsaugerin zitiert nicht nur die Überschrift eines der wenigen ausgearbeiteten Abschnitte dieser Manuskripte (Bl. 17r), sondern benennt auch die beiden Aspekte, welche die einander berührenden Extrempunkte von Böttigers Deutungen der aus der Antike überlieferten Text- und Bildzeugen zu diesem Gegenstandsbereich bilden: Religion und profaner Sinnesgenuss. Das konkrete Beispiel, das der Titel benennt, beruht auf dem Zeugnis der Kirchenväter, welche über diese bildliche Darstellung einerseits überhaupt erst informieren und sie andererseits negativ bewerten: There was a picture in Samos or Argos or in both which has a rather indecent scene. Diogenes cries shame over the wording of the interpretation by Chrysippus but avoids mentioning the contents of the picture. Thanks to Clemens, Origenes and Theophilus we are able to reconstruct the scene. Hera brings her face to the m em br um v i r i l e of Zeus, to have oral sex with him (›to give head to‹), so that her mouth was polluted.108

Die hier im religiösen Raum dargestellte Körperhandlung kommt in der Antike aber auch im profanen Kontext, in der Prostitution, vor: Zu den sexuellen Vorlieben der Kunden gehörte an erster Stelle die häufig in den Graffiti, aber auch in Satire und Epigramm belegte Praxis der Fellatio. Sie ist ein beliebter und gängiger Topos in der griechischen wie lateinischen Literatur. Fellatio wurde, wie überhaupt jede sexuelle Betätigung mit dem Mund, als ekelhaft empfunden; über sie zu sprechen verstieß gegen den Anstand. […] Andererseits galt fe l lat io den Kunden als Nonplusultra sexueller Befriedigung: Graffiti loben die Fähigkeit einiger Freudenmädchen als fe l lat r ices, und Martial konkurriert mit einem Freund um die Gunst einer besonders geübten f e l l a t r ix .109

Den Rang einer »figure académique X« nimmt diese Praxis, insofern Martine Boyers Studie über den Écran de l’amour aus dem Jahre 1990 noch gültig ist, auch heute ein: En fin de parcours, le X bute sur ce star-couple : langue-pénis (sperme-salive), et ne peut que le répéter indéfiniment.110

108 Pieter A. Meijer: Stoic Theology. Proofs for the Existence of the Cosmic God and of the Traditional Gods. Including a commentary on Cleanthes’ Hymn on Zeus, Delft 2007, S. 104. 109 Bettina Stumpp: Prostitution in der römischen Antike, Berlin 2001, S. 222. 110 Martine Boyer: L’écran de l’amour. Cinéma, érotisme et pornographie 1960–1980, Paris 1990, S. 127.

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Bereits der komparative Archäologe Böttiger bemerkt die Universalität dieser kulturellen Praxis und konstruiert eine kulturenübergreifende Entwicklung (Bl. 18r): Uebrigens ist zwischen diesem Orphischen Skandal und den Reliefs in den Pagoden von Canova, die Townley in Kupfer stechen ließ, eine unverkennbare Verwandschaft.

Otfried Müller erwähnt das »scheußliche Bild von Zeus u. Hera’s Liebe« in jenem Abschnitt seines Handbuchs der Archäologie der Kunst, in welchem er von ›Pornographen‹ spricht, es fehlt auch nicht in Raoul-Rochettes Abhandlung De la pornographie,111 welche das Konzept der ›Pornographie‹ lanciert. Mein Essay unternimmt eine diskursgeschichtliche Rekonstruktion der Entstehung dieser Konzepte, um Böttigers Position bestimmen zu können. Böttiger arbeitet bereits auf dem fraglichen Gebiet, bevor das Konzept der ›Pornographie‹ verfügbar ist; auf das aus der Naturgeschichte in die Kulturgeschichte eindringende Konzept der ›Sexualität‹ greift er nicht zurück. Die Konturen des Forschungsfeldes und seine begriffliche Bestimmung sind umso unschärfer, als Böttiger, der den Religionen eine zivilisatorische Mission zuspricht, die fraglichen Praktiken als Bestandteil der antiken Religionen würdigt und sie gleichzeitig, da sie von der aktuell gültigen Religion verworfen werden, verurteilt. Wie im Falle der antiken Agonistik relativiert und unterwandert Böttiger auch in Bezug auf die Erotik sein rigoroses moralisches Urteil ästhetisch: Welche Fülle neuer Ansichten erhielten die beiden Sy mpleg men im folgenden Saal, sprechende Denkmale einer alles auflösenden Verweichlichung, die sich auch dem Marmor im Ausdruck des allgeschmeidigen (cor p ore exossato) Hermaphroditenkörpers mittheilte. Was die Ringschulen und Bäder üppiges sahen, tritt hier in diese Klinopale in eins verkörpert zusammen. Man kann die Kunst bewundern und dabei doch wünschen, dass die Menschheit nie wieder bis d a h i n ausarte.112

Sinnliche Verführung und moralische Belehrung bilden in den Böttiger’schen Schriften eine Symbiose, die es zweifelhaft macht, ob die Verführung der Belehrung oder die Belehrung der Verführung dient. – Die Absicht, Böttigers Sammlung von Reproduktionen erotischer Werke bildlich zu rekonstruieren, habe ich aufgegeben, da die damals außerordentlich schwer zugänglichen Werke heute durch Reproduktionen weitverbreitet sind. Stattdessen konfrontiere ich die Texte mit weniger bekannten, im Bildnachweis durch Saskia Wetzig erläuterten und vor den Augen des Publikums leider noch verborgenen Objekten aus dem gegenwärtig in einer provisorischen Aufstellung präsentierten reichen Kunstschatz der Dresdner Antikensammlung. Zwar wurden viele dieser Stücke erst zu Lebzeiten des Archäologen, Sammlers und 111 Désiré Raoul-Rochette: Peintures antiques inédites précédées de recherches sur l’emploi de la peinture dans la décoration des édifices sacrés et publics, chez les Grecs et chez les Romains ; faisant suite aux Monuments inédits, par M. Raoul-Rochette, Paris 1836, S. 253. – Zu Müller vgl. unten S. 329f. 112 Karl August Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen den 25. August 1798, o. O. 1798, S. 5.

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Mäzens Ernst von Sieglin (1848–1927) entdeckt und nach Dresden gebracht,113 doch waren Böttiger und seine Zeitgenossen dank den Gabinetti segreti der Sammler und den archäologischen Bildwerken mit derartigen Darstellungen vertraut. Der Einband zeigt die Aphrodite Kallipygos in einem Abguss des von Böttiger seit 1814 neben der Antikengalerie beaufsichtigten Mengs’schen Gipskabinetts. Die von einem Dresdner Künstler nach dem Original angefertigte Kreidezeichnung in Böttigers Erotikasammlung (Bl. 11v) und Rowlandsons moralische Attacke auf eine Botschaftergattin (vgl. S. 133, Abb. 9) bezeugen die Modernität der Antike. Urbanität, Spektakel, Publizistik, Kulturbetrieb mit Theatern und Museen, Kapitalismus, Sport, agonistische, d. h. Wettbewerbsgesellschaft, Sex und all das miteinander verwoben – Böttiger antizipiert und konzeptualisiert die moderne Gesellschaft, indem er die Antike, bald warnend, bald lobend, bald moralisierend, bald fasziniert, wiederbelebt. Die enge Vertrautheit mit der Antike liefert dem Archäologen Böttiger Schlüssel zur Lesbarkeit einer allgemein noch unbegriffenen Moderne. Sie eröffnet ihm den theoretischen und den praktischen Zugang zu einem noch unbewältigten Neuen, macht es deutbar und veränderbar. Böttigers Schriften sind Inkunabeln der Moderne. Der vorliegende Band will und kann den g anzen Böttiger nicht liefern. Dass zahlreiche Themen (Mode, Rolle der Frau, Pädagogik, Keramologie, Religionsgeschichte, Geschichte der Botanik) fehlen, liegt daran, dass das Buch, ohne Unterstützung einer Institution und nur dank dem aufopferungsvollen Engagement einzelner Wissenschaftlerpersönlichkeiten, der Autoren und tätiger Unterstützer wie Saskia Wetzig (SKD), Perk Loesch (SLUB Dresden), Brigitte Leuschner und MarieLuise Körner, zustande kam. Das Bemühen des Herausgebers, mehr Outsider zu mobilisieren, ist allerdings gescheitert und stattdessen das Establishment (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar) prominent vertreten. Böttiger forschte zeit seines Lebens außerinstitutionell und achtete bei allen Schwächen, die man ihm vorwerfen kann, stets selbstbewusst auf persönliche Unabhängigkeit. Zwar verneigte er sich in den Widmungen vor den Hohen der Erde und den Großen des Geistes, doch stellte er zur Ermöglichung der Publikation seiner Forschungen keine Anträge und unterwarf seine Werke keiner Begutachtung, sondern vertraute auf die Öffentlichkeit und den Markt. Freilich wurden seine Hoffnungen und Erwartungen meist getäuscht. Mögen die Schicksalsgöttinnen dem vorliegenden Buch ein glücklicheres Fatum bescheiden. Berlin, im Sommer 2012

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113 Vgl. Jutta Fischer: Griechisch-römische Terrakotten aus Ägypten. Die Sammlungen Sieglin und Schreiber, Dresden u. a. 1994.

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Conrad Wiedemann

Böttiger trifft Schadow Fachgeschichtliche und kulturtopographische Voraussetzungen des Briefwechsels zwischen Karl August Böttiger und Johann Gottfried Schadow

Ein halbierter Briefwechsel Johann Gottfried Schadow (1764–1850) und Karl August Böttiger (1760–1835), der Berliner Bildhauer und der Weimarer, dann Dresdener Altertumswissenschaftler, waren rund 30 Jahre durch eine freundschaftliche Korrespondenz verbunden. Von den 63 im Dresdener Böttiger-Nachlass erhaltenen Briefen, die vom 18. Januar 1804 bis zum 7. Mai 1832 datieren, stammt allerdings nur einer von Böttiger (30. Dezember 1805), alle anderen von Schadow (einschließlich der drei, die Rudolf/Ridolfo Schadow im Frühjahr 1810 für seinen erkrankten Vater übernahm).1 Für Kenner des Böttiger-Nachlasses ist dieses eklatante Missverhältnis nicht ungewöhnlich. Denn da der Großpublizist und Großkorrespondent Böttiger seine Post in der Regel sehr sorgfältig archivierte, seine Partner die ihre hingegen nur selten, sind viele seiner Briefwechsel ähnlich einseitig überliefert.2 Wir haben es also mit einem halbierten Briefdialog zu tun, in dem der um seinen Text gebrachte Partner nur in der direkten und indirekten Ansprache des anderen gegenwärtig ist. Die Verführung, einen 1 Vgl. Franz Schnorr von Carolsfeld: Carl August Böttigers handschriftlicher Nachlass, [Dresden] 1866, SLUB Dresden, Bibl. Arch. III. H, Vol. 735.a, S. 259. 2 Vgl. Robert Boxberger (Hg.): Briefe des Bildhauers Chr. Rauch, meist an Hofrath Böttiger, aus dessen Nachlaß auf der Bibliothek in Dresden, in: Jahrbuch der kgl. Preuß. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, N.F. 11, 1882, S. 115–175; Luise Gerhardt (Hg.): Karl August Böttiger und Georg Joachim Göschen im Briefwechsel, Leipzig 1911; Bernd Maurach (Hg.): Die Briefe Garlieb Merkels an Carl August Böttiger, Bern 1987; ders. (Hg.): Der Briefwechsel zwischen August von Kotzebue und Carl August Böttiger, Bern 1987; ders. (Hg.): Die Briefe Johann Daniel Sanders an Carl August Böttiger, 4 Bde., Bern 1990–1992; ders. u. a. (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Nicolai und Carl August Böttiger, Bern 1996; Klaus Gerlach, René Sternke (Hg.): Karl August Böttiger. Briefwechsel mit Auguste Duvau, Berlin 2004; Bénédicte Savoy (Hg.): Lettres d’Aubin-Louis Millin à Karl August Böttiger 1797–1817, in: Geneviève Espagne, Bénédicte Savoy (Hg.): Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclopédique – Les lettres à Karl August Böttiger, Hildesheim 2005; Klaus Gerlach, René Sternke (Hg.): Karl August Böttiger. Briefwechsel mit Christian Gottlob Heyne, Berlin 2012.

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solchen Text monologisch zu lesen, ist sicher groß. Ältere Werkeditoren, die ihre Geistesheroen sowieso monologisch verstanden und deshalb Gegenbriefe gar nicht erst brachten,3 hätten darin wohl kein Problem gesehen. Moderne Briefeditoren, die ihren Gegenstand mit Begriffen wie Dialog, Netzwerk und Milieu assoziieren, reagieren auf den Verlust des Gegentextes eher umgekehrt. Sie betrachten ihn als Herausforderung an den Kommentar, an dessen Beginn die Rekonstruktion des Anlasses und der bildungsgeschichtlichen Voraussetzungen der Brieffreundschaft stehen muss, wie sie auf den folgenden Seiten versucht wird.

Böttigers Diskursordnung In Böttigers Korrespondenz-Kosmos sind bildende Künstler die Ausnahme. Das ist zunächst überraschend, denn wenn ihm aufgrund seiner archäologischen und mythologischen Interessen eine soziale Gruppe besonders nahe stand, dann die klassizistischen Künstler seiner Epoche. Zu bedenken ist allerdings, dass er die Gesellschaft mit dem Blick des Journalisten sah und beständig Ausschau nach gelehrten Beiträgern hielt, die unter bildenden Künstlern wohl am wenigsten zu finden waren.4 Auch zur Briefschreiberei aufgelegte Bildhauer dürften selten gewesen sein. Das Gros seiner Briefpartner bestand dementsprechend aus Altphilologen, Archäologen, Kennern, Sammlern, Verlegern, Buchhändlern, Schriftstellern und Kulturbürokraten – also durchwegs Vertretern oder Nutzern der gelehrten Schriftkultur. Wobei schnell deutlich wird, dass die ästhetische Kritik zeitgenössischer Kunst kaum eine Rolle spielt. Böttiger war, wie René Sternke gezeigt hat, einer der großen Modelleure des archäologischen Fachdiskurses und seines bildungsbürgerlichen Widerhalls,5 sein noch zu untersuchender Anteil an der Herausbildung der modernen Kunstkritik6 dürfte geringer zu veranschlagen sein. Auch in der Theaterkritik, die er im Gegensatz zu jener ziemlich konsequent betrieb, wurde er im Übrigen keine Berühmtheit.

3 Das bekannteste Beispiel ist die Weimarer Gesamtausgabe von Goethes Werken, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 143 Bde., Weimar 1887–1911 (Sophien-Ausgabe). 4 Zu Böttigers Briefwechsel mit Therese aus dem Winckel vgl. René Sternke: L’archéologue Millin – modèle de l’archéologue Böttiger, in: Espagne, Savoy (Hg.): Aubin-Louis Millin (wie Anm. 2), S. 79–93, hier S. 85f. und 90–92. Zu Böttigers Briefwechsel mit Tischbein vgl. René Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs. Mit einem Anhang der Schriften »Goethe’s Tod« und »Nach Goethe’s Tod« von Karl August Böttiger, Berlin 2008. – Von dem Maler Ludwig Hummel gibt es im Dresdener Nachlass eine Reihe von Briefen, von Karl Friedrich Schinkel jedoch nur zwei. 5 Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 4). 6 Von 1822 bis 1835 gab Böttiger das Artistische Notizenblatt als Beilage zur Dresdener AbendZeitung heraus, in welchem er sich auch zu zeitgenössischen Künstlern wie Caspar David Friedrich äußerte.

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Unter den 60 bis 70 dauerhafteren Briefpartnern Böttigers, zu denen, so weit ich sehe, kein einziger Architekt und fast keine Maler gehören, sind die beiden Berliner Bildhauer-Koryphäen Schadow und Rauch denn auch ziemlich auffällig. Um Journalistisches kann es dabei à la longue nicht gegangen sein. Schadow hat Böttiger nur ganz am Anfang einige Artikel geliefert, Rauch vermutlich keinen einzigen. Wichtiger dürfte die kulturelle Bedeutung Berlins gewesen sein. War doch, wie Weimar das Zentrum des literarischen, Berlin damals das Zentrum des künstlerischen Klassizismus in Deutschland. Möglich also, dass Böttiger nach dem Scheitern seiner Berliner Berufung 1803 dort als Berater der künstlerischen Prominenz gegenwärtig bleiben wollte, so wie er zuvor fast anderthalb Jahrzehnte lang in Weimar die literarische Prominenz beraten hatte. Auch die Beobachtung, dass sich die Spanne der Rauch-Korrespondenz (1822–1832) weitgehend mit dem Versiegen der Schadow-Korrespondenz deckt (in 11 Jahren nur noch 8 Briefe), weist in diese Richtung. Der Briefwechsel hat allerdings eine Vorgeschichte. Bevor er 1803 begann, sind Böttiger und Schadow zweimal aufeinander getroffen. Das erste Mal im August 1797, als Böttiger gemeinsam mit Aloys Hirt nach Berlin kam, um die alten und neuen Kunstschätze der preußischen Residenz und seine eigene Großstadttauglichkeit zu erkunden. Von diesem Aufenthalt ist eine längere und für beider Rollenverständnis durchaus ergiebige Tagebuch-Eintragung zu Schadows Werk überliefert. Das nächste Treffen fand im September 1802 statt, als Schadow während einer Gelegenheitsreise nach Weimar und Jena den Plan fasste, Wielands Büste zu modellieren, und sich dafür den Beistand des Wieland-Intimus Böttiger erbat. Der Plan gelang, nicht zuletzt dank Böttigers Hilfe, verwickelte Schadow allerdings in eine befremdliche Ranküne um das kulturelle Kommando in der Stadt. Daraus haben sich wohl gegenseitige Sympathien entwickelt.

Rom – Weimar – Berlin 1797 Böttiger kam im Hochsommer 1797 nicht Schadows, sondern des Verlegers Johann Daniel Sander wegen nach Berlin. Sander, ein gelernter Philologe, hatte 1795 die Vossische Buchhandlung in Berlin übernommen und 1796 den Briefkontakt zu Böttiger gesucht, in der erklärten Absicht, den bekannten Publizisten entweder nach Berlin zu holen oder als auswärtigen Freund fest an den Verlag zu binden.7 Zu diesem Zweck umwarb er ihn zwischen Juli 1796 und Juli 1797 mit einer vertraulichdetaillierten Berlin-Berichterstattung, mit immer dringlicheren Einladungen in sein Berliner Haus und schließlich mit der Bitte um Patenschaft für sein Söhnchen August – Dinge, die Böttiger offensichtlich durchweg gefielen, auch wenn wir die Nuancen seiner Reaktion (denn auch hier fehlen seine Gegenbriefe) nicht kennen. 7 Vgl. Maurach: Die Briefe Sanders an Böttiger (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 93.

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Sicher ist, dass er während des Berlinaufenthalts im August 1797 im Hause Sander wohnte und von den Gastgebern in Berlin herumgereicht wurde. Schadow scheint allerdings nicht zum engeren Umkreis des Hauses gehört zu haben. Gegenüber Christian Gottlob Heyne, dem prominenten Göttinger Altphilologen, hat Böttiger Anlass und Verlauf seiner Berlinreise freilich anders dargestellt. Am 5. Oktober 1797 schrieb er ihm: Der Hofrath Hirt, den sein Glückstern noch zur rechten Zeit aus Rom nach Berlin leitete, besuchte uns hier [in Weimar], und bewog mich, ihn über Dresden nach Potsdam und Berlin zu begleiten. Ich habe an seiner Seite die brandenburgischen, in hundert Winkeln königlicher Palläste zerstückelten Kunstwerke, Kunstschätze gesehn und weit mehr gefunden, als ich erwartet hatte.8

Der Name Hirt ließ den Göttinger Adressaten fraglos an einen wissenschaftlichen Reisezweck und ein einschlägiges Berufsfeld denken. Denn anders als die Altersgenossen Böttiger und Sander (geb. 1759) waren die Altersgenossen Böttiger und Hirt (geb. 1759) auch Fachgenossen. Und zwar bekannte. Im weitesten Sinn gehörten sie zu jener gelehrten Elite, die seit dem 15. Jahrhundert den europäischen Hofund Stadtgesellschaften ein aktualisierbares Wissen über die heidnische Antike vermittelte und dabei die Philologie mit einer meist indirekten Kunstkennerschaft verband. Im engeren Sinn gehörten sie zu den Erben Winckelmanns und seiner Theorie griechischer Klassizität, womit sie sich im aktuellen, sprich: klassizistischen Kulturbetrieb gut platziert fühlen konnten.9 Zum Wandel des Antikebildes gehörte natürlich auch, dass die einschlägigen Berufsbilder in Bewegung gerieten – am stärksten wohl durch die Einflussnahme des seit 1780 sich formierenden Deutschrömertums. Nicht dass die universitäre Altphilologie geschlafen hätte. Heyne in Göttingen und Wolf in Halle, der eine als Mythen-, der andere als Erzählforscher, lasen die Zeichen der Zeit durchaus richtig und verschafften speziell der Gräzistik neues Ansehen und neuen Zulauf. Doch mindestens ebenso wirksam, wenn auch an anderer Stelle, wurden Romrückkehrer wie Heinse, Puhlmann, Schadow, Moritz, Goethe, Herder, Hirt, Fernow, Wilhelm von Humboldt oder Rauch, die die aufklärerischen Bildungsschichten an den Höfen und in den Städten mit ihren je eigenen Rommythen und autoptischen Bilderlebnissen infizierten. Damit ist schon angedeutet, was Böttiger und Hirt beruflich unterschied. Hirt war im Gegensatz zu Böttiger durch die Schleuse dieses Deutschrömertums gegangen, was 1797 als ein beträchtliches Prä im Kulturbetrieb galt. Kam, wie in seinem Fall, noch die Routine und der Ruhm einer 14 Jahre währenden römischen Cicerone8 Vgl. Gerlach, Sternke: Böttiger. Der Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 2), Nr. 46, Z. 51–56. – Für die Überlassung der Briefstelle danke ich Dr. René Sternke und Dr. Klaus Gerlach, die die Edition des Briefwechsels zwischen Böttiger und Christian Gottlob Heyne vorbereiten. 9 Einführend siehe Norbert Miller: Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron, in: Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 4: Aufklärung und Romantik 1700–1830, Frankfurt/M. 1983, S. 315–366.

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Tätigkeit dazu, dann war ein Karrieresprung kaum zu vermeiden. Der entschieden klassizistisch ausgerichtete preußische König zögerte denn auch nicht lange, ihn in seinen kulturellen Beraterstab aufzunehmen (mit Hofratstitel und AkademieMitgliedschaft).10 Böttigers Weg war konventioneller. Aus der Gelehrtenschmiede Schulpforta kommend, bildete er sich bei Ernesti in Leipzig zum klassischen Altphilologen aus und geriet, da er den Winckelmannischen Trend zur Archäologie zunächst noch außer Acht ließ, anstatt nach Italien in die übliche berufliche Doppelschleife des Hof- und Schulmeisterdaseins. Erst als er 1790 Gymnasialdirektor in Weimar wurde, wuchs ihm als Nebenrolle die gelehrte Beratung des klassizistischen Musenhofs zu. In gewisser Hinsicht ein externes Cicerone-Amt also, hatte es doch in Weimar wie in Rom vornehmlich mit Künstlern und Aristokraten und deren antiquarischen Wissenslücken zu tun. Zugleich allerdings auch ein Dementi dieses Amts, denn zum wirklichen Cicerone fehlte Böttiger die dienstbare Verbindlichkeit, wie sie sich vor allem Goethe ausbedang. Sein selbstbewusster, mitunter anzüglicher Umgang mit den vier Großen von Weimar verschaffte ihm zwar öffentliche Aufmerksamkeit, führte aber schon bald zu Spannungen mit Goethe, Schiller und zeitweise auch Herder. Dass er trotzdem bis 1804 in Weimar aushielt, hing nicht nur am Fehlen gleichwertiger Stellenangebote, sondern auch an der ihm durch Wieland und Bertuch eröffneten Möglichkeit, eine beträchtliche Rolle im gelehrten Journalismus zu spielen.11 Die Unterschiedlichkeit der Wege ist damit aber noch nicht erschöpft. Vor allem nicht hinsichtlich der nachrevolutionären Vorstellungen über Künstler- und Gelehrtenfreiheit.12 Besieht man den von Böttiger im Brief an Heyne apostrophierten »Glückstern« seines Kollegen genauer, dann wurde Hirt durch seine Berliner

10 Zu Hirt vgl. Claudia Sedlarz (Hg.) unter Mitarbeit von Rolf H. Johannsen: Aloys Hirt. Archäologe, Historiker, Kunstkenner, Hannover-Laatzen 2004. – Über Hirt in Rom vgl. Adelheid Müller: »Docendo discimus« … durch das Lehren lernen wir. Aloys Hirts Jahre als Cicerone in Rom, ebenda, S. 15–68. – Über Hirt im Berliner Kontext vgl. Adolf Heinrich Borbein: Klassische Archäologie in Berlin vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Willmuth Arenhövel, Christa Schreiber (Hg.): Berlin und die Antike. Aufsätze, Berlin 1979, S. 99–150, besonders S. 106–118. – Zu Hirt und Böttiger vgl. Uta Motschmann: Aloys Hirt an der Akademie der Wissenschaften und als Mitglied in Berliner Vereinen. Mit einem Anhang: Hirts Vorträge in der Philomatischen Gesellschaft, in: Astrid Fendt, Claudia Sedlarz, Jürgen Zimmer (Hg.): Aloys Hirt in Berlin. Kulturmanagement im frühen 19. Jahrhundert, Berlin (in Vorbereitung). 11 Zur Biographie vgl. Karl Wilhelm Böttiger: Karl August Böttiger. Eine biographische Skizze, Leipzig 1837; Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006. 12 Vgl. dazu Rainer Schoch: Rom 1797 – Fluchtpunkt der Freiheit, in: Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 1992, S. 17–23.

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Mäzenin13 zwar vor dem Erlebnis der napoleonischen Romplünderung bewahrt, allerdings auch in jene Abhängigkeit von Hof und Akademie zurückgeführt, die die Deutschrömer gern als Widerpart ihrer eigenen Freiheit verstanden. Als avanciertestes Zeugnis dieses Freiheitsgefühls gilt der stolze Brief des preußischen RomStipendiaten und Malers Asmus Jakob Carstens vom 20. Februar 1796, in welchem er seinem vorgesetzten Minister und Akademie-Kurator, Friedrich Anton von Heinitz, zu wissen gab, dass er sich weder ihm noch den Direktoren der Berliner Akademie zur künstlerischen Rechenschaft verpflichtet fühle.14 Nimmt man hinzu, dass nicht wenige Deutschrömer Napoleon durchaus begrüßten, dann darf man vermuten, dass Hirt seinen Einzug in die von Carstens geschmähte Königliche Akademie nicht ausschließlich als Triumph empfunden hat. Bei Böttiger, obwohl auch er in einem Kunstreservat lebte, waren die Akzente anders gesetzt. Als bloßer Schulmann verteidigte er in Weimar im Grunde die Gelehrtenfreiheit gegen die Künstlerfreiheit. In Ermangelung von Akademie und Universität bediente er sich dafür der freien Medien, nämlich der althergebrachten Gelehrtenkorrespondenz und des modernen Wissenschaftsjournalismus, beides in extensivster Form und mit beträchtlichem Erfolg. Mit Hilfe der Ersteren wurde er, wie bereits angedeutet, zu einer Hauptstimme der modernen Archäologie, mit Hilfe des Letzteren zu einem der führenden Präzeptoren des deutschen Bildungsbürgertums. Anders als Hirt, der vom freien Unternehmer in Rom zum königlichen Beamten der Akademie und, ab 1810, auch der Universität zu Berlin avancierte, dabei aber seine nicht-disziplinäre Herkunft immer zu spüren bekam, suchte Böttiger als Komplement seines lebenslangen Lehramtes das freie Unternehmertum des Journalisten, das ihm seinerseits fachliche Missgunst einbrachte. Die unorthodoxe Art, mit der beide die Sache der Archäologie vorantrieben, blieb freilich ein Zwischenspiel. Was Borbein über Aloys Hirt gesagt hat, gilt deshalb auf modifizierte Weise ebenso für Böttiger. Danach repräsentieren beide eine »sehr wichtige Generation […] und […] die Übergangsepoche zwischen der Neubewertung der antiken Kunst

13 Die Berufung nach Berlin verdankte Hirt Wilhelmine Encke (noch in Italien zur Gräfin Lichtenau erhoben), der Mätresse und kunstsinnigen Lebensgefährtin Friedrich Wilhelms II., die er während ihres Romaufenthalts 1796 bei der Kunstbetrachtung und beim Kunstkauf beriet. Vgl. Alfred Hagemann: Wilhelmine von Lichtenau. Von der Mätresse zur Mäzenin, Köln u.a. 2007. 14 Frank Büttner (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Asmus Jakob Carstens und Minister Friedrich Anton von Heinitz, in: Asmus Jakob Carstens. Goethes Erwerbungen für Weimar, Schloß Gottorf in Schleswig 1992, S. 75–95. – Im Brief heißt es: »Uebrigens muß ich Euer Excellenz sagen, daß ich nicht der Berliner Akademie, sondern der Menschheit angehöre, die ein Recht hat die höchstmögliche Ausbildung meiner Fähigkeiten von mir zu verlangen; und nie ist es mir in den Sinn gekommen, auch habe ich dieses nie versprochen, mich für eine Pension die man mir auf einige Jahre zur Ausbildung meines Talents schenkte, auf Zeitlebens zum Leibeigenen einer Akademie zu verdingen.« (S. 89)

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als Vehikel der bürgerlichen Emanzipation und der Domestizierung dieses emanzipatorischen Impulses in einer methodisch rigorosen Universitätsdisziplin«.15 Dass Hirt sich ein Jahr nach seiner Ankunft in Berlin auch in Weimar, dem Zentrum des literarischen Klassizismus, vorstellte, entspricht durchaus diesem Befund. Für Goethe war 1797 u. a. das Jahr von Hermann und Dorothea, Euphrosyne und Die Braut von Korinth, für Schiller das Jahr des Wallenstein, der Kraniche des Ibykus und des misslingenden Kampfes um die Horen, als deren Ersatz Goethe schon ein neues einschlägiges Periodikum plante, das Propyläen heißen und sich um einen Kreis ausgewählter »Weimarer Kunstfreunde« formieren sollte. Unter diesen Umständen war der vom 28. Juni bis 12. Juli in Weimar und Jena weilende Hirt, den Goethe aus Rom kannte, ein erwünschter Gast. Nicht dass schon Einsichten im Sinn der kritischen Philosophie von ihm erwartet wurden, doch brachte er diskutable Thesen zum Geist der antiken Kunst mit, die Schiller sofort für den letzten Band seiner Horen anwarb.16 Auch in den Gesprächstext der Propyläen ist Hirt mit seiner Kunsttheorie bald darauf eingegangen (»der Charakteristiker«). Was Böttiger betraf, so wusste er damals längst, dass Goethe das entstehende Propyläen-Projekt nicht mit ihm, sondern mit Johann Heinrich Meyer, einem seit 1791 im Haus am Frauenplan lebenden Deutschrömer, vorantreiben würde. Meyer, halb bildender Künstler, halb Gelehrter, war ein kenntnisreicher, aber unorigineller Mann, der sich Goethes lebenslange Protektion durch weitgehende ästhetische Anpassung erwarb. Dies war von Böttiger und Hirt nicht zu erwarten. Und so erscheint es nur symptomatisch, dass sie sich in Weimar zusammentaten, um auf einer Sommerreise das klassizistische Potential der benachbarten Groß-Residenzen Dresden und Potsdam-Berlin zu prüfen – fraglos auch im Hinblick auf ihr jeweiliges berufliches Fortkommen. Anlass dazu gab es für beide. Böttiger, in Weimar nur noch halb geschätzt, hatte, wie wir wissen, schon seine Fühler nach Berlin ausgestreckt, Hirt konnte als Günstling eines im Sterben liegenden Königs nicht wissen, wie es nach dessen Tod für ihn weitergehen würde.17 Ansonsten dürften sie sich in gegenseitiger Anerkennung geübt haben. Böttiger jedenfalls, der weniger Prominente, den aber Goethe für den profunderen Wissenschaftler hielt,18 fühlte sich Hirt selbst in Berlin nicht unterlegen und reklamierte gegenüber Dritten seinen Anteil an dessen berühmtem Museumsplan von 1797.19 Im schon zitierten Brief an Heyne heißt es: 15 Adolf Heinrich Borbein: Aloys Hirt, der Archäologe, in: Sedlarz: Aloys Hirt (wie Anm. 10), S. 175. 16 Aloys Hirt: Versuch über das Kunstschöne, in: Die Horen, Jahrgang 1797, Siebentes Stück, S. 1–37; ders.: Laokoon, ebenda, Zehntes Stück, S. 1–16; Nachtrag über Laokoon, ebenda, Zwölftes Stück, S. 19–28. – Zur Weimarer Wirkung dieser Aufsätze vgl. Martin Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796–1806, Berlin 2005, S. 12–84. 17 Der König starb am 16. November 1797, also rund drei Monate nach der gemeinsamen Reise. 18 Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller, Weimar, 1. Juli 1797: »in Absicht auf antiquarische Kenntnisse kann er neben Böttiger nicht bestehn, weil er weder die Breite noch die Gewandtheit hat«, in: Goethes Werke (wie Anm. 3), Bd. IV/12, Weimar 1893, S. 178. 19 Vgl. Elsa van Wezel: Das akademische Museum. Hirts gescheiterte Museumsplanungen 1797/98, 1820 und 1825, in: Sedlarz: Aloys Hirt (wie Anm. 10), S. 105–128.

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Conrad Wiedemann Unsere i™storia hat doch den guten Nutzen gehabt, dass Hirt Muth fasste, in der letzten Versammlung der Academie öffentlich auf ein Nationalmuseum anzutragen, und dass bei der großen Gunst, die er vom König selbst genießt, die Ausführung dieses Plans einige Wahrscheinlichkeit bekömmt.20

Ob Hirt dem zugestimmt hätte, sei dahingestellt. Indes zeigt Böttigers Bemerkung erneut, wohin er beruflich strebte, nämlich weg von der schulischen Altphilologie, wie er sie in Weimar ableisten musste, und hin zu einer angewandten Altertumskunde im Dienst der klassizistischen Moderne und ihrer Institutionen. Nur dort, so darf man hinzufügen, in den Sammlungen, Bibliotheken, Bauakademien, Theatern und zukünftigen Museen der Residenzstädte, gab es auch ein angemessenes Berufsfeld für seinesgleichen.

Böttiger und Berlin Böttiger hat im August 1797 ein Reisetagebuch geführt, das außer einem längeren Bericht über einen Wörlitzbesuch vermutlich nur seine Berliner Begegnungen enthielt. Drei von ihnen liegen – essayistisch aufgearbeitet – im Druck vor: nämlich die Begegnungen mit dem jüdischen Ehepaar Herz, mit dem Dichter und Übersetzer Karl Wilhelm Ramler und mit dem Bildhauer Gottfried Schadow.21 Als postumer Herausgeber fungierte Böttigers Sohn, dem bei seiner Auswahl möglicherweise noch ein geschlossenes Manuskript vorlag. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Wer das Tagebuch und damit den wahren Umfang des Böttiger’schen Berlin-Programms rekonstruieren wollte, müsste inzwischen von fragmentarischen Indizien im Nachlassregister (nämlich den Stichworten Charlottenburger Schloss und Gräfin Lichtenau)22 und in den Briefen Sanders (nämlich den Stichworten Spalding, Biester und Elisa von der Recke)23 ausgehen. Das kann aber nicht alles gewesen sein. Auffällig ist z. B. das Fehlen von Iffland, über dessen Schauspielkunst Böttiger 1796 ein Buch veröffentlicht hatte24 und mit dem er in Berlin auch sprach.25 Dass Böttiger seinem Gastgeber Sander bei der Abreise ein Tagebuch-Konvolut zur Prüfung und 20 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Weimar, 5. Oktober 1797, in: Gerlach, Sternke: Karl August Böttiger. Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 2), Nr. 46, Z. 56–60. 21 Karl Wilhelm Böttiger (Hg.): Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin. 1797, in: Ders. (Hg.): Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl Aug. Böttiger’s handschriftlichem Nachlasse, Zweites Bändchen, Leipzig 1838, S. 102–137. 22 Schnorr von Carolsfeld: Carl August Böttigers handschriftlicher Nachlass (wie Anm. 1), S. 396. 23 Vgl. ebenda, S. 378 und 400–404 sowie Johann Daniel Sander an Karl August Böttiger, Berlin, 11. November 1797, in: Maurach: Die Briefe Sanders an Böttiger (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 197. 24 Karl August Böttiger: Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprillmonath 1796, Leipzig 1796. – Das bei Schnorr von Carolsfeld erwähnte Blatt (vgl. Anm. 22) entstand im Zusammenhang mit Ifflands Weimarer Gastspiel. 25 Vgl. Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 103.

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Ergänzung hinterließ,26 lässt den Schluss zu, dass es sich dabei um ähnlich gut ausgearbeitete Teile gehandelt hat wie bei den publizierten. Ob das Tagebuch auch einen Bericht über den Ausflug nach Potsdam oder gar ein Gesamtinventar der mit Hirt besichtigten Kunstobjekte enthielt, muss offen bleiben. In den erschlossenen Quellen gibt es dafür weder Beleg noch Andeutung. Denkt man an das bescheidene Zeitbudget des Berlin-Aufenthalts (14 Tage) und die Vielzahl allein der gesellschaftlichen Verpflichtungen, die noch an Ort und Stelle in ein Diarium von Buchumfang eingingen, dann könnte Böttiger im Brief an Heyne auch ein wenig übertrieben haben, und das umso mehr, als Hirt in den Berliner Teilen des Tagebuchs kaum gegenwärtig ist. Möglicherweise spielte Böttiger aber auch eine latente Doppelrolle in Berlin, nämlich als archäologisch recherchierender Fachmann (die Hirt-Welt) und als publizistischer Netzwerker (die Sander-Welt). Doch das ist, bis zum Fund einschlägiger Quellen, eine bloße These.

Exkurs: Wörlitz als topographischer Kontrapunkt An dieser Stelle meiner kulturtopographischen Überlegungen scheint es sinnvoll, Böttigers Beschreibung des Wörlitzer Parks27 in den Vergleich einzubeziehen. Der Wörlitz-Essay ist der umfänglichste in Böttigers Reisetagebuch von 1797 und der einzige, der nicht Berlin betrifft. Das allein verleiht ihm Gewicht. Ja, zieht man in Betracht, dass Böttiger den Wörlitzer Park sowohl auf der Hin- wie Rückreise, also zweimal aufsuchte, und dass auch Hirt schon auf der Reise nach Weimar ausgiebig dort Station gemacht hatte, also mit Böttiger ebenfalls zum zweiten Mal dort war, dann könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass nicht Berlin, sondern Dessau-Wörlitz der eigentliche Zielpunkt der Sommerreise gewesen sei. Dass dem letztlich nicht so war, ist jedenfalls keine Selbstverständlichkeit und will erklärt werden. Machen wir uns klar: der Wörlitzer Park war in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts zwar eine Ikone der aufgeklärten Empfindsamkeit in Deutschland, aber alles andere als eine Novität.28 Eine solche war er, flankiert von den Gartentheorien Sulzers und Hirschfelds, in den 70er Jahren, als ihn Goethe wiederholt

26 »Bald komme ich zu Ihrem Spalding, Biester und Herz. Ich hoffe, dass Ihnen einige Berichtigungen, die ich mache, u. einige Anekdoten, die ich hinzusetzen kann, nicht unlieb seyn werden. Selbst in dem, was Frau von der Recke Ihnen erzählt hat, kann ich einiges berichtigen.« Johann Daniel Sander an Karl August Böttiger, Berlin, 23. Juni 1798, in: Maurach: Die Briefe Sanders an Böttiger (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 197. 27 Vgl. Karl August Böttiger: Reise nach Wörlitz 1797. Aus der Handschrift ediert und erläutert von Erhard Hirsch, 7., ergänzte Aufl., Wörlitz 1988. 28 Einführend: Dieter Hennebo, Alfred Hoffmann: Geschichte der deutschen Gartenkunst, Bd. III; Alfred Hoffmann: Der Landschaftsgarten, Hamburg 1963, S. 70–80.

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besuchte und, nicht anders als Wieland und Herder, mit hohem Lob bedachte.29 Obwohl er seitdem ständig erweitert worden war, absolvierten Böttiger und Hirt, beide auf die Vierzig zugehend, in Wörlitz denn auch weniger eine Einführungs- als eine Nachhollektion; Hirt, weil er anderthalb Jahrzehnte im Ausland verbracht hatte, Böttiger aus Nachlässigkeit oder weil Architektonisches ihn nur bedingt interessierte. Trotzdem war Böttiger bestens vorbereitet. Nicht nur, dass seine Abhandlung mit einem kritischen Überblick über die verfügbaren Wörlitzschriften beginnt, er kannte fraglos auch die generelle Diskussion zur Sache und hatte sich, wie sein Kommentar schnell verrät, die in Weimar von Goethe angeführte Kritik der sentimentalen Gartenkunst weitgehend zu eigen gemacht. Doch um die zeitgenössische Gartendiskussion kann es hier nicht gehen. Im Zusammenhang unseres kulturtopographischen Vergleichs interessiert allein die Grundeinstellung, die Böttiger zu seinem ländlichen Kultobjekt bekundet. Und diese ist überraschend positiv. »Der dritte August war einer der genussreichsten Tage meiner ganzen Reise«, heißt es am Beginn der Niederschrift, und am Ende: »Ein reicher, unvergeßlicher Tag meines Lebens! Am Arm meines guten, braven Sanders, mit meinen Dessauer Freunden, in belehrenden Unterredungen des so herzlich mitteilenden, redlichen Hirt!« Das klingt nach tiefem Einverständnis, vielleicht sogar Identifikation mit dem Gesehenen, auf welches, wie Böttiger gleich am Anfang behauptet, seine Erwartung so lange »gespannt gewesen« sei. Doch von einem Einverständnis dieser Art kann keine Rede sein. Im Grunde ist es ziemlich wenig, was ihm an Wörlitz gefällt: vor allem natürlich die Dominanz der antiken Motive, dazu das gelungene System der Ruhe- und Aussichtsplätze, die stimmungsvollen Spiegelungen der Architektur im Wasser oder die diskrete Platzierung einer Urne auf einem ansonsten freien Hügel. Alles andere verfällt einer Kritik, deren Hauptpunkte lauten: zuviel Künstlichkeit, zuviel Panoptikum, zuviel Didaktik, zuviel Stilmischung. Was letztere betrifft, so scheint es, als nährte Böttiger einen speziellen Zorn auf die Marotte der fürstlichen Bauherrn, alles mit natursteingemauerten Grottenanlagen zu unterlegen. Dass ein Tempel sich über einer Grotte erhebt, ist für ihn, aber offensichtlich auch für Hirt, »eine bizarre Idee«, ja ein »Barbarismus«.30 Ansonsten trifft er sich mehr oder minder mit Goethe, der einen knappen Monat später, am 1. September 1797, an der Parkanlage von Hohenheim deren disparaten Schaustückcharakter monierte: »nur machen viele kleine Dinge zusammen leider 29 An Charlotte von Stein, 14. Mai 1778: »Mich hats gestern Abend wie wir durch die Seen Canäle und Wäldgen schlichen sehr gerührt wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist wenn man so durchzieht wie ein Mährgen das einem vorgetragen wird und hat ganz den Charackter der Elisischen Felder in der sachtesten Manigfaltigkeit fliest eins in das andre, keine Höhe zieht das Aug und das Verlangen auf einen einzigen Punckt, man streicht herum ohne zu fragen wo man ausgegangen ist und hinkommt. […] Und nun bald in der Pracht der königlichen Städte [sc. Potsdam und Berlin] im Lärm der Welt und der Kriegsrüstungen.« In: Goethes Werke (wie Anm. 3), Bd. IV/3, S. 223. 30 Böttiger: Reise nach Wörlitz (wie Anm. 27), S. 29.

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kein großes«.31 Böttiger spricht in seiner Zusammenfassung von der unguten Manier, »einen Platz vollzupfropfen, der mit jedem noch so kostbaren Spielwerk immer mehr an Einheit des ganzen Plans und alleingefälliger Natur verlieren muß«.32 Wenn das von Böttiger beschworene Glück des Besuchstages am 3. August also nicht das Kunstobjekt meinen kann, dann bleiben nur das Selbsterlebnis und der Selbstgenuss dieses Tages übrig. Tatsächlich atmet der Tagebuch-Bericht über Wörlitz vom Anfang bis zum Ende die Genugtuung, der rechte Mann am rechten Ort gewesen zu sein. Der rechte Mann, weil die Wörlitzer Bildwelt seiner mythologischen Spezialisierung entsprach, der richtige Ort, weil Dessau-Wörlitz als ein genuines historisches Seitenstück zu Weimar gelten durfte, wenn auch, aus Böttigers Sicht von 1797, ein mehr oder minder missglücktes. Die kulturelle Profilierung von DessauWörlitz begann ja fast gleichzeitig mit der von Weimar, nämlich zwischen 1772 und 1775, und unter sehr ähnlichen Umständen. Es waren die Versuche fortschrittlicher Duodezfürsten, aufklärerisch-empfindsame Kulturzentren abseits von Macht und bürgerlicher Gesellschaft zu schaffen. Anders als Herzogin Anna Amalia setzte Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau dabei allerdings nicht auf bedeutende Schriftsteller, sondern auf Architekten, Gärtner und Pädagogen, also Schlossbau, Park und rousseauisches Erziehungsprojekt, von denen das letztere, Basedows »Philanthropin«, zwar beträchtliche Außenwirkung hatte, aber nie richtig gedieh und 1793 aufgelöst wurde. Es ist erstaunlich, dass der professionelle Erzieher Böttiger darüber kein Wort verliert, sich dafür aber über belehrende Inschriften in der Gartenanlage lustig macht. Die Rolle, in der er sich im Wörlitzer Garten gefällt, ist die des überlegenen Weimarer Klassizisten, der die Kautele bedrohter Naturnähe im Munde führt und den heimischen Ilmpark zweifellos für gelungener hält als die Wörlitzer Kunststück-»Gallerie«. Auch die übrigen kulturellen Rahmenbedingungen dürften ihm bekannt vorgekommen sein: der mäzenatische Fürst und seine Affairen, die bildungsaffine Hofgesellschaft, der Erziehungsoptimismus und das kosmopolitische Pathos.

Die Wette auf die große Stadt All dies gab es natürlich in Berlin auch, doch blieb es ohne Belang, weil Böttiger dort nicht in die Hofgesellschaft, sondern in die ihm fremde großstädtische Bürgergesellschaft eintauchte. In dieser konnte er als Weimarer Nebengestirn zwar mit beträchtlicher Aufmerksamkeit, nicht aber mit einer stabilen gelehrten Rollenzuweisung rechnen. Anders als in Wörlitz musste er hier seine Rolle erst noch finden.

31 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Reise in die Schweiz 1787, in: Goethes Werke (wie Anm. 3), Bd. I/34,1, S. 296. 32 Böttiger: Reise nach Wörlitz (wie Anm. 27), S. 68.

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Wer die drei publizierten Essays aufmerksam studiert, wird dementsprechend auf einen Subtext stoßen, den man als die »Wette auf die große Stadt« bezeichnen könnte. Gemeint ist eine die bloße Neugierde unterlaufende Textebene, die zu erkennen gibt, dass Böttiger seinen Berlinaufenthalt von 1797 als Selbstexperiment erfahren hat, als Frage nach den urbanen Mitspielmöglichkeiten und nach der Dialektik von Aneignung und Angeeignet-Werden. Man kann dabei an Georg Simmel und seine These vom Fremden, der zu bleiben erwägt, denken,33 muss dann allerdings die Herkunft des Tagebuchschreibers berücksichtigen. Böttiger agierte in Weimar zwar primär als gelehrter Dienstleister, doch das änderte nichts daran, dass er an der Geltung Weimars als Geisteszentrum der Nation ebenso teilhatte wie an der dort üblich gewordenen Großstadtskepsis. Große Städte standen in Weimar, vor allem bei Goethe und Herder, generell unter Verdacht, und Berlin als egoistisches deutsches Machtzentrum im Besonderen.34 Das Verhältnis zur preußischen Hauptstadt war so geregelt, dass man zuarbeitende und huldigende Gäste von dort dankbar empfing, aber eigene Besuche vermied. Herder und Wieland waren nie dort, Goethe 1778 ein einziges, widerwilliges und Schiller 1804 ein einziges, verspätetes Mal. Auch Böttigers erste Reise von Weimar aus ging 1793 nicht nach Berlin, sondern nach Halle, Helmstedt und Braunschweig. Umso auffälliger die Begehrlichkeit, mit der er sich 1797 in die Rolle eines Großstädters einfühlte. Sie beginnt mit der Prätention, mitten im öffentlichen Informations- und Meinungsfluss zu stehen,35 setzt sich fort in der Suggestion weitgehender gesellschaftlicher Eingebundenheit, ja Vertraulichkeit36 und konkretisiert sich schließlich in einer lustvoll-anmaßenden, alle Unsicherheit leugnenden Kritik. Was nicht heißt, dass die Tagebuchkapitel sich in ihrem Tenor glichen. Vergleichbar sind sie nur thematisch, nämlich als Besichtigung dreier spezifischer Großstadtkarrieren, nicht hingegen in ihrer emotionalen Einschätzung. Denn indem Böttiger jedes der drei Profile uneingestanden, aber deutlich spürbar auf sich selbst bezieht, gewinnt jedes auch eine eigene Funktion innerhalb seines Selbstexperiments. Analog dazu entwickelt sich die jeweilige Affektlage ihrer Beschreibung.

33 Vgl. Georg Simmel: Exkurs über den Fremden, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Bd. 11, Frankfurt/M. 1992, S. 764–771. 34 Vgl. Conrad Wiedemann: Über den Hauptstadtvorbehalt. Ein Berliner Stammtischgespräch mit Anmerkungen, in: Rainer Maria Kiesow, Regina Ogorek, Spiro Simitis (Hg.): Summa. Dieter Simon zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M. 2005, S. 609–627. 35 Z. B. Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 130: »Alle Welt sprach während meines Daseins von […]« oder S. 112: »sagte man mir allgemein in Berlin« und ähnlich öfter. 36 Böttiger bescheinigt seinen Gesprächspartnern durchwegs freundschaftliche Offenheit.

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»… im edelsten Sinne des Wortes großstädtisch« (Marcus und Henriette Herz) Im Fall der Aufzeichnungen über das Ehepaar Marcus und Henriette Herz ist dies der Übergang eines Überraschungseffekts in eine ungeteilte Sympathie. Was immer Böttiger über die jüdischen Salons von Berlin wusste – und man darf annehmen, es war nicht wenig –, scheint er doch nicht auf ihre Rolle im Berliner Bildungsbürgertum gefasst gewesen zu sein. In einer Art vorweggenommenem Resümee muss er jedoch konstatieren, dass sie zumindest durch die Familien Herz und Itzig eine tonangebende sei. Als skeptischer Rationalist registriert er natürlich auch den Spott eines Iffland oder Jenisch über die lächerlichen Nebenerscheinungen des Phänomens, um unbedenklich selbst zu vermuten, dass die Bildungsbeflissenheit der meisten Juden wohl nicht mehr sei als »ein leichter Gypsanwurf, hinter welchem eine häßliche, alte, berußte Küchenmauer steckt«:37 Doch gleich darauf arbeitet er umso engagierter an seinem bildungsbürgerlichen Idealbild des jüdischen Ehepaares weiter. Voller Bewunderung beschreibt er das ärztliche Arbeitsethos des Marcus Herz und die kommunikative Begabung seiner schönen Frau, schwärmt von der spontanen Vertraulichkeit beider im Gespräch mit ihm selbst und preist schließlich die Liberalität ihres Hauses, in welchem auch der Judenkritiker Jenisch, mit Henriette in der Verehrung für Goethe verbunden, freundschaftlich verkehrt. Böttiger war freilich nicht ganz unvorbereitet auf die zunehmenden symbiotischen Bemühungen der Berliner Intellektuellen. Am 7. März 1797 hatte ihm Sander stolz die Namen seiner prominenten Co-Paten bei der Taufe seines Sohnes mitgeteilt, darunter als letzten den von (Isaac) Euchel. Halten Sie den letzten Namen nicht für Scherz. Die Taufe soll ein rechtes Fest der Toleranz seyn: Leute von allen drei christlichen Religionspartheien, u. ein Jude. Ich muß Ihnen indeß, damit Sie sich weniger wundern, sagen: daß ich in Berlin nicht der erste bin, der sich einen Juden mit zum Pathen wählt.38

Den Fluchtpunkt des Doppelportraits bildet allerdings weder die Toleranzfrage noch die schöne Salonnière, sondern die erfolgreichen wissenschaftlichen Vorlesungen des Marcus Herz, deren öffentlichen und unentgeltlichen Charakter Böttiger als »im edelsten Sinne des Wortes g ro ß s t ä d t i s ch « bezeichnet.39 Das ist eine nicht sonderlich plausible Prädikation, dürfte sich aber auf die ganz andere, nämlich exklusive Praxis in Weimar beziehen. Keine Frage, dass Böttiger sich selbst gern in dieser Rolle gesehen hätte.

37 Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 104. 38 Maurach: Die Briefe Sanders an Böttiger (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 119. 39 Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 110.

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»Über dem Sopha hing seine eigene Apotheose« (K. W. Ramler) Karl Wilhelm Ramler, dem der zweite Essay gilt, stand Böttiger in fast jeder Hinsicht näher als Marcus Herz. Er lebte seit fünfzig Jahren als altphilologischer Schulmann, Lyriker und Übersetzer in Berlin und stand im Ruch, der maßgebliche Fachmann für lateinische Literatur in der Stadt zu sein. Ähnlich wie Hirt konnte er also als Berufskollege gelten, und das umso mehr, als er mit Böttiger die Vorliebe für die antike Mythologie und das zeitgenössische Theater teilte.40 Doch nichts, auch nicht die Zugehörigkeit zum sagenhaften Berliner Lessingkreis oder die evidente Alterschwäche des 72-Jährigen, findet Gnade vor den Augen des Weimarer Diaristen. Anstatt dessen kapriziert er sich auf zwei charakterliche Schwächen seines Gegenüber, nämlich Rückwärtsgewandtheit und Selbstbeweihräucherung: Unter allen meinen Besuchen war er der Einzige, den ich noch in einer Perücke fand. Diese zierliche Beutelperücke scheint gleichsam in seine Existenz eingewachsen zu sein.41

Und wenig später: Er nöthigte mich neben ihm auf dem Sopha zu sitzen. Über dem Sopha hing seine eigene Apotheose, von Bernhard Rode gemalt. Ramler mit dem Epheukranz und der Lyra lauscht den Eingebungen der Muse, die neben ihm steht und ihn begeistert.42

Das ist gekonnt beobachtet und lässt keinen Zweifel übrig, dass Böttiger hier auf Karikatur aus ist. Und käme nicht ein drittes, eher skurriles Motiv hinzu, nämlich die in der literarischen Welt sattsam bekannte Sucht Ramlers, fremde Texte zu verbessern, es wäre eine ziemlich unversöhnliche Karikatur. Sicher, mit Ramlers Berliner Überschätzung hatten damals auch andere schon Probleme.43 Und Böttiger hatte, wie schon angedeutet, keinen Grund, sich zu verstecken. Er führte im Reisegepäck drei druckfrische Sensationstitel mit: ein Buch über Iffland, eines über antike Vasenmalerei44 und die ersten Vorveröffentlichungen zur nachmals so erfolgreichen Sabina.45 Doch das derart gehobene Selbstwertgefühl stimmte ihn nicht großmütig. Im Gegenteil. Irgendetwas an Ramler reizte ihn, und so findet sich im Tagebuch nicht die wissbegierige Analyse einer urbanen Erfolgsgeschichte, sondern das Zerr40 Vgl. Laurenz Lütteken, Ute Pott, Carsten Zelle (Hg.): Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts, hg. im Auftrag des Gleimhauses, Göttingen 2003. 41 Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 113 42 Ebenda. 43 Vgl. Alexander Kosˇenina: Ein deutscher Horaz? Karl Wilhelm Ramler in der zeitgenössischen Rezeption, in: Lütteken u. a.: Urbanität als Aufklärung (wie Anm. 40), S. 129–152. 44 Karl August Böttiger: Griechische Vasengemälde mit archäologischen und artistischen Erläuterungen und Originalkupfern, Weimar 1797. 45 Karl August Böttiger: Sabina oder Morgenscenen im Putzzimmer einer reichen Römerin, ein Beitrag zur richtigen Beurtheilung des Privatlebens der Römer und zum besseren Verständniß der römischen Schriftsteller, Leipzig 1803.

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bild eines eitlen und mäßig qualifizierten Pfründenbesitzers, der im Grunde die Stelle blockiert, die längst anderen, oder genauer: ihm selbst zustünde. Bezeichnenderweise beginnt der Essay mit einem missgünstigen Blick auf Ramlers üppiges Jahresgehalt von 1800 Talern, das das eigene in Weimar um ein Mehrfaches übersteigt. Und es endet mit einem verächtlichen Blick auf Ramlers Berliner Vorrecht, »die Inschriften auf Denkmünzen und öffentliche Denkmäler anzugeben«. Böttiger, der eine solche Inschrift gerade an Schadows Grabskulptur für den achtjährigen Grafen von der Mark, einen unehelichen Sohn des Königs, gesehen hat, lässt dabei Verstöße gegen die Grammatik quasi erheitert durchgehen, nicht aber solche gegen die Würde der Menschheit; indem der Sohn einer Maitresse des Königs in so hochtrabenden Ausdrücken gepriesen wird. Was soll »egregiis virtutibus ornatus« hier heißen?46

»unbestochene Beschauung« (J. G. Schadow) Damit ist bereits der nächste Gegenstand aufgerufen, der Fall Schadow, in dem es um ähnliche Verdächtigungen wie im Fall Ramler gehen wird. Freilich in einem ganz anderen Sinn und Ton. Nach der Hommage für den gelehrten Juden Herz und der Abfuhr für den anmaßenden Lateiner Ramler gestaltet Böttiger seine Begegnung mit dem bildhauerischen Überflieger Schadow als Quasi-Disputation des Gelehrten mit dem erfolgreichen bildenden Künstler. Auch Schadow, nicht anders als Herz und Ramler, interessiert ihn vor allem als Großstädter, stellt er doch anhand seines Werkes die Frage nach dem Verhältnis von Klassizismus und Massenpublikum. Anlass dafür ist der Verdacht, dass Schadow gerade in seinen erfolgreichsten Werken, dem schon genannten Kindergrabmal und der Prinzessinnengruppe, Zugeständnisse an das »gewöhnliche«, also ungebildete Publikum gemacht habe. Zunächst zum Kindergrabmal: Es gehört zu den sieben Wunderwerken Berlins und man hört den gewöhnlichen Berliner nicht anders als in Superlativen davon sprechen. Ich begreife sehr wohl, wie der Anblick eines schönen schlummernden Knaben, dessen nackte Theile der Künstler mit bewunderungswürdigem Fleiße in dem reinsten cararischen Marmor gearbeitet hat und die Idee: diese volle Lebensknospe ist, ehe sie aufblühen konnte, gebrochen – auf das Gefühl jedes Beschauers wirken und so die Betrachtung dieses Denkmals sehr rührend machen muß. Allein dieses Gefühl sollte unser Urtheil […] keineswegs bestechen.47

Ganz ähnlich, wenn auch um wichtige Zusatzaspekte erweitert, zur Prinzessinnengruppe:

46 Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 120. 47 Ebenda, S. 124.

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Conrad Wiedemann Man muß gestehen, daß Schadow schwerlich ein populäreres Sujet vom König aufgetragen bekommen konnte, als die Gruppe von zwei Schwestern zu bilden, die durch Schönheit und unerkünstelte Herablassung die Göttinnen des Publicums sind. Gelang es ihm, diese jugendlich schlanken Figuren in einer gefälligen Draperie und mit Portraitähnlichkeit nebeneinander zu stellen, so war das im Voraus bestochene Publicum zufrieden und bewunderte das Kunstwerk mit der Liebe zum Originale. Und dies dünkt mich, ist hier der Fall. Man übersieht den völligen Mangel an Erfindung, die geschmackwidrige Composition, das Sonderbare der Draperie, ja vielleicht selbst Fehler in der Proportion, und freut sich des freundlichen Eindrucks, den auch so noch das Ganze auf den Nichtkenner machen muß.48

Beide Textstellen geben zu erkennen, wie fasziniert und zugleich misstrauisch Böttiger vor dem Phänomen eines großstädtischen »Publikums« stand. In Weimar, wo es derlei nicht gab, ließ sich bestenfalls darüber spekulieren. Jedenfalls schrieb Goethe, vielleicht angeregt durch Böttigers mündlichen Reisebericht, am 30. Januar 1798 an Aloys Hirt: »Berlin ist vielleicht der einzige Ort von dem man sagen kann daß ein Publikum b e ysammen sey, und um so mehr muß es einen Autor interessiren wenn er daselbst gut aufgenommen wird.«49 Mit der Markierung des Wortes »beysammen« deutet Goethe einerseits den Gegensatz zum zerstreuten Publikum der lesenden Nation, andererseits den zur immer noch ständisch getrennten Gesellschaft an, die beide im urbanen Publikumsbegriff weitgehend überwunden erscheinen. Goethes einverständliche Äußerung war eine Antwort auf die Nachricht, dass sein eben erschienenes homerisches Kleinstadt-Epos Hermann und Dorothea in Berlin glänzend aufgenommen worden sei. Das mag seine Vorbehalte gedämpft haben. Was er wirklich von der offenen Großstadtkultur hielt, wissen wir aus dem Römischen Carneval oder seinem Kampf gegen das Boulevardtheater. Böttigers Vorbehalte, im Grunde nicht allzu unterschieden, waren konkreter. Sie betraf die Kautele, dass Kunst, die sich dem realen Leben verpflichtet fühle, zur Anpassung tendiere. Goethe habe das in seinem Kleinbürger-Epos souverän vermieden,50 vielleicht, weil er diesem Druck nicht ausgesetzt war, wahrscheinlicher aber, weil er sich Gesang für Gesang durch Böttiger altertumskundlich beraten ließ. Eben dies fehlt, wie wir gleich sehen werden, dem so begabten, aber eigensinnigen Klassizisten Schadow. Böttiger nähert sich Schadows Werk mit einem normativen Anspruch, der sich im Wesentlichen aus zwei Quellen nährt: nämlich Winckelmanns Definition griechischer Plastik51 und seinem eigenen mythologischen und archäologischen Fachwissen. Nach der ersteren ist wahre moderne Kunst generell auf das Vorbild der 48 Ebenda, S. 130f. 49 Goethes Werke (wie Anm. 3), Bd. IV/13, S. 45f. 50 Vgl. Böttigers begeistertes Urteil in: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 1998, S. 80–89. 51 Zu erinnern ist an Kernsätze wie: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, […] sonderlich der Griechen.« –

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antiken angewiesen, nach dem letzteren sind Fachleute dabei nützlich. Dass Schadow mit beiden Grundsätzen nachlässig umgeht, ist für Böttiger schlimm genug, schlimmer allerdings, dass er mit den trivialen Gefühlen des großen Publikums zu spielen scheint. Zweimal fällt in diesem Zusammenhang der Begriff der »Bestechung«; einmal in Bezug auf die Anfälligkeit der dilettantischen Menge, zum anderen in Bezug auf die Unanfälligkeit der Kenner. Natürlich läge es nahe, die Kritik des aus Weimar angereisten Böttiger mit der Bildpoetik der Weimarer »Kunstfreunde« abzugleichen52 und seine ausgeprägt binäre Begrifflichkeit (Dilettanten vs. Kenner, Aktualität vs. Idee, Rührung vs. Bildung) auf ihre Konsequenz hin zu untersuchen. Doch die Lust dazu hält nicht lange an, scheint seine Kritik doch weder von Schillers sentimentalisch noch von Goethes naturwissenschaftlich gestütztem Klassizismus auszugehen, sondern ziemlich ausschließlich vom Standpunkt gelehrter Deutungshoheit. Böttiger mischt sich also nicht als Philosoph oder Ästhet ein, sondern als Gelehrter, der für die Aufbereitung der Antike zum Remedium gegen die moderne Entfremdungserfahrung die Grundlagenforschung liefert. Klassizismus, so dürfte sein Credo von 1797 geheißen haben, ist eine an der klassischen griechischen Kunst orientierte Formensprache, in der der Rumor des modernen Individualismus zur Ruhe kommt. Das erfordert wiederum, dass man den Geist dieser Antike durchdrungen hat. Genau davon handelt der Schadow-Essay. Böttiger hat seine Bemühung um Schadow und sein Werk durchaus nicht oberflächlich betrieben, auch wenn sein Tagebucheintrag mit einem (Freud’schen?) Missgriff beginnt. Er verwechselt ihn nämlich mit einem Berliner Architekten und Kupferstecher gleichen Namens, Christian Friedrich Gottlieb Schadow,53 und weist ihm so neben den falschen Vornamen ein falsches Geburtsjahr (1761), einen falschen Geburtsort (Potsdam) und einen falschen Lehrer (Andreas Ludwig Krüger) zu, bevor er mit der Italienreise in die richtige biographische Spur zurück findet. Das lässt nicht nur vermuten, dass Böttiger sich anstatt bei Hirt (der Schadow aus Rom kannte und angeblich nicht mochte) aus einem Handbuch unterrichtet, sondern auch, dass er seine Schadow-Recherchen unabhängig von Hirt unternommen hat. Ob ihre Wege sich zu diesem Zeitpunkt geteilt hatten, sei dahingestellt. »Das Gesetz aber, ›die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen‹, war allezeit das höchste Gesetz«. – »Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur; die idealische Schönheit die erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.« – »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke.« In: Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart 1969, S. 4, 11, 20. 52 Vgl. Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 86–141. 53 Zur Person des nicht ganz unbedeutenden Christian Friedrich Gottlieb Schadow vgl. www.Berliner-Klassik.de, Datenbankportal, Personendatenbank.

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Ansonsten geht Böttiger nach Plan vor. Zunächst analysiert er die öffentlich zugänglichen Bildwerke des Künstlers, dann die Bildwerke, die er bei einem Atelierbesuch vorfindet. Insgesamt studiert er sieben Arbeiten: die Basreliefs in den von Erdmannsdorff umgebauten Königskammern des Berliner Schlosses, das ZietenStandbild auf dem Wilhelmsplatz, das Kindergrabmal des Grafen von der Mark in der Dorotheenstädtischen Kirche,54 die Prinzessinnengruppe, eine »nackte liegende Venus«, ein Modell für das Grabmal des Prinzen Louis, sowie das Grabmal des Kaufmanns Schütze (die letzten vier in der Werkstatt des Künstlers). Das ist längst nicht alles Verfügbare, aber – sieht man von der weiß Gott warum übergangenen Quadriga auf dem Brandenburger Tor ab – vom Wichtigsten doch ein beträchtlicher Teil. Genug jedenfalls, um ein Künstlerportrait danach in Angriff zu nehmen. Der erste wichtigere Lokaltermin fällt überraschend günstig aus. Schadows Zieten-Standbild (1794) auf dem Wilhelmsplatz, das den berühmten Haudegen in entspannt sinnierender Haltung zeigt, hält Böttiger nicht nur für die bei weitem beste der dort aufgestellten Skulpturen, er billigt auch die Entscheidung für das moderne Husarenkostüm,55 das – mit Ausnahme der »fatalen Husarenmütze« – durch seinen anliegenden Sitz ein geradezu antikes Körpergefühl erzeuge. Bei dieser Gelegenheit schwärmt er auch von einer »bewundernswürdigen Weichheit im Marmor«.56 Dafür gerät die Betrachtung des allgemein bewunderten Kindergrabmals in der Dorotheenstädtischen Kirche zu einer grimmigen Lehrstunde in Mythologie. Hier, im tatsächlich redundanten Sinnbild-Rahmen der rührenden Liegefigur, scheint Böttiger nahezu alles falsch: nämlich der inhaltliche Bezug zwischen Ober- und Unterteil tautologisch, die innere Logik der Szenen willkürlich, die Einzelelemente atypisch. Das zieht sich über mehr als sechs Seiten (von 16 des Gesamtessays) hin 54 Böttiger schreibt fälschlich »friedrichstädter Kirche«. 55 Zum damals aktuellen Kostümstreit vgl. Jutta Simson: Wie man Helden anzog. Ein Beitrag zum »Kostümstreit« im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 43, 1989, S. 47–63; Wolfgang Schöller: »Veredelt, aber nicht fremd.« Johann Gottfried Schadow und der sogenannte Kostümstreit, in: Georges-Bloch-Jahrbuch des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Zürich 3, 1996, S. 171–183. – Schadow äußerte sich zur Kostümfrage 1791 in einem zu seinen Lebzeiten ungedruckten Vortrag anlässlich einer Kunstreise nach Skandinavien und St. Petersburg: »In neuern Zeiten fanden die Künstler gewöhnlich den jedesmaligen Anzug der Nation entweder zu gemein oder zu wenig malerisch. Sie glaubten […] ihren Helden in einer Art von Vergötterung zeigen zu müssen. Sie wählten folglich den römischen Anzug, der ihnen überdies in allen Theilen mehr Freiheit erlaubte. Je näher aber ein Denkmal mit dem eigenthümlichen Character des Helden übereinkommen wird, je mehr Eindruck muss es ja wohl auf die Nation selbst und überhaupt auf jeden Beschauer machen. Die Figuren in römischer Tracht scheinen nichts mehr mit uns zu thun [zu] haben, und es gehört immer erst eine Art von innerlicher Ueberredung dazu, um sie für das anzusehen, was sie darstellen sollen.« In: Gottfried Schadow: Aufsätze und Briefe, zweite vermehrte Aufl., Stuttgart 1890, S. 35f. – Zum Streit mit Goethe s. u. 56 Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 123.

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und beißt sich schließlich an einer der Parzenfiguren fest, die Schadow als »altes Mütterchen« gestaltet hat. Für Böttiger ist sie ein »runzlichter Kobold aus dem Hirn des durch neue Begriffe verwirrten Künstlers entsprungen und durch übelverstandene Antiken niemals gerechtfertigt«.57 Die antiken Parzen, das müsse der Künstler aus »seinem Winckelmann« wissen, seien stets Schwestern und jung. In seinem schulmeisterlichen Furor übergeht Böttiger allerdings, dass im verbreitetsten mythologischen Handbuch des 18. Jahrhunderts die Parzen durchaus als alte Frauen charakterisiert sind.58 Ganz abgesehen davon, dass sich Schadow selbst des Problems offensichtlich völlig bewusst war. In seinem Memoirenwerk von 1849 schrieb er dazu: Die Alten haben diese Wesen als junge weibliche Figuren dargestellt, man hat aber Bilder, die man sogar dem Michelangelo zuschreibt, auf welchen die drei Schwestern als Alte erscheinen. So haben die Neueren, und bis heute der gemeine Mann, mehren heidnischen Gottheiten eine andere Gestaltung gegeben. Es war Nachgiebigkeit, wenn man mir gestattete, zwei jener furchtbaren Schicksalsgöttinnen jung darzustellen.59

Das kann doch nur heißen, dass Schadows mythologische Beigaben von 1790 im gelehrten Disput, ja unter gelehrter Kontrolle entstanden sind und dass er sich dabei interpretatorische Freiheiten erkämpfen konnte. Bei der nicht näher bezeichneten »nachgiebigen« Institution könnte es sich um Friedrich Gedike, Karl Philipp Moritz oder Karl Wilhelm Ramler gehandelt haben, die sich 1790/91 alle drei mit antiker Mythologie beschäftigten60 und Schadow auch persönlich nicht fern standen. Trotzdem wird man bevorzugt an Ramler, den Verfasser der von Böttiger gerügten lateinischen Inschrift des Grabmals, denken, der im Vorbericht seiner Kurzgefassten Mythologie nachdrücklich das historische Faktum und die fortlaufende Lizenz der mythologischen Umgestaltung vertreten hatte. Böttiger, der dies alles nicht erwähnt, bewegt sich also keineswegs auf einem unbestellten Feld. Bestenfalls konnte er sich, gemeinsam mit seinem Göttinger Mentor Heyne, auf die notwendige Verwissenschaftlichung des Gegenstands berufen, was freilich wiederum an die brisante, aber höchst aktuelle Frage der künstlerischen Autonomie rührte. Zu einem unsanften Zusammenstoß mit ihr kommt es denn auch bei der Analyse der berühmten Prinzessinnengruppe. Das erst 1797 fertig gewordene Standbild der 57 Ebenda, S. 127. 58 Vgl. Benjamin Hederichs gründliches mythologisches Lexicon […] vermehret und verbessert von Johann Joachim Schwaben, Leipzig 1770 [zuerst 1724]. 59 Vgl. Johann Gottfried Schadow: Kunstwerke und Kunstansichten. Ein Quellenwerk zur Berliner Kunst- und Kulturgeschichte zwischen 1780 und 1845, kommentierte Neuausgabe der Veröffentlichung von 1849 hg. von Götz Eckardt, 3 Bde., Berlin 1987, Bd. 1, S. 25. 60 Vgl. Karl Wilhelm Ramler: Karl Wilhelm Ramlers kurzgefasste Mythologie; oder Lehre von den fabelhaften Göttern, Halbgöttern und Helden des Alterthums, 2 Bde., Berlin 1790; Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten, Berlin 1791; Friedrich Gedike: Über die mannigfaltigen Hypothesen zur Erklärung der Mythologie, in: Ders.: Vermischte Schriften, Berlin 1801, S. 61–100.

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beiden fürstlichen Schwestern hat keine mythologischen Beigaben, auch keine kommentierenden Reliefs in der Sockelzone. Die Sünden gegen den »antiken Geist« müssen also an den Figuren selbst überprüft werden und erweisen sich auch hier als eklatant. Böttiger, der, wie wir inzwischen wissen, die mimetische Leistung weit hinter den idealistischen Gehalt setzte, sieht sich in dieser Hinsicht keineswegs enttäuscht. Die Idee des Bildes ist ja nicht zu verkennen: »zärtliche Schwesternliebe«. Doch ausgeführt ist sie für Böttiger in einer klassizistisch völlig unstatthaften modernen Manier. So modern, dass antike Betrachter sie nicht hätten verifizieren können. »Wer ist die schöne junge Frau, die sich auf diese zierliche Zofe so traulich stützt«,61 so hätten sie gefragt und damit das berühmte, weil so anmutig gelöste AuflümmelMotiv sozial völlig umcodiert. Nämlich von der schwesterlichen Intimität zurück zum Usus zwischen Herrin und Sklavin. Aber da dies nicht Sitte bei uns ist, so kann auch diese Misdeutung Niemanden bei uns beifallen, höre ich den Künstler sagen. Ich könnte darauf mit Recht antworten: Aber dein ganzes Bild zeigt ja hinlänglich, daß du die Norm des Alterthums dabei zu beobachten strebtest.62

Man wird sich hüten müssen, Böttigers Einforderung eines »Entweder-Oder« oder wenigstens eines »Wenn schon, dann richtig« allzu mechanisch zu deuten. Er kam nun einmal aus Weimar, wo die Frage der remedialen Funktion der modernen Antikeannäherung am avanciertesten verhandelt wurde. Und so sind wohl auch das »Recht« und die »Norm«, auf die Böttiger so unbefangen pocht, zu deuten. Nämlich als Konsequenz der medizinischen Dosierung, die keine Halbherzigkeit erlaubt. Trotzdem ist er an Schadows Genie, und das heißt: an der Frage der freien Anverwandlung gescheitert. Läuft doch der Rechtstitel klassischer Normerfüllung, so wie er ihn 1797 im Zweikampf mit Schadow vertrat, letztlich auf die Zerstörung des in Frage stehenden Kunstwerks hinaus. Böttigers Korrekturanweisungen sind atemberaubend: Antikisch gedachte Schwestern stehen gerade, reichen einander die Hände (wie auf Münzen belegt) und blicken sich liebevoll in die Augen. Dass Böttiger übersehen hat, wie viel sinnlicher sich die Hände der Mädchen auf der Schulter der Jüngeren finden, mag durch die kurze Besichtigungszeit entschuldigt sein. Dass aber durch das rätselhafte Auseinanderstreben der Blickführung, das wohl den Kultcharakter des Bildes begründet, für ihn »aller wahre Ausdruck zerstört und ganz etwas Anderes in dem unbefangenen Beschauer hervorgebracht wird, als der Bildhauer beabsichtigte«,63 ist schwer fassbar. Die Auffassung, die Schadow mit Goethe und Wilhelm von Humboldt teilte, dass nämlich die Idee aus dem Gegenstand selbst hervorgehen und diesem nicht aufgesetzt werden müsse, war Böttiger zu diesem Zeitpunkt offensichtlich fremd. 61 Böttiger: Aus Böttiger’s Tagebuch einer Reise nach Berlin (wie Anm. 21), S. 131. 62 Ebenda, S. 132. 63 Ebenda, S. 131.

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Das bestätigt sich, als Böttiger gegenüber dem Künstler auch noch das modisch um Haar und Hals geschlungene Tuch einer der Prinzessinnen verwirft, weil es den schönsten Teil einer bekleideten Statue, den nackten Hals, verhülle. Als Schadow, nach dem Grund befragt, darauf antwortet: »Ich mußte es thun, weil die eine Prinzessin einen dicken Hals hat«, sieht Böttiger das klassizistische Einverständnis mit dem Künstler mehr oder minder aufgekündigt: […] ich traute meinen Ohren nicht, als ich dies hörte. O, der armen bedauernswürdigen Kunst, die sich in ihrem veredelnden zum Ideal hinstrebenden Geschäft nicht einmal über einen dicken Hals wegsetzen darf.64

Man muss zur Ehrenrettung Böttigers hier anmerken, dass sein Einspruch sehr genau jenen realistischen Eigensinn bezeichnet, mit dem Schadow die generelle Tendenz der klassizistischen Plastik unterlief und damit den führenden MainstreamVertretern unter seinen Schülern, nämlich Tieck und Rauch, das Feld überließ. Schadow hatte schon vor seiner Abreise nach Rom körperliche Eigenarten seiner Modelle nicht einfach beschönigt und als Trippelschüler in Rom schnell einen Widerwillen gegen die Tendenz zum Apollo-affinen Konvenienzportrait gefasst. Auch als Tieck und Rauch ihm eben damit den Rang abliefen, hielt er an seinem Konzept fest. Seine Büsten und Denkmäler sind wirklichkeitsnah, sie präsentieren sich bevorzugt nachdenklich-unheroisch und haben von Beginn an eine psychologische Tiefendimension. Das gilt auch für die mädchenhaften Prinzessinnen, in deren unterschiedlicher Körpersprache Schadow fast hellseherisch ihre jeweilige Entwicklung vorweggenommen hat. Die Zeitgenossen haben diesen individualistischen Mehrwert, der Schadow an die Seite eines Houdon stellt, nur kurze Zeit honoriert. Erst im 20. Jahrhundert hat er wieder Anerkennung gefunden. Schadow, der Begründer der in Deutschland singulären Berliner Bildhauerschule, gilt heute auch als ihr bedeutendster Vertreter. Böttiger hat den Berliner Zweikampf mit Schadow im August 1797 verloren, ohne es zu realisieren. Er hielt ihn handwerklich für hochbegabt, in der »Bearbeitung des Nackten« gar für vollendet, aber auch für zu selbstbewusst, zu eigenwillig und zu beratungsbedürftig. Die Konsequenz aus dieser Einsicht findet sich schon ein paar Seiten vorher formuliert: Wie sehr ist es doch zu bedauern, daß der wackere Schadow nicht einen kritischen Freund zur Seite hat, mit welchem er seine Ideen zuvor besprechen und durchprüfen könnte. Denn da er wirklich ein talentvoller Künstler und trefflicher Ar b eiter ist, so fehlt ihm nur Erfindung und geläuterter Geschmack […].65

Dass Schadow solche Beratung nicht ablehnte, aber stets unaufgeregt mit seiner Künstlerautonomie verrechnete, hat Böttiger zu einer merkwürdigen, möglicherweise selbstrettenden Schlussbemerkung verführt: 64 Ebenda, S. 133. 65 Ebenda, S. 135f.

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Conrad Wiedemann So viel ist gewiß, daß Schadow schon in Rom von keinem seiner Landsleute geliebt wurde, und auch jetzt in Berlin mit seinem Künstlerstolz Viele zurückstößt. Er genießt, wie mir scheint, viel Achtung, aber wenig Liebe.66

Die beiden sind 1797 nicht als Feinde, aber auch nicht als Freunde auseinander gegangen. Auf irgendeine Weise waren sie wohl von einander beeindruckt, ohne dass dies schon zu einem Briefwechsel geführt hätte. Sie trafen sich erst 1802 wieder, fünf Jahre später und unter sehr veränderten Umständen.

1802: Weimar-Jena als Sommerreise Schadow reiste im September 1802 nach Weimar, um eine Büste von Wieland, die ein baltisches Handelshaus in Auftrag gegeben hatte, zu modellieren. Einziges Problem schien dabei das Modell selbst zu sein, hatte Wieland doch eine geringe Meinung von seiner Portraitfähigkeit und war aus seinem Fluchtort Ossmannstedt auch nicht leicht loszueisen. In dieser Lage war Schadow froh, dass ihm Böttiger, der Wieland als Zeitschriftenredakteur unentbehrlich geworden war, zu Hilfe kam. Und zwar auf höchst glückliche Weise, wie das Ergebnis zeigt. Glücklich scheint auch, folgt man Schadows späten, aber detaillierten Erinnerungen,67 das Rahmenprogramm verlaufen zu sein. Der Berliner Bildhauer war so bekannt wie beliebt, und so drängten sich die Ortstermine und Kontaktaufnahmen in bunter Reihe. In Halle traf man, d. h. Schadow und die ihn begleitenden Brüder Louis und Franz Catel, bekannte Gelehrte, im nahen Giebichenstein hoffte man den Berliner Kapellmeister Reichardt wiederzusehen, fand aber »nur zwei seiner schönen Töchter«, in Lauchstädt besah man das kurz vorher eingeweihte und von dem Berliner Heinrich Gentz entworfene Theater, in Naumburg war man von den Stifterfiguren im Dom fasziniert (»wie, wann, wo und wer war jener Meister?«), bevor man am 21. September über Jena (Besuch Kotzebues) in Weimar eintraf, wo man Berlin mit Karoline und Wilhelm von Humboldt, mit den Schlossbaumeistern Gentz und Rabe sowie dem Bildhauer Tieck ebenfalls prominent vertreten fand. Am nächsten Tag Ritt nach Jena zu einem opulenten abendlichen Gastmahl in Kotzebues Garten, wo man möglicherweise auch Hufeland, Loder, Schütz und Schelling traf. Danach Weiterritt nach Rudolstadt und Paulinzella, später nach Gotha und Erfurt. In summa: eine herbstliche Freundschafts- und Kunstwallfahrt mit Glücksmomenten am Modellierbrett.

66 Ebenda, S. 137. 67 Vgl. Schadow: Kunstwerke und Kunstansichten (wie Anm. 59), Bd. 1, S. 61–63.

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1802: Weimar als Farce Doch so wird Schadows Weimarreise von 1802 heute nicht erzählt. Mit dem Hinzutritt von Goethe und Böttiger veränderte sich die Szenerie nämlich dramatisch. Betrachtete Goethe doch den scheinbar so unbefangenen Berliner Besucher als Eindringling, seine Vereinbarung mit Wieland als Anmaßung und seinen Umgang mit Böttiger, Kotzebue, Tieck und Bertuch als Affront. Über die Vorgeschichte und die Stationen dieses von der Sache her wenig plausiblen Missverhältnisses sind wir ausführlich, wenn auch längst nicht erschöpfend, durch Hans Mackowsky unterrichtet.68 Es bahnte sich bereits 1800 und 1801 an, als Goethe im Rahmen seines klassizistisch-pädagogischen Propyläen-Projekts der zeitgenössischen Berliner Kunst einen kruden Realismus vorwarf 69 und sich durch Schadow einen unerwartet selbstbewussten und kompetenten Widerspruch einhandelte.70 Entsprechend reserviert empfing Goethe ihn dann am 22. September 1802 in seinem Haus am Frauenplan, wo Schadow sich gleich eine weitere Eigenmächtigkeit leistete, indem er Goethe bat, dessen Kopf messen zu dürfen. Goethe schlug das ab und überließ die Gäste bald darauf seinem Mitarbeiter Meyer. Vermutlich wusste er zu diesem Zeitpunkt schon, wie freundschaftlich Schadow mit seinen lokalen Intimfeinden Kotzebue (»der Widersacher«) und Böttiger (»der Tigeraffe«) verkehrte. Beide hatten Goethe kurz vorher mit harschen Theaterkritiken gereizt und zögerten jetzt nicht, Schadow mit Indiskretionen über seine Weimarer Kunstdiktatur zu versorgen.71 Dass Schadow sich unversehens in dieser Anti-Goethe-Front wiederfand, hatte allerdings auch einen ganz aktuellen Grund. Musste er doch, noch während er um Wielands Einwilligung warb, erfahren, dass Goethe die aus dem Ausland bestellte und vom Großherzog gewünschte Wieland-Büste an den jungen Friedrich Tieck, einen Schadow-Schüler, der am Schlossbau arbeitete, vergeben hatte. Mochte solche Bevormundung, die Wieland zunächst akzeptiert hatte, den Großstädter noch erheitert haben, so war der Fortgang, dass nämlich, als Wieland sich längst für Schadow entschieden hatte, Goethe auf seinem Willen beharrte und den Hof dafür zu gewinnen suchte, nur noch ärgerlich. Wieland, wenn er vor den Besuchern nicht lächerlich erscheinen wollte, musste nun seinerseits seine Beziehungen aktivieren. Am 30. September erbat er sich die Fürsprache der Herzogin Anna Amalia bei ihrem Sohn, 68 Vgl. Hans Mackowsky: Goethe und Schadow, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft, 3, 1949, S. 33–50. 69 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Flüchtige Übersicht über die Kunst in Deutschland, in: Goethes Werke (wie Anm. 3), Bd. I/48, S. 21–25, hier S. 23. 70 Vgl. Gottfried Schadow: Über einige in den Propyläen abgedruckte Sätze Goethes die Ausübung der Kunst in Berlin betreffend, in: Eunomia 1, 1801, S. 487–519. Wiederabdruck: Gottfried Schadow: Aufsätze und Briefe. 71 Vgl. Klaus Gerlach: Berlin versus Weimar. Kotzebues gescheiterte Berliner Klassik, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Berlin 2012, S. 281–300.

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Conrad Wiedemann welchem ich vorläufig zugesagt habe, meine Buste von dem Bildhauer Tieck fertigen zu lassen. Dies geschah aber freilich zu einer Zeit, da es Niemanden einfiel, daß ein so großer und berühmter Künstler wie Schadow selbst nach Weimar kommen würde, meinem Kopf diese unverdiente Ehre zu erweisen. Hoffentlich wird nun Tieck selbst bescheiden genug seyn, seinem Meister zu weichen, und sich in keinen Wettbewerb mit einem Mann wie Schadow wagen zu wollen.72

Seine Supplik hatte, wie man weiß, Erfolg, so dass er ein paar Tage später Böttiger für seine Unterstützung danken und ihm versichern konnte, dass man ihm bei Hofe weiterhin gewogen sei. Letzteres spielt auf eine von Böttiger miterlebte Szene in Tiefurt an, in der Goethe seinerseits die Herzogin bedrängte, bis der Herzog hinzukam, der denn als ein verständiger Herr sich hierüber verwunderte und die Meinung äußerte, dass sie alle hierin nichts zu sagen hätten, und dass die Sache lediglich vom alten Wieland abhinge, dem es freistände, zu sitzen, wem es ihm beliebte.73

In seinem Erinnerungswerk von 1849 hat Schadow die Weimarer Episode mit den Worten eingeleitet: »Kleinstädtisches lässt man passieren, wenn darin bedeutende Personen auftreten; der Schauplatz war Weimar, die Zeit 1802 im September und die Handlung die Büste von Wieland.«74 Sicher hatte Goethes Eigensinn Züge eines Lustspiels, ja einer Farce. Auf einen dieser Züge, nämlich Kotzebues Gegenwehr gegen die von Goethe verordnete Entschärfung seines Lustspiels Die deutschen Kleinstädter im Sommer 1802, nimmt Schadow in seiner Formulierung denn auch Bezug. Kotzebue rächte sich, indem er paar Monate später in seiner 1803 in Berlin begründeten Zeitschrift Der Freimüthige die neuesten Beispiele der ästhetischen Herrschsucht Goethes kolportierte: die Unterdrückung von Böttigers Ion-Rezension, die Überwachung der Publikumsreaktion in der Alarcos-Aufführung, die Zensurierung der Deutschen Kleinstädter und eben auch den Versuch, Schadows WielandBüste zu verhindern.75

1802: Weimar als gescheiterter Krisengipfel des Klassizismus Dass man Schadows Weimarer Erlebnisse von 1802 als kuriose Sommerreise oder als kleinstädtische Farce erzählen kann, entspricht weder dem Ehrgeiz des Chronisten, noch wird es dem einzig lohnenden Blickpunkt auf die Sache gerecht. Ungeachtet 72 Christoph Martin Wieland an Anna-Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, Oßmannstedt, 30. September 1802, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 16.1, bearb. von Siegfried Scheibe, Berlin 1997, Nr. 24, Z. 10–16. 73 Aus Schadows Reisetagebuch vom 2. Oktober 1802. Zitiert nach: Wielands Briefwechsel, Bd. 16.2, bearb. von Siegfried Scheibe, Berlin 1998, S. 41. 74 Schadow: Kunstwerke und Kunstansichten (wie Anm. 59), Bd. 1, S. 61. 75 Vgl. Der Freimüthige oder Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser. Herausgegeben von A. von Kotzebue, Berlin 1803, S. 7, 19, 318–320, 367f.

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seines kläglichen Kommunikationsniveaus lässt sich das Ganze nämlich auch als ein Gipfeltreffen, besser wohl: als Krisengipfel des deutschen Klassizismus verstehen. Gipfel, weil jeder der vier Beteiligten (Goethe, Wieland, Schadow, Böttiger) eine singuläre Position im nationalen Klassizismusdiskurs vertrat, Krise, weil jeder damit an persönliche Grenzen gestoßen war. Das mag ein gewagter Ansatz sein, denn unter einem Gipfeltreffen kann sich die deutsche Klassikforschung konkret wohl nur Goethe-Schiller-Humboldt, virtuell etwa Schiller-Kant oder Goethe-Schelling, kaum aber Goethe-Schinkel-Beethoven oder Schiller-Schadow-Canova vorstellen. Die deutsche Klassik-Exegese ist literarisch und idealistisch dominiert und verlässt den germanistischen Seminarbereich nur ungern. Dass im Weimarer Rencontre von 1802 der größte deutsche Dichter und der größte zeitgenössische Bildhauer unter Assistenz eines genialen Aufklärers und eines genialen Publizisten aufeinander trafen, ist ihr jedenfalls bislang kaum aufgefallen. Vielleicht nicht einmal die gemeinsame Sache, die die vier trennt und verbindet. Doch an ihr gibt es keinen Zweifel. Arbeitet doch jeder von ihnen, wenn auch auf unterschiedlichem Wege, weiter an der von Winckelmann initiierten nationalkulturellen Mobilisierung aus dem Geist der griechischen Antike. Und das – um auch diese Gemeinsamkeit noch einmal zu unterstreichen – im gereiften Bewusstsein derer, die von Kritik und Ablehnung nicht unberührt geblieben sind. Goethe nicht weniger als die von ihm misshandelten anderen, eher mehr. Er ist zu diesem Zeitpunkt wohl der Unglücklichste von ihnen.76

Geknickte Erwartungen Machen wir uns klar: Während Goethe und Schiller literarisch brillieren, erweisen sich ihre Projekte einer nationalen Belehrung, Horen und Propyläen, als nicht lebensfähig. Beide sind nach drei Jahren am Ende. Daran ist nicht nur der zu hohe Anspruch schuld, sondern auch die exklusive Attitüde. Das Weimarer Experiment ist nicht offen, sondern geschlossen. Welchen Appeal sollte der Berliner Schadow an ihm finden, wenn im Propyläen-Journal das Brandenburger Tor keiner Erwähnung wert ist, die dazugehörige Weimarer Kunstausstellung sich aber als ein Hort des Mittelmaßes erweist. Und wie sollte Goethe den Brückenschlag zu dem ihm konzeptionell eigentlich nahestehenden Schadow finden, wenn er diesen, ohne sein Werk zu kennen, als großstädtischen Verderber der griechischen Idealität empfand und über seiner Gegenkritik die Contenance verlor: 76 Nicholas Boyle schildert in seiner mikrologischen Goethe-Biographie die Zeit unter dem Kolumnentitel »Alles zerfällt«. Schadows Besuch beschreibt er wenig sensibel: »Er war nach Weimar gekommen, um Frieden zu schließen, hatte sich aber, hauptsächlich wegen seiner ungehobelten Art, bei Goethe eine Abfuhr geholt.« Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter und seine Zeit, Bd. II: 1791–1803. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach, München 1999, S. 897.

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Conrad Wiedemann Sollen wir ewig als Raupen herumkriechen, damit man in Berlin ungestraft den Marmor zu Husaren-Pelzen verderben dürfe? 77

Das war 1801 im Zorn über Schadows Gegenartikel aufs Papier geworfen und beruhte vermutlich auf Böttigers autoptischem Bericht über das Zieten-Standbild, weist aber schon auf die Gereiztheit und den Souveränitätsverlust des kommenden Jahres voraus. Vertraut man dem Zeugnis Schillers und Wilhelm von Humboldts, dann war Goethe im Herbst 1802, nach dem Scheitern seiner Theaterexperimente, seiner Ausstellungen und seiner Wieland-Schadow-Intervention, in eine depressive Stimmung geraten, in der er monatelang sein Haus nicht verließ.78 An eine ähnliche Schwelle war wohl auch Schadow gelangt. 1802 stand seine Prinzessinnengruppe schon geraume Zeit an unzugänglicher Stelle, weil der neue König Friedrich Wilhelm III. sie als zu individuell, zu sinnlich, auf jeden Fall aber zu unköniglich empfand. Böttiger hatte mit seiner trivial-idealistischen Kritik von 1797 also recht behalten. Fünf Jahre später dürfte Schadow schon geahnt haben, dass sein realistisch und psychologisch belebter Klassizismus auf Dauer kein Erfolgskonzept sein würde. Was Wieland sich 1802 noch verbat, nämlich nach dem Jupiter- oder Apollo-Schema dargestellt zu werden, war längst zur allgemeinen Wunschvorstellung geworden, gleichgültig ob in Weimar oder Berlin, unter Bürgern oder Aristokraten. »Im Jahr 1803 hatte die Werkstatt keine größere Bestellung«,79 heißt es lakonisch im Memoirenwerk. Daran sollte sich, auch wenn das Konformitätsgenie Rauch noch gar nicht nach Berlin zurückgekehrt war, nicht mehr allzu viel ändern. Wielands Resignation lässt sich am konkretesten bestimmen. Ihr akuter Anlass war der Tod seiner Frau 1801 und die damit verbundene Einsicht, das Landgut Ossmannstedt nicht mehr halten zu können. Nach Ossmannstedt, hinreichend fern von Stadt und Hof, war Wieland 1797 geflohen, fraglos in der Hoffnung, dort die Kontinuität seines immer graekophiler werdenden, aber im liberalen und erotischen Grundton gleichbleibenden Werkes über die geistigen Umbrüche der Zeit zu retten. Als er Ende September 1802 dem Berliner Bildhauer saß, war der Traum vom thüringischen Tusculum bereits aufgegeben. Der von den Jenaer Romantikern in einer rüden Attacke der Substanzlosigkeit geziehene, aber auch von Schiller und Goethe nicht sonderlich gut behandelte greise Dichter musste zurück in den goldenen Käfig von Weimar.80 Böttiger schließlich konnte sich nach der Ion-Affaire (1802) mit seinem gelehrten und journalistischen Autonomie-Anspruch in Weimar endgültig als gescheitert betrachten. Dabei darf offen bleiben, ob die Geschichte seiner Entzweiung mit Schiller 77 Zitiert nach Mackowsky: Goethe und Schadow (wie Anm. 68), S. 41. 78 Vgl. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt, Bd. II, hg. von Siegfried Seidel, Berlin 1962, S. 230 und 232f. 79 Vgl. Schadow: Kunstwerke und Kunstansichten (wie Anm. 59), Bd. 1, S. 65. 80 Vgl. Friedrich Sengle: Wieland, Stuttgart 1949, Kap. IX: Das Greisenalter. 1. Der Schnitt in die Wurzeln.

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und Goethe, die in jüngster Zeit mehrfach detailliert dargestellt worden ist,81 mit der Distanznahme der beiden Dichter in der Xenien-Zeit (1796) oder mit Böttigers Indiskretionen begann. Anstatt dessen sei vermutet, dass der moderne, d.h. freie und publikumsorientierte Journalismus, den Böttiger in Weimar zunehmend praktizierte, genau der war, gegen den sich der Hauptangriff der Xenien deutschlandweit richtete.82 Neben dem idealistisch imprägnierten Wunschbild einer nationalkulturellen Deutungshoheit, dem Goethe und Schiller in dieser Zeit – nicht ganz unberechtigt – huldigten, musste Böttigers Wunschbild einer hohen Medienpräsenz und einer offen-egalitären Wissensvermittlung, wie er sie in der großstädtischen Bildungsgesellschaft Berlins erlebt hatte, ziemlich pedester erscheinen. 1802, fünf Jahre nach seiner ersten Berlinreise, wollte Böttiger sich endlich einer solchen Gesellschaft stellen. Das war allerdings, wie sich bald zeigen sollte, nicht einfach. Mit seiner Wunschstadt Berlin jedenfalls kam er trotz Schadow, Sander, Kotzebue und Nicolai nicht ins Reine. Aus vielen Gründen, doch vor allem wohl aufgrund eigener, weimarisch geprägter Ressentiments. So ging er 1804 nach Dresden.

Die Lust an der Desintegration Es ist vielleicht müßig, aber doch reizvoll, sich vorzustellen, über welche Fragen die vier so unterschiedlichen Antike-Adepten hätten diskutieren und abstimmen können. Etwa über eine Fortifikationslinie gegen die Romantik? Oder über Zweck und Grenzen der gesellschaftlichen Anreicherung mit klassisch-antikem Wissen? Oder über die funktionale Arbeitsteilung zwischen Künsten und Gattungen? Oder über die klassizistische Reichweite der Moritz’schen Autonomie-Idee? Oder über Moritzens Mythen-Axiom von der »Weihe des wirklichen Lebens«? Oder gar über die antikisch begründbare Annäherung, ja Versöhnung von Land und Stadt, von Arkadien und Polis, von Weimar und Berlin, von Gemeinschaft und Gesellschaft? Nichts von alledem, wozu denn jeder Beteiligte so kompetente wie differente Vorstellungen mitgebracht hätte, kam 1802 zur Sprache. Weimar stand als pragmatische Integrationsinstanz des deutschen Klassizismus nicht zur Verfügung – vielleicht weil Goethe hinter Das Jahrhundert Winckelmanns, Horen, Propyläen, vor allem aber hinter das hohe Gespräch mit Schiller nicht zurück wollte, vielleicht aber auch, weil Weimar für ihn immer schon mehr die ideale Hülle seines Ich81 Ernst Friedrich Sondermann: Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar, Bonn 1983, S. 187–214; Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006, S. 75–84; Dirk Sangmeister: Der federflinke Carl August Böttiger in und über Weimar, in: Freundesgesellschaft des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar e.V. (Hg.): Manuskripte 4, Weimar 2011, S. 51–77. 82 Vgl. Conrad Wiedemann: Weimar? Aber wo liegt es? Über Größenphantasien im Weimar und Jena der klassischen Zeit, in: Dieter Burdorf, Stefan Matuschek (Hg.): Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalität und Urbanität in der Literatur, Heidelberg 2008, S. 75–101.

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Bildungsprojekts als ein offener Umschlagsplatz des Zeitgeistes war. Auf letzteres bezogen nehmen sich die »Weimarer Kunstfreunde« (WKF) wie eine therapeutische Veranstaltung aus, die Goethe Ruhe und Kraft für sein grandioses Alterswerk garantieren, nicht aber die Jenaer Modernen oder gar einen Schadow in sein Metamorphosen-Credo hinein nehmen sollte. Schadow musste unbefragt zurückreisen, die Jenaer Modernen verließen ab 1802 die Stadt und er selbst dachte, als schon wenig später die Hälfte seiner Weggenossen, nämlich Herder 1803 und Schiller 1805, wegstarb, nicht daran, nach Ergänzung oder gar Ersatz zu suchen. Mit dem Auseinandergehen der Vier ist wohl auch die Vorstellung einer Einheit des deutschen Klassizismus aufgegeben. Die Beteiligten bilden keine Funktionsgemeinschaft, sondern zerstreuen sich als spezialisierte Individuen. Wie weit sich das mit den historischen Modernitätskriterien der professionellen Differenzierung und der individualistischen Vereinzelung verrechnen lässt, sei hier nicht weiter verfolgt. Anstatt dessen gilt es, die Brieffreundschaft zwischen Schadow und Böttiger, die aus der Weimarer Krise von 1802 konkret übrig geblieben ist, zu erschließen und für die nicht ganz zu leugnende »Tyranny of Greece over Germany«83 auszuschöpfen.

83 So der Titel des 1935 erschienenen und 2012 wieder aufgelegten Buches von Eliza M. Butler: The Tyranny of Greece over Germany. A study of the influence exercised by Greek art and poetry over the great German writers of the eighteenth, nineteenth and twentieth centuries, Cambridge 1935.

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Der Wortführer der Bürgerkultur Karl August Böttigers Diskurs über das Theater

Böttigers Interesse für das Theater erwuchs aus der Beschäftigung mit den antiken Dramatikern und ihren Werken im Kontext seiner schulischen Verpflichtung, die Sprache und die Werke der antiken Schriftsteller seinen Schülern vertraut zu machen. Sein Interesse richtete er schon früh nicht nur, wie es vor und nach ihm Legionen von Philologen hielten, auf die Texte, sondern auch auf die Modalitäten, die den im öffentlichen Raum zur Aufführung gebrachten Werken zur Wirkung verhalfen. Im Mittelpunkt des Theaters standen für ihn die Aufführung und das Publikum und nicht das gedruckte Werk. Seine Bemühungen, das antike Theater zu rekonstruieren,1 das gegenwärtige zu dokumentieren und es als Schule der öffentlichen Rede zu propagieren, zielten darauf, das Theater wieder zu einem öffentlichen Bürgerforum zu machen.

Die Weimarer Hofkultur und das Theater Als Böttiger 1791 nach Weimar kam, waren die Strukturen des Musenhofes, dem die herzogliche Familie vorstand und an dem Goethe und Schiller, Wieland und Herder Dienst taten, ausgeprägt. Böttiger, als Rektor des Gymnasiums, hatte die Aufgabe, für die Ausbildung der Elite des kleinen Fürstentums zu sorgen. Darüber hinaus wurde er wie die anderen Dichter und Gelehrten in die vom Hof installierten geselligen Formen eingebunden. In erster Linie handelte es sich dabei um die sogenannte Freitags- oder Gelehrtengesellschaft, eine Gesellschaft von Gelehrten und Dilettierenden, die unter der Ägide der Herzogin Anna Amalia in deren Gemächern zusammenkam, auch der regierende Herzog war gelegentlich zugegen. Im Statut der Gesellschaft stand ausdrücklich, dass es als »Gnade« empfunden werde, wenn »die 1 Vgl. Böttigers Arbeiten Zum Bühnenwesen der Griechen und Römer, in: C. A. Böttiger’s kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts, gesammelt und herausgegeben von Julius Sillig, 3 Bde., Dresden und Leipzig 1837/38, Bd. 1, 2. Abteilung.

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Durchlauchtigsten Herrschaften« an den Versammlungen teilnähmen.2 Diese Formulierung war keine Höflichkeitsfloskel gegenüber den Regierenden, sondern sie brachte zum Ausdruck, unter wessen Leitung die Veranstaltungen stattfanden. Der Weimarer Hof setzte die Formen der Geselligkeit auch ein, um das Potential seiner Elite kennen zu lernen und zu nutzen. Böttigers Wirken in Weimar ist dafür beispielhaft. Nachdem er am 2. März 1792 einen Vortrag über die Prachtgefäße der Alten gehalten hatte,3 bat ihn Herzogin Anna Amalia, Forschungen über die Enkaustik anzustellen. Diese Bitte hatte einen ganz praktischen Hintergrund; der regierende Herzog beabsichtigte, im Römischen Haus, das 1794 im Park erbaut werden sollte, Zimmer enkaustisch ausmalen zu lassen.4 Auch Böttigers Buch Die Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprillmonath 1796 war vom Hof angeregt worden. Das Werk entstand auf ausdrücklichen Wunsch beider Weimarer Herzoginnen, wie Böttiger in einem Brief an seinen Freund und Kollegen, den Altphilologen Christian Gottlieb Heyne in Göttingen, schrieb.5 Der Weimarer Hof nutzte das Gastspiel des berühmten Schauspielers, um sich überregional als Musenstadt zu etablieren. Böttiger war zu dieser Zeit schon mit mehreren kleineren Schriften zum antiken Theater hervorgetreten, die sogar im Magasin encyclopédique besprochen wurden.6 Es war wohl in Weimar bekannt, dass er beabsichtigte, ein größeres Werk über das antike Theater zu schreiben.7 Alles an Böttigers Iffland-Buch war neu. In Vorbereitung zu diesem Werk hatte sich Böttiger an Christian Gottlieb Heyne gewandt und sich verschiedene Werke über Schauspielkunst aus der berühmten Göttinger Bibliothek erbeten.8 Erstmals wurde in einem monographischen Werk der Versuch unternommen, die Schauspielkunst eines lebenden Schauspielers detailliert und in verschiedenen Rollen zu beschreiben. Im Vordergrund stand nicht das gespielte Werk, sondern der Mime. 2 Vgl. Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischenWeimar, hg. von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 1998, S. 433f., hier § 8, S. 434. 3 Vgl. ebenda, S. 58. 4 René Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs, Berlin 2008, S. 120f. 5 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Weimar, 8. Mai 1796 und 20. November 1796, in: Klaus Gerlach, René Sternke (Hg.): Karl August Böttiger. Briefwechsel mit Christian Gottlob Heyne, Berlin 2012, Nr. 36, Z. 8–32 und Nr. 41, Z. 15–20. 6 Im Magasin encyclopédique [An 5, 1797, 3ème année, Bd. 1, S. 520–526] finden sich Ausführungen über folgende Schriften Böttigers: Prolusione de personis scenicis vulgo Larvis, ad locum Terentii Phorm I, 4, 32, orationes auqtuor Juvenum in academiam discedentium in Gymnasio nostro illustri. A.D. VIII. Oct. MDCCIVC hora promediriana tertia habendas invitat Carolus-Augustus Boettiger. Vimarieæ, ex officina Glüsinigiana. – Dissertation sur les masques scéniques, appelés vulgairement Larves, à l’occasion d’un passage du Phormion de Térence, par M. Charles Boettiger. Weimar, 1794. 7 Karl August Böttiger: Entwickelung des Ifflandischen Spiels in vierzehn Darstellungen auf dem Weimarischen Hoftheater im Aprillmonath 1796, Leipzig 1796, S. 217. 8 Böttiger an Heyne (wie Anm. 5).

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Johann Friedrich Schink hatte in Dramaturgische Monate z.B. Friedrich Ludwig Schröders Schauspielkunst als den Ideengang aus dem Geist des Dichters entwickelt 9 und sich unfähig gefühlt, das Spiel des Schauspielers zu beschreiben: Durchaus die Geberde und den Ton beschreiben, wodurch er dies alles versinnlichte, ist mir wenigstens unmöglich. So lebendig es vor meiner Seele steht, was er darstellte, so fühl’ ich mich doch unfähig, es dem Leser deutlich zu machen.10

Böttiger beschrieb aber Ifflands Mimik, Gestik, Gebärde und den Ton der Stimme in allen Einzelheiten und in ihrem komplexen Zusammenspiel. Die dreizehn RollenPortraits sind in einzelnen Szenen so akribisch genau, dass wir Iffland in seinem Spiel, gleichsam wie eine Marionette, wiederbeleben könnten, wenn wir Böttigers Text als Spielanweisung läsen. Heinrich von Kleists Aufsatz Ueber das Marionettentheater, in dem Ifflands Spiel als Ziererei diffamiert wird,11 ist von Böttigers präzisen Beschreibungen, vor allem der Körperhaltung und Bewegung, angeregt worden. Die vieldiskutierte »Seele im Ellenbogen« stammt aus Böttigers Text, in dem Iffland in der Rolle des Oberpriesters in August von Kotzebues Stück Die Sonnenjungfrau beschrieben wird: Bey den mannigfaltigsten, sanftern und stärkeren Beugungen und Bewegungen des Arms war doch nie, so viel ich bemerken konnte, eine Beugung oder Verdrehung der Handwurzel bemerkbar. Alles Steife, Trockene und Widrige im Portebras, liegt in der Nichtbeachtung der Regel, dass stets der Arm mit der Hand, nicht die Hand ohne den Arm sich bewegen müsse. Die Seele des Arms aber ist der Ellenbogen. Hier fängt alle Bewegung an. Will man den Arm heben, so muß der Ellenbogen gehoben werden. Durch diese Hebung erhält der Arm sein schönstes Muskelspiel und die mahlerische Ründung, ohne welche diese Geste alle Grazie verliert.12

Kleist folgt Böttigers genauer Beobachtung, um seine Kritik der Ifflandischen Schauspielkunst, der er alle Grazie abspricht, zu fundieren. Es ist nicht zu übersehen, dass er auch beabsichtigt, Böttiger und dessen Beschreibung zu verspotten. Letztlich ist Kleists Kritik aber ungerechtfertigt, weil für ihn das Unreflektierte, Dunkle eine Grundvoraussetzung der Grazie darstellt. Die Leistung der Ifflandischen Schauspielkunst bestand ja gerade in der reflektierten Steuerung jeder Bewegung und Gebärde, um auf diese Weise Grazie hervorzubringen, denn in der graziösen Körperhandlung offenbart sich der Körper als Präzisionsinstrument und Werkzeug der Freiheit.13 9 Johann Friedrich Schink: Dramaturgische Monate, Bd. 4, Schwerin 1790, S. 1087–1142. 10 Ebenda, S. 1122. 11 Vgl. Sibylle Peters: Heinrich von Kleist und der Gebrauch der Zeit. Von der Machart der Berliner Abendblätter, Würzburg 2003, S. 368–370. 12 Böttiger: Iffland (wie Anm. 7), S. 280f. 13 »Dans la grâce, le corps est l’instrument qui manifeste la liberté. L’acte gracieux, en tant qu’il révèle le corps comme outil de précision, lui fournit à chaque instant sa justification d’exister.« Jean-Paul Sartre: L’Être et le Néant, Paris 1943, S. 470.

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Böttiger ging jedoch in seinem Buch über die bloße Beschreibung des Spiels hinaus, er verwies in seinen Texten auf die antike Bühnenpraxis, zog Berichte vom Spiel deutscher, englischer und französischer Schauspieler heran, machte Exkurse über Kostüme, Masken, Bühnenbilder und zog Vergleiche zu anderen Inszenierungen. Er enthielt sich aber jeglicher Textinterpretation. Sein Werk kann als ein Resümee der Schauspiel- und Theaterkunst um 1800 gelten. Böttiger setzte sich sowohl mit Regelwerken zur Hervorbringung der Schauspielkunst als auch mit monographischen Schriften, die die Schauspielkunst beschreiben, auseinander. Theoretisch bemüht er sich, an Johann Jacob Engels Mimik,14 ein Lehrbuch für Schauspieler, und an Johann Christoph Lichtenbergs Schilderung des Spiels von David Garrick,15 die immer wieder als Autoritäten herangezogen wurden, anzuschließen. Böttigers Buch ist kein Lehrbuch für Schauspieler, sondern eine Monographie über das Spiel eines Schauspielers, der als Repräsentant der Bühnenkunst um 1800 gesehen wird. Die exakte und ausführliche Beschreibung, die häufig in »Hauptsätze« zusammengefasst wird, spiegelt die auf Regeln basierende Schauspielkunst Ifflands wider. Damit wird dem Schauspieler alles Dilettantische genommen.16 Indem Böttiger das Ifflandische System würdigte, trug er zur Professionalisierung des Schauspielerberufs bei. Der Schauspieler wurde als professioneller Künstler etabliert, an dessen Kunst – ob Mimik, Gebärde oder Kostüm – nichts dem Zufall überlassen bleibt, sondern alles bewusst hervorgebracht wird. Damit handelte sich Böttiger zwar von Ludwig Tieck den Vorwurf ein, den Blick auf Nebensächliches gerichtet zu haben, eröffnete dabei jedoch eine neue Sichtweise auf die Schauspielkunst, indem er ihre Hervorbringung eben nicht aus dem Geist des Dichters, sondern aus dem Geist des Schauspielers beschrieb. Böttigers Buch ist aber auch ein Beitrag, das Theater als einen öffentlichen meinungsbildenden Kultur-Raum des Bürgers zu etablieren; denn schon in der Vorrede weist er darauf hin, dass er sich nicht allein auf sich verlassen habe: Ich darf also wenigstens diess noch hinzu setzen, dass ich bey allem, was ich hier niederschrieb, nicht bloss m ei n en Augen, meinen Urtheilen traute. S o sahen w ir al le Ifflanden hier in Weimar spielen.17

In seinen Texten finden sich zudem gelegentlich Hinweise auf von seiner Sicht abweichende Ansichten von Zuschauern.18 Böttiger machte sich damit zum Sprecher 14 Johann Jacob Engel: Ideen zu einer Mimik, 2 Theile, Berlin 1785/86. 15 Johan Georg Lichtenberg: Briefe aus England, in: Deutsches Museum, 1776, 6. und 11. Stück, 1778, 1. und 5. Stück. 16 Vgl. auch Wolfgang F. Bender: Vom »tollen Handwerk« zur Kunstübung, in: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren, hg. von Wolfgang F. Bender, Stuttgart 1992, S. 45f. 17 Böttiger: Iffland (wie Anm. 7), S. XV. 18 »Diese studierte Mäßigung kann von dem ungeübten Zuschauer leicht mißverstanden werden. Wirklich fehlte es auch hier nicht an solchen, die bemerkt haben wollten, dass Woldemar anfänglich zu kalt, zu langsam und zu affectlos gespielt worden sey.« Böttiger: Iffland (wie Anm. 7), S. 13.

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einer Gruppe von Bürgern, die sich im Theater trafen und darüber Gespräche führten. Sein Buch gibt vor, die Quintessenz dieser Gespräche wiederzugeben. Um den Eindruck, dass der Bürger über Theater und über Schauspielkunst ein öffentliches Gespräch führe, zu verstärken, druckte Böttiger einen an ihn gerichteten Brief von Goethe, der aufgrund von Böttigers Nichtnennung des Schreibers von der Goetheforschung unberücksichtig bleiben sollte, und einen Brief von Charlotte von Kalb an Iffland ab.19 Der Brief der Charlotte von Kalb scheint es auch gewesen zu sein, der Schiller gegen das Iffland-Buch einnahm; denn Frau von Kalb hatte an Iffland geschrieben, dass sie mit Widerwillen in die Vorstellung der Räuber gegangen sei, weil sie das Stück hasse, durch Ifflands Darstellung jedoch entschädigt worden sei.20 Die Schrift blieb damit zwar eine gelehrte Abhandlung, wandte sich aber auch an das größere Publikum. Böttiger lieferte ein Muster des öffentlichen Diskurses über das Theater, an dem der Bürger, der seine Weihe in Thalias Tempel empfing, teilnehmen konnte. Er selbst scheint sich als ein Chorführer verstanden zu haben. In dieser Rolle sehen wir ihn 1803 in der sogenannten Ion-Affäre – wir sehen ihn fulminant scheitern. Goethe hatte August Wilhelm Schlegels Stück Ion mit der Absicht auf die Weimarer Bühne gebracht, den Geist der Alten hier wieder zu beleben. In dieser schon von vielen Seiten beleuchteten Theater-Affäre zeigt sich deutlich der Gegensatz von Hof- und Bürgerkultur. Böttiger hatte die Inszenierung in seiner Kritik für das in Weimar herausgegebene Journal des Luxus und der Moden negativ besprochen. Goethe musste befürchten, dass dieser Text seine Absicht beeinträchtigen würde, Weimar eine klassische Aura zu verleihen. Er ließ nichts unversucht, den Druck von Böttigers Kritik zu verbieten, und – um es vorweg zu sagen – seine Intervention war erfolgreich. Für uns ist es interessant zu sehen, dass Goethe 19 Johann Wolfgang von Goethe an Karl August Böttiger, ebenda, S. 167–172, Charlotte Sophie Juliane von Kalb an August Wilhelm Iffland, ebenda, S. 291f. – Bisher ist dieser Brief nicht Goethe zugeschrieben, er ist bisher ganz unbemerkt geblieben. Für die Zuschreibung des Briefes sprechen folgende Argumente: 1. Mehrere Sätze des Briefes sind identisch mit einer Bemerkung, die Böttiger in den Literarischen Zuständen und Zeitgenossen Goethe zuschreibt, was bisher nicht angezweifelt wurde. Vgl. Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 2), S. 89f. – 2. Dass Goethe über Iffland an Böttiger schreibt, ist nicht unwahrscheinlich, weil Goethe selbst das Buch, wie Böttiger am 8. Mai 1796 an Heyne schreibt, angeregt hatte: »Göthe foderte mich auf, meine Beobachtungen über sein Spiel niederzuschreiben.« Karl August Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 5), Nr. 36, Z. 16–17. – 3. Böttiger leitet den Brief über Ifflands Stück Der Spieler mit der Bemerkung ein, dass »dessen Verfasser übrigens gewiss zu den aufrichtigsten Bewunderern des Schauspieldichters und Schauspielers gehört«. Goethe war in der Tat ein großer Bewunderer, insbesondre der Schauspielkunst, Ifflands. Goethe hatte Iffland zu diesem Gastspiel, dem viele folgten, eingeladen. – 4. Ungewöhnlich scheint, dass Goethe Böttiger in diesem Brief als Freund bezeichnet. Das geschieht aber auch in Goethes Brief an Böttiger vom 26. Mai 1797. 20 Ebenda, S. 291. – Darüber hinaus hatte Böttiger in seinem Buch die Schiller’sche Bearbeitung des Egmont kritisiert. Vgl. ebenda, S. 364.

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gegenüber dem mit Böttiger befreundeten Christoph Martin Wieland, dem er nahe legte, die konfiszierte Schrift nicht im Merkur abzudrucken, betonte, dass er das Theater im Auftrag des Fürsten leite.21 Damit sagte er deutlich, dass er im Auftrag des Fürsten handle und sich dessen Unterstützung sicher sein könne. Nicht weniger bemerkenswert ist Wielands Brief an Böttiger, in dem er schrieb, dass Goethe die Affäre als einen offenen Krieg betrachte. Er empfahl Böttiger, entweder »den Krieg […] in auswärtigen Blättern« zu führen oder »über das Weimarische Theater, Litteraturwesen, und alles andere Sachsen Weimarische u Eisenachische, auch Jenaische Landes-Portionliche Wesen u Unwesen kein Wort mehr zu schreiben noch drucken zu lassen«.22 Wieland gab seinem Freund damit zu verstehen, dass er im Herzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach Publikationsverbot in Theaterangelegenheiten hatte. Statt Böttiger schrieb nun Goethe selbst in einem Aufsatz mit dem Titel Weimarer Hoftheater. 1802 über diese Inszenierung, die er als eine epochemachende stilisierte.23 Der Weimarer Hof hatte seinen Untertanen Böttiger zwar aufgefordert, ein gelehrtes Buch über das Weimarer Theater zu schreiben, versagte ihm aber jede Unterstützung, als er in einem im Herzogtum herausgegebenen Journal Kritik an einer Inszenierung des herzoglich subventionierten Theaters äußern wollte. Eine öffentliche und unabhängige Theaterkritik war in Weimar fast unmöglich. Goethe und Schiller besprachen die Aufführungen ihrer Stücke gegenseitig in Cottas Allgemeiner Zeitung.24 Goethe, der im Dienst des Herzogs die Weimarer Kulturpolitik gestaltete, war auf die geschlossene und überschaubare, vom Hof leicht zu disziplinierende Gesellschaft der kleinen Residenzstadt angewiesen, um sein klassizistisches Programm zu realisieren.

Die Dresdner Bürgerkultur und das Theater Ganz anders lagen die Verhältnisse in der Residenzstadt Dresden, wo der einflussreiche sächsische Kurfürst und polnische König einen großen Beamtenapparat geschaffen hatte, der nur durch die Vielzahl gebildeter Bürger funktionstüchtig war. Das bürgerliche Publikum, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in den deutschen Ländern mehr und mehr Einfluss auf das Repertoire der Hoftheater nahm, schuf sich um das Theater herum einen öffentlichen Kultur-Raum. Am Repertoire 21 Wielands Briefwechsel, Bd. 15.1, bearb. von Siegfried Scheibe und Thomas Lindenberg, Berlin, 2004, Nr. 542, S. 520. 22 Ebenda, Nr. 545, S. 524f. 23 Johann Wolfgang von Goethe: Weimarisches Hoftheater. Februar 1802, in: Goethes Werke. Im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, WA I (Werke), Bd. 40, Weimar 1901, S. 72–85. 24 Johann Wolfgang von Goethe: Weimarischer neudecorirter Theatersaal. Dramatische Bearbeitung der Wallensteinischen Geschichte durch Schiller (Auszug eines Briefes aus Weimar.), ebenda, S. 3–8.

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und dessen Deutung (Theaterkritik) lassen sich diese Verschiebungen ablesen. Der öffentliche Kultur-Raum Theater war die Schnittstelle von verschiedenen sozialen Räumen wie dem Hof, der bürgerlichen Familie, dem bürgerlichen Verein, der Zeitungsredaktion, dem Verlag und den Künstlern. Böttiger schrieb 1821 in seinem Beitrag Repertoire und Parterre für die Dresdner Abend-Zeitung, dass gegenwärtig eine »Theatromanie« und »Metromanie« herrsche, so allgegenwärtig sei die öffentliche Schaubühne. Das Theater sei der eigentliche Mittelpunkt der Kunstbildung und allenthalben nähmen Bühne und Zuschauer aufeinander Einfluss: »Zwischen der Gesamtheit der Zuschauer und dem ausübenden Bühnenvereine findet die mannigfaltigste Wechselwirkung statt«.25 Böttigers Bemerkung zielte auf das Zusammenspiel der verschiedenen sozialen Gruppen, die sich im Theater begegneten und hier ihre Beziehung zueinander aushandelten.26 Die Verschiedenartigkeit der Gruppen offenbare sich am differierenden Geschmack, der sichtbar werde, wenn man das Repertoire einer Bühne studiere. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass auch die Dresdner Abend-Zeitung und der Dresdner Liederkreis vom Theater dominiert wurden, zumal die drei kulturellen Institutionen durch Personalunion miteinander verbunden waren. So war z. B. Böttiger Mitglied des Liederkreises, regelmäßiger Autor der Abend-Zeitung und von 1817 bis 1821 wichtigster Kritiker des Dresdner Theaters. Karl Gottfried Theodor Winkler war Mitglied des Liederkreises, Mitherausgeber und Autor der Dresdner Abend-Zeitung, seit September 1814 Intendant der Königlichen Schauspiele und seit August 1815 deren erster Sekretär.27 Auch Carl Maria von Weber war Mitglied des Liederkreises, schrieb regelmäßig für die Abend-Zeitung und war Kapellmeister der zum Theater gehörenden deutschen Oper. Dennoch waren alle drei Institutionen räumlich und auch sozial von einander getrennt, waren ihre Interessen verschieden. Gemeinsam war ihnen die, wie es Böttiger nannte, »Theilnahme an dem, was jedem Deutschen heilig ist, an Gemeinwesen und Volksglück«.28 Theater, Liederkreis und Abend-Zeitung, als Bestandteile des Gemeinwesens, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, auf »einen Kreis gebildeter oder bildungslustiger Zuhörer« aufmunternd und veredelnd zu wirken.29

25 Karl August Böttiger: Dramatische Anregungen. Repertoire und Parterre, in: Abend-Zeitung, 11. Oktober 1821, Nr. 244. 26 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theater als öffentlicher Raum, in: Der gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater, hg. von Klaus Gerlach und René Sternke, Hannover 2008, S. 47–60, besonders S. 48. 27 Robert Prölss: Geschichte des Hoftheaters zu Dresden. Von seinen Anfängen bis zum Jahre 1862, Dresden 1878, S. 366f. 28 Karl August Böttiger: Der Verkündiger, in: Abend-Zeitung, 16. Oktober 1821, Nr. 248. 29 Karl August Böttiger: Ueber Declamatorien, in Beziehung auf das Declamatorium von Mad. Schirmer am 25sten März, in: Abend-Zeitung, 7. und 8. April 1817, Nr. 83 und 84, hier Nr. 83.

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Der 1815 gegründete Dresdner Liederkreis 30 war im Kern nichts weiter als eine Vereinigung von kunstliebenden, nach Bildung strebenden Staatsbürgern, die gemeinschaftlich ihre Erholungsstunden verbrachten, um sich beim gemeinsamen Musizieren, Singen und Vorlesen anzuregen und zu unterhalten. Der Kreis vereinte Gelehrte (den Direktor der Antikengalerie Böttiger und den Professor am Kadettenhaus Karl August Förster), Dichter (Friedrich Kind und Helmina von Chézy), Komponisten (den Hofkapellmeister Carl Maria von Weber), Maler (Therese aus dem Winckel), Beamte (den Konferenz-Minister Gottlob Adolf Ernst von Nostiz und Jänkendorf und den kurhessischen Geschäftsträger Baron von der Malsburg). Seine Mitglieder verfügten damit einerseits über Kompetenzen, die es ihnen erlaubten, an verschiedenen Diskursen teilzunehmen, und sie waren andererseits in der Bürgergesellschaft fest verankert. Der Liederkreis erlangte deshalb innerhalb und außerhalb Dresdens an Bedeutung, weil die dort vorgelebte fruchtbare Eintracht einem allgemeinen Bedürfnis der deutschen Bevölkerung nach dem Wiener Kongress, der eine lange Periode von politischen Wirrnissen seit Beginn der Französischen Revolution abschloss, entsprach. Als herausragendes Beispiel für die Fruchtbarkeit und Harmonie des Liederkreises steht Carl Maria von Webers Schaffen, dessen Opern Der Freischütz, Die drei Pinthos, Oberon und Euryante in Zusammenarbeit mit den Liederkreis-Mitgliedern Friedrich Kind, Theodor Winkler31 und Helmina von Chézy entstanden. Böttigers Kritiken trugen mit dazu bei, dass Der Freischütz schnell Anerkennung fand und so ungemein populär wurde. Böttiger würdigte in seiner Kritik der Dresdner Erstaufführung, die sich über vier Nummern (vom 31. Januar bis 4. Februar) der Abend-Zeitung ausdehnte, die Originalität dieses Werkes, das bald als erste deutsche Nationaloper bezeichnet wurde: Alles ist neu und mit dem eigenthümlichsten Stempel dieses auf unbetretenen Pfaden selbstständig wandelnden Meisters bezeichnet. Der eigensinnigste Nothennacherzähler findet schwerlich auch nur einen fernen Anklang von dem, was er anderswo hörte.32

Eine kaum zu überschätzende Bedeutung ist der Übersetzertätigkeit der Mitglieder des Liederkreises beizumessen. Eine Reihe von vor allem französischen Werken erschien durch ihr Engagement erstmals in deutscher Sprache. So machte Karl Gottfried Theodor Winkler Victor Hugo, Honoré de Balzac und Alexandre Dumas 30 Zu den Mitgliedern, die nach verschiedenen Quellen differieren, vgl. Karl Wilhelm Böttiger: Karl August Böttiger, königl. sächs. Hofrath. Oberinspector der königl. Alterthumsmuseen zu Dresden, Ritter des königl. sächs. Civilverdinstordens, des großherzogl. sächs. Falken- und des kaiserl. russ. St.-Wladimirordens, vieler gelehrten und nützlichen Gesellschaften Mitglied. Eine biographische Skizze von dessen Sohne, Leipzig 1837, S. 105. 31 Neben dem Text zur Oper Die drei Pinthos und der Übersetzung des Oberon-Librettos aus dem Englischen stammen von Winkler auch die Texte der Chorwerke Du hoher Rautenzweig und Deo Rosa, Gottes-Rose. 32 Abend-Zeitung 1822, Nr. 27.

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in Deutschland bekannt, wofür er freilich von Tieck in der Vogelscheuche 33 verhöhnt wurde. Er übersetzte auch Werke von Stéphanie Félicité de Genlis, Giacomo Meyerbeers Robert le Diable und Die Lusiade des Camões. Ernst Friedrich Georg Otto von der Malsburg übersetzte zwischen 1819 und 1826 sechs Bände Schauspiele von Don Pedro Calderón de la Barca und Schauspiele von Lope de Vega. Karl August Förster übersetzte Francesco Petrarca’s Sämmtliche Canzonen, Sonette, Balladen und Triumphe. Letzterer stand außerdem Prinz Johann von Sachsen bei dessen Übersetzung von Dantes Die göttliche Komödie zur Seite. Förster war, wie auch andere LiederkreisTeilnehmer, Mitglied der Accademia Dantesca, einer Gesellschaft von Gelehrten, die der Prinz Johann von Sachsen (Philalethes) um sich versammelt hatte.34 Der Liederkreis wird seit Hermann Anders Krügers Arbeit aus dem Jahre 1904, so weit ich sehe, einhellig negativ bewertet.35 Während Krüger noch das Verdienst hatte, in seiner Arbeit erstmals – wenn auch selektiv – Quellen zu sammeln, begnügten sich Spätere damit, die Urteile der positivistischen Germanistik unkritisch zu übernehmen. Dabei schreckte Krüger nicht davor zurück, Urteile und Meinungen von Böttiger und anderen völlig zu entstellen, um seine Vorurteile gegenüber dem Liederkreis zu bestätigen. Ein Beispiel: Böttigers Bemerkung, nur durch die Leistung der Schauspieler sei die alte Schröder’sche Bearbeitung36 des Othello bei der Aufführung am 9. Februar 1817 in Dresden erträglich gewesen, gibt Krüger so wieder, dass der Eindruck entsteht, Böttiger spreche dem Shakespeare’schen Stück jede ästhetische Qualität ab.37 Tatsächlich mangelte es Krüger an Urteilsvermögen und sachlichen 33 Ludwig Tieck: Die Vogelscheuche. Märchen-Novelle in 5 Aufzügen, Berlin 1834. 34 Vgl. Sebastian Neumeister: Philalethes – König Johann als Dante-Übersetzer, in: Winfried Müller und Martina Schattkowsky (Hg.): Zwischen Tradition und Modernität: König Johann von Sachsen 1801–1873, Leipzig 2004, S. 203–216. – Vgl. auch den Beitrag von Peter Witzmann im vorliegenden Band. 35 Hermann Anders Krüger: Pseudoromantik. Friedrich Kind und der Dresdener Liederkreis. Ein Beitrag zur Geschichte der Romantik, Leipzig 1904. 36 Friedrich Ulrich Ludwig Schröders Bearbeitung des Othello wurde in Hamburg erstmals im Jahre 1776 gespielt. 37 Krüger zitiert folgende Passage aus Böttigers Kritik der Inszenierung von Shakespeares Othello, um dessen Urteilsfähigkeit lächerlich zu machen: »Um so mehr verdient die Kunst unserer Schauspieler achtungsvolle Anerkennung, daß sie dieß furchtbare, aber mangelhafte Gemälde höllischer Eifersucht und Bosheit, die sich zum Verderben des schuldlosen Opfers verbindet, so durchzuführen und auszumalen verstanden, daß nirgends die hochtragische Wirkung ganz verlorenging.« Krüger: Pseudoromantik (wie Anm. 35), S. 158. Unmittelbar vor diesem Satz kritisiert Böttiger jedoch die Tatsache, dass am Dresdner Theater die alte Übersetzung von Friedrich Ludwig Schröder gespielt wurde, mit folgenden Worten: »So mußte es bei der alten Schröderschen Bearbeitung bleiben, in welcher nicht bloß eine Menge der feinsten Züge und Motiven unbarmherzig weggeschnitten, sondern auch im Gange des Stückes selbst Veränderungen, die alles verrückten, gewagt worden sind. So ist uns vom Original nur ein Skelett und oben drein noch ein verrenktes übrig geblieben. Die imposante Scene im ersten Akte, im Versammlungssaale des Senats, wird hier eine klägliche Gassenscene, wo die junge Gemahlin

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Kriterien, um sich mit dem Schaffen der Mitglieder ernsthaft auseinanderzusetzen. Alle Mitglieder – Carl Maria von Weber ausgenommen – wurden mit einem (fragwürdigen) moralischen Maßstab gemessen; sie waren von vornherein diskreditiert, weil ihnen Charaktereigenschaften wie lächerlich eitel 38 (Winkler), prahlerisch39 (Kind), weibisch40 (von der Malsburg), schreibselig und lobrednerisch41 (Böttiger), eitel42 (Kuhn) angeklebt wurden. Deshalb kam Krüger auch zu dem abschließenden Urteil, die Liederkreisdichter seien »entartet zum Weibischen mit seiner grenzenlosen Eitelkeit, Schwatzhaftigkeit und Gefühlsseligkeit«.43 Tatsächlich illustriert der Liederkreis, dass die Periode, die wir heute Restaurationszeit nennen – weil jenseits des Rheins die Bourbonen wieder die Macht übernahmen – diesseits des Rheins eine Zeit der Umgestaltung und des Aufbruchs war, die nicht die Hofkultur restaurierte, sondern einer auf breiter Basis stehenden Bürgerkultur zum Durchbruch verhalf. Dass diese Bürger- oder Biedermeierkultur in Dresden fest verankert war, hängt eng mit der politischen Lage Sachsens zusammen. Das mit Napoleon verbündete Sachsen verlor nach dem Vertrag von Preßburg (1815) ein Drittel seines Territoriums und die Hälfte seiner Einwohner. Nirgends im zerfallenen deutschen Reich war es so augenscheinlich wie in Sachsen, dass die militärischen und politischen Eliten versagt hatten. Weil ihre Kompetenz in Frage gestellt wurde, hatten sie auch ihre Vorbildfunktion verloren. An ihren Platz wurden von den Bürgern in ihren Vereinen und den dafür gegründeten Kulturzeitungen die Künstler gestellt. Carl Maria von Weber drückte in seinem Einladungsschreiben an die Dresdner in der Abend-Zeitung das Verhältnis, das der Bürger zur Kunst gewonnen hatte, treffend aus, wenn er sagte: Es wird ihm das lieber und werther, was er auch in seinen Theilen und Bau beobachten lernt; und was soll ihn zunächst freundlicher ansprechen, als das Treiben und Wirken der Kunst: das schöne Erzeugnis des erhöhten Lebens, zu dem jeder Einzelne im Volke eine unsichtbar mitwirkende Triebfeder ist und sich auch als solche gewiß fühlt.44

Carl Maria von Weber lud »die Bewohner Dresdens« ein, am Kunstleben ihrer Stadt durch Mitwirkung und Anteilnahme direkt Einfluss zu nehmen. Die Möglichkeit der Einflussnahme war neu; sie war den Bürgern bisher versagt. Es wird deutlich, dass

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auf offener Straße verhört, Othello’s Erzählung (die jeder Britte aus Enfield’s Speaker auswendig kann), als sei es ein Nachtwächterlied auf der Straße abgeschrieben wird. So geht es auch im letzten Akte. Man wundert sich also ja nicht, wenn manches sehr grell hervortritt, oder unbegreiflich bleibt.« (Abend-Zeitung, Februar 1817, Nr. 41). Krüger: Pseudoromantik (wie Anm. 35), S. 138. Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 148. Ebenda, S. 155. Ebenda, S. 139. Ebenda, S. 210. Carl Maria von Weber: An die kunstliebenden Bewohner Dresdens, in: Abend-Zeitung, 29. Januar 1817, Nr. 25.

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die Biedermeierzeit keine Zeit des Rückzugs in die private Welt des Bürgers war,45 sondern eine Hinwendung zur Bürgerkultur, die aber in aller Öffentlichkeit inszeniert wurde. Der Bürger wurde selbstbewusst und stellte sein Wissen und seinen Einfluss auch zur Schau. Wenn es zutrifft, dass, wie Alexis de Tocqueville analysierte,46 Vereine und Gesellschaften Teile der Selbstorganisation des Bürgertums waren, die an der Durchsetzung seiner Freiheiten sehr wesentlich mitwirkten, dann trifft das nicht minder für die von ihnen gegründeten Zeitungen zu. Die Dresdner Abend-Zeitung, wo seit 1817 Winkler und Kind als Herausgeber fungierten, wurde die tonangebende Kulturzeitung in Deutschland. Sie wurde bald zu einem Leitmedium der Biedermeierzeit, weil in ihr offenbar die Werte vermittelt wurden, die von einem großen »Kreis gebildeter oder bildungslustiger Zuhörer«47 angenommen wurden. Der Erfolg der Zeitung bestand darin, dass sie nicht polarisierte, wie Der Freimüthige und Die Zeitung für die elegante Welt, sondern dass sie ihre Leserschaft als Ganzes für sich einnahm, weil sie keine ausschließliche ästhetische Richtung vertrat und nur gelegentlich Beiträge mit einer politischen Tendenz aufnahm. Sie war deshalb aber nicht unkritisch und ein Sprachrohr des Mittelmaßes, wie Krüger das immer wieder betonte;48 denn Goethe wurde nicht nur als der größte deutsche, ja europäische Dichter gefeiert, sondern die Kritiken Böttigers trugen nicht wenig dazu bei, dass ihm dieser Platz eingeräumt wurde. Selbst der viel gescholtene Theodor Winkler war nichts weniger als eigenverliebt, wenn er in Dresden nach vierzigjähriger Abwesenheit auf den deutschen Bühnen Friedrich Maximilan Klingers Trauerspiel Die Zwillinge wieder aufführen ließ und mit einer sehr positiven Besprechung versuchte, es dem Repertoire zuzuführen.49 Auf der Titelseite der Zeitung wurden in der Regel Gedichte abgedruckt, hin und wieder auch Gelegenheitsgedichte der Mitglieder des Dresdner Liederkreises. Charakteristisch für diese sind etwa die Herbst-Blumen der schlesischen Dichterin Agnes Franz. In dem im antiken Versmaß verfassten Gedicht beschreibt sie das Dichten als eine religiöse Handlung am Altar der Musen. Die Verbindung von Kunst und Religiosität kann kaum deutlicher ausgedrückt werden. Es beginnt mit den Versen: Tief zu Boden gekehrt die letzte Flamme, so zuckte Sterbend die Gluth am Altar, den ich den Musen geweiht.

In der Folge schildert Franz, wie sie mit frommem Vertrauen nach Dresden gewallfahrt sei, die verlöschende Flamme ihres künstlerischen Schaffens am Altar des Liederkreises neu entzündet habe und gestärkt nach Hause gefahren sei: 45 Vgl. Hans Georg Werner: Aspekte des Biedermeier-Problems aus germanistischer Sicht, in: Wissenschaftliche Zeitschrift – Ernst-Moritz-Arndt-Universität, 1986, Bd. 35, S. 92. 46 Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987, S. 597 und 599. 47 Böttiger: Ueber Declamatorien (wie Anm. 29). 48 Krüger: Pseudoromantik (wie Anm. 35), S. 163–177. 49 Theodor Hell: Abend-Zeitung, 28. und 29. August 1818, Nr. 205 und 206.

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Klaus Gerlach Und nun hebt sich der Strahl auf ’s neue, es lodert die Flamme Froh empor und erfreut wonnig mir Sinn und Gemüth.50

So wie sich Franz vom Dresdner Liederkreis begeistern und inspirieren ließ, so sollte auch der Leser der Abend-Zeitung täglich für die Kunst begeistert werden. Er sollte mit wonnig erfreutem Sinn und Gemüt den Tag beschließen. Wie in Kirchen und Klöster wallfahrte der Bürger der Biedermeierzeit in die allerorts prachtvoll entstehenden Musentempel. Neben der Bibel und dem Katechismus las er deshalb die Abend-Zeitung, die ihn auf diese Besuche einstimmte und vorbereitete. Die Gelegenheitsgedichte sind nicht der Gipfel des Ungeschmacks oder der Lobhudelei, sondern Aufforderung zur Nachahmung an die Leser, es dem Liederkreis gleichzutun. Statt Kurznachrichten im Netzjargon zu simsen, verfasste der Bürger der Biedermeierzeit Gedichte, die Zitate, Motive oder das Versmaß berühmter Vorbilder aufnahmen. Einen großen Teil der Abend-Zeitung füllte der Herausgeber Winkler mit eigenen Gedichten und Erzählungen. Aber auch poetische Texte von Helmina von Chézy, von Nostiz und Jänkendorf, Karl August Förster und Friedrich Rückert finden sich oft. In der Abend-Zeitung veröffentlichten der Berliner Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso, die Weimarer Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, der Berliner Dramatiker und Publizist Ludwig Robert. Auch Carl Maria von Weber publizierte dort seine Dramatisch-musikalischen Notizen. In der ersten am 29. Januar 1817 erschienenen Notiz unterbreitete Weber dem Dresdner Publikum sein Programm zur Leitung der deutschen Oper in Dresden. Besonders stark sind die schlesischen und böhmischen Dichter und Schriftsteller vertreten, beispielsweise die Lyrikerin Agnes Franz, der Schriftsteller Karl von Holtei und der Märchendichter Adolf Wilhelm Gerle, der mit Ludwig Tieck befreundet war. Böttiger schrieb neben seinen Texten zum Theater sehr viele Beiträge über das Dresdner Kunstleben und über das Modethema Kunst und Alterthum eine fortgesetzte Rubrik, in der er über die Forschungsvorhaben und -ergebnisse von Friedrich Thiersch, Friedrich Creuzer, Philipp Karl Buttmann oder Barthold Georg Niebuhr auf dem Gebiet der Altertumskunde informierte. Auch Ludwig Tiecks Kritiken, die von Ende 1821 bis 1824 erschienen, änderten nichts an der politisch-ästhetischen Ausrichtung, wenngleich er stärker polemisierte und z.B. das Drama Anna Boleyn des Dresdner Autors Eduard Heinrich Gehe schonungslos besprach, wie es Böttiger so drastisch nie getan hätte. Jedoch war er viel moderater, als das seine Vogelscheuche, in der er sich vom Liederkreis abgrenzen sollte, glauben machen will. Tieck schrieb in einer seiner Besprechungen, dass man über die dramatischen Scherze im Theater nicht so streng urteilen und die eigene Lust, die man beim Zuschauen gehabt habe, beim Rezensieren nicht verdammen 50 Agnes Franz: Herbst-Blumen, dem Liederkreise in Dresden dankbar geweiht, in: Abend-Zeitung, 11. Oktober 1821, Nr. 244.

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solle.51 Tieck bezeichnete sich in seinen Briefen an Theodor Winkler, den er später in der Vogelscheuche dem Spott preisgab, ausdrücklich als Freund. Auch erschienen seine Kritiken mit der Billigung von Winkler, der dafür seine Freundschaft mit Gehe aufs Spiel gesetzt hatte.52 Die Texte, die Tieck in der Abend-Zeitung schrieb, unterscheiden sich kaum von denjenigen Böttigers. Das Format jedenfalls hat er vollständig von Böttiger übernommen. Wenn wir heute in der Rückschau vielen der in der Abend-Zeitung veröffentlichten Texte keinen bleibenden Wert beimessen, schmälert das die einstige Bedeutung der Zeitung nicht. Sie ist ein Spiegel des Zeitgeistes und des Zeitgeschmacks, in den mancher nur mit Abscheu hineinsehen mag, weil in ihm deutlich ablesbar ist, dass die Mehrzahl der Deutschen die Werke von Goethe und Schiller weniger las oder auf dem Theater sehen mochte als die von Kotzebue oder Theodor Winkler. Trotzdem trug gerade die Abend-Zeitung mit dazu bei, dass Goethe und Schiller zu Klassikern oder, wie es Böttiger weniger pietätvoll, aber treffend nennt: zu »Paradepferden« wurden; denn ihre Macher wussten, dass ihre Leser schnell überdrüssig werden würden, »die alten Paradepferde immer vor sich herumtummeln zu sehen«.53 Damit die Paradepferde auffallen, müssen drum herum, um im Bilde zu bleiben, Zirkuspferde für Unterhaltung sorgen: »Denn die Abendzeitung bezweckte die allgemeinste Unterhaltung«.54 Indem sie ihre Leser mit Gedichten, Erzählungen, Theaterkritiken und Informationen über Literatur, Musik und Kunst unterhielt, vermittelte sie dem Bürger einen Wertekanon. Wie wir im Folgenden sehen werden, war Böttiger mit seinen Theaterkritiken entscheidend an der Herausbildung dieses Kanons beteiligt.

Böttiger als Theaterkritiker und Wortführer des gebildeten Bürgertums Das Dresdner Theater fiel unter den deutschen Theatern bis zum Ende der Befreiungskriege nicht auf. Das Ensemble bestand aus der Secondaischen Gesellschaft, die während der Messe auch in Leipzig spielte. Die Intendanz war wenig experimentierfreudig, und die Theatergebäude befanden sich in einem schlechten Zustand.55 Erst als Leipzig im Jahre 1816 ein eigenes Theater gründete, änderte sich die Pro51 Ludwig Tieck: Dramaturgische Blätter. Nebst einem Anhange ungedruckter Aufsätze über das deutsche Theater, Berlin 1826, S. 120 [Über Cervantes Portrait von Michel Dieulafoi]. 52 Uwe Schweikert (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen. Ludwig Tieck, Bd. 9, II, München 1971, S. 157–159. 53 Böttiger: Ueber Declamatorien (wie Anm. 29), Nr. 83. 54 Karl August Böttiger: Kunstansicht. 1. Akademie der Künste, in: Abend-Zeitung, 21. August 1821, Nr. 200. 55 Vgl. Wolfgang Becker: Die deutsche Oper in Dresden unter der Leitung von Carl Maria von Weber. 1817–1826, Berlin 1962, S. 29–32.

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grammatik des Dresdner vom König finanzierten Theaters. Carl Maria von Weber wurde engagiert und Böttiger begann seine Chronik. Zwischen dem Amtsantritt Webers im Januar 1817 als Direktor der neu gegründeten deutschen Oper in Dresden und Böttigers beginnender Rezensionstätigkeit in der Abend-Zeitung im gleichen Jahr besteht zwar kein unmittelbarer Zusammenhang, aber es ist dennoch kein Zufall, dass beider Tätigkeit für das Theater in diesem Jahr begann. Das Theater als wichtigste öffentliche Kunstinstitution bot nach den politischen Umbrüchen des Jahres 1815 einen Spielraum, der offenbar viele Kräfte zu dessen Ausgestaltung anzog. Dresden hatte zwei Spielstätten, das »königliche Theater in der Stadt« und das an der Elbe gelegene »auf dem linkeschen Bade«,56 das bei den Dresdnern besonders beliebt gewesen zu sein scheint, weil hier die ersten deutschen Opern aufgeführten wurden.57 Böttiger schrieb für die Abend-Zeitung in der Rubrik Chronik der Königl. Schaubühne zu Dresden58 zwischen 1817 und 1821 weit über hundert ausführliche Theaterkritiken und dramaturgische Texte. Dass sich der Pädagoge und Direktor der Dresdner Antikensammlung, der Mitglied zahlreicher europäischer Akademien und Gelehrtengesellschaften war, 1817 dazu entschloss, eine Dresdner Theaterkritik zu schreiben, mag auf den ersten Blick verwundern. Aber es war gerade diese Kompetenz, die ihn als Fachmann des Theaters auswies. Wie kaum ein anderer hatte sich Böttiger mit dem griechischen und römischen Theater, das ihm der Inbegriff einer öffentlichen Bürgerkultur war, beschäftigt. Die Öffentlichkeit des Theaters ergab sich für Böttiger nicht aus der unbeschränkten Zugänglichkeit des Ortes, sondern aus der Möglichkeit, an diesem Ort seine Meinung kundzutun. In seiner Abhandlung Der Händezoll 59 fragt er nach der Bedeutung des Theaters als öffentlichem, meinungsbildendem Ort. Das Beifallklatschen oder Auspfeifen waren ihm die einfachsten und ursprünglichsten Formen, die eigene Meinung über eine Theateraufführung zu äußern. Böttiger begreift diese öffentliche Meinungsäußerung als eine freiwillige Handlung des Bürgers. Er zeigt aber auch, dass das Theater schon sehr früh eine kompensatorische Funktion auszuüben hatte. In seiner Geschichte des Händezolls, die er von seinem mythischen Ursprung, den er bei dem Satyrisken Krotos sieht, bis in die Zeit des Kaiserreichs verfolgt, verschweigt er nicht, dass das »souveräne Volk« im römischen Kaiserreich nur noch auf dem Theater seine »Machtvollkommenheit« ausübte, »nachdem es auf alle Freiheiten verzichtet« hatte. Trotzdem oder gerade deshalb blieb das Theater ein öffentlicher Ort, an dem die freie Meinungsäußerung zugelassen wurde, gleich welche politischen Umstände herrsch56 57 58 59

So nennt Böttiger die beiden Aufführungsorte in der Chronik. Becker: Oper (wie Anm. 55), S. 32–34. Der Name änderte sich öfter, seit 1822 hieß die Rubrik auch Ueber die Dresdener Schaubühne. Karl August Böttiger: Der Händezoll an die dramatische Muse bezahlt. Ursprung des Händeklatschens bei den Griechen und Römern und akustische Empfänglichkeit des Halbkreises in den Bühnen, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 321–337.

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ten. Wenn das Volk aber nur noch im Theater seine »Machtvollkommenheit« ausüben konnte, wird offenbar, dass das Theater immer ein Ort der kont rol l i er ten Öffentlichkeit war. Es scheint, als habe Böttiger in der Zeit nach den Befreiungskriegen, sich dem Dresdner Theater zugewandt, weil er hier größere Einflussmöglichkeiten für sich sah als in der Antikengalerie, deren Direktor er endlich geworden war. Nachdem der sächsische König im Juli 1815 zurückgekehrt war, fanden Böttigers Reformbemühungen um die Antikengalerie, die er während der Zeit des russischen und preußischen Generalgouvernements (1813–1815) entfaltet hatte, kein Interesse mehr. Die Öffnung der Galerie für ein bürgerliches Publikum war nicht mehr erwünscht.60 Auffällig ist, dass ein mit Johann Heinrich Meyer geplantes Projekt zur Katalogisierung der Antikensammlung Anfang 1817 am Desinteresse des Hofes scheiterte.61 Also in dem Jahr, in dem sich Böttiger dem Theater zuwandte und seine Theaterkritik begann. In den wöchentlich mehrmals erschienenen Texten in der Abend-Zeitung zeigte sich Böttiger tatsächlich in der Rolle des Chorführers. Böttiger schrieb für die AbendZeitung Theaterkritiken, die am Schluss der Zeitung platziert waren, und dramaturgische Texte, die gewöhnlich am Anfang der Zeitung standen. Die dramaturgischen Texte erschienen, einige Tage bevor ein neues Stück ins Repertoire aufgenommen wurde, und dienten, ähnlich wie Carl Maria von Webers Dramatisch-musikalische Notizen, zur Einführung dieser Stücke. Es erschienen unter anderen folgende Texte: König Yngurd, Trauerspiel von Müllner,62 Ueber Moreto’s Donna Diana,63 Schillers Wallenstein,64 Ueber Shakespear’s Hamlet nach Schlegel.65 In diesen Texten bot Böttiger all seine Autorität auf, um für das neue Stück eine Lanze zu brechen. Dabei ignorierte er ganz offensichtlich persönliche Feindschaften, wie die zu August Wilhelm Schlegel, die nach dem Ion-Skandal offen zu Tage getreten war. In seinem Text zu Schlegels Hamlet-Übersetzung geht er diplomatisch auf die Anhänger der von Schröder stammenden Bearbeitung, die lange in Dresden gespielt wurde, zu, um dann die Neuübersetzung, wogegen sich »hundert Stimmen« erhoben hatten,66 dem Publikum nahe zu bringen. In den am Ende der Zeitung stehenden Theaterkritiken begleitete Böttiger über mehrere Jahre das Repertoire des Dresdner Theaters. Er besprach dort vor allem die Klassiker des englischen (Shakespeare), französischen (Molière, Racine, Corneille), 60 Kordelia Knoll: Die Geschichte der Dresdener Antiken- und Abgußsammlung von 1785 bis 1916 und ihre Erweiterung zur Skulpturensammlung unter Georg Treu, Technische Universität Dresden 1993, S. 30–38. – Vgl. dazu auch den Beitrag von Kordelia Knoll im vorliegenden Band. 61 Ebenda, S. 37f. 62 Abend-Zeitung, 9. April 1817, Nr. 85. 63 Abend-Zeitung, 1. Oktober 1817, Nr. 235. 64 Abend-Zeitung, 13. Februar 1819, Nr. 38. 65 Abend-Zeitung, 12. Februar 1820, Nr. 36. 66 Ebenda.

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spanischen (Calderón, Moreto) und italienischen Theaters (Goldoni). Unter den deutschen Dramatikern nahm er sich besonders der Werke der Weimaraner Goethe und Schiller sowie derer der Dresdner Theodor Winkler oder Eduard Heinrich Gehe an. Die Besprechungen vieler Inszenierungen waren so ausführlich, dass sie sich oft über zwei, drei, ja vier oder fünf Nummern der Zeitung hinzogen. In der Regel begann Böttiger mit einer Einführung, in der er die Entstehungsgeschichte des Werkes in Parallele zu der Biographie des Autors setzte. Er beschränkte sich nicht mehr auf die »Entwickelung« des Spiels der Schauspieler, wie im Iffland-Buch, sondern lieferte eine Werkanalyse. Er leistete Werk- und Spielkritik. Dabei kam ihm zur Hilfe, dass er die meisten zeitgenössischen deutschen Autoren wie Goethe, Franz Grillparzer, Theodor Winkler, August Wilhelm Iffland, Heinrich von Kleist, August von Kotzebue, Ludwig Robert und viele andere persönlich kannte und mit den meisten auch korrespondierte. Wenngleich er nicht mit allen befreundet war, so kannte er doch ihren Charakter und ihr ästhetisches Programm. Er war Zeuge vieler Erst- und Privataufführungen, hatte Diskussionen der Autoren beigewohnt oder kannte deren Verleger. Dieses Wissen floss in die Texte ein. Aber es stand nicht für sich, sondern es diente dazu, das Stück zu interpretieren. Privates und Anekdotisches aus der Zeit der Entstehung eines Werkes wurden durch literarhistorisches Vergleichen und im Zusammenspiel mit stilistischen Analysen bedeutungsvoll. Böttiger ist damit einer der ersten, die Leben und Werk fest aneinander binden. Er hatte großen Anteil daran, dass der moderne Autor zu einer öffentlichen Person wurde. Seine Besprechung der Phädra von Schiller beginnt mit den Worten: »Wir haben noch keine Biographie Schillers, wie sie sein soll«.67 In der Folge legt er den Zusammenhang von Schillers Racine-Übersetzung und dem Wunsch des Weimarer Herzogs, Goethe möge Voltaires Mahomet ins Deutsche übertragen, offen. Seine ästhetischen Bewertungen korrelieren stets mit der Entstehungsgeschichte der Werke. Im Zusammenhang mit der Textdeutung unternahm Böttiger in vielen Fällen eine Textkritik der gespielten Bühnenfassungen. Als prominenter Altphilologe setzte er sich dafür ein, nicht nur die Überlieferung der Texte der Alten kritisch zu hinterfragen, sondern auch die der Gegenwart. Er plädierte deshalb für eine werkgetreue Bühnenfassung der deutschen Autoren wie Heinrich von Kleist oder Friedrich Schiller, deren Stücke bisher meist in schlechten Bearbeitungen gespielt worden waren. Aber auch bei fremdsprachigen Autoren, wie z. B. bei Shakespeare, Calderón oder Molière, setzte er sich dafür ein, dass eine möglichst adäquate Übersetzung gespielt werde.68 Beispielhaft für seine textkritischen Betrachtungen ist seine Be67 Abend-Zeitung, 14. Juli 1819, Nr. 167. 68 Vgl. die Kritik zu Calderóns Das Leben ein Traum in der Übersetzung von Johann Diederich Gries, die ausdrücklich gelobt wird (Abend-Zeitung, 24.–27. November 1818, Nr. 281–283), seine Kritik zu Johann Heinrich Daniel Zschokkes Übersetzung von Molières Der Geitzige, die er tadelte, weil die »sehr zur Unzeit nachbessernde Bearbeitung« die »Züge des Originals« ver-

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sprechung der Dresdner Erstaufführung von Kleists Das Käthchen von Heilbronn. Dieses lange Zeit für unspielbar gehaltene Stück war in der Bearbeitung von Franz von Holbein endlich auf die Bühne gelangt. Zwar erkennt Böttiger von Holbein das Verdienst zu, Das Käthchen von Heilbronn auf die Bühne gebracht zu haben, kritisiert aber dessen Bearbeitung. Böttiger beschreibt abfällig, wie von Holbein Hand angelegt, aus dem ersten Akt ein einleitendes Vorspiel gemacht, gerückt und geschoben, weggeschnitten und eigenes einfügt hatte.69 Vor allem kritisierte Böttiger »die Verwässerung der theilweise sehr schönen Jamben in prosaischen Aufguß«.70 Holbein stand offenbar ganz in der Tradition von Schröder, der alle Versdramen in Prosa umarbeitete. Die Art, wie Böttiger von Holbeins Bearbeitung beschreibt, lässt seine Distanzierung zu der Vorgehensweise des Bearbeiters erkennen. In Böttigers weiteren Ausführungen wird deutlich, dass er seine Textkritik nicht vorbringt, um seine Kenntnisse auszubreiten, sondern weil er meint und seinen Lesern mitteilen will, es könne »keine genügendere Exposition eines Stückes geben, als dieser erste Akt, der ganz willkürlich zum Vorspiel gemacht wurde«.71 Textkritik hat bei Böttiger, wie wir sehen, die Funktion, das Werk verstehen zu helfen. Kleists Originaltext war ihm ein Gut, das nicht verstümmelt werden durfte. Böttiger exponierte sich als Kenner, der den sachverständigen Umgang mit dem kulturellen Erbe anmahnt.72 Böttiger knüpfte in seinen Dresdner Theaterkritiken an sein in der Entwickelung des Ifflandischen Spiels gebrauchtes Verfahren an, aus den Beobachtungen vieler Einzelheiten ein Schauspieler-Portrait zu modellieren. Die Leser seiner Texte sollten vor ihrem innern Auge und Ohr das Schauspiel noch einmal sehen und vor allem hören, weshalb visuellen und akustischen Eindrücken der Inszenierungen breiter Raum eingeräumt wurde. Sehr ausführlich beschrieb er die Wandlungsfähigkeit der Stimme in einer oder in einer Folge von Szenen, wie etwa bei seiner Analyse von Friederike Werdys Spiel als Sappho in Grillparzers gleichnamigem Stück.73 Als

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wischt hätten (Abend-Zeitung, 25. März 1817, Nr. 72), und die Kritik zur Dresdner Erstaufführung zum Kaufmann von Venedig, in der er die Übersetzung Schlegels als »Errungenschaft« bezeichnet und die Zurückhaltung des Publikums in der ersten Vorstellung mit den Worten entschuldigt: »Wie kann man bewundern, was zu fassen Arbeit ist« (Abend-Zeitung, Wegweiser, 14. Februar 1821, Nr. 13). Abend-Zeitung, 15., 16. und 17. Dezember 1819, Nr. 299–301, hier Nr. 299. Ebenda, Nr. 299f. Ebenda, Nr. 299. In diesen Zusammenhang gehört auch Böttigers in dieser Kritik vorgetragene Interpretation der Rolle des Käthchens, an der sich offenbar viele Zeitgenossen gestört haben. Mit seinen Einlassungen versucht er Käthchens Verhalten gegenüber dem Ritter Strahl historisch zu erklären (ebenda). »Gut motivirt wurde durch Hebung und Senkung der Stimme im langsamen oder schnellen Vortrag und richtig berechnetem Pausiren der Seelenkampf vor dem Rufen der Melitta gemalt. Ihr besseres Selbst hat gesiegt. Da kommt die Eifersucht mit dem Worte: ich will sie sehen! Dieser Rückfall fordert und erhielt eine mimische Pause zum Uebergang. Das Maß derselben giebt keine Kunstregel, sondern die Eingebung des Augenblicks. Im Anfangs-Monolog des vier-

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typisch für Böttigers Methode mag hier die Beschreibung der Sprachmodulation der Wiener Schauspielerin Sophie Schröder in der Rolle der Phädra in dem gleichnamigen Stück von Racine stehen: Welche Welt von Tönen und wie nur immer den einzigen, der trifft, welches Tragen der Töne vom zürnenden Donner in der doch nie männlich werdenden Tiefe bis zum fast tonlosen Erstarren oder zum leisesten Aeolsharfenhauch, mit welcher unerschöpflichen Athemfülle zeigte sie sich uns als Phädra! In der ersten Scene bis wo sie ihr Innres der Oenone öffnet, leidende Weichheit und also auch langsamere Haltung; in der Liebeserklärung süßer Wohllaut in lauter Mitteltönen, selbst wo sie in Exstase gerät; in der Unterredung mit Oenonen, als sie des spröden Hippolyts Liebe zu Aricien mit Eifersucht und mit dem unnachahmlich gesprochenen: man liebt andere, erwähnt, Bitterkeit des Hohns in gebrochnen Tönen; in dem furchtbaren Vorgefühl der Höllenstrafe, die gesenkteste Tiefe mit dem schnellsten Ueberspringen zur jammernden Weichheit; in den Vorwürfen; wodurch sie Oenonen zum Selbstmord treibt, gediegene Härte; in der Sterbescene erst matt und langsam, dann in immer beschleunigterm Zeitmaß hervorgestoßene fast klanglose Töne; dies alles aber mit einer Rundung der Artikulation und Sicherheit in den Uebergängen und mit einer Weichheit, die nur aus dem innern, wo Geist und Gemüth vorwalten, so ausgeprägt hervorgehen kann.74

Böttiger wollte das Schauspielen mit Hilfe der Sprache konservieren. Die Sprache war ihm ein geeignetes Hilfsmittel, das Spiel räumlich, zeitlich und akustisch zu dimensionieren. Im Iffland-Buch verglich er seine Methode mit der eines Botanikers, der »eine seltnere Blume gut aufzutrocknen«75 versteht. Es lag ihm fern, ein Begriffssystem zu schaffen, aber es war seine Absicht, andere, mit mehr Beobachtungsgeist, dazu anzuregen.76 Offenbar erkannte er die Schwierigkeit, das System der verschiedenen kommunikativen Zeichen, deren sich ein professioneller Schauspieler, wie er bemerkt hatte, systematisch bedient, in ein anderes zu übersetzen, um es zu beschreiben. Deshalb beschränkte er sich auf das Konservieren des Gehörten und Gesehenen. Böttigers Bewertung der in Dresden aufgeführten Stücke ist sehr differenziert und für den einsetzenden Abgrenzungsprozess des gebildeten Publikums vom ungebildeten aufschlussreich. Er unterscheidet zwischen dem ungebildeten und dem gebildeten Publikum, die aber beide Anspruch auf das Theater haben. Bei Gelegenheit seiner Besprechung von Lessings Stück Nathan der Weise, von dem er meint, es gebe auf der deutschen Bühne vom »Standpunkt der Reflexion kaum ein originelleres Drama«, differenziert er deutlich: »Der gaffenden Lachsucht und der Menge auf immer ungenießbar und unzugänglich, versammelte es auch bei der ten Akts gefiel die bis zum Abscheu gesteigerte Schilderung des Undanks, hinter welcher sich nun die Verschmähete versteckte durch die Kraft des Vortrags, so wie in decrescendo verhauchende zweite Wiederholung des Worts Undank. So muß es sein. Die Stimme versagte der Erschöpften.« Abend-Zeitung, 7. August 1818, Nr. 188. 74 Abend-Zeitung, 16. Juli 1819, Nr. 169. 75 Böttiger: Iffland (wie Anm. 7), S. XI. 76 Ebenda, S. X.

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heutigen Vorstellung nur ein erwähltes Publikum.«77 Aber Böttiger gab den Lesern der Abend-Zeitung nicht zu verstehen, dass er zu den Erwählten gehöre, sondern er bewunderte auch öffentlich die »Virtuosität des hochkomischen Schauspielers« in dem ganz mit dem Unwahrscheinlichen spielenden französischen Lustspiel Die Drillinge und resümiert sogar: »so vergißt man gern den Packzwirn, womit das Ganze zusammen gehalten ist, und lacht mit den Lachenden«.78 Die unbedeutendkomische Posse und das den Zeitgeist aufgreifende Schauspiel hatte nach Böttigers Auffassung genauso Anspruch auf Inszenierung wie das literarische Meisterwerk. Auf dem vom König subventionierten Theater, dem öffentlichen Forum der Bürger, haben sowohl das Singspiel Das Donauweibchen, das er als anspruchslosen Scherz bezeichnete,79 Ifflands Schauspiel Die Hagestolzen, das er zu den Charakterstücken deutscher Art und Kunst80 zählte, als auch Kleists Ritterschauspiel Das Käthchen von Heilbronn, das er als wahrhaft geniales, dramatisches Gedicht postulierte,81 seine Berechtigung. Dieser Auffassung ist der an Böttiger oft gerichtete Vorwurf geschuldet, er habe alles gelobt und das Gute nicht vom Schlechten unterscheiden können. Wie wenig das zutrifft, zeigt seine souveräne Kritik zu Ludwig Roberts Stück Blind und Lahm, das am 19. November 1820 in Dresden zum ersten Mal aufgeführt wurde. Das kleine, nur aus einem Akt bestehende Lustspiel des Berliner Dramatikers wurde von ihm über drei Nummern der Zeitung besprochen82 und zu einer Reihe von modischen Lustspielen ins Verhältnis gesetzt: Es wiege ein Dutzend modischer Machwerke auf. Böttiger würdigte besonders Roberts Bemühungen, mit einer neuen Versform zu experimentieren; denn Robert hatte den Alexandriner durch Einfügungen von Silben und Veränderung der Endsilbe umgemodelt. Er zeigte, wie der Vers den Sinn und die Deklamation des Schauspielers beeinflusst, und kommt zu dem Schluss, dass Roberts »hypersenarisches Versmaß […] dem ganzen einen neuen Reiz des mannigfaltigen Tonfalls« verliehen habe.83 Böttigers Kritik ist keine Lobhudelei, sondern eine sehr diffizile Auseinandersetzung mit dem hochkomischen Text und seiner Inszenierung auf der Bühne, wofür das Ensemble ungewöhnlich lang geprobt hatte. Tatsächlich gibt es eine ganz eindeutige Hierarchie, an deren Spitze Goethe, Schiller und Lessing stehen. Aber Bildungstheater und Vergnügungstheater schließen sich in dieser Zeit noch nicht aus. Friedrich Sengles Annahme, in der Biedermeierzeit sei das idealistisch-bürgerliche Bildungstheater vom Vergnügungstheater der vorbürgerlichen Zeit verdrängt worden, gründet auf Unkenntnis und auf der Vor77 78 79 80 81 82 83

Abend-Zeitung, 2. Juli 1819, Nr. 157. Abend-Zeitung, 3. September 1821, Nr. 211. Abend-Zeitung, 6. August 1821, Nr. 187. Abend-Zeitung, 1. Oktober 1821, Nr. 235. Abend-Zeitung, 15. Dezember 1819, Nr. 299. Abend-Zeitung, 29. November bis 1. Dezember 1820, Nr. 285–287. Ebenda, Nr. 285f.

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stellung, am Weimarer Theater seien nur die Klassiker gespielt worden.84 Das stimmt nicht! Auch der Weimarer Zuschauer hat heute Kauers Die Saalnixe, morgen Kotzebues Armuth und Edelsinn und übermorgen Terenz’ Die Fremde aus Andros gesehen. Auch in Weimar wurden an einem Abend mehrere Stücke aufgeführt und auch in Weimar wurde Wallensteins Lager (sogar zur Erstaufführung!) hinter Kotzebues Die Corsen gegeben.85 Typisch für den Geschmack des Bürgers der Restaurationszeit steht das Programm der von Carl Maria von Weber in Dresden geleiteten deutschen Oper. Webers in der Abend-Zeitung unter der Rubrik Dramatisch-musikalische Notizen erschienene Texte, in denen er die von ihm neu ins Repertoire genommenen Werke vorstellte, helfen uns, das Bild vom »Bildungsbürger« zurechtzurücken.86 Der sogenannte »Bildungsbürger« vergnügte sich vor allem im Theater. Nichtsdestoweniger schuf sich der gebildete Bürger seine Klassiker, womit er seine kulturpolitische Kompetenz demonstrierte. Deutsche Autoren wurden zu Klassikern gemacht, indem sie an anderen Klassikern gemessen oder mit ihnen verglichen wurden. Böttigers Klassiker-Diskurs war nicht neu, er war jedoch ungewöhnlich produktiv, weil er auf einer breiten Basis der europäischen dramatischen Literatur stand und Böttiger wie kein Zweiter über Einblicke in die Werkstatt der Weimaraner verfügte, denen er oft genug mit seiner Gelehrsamkeit zugetragen hatte. Er war auch deshalb produktiv, weil seine Texte in der Abend-Zeitung ein großes Publikum und damit einen großen Wirkungskreis hatten. Beispielhaft für diesen Diskurs mag die Theaterkritik von Racines Phädra in der Übersetzung von Schiller stehen,87 in der er die Auseinandersetzung der Weimaraner mit den französischen Klassikern darstellt: Im Auftrag des Weimarer Herzogs hatte bekanntlich Goethe Voltaires Mahomet übersetzt und inszeniert, woran sich eine Diskussion mit Schiller angeschlossen hatte. Schiller schließlich fasste den Disput in einem Gedicht zusammen, in dem es über die Übersetzung des französischen Klassiker Voltaire heißt: Ein Führer nur zum Bessern soll sie werden: Sie komme, wie ein abgeschiedener Geist, Zu reinigen die oft entweihte Scene, Zum würd’gen Stil der alten Melpomene!88 84 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 336. 85 Karl August Hugo Burghardt: Das Repertoire des weimarischen Theaters unter Goethes Leitung, Leipzig und Hamburg 1891, S. 30. 86 Carl Maria von Weber stellte hier 1817 folgende Werke vor: Jacob und seine Söhne in Ägypten, Musik von Méhul; Fanchon das Leyermädchen, Musik von Himmel; Johann von Paris, Musik von Boieldieu; Das Lotterielos, Musik von Isouard; Raoul Blaubart, Musik von Grétry; Das Waisenhaus, Musik von Weigl; Lodoïska, Musik von Cherubini; Die vornehmen Wirthe, Musik von Catel. 87 Abend-Zeitung, 14., 15. und 16. Juli 1819, Nr. 167–169. 88 Friedrich Schiller: An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte, in: Ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Gedichte, Berlin 2005, S. 493–495, hier S. 495.

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Mit dem Erzählen der Entstehungsgeschichte und den in der Rezension zitierten Versen stilisierte sich Böttiger zu einem Eingeweihten, vor allem aber benutzte er seine Kenntnisse, um seinem eigenen Diskurs Autorität zu verleihen. Er zeigte in der Folge, inwiefern die französische Klassik eine Leitfunktion zum Besseren, zum Klassischen, für die Weimaraner hatte. Schiller selbst habe mit seiner Übersetzung nicht den alten »Pariser Firniß abschaben wollen«, sondern die »französische conventionelle Unnatur durch deutsches Gemüth und Wahrheit« zu ersetzen beabsichtigt.89 Nicht genug aber, dass Schiller den Sieg über Racine davontrug, Böttiger erklärt auch das Spiel der Sophie Schröder in der Titelrolle als dem Spiel einer französischen Schauspielerin, die im Jahre 1813 in Dresden aufgetreten war, überlegen. Der Französin habe die Verschmelzung zu einem idealen Ganzen gefehlt, während die Schröder durch inneres Anschauen den Charakter ergriffen und dann zur äußern Gestaltung gebracht habe.90 Indem Böttiger die Theaterkunst der Franzosen für veraltet erklärte, stellte er zumindest ihre Klassizität in Frage; denn Klassisches kann nicht veralten. Der Weimaraner Schiller, der über einen lange Zeit für klassisch gehaltenen Dichter triumphiert, wird dagegen zum Klassiker gemacht. Ähnlich ging Böttiger mit der Stilisierung Goethes zum Klassiker vor. Während Schiller gegen Racine antrat, wetteiferte Goethe mit Euripides. Damit legte Böttiger unmissverständlich fest, wer für ihn der eigentliche Klassiker war. In seiner Theaterkritik der Dresdner Erstaufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris, die sich über vier Nummern der Abend-Zeitung erstreckte,91 ließ er dem Werk seines einstigen Widersachers Gerechtigkeit zukommen. Böttigers Text ist nichts weniger als klassisch: er skizziert zuerst die mit Insiderwissen angereicherte Entstehungs- und Aufführungsgeschichte am Weimarer Hof, vergleicht dann ausführlich die Fabel und Charaktere der Figuren mit denen des Euripideischen Werks, beschreibt danach die Kostüme und Bühnenbilder und beurteilt zum Schluss das Spiel der Schauspieler. Böttigers Iphigenie-Text ist deshalb klassisch, weil in der Beurteilung des Stücks und der Inszenierung die Kompetenz des Altertumswissenschaftlers und die des stilistisch geübten Feuilletonisten zusammenkommen. Aber Böttiger erscheint hier weniger als sonst als ein nach prägnanten Formulierungen und Pointen suchender Feuilletonist als vielmehr als ein um Objektivität bemühter Gelehrter. Dieser Eindruck wird durch den Vergleich mit dem Text des Euripides und der ausführlichen Besprechung des Kostüms geweckt, in denen er seine Kenntnisse antiker Bildnisse ausstellt. Die Überlegenheit Goethes über den antiken Klassiker gründete für Böttiger auf der Behandlung des Stoffes, dem Goethe erst eine sittliche Tendenz (»Humanität«) gegeben habe, weshalb Goethe den Triumph über die hochgefeierten Griechen davontrage.92 In seinem Text stilisiert Böttiger Goethe zu einem 89 90 91 92

Ebenda, Nr. 167. Ebenda. Abend-Zeitung, 1. bis 4. Januar 1821, Nr. 1–4. Ebenda, Nr. 1.

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Geistesheroen, der Corneille, Racine, Alfieri und Monti in ihrem Vermögen, sich den griechischen Geist anzueignen, weit übertreffe. Seine Äußerung, in Goethes Iphigenie seien »Handlung und Charaktere für alle Zeiten und Völker«,93 erinnert an ein Glaubensbekenntnis. Böttigers Iphigenie-Text, der Goethe als »Repräsentant[en] der neuen Cultur«94 huldigt, ist einer der wichtigsten Beiträge zu dessen Hagiographie. Wenn Böttiger auch in seinen Dresdner Kritiken an sein in der Entwickelung des Ifflandischen Spiels gebrauchtes Verfahren anknüpfte, aus den Beobachtungen vieler Einzelheiten ein bzw. viele aneinandergereihte Schau-Spiel-Bilder zu skizzieren, so unterscheiden sie sich doch wesentlich von diesen frühen Darstellungen, indem sie den Blick gezielt vom Bild weg auf den Rahmen lenken. Der Leser der Abend-Zeitung bekommt Geschichten vorgesetzt, in deren Mittelpunkt nicht mehr das Spiel des Schauspielers, sondern der Autor und sein Stück stehen. Die Texte wollen den Autor porträtieren und eine Einführung in das Werk leisten. Sie sollen den Zuschauern helfen, das Werk zu verstehen. Der Chorführer Böttiger begleitet seine Leser damit aus dem Theater hinaus. Böttiger bietet ihnen Stoff zum Sprechen und Material zum Sammeln über die neuen Helden.

Die Inszenierung der Dresdner Bürgerkultur Böttigers am 7. und 8. April 1817 erschienener Beitrag Ueber Deklamatorien ist einer der ersten in der Dresdner Abend-Zeitung, der mit seinem vollständigen Namen unterzeichnet ist, und kann deshalb als programmatisch für seine hier erschienenen Texte angesehen werden. Anlass des Beitrags war ein Deklamatorium der Dresdner Hofschauspielerin Friederike Schirmer am 25. März 1817. Böttigers begeistern wollender Text, in dem er sich auf Adam Müllers Reden über die Beredsamkeit bezieht,95 beschreibt dieses gesellschaftliche Ereignis, damit es der gebildete Bürger im Familienkreis nachahme. Er entfaltet den Gedanken, dass ein »gebildetes Volk […] über gemeinnützige, vorzügliche und unterhaltende Gegenstände laut und in wohlgesetzter Rede« sprechen können sollte. Die »lebendige Rede« solle »nicht in formlosem, ungereimten Geschwätz, sondern in wohlgeregeltem Sprechen« bestehen.96 Er konstatiert, dass die Deutschen, im Gegensatz zu den Franzosen, den Engländern und Italienern, eine mangelnde orale Sprachkultur hätten. Anders als die Franzosen, die in ihren geselligen Versammlungen, den Salons und den »Coterien […], wo vorgelesen, geprüft, geglättet wurde«, das freie Sprechen übten und erlernten, würden die Deutschen keine solche Geselligkeitsform haben. Die Lehrenden an den Uni93 Ebenda, Nr. 2. 94 Ebenda. 95 Adam Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, gehalten zu Wien im Frühlinge 1812, Leipzig 1816. 96 Böttiger: Ueber Declamatorien (wie Anm. 29), Nr. 83.

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versitäten läsen gewöhnlich vom Manuskript ab, auch die »Staatsberedtsamkeit« gehe nur vom Schreibtisch aus. Die Deutschen seien ein »monologisches Volk«, dessen Monologe selten der Hauch der Rede durchdringe. Böttiger sieht die öffentliche Bühne als geeigneten Ort, wo die Deutschen die Fähigkeit des Sprechens und des Zuhörens erlernen könnten; denn die Deutschen hätten nur das Theater als Ort der Geselligkeit, wo sich die Rede in Wechselwirkung von Sprechen und Hören bilden könne. Besonders geeignet schien ihm dabei die Form des Deklamatoriums. Diese Form, die er als »Redespiel« bezeichnete, sei dem Schauspiel deshalb überlegen, weil es auch die lyrische und die elegische Rede zulasse. Das Dresdner Deklamatorium vom März 1817 war denn auch nicht eines, wo eine Schauspielerin allein, begleitet von Musik, verschiedene Texte vortrug, sondern es war eine Inszenierung in einer bürgerlichen Wohnung, in einem »gastlich eingerichteten Besucherzimmer«, in dem mehrere Schauspieler und Virtuosen auftraten. Die Schauspielerin Friederike Schirmer war »die gute Hausfrau«, »der sichtbare Genius«, die »Führerin und Sprecherin«. Auf dem Dresdner Theater wurde am 25. März ein bürgerlicher Salon in Szene gesetzt, in dem eine Büste von Schiller aufgestellt war und Bilder von Goethe und Adam Gottlob Oehlenschläger hingen, die aus Gerhard von Kügelgens Werkstatt herbeigeschafft worden waren. Die Musikstücke hatte der königliche Kapellmeister Carl Maria von Weber ausgewählt. Deklamiert wurden u.a. Texte von Goethe, Schiller, Oehlenschläger, Johann Peter Hebel und den Dresdner Dichtern Theodor Winkler und Friedrich Kind. Vornehmlich waren es Texte, die einen Dialog vorstellen, wie den zwischen Tasso und der Prinzessin d’Este. Das liebevolle, geduldige, ungeduldige Zwiegespräch zwischen Mutter und Sohn, das in Johann Peter Hebels Gedicht Der Mann im Mond geführt wird, war der Höhepunkt. Wie wir sehen, setzte das Dresdner Theater an diesem Tage Bilder einer Bürgerkultur, wie sie nach 1815 gelebt wurde, in Szene. Indem Böttiger dieses Bild als Vorbild darstellte und als nachahmenswert propagierte, wandte er sich gegen eine klassizistische Hofkultur, die im Kern keine aktive Beteilung der Bürger zuließ, sondern sie auf den Status von Konsumenten beschränkte, wie es wohl am drastischsten in Karoline Herders Diktum von den im Weimarer Theater sitzenden Puppen zum Ausdruck kam.97 Wenn die ungemein produktive und vielseitige Dresdner Bürgerkultur, die sich im Liederkreis und der Abend-Zeitung manifestierte, bis heute keine Anerkennung findet, hat das offenbar damit zu tun, dass die Bürgerkultur vom Kunst- und Literaturbetrieb als minderwertig betrachtet wird. Krüger hat zwar richtig analysiert, dass der Dresdner Liederkreis erfolgreich war, aber seine Schlussfolgerung, es habe daran gelegen, »weil in der traurigen Restaurationszeit, von frischerem, stärkerem poetischen Leben wenig oder gar nichts in Deutschland zu 97 Am 1. März 1802 schrieb Karoline Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim: »Als hölzerne Puppen sollen wir unten im Parterre sitzen u. die hölzernen Puppen auf der Bühne anstaunen.« In: Johann Gottfried Herder. Briefe. Gesamtausgabe, Bd. 8, bearb. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, Weimar 1984, S. 283.

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spüren war«, war falsch.98 Im Gegenteil. Wir sollten neugierig auf die Bürgerkultur des Liederkreises sein, da er es offenbar verstanden hat, ein Vakuum auszufüllen. Wenn die Bedeutung des viel gelobten und viel missbrauchten »Bildungsbürgers« sich nur auf die Rolle des Konsumierenden beschränken soll, dann ist der Begriff sinnentleert; denn Koselleck, der das Besondere dieses Deutschen hervorhebt, spricht davon, dass er gleichzeitig bildet und gebildet wird.99 Die gebildeten Bürger in Dresden, die in Böttigers Texten fast immer als »die gebildeten im Volk«100 bezeichnet werden, sind selbst denkend, aktiv, mündig101 und lassen sich nicht von einem Kunstinquisitor wie Goethe bevormunden, der seinen »Stuhl im Parterre zu Weimar einnahm, eine gesetzgebende Kritik ausübte und so lange nach Gebühr und als der feinsinnigste Kenner vorklatschte bis die Einzelnen in seinen Sinn eingingen«.102 Böttiger berichtete 1821 in der Dresdner Abend-Zeitung von der Weimarer Praxis. Er zitierte August Klingemann, der sie ausführlich und wohlwollend in seinen Beiträgen zur deutschen Schaubühne 103 beschrieb. Mit viel Fingerspitzengefühl distanzierte sich Böttiger von dieser Praxis, indem er dazu aufforderte, die Zweckmäßigkeit des Weimarer Disziplinierungsversuchs, wie hundert ähnliche Angelegenheiten des Theaterwesens, zu verhandeln.

Resümee Böttigers Diskurs über das Theater war gleichermaßen gelehrt und populär. Böttiger irritierte seine Zeitgenossen, weil er sich in keine gesellschaftliche Rolle fügte, sondern sehr virtuos verschiedene Rollen zu spielen fähig war. Sein scharfsinniges Iffland-Buch, in dem er das Spiel eines Schauspielers in einzelne Momentaufnahmen zergliederte, Ludwig Tiecks Der gestiefelte Kater, in dem der Böttiger ebenjenes Buches verspottet wurde, der Skandal um die Ion-Inszenierung am Weimarer Hoftheater, der den Widerspruch von Hof- und Bürgerkultur offen zu Tage treten ließ, 98 Krüger: Pseudoromantik (wie Anm. 35), S. 169. 99 Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, [Einleitung], S. 11–46. 100 Karl August Böttiger: Dramatische Anregungen. 1. Repertoire und Parterre (Abend-Zeitung, 11. Oktober 1821, Nr. 244). 101 Böttiger beschwört in seiner Kritik zu Goethes Iphigenie ausdrücklich das mündige Publikum: »Was dies sagen [dass sich in diesem Stück ein Jahrtausende alter Stoff mit Humanität verbindet] will, vermag freilich nur ein sehr gebildetes, oder wenigstens auf Stoff und Behandlung in diesem Stücke vorbereitetes Publikum ganz zu würdigen. Wir sind nur zu sehr im entgegengesetzten Prinzip aufgeregter Beweglichkeit und flacher Alltäglichkeit selbst in unsern tragischen Motiven untergegangen. Doch verträgt, ja verlangt ein mündig gewordenes Publikum, gerade solche Vorstellungen vor vielen andern« (wie Anm. 91), Nr. 1. 102 Karl August Böttiger: Dramatische Anregungen, in: Abend-Zeitung, 20. Oktober 1821, Nr. 252. 103 August Klingemann: Beiträge zur deutschen Schaubühne, Braunschweig 1824, S. 197f.

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und seine in der Dresdner Abend-Zeitung erschienenen Theaterkritiken, in denen er die Bürgerkultur des Biedermeiers mitgestaltete, machten ihn zu einer öffentlichen Person. Von Böttiger gibt es keine Texte, in denen der Autor mit sich selbst spricht, so dass ihn der von Adam Müller in seinen Reden über die Beredsamkeit den deutschen Wissenschaftlern gemachte Vorwurf, Selbstgespräche zu führen, nicht trifft.104 In seiner Funktion als Gymnasiallehrer in Weimar, als Lehrer der Dresdner Pagerie und der Ritterakademie sowie als Referent zahlreicher Vorlesungen im Cosel’schen Palais und in der Antikengalerie war er zeitlebens öffentlicher Redner. Sein Hauptthema ist die öffentliche Rede. Bezeichnenderweise finden sich in seinem Nachlass in Dresden unzählige Gesprächsprotokolle aus seiner Feder.105 Sein Verständnis von Öffentlichkeit und öffentlicher Rede ist wichtig für das Verstehen seiner Texte zum Theater. In ihnen sieht bzw. aus ihnen hört man den Redner, der seine Zuhörer anspricht. Deshalb sind die Passagen in seinen Theaterkritiken so virtuos, in denen er das Sprechen und die Modulation der Stimme der Schauspieler beschreibt. Seine Texte sind aufgeschriebene Rede, die zur Kommunikation auffordert.

104 Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit (wie Anm. 95), S. 9. 105 Vgl. z.B. Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 2).

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Poesien der Warenwelt Karl August Böttigers Messberichte für Cottas Allgemeine Zeitung

Als Mitherausgeber von Christoph Martin Wielands Teutschem Merkur, als Redakteur des Bertuch’schen Modejournals und von London und Paris, als Beiträger zur Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung, zum – was man aber damals nicht allgemein wusste – Pariser Magasin encyclopédique 1 wie zum Monthly Magazine und zum European Magazine or London Review,2 als klassischer Philologe und »Antiquar«, also Altertumswissenschaftler und Archäologe, von Rang, der vielfältig in die deutsche und europäische Gelehrtenwelt eingebunden war, zählte Böttiger schon in den 1790er Jahren zu den festen Größen in der Gelehrtenrepublik wie im Literaturbetrieb seiner Zeit. So sehr er die Hand am Puls des literarischen Markts hatte, so sehr unterhielt er enge Verbindungen in die Künstlerschaft, zu Malern, Zeichnern und Kupferstechern wie zu Sammlern. Kein Wunder also, dass er engste Kontakte zu den bedeutenden Universalverlegern unterhielt, in deren Riege in der Wende von 18. zum 19. Jahrhundert in jedem Jahrzehnt eine neue Persönlichkeit von Jahrhundertformat auftrat, sei es Georg Joachim Göschen in den 1780er,3 sei es Johann Friedrich Cotta in den 1790er Jahren, Friedrich Arnold Brockhaus4 seit 1806/07 oder Georg Andreas Reimer,5 der sich vor allem durch den Verlag der Berliner Romantiker 1 Zur Mitarbeit am Magasin encyclopédique vgl. Bénédicte Savoy: Savoir archéologique partagé. Les Lettres d’Aubin-Louis Millin à Karl August Böttiger. 1797–1817, in: Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclopédique – Les lettres à Karl August Böttiger, hg. von Geneviève Espagne, Bénédicte Savoy, Hildesheim 2005 (Europaea Memoria. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen. 41), S. 61–77. 2 Zu Böttigers Mitarbeit an englischen Zeitungen vgl. Ernst Friedrich Sondermann: Böttiger als Journalist für englische Zeitschriften um 1800, in: Sammeln und Sichten, Bonn 1982, S. 202–220. 3 Zu Göschen vgl. Stephan Füssel: Georg Joachim Göschen. Ein Verleger der Spätaufklärung und der deutschen Klassik, Bd. 1, Berlin u.a. 1999 (Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethezeit). 4 Zu F. A. Brockhaus und seinen Söhnen vgl. Heinrich Eduard Brockhaus: Die Firma F. A. Brockhaus von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum. 1805–1905, Leipzig 1905 [als Facsimile mit Einleitung hg. von Thomas Keiderling, Mannheim 2005], S. 3–46. 5 Zu G. A. Reimer vgl. Doris Reimer: Passion & Kalkül. Der Verleger Georg Andreas Reimer (1776–1842), Berlin, New York 1999.

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und ihres Umkreises einen Namen machte. Mit Ausnahme von Reimer stand Böttiger allen als Berater und Freund zur Seite, auskunftsfreudig und zu allen Diensten bereit, vor allem wenn es darum ging, Freunde und Bekannte als Mitarbeiter für Zeitungen und Zeitschriften zu empfehlen, Verbindungen zu knüpfen, Ideen und Projekte auszuhecken und an die geeignete Adresse zu bringen. Dass Böttiger für Cotta die Kommentare zu den Kupferstichen der Taschenbücher für Damen verfasste, dass er – eher gelegentlich – am 1807 gegründeten Morgenblatt für gebildete Stände mitwirkte,6 waren eher Nebengefälligkeiten. Auch bot er Cotta sogar einmal eine monographische Mythologie des Zeus an, die im Messkatalog »abzukündigen«, Cotta gerade noch bewerkstelligte7 und die tatsächlich nie erschien.8 Überhaupt waren monographische »Wälzer« Böttigers Sache nicht – in gewisser Weise flüchtete er vor dem erudierten Kompendium zur antiken Mythologie, das seine Zeitgenossen von ihm erwarteten, in die kleinen Formen der Miszellen, der Rezensionen, Aufsätze und Artikel. Dass dies seiner Produktivität, die das fortlaufend Angelesene und an ihn durch mündliche und schriftliche Mitteilungen heranströmende Material sofort einschmelzen und in Form bringen konnte, wie seiner Breitenwirkung zu gute kommen konnte, ist historisch auf den im Zeichen der entstehenden politischen Öffentlichkeit wie der Lese- und Wissensrevolution explodierenden literarischen Markt zurückzuführen. Wie dynamisch sich die von der Französischen Revolution zwar nicht ausgelöste, aber doch durch die von ihr und ihren Folgen ausgelösten Modernisierungsschübe verstärkte Leserevolution entwickelte, zeigt die wachsende Zahl der Neuerscheinungen, mehr aber noch die Beschleunigung der literarischen Kommunikation gerade auf dem Feld der Zeitschriften und Zeitungen. Nach den Monats- und Wochenschriften, deren Aufblühen das 18. Jahrhundert bestimmt hatte, kam es am Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer Reihe von bedeutenden Zeitungsgründungen. 1801 begannen Richard Otto Spaziers Zeitung für die elegante Welt, 1803 Garlieb Merkels Freimüthiger, 1805 das Dresdner Abend-Blatt (bis 1806) und 1807 Cottas Morgenblatt ihr Erscheinen, große, in ganz Deutschland gelesene Zeitungen. Später folgten Friedrich Wilhelm Gubitz’ Berliner Gesellschafter (ab 1817), August von Kotzebues Literarisches Wochenblatt (ab 1818), das, von Brockhaus nach Kotzebues Ermordung übernommen, 1821 zum Literarischen Conver6 Vgl. dazu die Auflistung der Nummern, in denen Böttigers Mitarbeit im »Redaktionexemplar« des Morgenblatts notiert ist: Bernhard Fischer (Bearb.): Das Morgenblatt für gebildete Stände / gebildete Leser. 1807–1865. Nach dem Redaktionsexemplar im Cotta-Archiv (Stiftung der ›Stuttgarter Zeitung‹). Register der Honorarempfänger, Autoren und Kollationsprotokolle, München 1999. 7 Johann Friedrich Cotta an Karl August Böttiger, 28. Februar 1810, SLUB Dresden, h 37, 4°, Bd. 28, Nr. 59. 8 Böttiger publizierte nur »als Manuscript für die Zuhörer« die rhapsodischen »Skizzen zu 24 Vorlesungen im Winter 1809« unter dem Titel Kunst-Mythologie. Abschn. 1: Kunstmythologie des Zeus (Dresdner Hofbuchdruckerey 1809), welcher Text dann, unausgearbeitet, auch in den Band 1 der Sammlung Ideen zur Kunst-Mythologie (1826) aufgenommen wurde.

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sationsblatt umfirmiert wurde, und die wiedergegründete Dresdner Abend-Zeitung mit ihren Beilagen; 1828 erschien die erste Nummer von Cottas Ausland. Zudem entstanden mit Cottas Kunst-Blatt, das zuerst (ab 1815) als Beilage zum Morgenblatt erschien, dann auch als eigene Zeitschrift zu beziehen war, und mit Amadeus Wendts Kunstblatt, das sich allerdings nur die Jahre 1817 und 1818 halten konnte, eigene Kunstzeitschriften wie auch mit Cottas Literatur-Blatt (ab 1817) und Brockhaus’ Hermes (1819) von der akademisch-universitären Gelehrsamkeit kommerziell-unabhängige Rezensionsorgane. * Die Verbindung zwischen Cotta und Böttiger begann mit der ersten »raisonnierten« Tageszeitung Deutschlands: der von Ernst Ludwig Posselt herausgegebenen Neuesten WeltKunde (1798).9 Böttiger hatte seinen Ruf in der literarischen Welt, so dass Cotta keiner eigentlichen Empfehlung und noch weniger einer förmlichen Einleitung bedurfte, um im Vorfeld der Zeitungsgründung Böttiger zur Mitarbeit aufzufordern: »Ihre Correspondenz und noch mehr Ihre Talente geben Ihnen des Stoffes genug, dem Sie fürs grosse Publikum Intresse zu geben wüßten«.10 Auf dessen allgemeine Zusage und Nachfrage, was er denn Cotta liefern solle, präzisierte dieser: »Auf belehrende Unterhaltung, unerwartete Zusammenstellungen p möchte besonders abzuzwecken seyn; da es so ganz was neues ist, aus Zeitungen mehr als das Neue blos zu erfahren, u. sie mit Vergnügen mehr als einmal zu lesen.«11 Die Mitarbeit an Cottas Neuester WeltKunde, die nach Zensurquerelen noch im September 1798 in Allgemeine Zeitung umbenannt wurde, blieb der Kern der publizistischen Tätigkeit für Cotta, die dieser mit einem Jahresfixum von 400 sächsischen Talern honorierte.12 Cotta und Posselt hatten die Neueste WeltKunde als universalhistorisches Archiv konzipiert. Neben der politischen Ereignisgeschichte und ihren Hintergründen im Pro und Contra der Parteien sollte das Blatt Mitteilungen über entscheidende wissenschaftliche und künstlerische Leistungen und Überblicke über ganze Disziplinen bieten. Dem entsprechend lieferte Böttiger Tagesneuigkeiten seiner Region, darüber hinaus besorgte er anfangs auch die Korrespondenz aus England: die Englischen Miszellen, die auf die Lektüre englischer Periodika und die Mitteilungen des in London lebenden Johann Christian Hüttner zurückgingen. 9 Zu Programm und Geschichte der Neuesten Weltkunde / Allgemeinen Zeitung vgl. Eduard Heyck: Die Allgemeine Zeitung. 1798–1898. Beiträge zur Geschichte der deutschen Presse, München 1898. 10 Johann Friedrich Cotta an Karl August Böttiger, 1. Dezember 1797, SLUB Dresden, h 37, 4°, Bd. 27, Nr. 1. 11 Johann Friedrich Cotta an Karl August Böttiger, 23. Januar 1798, SLUB Dresden, h 37, 4°, Bd. 27, Nr. 2. 12 Böttigers Beiträge sind aufgeführt in: Die Augsburger ›Allgemeine Zeitung‹. 1798–1866. Nach dem Redaktionsexemplar im Cotta-Archiv (Stiftung der ›Stuttgarter Zeitung‹). Register der Beiträger / Mitteiler. T. 1: 1798–1832; T. II: 1833–1839, München 2003/04.

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Wichtiger aber für ihn wie für das Profil der Zeitung war seine dauerhaftere Ware. Als Cotta im Jahr 1799 die Einrichtung jährlicher Übersichten über die Entwicklungen und Fortschritte verschiedener Disziplinen plante, schrieb er auch Böttiger an: Sodann wünschte ich nun von jeder Wissenschaft u. Kunst eine Übersicht alles dessen, was im 98r Jahr darinnen geleistet, gewonnen – manchmal auch zurükgegangen worden ist. Ich bin so frei, Sie zu bitten, mir diejenigen Fächer anzuzeigen, welche Sie übernemen, diejenigen, wozu Sie mir andre u. wen? vorschlagen werden.13

Böttiger darauf, wie immer wenig schüchtern, ja von der großen Aufgabe befeuert: Die Uebersichten, von welchen Sie sprachen, sind keine leichten Sachen. Man muß sich das Jahr lang darauf vorbereiten können. Für Philologie und Alterthumskunde, für Journal und Zeitungspublizität, für Künste und Decorationswissenschaften, mache ich mich anheischig Ihnen Uebersichten zu liefern. Aber ich kann keine unter 5 bis 6 Louisd’or liefern. 4 Louisd’or bekomme ich für die weit leichtern englischen Literaturübersichten in der Alg. Lit. Z. Für Mathematik und Physik könnte Ihnen Prof. Kr i e s in Gotha, der Herausgeber des Eulers, für Geographie, Reisebeschreibung und Völkerkunde Doctor H e n n i c k e , der Unterredacteur der Geographischen Ephemeriden in Gotha, für Naturgeschichte, Forstwissenschaft Doctor Rei n e ke hier in Weimar, für Medizin, mein Freund Kur t Spren ge l in Halle, für Philosophie D. E r h a rd in Nürnberg, für Poesie und darstellende Werke der Phantasie A. W. S ch le ge l in Jena, für Geschichte Prof. Wo lt mann (jetzt in Berlin) für Staatswissenschaft Geschichte u.s.w. doch da sind Ihre trefflichen Männer in der Nähe. Es fragt sich aber nur zuförderst: soll so eine Uebersicht das ganze kulturelle Europa oder nur Deutschland umfassen? 14

Tatsächlich lieferten nur Benjamin Erhard eine Geschichte der Philosophie 15 und der Pfarrer Johann Friedrich Wurm eine Geschichte der Astronomie.16 Böttiger aber blieb die versprochenen Übersichten schuldig, und möglicherweise trug dies dazu bei, dass Cotta die Idee nicht weiter verfolgte. Bedeutendes und Bleibendes leistete Böttiger in der Allgemeinen Zeitung in der vor allem von ihm vertretenen Rubrik der Nekrologe, von denen viele auch dem heutigen Leser noch frische biographische Informationen geben, sowie in den literarischen Übersichten vor allem über die politische Publizistik, im besonderen über die aktuelle, durch den Lagenbezug kurzfristige Flugschriftenliteratur. Dass Böttiger auch Cotta durch seine notorischen Indiskretionen und Fehlinformationen mancherlei Ärger einbrachte, sei nur am Rande vermerkt. 13 Johann Friedrich Cotta an Karl August Böttiger, 7. Januar 1799, SLUB Dresden, h 37, 4°, Bd. 27, Nr. 24. 14 Karl August Böttiger an Johann Friedrich Cotta, 19. Januar 1799, DLA Marbach, CA Cotta Br., C. A. Böttiger, Nr. 11. 15 Geschichte der Philosophie im Jahr 1798, in: AZ (1799), Nr. 274 vom 1. Oktober 1799, Beilage, S. 3005f., Nr. 282 vom 9. Oktober, S. 3051f. 16 Geschichte der Astronomie im Jahr 1798, in: AZ 1799, Nr. 194 vom 13. Juli 1799, S. 85f., Nr. 204 vom 23. Juli, S. 891–894.

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Einen markanten Schwerpunkt in Böttigers Arbeiten für Cotta bildeten über die ganzen Jahre von 1798 bis 1835 seine Messberichte, die den Anspruch der Allgemeinen Zeitung, alle Lebensbereiche zu dokumentieren, auf dem Gebiet der Wirtschaftsberichtserstattung mit Leben erfüllten.17 Die sich manchesmal in etlichen Fortsetzungen hinziehenden Berichte – die Blike auf die Leipziger Jubilatemesse 1805 erstreckten sich, immer wieder wochenlang unterbrochen, von Nr. 160 bis 248, um dann noch von Nr. 269 bis 278 eine sechsteilige Fortsetzung Lezter Blik auf die JubilateMesse zu erfahren – wurden seiner Zeit so gerne gelesen, dass manche Zeitgenossen – so schmeichelte jedenfalls Brockhaus seinem Freund Böttiger – die Allgemeine Zeitung nur ihretwegen läsen. Die deshalb mehrfach erwogene Idee, sie auch in Buchform zu publizieren, wurde aber jeweils bald aufgegeben. Heute vergessen, nicht zuletzt weil sie damals anonym erschienen, sind sie Kabinettstücke seines Stils. Böttiger strebte nach Lesbarkeit, wobei die nahrhafte Kost im Plauderton »palatable« dargeboten und u. a. durch ausgefallene Fremdwörter und Neologismen geistreich gewürzt wurde. Der mit einer schnellen Auffassungsgabe gesegnete Böttiger war ein erudierter, unerhört belesener und kenntnisreicher Matador des »infotainment«,18 der sich keinerlei Illusionen über die Bedürfnisse des Publikums machte; Brockhaus gegenüber meinte er einmal: »Das Publikum will nun einmal nur entlangweilt, nicht belehrt seyn.«19 Gewöhnlich begab sich Böttiger während der Messe auf einige Tage nach Leipzig, um als Augenzeuge das Marktgeschehen zu beobachten. Sein Interesse galt vor allem dem Buchhandel, über dessen Wohl und Wehe, über Neuerscheinungen, Tendenzen und Stimmung er sich mit seinen Freunden und Bekannten austauschte, Meinungen einholte und sich sein eigenes Urteil bildete. Wie die allgemeinen Messen für den Fernhandel, so bildeten die Buchhändlermessen für den deutschen und den internationalen deutschsprachigen Buchhandel von Paris bis St. Petersburg die zentralen Vertriebsereignisse, so dass die Verleger weniger von Jahr zu Jahr als von Messe zu Messe rechneten. Endgültig nach dem Rückzug der Leipziger Buchhändler von der Frankfurter Messe war diese für den Buchhandel bedeutungslos. Zu den Leipziger dreiwöchigen Hauptmessen – die zweiwöchige Neujahrsmesse spielte für den Buchhandel keine Rolle – erschien das Gros der Verlagsproduktion, das auf den Messen auf den Markt geführt, begutachtet und getauscht (beim traditionellen »Change«-Handel) resp. (beim »Nettohandel«) verkauft wurde. Wichtiger noch als die Michaelismesse war dabei die Oster- oder Jubilatemesse, deren dritte Woche20 die 17 Eine einzige Würdigung der (Buchhändler-)Messberichte findet sich in: Ernst Friedrich Sondermann: Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar, Bonn 1983 (Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit, 7), S. 152–176. 18 Vgl. dazu auch: Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006. 19 Karl August Böttiger an Friedrich Arnold Brockhaus, 20. Januar 1814 (STA Leipzig: 21083 / Verlag F. A. Brockhaus, Leipzig Nr. 170/84). 20 Die erste Woche hieß »Böttcher-«, die zweite »Meßwoche«.

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Abb. 1 Die Messe in Leipzig, Aquarell von Georg Emanuel Opitz (um 1820)

»Zahlwoche« war, während der die Verlagsbuchhändler, unter denen es zu dieser Zeit noch so gut wie keinen reinen Sortimenter gab, einander über die verkaufte und unverkaufte Ware Rechnung legten, die Salden bezahlten resp. »übertrugen« und unverkaufte Exemplare als »Krebse« remittierten. Im Jahr 1798 eröffnete ein rund 4 1/2 -spaltiger Überblick, der dem »Leipziger MeßCatalog« gewidmet war, den Reigen. Was den Buchhandel angeht, stellt er die Keimzelle aller späteren Messberichte dar, nicht zuletzt weil er sämtliche Darstellungsprinzipien und das vollständige Arsenal ihrer Ideen mustergültig vorführt. Dass Böttiger den »MeßCatalog« zum Ausgangspunkt seiner Berichterstattung nahm, lag in der Natur der Sache: Der traditionell von der Weidmann’schen Verlagsbuchhandlung zu den Messen herausgegebene Katalog, in den alle Verlage ihre Neuerscheinungen eintragen ließen, war das zentrale Auskunftsmittel für die Sortimenter wie für das Publikum. Schon in seinem ersten Artikel über den Messkatalog der Jubilatemesse 1798 hatte er programmatisch erklärt: Die Teutschen sind die Bibliothekare und LiteraturBewindhebber des ganzen übrigen Europa. Eine allgemeine Liter aturZeitung und ein Journal, wie izt die ge o g r aphische Eph em er iden sind, kan nur in einem solchen TreibHause gedeihen, wozu alles, was von Philadelphia bis nach Calcutta eine Feder und einen PreßBengel in Bewegung sezt, Heizung und WärmeStoff beitragen muß. Ein Verzeichniß dessen, was in ei n em Jahre teutscher Buchmacher- und BuchhändlerFleiß produciren kan, ist also nicht blos in literarischer, sondern auch in statistischer und weltbürgerlicher Rüksicht von größter Wichtigkeit, und ein solches Protokoll ist das jedesmal zur Leipziger OsterMesse erschei-

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Poesien der Warenwelt nende allgemeine BücherVerzeichniß, dessen frühere Wanderung von Frankfurt nach Leipzig, und periodische Phasen bis auf die neueste Zeit, wohl einmal die Feder eines Schwarzkopf ’s auf eine sehr nüzliche Weise beschäftigen könnten. Es ist gewissermasen das Buch der Bücher. Jeder ließt sich hinein und heraus. Jeder f i n d e t darinn, nach Masgabe dessen, was er schon mitbringt; und zum Uiberfluß hat die jezige Messe unter ihren ganz neuen Erzeugnissen auch eine No t h - u n d Hi l f s Ta f e l für angehende Bücherkäufer und Buchhändler ausgestellt.«21

Das Wort »LiteraturBewindhebber« hat vermutlich schon zu Böttigers Zeiten seine Leser stirnrunzelnd zum Krünitz greifen lassen, wo sie lesen konnten, dass so »in Holland die Directeurs und Oberaufseher bei einer großen Handlungscompagnie, sonderlich bei der Ost- und Westindischen Compagnie genennet« wurden.22 Mit der metaphorischen Parallelisierung des interkontinentalen Fernhandels mit dem Geistesverkehr markierte Böttiger eine seiner kulturpatriotischen Lieblingsideen: Deutschland und Leipzig im besonderen seien das bibliopole Zentrum einer durch die Buchstabenströme globalisierten Welt, der »rechtliche« Buchhandel sei das vornehmste Instrument der Aufklärung und Humanität. Zu dieser Idee gehört die zweite, universalhistorisch und völkerpsychologisch orientierte, dass die deutsche Gelehrsamkeit eben durch den Buchhandel sich die Kenntnisse und Errungenschaften der ganzen Welt verschaffe, um das »Gemeinnüzliche und Wissenswürdige« in die kleinere Münze der volksaufklärerischen Schriften zum Besten allgemeiner Aufklärung auszumünzen,23 wobei die Verbreitung der allgemeinen Aufklärung noch begünstigt werde durch die Abwesenheit einer alles beherrschenden »Metropole«.24 Auf dieser Grundlage, deren nationales Pathos Perthes’ Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseins einer deutschen Literatur von 1816 präludierte, entwickelte Böttiger dann jeweils auf der Grundlage des Messkatalogs, der ihm zunächst einmal eine Leistungsschau für den Stand der Aufklärung in Deutschland war, ein breit und unterhaltend ausgeführtes Gemälde der deutschen Buch-, Lese- und Wissenskultur, das, angereichert mit vielerlei Nachrichten zu bekannten und unbekannten Verlegern und Firmen, alle nur denkbaren Fragen des zeitgenössischen Buchmarkts verhandelte. Böttigers Messberichte legten nun nicht nur eine allgemeine historisch-statistische Analyse des Buchmarkts vor, die Angaben zum Ansteigen oder Abfallen der Titel- und Firmenzahl chronistisch registrierte, sondern auch eine Art »catalogue raisonné«. Dies begann mit Hinweisen auf »Sterblinge« und bloße Nachahmungsprodukte, die mit einem Modethema Geschäfte zu machen suchten, auf literarische Fälschungen, bei denen Titel und Inhalt nichts miteinander zu tun hat21 Neueste WeltKunde (1798), S. 485. 22 Johann Georg Krünitz: Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land-, Hausund Staats-Wirthschaft, in alphabetischer Ordnung, Bd. 4, Berlin 1774, S. 376f. 23 AZ (1802), Nr. 250 vom 7. September, S. 997. 24 Ebenda.

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ten oder bei denen schon Veröffentlichtes unter neuem Titel als Novität auftrat, auf bloße Ankündigungen, die noch nicht fertige und manchmal absehbar nie erscheinende Werke bewarben. Vor diesem Hintergrund des nicht einmal Ephemeren entwarf Böttiger seine Leistungsschau der Neuerscheinungen in Wissenschaften und Künsten. Dabei begnügte sich Böttiger keineswegs mit einer Parade einzelner Werke, sondern er kontextualisierte die namentlich zitierten, manchmal nur mit einem Attribut charakterisierten Einzeltitel der verschiedenen Disziplinen in den Trends der Gesamtproduktion und würdigte thematische Schwerpunkte als Ausdruck des gesellschaftlichen Diskurses und Interesses. Böttiger verstand sich als eine Art Vorkoster des Publikums, wovon zunächst einmal er selbst profitierte. Im Vorfeld der Messen erbat er von den ihm nahestehenden Verlegern deren »Novitätenlisten«, um dann das ihn Interessierende frei Haus und gratis zu bestellen, da er es doch zu prüfen habe, um es dann in welcher Form auch immer in der Allgemeinen Zeitung an das Publikum zu bringen. Desgleichen wünschte er auch in der Zeit zwischen den Messen auf dem Laufenden gehalten zu werden, was er den freigiebig Liefernden, oft ihre »Nova« gar aufdrängenden mit förmlichen Rezensionen und Anzeigen, aber auch mit bloßen Erwähnungen, ja manchmal nur mit Anspielungen bei sich bietenden Gelegenheiten vergalt. Insofern führt die ebenso herausstellende wie beiläufige Nennung der Allgemeinen LiteraturZeitung und der Geographischen Ephemeriden seines Freundes Friedrich Justin Bertuch in der oben zitierten Passage mustergültig vor, wie kalkuliert er die Titel auswählte, die er in gesperrtem Druck dem eilenden Auge als Halt bot, wie er sich bietende Gelegenheit nutzte, die Ware seiner Verlegerfreunde als repräsentative Exempel ins Gespräch zu bringen. Die vielen verschenkten Probeexemplare, mit denen Böttiger über die Jahre zu einer immensen Bibliothek kam,25 dürften sich für die liefernden Verleger gelohnt haben. Jede Erwähnung, jede Würdigung war bares Geld wert, so wie auch das Publikum von Böttigers Übersicht über das Messangebot wie von seinen Anzeigen jeder Art profitierte. Denn abgesehen von den bibliopolen Zentren: Leipzig, Berlin, Hamburg, Dresden, Breslau, und ihrem Umland standen dem einzelnen Leser zur Information meist nur der Messkatalog, die Sortiments- und Verlagskataloge der einzelnen Firmen, die »Zettel« und Zirkulare, die Anzeigen und Ankündigungen in den »Intelligenzblättern« der Zeitungen und Zeitschriften zu Verfügung – eine weitgehend nur aus Titeln bestehende Welt ohne Anschauung, da Ansichts- und Verkaufsexemplare »pro novitate« ohnehin nur von den großen »soliden« Verlagen und bei weitem nicht an alle Sortimentsbuchhandlungen versandt wurden. Die Allgemeine Literatur-Zeitung aber, wie auch die anderen traditionellen gelehrten 25 Bekanntlich bezifferte Karl Wilhelm Böttiger die Bibliothek seines Vaters auch nach einigen Abgängen noch 1837 noch auf 20.000 Bände. Vgl. Karl August Böttiger. Eine biographische Skizze von dessen Sohne. Aus den »Zeitgenossen« besonders abgedruckt. Mit einem Bildnisse, Leipzig 1837, S. 127.

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Rezensionszeitungen, besprach im wesentlichen die wissenschaftliche Produktion und nur einen Bruchteil der belletristischen, so dass das Publikum der »gebildeten Stände« sich hier kein Bild machen konnte. Abhilfe schafften hier Friedrich Nicolais Allgemeine deutsche Bibliothek, auch Wielands Teutscher Merkur, dann vor allem die neuen literarisch-kulturellen Tageszeitungen, die weitaus mehr und schneller wichtige literarische Neuerscheinungen rezensierten. * Nach dem Auftakt von 1798 war in den folgenden Jahren 1799 bis 1801 Böttigers Berichterstattung von den Leipziger Messen zweigeteilt. Neben den räsonierten Übersichten des Messkatalogs der Oster- und Michaelismesse stand der allgemeine Messüberblick: Die Leipziger OsterMesse 1799 resp. Uiber die Leipziger Michaelismesse etwa im Jahr 1799. Schon in diesen ersten Jahren nahm Böttigers Berichterstattung deutlich wachsenden Raum ein: von 4 1/2 (1798) über 10 3/4 / 9 3/4 (1799) und 30 1/2 nur dem Leipziger BücherVerzeichniß auf die JubilateMesse 1800 gewidmeten Spalten, die allerdings erst in der ersten Junihälfte 1801 erschienen, erreichte Böttiger 1801 26 1/2 / 21 kompress gedruckte Spalten, wobei die Blike auf die Leipziger JubilateMesse 1801 nun schon vor dem Artikel Leipziger BuchHandel in der JubilateMesse 1801 standen. 1802 schließlich hatte Böttiger die »klassische« Form gefunden, in der von nun an die Berichte unter dem allgemeinen Titel Blike auf die Leipziger JubilateMesse resp. MichaelisMesse erschienen. Schon ein Blick auf die Kapitelüberschriften dieses ersten, sich über sechzig eng gedruckte Spalten hinstreckenden Berichts von der Jubilatemesse 1802 veranschaulicht die Fülle der berichteten Geschäfte und der verhandelten Themen. Auf die allgemeinen Vorbemerkungen (I. Vorbereitungen) folgten II. Voreilige Meßgeschäfte. Englische Konkurrenz, III. Tuchhandel. Sächsische Wollmanufakturen. Wollsperre. Waterproofs, IV. Französischer Handel. Modewaaren, Vergleichungen, V. Leinewand. Metall- und Stahlwaaren. Gewehrfabriken. Lederarbeiten, VI. Der Roßmarkt. Die Leipziger Boulevards. Spielhäuser. Illuminationen, VII. Geldkours, VIII. Kunsthandel. Versteigerungen. Englischer, französischer, italischer, nordischer Kunstvertrieb, IX. Kunsthandel. Chalcographische Gesellschaft. Frauenholz. Artaria. Industrie-Büreau in Wien. Portraits. Costümes, X. Kunsthandel. Kunst- und Kupferwerke einzelner Buchhändler. Holzschnitte. Landkarten. Papiertapeten. Musikhandlungen. Galvanoscope, XI. Buchhandel, XII. Vorschläge zur Besserung und Veredlung des Buchhandels. Wie sich hier der Blick weitete und die Darstellung eine epische Weltansicht bot, zeigt ein Vergleich der Exposition von 1802: I. Vorbereitungen, mit dem ersten Messbericht Die Leipziger OsterMesse 1799. Dieser lebte noch ganz in Leipzig und Sachsen, zielte auf ein umfassendes Bild der inneren und äußeren Handelsverhältnisse Kursachsens, zu dem die Messen Entscheidendes beitrügen, denn: »Die Hälfte des sächsischen GewerbFleises und Handels beruht auf den zwei Leipziger Messen, der Jubilate- und MichaelisMesse, und diese würden also eine HauptRubrik 63

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in Sachsens HandelsStatistik ausmachen.«26 Immerhin sollten dieser »HandelsStatistik« Guillaume-Thomas Raynal – der Verfasser der Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (1770) – und Adam Smith Pate stehen, was auf die Horizonterweiterung vorausdeutete, welche 1802 schon die ersten Sätze der Vorbereitungen signalisierten: Das Schauspiel einer Leipziger Ostermesse ist während der Vorstellung selbst, man mag nun zu den geschäftigkeuchenden Akteurs oder zu den müssigschleichenden Zuschauern gehören, das statistische oder psychologische Brillenglas auf der Nase haben, äusserst vielseitig, anziehend und unterhaltend. Ein Demokrit könnte sich dabei krank lachen, ein Heraklit die Augen aus dem Kopfe weinen. Welch ein dankbarer Stoff für den Griffel eines Gilrey, wenn wir Deutsche so etwas aufzufassen verstünden! – Aber auch die Vorbereitungen zu dieser Merkuriale sind sehr merkwürdig. Man muß die Karte von Europa vor sich liegen haben, um sie zu verstehen.27

Böttiger führt den Leser von hier aus an die »westlichsten Küsten Schottlands«, um ihm den Weg der »unermeßlichen Waarenballen von den buntfarbichsten Kattunen, von den feinsten, über die Glühwalzen der Dampfmaschinen gesengten, Nesseltüchern und zierlichsten Musselinen« zu Schiff auf dem neuen Kanal nach Edinburgh und Leith, und von dort, wo diese Waren noch »mit den beträchtlichsten Sendungen des Maschinengarns, des Mule and Water tw ist« vermehrt werden, über Hamburg nach Leipzig zu zeigen, wo sie direkt oder von Zwischenhändlern verkauft werden. Aus England, aus Manchester vor allem, kommen über London und Hull »Leder, Tücher, Stahl und Eisenwaaren, wie viel tausend Duzend Knöpfe, Schnallen, Nadeln, Strümpfe und niedliche Patenterfindungen«, westindische Kolonialwaren, die zuvor im neuerrichteten zollfreien Transithafen zwischengelagert waren. »Unterdessen« liefert Frankreich aus Lyon in langen »Zügen von Wägen« »Seidenwaaren« und aus dem Innern Frankreichs in »kleinen, dem Umfang nach unbedeutenden Kisten« »Bijouterien, Puzsachen, Porzellane, Parfumerien«, »Spizenschleier und Points«, liefert die französische Schweiz aus Genf und dem Jura Uhren, liefert das noch von »seinen politischen Geburtswehen« behinderte Italien edle Früchte, Öle und »mancherlei Lekereien«, während »an den Enden des südöstlichen Europas, aus den alten Gegenden des alten Macedoniens, aus Edissa, Salonichi, u.s.w.« »rohe Baumwolle, roth (türkisch) gefärbte Garne, türkisch gedrukte Musseline, Shawls und Scherpen, auch Frauenkleider und Mänteln« schon einige Monate zuvor sich auf »ihre lange Wanderschaft« gemacht haben. Der Vielfalt und Masse des Angebots entgegen »sezen sich tief im unermeßlichen Rußland und im ganzen nordöstlichen Europa lange Züge von russischen und polnischen Kaufleuten in ihren, jedem Unwetter und Unwege trozenden, Kibitken und leichten Fuhrwerken zur grosen Wallfahrt nach Leipzigs Waarenlagern in Bewegung«, von

26 AZ (1799), Nr. 141 vom 21. Mai, S. 599. 27 AZ (1802), Nr. 178 vom 27. Juni, S. 709.

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hinter Moskau bis von Astrachan die russischen Aufkäufer, vom alten Sarmatien vor allem »Schwadronen von polnischen Juden«, von denen »der geringste« »wenigstens einige Tausend Dukaten baar zu Lösung seines Kredits« mitbringt, »auf welchen er sich nun noch zweimal so viel, als er zahlen kan, borgen läßt, und die so erkauften Waaren oft mit 100 Procent Gewinn in seinem heimischen Boden wieder absezt. So kommt, was das südliche und westliche Europa für Korn, Hanf, Flachs, Schifbaumaterialien, Talg, Eisen und Pelzwerk in jene produktreichen Länder an der Düna, Newa, Dwina, Wolga und Desna an Gold und Goldeswerth sendet, oft schon im folgenden Jahre wieder zur Leipziger Messe, oder wird dort durch englische und holländische Wechsel sogleich abgethan.« 28 So ist ein groser Theil von Europa bis an die Grenzen Asiens in den lezten Wintermonaten voll Treiben und Bewegung, um sich auf einem gemeinschaftlichen Sammelplaz, in einer kleinen Mittelstadt des nördlichen Deutschlands an der kleinen Pleiße, zu einem Mittelpunkt des Welthandels zu vereinigen. Fürwahr der Schlangenstab Merkurs hat auch in unsern wunderschönen Zeiten noch nicht aufgehört, ein Wunderstab zu seyn! 29

Schon diese monumentale Exposition – eine symphonische Orchestrierung von Werners Apologie des Handels in Goethes Wilhelm Meister – lässt eine erste Ursache für den Erfolg von Böttigers Messekorrespondenz erkennen, erst recht wenn man sich vor Augen hält, wie kleinteilig, abgesehen von den Hauptstädten und Residenzen, die Lebenswelt organisiert war, dass die Masse der Güter des täglichen Gebrauchs lokal produziert wurde, dass die angeschafften Güter lange halten mussten – das Weißzeug der Aussteuer etwa ein Leben lang – so wie angefangen von Galanteriewaren über Messer bis zu Spiegeln alles auf Märkten und von fliegenden Händlern verhandelt wurde, wie fern und fremd also den meisten Deutschen das massierte Warenangebot in Leipzig sein musste. Böttigers Messberichte ließen das Publikum am Trubel des Handelsgeschehens und an der Vielfalt der Warenwelt teilnehmen, ja er wusste die Transaktionen so sinnenfällig zu schildern, dass man förmlich das Geräusch der rollenden Fässer, den Sprachmischmasch, das Knistern der Seide, ja das Klimpern der Taler und goldenen Dukaten zu hören glaubte. Die Faszination der teils von fern her kommenden Waren und Menschen war ihm so groß, dass selbst das Unterhaltungsangebot mit Volksbelustigungen, Dirnen, Schaustellern und Schauspiel im überfüllten Leipzig eher im Hintergrund blieb, und bezeichnenderweise waren ihm auch dabei die erstaunlichen mechanischen und optischen Apparate, das Panoramen- oder Raketenwesen besonders erwähnenswert.30 Böttigers großes Thema war die Ausdehnung und Verflechtung des »Welthandels«, der sich auf den Leipziger Messen wie in einem Brennpunkt verdichtete. Die ganze Welt schien auf diesen Zeitraum hin kalkuliert, dessen Zeit wegen der in 28 Ebenda, S. 710. 29 Ebenda. 30 AZ (1802), Nr. 209 vom 28. Juli, S. 833f.

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ihm ablaufenden Spekulationsgeschäfte, die von den kurzfristigen des reinen Messehandels bis zu den langfristigen, zum großen Teil kreditierten des Fernhandels, wo die auf der Messe gekaufte Ware in den Tiefen Russlands verkauft und erst zur nächsten Messe bezahlt wurde, intensiviert war. Böttiger erzählte vor allem vom Getriebe von Handel und Wandel, angefangen von Manufaktur und Industrie, über Warenklassen, Varietäten und Qualitäten, Preisen und Umsätzen, bis hin zu Prosperität und Krise, was im großen, national-, ja globalökonomischen Maßstab eben nur bei der Gelegenheit der großen Messen zu Neujahr, Ostern und Michaelis in den Messestädten Frankfurt und vor allem eben Leipzig, den Drehscheiben des »Welthandels«, anschaulich wurde. Mitteilenswürdig, weil anschaulich, war ihm das »Pikante«, das die Neugier reizende Kuriosum und die ganze kulturhistorische Lagen und Umschwünge erhellende Anekdote, etwa die von jener bemerkenswerten Konjunktur aller »blasenden« und »besaiteten« Instrumente zur Michaelismesse 1800, die von polnischen Juden, »besonders aus dem östreichischen Antheil«, so viel sie nur finden konnten, gekauft wurden, da ihnen ein gnädiger Kaiser zu tanzen und musiciren erlaubt habe, »›was uns vorher unsere kleinen Tirannen, die Edelleute, nie zugestehen wollten‹«.31 Anschaulich im besonderen Maße war auch das »Pittoreske«, mit dem Böttiger etwa das hochentwickelte Manufaktur- und Transportwesen in England mit den Karawanenzügen der russischen Kibitken, in denen die Kaufleute als »Hamarobier« den Weg über lebten, kontrastierte. Kunstreich, auch hier an den epischen Duktus angelehnt, komponierte, organisierte und ponderierte er unter den Rubriken, gleichsam den Gesängen, den Stoff in langsam fließenden und mäandrierenden Perioden. Dabei wird die Erzählung von einem launigen Witz durchwirkt, der auf Böttigers Faible für Sterne im besonderen und für die englischen Satiriker des 18. Jahrhunderts, für Hogarth (und seinen Erklärer Lichtenberg) und die englischen Karikaturen im Allgemeinen weist. Seine Inszenierung nutzt virtuos die Freiheit zu Aufzählungen, Digressionen und Parenthesen; souverän spielt er den ganzen Reichtum seiner Erudition, seiner Kenntnisse, seiner Lektüre und seines Witzes aus und komponiert ein ebenso feingliedrig durchgearbeitetes Potpourri von Kontrasten und Anspielungen. Immer wieder flicht er dabei die antike Götterwelt als belebende Staffage ein oder nimmt auf antiquarische Details der antiken Lebenswelt Bezug. So wie er sich von den aus Voss’ Homer-Übersetzung bekannten adjektivischen und substantivischen Wortbildungen (»geschäftigkeuchenden Akteurs«, »müssigschleichenden Zuschauern«) inspirieren lässt, so auch von deren geballter Syntax; und geradezu mit Lust am Preziösen zitiert er die für den Nichtfachmann exotischen Fachausdrücke etwa für die verschiedenen Stoff-, Web- und Musterarten. In seiner modernen Mythologie des Welthandels treten an die Stelle der antiken Heroen die Namen der Firmen, die als Protagonisten des Welthandels den Markt mit Waren und

31 AZ (1800), Nr. 314 vom 10. Juni, S. 1301.

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Geld versorgen, an die Stelle der Stämme die Nationen, an die der mythischen Stätten ein Manchester, Birmingham, London, Lyon und Paris, an die des Kampfs der Achaier und der Troer der Widerstreit von Angebot und Nachfrage und die universale Konkurrenz. Böttigers Messepen vereinigen das Panoramatische des horizontweiten Blicks, des Weltverkehrs und der Weltgeschichte mit einer Detailfreude, die sich von Porzellan wie von Patentknöpfen wie von modischen Streifen bedruckter Tücher in Bann schlagen lässt. Eben in dieser Doppelperspektive boten sie dem Zeitgenossen und bieten sie dem heutigen Historiker unschätzbares Material für eine Kultur- und Sozialgeschichte der Industrie und des Handels dar, nicht zuletzt weil er immer wieder räsonierte Einblicke in die internationale Arbeitsteilung gab, indem er die führenden Produktionsorte für bestimmte Produkte, die Namen der wichtigsten Fabrikanten, Produzenten und Handelshäuser, die wichtigsten Absatzgebiete nannte. Dasselbe gilt für eine verschwenderische Fülle von Warengattungen und Sorten, die seine Erzählungen – auch wenn manchmal ins Spannungslos-Seichte abgleitend – in großen Bögen aufführten, die Spezies und Qualitäten, die er mit unverkennbarer Lust an den eigentümlichen französischen und englischen Produktnamen aufführte, und dem Raffinement des »neuesten Modesortiments«, dem er betörende Reize abgewann: Wer wollte nun aber, ohne die Zungenfertigkeit einer ächten Pariserin zu besizen, sichs beigehen lassen, allein oder auch nur die hervorstechendsten Bestandtheile des neuesten Modesortiments zu protokolliren, womit der Wiz einer Damer v al oder eines Mar lin hundert frivole Schöpfungen aus Flor und Seide zu ergiebigen Gold- und Silbergruben zu machen weiß? Von den dreifach inkrustirten und diamantirten Modekämmen und den knappanliegenden Halsbändern aus or t issu mit Carniolen durchflochten, bis zu den fingerlangen Modefächerlein, die nur für ein lilliputtisches Elfengeschlecht berechnet scheinen, welche Abstufungen und Ordnungen in diesen Schmetterlings-Ephemeren der Mode! Unter den Modestoffen aus Frankreich zeichneten sich besonders die französischen Pekins in den hellsten Modefarben durch ihren schönen Lüster, die façonnirten Florenons, und die broschirten Sergen in allen Farben sehr aus. Leztere wurden ausserordentlich stark zu Kleidern für Damen gekauft, und hielten den englischen Calicos, in deren tausendfältigen Desseins die unerschöpflichste Erfindungsgabe glänzt, ziemlich das Gleichgewicht. Doch war der zierlichste unter allen Modestoffen Rosa, die jezt gebietende Farbe, mit silbernen Blumen durchwürkt. Friedenstoquets und Pamelahüte hatten hier vorläufig schon den Defenitivfrieden geschlossen, und ruderten einträchtig neben einander. Stikereien in Musselin und Batistmusselinen waren in den lokendsten und geschmakvollsten Mustern häufiger als je, und sind ein Stapelartikel des französischen Kunstfleisses, worin England stets zurükbleiben wird. Die grosen Tigermäntel hatten bescheidenern Shawls mit 3, 4 und mehreren Zipfeln von schwerem, weisem, satinirten Grund, und mit breiter damascirter Kante (zu 11 Talern das Stük) oder in kleiner Form mit gelbem Filet, der Absazweise mit rothen Quasten garnirt ist, (zu 8 Thalern) Plaz gemacht. Noch immer gebot die Mode verschiedenfarbige Ermel, verbannte aber alle Tricots, und sezte statt ihrer gestikte, mit Goldschnüren durchflochtene, weisse Spizenermel, die man zu jeder Art von Kleidern trägt, eines der kostbarsten Raffinements des Luxus. Man hatte sie bis zu 3 und 4 Louisdor.

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Bernhard Fischer Mit ihnen wetteiferten an Kostbarkeit und Feinheit die gestikten Tücher von weissem Belille, um welches ein Rosenguirlanden-Diadem sich mahlerisch herumschlingt, und die zarten Linons, Percale genannt, die man gleichfalls zu Kapoten und Kopfaufsäzen einige Monate hindurch in Paris fast ausschließend trug. Blos in diesen beiden Artikeln, die ein alter Römer gewe b te Ne b e l nennen würde, gab es Geschäfte zu vielen tausend Talern, und die französische Industrie entschädigte sich dadurch in etwas für die englischen Pekinetroben in zartester Seide, wovon eine Robe mit 140 Thalern bezahlt wurde, und für die kleinen Halstücher in Pekinet zu 30 Thalern, die ungemeinen Absatz fanden, und am meisten nach Paris selbst verkauft wurden.32

So sehr Böttiger in der Welt der Luxusartikel und ihrer sinnlichen Reize schwelgte, so wenig ließ er von seinem immerwachen nüchternen und pragmatischen Interesse ab, das auf Rohstoffe und Materialien, auf Zwischenfabrikate, auf das Machen, auf die genaue Fabrik, auf die technischen Verfahren und »improvements«, auf den Einfluss der großen und kleinen Geschichte in die Läufte von Produktion und Handel aus war. Böttiger wurde nicht müde, die Überlegenheit des englischen »Erfindungsgeistes« zu rühmen, der sich in technischen Innovationen ebenso aussprach wie in »Patentartikeln« wie etwa den von Ackermann, Suardy und Komp. erfundenen »water proofs«, wasserdichten Stoffen, denen zum Schutz gegen Nachahmungen auch schon die »Marke der Handlungsfirma« aufgedruckt würde.33 Spürbar ist diese Faszination durch jedweden Erfindungsgeist auch da, wo er gegenüber den handwerklichen französischen Luxusartikeln die billige industrielle und bürgerlich zurückhaltende englische »nette Solidität«34 spürbar höher schätzte: Diese französische Goldverfeinerung ist theils um der Arbeit selbst willen, theils durch den Verlust des so ohnfehlbar zerstiebenden Goldes äusserst kostbar, und, in der Masse genommen, verderblich. Die Engländerinnen dagegen haben eine zahllose Menge kleiner Erfindungen, die durch Schmelz, kleine durch Queksilber zur Stahlpolitur erhöhete Glasröhren (bug les ), Patentperlen35, und falsche Diamanten die zierlichste Nettigkeit mit verhältnißmäsiger Wohlfeilheit verbinden. Man muß in einem englischen Gewölbe es selbst betrachtet haben, um sich zu überzeugen, bis zu welcher Vollkommenheit man fast alle Artikel des nachgemachten Frauenpuzes aus England ziehen kan. Neben den falschen Diamanten (D ov i e s , von ihrem Erfinder D ove y) werden jezt aus Patentperlen die schönsten Blumen, Bondeaus oder Diademe, Ringe, Halsbänder, Kammverzierungen und Einfassungen in der zierlichsten Sauberkeit bereitet.36

Die Mustergültigkeit der englischen Maschinen, die Böttiger seinem Sachsen immer wieder ans Herz legte, um in der Konkurrenz bestehen zu können, und die Inno-

32 33 34 35

AZ (1802), Nr. 201 vom 20. Juli, S. 801. AZ (1802), Nr. 186 vom 5. Juli, S. 741f. AZ (1802), Nr. 200 vom 19. Juli, S. 797. S. Eng lische Miscellen von Hütt ner. Bd. VII. St. 2 S. 104. St. 3 S. 183. [Anm. von Böttiger.] 36 AZ (1802), Nr. 201 vom 20. Juli, S. 802.

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vationsgeschwindigkeit waren für ihn mit der Findigkeit verbunden, die Waren in großen Mengen ungeheuer, ja für alle Kontinentaleuropäer unerreichbar billig zu verkaufen und die Moden wie den Kapitalumschlag zu beschleunigen. Verdächtigungen merkantilistisch denkender Zeitgenossen, die Wohlfeilheit werde vom Ministerium subventioniert und England wolle mit seiner Warenschwemme die Fabriken des Kontinents vernichten, hielt Böttiger die kaufmännische Kapitalrechnung entgegen: Die Verständigen liessen sich dergleichen Vorspiegelungen auch keineswegs einschwazen, sondern fanden den wahren Grund der englischen Wohlfeilheit, ausser den bekannten Erleichterungen durch Maschinen, Kanäle und andere Lokalvortheile, besonders in den ungeheuern Kapitalien, die der englische Groshändler anlegen kan, und in der richtigen Berechnung des möglichst schnellen Absazes. Man weiß, wo nicht aus andern Quellen, doch aus Nemnichs Reisen und Hütt ners lehrreichen englischen Miscellen, wie rastlos und erfinderisch der brittische Manufakturist im Ausklügeln stets neuer Muster und in rascher Förderung des Modenwechsels ist. Man kan ohne alle Uebertreibung annehmen, daß wenigstens in allen Artikeln, die zur Bekleidung im weitesten Sinne des Wortes Vest is bei den Römern gehören, in 12 Monaten eine Totalumdrehung des Modekreises Statt finde. Nun verkauft der Engländer auf dem Kontinent eigentlich nur die Waare ganz wohlfeil, die in England schon ihren Modekreislauf beschlossen hat. Er hat bei diesem sogenannten Verschleudern der Waare sehr richtig ausgerechnet, daß der scheinbare Verlust, den er bei diesem wohlfeilen Verkauf leidet, dadurch gedekt werde, daß er nun doch die daraus gelöste Baarschaft sogleich wieder zu fruchtbaren Spekulationen anlegen, und das Kapital aufs neue wuchern lassen könne, das sonst noch Monate lang in den Waaren selbst verstekt bleiben würde.37

Böttiger identifizierte das entscheidende Moment des »Welthandels« und der britischen Warenmacht in den ihnen zugrundeliegenden Rationalitätsgewinnen einer rein dem rechnerischen Kalkül unterliegenden Kapital- und Produktionslogik, die in der Zeit zu einem entscheidenden Faktor wurde. Das Erfolgsgeheimnis der englischen Metallwaren bestand für ihn in drei »Hauptpunkten«: möglichste Ersparung der Menschenkraft durch Maschinerien, möglichste Vertheilung der Arbeit bei jedem Fabrikat unter Arbeiter, wovon jeder ein Theilchen mit der möglichsten Schnelligkeit und Geschiklichkeit fertigt (dis von Ad. Smith und seinem neuesten Bearbeiter G a r n i er in Paris schon so meisterhaft erwiesene, aber von deutschen Fabrikanten noch immer nicht hinlänglich verstandene, Vervollkommnungsmittel aller Fabrikatur, das schon die Alten in ihren Sklavenfamilien so geschikt zu brauchen, und sogar auf die höchste Kunstwerke der Sculptur mit Glük anzuwenden wußten), und möglichste Sicherung des Eigenthums durch Patente, wodurch die lebhafteste Aemulation der Fabrikanten zugleich gereizt und unterhalten wird. Patentartikel sezen Einheit des Staats, Zerspaltung der Fabrikaturgeschäfte, völlige Unabhängigkeit vom Gildenzwang und ge-

37 AZ (1802), Nr. 183 vom 2. Juli, S. 729f.

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Abb. 2 Eingang zur Papierhandlung von Ferdinand Flinsch in der Universitätsstraße in Leipzig, Lithographie von T. Krieger (um 1830) heiligten Herkommen, Maschinerien, grose Verlage, und Steinkohlen voraus: Utopische Forderungen an den Gesamtkörper unsers Vaterlandes.38

Bei allem sächsischen und deutschen industrie- und handelspolitischen Patriotismus hielt es Böttiger mit der liberalen Nationalökonomie von Adam Smith und deren Lob des freien Spiels der Marktkräfte. Er glaubte an die Herder’sche Idee der humanisierenden Völkerbindung durch den Welthandel. Eine Rousseau’sche Kritik an der Arbeitsteilung oder am Eigentum war ihm gänzlich fremd. Er propagierte die Entfesselung der Produktivkräfte durch Änderung der Produktionsverhältnisse, was dann in den Stein-Hardenbergischen Reformen wie auch in den Modernisierungsund Industrialisierungsdebatten des weiteren 19. Jahrhunderts immer wieder begegnen wird. Bezeichnend moderat diskutierte er die einschlägigen Wortmeldungen in der Debatte über protektionistische Maßnahmen, indem er letztlich zu bedenken gab, dass drakonische Einfuhrzölle den Messeplatz Leipzig und dessen Transithandel zerstörten, im Übrigen sich aber die Nachfrage nach den eingeführten englischen Waren nicht einfach erledigen würde.39 Von daher würdigte er immer wieder die Warenqualität der sächsischen Manufakturen, der Weber und Spinner und verur38 AZ (1802), Nr. 207 vom 26. Juli, S. 825. 39 AZ (1802), Nr. 183 vom 2. Juli, S. 730f.

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teilte ihre Deklaration als englische als unpatriotisch, verwies aber Sorgen und Nöte angesichts der übermächtigen Konkurrenz aus England auf Nachahmung und Übertreffen der Muster, auf die »möglichste Verbreitung und Vervielfältigung der englischen Maschinerien«.40 Seine Propaganda für die Tugenden der britischen Industriekultur machte ihn zu einem der wohl breitenwirksamsten Apologeten des Kapitalismus und der Industrialisierung in Deutschland. Wie unauflöslich verwoben die Welt der Rohstoffe, der Halbfabrikate, der Waren und des Handels mit der großen Geschichte und gleichermaßen mit dem Alltagsleben jedes einzelnen war, sollte sich bald in der Zeit der globalen Handelskriegsführung nur zu schnell zeigen. Die englischen Hafenblockaden und die napoleonische »Kontinentalsperre« ließen den erreichten Stand des »Welthandels« und der Arbeitsteilung binnen kurzem zusammenbrechen. Jetzt kehrte auch Böttiger einen geradezu kontinentalen Argwohn gegen das durch Kapital und Warenmacht alles beherrschende England heraus, der seiner Zeit zur bürgerlichen Mentalität auch des aufgeklärten Publikums gehörte und von einer großen Reihe politischer Publizisten, allen voran von Friedrich Buchholz geteilt wurde. Er ist nicht zuletzt ein Motiv für die auch in den Messberichten immer wieder von Böttiger geäußerte Bewunderung für Napoleon und das napoleonische Frankreich, von dem er sich nicht nur die Modernisierung Deutschlands in rechtlicher Hinsicht versprach, sondern auch die ökonomische Emanzipation von der Handelshegemonie der »Weltbeherrscherin«. * Nach überleitenden Einblicken in den »Geldkours«, wo es vor allem um das Verhältnis von barem Geld und Wechseln sowie die durch Staatsanleihen ausgelöste Geldknappheit ging, und den »Kunsthandel« – Böttiger lieferte hier ein farbiges Tableau der Hauptfirmen und ihrer Neuerscheinungen samt Aperçus zur Lage der Künste, angefangen vom herrschenden Zeitgeschmack und seinen Genres bis hin zu den Produktions- und Vertriebsformen – erreichten die Blike auf die Leipziger JubilateMesse 1802 den Buchhandel und damit das Zentrum seines Interesses. Anders aber als die früheren und die folgenden Berichte von der Buchhändlermesse, die sich wesentlich auf den Messkatalog stützen, nutzte Böttiger seinen Bericht der Jubilatemesse 1802 zu einer allgemeinen Beurteilung, was den »Zustand unsrer Literatur« anging, um seinem Schlusskapitel: XII. Vorschläge zur Besserung und Veredlung des Buchhandels, eine wenig schmeichelhafte, aber für den heutigen Sozialhistoriker aufschlussreiche Darstellung der deutschen Buchkultur voranzustellen: Die noch immer wachsende Anzahl der Buchhändler, und die dadurch ins Unendliche vermehrte Menge von Büchersudelei und Makulatur ist die Hauptquelle alles Uebels in diesem Zweige des Handels.41 40 AZ (1802), Nr. 184 vom 3. Juli, S. 733. 41 AZ (1802), Nr. 246 vom 3. September, S. 981.

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Zwar nenne »das dem Meßkatalog angefügte Verzeichniß der mit ihren neuen Artikeln zur Messe sich einfindenden Buchhandlungen nur 269 Namen«, darunter wieder 30 neue Handlungsfirmen, hinzuzurechnen seien aber »wenigstens noch ein hunder t Verkäufer und Vertrödler neuer Bücher, die auch Buchhändler seyn wollen, besonders innerhalb der östreichischen Monarchie und in den ausserdeutschen Ländern deutscher Zunge«, so dass man »mit leichter Mühe 400 sogenannte Buchhändler zusammenzählen könne«. Dieser »fast unglaublichen Vermehrung der Buchhändler« liege aber »bei weitem nicht blos das zunehmende Bedürfniß der Lektüre« zu Grunde, sondern der fast überall bestehende Mangel an Statuten und ausschließenden Privilegien: »Wer will, kan seine Bude aufthun«, das Ausgreifen der vormaligen Nur-Buchdrucker auf die Geschäfte des Verlagsbuchhandels aus falschem »Spekulationstrieb« oder »Ehrgeiz«. Hinzu komme der Tauschhandel der »5– 600 Vorsteher von Lesebibliotheken«, dem man »vorzüglich das wuchernde Romanenunkraut zu danken habe«, und der Selbstverlag von sonst brotlosen Schriftstellern, die als »Rennfe der n« sich ihren Unterhalt erschreiben müssten. »Der erbärmlichste Autor findet noch immer einen erbärmlicheren Verleger, der die Güte seiner Spekulation nach der Wohlfeilheit des Manuscripts mißt. Der obscurste Buchdruker oder Bücherkolporteur findet noch immer einen hungernden Sudler, der ihm sein Machwerk aufschwazt.«42 Da sich die seriösen »solidern« Verlagsbuchhandlungen auf keinen Tausch ihrer hochwertigen, aber teuren Ware gegen solche »Jämmerlichkeiten« einließen, blieben die Trödler mit der minderwertigen Ware unter sich und verbreiteten sie im Publikum, das immer »nach dem Gegenwärtigen« greife, während das Gute nur in wenige Sortimente finde. Der um sich greifende, mit den Kolporteurs in die entferntesten Gegenden vordringende »Winkelbuchhandel« stehe dem soliden im Wege. Hinzu komme ein Strukturwandel des Leseverhaltens selbst, der sich unmittelbar in den Genres der Buchproduktion niederschlage: »der Geschmak an gründlicher Lektüre [nimmt] immer mehr ab«: Man liest bald nichts mehr, als Bücher über Bücher, Auszüge in Journalen und Zeitschriften, (daher die unendliche Vervielfältigung der Magazine, Archive, Annalen, Revisionen, und wie die Aushängeschilde sonst heissen, in allen Wissenschaften, Kunstund Nahrungszweigen, wo jeder in seinem Fache das Nothdürftigste in der Nuß zu finden hoft), Almanache und Taschenbücher, encyklopädische, oder auch über einzelne Wissenschaften ausgearbeitete, Wörterbücher und Kompendien. Nur diese Gelehrsamkeit im Auszug- und Taschenformat lohnt den Schriftsteller und Verleger.43

Böttiger zeigt als Kehrseite der Leserevolution die geistige Verelendung des Publikums, mit der die »Misbräuche« der kenntnis- und kapitallosen wie betrügerischen »unsoliden« Verlagsbuchhändler Hand in Hand gehen: der Nachdruck samt den kundenschädigenden Gegenmaßnahmen, das »Verschleudern« und die unstatthaften Rabatte an »Particuliers«. Angesichts des aufklärerischen Auftrags, den der 42 Ebenda, S. 982. 43 Ebenda.

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Abb. 3 Leipziger Antiquar, Aquarell von Georg Emanuel Opitz (um 1820)

Buchhandel eigentlich erfüllen sollte, verstand es sich für Böttiger von selbst, dass er die auf der Ostermesse 1802 maßgeblich vom Potsdamer »Veteran« Carl Christian Horvath ins Leben gerufene Reformbewegung und einen »Verein rechtlicher Buchhändler«44 unterstützte, der auf der Basis der Selbstorganisation eine »festbestehende Buchhandels-Ordnung« mit Ausschuss und Schiedsgericht formulieren wollte. Einiges deutet sogar darauf, dass ihm eine gesetzliche Kodifikation noch lieber gewesen wäre, allerdings war ihm wohl selbst bewusst, dass eine solche angesichts der komplizierten territorialstaatlichen Verhältnisse in den außersächsischen Gebieten keinerlei Kraft gehabt hätte und also nur den Leipziger Buchmarkt hätte regulieren können. Die ökonomisch-berufsständische Perspektive wird aber, angefangen von dieser Initiative über Cottas und Carl Bertuchs Mission auf den Wiener Kongress 1814/15 bis in seine letzten Lebensjahre, alle Reformversuche in Buchhandelsangelegenheiten und im besonderen den Kampf für die Autoren- und Verlegerrechte gegen das Nachdruckunwesen begleiten. Böttigers Kritik an den literarischen Zuständen und am unwürdigen Umgang mit den Idealen der Aufklärung wirft aber auch ein erhellendes Licht auf die historische Signatur seiner eigenen Autorschaft. Unverkennbar urteilte er aus der Sicht eines professionellen Autors, dessen Selbstverständnis immer noch die alte »res publica litteraria« und ihre Gelehrsamkeit prägten, für den die wissenschaftlichen Disziplinen keine Mode, keinen Zeitgeschmack und keinen »frivolen Zeitgeist« kannten, sondern, dem gesicherten Wissenszuwachs verpflichtet, auf »klassische perennirende 44 AZ (1802), Nr. 342 vom 8. Dezember, S. 1381.

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Werke«45 zielten. In dieser Tradition wurzelt auch der humanistische Topos vom neugierigen, neuheitsversessenen »Pöbel«, der in der oben zitierten Passage nachklingt, ebenso sein Kulturpatriotismus. In diesem Sinne behandelte er auch »klassische Werke unsrer Nationalschriftsteller«,46 unter denen er selbstverständlich Goethe, Schiller – trotz allen persönlichen Spannungen47 – und Wieland die führenden Plätze zuwies, womit er einen nicht unbedeutenden Anteil an der Kanonisierung der deutschen Nationalliteratur hat.48 Ebenso unverkennbar ist aber auch, dass er für eine »Aufklärung« steht, in der die Theologie ihren Status als Leitwissenschaft und das Lateinische seinen Anspruch als Leitsprache verloren haben wie auch das polyhistorische Ideal sich im Zeichen eines praxeologischen Primats hin auf die Bedürfnisse der innerweltlichen Einrichtung und damit wesentlich auf den wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen und institutionellen Fortschritt verwandelt. In die Augen springt allerdings auch die Ambivalenz, die Böttigers Urteil über das Publikum belastet, wenn man daran denkt, wie sehr er selbst als Publizist und Journalist an der von ihm kritisierten »Gelehrsamkeit im Auszug- und Taschenformat« teilnahm, ja dass diese das Wesen seiner Produktivkraft ausmachte. Sicher spricht sich in der Klage über die Folgen der Leserevolution auch das eigene Schicksal eines Autors aus, der für Geld schreiben musste. Dennoch verwundert die Harschheit des Urteils, der offenbare, ohne kleinliche Skrupel eingegangene Widerspruch zum Lob der kleinausmünzenden Popularschriften. All dies führt auf die Abgründe, die teils wohl in Böttigers Charakter angelegt gewesen sein mögen, strukturell aber in der historischen Physiognomie der zur Massenpresse werdenden Publizistik anzutreffen sind. Man gewinnt den Eindruck, dass seine Persönlichkeit mit ihren spezifischen Talenten und ausgebreiteten Kenntnissen auch da prototypisch für die Pathogenese der mediengesellschaftlichen Öffentlichkeit ist, wo sie seinen Zeitgenossen und der Nachwelt moralisch hochproblematisch, um nicht zu sagen widerlich waren und sind. Wichtigtuerei und Eitelkeit korrespondieren dem Anspruch des Journalisten, ständig Augenzeuge und Mitteiler von Bedeutendem zu sein, dem Böttiger bisweilen sogar mit Fiktionen nachhalf; Vorwitz, Taktlosigkeit und Indiskretion reflektieren die soziale Entgrenzung der Nachrichten und den Druck, mit Informationen vorn zu liegen; fehlende Konkludenz in Tendenz und Haltung die kurze Halbwertszeit von täglich neuen Ausgaben; sein Schreibzwang korrespondierte dem unersättlichen Hunger des Publikums nach Neuem, auch wenn er »Allarmismus«, da in seinen Wirkungen destabilisierend, ablehnte.

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AZ (1802), Nr. 247 vom 4. September, S. 985. Ebenda. Vgl. dazu Sondermann: Karl August Böttiger (wie Anm. 17), S. 187–214. Vgl. dazu auch Klaus Gerlach: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe als Grundstein zur Deutschen Klassik, in: Ibykus 2005, Nr. 91, S. 20f.

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Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet? Karl August Böttigers Carmina Graeca für den Prinzen Johann von Sachsen

Bei Archivarbeiten1 zu Johann, Prinzen und späterem König von Sachsen, fand sich in dessen im Hauptstaatsarchiv Dresden verwahrten Papieren eine Mappe etwas rätselhaften Inhalts: sie enthält ein kurzes Schreiben des Prinzen; daran angeleimt ist ein schmaler Zettel, 16 cm lang und 6,5 cm breit, mit zwei griechischen Distichen, sowie auf dessen Rückseite aufgeleimt ein sorgfältig ausgeschnittenes, kleineres Zettelchen mit dem Namen Iwannhv.2

1 Vorliegende Studie ist auch ein Werkstattbericht, vgl. unten Anm. 7. Der Verfasser dankt Dr. Silke Marburg (Dresden) für die »Initialzündung«, den Zufallsfund des Distichenzettels, für anregende Diskussion des Gegenstands Klaus Peters (Hamburg), Dr. René Sternke (Berlin) und insbesondere Dr. Karla Reinhart (Dresden), welche die Erschließung des Materials für eine beabsichtigte gemeinsame Publikation beharrlich und einfallsreich vorangebracht hat. 2 HStA Dresden, 12561 Fürstennachlaß Johann, König von Sachsen, 12561, Nr. 198b. Das Dokument wurde wohl im jetzigen Zustand 1884 auf einer Auktion erworben. Das Hauptstück ist ein kurzes Schreiben Johanns an Ferdinand Hartmann, Professor der Akademie der Künste. Archivarisch ist zum angeleimten Streifen vermerkt: »ein griechisches Autograph von Demselben« (gemeint: Johann). Beschneidung und Anleimung des Streifens hat den ursprünglichen Zusammenhang zerstört und damit auch den archivalischen (und den kommerziellen) Wert des Autographs gemindert. Datiert ist das Schreiben Johanns durch einen Mitarbeiter des Archivs auf der Deckblattrückseite auf »vor 1838«, was über die Datierung des Distichenzettels freilich nichts aussagt. Die Erstveröffentlichung erfolgte mit Unterstützung zweier Meißner Gymnasialprofessoren durch Theodor Distel, »K. S. Archivrath«, anlässlich des 88. Geburtstags Johanns. Vgl. Th[eodor] Distel: Zwei griechische Distichen des – späteren – Königs Johann von Sachsen. Zum 12. December, in: Leipziger Zeitung. Wissenschaftliche Beilage, Nr. 148 vom 12. Dezember 1889, S. 593; eine Druckfehlerberichtigung ebenda, Nr. 150 vom 17. Dezember 1889, S. 603 (SLUB Dresden, Mifi Z. 104-1888). Der Herausgeber stellte die nämlichen Schreibfehler und Unkorrektheiten fest, wich aber gegen die graphische Evidenz von unserer Textfassung mehrfach ab; die Distichen hat er zutreffend auf das Angebot der griechischen Krone an Johann 1829 bezogen, und »Derselbe« wird als Autor, der Text aber nur als ein nicht weiterbearbeiteter Entwurf angenommen. Homerisches Wortgut erwähnt Distel nicht.

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Ein Zusammenhang zwischen dem Briefchen und dem angeleimten Streifen besteht offensichtlich nicht, allenfalls eine vermutbare vage zeitliche Nähe. Die beiden griechisch beschriebenen Zettel stammen von der gleichen Hand. Der Bezug des Aufklebers mit dem Namen ist unklar, da der Name im Nominativ steht – eine »Unterschrift«, vielleicht, denn eine Adressierung hätte im Dativ erfolgen müssen. Etwas mehr bietet das Blatt mit den beiden Distichen.

Die mitunter eigenwillige, aber insgesamt sichere Ausführung der Buchstaben deutet auf eine gewisse Geläufigkeit beim Schreiben des Griechischen. Akzente und Spiritus lässt der Schreiber fast völlig beiseite, Elisionen zeigt er an. Außer Eigenheiten kommen Fehler vor, die auf sprachliche Unsicherheiten verweisen, wie etwa a¬pojrwskanta statt a¬pojråıskonta, e¬xaneteilev statt e¬xanéteilav und Hllav statt ¿Elláv. Merkwürdig muten die über die drei letzten Worte der ersten Zeile gesetzten Ziffern 3, 2, 1 an, so, als habe sich jemand die Worte für Verständnis und Übersetzung geordnet. Klaus Peters gelangte durch Emendation zu folgender einleuchtender Lesung: √Wr’ ei¬n ei® ¿Ellàv kaì e¬xanéteilav jeòv wç v ¿Usmîn’ e¬n kraterñı eu®g’ e¬rípousa camaí, Kállion d’ h®n kaì kapnòn a¬pojråıskonta noñsai Patrídov h£ kratéein tñl’ a¬pécwn basileúv.

Die Übersetzung: In Blüte stehst du, Hellas, und hast dich erhoben, wie eine Göttin, in schwerem Kampfe, obgleich du doch am Boden lagst – angenehmer wäre es freilich, den aufsteigenden Rauch zu sehen des Vaterlands, als zu herrschen in der Ferne abwesend als König.

Metrisch sind die Distichen korrekt, sieht man von der Regelabweichung am Beginn des dritten Verses ab: sie führt auf jemanden, der Verse nicht nach antiker Weise misst, sondern eher in moderner, zumal deutscher Weise betont oder skandiert – ein Phänomen, das im Weiteren noch mehrfach begegnen wird. Beachtung verdienen die Zäsuren in den beiden Hexametern: im ersten rückt die Penthemimeres das Wort, den Begriff, die Vorstellung ¿Elláv in die Aufmerksamkeit, im zweiten gibt eine etwas unscharfe Trithemimeres ein merkliches Innehalten vor dem Folgenden. 76

Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet?

Der griechische Text, der literarischen Gattung nach ein Epigramm, ist durchsetzt mit homerischen Wörtern und Wendungen, im ersten Distichon mit solchen aus der Ilias, im zweiten aus der Odysseia.3 Solche Zwei-Gliederung bestimmt Inhalt und Gestalt des Epigramms bis ins Einzelne. Das Distichenpaar gliedert sich nämlich nicht nur schlicht in eine iliadische und eine odysseische Hälfte. Der erste Vers nennt – folgt man dem überzeugenden Vorschlag von Peters, denn Distels Lesung des Anfangs: ∫W xeîn’ ist nicht nur graphisch nicht begründet, sondern auch im Kontext sinnwidrig – zwei Vorstellungen: du, Griechenland, stehst nun in voller Blüte, denn du hast dich erhoben, einer Göttin gleichend. Das Resultat nach einem Vor-Gang. So auch Vers 2: in gewaltigem Ringen, lagest du doch am Boden. Die Weise des Aufstiegs aus dem Vor-Zustand. Dem ersten – in sich bereits antithetisch geprägten – Verspaar wird sodann in einem zweiten Verspaar eine Antithese zugesellt, dem heroischen iliadischen Teil ein friedliches Bild aus der als weniger heroisch geltenden Odysseia. Auch die Antithese enthält in sich gegensätzliche Vorstellungen: dem Rauche zuzusehen und nachzusinnen, der von den friedlichen Dächern des Vaterlandes aufsteigt, ist schöner, ist angenehmer, als fern davon als ein König zu herrschen. Die Leitbegriffe der Distichen sind chiastisch-antithetisch gesetzt. Und es fällt vom Ende her auch ein Licht auf den Anfang, auf das verlockende Bild der zu schöner Blüte sich wieder erhebenden Hellas – die Lockung, dort als König zu herrschen, wird am Schluss des Epigramms mit dem pointiert gesetzten basileúv deutlich abgewiesen nach vergleichendem Abwägen, wodurch die Zwei-Gliederung des Epigramms bestätigt und zugleich in der Aufhebung der Zweigliederung im Vergleich zu einer doch befriedigenden Ganzheit zusammengeschlossen wird. Eine weitere Zweiheit kommt hinzu: ein aktuelles Problem, die Regierung des wiedererstandenen Griechenland, wird mit »klassischen«, antiken Ausdrucksformen höchster – Homerischer – Autorität erwogen. Und dann kann man da noch ein Märchenmotiv sehen: Hellas, die Braut in voller Jugendschöne, aufgetaucht wie Aphrodite, aus einem schweren Kampf, und der Prinz aus der Ferne – der bleibt aber lieber daheim und schaut und sinnt dem friedlichen Rauch aus heimischen Schornsteinen nach. Mindestens ein gewisses Raffinement wird man dem kleinen Gebilde nicht absprechen können. 3 In der Ilias habe ich elfmal Hexameterschluss auf wç v gezählt (3,2; 4,471.482; 8,538; 11,129.172; 13,178.292; 20,244; in 3,230 jeòv wç v; in 9,302 jeòn wç v), dazu kommt letzterem semantisch vergleichbares und phonetisch nahes i¬sojeòv fåv an acht gezählten Stellen vor (4,212; 9,211; 11,428.644; 15,559; 16,632; 23,569.671). Zu u™smîn’ e¬n kraterñı vergleiche Ilias 11,468; 16,451.788; 19,52. Die Wortumstellung ist im Distichon metrisch bedingt. – e¬rípousa: Ilias 17,440; 19,406; 21,243.246. Eindeutiges Odysseia-Zitat (1,58) ist kaì kapnòn a¬pojråıskonta noñsai. Die Fortsetzung im folgenden Vers: h©v gaíhv ist sinnvoll durch patrídov ersetzt. Auch tñl∫ a¬pécwn ist odysseisch belegbar. Peters’ Lesung des Anfangs der ersten Zeile geht auf Ilias 2, 171 und 16,643, wo postpositioniertes e¬n vorkommt; der Verfasser der Distichen hat die mögliche und metrisch passende Dehnform ei¬n gewählt, was auf recht gediegene Homerkenntnis schließen lässt.

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Als den Schreiber der Zeilen kann man Johann nachweisen.4 Doch: war er auch der Verfasser? Der Text gehört zweifelsfrei in die Umgebung des Prinzen Johann. Die Situation erscheint ebenfalls klar: da soll einer König in Hellas werden, doch wird ihm abgeraten: es gebe Erstrebenswerteres. Erwägt man alle Umstände, so kommt Johann als Verfasser nicht in Frage. Der sprachbegabte und sprachinteressierte Prinz hatte zwar auch Griechisch gelernt und vermochte, griechische Autoren in Vers und Prosa im Original zu lesen: er sei nach und nach dahin gelangt, »die leichteren Autoren ganz zu verstehen und auch von den schwereren mit Hilfe eines Lehrers einige Begriffe zu erhalten«, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen.5 Von Textproduktion in griechischer Sprache ist nicht die Rede, es hat sich davon auch nichts erhalten, nicht einmal Übungen. Soweit, wie in obigem Text vorausgesetzt werden muss,6 gingen seine Kenntnisse und Fertigkeiten jedoch nicht. Vermutungen richteten sich daher auf seinen Lehrer im Griechischen, den Hofrat Karl August Böttiger. Dessen Nachlass ist in der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden aufbewahrt. Darin befindet sich eine Mappe, betitelt Griechische Gedichte, vierzig teils recto und verso beschriebene Blätter unterschiedlichen Formats umfassend, in ungeordneter Folge, sekundär von Bibliothekarshand nummeriert.7

4 Dazu unten Anm. 36. 5 »In dieser Periode [d. h. vor 1830, wohl Mitte der zwanziger Jahre, P. W.] fing ich an, mich mit dem Studium des Griechischen zu beschäftigen, das in unserm Studienplan keinen Platz gefunden hatte. Ich versuchte zuerst, ohne fremde Hülfe nur aus Grammatik und Dictionnaire mich zu unterrichten. Da ich jedoch bald sah, dass dies mich nicht weiterführen würde, nahm ich später Unterricht bei dem bereits erwähnten Hofrat Böttiger und gelangte nach und nach doch dahin, die leichteren Autoren ganz zu verstehen und auch von den schwereren mit Hülfe eines Lehrers einige Begriffe zu erhalten.« Hellmut Kretzschmar (Hg.): Lebenserinnerungen des Königs Johann von Sachsen, Göttingen 1958, S. 80. Zum Studienplan von Dresdner Pageninstitut und Ritterakademie vgl. Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760 –1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006, S. 35–38. Die Angaben dürften grundsätzlich auch für die Unterrichtung der Prinzen gelten. 6 Ein Vergleich möge es klarmachen: Ein Russisch-Muttersprachler lernte auf die von Johann angezeigte Weise Deutsch, vermöchte den Faust und die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges »mit Hülfe« zu lesen – und dichtete dann in solcher Knappheit und mit solcher Sicherheit mit Material aus dem Nibelungenlied? 7 SLUB Dresden, Msc. Dresd. h. 37, Verm. 4°, XIII, 2. Aus dieser Mappe werden im Folgenden einige, bislang unerschlossene Texte Böttigers in einer ersten Lesung vorgelegt. Die Texte sind, sofern nicht Anderes angezeigt ist, so wiedergegeben, wie Böttiger sie geschrieben hat. Damit wird auch an mehreren Stellen seine deutsch-iktierende Behandlung antiker Verse deutlich.

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Obenauf – aber das wohl zufällig – liegt der folgende Text:

Iwnnhı tøı ¿Hgémoni tñv Sassoníav kalokaıgajøı, filópatri. Kállion h®n tòn kapnòn a¬najråskonta noñsai Patrídov, h£ kratéein tñl’ a¬péconta xénwn. Oudeìv skhptoúcwn Soû, ∫Anáx, basileúterov e¬stí. Aglaï`aiv stílbeiv kaì megalofrosúnhı √Ellada Soû pójov ai¬nòv e c¢ ei. pojéousi gérontev Soû kataneúsantov nomojéthn Se kaleîn. All’ eu¬ktåteron e¬sti fílwn méta koiranéonta Poímnhv tñv i¬díhv poiména’ –– e c¢ ein a¢fenov. Tøı nûn Søn propároije podøn póliv e¬xikneîtai. Púrgov Sassoníhv içstasai a¬sfaléwv. Ei©v oi¬wnòv a¢ristov a¬múnasjai perì pátrhv.

Die Übersetzung:

Iliad. M, 244.8

Johann, dem Prinzen von Sachsen, dem Trefflichen, dem, der dem Vater gehorcht Angenehmer wäre es, den aufsteigenden Rauch zu sehen des Vaterlandes, als zu herrschen, in der Ferne abwesend, über Fremde. 8 1 Iwnnhı] ∫Iwánnhı / ¿Hgémoni] ¿Hgemóni / Sassoníav cf. v. 11 Sassoníhv 2 a¬najr.] a¬pojr. cf. Hom. a 58 4 Oudeìv] Ou¬deìv / ∫Anáx] ºAnax / basileúterov e¬stí] basileúteróv e¬sti 5 Agl.] ∫Agl. 6 √Ell.] ¿Elláda 7 nomo.] metri causa legendum no¯ mo. susp. Peters 8 All∫] ∫All’ / eu¬ktåteron e¬sti] eu¬ktåterón e¬sti 9] -a del. B 12 a¬múnasjai] a¬múnesjai cf. Hom. M 243 13 244] recte 243

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Peter Witzmann Keiner der Szepterträger, Herr, ist würdiger als Du, König zu sein. Durch Schönheit glänzest Du und durch hohen Sinn. Hellas hat gewaltiges Verlangen nach Dir ergriffen, es verlangen die Alten, hast Du zugestimmt, als Gesetzgeber Dich herbeizurufen. Aber wünschenswerter ist es, mit Freunden gebietend, als der eigenen Herde Hirte Reichtum zu haben. Darum kömmt jetzt [bittend] vor Deine Füße die Stadt: Turm Sachsens, stehe Du fest, ohne zu wanken. Ein Losungswort ist das beste: sich einsetzen für das Vaterland. Hom. Il. 12,243

Die Handschrift ist offensichtlich eine andere als die des ersten Textes, es ist Böttigers Handschrift. Die Annahme, Böttiger sei der Verfasser (nicht der Schreiber!) des Distichenpaares, liegt nun nahe: das erste Distichon dieses Textes bringt fast wörtlich das zweite Distichon des Epigramms. Der Schreiber schreibt Griechisches gewandt und deutlich anders als Johann, obwohl auch ihm Fehler und Flüchtigkeiten unterlaufen. Das auch diesen Text durchsetzende Homerisieren9 erhält durch ein explizites Zitat so etwas wie eine Sphragis: nicht ich, der Autor der obigen Distichen, sage das, das sagt bereits kein Geringerer als Homer. Die Adresse (im korrekten Dativ) ist hier eindeutig: Name, Titel, dazu zwei positive Attribute: kalokaıgajóv der in jeder Hinsicht Vortreffliche,10 filopatär, eine meines Wissens sonst nicht belegte Parallelbildung zu filopátwr der seinen Vater liebt und ehrt und ihm in allen Stücken gehorsam ist; eine weitere Bedeutung des Wortes meint den, der seine Kinder liebt, also gern Vater ist. Die symbuleutisch-parainetische Elegie11 in der Weise des Solon von Athen (oder des Kallinos von Ephesos) führt den Leser sogleich in eine Diskussion, in der er von 9 In der Distichenreihe lassen sich alle wichtigen Wörter und Wendungen – mit zwei Ausnahmen – als homerisch belegen. Es seien wenigstens drei Stellen als Zitate bzw. Zitatvariation angeführt: basileúteróv e¬stin Ilias 9,(160).392. propároije podøn Ilias 13,205 wortgetreu, wogegen bei fílwn méta koiranéonta offensichtlich bewusste Variation von Ilias 12,318 Lukíhn káta koiranéousi vorliegt: das ferne Lykien gegenüber den nahen Freunden in Sachsen. Auf die Homerische Herkunft von púrgov Turm, Bollwerk, Schutzwehr weist Böttiger selber bei anderer Gelegenheit hin, mit Anspielung auf Aias, den Sohn des Telamon. Die Stelle Ilias 12,243 führt auf den Vergleich mit Hektor, den »Erhalter« der Stadt. Die beiden Ausnahmen betreffen die Wörter nomojéthv und megalofrosúnh. Das erste ist weder im Epos noch in der Elegie belegt, da metrisch ungeeignet, das andere ist in der Elegie zuerst (?) bei Kritias (frg. 6,1) bezeugt. Wieder treffen wir, worauf Peters aufmerksam macht, auf ein unmetrisches, skandierendes Verhalten zum Vers. 10 Vgl. den Artikel Kalokagathia in: Hubert Canik u. a. (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 6, Stuttgart, Weimar 1999, Sp. 209. 11 ›Elegie‹ bezeichnet hier, lediglich auf die äußere Form Bezug nehmend, stets nur ein Gedicht, das aus mehreren ›elegischen‹ Distichen besteht, also dem Zweizeiler aus Hexameter und Pentameter. Epigramm und Elegie werden hier ebenfalls ganz äußerlich, nämlich quantitativ unterschieden.

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dem aktuellen Sprecher ein Priamel erwarten möchte, etwa dieser Art: Schön ist dies, schön ist das, schöner aber wäre es, wenn … Das fehlt. Dafür ist die Wortwahl gleich im ersten Distichon gegenüber dem obigen Text aus der Mappe Johanns deutlich verschärft: nicht herrschen als König, sondern herrschen über Fremde (wobei nicht ausgesprochen wird: als selber ein Fremder). War das Doppeldistichon oben seinem Charakter nach eher als ein monologisches Nachsinnen angelegt, so ist die Elegie hier deutlich auf ein Gegenüber, an einen unmissverständlich Genannten gerichtet. Dessen (und anderer?) Rede wird aufgegriffen, und so entsteht etwas wie ein – wenn auch nicht explizit – dialogisches Gebilde. Der Angesprochene wird als Szepterträger bezeichnet, nicht als König, wenn auch würdig wie kein anderer, ein König zu sein. Johann, geboren 1801, um 1830 ein ansehnlicher junger Mann, mindestens in Hofkreisen wegen seiner juristischen und verwaltungstechnischen Kenntnisse und Tätigkeiten hochgeschätzt, war am 23. September 1830 zum Generalkommandanten aller Kommunalgarden im Königreich Sachsen berufen worden: da hatte er auch seinen »Marschallstab« (skñptron). Was Wunder, wenn Griechenland gewaltiges Verlangen ergreift, einen solchen Mann als seinen künftigen Gesetzgeber, als den Ordner seines staatlichen Lebens zu berufen? Doch solcher bleibe lieber im Lande, wird geraten, im Kreise der Freunde der Erste, er freue sich dessen, was er sicher besitzt. Beinahe fordernd kommt die Bürgerschaft vor ihn: stehe du fest als ein Turm, als die Schutzwehr Sachsens, ohne zu wanken. Böttiger als Ratgeber, der Hofrat gegenüber dem Prinzen, der Bürgerliche gegenüber dem vom höchsten Adel? Textimmanent lässt sich die Frage nicht klären. Werfen wir also Blicke auf Umfeld und Hintergrund!12 1821 beginnt erneut der Kampf der Griechen um ihre Befreiung von türkischer Herrschaft und um ihre Unabhängigkeit, lebhaft, ja begeistert auch im Ausland durch die »Philhellenen« unterstützt. Reden werden gehalten und Gelder gesammelt, nicht wenige gehen als Freiwillige nach Griechenland, unter ihnen aus Sachsen der 20-jährige Student Bernhard Moßdorf, der wenige Jahre später im Ringen um eine sächsische Verfassung einen entschieden demokratischen Entwurf vorlegen und dafür in der Haft auf dem Königstein ein frühes, schreckliches Ende finden wird.13 12 Zum Folgenden vgl. Reinhard Heydenreuter: Die erträumte Nation. Griechenlands Staatswerdung zwischen Philhellenismus und Militärintervention, in: Ders. u. a. (Hg.): Die erträumte Nation. Griechenlands Wiedergeburt im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 47–78; Karl Dickopf: Der Weg Griechenlands zur ›Souveränität‹ – ein immer noch aktuelles Lehrstück der Weltpolitik, ebenda, S. 79–81; ders.: Griechenlands Weg zum Verfassungsstaat, ebenda, S. 99–101. Ferner Werner Büngel: Der Philhellenismus in Deutschland 1821–1829, Marburg 1917; Johannes Irmscher: Der Philhellenismus in Preußen als Forschungsanliegen, in: Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin, Klasse Sprachen, Literatur, Kunst, 1966, Heft 2, Berlin 1966; Sandrine Maufroy: Le philhellénisme franco-allemand (1815–1848), Paris 2011. 13 Vgl. Volker Ruhland: Die bürgerliche Revolution von 1830/31 und Sachsens Übergang zum Verfassungsstaat, in: Dresdner Hefte, 8. Jg., Dresden 1991, Heft 26, S. 5–12; Adrian Dautz: Bernhard Moßdorfs radikal-demokratischer Verfassungsentwurf, ebenda, S. 41–46; sowie Volker Ruh-

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Die offizielle Politik hält sich, obwohl sie Interessen hat, bedeckt, ja seitens Preußens und Österreichs sogar abweisend: die Furcht vor Revolution und Republik ist stärker als die Solidarität mit den Christen im Osmanenreich. Wenn Russland den orthodoxen Glaubensbrüdern hilft, so hofft es auf Einfluss auf dem Balkan und im Mittelmeer – dies wünschen auch England und Frankreich, wogegen Österreich trotz des alten Gegensatzes gegen die Osmanen im Sultan einen legitimen Herrscher sieht, den es gegen jede Rebellion zu stützen gelte. Mehrmals missbilligen und verurteilen die Mächte der Heiligen Allianz die Erhebung und hindern in ihren Staaten nach Kräften alle Bemühungen um deren Unterstützung. Die Griechen verkünden ein Jahr später ihre Unabhängigkeit – als Republik! Die anfangs erfolgreichen Aufständischen geraten bald unter den Druck der brutalen türkischen Gegenoffensive. 1824 stellt Eugène Delacroix sein Gemälde Das Massaker auf Chios, verübt 1822, im Pariser Salon aus, welches große Wirkung tut. Eine zweite Welle der Unterstützung Griechenlands erhebt sich, an der sich nun auch Regierungen ihrer inneren und äußeren Interessen wegen beteiligen. Am 6. Juli 1827 einigen sich in London England, Frankreich und Russland auf die Anerkennung der Autonomie Griechenlands. Wenige Monate später siegt die Flotte der vereinten Mächte in der – bereits von Zeitgenossen zu beinahe mythischer Größe überhöhten – Seeschlacht von Navarino über die Türkenflotte. Das Osmanische Reich muss im Frieden von Adrianopel 1829 der Unabhängigkeit Griechenlands zustimmen. 1830 erkennen England, Frankreich und Russland als Schutzmächte Griechenland als einen unabhängigen Staat an, obwohl noch weite Bereiche des heutigen griechischen Staatsgebietes unter türkischer Herrschaft verbleiben. Die Schutzmächte suchen für ihren zwischen den gegensätzlichen Interessenmächten liegenden, ungeformten und ungefestigten Schutzstaat nach einer monarchischen Lösung der Regierungsform. Die griechische Königskrone wird auf Betreiben Frankreichs, das so gewissermaßen eine Westbindung Griechenlands zu sichern sucht, westeuropäischen Prinzen angeboten – Leopold von Sachsen-Coburg nimmt an und gibt sie wegen der in jeder Hinsicht unklaren und unsicheren Verhältnisse seiner künftigen Herrschaft bereits im Mai 1830 zurück. In Otto von Bayern, dem Sohn des philhellenisch gesonnenen Königs Ludwig I., findet sich schließlich 1832 der Kandidat, der dann in Griechenland als König herrschen sollte. Am 6. Februar 1833 zieht Otto in Nauplia, der damaligen Hauptstadt, ein, Regent zunächst bis zur Volljährigkeit. Knapp zwei Monate später räumt die türkische Besatzung die Akropolis von Athen, wiederum zwei Monate später liegen der Regierung in Nauplia die Pläne für die neue Hauptstadt Athen vor. Die Skizze des zeitgeschichtlichen Hintergrundes der Elegie, zu der wir nun zurückkehren, geriet nur scheinbar in Einzelheiten und Nebensächlichkeiten. Sie gibt vor allem die communis opinio zur Herrscherfindung für Hellas wieder, in der land: Die Rolle der Wettiner in der kleinstaatlichen bürgerlichen Revolution 1830/31 in Sachsen, in: Dresdner Hefte, Sonderheft 1990: Sachsen und die Wettiner – Chancen und Realitäten, S. 206–214.

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von dem sehr entfernten Wettiner-Verwandten des Coburgers, dem Prinzen Johann von Sachsen, als möglichem Kandidaten gewöhnlich nicht die Rede ist. Dieser berichtet jedoch in seinen Lebenserinnerungen, er habe im November 1829 »von Seiten des Französischen Hofes« die griechische Krone angetragen bekommen: »Es war die Zeit nach Navarin, wo Frankreich, England und Russland die Regelung dieser Angelegenheit in die Hand genommen hatten […]. Carl X. hatte mich zum Candidaten ausersehen.« Der Antrag habe für ihn »viel Verlockendes« gehabt, er habe sich auch »stets, wie viele Tausende, für die griechische Sache interessiert, und einen jungen Mann von 27 Jahren konnte die Aussicht auf eine so ruhmvolle Aufgabe nicht gleichgültig lassen.« Johann weist das Angebot als »untunlich« ab und ändert seine Entscheidung trotz weiterer französischer Vorstöße nicht. Er nennt seine Motive: Einmal seine Stellung – er sei der nächste »am vaterländischen Throne« nach seinem Bruder, er sei der Vater des (damals) einzigen Erben, von dem er sich nicht habe trennen wollen; zum anderen wisse er »aus hierländischen Erfahrungen«, »daß gerade für einen katholischen Fürsten die Sache ihre eigene schwierige und delicate Seite habe«. Rückblickend ist er drittens überzeugt, dass er wohl wegen seiner Individualität und damaligen Unerfahrenheit der Aufgabe nicht gewachsen gewesen wäre.14 Unser Text bezeugt auf eigene Weise das Angebot der griechischen Krone an Johann. Danach könnte das Angebot auch Gegenstand von Erwägungen im vertrauten Kreis von Freunden und Ratgebern gewesen sein. Diesem Kreis, der sich als Abendgesellschaft seit 1826 allmonatlich im Hause des Prinzen versammelte und in dem »in freister Unterredung die mannigfaltigsten Gegenstände besprochen und discutirt« wurden,15 gehörte neben dem Mediziner Carus, dem Diplomaten Graf Baudissin, dem Botaniker Reichenbach, dem Kartographen und Astronomen Lohrmann, dem Dichter Tieck und anderen wohl auch der altertumskundige Hofrat

14 Johann von Sachsen: Lebenserinnerungen (wie Anm. 5), S. 91f. In einem Brief an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen vom 26. November 1829 vertraute er diesem dieses »Geheimnis« an und führte die nämlichen Argumente wie in den Lebenserinnerungen für seine Absage an. Die Sache wird in diesem Briefwechsel Johanns sonst nirgends wieder erwähnt. Vgl. Johann Georg, Herzog zu Sachsen (Hg.), unter Mitwirkung von Hubert Ermisch: Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, Leipzig 1911, S. 73f. Da Johann in den Lebenserinnerungen von weiteren französischen Vorstößen spricht, können diese in das erste Halbjahr 1830 fallen, vor den Sturz Karls X. im Juni, vielleicht im Vorfeld des Angebots an den Coburger, oder aber auch danach in Fortsetzung dieser außenpolitischen Linie Frankreichs, die von besonderen dynastischen Interessen unabhängig war. Distel (vgl. Anm. 2) zitiert aus einem von ihm nicht datierten, aber zweifellos zeitnahen »Brief des Herzogs Joseph zu Sachsen-Altenburg aus jenen Tagen« an Johann, in dem er sein Verständnis für dessen Absage äußert. Das »Geheimnis«, von dem Johann schrieb, scheint so tief nicht gewesen zu sein. 15 Johann von Sachsen: Lebenserinnerungen (wie Anm. 5), S. 86.

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Böttiger an.16 Er, der über lange Jahre an einem kleineren Fürstensitz, am Hofe von Weimar, dank seiner schon zu seinen Lebzeiten sprichwörtlich gewordenen Ubiquität Einblicke in das politische Treiben bei Hofe hatte gewinnen können, wusste in seiner Weise aus Erfahrung recht gut, was da zu bedenken und zu raten war. Hier hätte die Elegie ihren »Sitz im Leben«, als Äußerung eines Ratgebers, mochte diesem das Problem auch auf Umwegen zugekommen sein. Allenthalben in Europa gerieten jedoch um 1830 die Verhältnisse aus den Fugen – Frankreich, Polen, Belgien, Italien seien nur als einige Brennpunkte genannt. Auch Sachsen war betroffen – aufgrund der Septemberunruhen in Leipzig und Dresden hatten Bürger der Mittelschicht Kommunalgarden gegen weitere revolutionäre Entwicklungen (des »Pöbels«) gebildet. Mit deren Anerkennung seitens der Regierung war Prinz Johann zu ihrem obersten Kommandeur berufen worden. Dem 75-jährigen König Anton trat Johanns vier Jahre älterer Bruder Friedrich August als Mitregent zur Seite. In dieser Situation eine Aussicht auf einen Königsthron, tñl’ a¬pécwn? Der Herr Hofrat widerrät entschieden. Er setzt vielmehr auf Stabilität für Sachsen, auf den, wie Johann sagen wird: vaterländischen Thron. Den hohen und strengen Erwartungen und Anforderungen an ein solches angetragenes Königtum, fern, in der Fremde, fremd unter Fremden, stellt er das idyllische Bild vom Ersten im Freundeskreis, im Genuss des Ertrags der eigenen Herde, ruhigen Sinns dem friedlichen Rauch aus den Hütten des Vaterlands nachsinnend, entgegen.17 Johanns oben angeführte Beweggründe für die Ablehnung finden sich wieder, wenn auch etwas verschleiert, ohne dessen politische Direktheit. Böttigers Rat erscheint eher wie eine kulturelle, literarische Ranke um die harten politischen Entscheidungen, geht aber bekräftigend in die gleiche Richtung. Und angesichts der noch durchaus unklaren griechischen Verhältnisse um 1830 – das neue Hellas war eine Republik, noch – 16 Zur Abendgesellschaft vgl. Ingo Zimmermann: Der Dante-Kreis des Prinzen Johann, in: Dresdner Hefte 8, Dresden 1991, Heft 26, 26–30. Der eigentliche Dante-Kreis, präziser: die von Johann so genannte Accademia Dantesca war enger als der wechselnde Kreis der Abendgesellschaften, deren Teilnehmer zudem auch in anderen, ähnlichen Zirkeln verkehrten. Solche Geselligkeiten fungierten, je nach Interesse und Geschmack der Teilnehmer, als »Tauschbörsen« ernsthafter Information, aber auch von Gerüchten bis hin zu Klatschereien. Daraus, dass Johann unter den Teilnehmern der Abendgesellschaften (vgl. Anm. 15) Böttiger nicht erwähnt, kann man nicht auf eine nicht vorhandene Nähe schließen, denn er nennt an der angezeigten Stelle nur einige Personen mit der Angabe: »besonders«. Nichterwähnungen können auch auf Abneigungen von Berichterstattern beruhen, so dass Urteile stets einer gründlichen Prüfung unterzogen werden sollten. 17 Anspielung auf den Erwerb eines Rittergutes durch Johann 1824 (vgl. Anm. 41); Johann erwarb dadurch nicht nur theoretische Einsichten und praktische Erfahrungen in der Landwirtschaft, sondern erfuhr auch eine eigentümliche Prägung seiner »conservativen Gesinnung«, insofern »die damaligen Rittergüter auch vieles (enthielten), was mit Recht und zum Besten des Ganzen seitdem geändert worden ist«. Johann von Sachsen: Lebenserinnerungen (wie Anm. 5), S. 80. Das Motiv »Landgut« spielt auch in anderen Poesien Böttigers für Johann eine Rolle.

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mag dem Homerkenner ein anderer Vers unausgesprochen im Sinn gelegen sein: ou¬k a¬gajòn polukoiraníh – ei©v koíranov e s¢ tw (Il. 2,204) »nicht Gutes ist Vielherrschaft

– nur einer sei Herrscher«. Die Datierung der Elegie ergibt sich aus einem anderen Text, der von Böttiger eindeutig auf den Vorabend des Neujahrstages 1830 fixiert ist (proeortíwı e™spéraı Kalandøn tøn Iannouaríwn MDCCCXXX), in dem es heißt, Griechenland sei nun frei: ¿Ellàv e¬leujéra nûn. Die Bemerkung geht wohl auf den Frieden von Adrianopel zwischen Russland und dem Osmanischen Reich im September 1829. Darauf folgt im Februar 1830 die Londoner Konferenz, in der England und Frankreich gegenüber Russland ihre Interessen in der causa Griechenland zu wahren suchen: aus diesen Dreier-Verhandlungen wird schließlich die Suche nach einem geeigneten Kandidaten für den von ihnen vorgesehenen griechischen Königsthron hervorgehen, die der katholische Hof von Paris freilich auf verdecktem diplomatischen Wege im November 1829 mit dem Antrag an den katholischen Prinzen Johann von Sachsen bereits eingeleitet hatte. Primus veniens primus molet. Republik sollte die neue Hellas auf keinen Fall bleiben. Einen je eigenen Thronprätendenten vermochten die Schutzmächte nicht durchzusetzen, als Kompromiss bot sich daher die Entscheidung für einen Prinzen aus einem der kleineren europäischen Höfe an. Die Bezeichnung Johanns als »Szepterträger« führt auf Ende 1830, wenn die Annahme zutrifft, der Ausdruck beziehe sich auf das Kommando über die Kommunalgarden. Dazu passt gut die Adresse der Elegie, in der Johann als filopatär apostrophiert wird, als einer, der dem Vater gehorcht und der gern Vater ist: Johanns Vater Maximilian, geboren 1759, hatte am 13. September 1830 zugunsten seines – noch immer kinderlosen – Sohnes Friedrich August auf die Thronfolge verzichtet, Johann selbst war im späten Jahr 1830 Vater von drei Kindern, ein viertes wurde erwartet. Unter den Kindern Johanns befand sich wenigstens ein männlicher Erbe, Albert, damit wohl ein wichtiger Grund für die Erwartung, Johann solle im Lande bleiben. Der zur Elegie als Zusatz angeführte Homervers schlägt über den Hinweis auf Hektor, den »Erhalter«, eine Brücke auch zu dessen Sohn Astyanax, der die ihm zugedachte Herrschaft schon im Namen trug. Die Berufung des im Grunde wenig militärischen Johann zum Generalkommandeur der Kommunalgarden sollte seine Position im Königshause für die Öffentlichkeit zusätzlich aufwerten: Schutzwehr Sachsens. Aus den Datierungserwägungen geht zugleich hervor, dass die Entscheidung Johanns gegen die Annahme der griechischen Krone nicht nur einem einmaligen, raschen Entschluss verdankt wird. Die Frage hatte nach Johanns Ablehnung Ende November 1829 am sächsischen Hofe wohl keine weitere Bedeutsamkeit mehr, sie wurde nicht als vordringlich behandelt, sondern der Zeit anheimgestellt – die von Johann erwähnten, wohl wegen Leopolds Absage erfolgten neuerlichen mehrfachen Vorstellungen seitens Frankreichs deuten darauf hin. In diese Bedenkzeit fielen dann einschneidende innere Ereignisse, die schließlich endgültig den abschlägigen Ausschlag ergaben. Die Elegie gehört also an das Ende des Jahres 1830 oder vielleicht an den Beginn des Folgejahres, in dem gewisse politische Veränderungen zwar auf den Weg gebracht 85

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waren, die innere Lage Sachsens aber insgesamt noch von manchen Unsicherheiten bestimmt war. In welchem Verhältnis die beiden Distichen aus der Mappe Johann zu der Elegie aus der Mappe Böttiger stehen, welchem der beiden Texte zeitliche Priorität zukommt, ob das Epigramm vielleicht der ursprüngliche Beginn der Elegie oder deren verdichtende Zusammenfassung und Summa ist, ob nicht doch trotz wörtlicher Übereinstimmungen zwei eigene Texte vorliegen, lässt sich nicht eindeutig entscheiden, da sich für alle solche Möglichkeiten plausible Argumente finden lassen. Zweifelsfrei ist aber die Zugehörigkeit beider Texte zu den Überlegungen im Königshause zum Angebot der griechischen Krone, von denen Böttiger ebenso zweifelsfrei Kenntnis hatte. Darauf lässt auch der folgende Text aus seiner Mappe schließen, ein Entwurf für drei Distichen, mit vorangestelltem Motto, Anrede und Überschrift. Stúloi men oi k¢ wn ei¬sì paîdev a¢rsenev

Eurip. Iph.Tau. S, 77 Olbie Sassoníhv kosmhtwr eucómenóv soi Pátridov e¬n bwmøı ∫Arcoménou e t¢ eov periploménwn e¬niautøn Eu¢comai tøı stúlwı pátridov, oÇssa jémiv Stúlon Sassoníhv gar, Anax, pántev se kaleûmen Ofjálmouv epi soû phgnus’ eÇkastov a¬när Ellav e¬pibwstreî se kalon kosmhtora láwn, 18 Ou¢ men a¬fhken u™iòn a¢gkav e c¢ ousa patrív.

Die Übersetzung: Stützpfeiler der Häuser sind Kinder, männliche. Euripides, Iphigenie bei den Taurern 57 Vom Glücke Gesegneter Sachsens Ordner, bittend für dich [stehe ich] An des Vaterlands Altar Zu Beginn eines Jahres der kreisenden Jahre Erbitte ich für den Stützpfeiler des Vaterlands alles, was (zu erbitten) recht ist. Denn den Stützpfeiler Sachsens, Herr, nennen dich alle, die Augen auf dich richtet fest jeder Mann. Hellas ruft dich zu Hilfe als den rechten Ordner der Kriegerscharen, doch nicht lässt fort den Sohn, ihn mit den Armen haltend, das Vaterland.

Der Text weist auf einen Jahresanfang, aber welchen Jahres? 1830 oder 1831? Auf die Rückseite des Zettels hat Böttiger den Entwurf einer Fortsetzung geschrieben. Darin sagt er, dass die Götter ein männliches Kind gesandt haben: ach, schickten sie doch 18 1 stûloi mèn, apud Eur. l.c. gàr 2 recte v. 57; legi litteram »S«, quae Stobaeum auctorem kíona –––––– tà significare videtur 3 Sassoníhv litteram s sub atramenti macula tectam suspicor / –– del. B / kosmätor / eu¬cómenov 4 patrídov, sic infra v. 6 / supra scriptum Eu¢cesj’ estì jemiv patrídov e¬n 7 stûlon / gàr, ºAnax / kaleoûmen 8 o¬fjalmoùv e¬pì / pägnus’ 9 ∫Ellàv / kalòn kosmätora 10 ou¬ mèn / sub linea 10 scriptum All’ e¬mfûs’ u™iøı a¢gkav e¢cei se patrív; in marg. sin. iuxta lineam 4 Kíona Sassoniäv et a¬mfagapázomene.

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eine dann zweifache Knabenkindsgeburt! »Zweifach« meint nicht: Zwillingsgeburt, sondern: noch einmal, zum zweiten Male die Geburt eines Knaben. Da er im Weiteren auf die Frühlingszeit verweist, in der das Jahr blühen werde, liegt wohl der Jahresanfang 1831 näher. Die Aussage passt besser zum Geburtstag Ernsts am 5. April 1831 als zu dem Elisabeths am 4. Februar 1830. Die beiden Töchter Johanns werden nicht ausdrücklich erwähnt, alles Augenmerk richtet sich auf männliche Nachkommenschaft: das Motto aus Euripides’ Iphigeneia trägt Böttiger beharrlich immer wieder vor. Nur in diesem Text ist der Ausdruck kosmätwr verwendet, und zwar, wie er etwa in Ilias 1,16 u. ö. als umschreibende Bezeichnung für »Herrscher, König« erscheint in der Funktion eines, der die Kriegerscharen ordnet.19 Das kann auf die Erwartungen an einen griechischen König gehen, kann aber auch wohl besser auf Johanns Kommando über die Kommunalgarden bezogen werden. Das könnte einen Datierungsansatz für die Elegie auch auf Anfang 1831 stützen, auf die Zeit noch vor den Dresdner Unruhen von März/April 1831. Der Ausdruck kosmätora láwn mag von Böttiger nicht zufällig und beliebig, sondern absichtsvoll gesetzt sein. Dann hätte man eine Anspielung auf die königlichen Brüder der Ilias, Agamemnon und Menelaos, den Befehlshaber des gesamten Griechenheeres vor Troja und den Chef einer Teilstreitmacht, als seien diese die typologischen Vorbilder für die Brüder Friedrich August, den Mitregenten, und Johann, den Gardenkommandeur. Dass man das Motiv nicht auf seine weitere Stimmigkeit hin verfolgen sollte, muss nicht viel besagen – es war vielleicht nur auf diesen begrenzten Wiedererkennungseffekt angelegt. Die vorgeschlagene Datierung könnte, wenn sie denn zutrifft, die These stützen, die endgültig abschlägige Entscheidung gegen die Annahme der griechischen Krone sei nicht so rasch gefallen, wie es Johann in seinen autobiographischen Aufzeichnungen darstellt. Die Elegie, von der unsere Überlegungen ihren Ausgang nahmen, blieb unpubliziert. Sie fand auch keine Aufnahme in die Sammlung lateinischer und griechischer Gedichte Böttigers, die noch zu dessen Lebzeiten sein Schüler Karl Julius Sillig vorbereitet und dann 1837 im Anhang zu den Opuscula Böttigers veröffentlicht hat.20 Aus dem auf »die griechische Sache« bezogenen Gedankenkreis fand nur der folgende Text – auffällig als erster, einleitender Text der Sammlung Sillig positioniert –

19 An Homerismen beispielshalber nur periploménwn e¬niautøn Od. 1,16; h. Dem. 266, singularisch Od. 11,248; Il. 23,833; kosmätore láwn Il. 1,16. 3, 236; singularisch Od. 18,152; a¢gkav e¢cein Il. 14,353. 20 »In der lateinischen Sprache dichtete er mit großer Gewandtheit und fast classischer Diction […] Auch in griechischer Sprache […] sind kleine Gedichte von ihm vorhanden, und in ersterer Sprache [d. h. in griechischer? P. W.] wurde ihm auch von dem verehrten königlichen Prinzen und glücklichen Übersetzer des Dante gedankt, der sich trotz seiner vielen Geschäfte noch immer für die griechischen Classiker, seine Lieblinge, Anfangs unter B.s Begleitung, einige Stunden wöchentlich abmüßigen konnte.« Karl Wilhelm Böttiger: Karl August Böttiger. Eine biographische Skizze von dessen Sohne, Leipzig 1837, S. 104.

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den Weg in die Öffentlichkeit.21 Hier die unveröffentlichte Fassung in der Mappe mit den Gedichten, wobei die Varianten der von Sillig publizierten Fassung im kritischen Apparat vermerkt sind: ¿H ¿Ellàv pròv toùv neouv e¬n tñı paideíaı tñı ¿Ellhnikñı pe – paideuménouvı Pâsan o™mhlikíhn Mousøn kratérouv jerápontav ¿Ellàv a¬paiteîtai jréptra trofñv a¬gajñv. Paîdav e¬moùv ºEmpousa ––––f–––– ágei. – a¬palálkete låbhn. Såzete toùv loipoùv toùv u™pokolpidíouv. Taûta boâ stugerñv Tourkøn ––– tufje ––îs’ ––– u™p’ i™másjlhv 22 Tñv Drésdhv e¬leeî h™ neolaía boán.

Die Übersetzung: Griechenland an die Jugend, die in griechischer Bildung und Kultur erzogen ist Von allen den Altersgenossen, der Musen wackeren Dienern, fordert Hellas ein den Ziehlohn für treffliche Nahrung. Meine Kinder vernichtet Empusa – wehrt ab die Misshandlung! Rettet, die noch übrig, die noch im Schoße der Mutter! Das schreit Hellas, geschlagen von der Türken grässlicher Geißel. Dresdens Jugend erbarmt sich des Schreiens.

Die handschriftliche Fassung wurde gewählt, weil sie am Beispiel erkennen lässt, wie Böttiger eine rasch hingeworfene erste Fassung immer wieder geändert hat. Das betraf nicht in erster Linie Orthographisches – auffällige Errata blieben auch auf anderen Blättern sehr lange unangetastet – sondern die Formulierungen, Wortwahl und Wortstellung: Man ist versucht, die bei Sillig überlieferten Varianten 21 Philhellenisches findet sich bei Johann eher gedämpft. Die Bildtapete auf Schloss Weesenstein mit Darstellungen aus dem griechischen Freiheitskampf wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg dorthin verbracht. Das Pseudonym »Philalethes« gehört trotz des griechischen Wortes nicht in diesen Zusammenhang: vgl. Patrick Ostermann: Philalethes – zur Genese der Verwendung des Pseudonyms von König Johann von Sachsen als Dante-Übersetzer, in: Andrea Dietrich u. a. (Hg.): Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873, Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 8, Leipzig 2004, S. 217–251. Bei seinen Studien griechischer Sprache und Literatur ging es ihm, wohl ohne philhellenischen Überschwang – er sagt ja recht kühl, »die griechische Sache« habe ihn stets »interessiert« –, vor allem um einen direkten Zugang zu den antiken Texten. Der Briefwechsel (vgl. Anm. 14) enthält fast keine Graeca, auch nicht die Sammlung der Poetica des Prinzen im HStA Dresden (12561 Fürstennachlaß Johann, Nr. 12a). 22 1 neouv supra lineam 4 kratérouv] jaleroùv Sillig 5 litt. quaedam non intellegibiles supra agajñv / a™gíhv Sillig 6 Fjeírei paíd. e¬m. Sillig / del. B. – a per err. / del. B fagei, in marg. sin. sfattei 7 u™pokolp.] e¬pimastidíouv Sillig 8 boa] boâı Sillig / B. del. tufjeîs’ suprascripsit plhcjeîs’/ gnafjeîs’ Sillig / u™p’ aspirationem negl. B. – Homerisches Wortgut findet sich auch hier, obgleich nicht so stark hervortretend, insbes. seien genannt Il. 13,431; Od. 3,364; 13,82; h. Hom. 32,20.

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gnafjeîs[a sc. ¿Elláv das unter der Geißel gekrümmte Hellas] und èpimastidíouv [sc. paîdav die an der Brust liegenden bzw. zur Brust hinstrebenden Kinder] mit der

Kenntnis des Gemäldes von Delacroix zu verbinden. Eine Kurzelegie, wiederum auch im Homerisieren an das Vorbild der frühen griechischen Elegiendichtung erinnernd,23 1826 veröffentlicht in der Zeitung für die elegante Welt, zu einer Zeit, als Philhellenismus im Regierungskalkül eine Rolle zu spielen begann. Sie trifft sich mit jener Strömung, welche die zeitgenössischen Griechen in nationaler und – nicht zuletzt – in romantischem Überschwang auch kultureller Kontinuität mit den Griechen der klassischen Antike sah.24 Vielleicht gaben Aufrufe wie der des Arztes Christoph Wilhelm Hufeland in den Berliner Zeitungen vom 25. April 1826 Anregung: Das Schicksal des unglücklichen griechischen Volkes muß jedem fühlenden Menschen das Herz zerreißen. Die Opfer des Krieges und der barbarischen Grausamkeit mehren sich jetzt auf eine furchtbare Weise, und Tausende unschuldiger Weiber und Kinder, dem Hunger und allem Elend preisgegeben, strecken ihre Hände nach Hilfe aus. Diesen Unglücklichen, unsern Mitchristen, zu Hilfe zu kommen, ihr Elend möglichst zu lindern, ist der Wunsch, ja, ich weiß es: der Drang aller, die ein menschliches Herz haben.25

Böttiger artikuliert nur den Hilferuf Griechenlands, stellt dem Leser den Schluss für eigenes Handeln anheim, bedrängt ihn nicht mit Solons Aufruf i o¢ men e¬v Salamîna machsómenoi Auf, lasst uns ziehn nach Salamis, um zu kämpfen – vielleicht tat er das mit dem Gespür, es schicke sich für einen Mittsechziger nicht wohl, mit markigen Worten Jüngere, denn an diese ist die Elegie gerichtet, in den Krieg zu schicken.26 Den entschiedenen »Philhellenen« freilich musste Böttigers nichtaktivistische Position missfallen. 23 »Gehalt und sprachliche Form [der älteren griechischen Elegie] sind so stark vom Epos her bestimmt, dass in gewissem Sinne, wie Wilamowitz es formulierte, die Elegie wirklich als dessen Seitenschoß anzusehen ist. Es konnte im Grunde gar nicht anders sein, als dass Dichtung in daktylischen Maßen all das Formengut verwendete, das in der homerischen Dichtung bereitlag und jedermann im Ohre klang.« Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur, München 1993, S. 144. Böttiger macht z. B. Gebrauch von der Möglichkeit, bei der Anzeige von Vergangenheitsformen des Verbums auf das kennzeichnende Augment zu verzichten. Der fakultative Gebrauch des Kennzeichens war im Epos, und das hieß: bei Homer, metrisch bedingt, so dass unter dem Einfluss des Epos diese Praxis als dichterisch und zugleich altertümlich galt, vgl. Manfred Landfester: Einführung in die Stilistik der griechischen und lateinischen Literatursprachen, Darmstadt 1997, S. 67. 24 Vgl. den Artikel Philhellenismus, in: Hubert Canik u. a. (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 15/2, Stuttgart, Weimar 2002, Sp. 231–237. 25 Zitiert nach Irmscher: Der Philhellenismus in Preußen (wie Anm. 12), S. 35f. 26 Um 600 v. Chr. stritten Athen und Megara um die Insel Salamis. Solon soll mit einer von ihm öffentlich vorgetragenen Elegie seine Mitbürger aufgefordert haben, den Kampf um Salamis wieder aufzunehmen. Vgl. Plutarch: Solon 8; das Zitat aus der Elegie Salamis bei Diog. Laert. 1,46. In solche Kerbe schlug eher König Ludwig von Bayern, bei dem es heißt: »Auf Hellenen,

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Merkwürdig selten kommt in der Sammlung – nicht nur bei Sillig, sondern überhaupt in Böttigers Nachlassmappe – ein direkter Hinweis auf Philhellenismus vor, z. B. wenn Böttiger sich auf einem Blatt als Boittígerov filéllhn nennt. Das Blatt ist in bewusster Zeilenanordnung, ohne Korrekturen und sehr säuberlich geschrieben: Tøı sebasmiotátwı kaì eu¬daimonestátwı ºArconti tñv Saxoníav IWANNHi Stúlwı tñv Saxoníav a¬sfalestátwı kaì oi k¢ wı tøı Basilikøı tøı a¬rcaiotátwı tøı megaloprepestátwı tøı ei¬v a¬eì a¬kmázonti stúlouv i¬scuroùv u™posthsaménwı e¬pì toû eu¬aggelíou tæn Gametæn tæn semnotáthn kuofóron ei®nai jumíama eu¬caristärion W paîdev, oi©on fíltron a¬njråpoiv frenóv. Makáriov oçstiv eu¬túchsen ei v¢ tékna. STULOI gàr oi®kwn paîdev ei¬sin a¢rr ¬ e™ nev.

Euripides. 27

Boittígerov filéllhn.

Die Übersetzung: Dem höchstverehrungswürdigen und von der Gottheit höchst gesegneten Herzog zu Sachsen Johann, dem sichersten Stützpfeiler Sachsens, der dem Königlichen Hause, dem hoch altehrwürdigen, dem herrlichsten, dem auf immer blühenden, kräftige Stützpfeiler errichtet hat zu der frohen Kunde, die Gemahlin, die hochverehrungswürdige, sei schwanger, ein Glückwunsch-, Dank- und Weihrauchopfer.

zu den Waffen alle!« und »Hellenen, kämpft den Kampf des Todes!« Zitiert nach Heydenreuter u. a.: Die erträumte Nation (wie Anm. 12), S. 39. Zu Böttigers Position vgl. Julia A. SchmidtFunke (wie Anm. 5) im Abschnitt: Politisierung der Antike: Böttiger und der Philhellenismus, S. 118–124. 27 1 sebasmiwtátwı.

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Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet? O Kinder, was für ein Liebeszauber für den Sinn seid ihr den Menschen. Glückselig, wer vom Glück begünstigt ist mit Kindern. STÜTZPFEILER nämlich der Häuser sind Kinder, männliche. Euripides. Böttiger, der Griechenfreund.28

Das Blatt war kein Deckblatt für weiteren, den eigentlichen Text, der dann aber verloren wäre, sondern das Glückwunsch-, Dank- und Weihrauchopfer selbst. Als Datierung bietet sich dank weiterer Texte des Nachlasses mit guter Sicherheit der Juni 1826 an. Böttiger verteidigt in einem Brief an Johann – enthalten im oben genannten Konvolut Msc. Dresd. h. 37, Verm. XIII, 2 – eine seinem griechischen Text beigegebene Übersetzung derart, dass man auf eine (nach damaligen Ansichten) »heikle Sache« schließen kann. Das dürfte nach dem Datum des Briefes – »20. Juny 1826« – die offizielle Mitteilung von der (ersten) Schwangerschaft Amaliens gewesen sein. Dieses Ereignis war seit langem ersehnt, und alle dynastische Hoffnung ruhte auf der Familie Johanns. Dessen erstes Kind, die Tochter Maria, wurde am 22. Januar 1827 geboren. Das Schlüsselwort für die Briefstelle ist das im Glückwunsch auf die Schwangerschaft Amaliens hinweisende Wort kuofórov »schwanger«, »trächtig«. Böttiger behauptet, es sei dies »im Griechischen ein klassischer Ausdruck« für etwas, das »in unserer schüchternen Muttersprache nur mit Umschreibung zu sagen gestattet ist«. Er fürchtete offenbar, Anstoß zu erregen. Tatsächlich ist das Wort keineswegs so klassisch, wie behauptet, es kommt vielmehr bei eher entlegenen Autoren vor, was Böttiger zweifellos wusste; zudem musste er befürchten, dass Johann das bei Homer vorkommende Verbum kuéw kennt, von dem kuofórov hergeleitet ist. Das Verbum wird bei Homer ebenso von einer Frau (Ilias 19,117) wie von einer Stute (Ilias 23, 266) gesagt. In einer Reinschriftfassung des Textes hat er die Stelle dann weggelassen und das Wort später nicht wieder verwendet. In der Adresse beider Fassungen betont er in auffälliger Epitheta-Häufung den altehrwürdigen Glanz des sächsischen Herrscherhauses und die wichtige, ja entscheidende stützende Rolle des Prinzen Johann für den Fortbestand der Dynastie. Die drei Zeilen der Euripides-Zitate lässt er in der Reinschriftfassung nicht weg – diese Zielrichtung: Erwartung männlicher Nachkommenschaft, wird von nun an immer wieder erinnert. Mit der Datierung wird auch klarer, was hier unter filéllhn zu verstehen ist. Wir befinden uns zwar schon in der Zeit, da der Philhellenismus als politische und kul28 Die Euripidesverse stammen aus unterschiedlichen Tragödien und sind von Böttiger z. T. etwas verändert angeführt: Alkmene: deinón ti téknwn fíltron e¢jhken (oder: e¢nhken) jeòv a¬njråpoiv eine ganz unwiderstehliche Zuneigung zu den Kindern gab die Gottheit dem Menschen, Übersetzung: Gustav Adolf Seeck, in: Ders.: Euripides. Sämtliche Tragödien und Fragmente, griechisch–deutsch, Bd. 6, München 1981, S. 46f., Fragment Nr. 103 = Mette 135; Orestes 542: zhlwtòv oçstiv hu¬túchsen ei¬v tékna Übers. wie oben; Iphigenie bei den Taurern 57, Text und Übersetzung wie oben. Böttigers Stellenangabe zu dem Iphigenien-Zitat führt auf Benutzung der Exzerptensammlung des Johannes Stobaios aus dem 5. Jh. n. Chr., wie denn die drei zitierten Verse des Euripides insgesamt sehr auf Zitation aus zweiter Hand hindeuten.

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turelle Bewegung auch in den Interessenkonkurrenzen der Mächte der Heiligen Allianz offiziell wurde, hier aber – ganz schlicht – noch in (oder kurz nach) der Zeit der Griechisch-Studien des Prinzen Johann unter Anleitung und Betreuung Böttigers. Es dient hier der Ausdruck filéllhn der Vergewisserung einer Gemeinsamkeit zwischen dem Prinzen und dem Hofrat, nämlich in der Neigung zu und der Beschäftigung mit antiken Autoren. Trotz des nur wenig späteren Aufrufs für Griechenland (Sillig I) wendet Böttiger seinen Philhellenismus aus dem direkten Engagement für die Sache Griechenlands ins Vaterländische, auf die sächsische Dynastie, aus der Sphäre der Realpolitik ins Ästhetische, in die Sphäre kenntnisreicher Bildung. Philhellenismus war nicht begrenzt auf ein aktivistisches Engagement für »die griechische Sache«, sondern ein viele, unterschiedliche, auch gegensätzliche Strebungen umfassendes, sozial und kulturell weitgefächertes und sich auch wandelndes Phänomen. Böttiger ist darin nur ein Moment. Böttiger hat hier aber nun das Thema, das ihn vornehmlich bewegt und das die weitaus meisten der Poesien in der Mappe beherrscht: der Kindersegen im Herrscherhause, das heißt: im Hause Johanns, und die damit erwartbare Stabilität der Dynastie. Man versteht gut, wenn er seinem Schüler im Griechischen zur Geburt des ersten Kindes mit einem griechischen Gedicht gratuliert. Das wird, der Konvention gemäß, fortgesetzt und verfestigt sich: Böttiger hat die Geburt von sechs der neun Kinder Johanns und Amaliens zwischen 1827 und 1834 miterlebt. In den Mittelpunkt seines Interesses rückt er aber stets nur die männliche Nachkommenschaft. Dem ersten Glückwunschgedicht, in Silligs Sammlung als II platziert, merkt man eine gelinde Enttäuschung an: ein Mädchen. Wie ein Trost wird eilends vorgebracht, sie werde einst Königin sein und Mutter von Königen (was ja keineswegs zwangsläufig so eintreten musste und auch nicht eingetreten ist). Von solchen Aussichten abgesehen, wird der erstgeborenen Tochter eine zeitlich nähere Aufgabe zuerkannt: sie kam als prwtággelov paídwn a¬rr¬ e™ nikøn, als Erst-Bote, als Vor-Botin männlicher Kinder. Der Ausdruck »Protangelos«, der nicht nur eine Position in einer numerischen Folge, sondern auch eine Rangstufe bezeichnet, verhüllt nur schwach die Herabsetzung, dass da »nur eine Tochter« geboren ist. Das Gedicht schließt mit dem Gedanken, die Gemahlin lebe und die Hoffnung sei heil, und so sei alles gut: Zñı a¢locov kaì søv e¬lpív, açpanta sóa. Umso kräftiger und freudiger hebt sich der Jubel nach Alberts Geburt (am 23. April 1828), bei Sillig III: »Auf den neuerblühten Spross der heiligen [d. h. der königlichen] Raute« Mäterov e¬k kólpwn paîv e k¢ jore, cárma polítaiv, Eu¬caîv h™metéraiv nûn e¬péneuse Qeóv. ºOlbie paî, tripójhtov e f ¢ uv, tríllistov e¬n h™mîn, Nñmá te geinaménwı Moîr’ e¬péklws’ a¬gajón. ºEkgonon h™ THQH tòn e¬pwlénion jám’ e k¢ ussen, ¿H Såteir’ e¬fánh gñv a¬pò thledákou. Eu¬fämhs’ o™ PATHR kaì e¬peúxato pótnia MHTHR Søn e m ¢ enai, jállein ei¬v e¢tov e¬x e¢teov.

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Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet? Téknon i¬døn Basileùv ANTWNIOS e¬xeboäsen: Päganon h™méteron fúllon e ¢blaste néon. Sún t’ eu¬hgoríhı, sún t’ eu¢gmasi, sún t’ o¬lolugaîv ¿H patrìv eu¬fämwv a¢rr ¬ e™ na paîda boâı. Caîre még’ u™mnhjeìv, e¬peì ou¬ basileúterov a¢llov. 29 ∫Anjologeî soi e¢ar, stémmasi pánta brúei.

Die Übersetzung: Aus dem Schoße der Mutter sprang das Kind hervor, eine Freude den Bürgern, unseren Gebeten hat nun die Gottheit zugestimmt. Glückseliger Knabe, dreifach ersehnt bist du da, viel erfleht bei uns, einen guten Faden hat die Moira dem Neugeborenen geknüpft. Den Sprössling hat oft in ihren Armen die GROSSMUTTER geküsst, die rettende Göttin erschien, gekommen aus fern liegendem Land. Freudig jubelte der VATER und dankbar betete die MUTTER, dass Du gesund bist, dass Du blühest von Jahr zu Jahr. Als er das Kind sah, schrie laut auf der König ANTON: Unser Stamm trieb ein neues Blatt. Mit Preis, mit Gebet, mit Jubelgeschrei ruft das Vaterland dem männlichen Kinde glückwünschend zu: Sei gegrüßt, sehr Gepriesener, da nicht königlicher ist ein anderer. Blumen sammelt dir der Frühling, von Lorbeerzweigen ergrünt alles.

Der Gegensatz des Gedichts auf die Geburt der Tochter Maria und des auf die Geburt des Sohnes Albert fällt recht schroff aus. Bei Sillig folgen die beiden Texte als II und III unmittelbar aufeinander. Böttigers Anteilnahme am Bestand der Dynastie, der über die männliche Erbfolge gesichert wird, ist offensichtlich. Nur hier wird die Dynastie über drei Generationen aufgerufen – die Großmutter,30 Johann, der Vater, 29 Für dieses Stück wie für alle Gedichte der Appendix Silligiana gilt, dass sie von Homerismen durchsetzt sind. Das betrifft die Wahl metrisch gut passender Wortformen, den fakultativen Gebrauch des Augments als Vergangenheitsanzeiger, das Nebeneinander von Formen unterschiedlicher Dialekte, den Gebrauch epischer Wörter anstelle solcher gewöhnlicher Alltagsprosa, Verwendung von eigenen, aber eben episch klingenden Wortprägungen, aber auch direkte Zitationen (Auswahl): e¬n a¬gkalídessi / tokäwn Il. 22,503 und 508; pótnia mäthr Il. 6,471.18,35. Od. 18,5; r™ododáktulov ∫Håv Il. 6,175. Od. 2,1; a¬rcékakov / a¬mfidédhe Il. 5,63 und 6,329; dídou caríessan a¬moibän Od. 3,58; mogostókov Ei¬leíjuia Il. 16,187. 19,103, pluralisch 11,270; h™dù gelân Od. 16,354.18,35; méga kûdov / o¬pázein Il. 9,673.10,544 und Od. 15,320; potì goúnata pappázein Il. 5,408. 30 Nicht die leibliche Großmutter des Prinzen Albert väterlicherseits, Carolina Maria Theresia Josephina von Parma, verstorben 1804; der Großvater, Maximilian von Sachsen, hatte in dynastischem Interesse 1825 ein zweites Mal geheiratet, und zwar Maria Luisa Carlotta, Tochter König Ludwigs von Etrurien, eine Nichte seiner ersten Frau, geboren 1802, die als »Stiefgroßmutter« ebenfalls nicht in Frage kommt. Nach Briefwechsel (wie Anm. 14), S. 16, Anm. 2, hielt sich die Mutter Amaliens, Karoline, Witwe König Maximilians I. von Bayern, von März bis Juni 1828 in Dresden auf. Die Erwähnung der Großmutter, der mutterseitigen, bringt unter der Hand wieder das Motiv »Mutter von Königen« (Sillig II) ins Spiel.

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und Amalie, die Mutter, dazu der hochbetagte, regierende König Anton, dessen vier Kinder frühzeitig verstorben waren. Die Wendung »ou¬ basileúterov a¢llov Kein anderer ist würdiger, König zu sein« bietet einen schönen, regelmäßigen Hexameterschluss, so dass Böttiger sie wie ein Versatzstück verwendet: einmal hier für das Neugeborene, wo es eine übertreibende Schmeichelei ist, dann nochmals in den Überlegungen zum Angebot der griechischen Krone, wo es, auf Johann bezogen, gewiss besser angebracht und ernsthaft gemeint ist. Und er verleiht dem freudigen Ereignis im Hause des Herzogs Johann (NB: regierender Herrscher war Anton, noch lebte sein immerhin vier Jahre jüngerer Bruder Maximilian, der nächste Anwärter auf den sächsischen Thron, und dessen Sohn Friedrich August stand noch vor Johann, seinem jüngeren Bruder) weitreichende Bedeutung für die Zukunft des Hauses und des gesamten Landes. Dass es Jahrzehnte später so kommen würde, dass Albert König wurde (1873), konnte Böttiger freilich weder ahnen noch wissen. In Entwürfen zu dieser panegyrischen Elegie hatte sich Böttiger sogar unmittelbar an den Neugeborenen gewandt: ºOlbie paî, tríllistov e¢fuv, tripójhton e¬n h™mîn Kaí soi geinaménwı pâs’ e¢gelasse pátriv usw.

bzw. in einem anderen Ansatz: Caîre meg’ w¬ kale paî, e¬pei ou basileuterov a¢llov usw.

Die Übersetzung: Glückgesegneter Knabe, viel erfleht bist du nun da, dreifach ersehnt bei uns, und dir, dem Geborenen, lacht zu das ganze Vaterland usw. … Sei gegrüßt, schöner Knabe, da nicht königlicher ist ein anderer usw.31

Albert erhält zum dritten Geburtstag, das ist in der Nachlassmappe singulär, ein ihm gewidmetes Geburtstagsgedicht. Der Text enthält, vom Eintrag einer Variante eines Versabschnitts abgesehen, fast keine Korrekturen und kann somit als Vorlage einer Reinschrift gelten, die anlässlich der Feier überreicht wurde. Auf der Rückseite des Blattes befindet sich eine z. T. schwer lesbare deutsche Fassung, Skizze einer Übersetzung, wie sie Böttiger gewöhnlich beigab. Albértwı tøı eu¬elpídi tøı Saxonikñv dunasteîav e¬kgónwı kaì stúlwı tñv patrídov a¬stemfeî ei¬v tà tríta genéjlia Qállei i™eròn e r¢ nov a¬eì, polù meîzon i d¢ esjai Albértou genéjlhn pâsa patrìv boáei. Olbízoi te TOKHAS, o™t’ ei¬soroøsi péthla

31 Der griechische Text nach der Handschrift, auf Korrekturen ist hier verzichtet.

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Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet? Ta tría toû premnou e¬xanatellómena. Tà trià kalà. kalòn tò prooímion e¬stin, a¬ll’ au¬dâı ∫Andròv tétraktun toû Samíou sofía. Albert’ w¬ kalè paî, Soû zøntov pánta téjhle Akmáseiv kraterøv ei¬v e t¢ ov e¬x e¬téov. Allon a¬delfòn e¬peì duò nûn pojeousin adelfaí Tétraktun døsei tan i™eràn o¬ jeóv. Døsei kaì polufúllon a¬éxev päganon h™mîn 32 Alla Su prwtogenäv. Sou kléov ou dúetai.

Die Übersetzung: Albert, dem hoffnungsreichen Spross der sächsischen Dynastie, des Vaterlandes unerschütterlichem Stützpfeiler, zum dritten Geburtstagsfeste. Es blüht das heilige Reis immer, viel mehr Nachkommenschaft Alberts zu sehen ruft wünschend das gesamte Vaterland. Er beglücke die ELTERN, wenn sie hinblicken auf die Blätter, die drei, des Stammes, die hervorgekommen. Die drei sind schön, schön ist das Vorspiel, aber ertönen lässt die Vierzahl die Weisheit des Mannes von Samos. Albert, schöner Knabe, dieweil Du lebst, blüht (der Stamm), kräftig wirst Du gedeihen von Jahr zu Jahr. Da nun einen zweiten Bruder die beiden Schwestern ersehnen, wird die heilige Vierzahl die Gottheit geben. Sie wird auch uns einen vielblättrigen gesegneten Stamm geben – aber Du bist der Erstgeborene, Dein Ruhm wird nicht untergehen.

Thematisch wird aufgenommen und fortgeführt, was oben bereits dargestellt wurde. Motive kehren wieder, im Ganzen ist das Stück nicht besser und nicht schlechter als die anderen. Wie stets, weiß der Verfasser seine Worte wohl zu setzen. Die Anrede an Albert – der Text geht ja aber eigentlich doch an Johann – ist mit einem Chiasmus kunstvoll ausgeziert: Adjektiv – Genitivattribut – Substantiv – Substantiv – Genitivattribut – Adjektiv, so die formale Struktur, in der als Gedankentransporteure die Außenglieder nach innen hin bzw. die Binnenglieder nach außen hin semantisch aufeinander bezogen sind und in den Mittelgliedern die Dynastie aufs engste mit dem Vaterlande verknüpft wird. In Silligs Sammlung hat das Gedicht keine Aufnahme gefunden. Böttiger hat es wohl unterdrückt und in seiner Zettelmappe belassen. Er spricht deutlich von einer Vierzahl, die erwartet wird, die aber noch nicht Realität ist – sie wurde es am 5. April 1831 mit der Geburt Ernsts, des vierten Kindes. Der dritte Geburtstag Alberts fiel auf den 23. April 1831, also mehr als zwei Wochen später. Da hatte aber das vierte Kind bereits das Licht der Welt erblickt, Böttiger wäre mit seinem Glückwunsch zu spät gekommen, und der hätte so, mit

32 1–17 Neque vocum neque aspirationum notas correxi; inter tertium et quartum versum B. inseruit jalloushv ekgone tñv prasiâv; sexto versu içeran del. B.

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seinem Ausblick auf Erhofftes, auch nicht mehr recht gepasst. Das mag der Grund gewesen sein, das Gedicht zurückzuhalten. Geht man auf den 23. April 1830 zurück, zählt also nicht die Wiederkehren des Geburtstags, geriete Böttiger angesichts der Daten in die Rolle des Ermunterers der Zeugungstätigkeit im Königshause, in eine Rolle, die ihm doch wohl nicht zugestanden hätte. Freilich hätte er auch nur einem allgemeinen Wunsche Ausdruck gegeben haben können, die Dynastie sei durch einen einzigen männlichen Nachkommen nur unzureichend gesichert.33 Für die Datierung wird man daher wohl die Zeit kurz vor Ernsts Geburt annehmen müssen. Das bevorstehende Ereignis ist im Futurum angekündigt, die beiden Schwestern Maria und Elisabeth lässt der Autor sich einen zweiten Bruder wünschen, er selber spricht in Unkenntnis des Geschlechts des noch ungeborenen Kindes nur von einer Vierzahl, der heiligen Pythagoreischen Tetraktys. Da hatte Böttiger wohl sein carmen wie auf Vorrat gefertigt. Wie auch immer die Sache ausgehen mochte – Böttiger zeigte mit dem kunstvollen Chiasmus der Widmung und der nicht minder raffinierten Schlusswendung an Albert: Du bist und bleibst der Erstgeborene, sowohl seine Geschicklichkeit im Verfertigen dergleichen Poesien als auch sein Interesse an der Erhaltung des Herrscherhauses. Das Thema der herrschaftsichernden Nachkommenschaft prägt in auffälliger Weise die kleine Sammlung Silligs. Nach den oben besprochenen Stücken II und III folgt mit IV ein Glückwunsch zum Geburtstag Johanns am 12. Dezember 1830 mit dem Hinweis tétartov [paîv] ou¬ braduneî das vierte [Kind] lässt nicht auf sich war33 Beachtung verdient die Anspielung auf »die Weisheit des Mannes aus Samos«. Gemeint sind damit Pythagoras von Samos und dessen philosophisch-mathematische Spekulationen. Die Vier habe bei den Pythagoräern, sagt Hegel, eine »hohe Würde gehabt« und die Tetraktys als die »wirksame, tätige Vier« sei bei ihnen »die berühmteste Zahl geworden«. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Leipzig 1971, Bd. 1, S. 351f. Es sind das nicht nur die vier Himmelsrichtungen, Winde, Jahreszeiten, Lebensaltersstufen, Elemente, auch die der Geometrie als: Punkt, Linie, Fläche, Körper, der Spezialfall der Fläche: das Quadrat mit vier gleichlangen Seiten und vier gleichen (»rechten«) Winkeln, wodurch die Vier die Zahl der Gerechtigkeit wird, sondern auch die Zahlen von 1 bis 4, die in ihrer Summe 10 ergeben, die Dekas, die Zahl der Himmelskörper und ihrer Kreise und Sphären, auf denen die harmonia mundi beruht, die Dekas, die darstellbar ist als ein aus einem, zwei, drei, vier »Punkten« gebildetes gleichseitiges Dreieck – erst die Vier vollendete diese Darstellung der Dekas (Dreiecke, gleichseitige, aus weniger »Punkten« gebildet, erreichen nicht die vollendete Zahl 10). Eine solche Anspielung war Böttiger nur dank der vielfältigen, auch in die Tiefe der Materien eindringenden Interessen Johanns möglich. Vielleicht ist das Gedicht zum dreißigsten Geburtstag Johanns mit seinen zehn Distichen – darüber weiter unten – nicht zufällig auf diesen Umfang gebracht. Dass Böttiger solche Dinge bekannt waren und er bewusst davon Gebrauch machte, belegt die Anmerkung, die er dem Text (hier:) Sillig VIII in der Zeitung für die elegante Welt Nr. 160 vom 17. August 1832 beigab, wo es heißt: »Wir dürfen bei der heiligen Pentas oder Fünfzahl nur an das bekannte Pythagoreische Pentagramm, auch Pentalpha und Hygieia (Heil) genannt, denken, wie es zu guter Vorbedeutung oben unter der Weihe [Widmung, P. W.] steht.«

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Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet?

ten, und mit V der Glückwunsch anlässlich der Geburt Ernsts für Johann tò tétarton patrí für den, der zum vierten Male Vater ist. Motto des Gedichts von vier Distichen Umfang (sic!) ist der oben bereits angeführte stûlov-Vers aus Euripides, der im vierten Distichon aufgegriffen wird mit der Feststellung: oi®kov dístulov zweisäulig ist nun das Haus, d. h. die beiden Töchter zählen zwar, man rechnet aber nicht mit ihnen, auf sie kommt es eigentlich nicht an, denn – und so schließt das Gedicht: ¿Ormeî e¬p’ a¬gkúraiv h™ patrìv a¬mfotéraiv es ankert ruhig an beiden Ankern (nach dem griechischen Ausdruck: Anker auf beiden Seiten, am Bug und am Heck) nun das Vaterland. Auch die Stücke VII und VIII sind Kindgeburten gewidmet, dem fünften und dem sechsten Kind, Georg und Sidonia, wobei diese – so Böttigers Fiktion, denn woher wüsste er, dass es ein Mädchen sein werde? – noch nicht geboren ist, die Geburt eines Kindes aber für die Zukunft erwartet wird. Das Gedicht gilt laut Titel dem fünften Jahrestag des Königshauses unter König Anton, der seit dem 5. Mai 1827 herrschte, dem seit 1830 seine Neffen Friedrich August und Johann (mit)regierend zur Seite standen. Der dritte männliche Erbe Johanns, Georg, war am 8. August 1832 geboren, das erwartete, sechste Kind sollte erst am 16. August 1834 zur Welt kommen. Von König Anton ist mit keiner Silbe die Rede. Das heißt: Böttiger sieht in der Johann-Familie das eigentliche Königshaus, auf das sich seine Hoffnungen und Erwartungen richten. Der Dichter, noch die Fünfzahl der Kinder feiernd, sieht die künftige Familie Johanns bereits gleichsam vor Augen, drei Knaben auf den Knien des Vaters, und mit der Mutter spielen drei Grazien: Ui™øn pappázousi tríav potì goúnasi pátrov, Mäteri sumpaizeîn treîv cáritav sunorø.

Drei Söhne rufen »Papa« auf den Knien des Vaters, mit der Mutter seh ich zugleich drei Grazien spielen. Mit diesem heiteren Ausblick endet die Sammlung Sillig. Drei männliche Erben – da mag das sechste Kind getrost ein Mädchen sein: das Königshaus steht nun fest, auf mehreren Säulen.34 34 Ein etwas anderes Verständnis des letzten Verses führt auf drei, nicht, wie oben angenommen, vier Personen – die Mutter mit ihren beiden Töchtern als die drei Grazien. Das wäre einerseits eine Schmeichelei gegenüber der Mittdreißigerin, der Mutter von fünf Kindern innerhalb von fünf Jahren, und störte andererseits das schöne Gleichmaß, das sich ergäbe aus 1 (Vater) + 3 (Söhne) / 1 (Mutter) + 3 (Töchter): NB zwei Vierer-Gruppen. Vielleicht kann man eine Stelle aus einem Brief Friedrich Wilhelms von Preußen an Johann vom 15. März 1835 heranziehen, wo er über Kaiser Ferdinand I. von Österreich schreibt, dass »Viele zweifeln, ob er begriffen, dass 1 + 1 2 ist und der gewiß nie begreifen wird, warum 1 + 1 unter gewissen Umständen z. B.: 6 seyn kann wie unter andern bey Dir und Mokrl« (womit Amalie gemeint ist; nach dem Datum des Briefes kann es sich nur auf die sechs Kinder des Prinzenpaares, nicht auf die Kopfzahl der Familie – das wären acht – beziehen). Vgl. Briefwechsel (wie Anm. 14), S. 147f. Im Übrigen spricht Böttiger in diesem Gedicht erstmals mit einem gewissen anerkennenden Respekt von der Mutter, nennt er sie nicht auf instrumentalisierende Weise nur die »Hohe Gebärerin.«

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Wenn hier immer wieder von der »Sammlung Sillig« gesprochen wurde, so wird dem Herausgeber damit etwas Unrecht getan. Er hat nicht nur acht, bereits in Zeitungen publizierte Texte in der chronologischen Folge ihres Erscheinens nochmals abdrucken lassen, als eine bloße Appendix zu den Opuscula Böttigers, den kleinen Schriften, aus Aufsätzen, Reden, Briefen bestehend, sowie einem anhängenden Teil: Carmina Latina mit 95 Gedichten, an unterschiedliche Adressaten, zu unterschiedlichen Themen. Die griechische Appendix eint die Sprache und die Form – sämtlich elegische Distichen – und die Konzentration auf eine Person, eben Johann von Sachsen. Sillig hat das zu einem kleinen Gedichtbuch komponiert. Die aus Zeitungspublikationen übernommenen, allenfalls durchgesehenen, in ihrem Umfang aber nicht veränderten Gelegenheitsdichtungen lassen zwar für die insgesamt 42 Distichen keine Beobachtungen zu etwaigen numerischen Proportionen zu, wohl aber zur thematischen Komposition der acht Gedichte aus einem Zeitraum von sechs Jahren, den sie in chronologischer Reihung abdecken. Es lassen sich hierbei Gruppenbildungen ausmachen. Auf das einleitende Gedicht (den Hilferuf Griechenlands an die klassisch gebildete Jugend) folgen drei Gruppen: II und III auf die beiden ersten Kinder, Maria und Albert, sodann IV, V, VI auf das dritte und das vierte Kind, Elisabeth und Ernst, sowie zum 30. Geburtstag Johanns mit dem hier wieder aufgegriffenen púrgov-Motiv, schließlich VII und VIII auf das fünfte und ein sechstes Kind, Georg und Sidonia. Also: 1 + 2 + 3 + 2. Die in Sillig I angeschlagenen Themen kommen im weiteren Verlauf nicht vor, wenigstens nicht explizit. Da aber keines der folgenden Gedichte auf Homerisches, seien es Zitate, Anklänge, Gebrauch epischer Wörter und Formen, verzichtet, und das wohl nicht nur aus dem Zwang der Gattung, werden die jréptra trofñv a™gíhv, der Ziehlohn für die empfangene paideîa, auf solche literarische Weise abgestattet. Das erste Gedicht, das nach der Lektüre der sieben folgenden wie ein Fremdkörper anmutet, übernimmt die Funktion einer Ankündigung: Hier wird auf klassische, antike, Homerische Weise gedichtet. Dass Sillig über Buchkomposition bei Böttiger etwas gelernt haben konnte, lässt sich nicht ausschließen – der Philologe Böttiger kannte dergleichen aus antiker Literatur, auch war er aus Weimar, wo man so etwas kannte, schätzte und literarisch praktizierte, nach Dresden gekommen.35 Genau auf das Motiv der Sicherung der Herrschaft durch männliche Nachkommen läuft eine Gruppe von sechs Blättern mit dem nämlichen Grundtext hinaus, in 35 Die besondere Anlage dieser Appendix griechischer Gedichte, die so völlig auf die Person Johanns konzentriert sind, kann man auch als eine Huldigung Silligs an Johann ansehen. Sillig hat absichtsvoll ausgewählt. Er hat nicht nur aus dem unveröffentlichten Nachlass Böttigers solche Texte nicht aufgenommen, die für eine Publikation zwar geeignet gewesen wären, aber seiner Absicht nicht gedient hätten, wie etwa das Gedicht zu Alberts drittem Geburtstag, er hat auch für die Stücke VII und VIII effektvoll die chronologische Abfolge vertauscht. Die Bestimmung »Buch« ist nicht quantitativ, durch den schieren Umfang, sondern qualitativ, durch bis ins Detail reichende wohldurchdachte Komposition gegeben.

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der Mappe hier und da verstreut. Wir haben einen ersten Entwurf mit Korrekturen und Einfügungen, eine ordnende Abschrift mit neuerlichen Korrekturen, ein Blatt, das von einer vermutlich anderen, unbekannten Person gelesen und mit Änderungsvorschlägen versehen wurde, sowie drei sich einer Reinschrift nähernde Fassungen, wo kaum noch am Wortlaut, sondern eher an der Schreibrichtigkeit gebessert ist. Man kann den Weg vom ersten Einfall, den ersten Formulierungen bis hin zu der dann als gültig anerkannten Fassung gut verfolgen. Die Blätter, nach und nach beschrieben, sind alle datiert auf den 4. Februar 1830, den Geburtstag Elisabeths, der zweiten Tochter. Das ist natürlich eine Widmungs-, keine Entstehungsdatierung. Der Text unterscheidet sich von den sonst üblichen distichischen Elegien und steht mit seinen 34 iambischen Trimetern völlig singulär in der Sammlung. Die Wahl des Versmaßes ist kein Zufall. Sie ist zunächst bestimmt durch einen theatralischen Grundeinfall, zwei Personen auftreten zu lassen, die eine große Aufregung in der Stadt erleben, sich darüber verwundern, wobei der eine, ein Fremder, das Aufbrechen des Eises auf der Elbe oder das Auftauchen eines Kometen vermutet, der andere, ein Einheimischer, von der erwarteten Geburt eines Kindes im Königshause weiß. Als aber Böllerschüsse und Glockengeläut ausbleiben, ist dem Dresdner klar: das Kind kann nur ein Mädchen sein. Sie wollen zum Schloss gehen, da ist jedoch alles abgesperrt. Ein Diener, der aus dem Schloss kommt, beruhigt die Aufgeregten: das Kind sei wohlauf. Gott sei Lob und Dank – und das dritte Kind, so meinen die Herren A und B, wirkt doch wohl wie ein Schleppschiff für das vierte, denn: Naûv a¬gkurâı miâı kakøv kajístatai – Ein Schiff an nur einem Anker hält sich gar schlecht; frühere Variante: saleúetai es schwankt und schlingert schlimm. In 34 Versen eine Komödie en miniature. Die Wahl des Versmaßes ist auch aus einem weiteren Grund nicht zufällig: wegen des Stoffes: zwei beliebige Leute aus der Menge unterhalten sich, keine Standespersonen, dazu ein Diener, und wegen des Themas: der Geburt einer Tochter, auch wenn es eine so hochgeborene ist. Erneut treffen wir die Instrumentalisierung des neugeborenen Mädchens: sie ist nur Wegbereiterin und Vorbotin männlicher Nachkommenschaft – prwtággelov paídwn a¬rr¬ e™ nikøn. Da schweigt die Stadt, trotz aller Spannung, und so bekommt das Ereignis auch eine geringerwertige literarische Form. Da steht Böttiger mit der Wertung ganz in der sozialen Konvention. Die Entscheidung hinsichtlich der Form und damit hinsichtlich der literarischen Gattung ist auch nicht seine Sache: in der literarischen Konvention gehen Gegenstand und Gattung, damit Form noch eng zusammen. Die feierlich-feiernde Elegie, dem genus sublime, dem hohen Ton zugehörig, schickt sich in solchem Falle nicht recht, da passen eher dem genus humile gemäße, gewöhnliches Leben wiedergebende gewöhnliche Komödienverse in gewöhnlicher Sprache. Ein einziges Mal hatte Böttiger, anlässlich der Geburt Alberts, mit Anakreonteen experimentiert, dann aber, gattungs- und formbewusst, den Versuch verworfen und sich für die feiernde Elegie in daktylischen Maßen entschieden (Sillig III). Böttiger greift auf Elemente des antiken Dramas zurück: anfängliche Ratlosigkeit und allmähliche Aufklärung, 99

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nochmaliger Anlauf und Begegnung mit einem Boten aus dem Palast, der die frohe Kunde bringt – er wird in der Endfassung tatsächlich wie im antiken Drama als a¢ggelov bezeichnet – und der Schluss mit einer Gnome. Man kann sich den Text gut für eine der szenischen Darstellungen denken, wie sie damals, auch im Hause Johanns, beliebt waren.36 In Böttigers Mappe befindet sich unter all dem Handschriftlichen ein gedrucktes Blatt mit dem folgenden Text und mit Böttigers Übersetzung desselben: »Aus dem Griechischen frei übersetzt«, wie er hinzufügt. Der griechische Text, hier nach dem »Sonderdruck« in der Mappe, findet sich auch bei Sillig als Nummer VI, als drittes Stück der Mittelgruppe seiner Sammlung. Ei¬v tà genéjlia triakostà IWANNOU toû ºArcontov tñv Sassoníav Kaì tôu e¬nóplou sustämatov tøn politøn a w′ l′ a′ ′ prosfånhma gerontikón.

36 Die Bemerkung im Komödchen, man höre keine Böllerschüsse, dürfte eine Anspielung sein auf die Dresdner Localposse in einem Act mit dem Titel Der Kanonenschuß, anlässlich der Geburt Prinz Alberts verfasst von Johann, mit Musik versehen von seiner Schwester Amalie, privatim aufgeführt am 9. Juni 1828. Vgl. HStA Dresden, 12561 Fürstennachlaß Johann, Nr. 12a, Poetica etc. Hefte XVII und XVI. Dresdner Kleinbürger erörtern im Stück u. a. aktuelle Politik – Griechenland! – kommen aber sehr bald auf Familien- und Hofereignisse, wobei ein Arrangement getroffen wird, dass Registrator Wichtigs Tochter Christl derjenige bekommen soll, der ihm als erster eine wichtige, allseits erwartete Nachricht von Hofe bringen wird. Traugott, Wachtsoldat beim Schlosse, verspricht seinem Bruder Gottlieb, der die Christl gar zu gern hätte, niemanden aus dem Schloss herauszulassen, »damit es nich wieder gienge, wie vorn Jahre, wo man beinah vor ene Prinzeß de Kanonen gelehst hette, die doch in Sachsen kenen Schuß Pulver werth sind«. Dichtungen des Königs Johann von Sachsen, hg. von Carola, KöniginWittwe von Sachsen, Leipzig 1902, S. 186. Man beachte, dass Johann diese Äußerung als vox populi gibt. Das Stück ist als »Localposse« angelegt, in sächsischem Dialekt, mit bunter Mischung von Vers und Prosa, einfachen Leuten als dramatis personæ, simpler Handlung, ganz auf heitere Unterhaltung am Ende der Wochenbettzeit gestellt: es passt somit in die Gattungskonvention. Johann spricht noch spät – da waren alle seine neun Kinder bereits geboren und acht von ihnen noch am Leben – von dem Schatten über seinen ersten Ehejahren, der »Kinderlosigkeit, die umso beängstigender war, als die Fortdauer der Dynastie davon abhing, dass der Himmel uns mit Nachkommenschaft segne«. Johann von Sachsen: Lebenserinnerungen (wie Anm. 5), S. 73; er erwähnt (ebenda, S. 84) »die langersehnte Wendung in meinen häuslichen Verhältnissen« als »Aussicht auf Nachkommenschaft«, ohne im Weiteren darauf genauer zurückzukommen, da ja »nur eine Tochter« zur Welt kam. Zu den Kanonenschüssen vgl. ebenda, S. 90. – Nach dem Befund im Nachlassheft XVII war möglicherweise ursprünglich ein griechischer Titel vorgesehen: h¬ [sic] diegguhsiv Bürgschaft, Zusicherung, Versprechen, was als Titel zwar passt, aber eben schwächer ist als der Knalleffekt Der Kanonenschuß. Die Ausführung der griechischen Buchstaben ist die nämliche wie auf dem Zettel mit den oben besprochenen Distichen, wodurch Johann eindeutig als deren Schreiber erwiesen ist.

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Bürgerlichkeit in höfischem Leben: der Herr Hofrat als Hofpoet? Caírei pâsa póliv kaì e¬peufhmôusi polîtai· ºOlbie, crúsea SOI Moîr’ e¬péklwse lína. √Oss’ ¿Ugíeia dídwsi kaì √Hbhv a¢glaa døra, Pánta SOI eu¬fronéwn e¬xetélesse jeóv. Qállei SOI gametä kédnh, paídwn te tetraktúv· ∫Amfitéjhlen e¢ar døma SON a¬mbrósion. Ei¬ränhn filéeiv, Ei¬ränhv e¢rg’ a¬titálleiv· Allà kaì Ei¬ränhv e r¢ g’ e¬fúlaxen a¢or. Sálpigx kaì tupánwn dôupov tínov e¬stì kéleusma; ∫Estìn ∫Iwánnhv, oçv tò kéleusm’ e¬dídou. Sñv gàr u™p’ e¬nnesíhısin e¬fwplíssanto polîtai· Ou¬ yógov· Ei¬ränh tôut’ e¬kéleuse tagøı, Tøı nûn o¢unoma SON kläızousin sumposiárcai. Tàn dé géfuran, i¬dòu, kainòn e¬pñlje sélav. ºAlla kaì h™ kíjariv SE prépei, mócjwn katápauma, Kaì SU metafrázeiv Dántou a¢peiron e¢pov. Nûn dè kaì i™storiøn cáritev, táv jréyen Olårou Paîv, metá tøn kamátwn SON stefanôusi kára. Ei©v pójov eu¬coménwn, içna púrgov, pátridov a¢lkar, 37 Púrgon gàr SE kalôus’, a¬stuféliktov e¢hıv.

Die Übersetzung: Zum dreißigsten Geburtstag JOHANNS Herzogs von Sachsen und der bewaffneten Abteilung der Bürger [Kommandant] 1831 Ansprache eines Greises [d. h. des alten Böttiger] Es freut sich die ganze Stadt und es frohlocken die Bürger; Du vom Glücke Gesegneter, goldene Fäden hat Dir die Moira geknüpft. Was Hygieia gibt und der Hebe glänzende Gaben, all das hat Dir wohlgesonnen bereitet die Gottheit. Es blüht Dir die liebe Gemahlin und der Kinder Vierzahl, es umblüht ambrosischer Frühling Dein Haus. Eirene liebst Du, Eirenes Werke hegst Du, aber auch der Eirene Werke schützte das Schwert. Die Trompete und der Trommeln Gedröhn – wes ist der Befehl? Es ist Johann, der den Befehl gab, Denn durch Deinen Rat wurden die Bürger bewaffnet – da ist kein Vorwurf: Eirene hieß dies den Gebieter. Darum nun nennen rühmend Deinen Namen, die mit Dir gebieten beim Mahle. Und der Brücke, sieh an, kam ein neues Leuchten. Doch auch die Laute passt zu Dir, die Erholung von Mühen, auch übersetzest Du Dantes unermessliches Epos.

37 3 legendum toû, sic et infra, simili modo in aliis vocabulis; errata, quae ad vocum vel aspirationum notas pertinent, non correxi.

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Peter Witzmann Jetzt bekränzen auch der Geschichtsschreibung erfreuende Göttinnen, die des Oloros Sohn nährte, nach den ermattenden Mühen, Dein Haupt. Ein einziges Verlangen haben die Bittenden: dass als ein schirmender Turm, des Vaterlands Schutzwehr – denn Schirm und Schutz nennt man Dich – unerschütterlich Du seist.

Die Datierung fallt nicht schwer – Dezember 1831, schwer fällt auch nicht das Erfassen des Hintergrunds: Die radikal-demokratische Verfassungsbewegung ist seit April gewaltsam niedergeschlagen. Seit dem 4. September ist Sachsen eine konstitutionelle Monarchie mit einer neuen Verfassung. Politische Strukturen und staatliche Organisation werden auf neue Weise geordnet. Das Eigentum der Krone wird vom Staatseigentum getrennt und dieses dem Zugriff des Herrschers entzogen. Eine Reihe von Reformgesetzen wird auf den Weg gebracht. – In einer Fußnote zu seiner Übersetzung erklärt Böttiger das neue Leuchten der Brücke: »eine bis zum Ende der Neustadt gezündete Gasbeleuchtung« ließ »heute zum ersten Male« die Brücke sich wie »ein feuriger Gürtel« über die Elbe legen. – Die Situation ist also rundum erfreulich, und das merkt man dem Gedicht in jeder Zeile an. Hatte Böttiger in einem früheren Gedicht vier Vertreter des Königshauses bemüht, so ruft er hier vier segenspendende Gottheiten an: die Moira, in seiner Übersetzung die dem Gebildeten eher vertraute lateinische Parze, die Schicksalsgöttin, welche goldene Fäden spinnt, Hygieia, die Göttin der Gesundheit, und Hebe, die Göttin der Jugend, und schließlich Eirene, die Friedensgöttin, auch wenn Gebrauch von Waffen zur Wiederherstellung und Sicherung der inneren Ruhe und Ordnung vonnöten waren.38 Das nun ermöglicht Muße, die Erholung beim Lautenspiel in geselligem Kreis, die Fortführung der Dante-Übersetzung mit all den begleitenden Studien, auch das Sich-Versenken in die Geschichte und die Geschichtsschreibung, auf die hier mit der Erwähnung des Thukydides, Sohn des Oloros, verwiesen wird – ein Hinweis auf Lektüre eines der schwierigeren antiken Autoren, von denen Johann »mit Hülfe eines Lehrers einige Begriffe zu erhalten« vermochte. Zum Schluss nochmals das púrgovMotiv, in der Übersetzung mit der Fußnote »púrgov ∫Acaíwn Odyssee XI, 555« versehen, nicht ganz genau (wir lesen die Stelle etwa so in Vers 556), gesagt von Aias mit seinem mächtigen Turmschild in den Kämpfen vor Troia. Böttigers Thema, die Sicherung der Kontinuität im Herrscherhause, kommt auch vor, aber ganz knapp mit der Erwähnung von »der Kinder Vierzahl« (NB: die pythagoreische Tetraktys, die vollendete Vierheit!). Kurzum: Es besteht kein Anlass mehr zu Sorge und Beunruhigung. Umfang und Aufbau sind in beiden Fassungen gleich: zehn Distichen, je eines einleitend und abschließend – Glückwunsch für und Wunsch an Johann; zwei 38 Konkretes übergeht Böttiger, vgl. Briefwechsel (wie Anm. 14), S. 109–112, als Johann beinahe »von der Liebe der Volksmassen erdrückt« worden wäre; rechnete er auch die Toten vom April 1831 unter die »Werke des Friedens«?, waren Johanns Aktionen nur auf trommeln und antreten lassen beschränkt? Der Zeitgenosse mochte fragen. Zu den Ereignissen vgl. die Lebenserinnerungen (wie Anm. 5), S. 99–119.

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Distichen, Gesundheit, Jugendschöne und Familie ansprechend, drei Distichen auf den Generalcommandanten; ein überleitendes, welches das Festmahl und die Festbeleuchtung erwähnt; nochmals ein Distichenpaar über die Mußezeit, gefüllt mit produktiver, transformativer, rezeptiver Tätigkeit. Also: 1 + 2 + 3 + [1] + 2 + 1. Das eingeklammerte Distichon »stört« den harmonischen Aufbau nicht nur numerisch, es klappert auch auffällig im Ablauf der angesprochenen Themen. Freilich: die Zehn ist die Summe der Tetraktys, damit eine bedeutsame pythagoreische Zahl. Die rahmenden Distichen stehen in Korrespondenz: Glückwunsch für den Segen der Moira/Parze und daraus erwachsender Wunsch, die Herrscherpflicht betreffend. Dazwischen wird das »goldne Gespinst« expliziert, in drei Teilen, das öffentliche Wirken steht im Zentrum. Zur Metrik beider Texte, vor allem des deutschen, ließe sich manches sagen – in das Exemplar in der Mappe sind am Seitenende zwei lateinische Distichen eingetragen, die Bitte Böttigers an seinen gelehrten Freund, den Philologen Christian Friedrich Wilhelm Jacobs (1764–1847) in Gotha, doch seine hinkenden Verse, die ihm Apollon verzeihen möge, freundlich zu heilen. Die Anreden an Johann stehen überwiegend in der Senkung, der nur einmal genannte Johann müsste ungewöhnlicherweise auf der zweiten Silbe betont werden, Füllwörter wie »und«, »denn« stehen in starken, akzenttragenden Positionen, wogegen bedeutende Fragewörter: »wer«, »was« in die Senkung geraten; der Vater des Thukydides bekommt in seinem Namen gegen die griechische Lautung und Schreibung ºOlorov in der zweiten Silbe ein betontes (langes?) o und folglich im griechischen Text eine entsprechende Fehlschreibung Olwrov: wieder ein skandierender und letztlich von deutschem Akzent beeinflusster Umgang mit antiken Metren. Manches mochte der Vortrag retten, aber der bemüht spondeische Schluss: »steht die Bürgerwehr da« dürfte sich doch als eine Klippe erweisen. So recht wohl war dem Autor nicht bei seinen Versen, wie die Bitte an Jacobs zeigt, aber solches Problembewusstsein spricht doch für ihn. Wie übersetzte Böttiger seinen eigenen Text? Dass er als Übersetzer frei mit dem Text umgeht, sagt er im Voraus selbst, doch über das Ausmaß der Freiheiten, die er sich nimmt, die damit verbundenen Verschiebungen von Akzentsetzungen, Veränderungen von Wort und Sinn gegenüber der Vorlage, auch darüber, was dem gewählten Versmaß geschuldet ist, möge der Leser entscheiden. Hier nur der Text (hervorgehoben sind Böttigers Sperrungen): Rascher bewegt sich die Stadt, glückwünschend rufen die Bürger: Heil D ir! ein goldnes Gespinst spannen die Parzen D i r heut! Was Hygiea nur spendet und Hebe’s glänzende Gaben, Alles gewährt D i r der Gott, der D i r zum Genius ward. Huldreich blüht die G em a h li n , es blüht die pr inzliche Vierzahl, Blühender Lenz umlaubt sächsisches Rautengesproß. – Was nur der Göttin des Friedens entsprießt, Du pflegst es mit Liebe! Aber das friedliche Werk schützet die eiserne Wehr. Hört Ihr die Trommel? sie ruft. Wer befiehlt den gerufenen Schaaren? Ist’s nicht Prinz Johann? kömmt nicht von Ihm das Gebot?

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Peter Witzmann Wo Du ordnest, da steht die bewaffnete Bürgerwehr da! Friedensgöttin, D u gabst selbst ihr die friedliche Wehr! Darum ertönt bei’m festlichen Mahl der gefeierte Name. Und von reinerem Licht schimmert der Gürtel des Stroms*. Auch durchdringest D u gern des Lebens Ernst mit der Lyra; Dann schmückt deutsches Gewand Dante’s erhabnes Gedicht’. Oder es labt, was Thukydides schrieb, der Sohn des Oloros, D i ch in der Ursprach’ Laut, wenn Du der Labung bedarfst. Und was wünschen wir heut’? Daß der Thurm, des Vaterlands Brustwehr – Denn Thurm nennt es Homer** – stets unerschütterlich sei!

Böttiger.

»Die Datierung fällt nicht schwer«? Die Widmung: »Zum Geburtstagsfeste / Sr. Königl. Hoheit, dem Prinzen Johann, / Generalcommandanten der Communalgarden / 1831« steht unter der Überschrift: Am Tage des Heiligen Epimachus. Das nun ist wahrscheinlich ein typisches Böttigerianum – falls dem Freigeist Böttiger dergleichen nicht irgendwie gleichgültig war. Heilige namens Epimachus kommen mehrfach vor, für die unterschiedlichen christlichen Kirchen auch mit unterschiedlichen Gedenktagen und Wichtigkeiten, wobei ein Epimachus mit dem Gedenktag am 31. Oktober häufiger erscheint, als der wohl hier zutreffende Epimachus, der unter Kaiser Decius 251 in Alexandria als Märtyrer starb und dessen Gedenktag der 12. Dezember, Johanns Geburtstag, ist. Eine kleine Verbeugung vor dem katholischen Fürsten mit einer selteneren, darum von Kennerschaft zeugenden Variante von Märtyrerkenntnis? Das am meisten verbreitete Matyrologium, die Legenda aurea, kennt nur den einen mit Gordianus unter Kaiser Julianus (Apostata) zu Rom im Jahre 360 [sic] hingerichteten Epimachus, dessen man am 31. Oktober gedenkt. Der Leser der Übersetzung musste also, um nicht verwirrt zu werden, über mehr als allgemeine Matyrologienkenntnisse verfügen. Aber auch dem Leser des griechischen Textes wird besondere Kenntnis abverlangt, da nur ihm der Anlass, der dreißigste Geburtstag Johanns, angezeigt wird. Von Censorinus, einem Autor des 3. Jh. n. Chr., ist eine kleine, viel benutzte Schrift De die natali (Über den Geburtstag) erhalten, in der dieser neben anderen Konzepten auch die Ansicht Varros referiert, welcher das Menschenleben in fünf Alterstufen zu je fünfzehn Jahren gliedert. Danach endet mit dem dreißigsten Lebensjahr die Adoleszenz, das Heranwachsen, und es beginnt das jüngere Mannesalter, weil die diesem Zugehörigen nun dem Gemeinwesen auch militärisch zu Hilfe kommen können.39

* Die heute zum ersten Mal längs der Brücke bis zum Ende der Neustadt gezündete Gasbeleuchtung gab der Elbbrücke das Ansehn eines feurigen Gürtels. [Anm. Böttigers. – Die Anmerkung wirkt wie die Stelle, auf die sie sich bezieht, etwas bemüht.] ** purgov ∫Acaíwn. Odyssee CI, 555. [Anm. Böttigers.] 39 quod rem publicam in re militari possent iuvare, Cens. 14,2.

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Der griechische Text der Elegie zum 30. Geburtstag ist identisch mit dem Text VI in Silligs Sammlung. So recht versteht man diesen aber nur zusammen mit dem folgenden Text IV bei Sillig, also in vergleichender Zusammenschau des ersten und des letzten Textes der Mittel- oder Zentralgruppe dieser Sammlung. Beide Texte sind mit etwa gleichem Datum (Abend-Zeitung 1830, Nr. 297 und Abend-Zeitung 1831, Nr. 298), aber mit dem Abstand eines Jahres veröffentlicht worden – so jedenfalls nach den Angaben Silligs in der Appendix zu den Opuscula. Tatsächlich ist aber, aus welchen Gründen immer, in der Abendzeitung 298 von 1831 nur Böttigers deutsche Fassung gedruckt. Das heißt, den Zusammenhang – und damit die vergleichende Zusammenschau – der griechischen Texte IV und VI gewährt nur Silligs Anordnung und Komposition. Die beiden Texte spiegeln über den persönlichen Bezug hinaus auch die politischen Entwicklungen der beiden Jahre. Lampròn a¢gei SOI, a¢nax, h©mar r™ododáktulov ºHwv Kosmoûs’ ei¬arinøı døra genejliaká. Caîre, soføv medéou tñv patrídov, e n¢ j’ o™monoíaı ¿Agnótaton dhmøı pantì fáov proférwn. ¥Hn stásiv. a¬rcékakov jórubov pólin a¬mfidédhıei, ¿Oploforoûsa póliv pâsan a¬peîrgen uçbrin. Sñıv gàr u™p’ e¬nnesíhısin e¬foplízousi polîtai Tágmata. Táxantov SOU sóa pánta pélei. Kaì taúthv eu¬ergesíhv caríessan a¬moibän, ¡Ossa glúkista brotoîv, pánta didoûsi jeoí. Suzugíhn glukerán, treîv ptórjouv (a¬llà tétartov Ou¬ braduneî) caîreiv a¬mfagapazómenov.

Die Übersetzung: Einen leuchtenden Tag führt DIR, Herr, herauf die rosenfingrige Eos, schmückend mit Frühlingsblumen die Gaben zum Geburtstag. Sei gegrüßt, klug sorge du für das Vaterland, in Eintracht das dem ganzen Volke heiligste Licht vorantragend. Es gab Parteikampf. Das Übel beginnender Tumult war rings um die Stadt entbrannt, die waffentragende Stadt hat allen frechen Übermut abgewehrt. Denn unter Deinem Befehl bewaffneten die Bürger ihre Regimenter. Unter DEINER Leitung ist nun alles sicher. Und als willkommenes Gegengeschenk solcher Wohltat geben die Götter alles, was den Menschen sehr lieb ist. Eines lieben Weibes, dreier Sprösslinge (der vierte lässt nicht auf sich warten) freust du dich, rings von allen geliebt.

Der Dichter rückt den Geburtstag des Prinzen in einen kosmischen Zusammenhang ein – gegenläufig zum Geburtstagsdatum im Dezember, dem Monat des abnehmenden Lichts, lässt er Homers »rosenfingrige Eos« einen lichtstrahlenden Tag heraufführen und die Geburtstagsgaben schmücken. Daran knüpft er sogleich die Mahnung: sorge du klug für das Vaterland, alles kommt nun auf Einträchtigkeit an. 105

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Es gab eine stásiv: das Wort hat er nicht aufs Geratewohl gewählt. Es ist verfehlt, hier nur eine Bedeutung: »Aufstand« anzunehmen. Stasis, lat. seditio (von sed-ire beiseite gehen) meint vielmehr das Auftreten und Heraustreten einer Gruppe aus einer real bestehenden oder so angenommenen, so vorgestellten koinwnía tøn politøn (Gemeinschaft der Bürger), daher dann die Bedeutungen: Parteiung, auch Parteikampf, Zwiespalt, Unruhe, Aufstand, also Gefährdung, gar Zerstörung der bürgerlichen Gemeinschaft. Die Stasis, aus welcher der Tumult hervorgeht, ist der Anfang allen Übels – eine Anspielung auf Ilias 5,63, wo von den Schiffen die Rede ist, mit denen Alexandros (Paris) ausfuhr, die dann mit der Entführung der Helena Unheil brachten den Troern, unvermutet, aber geradezu zwangsläufig. Das Unheil haben die Bürger abgewehrt, auf Johanns Geheiß – für solche Wohltat haben sich dann die Götter freundlich erwiesen. Stasis als Wort kein Zufall? Das wird klar durch den Glückwunschtext zum dreißigsten Geburtstag, wo es die wieder stabilisierte innenpolitische Lage dem Dichter erlaubt, auch auf die Sphäre der Muße einzugehen, auf Lautenspiel, Danteübersetzung und Lektüre griechischer Geschichtsschreiber. Der eine, Thukydides, wird für den Kenner metonymisch erwähnt: Sohn des Oloros, der andere durch zwei ebenfalls nur dem Kenner verständliche Winke eingeführt: i™storíai als »Werktitel« Herodots sowie das aus metrischen Gründen gewählte Relativum tàv als eine bei diesem Autor übliche Dialektform. Die Winke mag man leicht übersehen, den Hinweis auf Thukydides kann man, den Ausdruck stásiv noch in Erinnerung, nicht als bloßes Glied einer Aufzählung übergehen. Denn dieser Historiker widmet dem Phänomen Stasis einen eindrucksvollen Exkurs (Thuk. 3,82–83).40 Wir stoßen hier nochmals auf einen charakteristischen Zug des Böttigerschen Philhellenismus. Die Lektüre antiker griechischer Historiker vermag zwar Einsicht und Erkenntnis zu gewähren, gehört aber doch vornehmlich der Sphäre der Muße an: »es labt, was Thukydides […] schrieb, Dich in der Ursprach’ Laut, wenn Du der Labung bedarfst.« Solche escapistisch nennbare Position hat das Drängen auf dynastische Stabilität, die Erhaltung und allenfalls sanfte Korrektur der Verhältnisse zur Bedingung. Stasis, behaftet mit dem Ludergeruch von Revolution, wird entschieden abgelehnt. Abschließend seien noch zwei Zeugnisse aus der Mappe angeführt. Das eine ist eine Anmerkung zum Ausdruck »oi®kov Haus«, der in einem Geburtstagsgedicht an Johann vorkommt. Es heißt da, damit werde bezeichnet ein sehr ertragreiches kleines Landgut mit Feldern, die allen Überfluss an Nahrung gewähren, und mit sich ver40 Der älteste literarische Beleg für stásiv stammt von Solon, dessen Elegie Eu¬nomía (gute gesetzliche Ordnung und Achtung gegenüber dem Gesetz) bei Demosthenes (or. 19,421– 423) in wesentlichen Teilen überliefert ist; Solon sagt dort auch, die eu¬nomía (die gute Ordnung der Gesetze) ende die Werke der dicostasía, einer zweifachen stásiv, wo eine Seite der jeweils anderen nichts nachgeben will, wogegen die dusnomía (die Missachtung des Gesetzes) der Stadt sehr viel Übles bringe. Demosthenes, der als bedeutendster griechischer Redner galt, war Böttiger auf jeden Fall vertraut.

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mehrenden Herden von Rindern und Schafen, dem vor alter Zeit die Vorfahren als Zeichen günstiger Vorbedeutung den Namen Johanns Haus (»Janshausen« in Böttigers Schreibung) gaben, welches Johann als Herr selber gut und wirtschaftlich verwaltet. Die Erklärung und Verknüpfung von Orts- und Personennamen ist aber freundliche Schmeichelei des Autors.41 Von Interesse ist der Hinweis auf die materielle Grundlage Johannischer Existenz, ein Motiv, das mehrmals in der Mappe begegnet. Das hat Böttiger also sehr wohl wahrgenommen: in der Elegie Kállion h®n z.B. hieß es, es sei wünschenswert, als Hirte der eigenen Herde Reichtum zu haben und zu genießen. Eines Tages schickt er an Johann das folgende Billet: Twı Iwannhı Tw basilikotátwı tñv Sassoníav h™gémoni Boitiggerov nosøn ºIligx kaì pódagra, kakà järia, dardáptousin ºIligx tæn kefalæn, tœ podé h™ pódagra. Keímenon e¬n koíthı uçpnov h¢piov ou¬ paramujeî Ou¢ me teoîv såzeiv r™ämasi, jeîe Plátwn. Sämeron ou¬ dúnamai tà sà dåmata ei¬safikánein Ou dúnamai SE blépein toûto m’ a¢cov katécei.

Die Übersetzung: Johann, dem königlichsten Prinzen Sachsens der kranke Böttiger. Schwindel und Gicht in den Füßen, gar üble Ungeheuer, plagen, der Schwindel den Kopf, die beiden Füße die Gicht. Den im Bette Liegenden tröstet nicht sanfter Schlummer, nicht rettest du mich mit deinen Worten und Lehren, göttlicher Platon. Heute vermag ich nicht zu Deinem Hause zu kommen, nicht kann ich Dich sehen – dieser Kummer hält mich ganz gefangen.

So, wie es in der Mappe vorliegt, wird Böttiger das Billet wohl nicht abgeschickt haben. Das Blatt zeigt zwar keine Korrekturen, aber eine Reihe von Flüchtigkeiten und seine alte Schwachstelle, Verse nicht metrisch, also messend, sondern skandierend, betonend zu behandeln. Der Weg von seinem Hause bis zu dem des Prinzen, sonst ein angenehmer Spaziergang »vor die Tore der Stadt«, war lang genug, vom 41 Jahnishausen (auch: Jahnshausen) unweit Riesa im Tal der Jahna ist nicht nach dem Fluss benannt, sondern nach Jahn (Johann) von Schleinitz, der um 1500 nach Erbteilungen derer von Schleinitz (auf dem nahen Seerhausen) in dem nunmehr Jahnshausen genannten Dorf Watzschwitz ein Rittergut einrichtete; das nach mehreren Besitzerwechseln im 18. Jahrhundert zu einer wasserburgartigen Schlossanlage mit Park umgestaltete Gut erwarb schließlich 1824 Prinz Johann von Sachsen als sein privates Refugium. Nicht weit davon befindet sich der 1831 aufgestellte »Verfassungsstein« – ein Unikat –, der an die erste sächsische Verfassung vom 4. September 1831 erinnert.

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Coselpalais neben der Frauenkirche bis zu Prinz Johanns Garten an der Langen Gasse, der heutigen Zinzendorfstraße westlich des Deutschen Hygiene-Museums, zu weit, zu beschwerlich für den geplagten Alten. Die Übel, die ihn quälen, fallen wie wilde Tiere über ihn her, unberechenbar, langanhaltend, wie es der spondeische Schluss des ersten Verses anschaulich malt. Der zweite weist einen hübschen Chiasmus auf, dazu einen Dualis – der Empfänger musste es bemerken, auch, dass der Schreiber in seiner Lage zu solchen Finessen imstande war. Kein sanfter Schlummer spricht ihm Trost zu, zaubert ihn nicht mit freundlichen Worten zur Ruhe, und auch der göttliche Platon vermag nicht zu helfen. Alles mag noch angehen, aber dass er Johann nicht aufsuchen, ihn nicht sehen kann, das ist der eigentliche Kummer, der zu Schwindel und Fußgicht hinzukommt, ja beide noch übertrifft. Keine Entschuldigung, keine Bitte um Anteilnahme und Hilfe, nichts, was den Prinzen hätte drängen können, auf Klage und Kummer zu reagieren (was er vermutlich doch getan hat). Zu guter Letzt also, nach den offiziellen, zeitungspubliken Hofpoesien, all den Glückwünschen und Huldigungen, ein privates Billet, die kummervolle, erschütternde Klage eines alten, kranken Mannes. In den drei Distichen zeigt der noch einmal, was er in solchen Dingen kann. Da steht jedes Wort, wohl gewählt, an seinem Platz, ohne von den anderen isoliert zu sein. Schwindel und Fußgicht eröffnen das kleine Gedicht, als garstige Untiere ins Zentrum des ersten Verses gesetzt, von zwei Seiten her, von oben und unten zerreißen sie den Kranken im Chiasmus des zweiten. Klangmittel gleiten im dritten aus Alliterationen hinüber in Assonanzen, wie nebenher wird eine anaphorische Reihe mit viermaligem ou¬ eingeführt, die dann im letzten Distichon in einen Parallelismus übergeht, in welchem das Subjekt wechselt: weder sanfter Schlummer noch Platons Wort, die beide von außen kommen, vermögen zu helfen, ich – und damit ist er ganz in seiner Befindlichkeit – ich vermag nicht zu kommen, ich kann Dich nicht sehen – ob man das nur als Ausdruck für »besuchen« auffassen kann? – das ist das eigentliche a¢cov, das eigentliche letzte Wort: ein Leid, das ihn wieder wie eine Macht von außen festhält, schlimmer, schwerer zu tragen als Schwindel und Fußweh. Ein Wort ist hervorgehoben durch Großschreibung – nur aus Höflichkeit und Ehrerbietung gegen den Prinzen? Oder spricht der alte Lehrer zu seinem Schüler? Ihn hatte er in die antiken Autoren eingeführt und in ihm die Liebe zu ihnen erweckt und ihm seines Teils eine Welt aufgeschlossen, die weit mehr umfasste als Recht, Finanzen, Verwaltung von Forsten, Bergwerken und Domänen, eine geistige Welt als Refugium, aber auch als Welt erweiterter, historischer und künstlerischer Erfahrung.42 Wieso, wozu bezieht er sich auf den »göttlichen Platon«? Qeîe Plátwn passt metrisch gut und bequem in den Vers, doch steckt 42 In den Lebenserinnerungen Johanns heißt es – das ist die eine der beiden Erwähnungen Böttigers – über die »Besuche von Kunst- und wissenschaftlichen Sammlungen«, dass unter ihnen »besonders der Umgang des gelehrten Archäologen, Hofrath Böttigers, uns viel Interesse gewährte«. Johann von Sachsen: Lebenserinnerungen (wie Anm. 5), S. 58.

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in der Anrufung des »göttlichen« Platon wohl mehr, nämlich der Hinweis auf den Lehrer des Göttlichen, der Welt der Ideen, des göttlichen Seelenteils, das über das Irdische mit all seinen physischen Unzulänglichkeiten und Drangsalen hinausstrebt und dieses Irdische eigentlich vergessen machen sollte. Qeîe Plátwn scheint auch ein erinnertes Versatzstück, etwa aus einem Epigramm der Böttiger wohlvertrauten Anthologia Graeca. Diese war seit dem 17. Jahrhundert nicht nur Quelle literarischer Inspiration, sondern schier unerschöpfliche Fundgrube für allerlei Antiquitates bzw. Realia, die den Philologen und Archäologen Böttiger stets interessiert hatten. Ein Anonymus preist im 188. Gedicht des neunten Buches den »göttlichen Platon« ob seiner Sprache und darum, dass er als erster, die Augen auf Gott, auf den Himmel richtend, Wesen und Leben der Menschen deutlich wahrgenommen habe, Samische Weisheit mischend mit Sokratischen Nüstern, das schönste Grabmal und einigende Zeichen einer altehrwürdigen Zwietracht. Gemeint sind Pythagoras von Samos und der Athener Sokrates, sind die gegensätzlichen Positionen rationaler, mathematischer, zugleich naturtheologischer Philosophie einerseits und einer doch eher sinnlich-bodenhaftigen Weise des Philosophierens, die Platon zur Einheit zusammengeführt habe. Im Subscriptum eines Glückwunschgedichts bezeichnet Böttiger sich als »den alten Böttiger, den Glatzkopf« (Boittígerov o™ gérwn o™ a¬nafalantíav) – eine in dem Zusammenhange befremdlich scheinende Bemerkung. Das Befremdliche schwindet, nimmt man auch diese Bemerkung als eine Anspielung – Anspielung auf hintergründig Gemeintes war in den besprochenen Texten als Moment Böttigerscher Technik mehrfach begegnet43 – auf den Platonischen Sokrates, der in seiner Erscheinung so gar nicht dem Idealbild klassischer Schönheit entsprach, aber stets ein fesselnder, anregender Lehrender war. Damit aber tritt das Verhältnis des Hofpoeten (der er freilich auch ist) zu seinem Herrn in königlichem Range zurück hinter einem sehr persönlichen Verhältnis, mag dies so auch nur auf Böttigers Vorstellung und Wünschen beruhen. Aus solchem Verhältnis stammt der Ton der Elegie Kállion h®n, der auch an anderen Stellen aufklingt. Das »Homerisieren«, das die elegischepigrammatischen Poesien Böttigers insgesamt durchzieht und von Anbeginn prägt, erhellt das Verhältnis von einer weiteren Seite. Das älteste Stück, ein Neujahrsglückwunsch für 1826, bot dem Prinzen sogleich Homerisches in Formen und Wörtern, nicht gerade das, was man einem Anfänger zumuten möchte, der eben, »ohne fremde Hülfe nur aus Grammatik und Dictionnaire« sich unterrichtend, sich in das Griechische hineingewagt hatte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zuwendung Johanns zu Homer mit seinen Dantestudien und -übersetzungsbemühun43 Was solches hintergründiges Anspielen leisten mochte, womit die Verfasser bei einem gebildeten zeitgenössischen Publikum rechneten, zeigt schön, auf Böttiger bezogen, an einem Distichon aus den Xenien Goethes und Schillers Julia A. Schmidt-Funke (wie Anm. 5), S. 9f. Die Wirkung des Xenion ist noch immer beträchtlich und Böttiger noch immer abträglich, denn die Autorin, die so umfangreiches Material zu seinem Wirken bereitstellt, belässt ihn leider letztlich doch in traditioneller »Zwielichtigkeit«.

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gen zusammenhängt. Böttiger hätte ihm dann Homer, den Archegeten epischer Dichtung in der europäischen Literatur, erschlossen. Zugleich stellt er damit auch eine Gemeinsamkeit beider, Johanns und Böttigers, her und heraus, ihre gemeinsame Teilhabe an dieser nicht nur literarischen Welt.44 Böttiger setzt dabei offenkundig auf Belesenheit, Kennerschaft, Verstehen von Anspielungen und Hintergründen. Es fällt dabei aber auf, dass Böttiger nirgends an im engeren Sinne politische Normen und Werte appelliert, dass er, alles auf die Stabilität des Königshauses als Garantin friedlichen Daseins setzend, immer wieder und ausdrücklich und anschaulich ein bürgerliches Bild der herrscherlichen Familie beschwört, dass hingegen alles, was mit König sein zu tun hat, nur wie in beträchtlicher Distanz aufscheint. Wie in Johanns Abendgesellschaften höfisches Zeremoniell durch den Hausherrn und Gastgeber wenigstens zeitweise suspendiert war, so verkehrte mittleres Bürgertum, in dem Falle ein intellektuell geprägtes, ohne »untertänigstes Ersterben« – auch wenn dergleichen Formeln konventionellerweise noch benutzt wurden – und auch ohne die Monarchie in Frage zu stellen, mit der königlichen Hoheit. Das Wunschbild vom Gemeinwesen: kein Bruch, kein Umsturz, sondern konsensualer Ausgleich: »Ältestes bewahrt mit Treue freundlich aufgefasstes Neue«.45

44 »Homer und Herodot, die Altmeister der Dichtung und Geschichtsschreibung, die nach seiner Meinung unzertrennlich von einander gelesen werden sollten, trug er erwählten Fähigen noch besonders mit Vorliebe vor.« Karl Wilhelm Böttiger: Karl August Böttiger (wie Anm. 20), S. 15. 45 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Gedichte. Erster Teil: Die Gedichte der Ausgabe letzter Hand, hg. von Emil Staiger, Zürich, Stuttgart 1950, S. 507. Goethe hatte in der Werkausgabe letzter Hand von 1828 Gedichte aus unterschiedlicher Zeit und Gelegenheit zu Gruppen – wenn man so will und den Ausdruck nicht presst: Büchern – zusammengestellt.

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Das Land der Griechen mit dem Körper suchend Karl August Böttiger über Agonistik und Athleten in Hellas

Annäherung: Ball und Leier »Hamilton in Neapel hatte in den frühern Jahren noch herrliche Gelegenheit, Antiken um ein Spottgeld zu kaufen«, notiert Karl August Böttiger am 6. Februar 1796 über den britischen Gesandten Sir William Hamilton.1 Tatsächlich gilt die Vasensammlung Hamiltons bis heute als eines der eindrucksvollsten Zeugnisse der Antikenbegeisterung des 18. Jahrhunderts. Der Diplomat, Liebhaber und manische Sammler, dem Susan Sontag in Gestalt des Volcano Lovers ein literarisches Denkmal gesetzt hat, hatte 1772 seine erste Kollektion etruskischer und griechischer Keramiken an das Britische Museum verkauft. »Die Britten bezahlten dem Ritter Hamilton eine große Summe für seine erste Vasensammlung, um sie in ihr Nationalmuseum zum Studium und Muster für Forscher und Künstler aufstellen zu können«, kommentiert Böttiger den konkreten wissenschaftlichen und ästhetischen Nutzen dieser Erwerbung, auf deren Publikation auch er sich in seinen Schriften oft bezieht.2 Noch heute befinden sich mehr als zweihundert Hamilton-Vasen in europäischen Museen, davon die bei weitem größte Zahl in London. Ein Teil der Sammlung ist jedoch verschollen. Zu den Objekten, die zwar publiziert wurden, deren Verbleib aber unbekannt ist, gehört eine Vase, deren Bemalung als Nummer 109 im ersten Band von Pierre-François Hugues d’Hancarvilles Antiquités Etrusques, Grecques et Romaines. Tirées du Cabinet de M. Hamilton, Envoyé extraordinaire de S. M. Britannique en Cour de Naples dokumentiert ist. Im rechten Teil des Bildes erkennt man

1 Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von René Sternke und Klaus Gerlach, Berlin 31998, S. 79. 2 Karl August Böttiger: [Einleitung], in: Griechische Vasengemälde. Mit archäologischen und artistischen Erläuterungen der Originalkupfer, hg. von Karl August Böttiger, Bd. 1, Heft 1, Weimar 1797, S. V–VIII, hier S. VI.

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Abb. 1 Musenkunst und Gymnastik

einen Jüngling, der zwischen zwei jungen Männern steht: Die linke Figur stellt einen Musiker (Kitharaspieler) dar, die rechte hält einen Ball.3 Für Böttiger zeigt das Bild exemplarisch den »Scheideweg«, auf dem sich im antiken Griechenland der »mannbare Jüngling« befand. Dieser musste sich schlussendlich zwischen der »Gymnastik« und der »Musenkunst« entscheiden. Letzterer 3 Pierre François Hugues d’Hancarville: Antiquités Etrusques, Grecques Et Romaines. Tirées Du Cabinet De M. Hamilton, 4 Bde., Neapel 1766–1767 [recte 1767–1776], Bd. 1, Taf. 109. Leicht zugänglich ist der einbändige Nachdruck: Pierre-François Hugues d’Hancarville: The collection of antiquities from the cabinet of Sir William Hamilton – Collection des antiquités du cabinet de Sir William Hamilton – Die Antikensammlung aus dem Kabinett von Sir William Hamilton, hg. von Petra Lamers-Schütze, übers. von Michael Scuffil, Chris Miller, Wolf Fruhtrunk, Bettina Blumenberg, Köln 2004, Taf. I – 109. Siehe zum Reprint aber auch die kritische Rezension von Hildegard Wiegel in: sehepunkte 2005, Jg. 5, Nr. 6 [15. Juni 2005], URL: http://www. sehepunkte.de/2005/06/7077.html (Abruf 13. Oktober 2010). Ein Digitalisat der genannten Tafel aus einer späteren Auflage (4 Bde., Florenz 1801–1808) findet sich auf http://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/hancarville1801/0269 (Abruf 23. Januar 2011). – Zur Kithara als musikalischer Wettkampfuntermalung und zu den musischen Agones siehe Andrea Schmölder-Veit: Wettstreit um die Gunst der Musen, in: Raimund Wünsche, Florian Knauß (Hg.): Lockender Lorbeer. Sport und Spiel in der Antike, München 2004, S. 224–241, hier S. 231–235, bes. S. 231: »Da die Kithara meist beim Wettkampf gespielt wurde, zeigen Vasenbilder von Musikern mit diesem Instrument nahezu ausschließlich Agon-Teilnehmer.«

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Das Land der Griechen mit dem Körper suchend

durfte er gleichwohl niemals völlig »fremd« bleiben; der junge Mann sollte nie ein »a¢mousov« – ein Banause – werden,4 behauptet Böttiger in seinen 1811 publizierten Ideen zur Archäologie der Malerei. Den gebildeten Zeitgenossen war also nicht nur der Leier-, sondern auch der Ballspieler als Repräsentant idealtypischer griechischer Existenz deutlich sichtbar. Die Griechenbegeisterung, welche die Weimarer ebenso wie die Berliner Klassik maßgeblich geprägt hat, bezog sich um 1800 eben nicht nur auf die zumeist prominenteren ästhetischen, literarischen und geschichtsphilosophischen Dimensionen eines imaginierten Hellas, sondern auch auf pädagogische und körperliche Aspekte – kurz: auf das, was man heute »Sport« nennt.5 Beteiligt waren an diesem Diskurs neben Reformpädagogen auch Altertumskundler, Philosophen und Dichter. So finden sich in den Gedichten Friedrich Schillers, den geschichtsphilosophischen Fragmenten Johann Gottfried Herders, den altertumskundlichen Abhandlungen Wilhelm von Humboldts und dem Werk Friedrich Hölderlins6 ebenso Hinweise auf Athleten und Wettkämpfe im antiken Griechenland wie in den frühen sporttheoretischen und reformpädagogischen Schriften von Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Gerhard Ulrich Anton Vieth und Peter Villaume.7 Zahlreiche Bemerkungen über Gymnastik, Spiele und Sportler lassen sich auch im umfangreichen Werk Böttigers nachweisen. Er war als Journalist, Publizist, Pädagoge und Altertumsforscher an den archäologischen, philologischen und geschichtsphilosophischen Kommunikationen ebenso beteiligt, wie er mit aktuellen reformpädagogischen Projekten vertraut war. In diesem Beitrag soll es darum gehen, exemplarisch Böttigers Teilhabe an einem Diskurs zu skizzieren, dessen Programm sich mit einer Anspielung auf Goethes Iphigenie auf Tauris umschreiben lässt: »Das Land der Griechen mit dem Körper 4 Karl August Böttiger: Ideen zur Archäologie der Malerei. Erster Theil. Nach Maasgabe der Wintervorlesungen im Jahre 1811, Dresden 1811, S. 214f. 5 Der Begriff ›Sport‹ war um 1800 unüblich. In dieser Arbeit vermeide ich ihn, wenn möglich, zugunsten der Termini ›Körperkultur‹, ›Gymnastik‹ oder auch ›Athletik‹. Wenn ich den Begriff ›Sport‹ verwende, geschieht dies in heuristischer Absicht: er soll als Kollektivbegriff für alle körperlichen Tätigkeiten gelten, die weder dem Nahrungserwerb dienen noch ein Bestandteil kriegerischer Auseinandersetzungen sind, sondern die einen spielerischen oder wettkampforientierten Charakter aufweisen. Zur Terminologie vgl. Alexander Extra: Sport in deutscher Kurzprosa des 20. Jahrhunderts oder zwischen Bruderliebe und Bruderhass. Untergangsszenarien und Sportutopien in deutscher Sportkurzprosa, Hamburg 2006, S. 10f., Anm. 7. 6 Nicht nur zu Hölderlin, sondern zum Zusammenhang von Pädagogik, Archäologie und Nationaldiskursen um 1800 vgl. Alexander Honold: Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike, Berlin 2002. 7 Zum Verhältnis von Sport, Antikenrezeption und (National-)Bildung um 1800 vgl. Felix Saure: Beautiful Bodies, Exercising Warriors and Original Peoples. Sports, Greek Antiquity and National Identity from Winckelmann to ›Turnvater Jahn‹, in: German History, Oxford 2009, Bd. 27, Heft 3, S. 313–330.

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suchend«.8 Im Zentrum der Untersuchung steht dabei nicht die Analyse persönlicher Beziehungen Böttigers zu einzelnen Akteuren oder Institutionen in den genannten Feldern, sondern der Versuch einer zusammenfassenden Rekonstruktion einiger seiner Ideen über Sport und Körperkultur in der Antike vor dem Hintergrund gleicher oder ähnlicher Ideen seiner Zeitgenossen. Methodisch muss dabei modellbildend und synthetisierend verfahren werden: Denn obwohl Böttiger einige Texte verfasst hat, die schon durch ihren Titel andeuten, dass es schwerpunktmäßig um Sport, Athleten oder Wettkämpfe geht – zu nennen sind hier die Aufsätze Myron und der athletische Kreis und Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze durch Kunstwerke im antiken Geschmacke –, so finden sich die meisten Hinweise auf sein Bild der antiken Körperkultur verstreut in seinem umfangreichen Œuvre.9 Ziel dieses Beitrags ist es mithin, diese oft fragmentarischen oder beiläufigen Bemerkungen zusammenzuführen und exemplarisch in den kulturund ideengeschichtlichen Kontext einzuordnen. Die Ansatzpunkte der Annäherung sind gleichwohl denkbar divers und ihre Auswahl ist naturgemäß alles andere als vollständig: Arnold Schwarzenegger, Johann Joachim Winckelmann und Emma Hamilton treten auf. Böttigers Ideen über die Hautfarbe antiker Athleten und Plastiken sowie ein Vergleich griechischer und englischer Faustkämpfer spielen in vorliegender Untersuchung genauso eine Rolle wie seine Überlegungen zur ökonomischen Bedeutung von Olympia und Gedanken zur neuen Reithalle in Dessau. * Der Anspruch, den Böttiger selbst an seine Arbeit stellte, ist primär der eines Wissenschaftlers. Seine von vornherein breitenwirksam angelegten Texte – er nennt hier neben dem schon zu Lebzeiten zweimal aufgelegten Werk Sabina oder Morgenscenen im Putzzimmer einer reichen Römerin einige aktuelle Aufsätze –, in denen er erklärtermaßen auch eine »Anbequemung des klassischen Alterthums auf moderne Gegenstände« praktiziert hat,10 trennt er von seinem altertumskundlichen Hauptgeschäft.11 8 Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris, I/1, V. 12. Eine Ausstellung des Deutschen Tanzarchivs Köln im Jahre 2000 nahm ebenfalls modifizierend auf Iphigenies Ausspruch in Goethes Drama Bezug: Das Land der Griechen mit dem Körper suchend. Isadora und Elizabeth Duncan. 9 Das Schriftenverzeichnis umfasst 56 (eng bedruckte) Seiten, es ist abgedruckt in Karl August Böttiger: Kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts, hg. von Julius Sillig, Bd. 1, Dresden und Leipzig 1837, S. XIII–LXVIII. 10 Karl August Böttiger: Vorbericht, in: Amalthea oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde, hg. von Karl August Böttiger, Bd. 2, Leipzig 1822, S. III–XXXII, hier S. V, Anm. **. 11 Die populäre altertumskundliche Tätigkeit Böttigers wird skizziert bei Hellmut Sichtermann: Kulturgeschichte der klassischen Archäologie, München 1996, S. 207–209. Vgl. zu Böttiger in Dresden neuerdings popularisierend zusammenfassend und mit Forschungsfehlern Theodore Ziolkowski: Dresdner Romantik. Politik und Harmonie, Heidelberg 2011, S. 27–33, 76–77 (Anm. S. 202, 205).

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Das Land der Griechen mit dem Körper suchend

Er will, so schreibt er im Vorbericht zum zweiten Band der Amalthea, nicht wohlfeiles »Popularisiren der Wissenschaft« betreiben, um »Absatz und allgemeine Verbreitung« seines archäologischen Journals zu steigern.12 Obgleich ein Rezensent dieses im Namen von »Nichtkenner[n]«, »Anfänger[n]« und »praktischer Nutzanwendung« wohlmeinend gefordert habe, müsse man, so Böttiger, stets den »historischen Weg[ ]« erkennen, auf dem man zum Resultat gelangt sei. Nur so könne altertumskundliche Erkenntnis davor bewahrt werden, »bloß als nackendes Resultat ausgesprochen« zu sein.13 Mit der Erkenntnis und Dokumentation des »historischen Weges« ist auch ein neuzeitlicher wissenschaftlicher Apparat gemeint, mit dem Böttiger auf die »moderne Form der [wissenschaftlichen] Narrative [zurückgriff]: waehrend im Text das Resultat geschildert wurde, zeigten Kommentare und Fußnoten den Weg dorthin«.14 Zugleich ironisiert Böttiger aber das eigene Vorgehen, indem er es mehrfach selbst verspottet: So sei es ihm in der Druckfassung der in Dresden gehaltenen Archäologievorlesungen nicht möglich, ohne Fußnoten, diesen »Rest altteutscher Pedanterei und verrufener Gründlichkeit!«, auszukommen.15 Auch in der Einleitung zu den erwähnten Vorlesungen, die zusätzlich separat publiziert wurden, spricht Böttiger vom »mißlich[en] […] Conjectural-Geschäft!«, auf das er sich gleichwohl einlassen müsse.16 Bemerkenswert ist hier der Duktus des scheinbaren Bedauerns, der seine Berechtigung aus der ironischen Darstellung eines überkommenen Habitus bezieht, nämlich dem des engstirnigen Gelehrten vergangener Epochen. Böttigers Selbstverspottung ist eine rhetorische Figur, mit der er dem potentiellen Vorwurf der philiströsen Gelehrsamkeit die Spitze nimmt, denn diese Kritik wird von ihm selbst vorgebracht und zugleich ironisch gebrochen. In der Inversion der vermeintlichen Selbstkritik erscheint so die Solidität der wissenschaftlichen Autorschaft. Tatsächlich hat Böttiger neue Forschungsergebnisse einer breiteren Leserschaft vermittelt, und seine Thesen musste er quellenkritisch absichern, denn er schrieb als primär, aber nicht ausschließlich philologisch argumentierender Altertumskundler. Damit setzte er sich von einer als unverbindlich und eklektizistisch wahrgenommenen Ausein-

12 Böttiger: Vorbericht, in: Amalthea, Bd. 2 (wie Anm. 10), S. V. Vgl. auch Karl August Böttiger, Vorbericht, in: Griechische Vasengemälde. Mit archäologischen und artistischen Erläuterungen der Originalkupfer, hg. von dems., Bd. 1, Heft 3, Magdeburg 1800, [unpag.]. 13 Böttiger, Vorbericht, in: Amalthea, Bd. 2 (wie Anm. 10), S. IV, VI. 14 Ulrich Marsch: Rezension zu: Anthony Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, Berlin 1995, in: H-Soz-u-Kult, 14. Juli 1997, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/rezensionen/id=362 (Abruf 10. Oktober 2010). 15 Karl August Böttiger: Myron und der athletische Kreis [zuerst 1806], in: Ders.: Kleine Schriften, hg. von Julius Sillig, Bd. 2, Dresden und Leipzig 1838, S. 59–84, hier S. 61. 16 Karl August Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen über die Archaeologie im Winter 1806, 1. Abt., Dresden 1806, S. IX.

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andersetzung mit der Antike ab, die er deutlich als »sublimierte[s] Kunstgeschwätz nach Art und Weise unserer neuesten Mystiker und Philosophen« disqualifiziert.17 Konstitutiv für Böttigers Verständnis der Antike ist aber nicht allein die philologische Korrektheit oder altertumskundliche Detailtreue, sondern ein synthetisierender Ansatz. Böttiger möchte nicht primär isolierte akademische Spezialfragen lösen – auf die entsprechenden Forschungen verweist er ausführlich in den Fußnoten –, er möchte vielmehr mittels »gewagteste[r] Restauration« aus den rudimentären Zeugnissen der Antike ein lebensnahes und zugleich polyperspektivisches Bild des Altertums entwickeln,18 selbst wenn diese »Gewohnheit […] gern das Neueste mit dem Aeltesten [zu vergleichen]« ihm den Vorwurf der »pedantische[n] Unart« einbringen könne.19 Der Anspruch Böttigers wird beispielhaft eingelöst in einer Passage aus Myron und der athletische Kreis, in der es um einen Faustkampf in der Antike geht: [D]rängen [wir] uns mit [Myron] in jenen enger und enger sich gürtenden Kreis der Zuschauer, die voll Begierde sich auf die Fusszehen stellen **), um […] in den erlesensten Bewegungen der erlesensten Körper, wo Schönheit und Kraft im unzertrennlichen Bunde sich vermählen, mit nie zu ersättigender Augenlust zu schwelgen.20

Aus der philologischen Analyse – dokumentiert und fixiert in zwei Textstellen, die als Fußnote präsent sind,21 – entwickelt Böttiger ein nahezu greifbares Geschehen, das durch genuin physische und ästhetisch-sensualistische Kategorien wie »Körper«, »Kraft«, »Schönheit« und »Augenlust« definiert ist. Im Myron-Aufsatz baut Böttiger seine Argumentation jedoch nicht nur auf wort-, sondern stets auch auf sacharchäologische Zeugnisse. Die Textstellen antiker Autoren werden ergänzt um Hinweise auf Plastiken und wiederum deren zeitgenössische und moderne Beschreibungen. Im Verlauf des Myron-Textes wechselt Böttiger mehrfach zwischen philologischer Untersuchung, der Analyse antiker Statuen sowie dem kritischen Referat von Forschungsund Rezeptionsgeschichte der Kunstwerke. So geht die oben zitierte Beschreibung eines Faustkampfes in eine Beschreibung des Diskobol des Myron über, indem 17 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 59. 18 Ebenda, S. 60. 19 Karl August Böttiger: Forioso und die Seiltänzer zu Cyzicus, in: Ders.: Kleine Schriften, hg. von Julius Sillig, Bd. 3, Dresden und Leipzig 1838, S. 335–344, hier S. 336. 20 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 70. 21 Der Inhalt der Anmerkung **) bei Böttiger lautet: »Man lese die Schilderung einer solchen Scene im Dio Chrysostomos p. 288. 289. Morell. oder in Heliodor’s äthiopischen Geschichten lib. 30. p. 432. f. ed. Coray.« Ebenda. – Für eine moderne Übersetzung der Passage siehe Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden, eingel., übers. und erl. von Winfried Elliger, hg. von Walter Rüegg, Zürich und Stuttgart 1967, S. 332. – Es sei am Rande bemerkt, dass das althistorische Projekt »Spectatores« an der Universität Graz Quellen und Forschungsliteratur zum Zuschauerwesen im Altertum online dokumentiert: URL: http://www-gewi.uni-graz.at/ spectatores/index.html (Abruf 4. August 2011).

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Das Land der Griechen mit dem Körper suchend

Böttiger einen Disziplinwechsel beschreibt: »Ein neuer Wettkampf beginnt«.22 Nun werden eine erhaltene römische Kopie des Diskobol, diverse Abbildungen und Gipsnachbildungen dieser Kopie und literarische Zeugnisse von Böttiger präsentiert und mit eigenen anatomischen Reflexionen verknüpft. Die Verbindung aus anschaulicher Darstellung und exakter wissenschaftlicher Begründung wird ergänzt durch einen Blick auf das vermeintlich Marginale; ein Vorgehen, das schon bei Zeitgenossen Bewunderung erregte. Als paradigmatisch kann in dem Zusammenhang eine Bemerkung von Friedrich Gentz über Böttigers Sabina gelten: »Über solche Gegenstände, von denen ich es kaum für möglich gehalten hätte, einen Aufsatz von sechs Seiten zu schreiben, ein großes, lehrreiches, unterhaltendes, wahrhaft künstliches Buch hervorzubringen – das hat mein Erstaunen erregt!«23 Auch im zitierten Myron-Aufsatz überschreitet Böttiger nicht nur (heutige) Disziplin- und Gattungsgrenzen, sondern wirft ebenfalls einen Blick auf das zu seiner Zeit vermeintlich Akzidentelle – ihm geht es beim Faustkampf nicht nur um die schönen Körper der Athleten, die in der Antikenrezeption seit Winckelmann als ästhetisches und anthropologisches Ideal kanonisiert waren, sondern auch um das soziale ›Drumherum‹ des Zuschauerwesens. Die Bedeutung solcher scheinbar peripheren Aspekte antiken Lebens für ein neues Gesamtbild des Altertums wird umso deutlicher, wenn man Böttigers Vergleiche der Antike mit der Moderne exemplarisch betrachtet.

Kämpfer: antikisch vs. englisch Bei der Beschreibung der Myronschen Athletenwelt dient Böttiger die Gegenwart als Kontrast- und Vergleichsebene; die oben zitierte Textstelle wird einer Skizzierung des modernen Sports gegenübergestellt: Es sei zumindest eine »Art von Approximation« an Myrons Situation, wenn man sich vorstelle, in den Kreis des »vornehmen[n] und niedere[n] englische[n] Pöbel[s]« zu treten, der sich »um zwei fast bis an den Nabel entblöste Boxer und seine Bouteillenhalter« drängt.24 Thomas Rowlandson, ein 22 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 70. 23 Friedrich Gentz an Karl August Böttiger, Wien, 21. November 1803, in: Briefe von und an Friedrich von Gentz, hg. von Friedrich Carl Wittichen, Bd. 1: Briefe an Elisabeth Graun, Christian Garve, Karl August Böttiger und andere, München und Berlin 1909, Nr. 82, S. 270f., hier zitiert nach Julia Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006, S. 94. 24 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 69. Vergleiche des antiken mit dem modernen Sport finden sich auch an anderer Stelle: Die antiken Pankratiasten werden mit den »britischen Faustschläger[n]« verglichen; die Verwendung von bleiernen Sprunggewichten (halteres/a™ltñrev) in der Antike ist für Böttiger Gebräuchen bei Sportwettkämpfen in Schottland und in der Schweiz ähnlich. Karl August Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie. Eine Vorlesung, im Vorsaale derselben gehalten den 31. August 1814, in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 2 (wie Anm. 15), S. 25–52, hier S. 44 und S. 46, Anm. **.

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Abb. 2 Englische Boxer (mit »Bouteillenhalter«)

populärer englischer »Sittenmahler«, wie ihn Böttiger nennt,25 hat mehrfach solche Szenen satirisch dargestellt, die dann als Stich Verbreitung fanden.26 Mit seiner Bemerkung – deren kulturkritischer Impetus noch zu skizzieren sein wird – bezieht Böttiger sich auf einen zeitgenössischen Diskurs; er schreibt hier eine zentrale Erfahrung deutscher Englandreisender fort. Böttiger ist zwar nie selbst in England gewesen, doch als Herausgeber von Friedrich Justin Bertuchs erfolgreicher Zeitschrift London und Paris, die dieser als internationales Pendant zum Journal

Abb. 3 Zeitgenössische Studie des »freyen Faustkampfes«

25 Karl August Böttiger: Bemerkungen über die englischen Pferderennen, in: Morgenblatt für gebildete Stände, Stuttgart und Tübingen 1820, Bd. 14, Nr. 36 (11. Februar 1820), S. 141. 26 Mit englischen und französischen Karikaturen war Böttiger durch seine Arbeit als Redakteur von London und Paris vertraut. Hier erschienen zahlreiche satirische Stiche, die zum Teil auch

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des Luxus und der Moden gegründet hatte, war er mit der deutschen Wahrnehmung Britanniens gut vertraut.27 Während die Italienreisenden des 18. Jahrhunderts in der Tradition der Grand Tour im wesentlichen einen Kanon von architektonischen und künstlerischen Sehenswürdigkeiten abarbeiteten und die soziale Situation – einschließlich des auch in Italien betriebenen Sports28 – allenfalls eine mehr oder minder malerische Matrix dieser vorrangig ästhetischen und kulturhistorischen Erfahrung bildete,29 bezogen sich die Englandreiseberichte dieser Epoche primär auf das politische, wissenschaftliche, soziale und ökonomische Leben.30 Neben dem politischen System und der

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von Böttiger erläutert wurden. Vgl. Werner Greiling: Kultur aus den ›zwey Hauptquellen‹ Europas. Friedrich Justin Bertuchs Journal ›London und Paris‹ , in: Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents, hg. von Hellmut Th. Seemann, Göttingen 2008, S. 138–158, hier S. 153–157. Diese Beschäftigung mit englischen »Carricaturbildern« galt Böttigers Kritikern – beispielsweise Schelling – als schweres Vergehen, weil jener damit angeblich der Obszönität Vorschub leistete. Vgl. René Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs, Berlin 2008, S. 78f., Anm. 519. Siehe dazu Greiling: Kultur aus den ›zwey Hauptquellen‹ Europas (wie Anm. 26), zum Absatz der Zeitschrift siehe S. 145f. Vgl. etwa Goethes Beschreibung des Pallone, eines heute noch gepflegten italienischen Ballspiels, bei dem der Ball mit hölzernen Armstulpen (Bracciale) geschlagen wird. Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, textkrit. durchges. von Erich Trunz, komm. von Herbert von Einem, Jubiläumsausgabe, München 2007, S. 44f. (Eintrag zum 16. September 1786). Böttiger evoziert die »scherzhafte Ballpartie«, »wie sie dort Göthe vor Verona sah, wo zur eignen gesunden Bewegung und zur Erheiterung der Zuschauer den Ball eben so geschickt zurückwirft, als er uns von dem auflauernden Ballspieler gegenüber zugeworfen worden war«, in dem Manuskript Noch ein Wort über die Hierodulen. Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 26), S. 242, Anm. 696. Böttigers Projektpartner Johann Heinrich Wilhelm Tischbein hat ebenfalls eine Skizze hinterlassen, auf der eine Karikatur von Pallone-Spielern zu erkennen sein könnte: J[örg] D[euter]: Kat.-Nr. 3.113. Studienblatt (studi di figure e di animali), um 1787, in: Sehnsucht nach dem Süden. Oldenburger Maler sehen Italien, hg. von Bernd Küster, Oldenburg 2000, S. 132 (mit Abb.). Auch Karl Philipp Moritz erwähnt in den Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 (erster Teil, Berlin 1792, S. 19f.) ein Pallonespiel in Cesena. – Grundlegend zu dieser Sportart Stefan Größing: Pallone – ein aristokratisches Ballspiel, in: Ball- und Kugelspiele. Internationale Beiträge des Instituts für Spielforschung und Spielpädagogik an der Hochschule »Mozarteum« Salzburg, hg. von Günther G. Bauer und Heiner Gillmeister, München und Salzburg 1996, S. 79–106; sowie auch F[ritz] K[arl] Mathys: Die Ballspiele. Eine Kulturgeschichte in Bildern, Dortmund 1983, S. 20f., 54f. (Abb.), 84–90. Zur Tradition der Grand Tour immer noch lesenswert Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die ›Grand Tour‹, übers. von Annette Kopetzki, Berlin 1997, hier z. B. S. 13, 17, 77–104. Vgl. Bernhard Fabian: Einführung, in: ›Der curieuse Passagier‹. Deutsche Englandreisende des achtzehnten Jahrhunderts als Vermittler kultureller und technologischer Anregungen, Heidelberg 1983, S. 7–14, hier S. 10; Michael Maurer: Einleitung, in: Oh Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, hg. von Michael Maurer, Frank-

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frühkapitalistischen Wirtschaft beeindruckte besonders die Vielfalt der Unterhaltungsmöglichkeiten für alle Stände. Dazu zählte auch der Sport, der schon in den frühen Nachrichten aus England eine Konstante bildet. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts berichtet Zacharias Conrad von Uffenbach ausführlich über Fechtkämpfe und Pferderennen;31 einige Jahrzehnte später schreibt der preußische Gesandte Jacob Friedrich von Bielfeld über »Brot und Schauspiele«, welches die englische Nation allein verlange. Zu letzterem rechnet er neben Pferderennen, Hundekämpfen und Schwertkämpfen auch Boxkämpfe. Irritiert zeigt sich Bielfeld dabei von der Brutalität der professionellen Kontrahenten; das halbnackte Auftreten der Sportler ist ihm ebenfalls ungewohnt und steigert seinen negativen Eindruck.32 Als Karl Philipp Moritz dann in den achtziger Jahren nach England reist, sind für ihn englische Jungen, die sich »baxten«, schon ein ebenso typisches Merkmal des Landes wie die roten Uniformen der Soldaten.33 Auch Kleist nimmt in einer Anekdote, die 1810 in den Berliner Abendblättern erschien, ironisch Bezug auf den (letalen) Kampf zweier professioneller »Baxer« in England.34 Böttiger argumentiert also keinesfalls exotistisch, wenn er eine Publikumsperspektive auf einen englischen Boxkampf imaginiert, vielmehr waren seinen Zeit-

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furt/M. 1992, S. 5–39, hier S. 24–27. Exemplarisch siehe dazu auch Gerhard Sauder: Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782: Karl Philipp Moritz, in: Fabian: ›Der curieuse Passagier‹ , S. 93–108, hier S. 100f. Zacharias Conrad von Uffenbach: Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland, 3 Bde., Ulm und Memmingen 1753/54, Bd. 2, S. 532–536, 555–560, hier nach Maurer: Oh Britannien (wie Anm. 30), S. 58–65. Dazu siehe Andreas Selling: Deutsche Gelehrten-Reisen nach England 1660–1714, Frankfurt/M. u. a. 1990, S. 198f. Jacob Friedrich von Bielfeld: Des Freyherrn von Bielfeld freundschaftliche Briefe nebst einigen andern. Aus dem Französischen, 2 Bde., Danzig und Leipzig 1765, Bd. 1, S. 322–326, hier zitiert nach Maurer: Oh Britannien (wie Anm. 30), S. 115–119. Über sieben Jahrzehnte später rechnet auch Heinrich Heine die Begeisterung für Box- und Hahnenkämpfe zu den negativen Nationaleigenschaften der Engländer und stellt sie sogar deren Faszination für öffentliche Hinrichtungen gleich. Heinrich Heine: Florentinische Nächte, in: Ders.: Denn das Meer ist meine Seele. Reisebilder, Prosa und Dramen, mit Anm. von Bernd Kortländer, Düsseldorf und Zürich 2003, S. 605–660, hier S. 635, Kommentar ebenda, S. 1034. Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782, mit einem Nachwort von Heide Hollmer, Frankfurt/M. und Leipzig 2000, S. 12 (Eintrag vom 2. Juni 1782). Heinrich von Kleist: Anekdote, in: Berliner Abendblätter, Berlin 1810, Bd. 1, Nr. 46 (22. November 1810), hier nach: Heinrich von Kleist: Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt/M. 2005, S. 366f., Kommentar S. 934f. – In den 1830ern wurde das Boxen dann offenbar als so typisch englisch angesehen, dass der anglophile Hermann von Pückler-Muskau in den Briefen eines Verstorbenen erwähnt, er habe selbst in London Boxstunden genommen. Er führt außerdem zwei zentrale Elemente des inzwischen traditionellen deutschen Englandbildes – die Parlamentsdebatten und den öffentlich betriebenen Sport – zusammen, wenn er einen Redner im Unterhaus als »geschickten und eleganten geistigen Boxer« bezeichnet. [Hermann von Pückler-Muskau:] Briefe eines Verstorbenen, Stuttgart, Bd. 3, 21836, S. 415 (14. Brief, 7. April 1827), Bd. 4, 21837, S. 20 (15. Brief, 1. Mai 1827).

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Abb. 4 »Im Ebenmass und Verhältniss zur strengsten Kunstregel« – antiker Faustkampf

genossen die Umstände dieses Zweikampfes bekannt und auch mit den dominanten Kritikpunkten – Brutalität der Sportler, hohe Preisgelder und ein intensives Wettgeschehen – dürften sie vertraut gewesen sein. Indem Böttiger nun Moderne und Antike annähert, bindet er einen Aspekt des Lebens im Altertum nicht nur an die seinerzeitige Lebenswelt an, sondern er kann vor dem Hintergrund des modernen Beispiels den spezifischen Charakter der Körperkultur in Hellas umso schärfer konturieren. In dieser kleinen Querelle des Anciens et des Modernes schneiden die Alten deutlich besser ab; ein kulturkritischer Impetus gegenüber der Gegenwart ist dabei unübersehbar. So schreibt Böttiger, dass auch ein langwieriger und durch hohe Wettsummen35 ausgezeichneter Kampf »dieser noch so rüstigen Rostbeef-Esser« dem Faustkampf bei antiken Spielen in Olympia oder Delphi nicht zu vergleichen sei. Die Bewegungen der modernen Sportler erreichten nicht die Harmonie, die den Alten inhärent war: »die kecksten, malerischesten Stellungen und Bewegungen […], in welchen die gewaltigsten Stösse und Beugungen, selbst bis zur scheinbaren Verrenkung, doch stets im Ebenmass und Verhältniss zur strengsten Kunstregel« stattfanden.36 35 Die Wettleidenschaft erwähnt Böttiger als Charakteristikum der Briten auch in Forioso und die Seiltänzer zu Cyzicus (wie Anm. 19), S. 339f. 36 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 69.

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Während sich die Kämpfe in Hellas also durch Harmonie auszeichneten und alle Bewegungen nicht nur dem sportlichen Zweck dienten, sondern zudem einer ästhetischen Norm genügten, sind die Boxkämpfe in der Gegenwart zu einem inferioren Amüsement herabgesunken. Dessen Bedeutung leitet sich – wie bei dem ebenfalls als typisch englisch wahrgenommenen Wettreiten37 – allenfalls aus den Gesetzen frühkapitalistischen Wirtschaftens und dem sensationslüsternen Voyeurismus des Volkes her. Obgleich Böttiger über die Umstände des englischen Boxens wohl informiert gewesen zu sein scheint, erwähnt er nicht, dass bei professionellen Boxkämpfen durchaus Maler und Bildhauer anwesend waren, um die Anatomie der Kontrahenten zu studieren oder diese als Modelle zu verpflichten.38 Aber nicht allein den Briten – die in zeitgenössischen Berichten wegen ihres Umgangs mit den Zeugnissen des Altertums als negatives Zerrbild der Moderne gelten und auch bei Böttiger an anderer Stelle entsprechend figurieren39 –, sondern selbst den Römern der Moderne spricht Böttiger die Kompetenz ab, mit ihren Bewegungen die antiken Vorbilder zu erreichen. Er referiert in Myron und der athletische Kreis da-

37 An anderer Stelle schildert Böttiger aus der Perspektive des faszinierten und zugleich irritierten Fremden die professionellen englischen Jockeys, deren Sport von der Ökonomie der Wetteinsätze und von der konsequenten Vermessung und Disziplinierung ihrer Körper und der der Pferde bestimmt ist. Auch diese Passage kann als kulturkritische Wahrnehmung modernen Sports gelesen werden. Vgl. Karl August Böttiger: Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze durch Kunstwerke im antiken Geschmacke, Weimar 1795, S. 37ff. In seinen Bemerkungen über die englischen Pferderennen, in: Morgenblatt für gebildete Stände, Stuttgart und Tübingen 1820, Bd. 14, Nr. 36 (11. Februar 1820), Nr. 37 (12. Februar 1820), Nr. 38 (14. Februar 1820), Nr. 39 (15. Februar 1820), Nr. 41 (17. Februar 1820), S. 141f., 146f., 150–152, 154f. und 162f., stellt Böttiger einen aktuellen Aufsatz zum Pferderennwesen in England vor, in dem die Wettleidenschaft der Engländer und die Zurichtung der Pferde nicht nur detailliert beschrieben, sondern auch deutlich kritisiert werden. 38 Vgl. Frederick L. Wilder: Sport für Gentlemen. Alte Druckgraphik aus England, übers. von Vita Maria Künstler, Dortmund 1980, Anm. zu Taf. 77 (unpaginiert). 39 Von Böttiger werden die Briten als »kauflustig« und implizit als uninteressiert in Bezug auf Antiken, die sie in Italien erwerben, geschildert. Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 31. Zudem »entführten« sie – namentlich Lord Elgin und Sir Richard Worsley – die Kunstwerke Phidias’ von der Akropolis. Ebenda, S. 34f. Letzteres hatte schon bei Zeitgenossen Kritik erzeugt: Vgl. Wilhelm Müller: Die Ruinen von Athen an England, in: Ders.: Lieder der Griechen, 2 Hefte, Dessau 1821–1822, Heft 1, S. 187f. Lord Byron kritisierte ebenfalls seine Landsleute. Vgl. George Gordon Lord Byron: Sämtliche Werke, Sonderausg. Düsseldorf 2001, Bd. 1: Childe Harolds Pilgerfahrt und andere Verserzählungen, in den Übertragungen von Otto Gildemeister und Alexander Neidhardt (Der Walzer), überarb., nach der hist.-krit. Ausgabe erg. und mit Anm. hg. von Siegfried Schmitz, S. 46f. (Childe Harolds Pilgrimage), S. 171–177 (Der Fluch der Minerva). In Deutschland wurden die englischen »Antiquare«, die Griechenland bereisten, seit Ende des 18. Jahrhunderts karikiert. Vgl. [Johann Karl Wezel:] Kakerlak oder Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem vorigen Jahrhundert, Leipzig 1784, S. 148–157 und auch Mephistos Bemerkung in Goethe: Faust II, V. 7118–7121.

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Abb. 5 »Eccolo, il gladiatore!« – Pallone-Spieler beim Anspiel

zu eine Episode, die Antoine-Esprit Gibelin in einer Vorlesung am Pariser Nationalinstitut berichtet hatte.40 Demnach hatten Zuschauer, als sie in Rom den bekannten Pallone-Spieler41 Pezzaro in einer außergewöhnlichen Pose erblickten, diesen spontan mit dem Ausruf »Eccolo, il gladiatore!« bezeichnet und damit dem Borghesischen Fechter gleichgestellt. Das, so unterstellt Böttiger, sei aber nichts anderes als das Eingeständnis der Tatsache, »wie wenig selbst der geübtere und gewandtere Italiener sich jetzt auch nur solche gymnastische Stellungen vergegenwärtigen kann, die er an den herrlichsten Ueberresten der Antiken vor Augen hat«.42 Und als man bei anderer Gelegenheit im 40 Antoine-Esprit Gibelin (1739–1813) war Maler, Zeichner und Archäologe. Er veröffentlichte u. a. zum Borghesischen Fechter und wollte »damit beweisen, dass wir hier einen Ballspieler aus dem Alterthume haben.« Art. Gibelin, Antoine Esprit, in: Neues allgemeines KünstlerLexicon, bearb. von G[eorg] K[aspar] Nagler, Bd. 5: Gallimberti – Haslöhl, München 1837, S. 185. – Auch Goethe schreibt in der Italienischen Reise (wie Anm. 28, hier S. 45) über die Pallone-Spieler: »Besonders schön ist die Stellung, in welche der Ausschlagende [sic] gerät, indem er von der schiefen Fläche herunterläuft und den Ball zu treffen ausholt, sie nähert sich der des Borghesischen Fechters.« 41 Vgl. Anm. 28. 42 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 69.

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Atelier eines deutschrömischen Künstlers versucht habe, die Stellung der Fechterstatue durch ein Modell nachahmen zu lassen, sei dies nur durch zahlreiche unnatürliche Verrenkungen wie bei einer »Zangengeburt« gelungen.43 Das gymnastische Versagen, das Böttiger hier den modernen Römern zuschreibt, ist für ihn historisch angelegt, denn »[d]ie Verachtung der Athletik und der gymnastischen Uebungen überhaupt ging von den Römern aus«. Sie ergaben sich stattdessen den professionell organisierten »blutigern Schauspiele[n] der Gladiatoren« und dem »wollüstigen Sinnenkitzel« der Pantomimenspiele.44 Hinsichtlich der Moderne hatte Winckelmann schon fast ein halbes Jahrhundert zuvor einen ähnlichen Differenzbefund wie Böttiger formuliert, wenngleich ohne nationale Festlegung und ohne einen solch deutlichen

Abb. 6 Wenig klassisch – Pallone spielender Zwerg

43 Ebenda, S. 69f. Auch an anderer Stelle kontrastiert Böttiger das griechische Ringkampfwesen, die »Palaestrik«, die in der Antike von Künstlern in den Gymnasien studiert worden sei, mit »unsre[n] [modernen] academische[n] Acte[n] und Gliedermänner[n]«, wobei erstere positiver abschneidet. Böttiger: Andeutungen zu vierundzwanzig Vorträgen über die Archaeologie (wie Anm. 16), S. 112f. 44 Karl August Böttiger: Drittes Vasengemälde, in: Griechische Vasengemälde. Mit archäologischen und artistischen Erläuterungen der Originalkupfer, hg. von Karl August Böttiger, Bd. 1, Heft 2, Weimar 1798, S. 37–67, hier S. 58, Anm. **. An anderer Stelle kontrastiert Böttiger die grausamen »Spiele« der Römer, die deren Triumphzüge abschlossen, mit der »süßeste[n] Frucht der Humanität«, die sich in den griechischen Wettkämpfen zeigte. Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 2: 2., 3. und 4. Cursus, hg. von Julius Sillig, Dresden und Leipzig 1836, S. 199f. In die gleiche Richtung geht eine Kritik, bei der der »Weltplünderer« Rom wegen seines Umgangs mit dem griechischen Kunsterbe als »entartet« bezeichnet wird. Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 28. Mit ganz ähnlichen Worten und genauso wertend vergleicht Schiller 1795 griechische und römische Spiele. Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen, Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, München 2004, S. 570–669, hier S. 617 (15. Brief). Zeittypisch ist hier das Denkmuster, dass die humaneren, kulturell höherstehenden Griechen genau deshalb den rücksichtsloseren Römern politisch und militärisch unterliegen mussten.

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Abb. 7 Borghesischer Fechter

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kulturkritischen Impetus. In seiner graecophilen Programmschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst heißt es über antike und moderne Körperkultur: Das schönste Nackende der Körper zeigte sich hier [in den Gymnasien, F. S.] in so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Ständen und Stellungen, in die ein gedungenes Modell, welches in unseren Akademien aufgestellt wird, nicht zu setzen ist.45

Inhaltlich analog, aber noch emphatischer äußert sich Böttiger: Was für Menschen mussten diese Griechen sein, die, durch die Kunst der Athletik und durch die Siegerkronen in ihren heiligen Spielen veredelt, dem zerbrechlichen Thongebilde, Menschenkörper genannt, so überirdische Herrlichkeit aufdrückten und dabei nicht einmal in’s Idealische überzuschweifen brauchten. Welch eine Kluft zwischen einem solchen Product der athletischen Veredlungskunst […] und einem heutigen Act- und Attitüdensteller! Und man fragt noch, warum wir keine nackte Statue mehr haben!46

In seinem Myron-Aufsatz verzichtet Böttiger auf diese explizite geschichtsphilosophische Generalisierung. Für die Degeneration der Körperkultur und -ästhetik kritisiert er stattdessen namentlich die Briten und die Italiener der Moderne. Die fehlende Körperbeherrschung der Römer dokumentiert, dass sie sogar als Bewohner eines Ortes, an dem sich Überreste des römischen wie des griechischen Altertums konzentrieren, über keine besondere Beziehung zur Antike verfügen. Das entspricht zeittypischem Denken. Trotz weitverbreiteter Sympathien für die Neugriechen wurde um 1800 weder ihnen noch den Italienern zugestanden, dass sie als Nachkommen der alten Römer und Griechen über eine exklusive Verbindung zur Antike verfügen könnten. So konstatiert Wilhelm von Humboldt, dass er in Rom zwar auf »classischem Boden« lebt,47 die Römer erscheinen ihm jedoch als Bewohner einer Stadt, die von »Elend« und »Erbärmlichkeit« geprägt ist.48 Ähnliches gilt für 45 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst/Sendschreiben/Erläuterung, hg. von Ludwig Uhlig, bibliographisch erg. Aufl., Stuttgart 1995, S. 8. 46 Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 37f. 47 Wilhelm von Humboldt: Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, Darmstadt 41986, S. 25–64, hier S. 25. 48 Wilhelm von Humboldt an Friedrich Schiller, Rom, 10. Dezember 1802, in: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt, hg. von Siegfried Seidel, Bd. 2, Berlin 1962, S. 224–229, hier S. 225. Zugleich dient Rom Humboldt aber als Projektionsfläche des eigenen Antikekonstrukts, wie er als Resultat einer idealistischen Introspektion konstatiert: »Ihnen [den Römern, F. S.] ist Rom die Wirklichkeit, in der sie sich täglich bewegen, nicht, wie uns, ein Land der Einbildungskraft und Sehnsucht.« Wilhelm von Humboldt: Rezension von Goethes zweitem römischen Aufenthalt, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 2 (wie Anm. 47), S. 395–417, hier S. 397. – Vgl. auch Auguste Duvau an Karl August Böttiger, Florenz, 26. Juni bis Paris, 8. Oktober 1802: »Ich habe viel Deutsche in Rom gesehen, u es that mir wohl – denn die Italiäner! / Rom ist gewiß die erste Stadt in der Welt – denn nirgends gehen Natur

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Griechenland.49 Gegenüber Friedrich Thiersch, einem erklärten Freund der Neugriechen, merkt der ausgesprochen Philhellenismus-kritische Humboldt an,50 dass das alte Griechenland unwiederbringlich untergegangen sei. Auch die neugriechische Sprache könne derzeit keine besondere Beziehung des modernen Balkanstaats zum antiken Hellas begründen.51 Böttiger pflegte ebenfalls mit Friedrich Thiersch Kontakt, bewegte sich »am Rande dieses philhellenischen Netzwerks« und hegte durchaus Sympathien für einige Aspekte der griechischen Unabhängigkeitsbewegung.52 So propagiert er in einem Artikel in der Zeitung für die elegante Welt die Programme der philhellenischen Griechenvereine in Sachsen, die in Leipzig und Dresden Unterstützung für die Neugriechen organisierten.53 In Hinblick auf die möglichen Ähnlichkeiten der altund neugriechischen Sprache argumentiert Böttiger uneinheitlicher als Humboldt, in manchen Bereichen sah er die Neugriechen mit vielen Einschränkungen durchaus noch als Erben der antiken Vorbilder.54 Gleichwohl ist der niedrige Stand der Körperkultur – wie es sich selbst in der geschichtsträchtigen Metropole Rom zeigt – für ihn ein Ausdruck der Inferiorität der Modernen gegenüber der Antike. Das von Humboldt vertretene Denkmodell, wo-

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u Kunst mehr Hand in Hand als hie u in der Gegend, – wenn man aber auf die Unwissenheit, die Herabwerfung, die Gefühllosigkeit, die Unreinlichkeit, die Regierung u ihre Mißbräuche u.s. w. sieht, so ist Rom – die lezte in der We lt.« Karl August Böttiger: Briefwechsel mit Auguste Duvau. Mit einem Anhang der Briefe Auguste Duvaus an Karl Ludwig von Knebel, hg. und kommentiert von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 2004, S. 62. Wilhelm von Humboldt an Karoline von Humboldt, Prag, 31. Juli 1813, in: Ders.: Sein Leben und Wirken, dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit, hg. von Rudolf Freese, 2., völlig durchges. und neugestaltete Aufl., Darmstadt 1986, S. 561–563, hier S. 562. Vgl. Johannes Irmscher: Wilhelm von Humboldt und der deutsche Philhellenismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Berlin 1968, Bd. 17, Heft 3, S. 362–366. Vgl. Wilhelm von Humboldt an Friedrich Thiersch, Gastein, 18. August 1828, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 5: Kleine Schriften, Autobiographisches, Dichtungen, Briefe, Kommentare und Anmerkungen zu Band 1–5, Anhang, 2., korrigierte und ergänzte Aufl., Darmstadt 2002, S. 269–273, hier S. 270f.; ders.: Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, in: Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, Darmstadt 81996, S. 144–367, hier § 98, S. 290–292. Vgl. Schmidt-Funke: Weltmann und Gelehrter (wie Anm. 23), S. 118–124, Zitat S. 59. Für den weiteren diskurshistorischen Überblick siehe Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 26), S. 22f. Karl August Böttiger: Ein Wort über die Griechenvereine im Königreiche Sachsen, in: Zeitung für die elegante Welt, Leipzig 1826, Bd. 26/12, Nr. 224 (16. November 1826), Sp. 1793–1798. Böttiger argumentiert hier nicht mit der Bedeutung des klassischen antiken Erbes, sondern mit dem Griechischen als heilige Sprache des Christentums. Vgl. Schmidt-Funke: Weltmann und Gelehrter (wie Anm. 23), S. 119.

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nach die Griechen und Römer der Antike in den Neugriechen und Italienern keinesfalls moderne Referenznationen besitzen, schreibt Böttiger im Bereich des sportlich bewegten Körpers fort. In der Moderne ist für Böttiger nur noch ein schwacher Reflex der antiken Körperkultur sichtbar: Männer aus der italienischen Unterschicht, durch deren Lumpen eine schöne Gestalt hervorleuchtet.55 Ein Sonderfall blieben dagegen leider die Beobachtungen, die der Gemmenkundler und -zeichner Philipp Lippert im Siebenjährigen Krieg an den geschmeidigen und schönen »Croaten« der habsburgischen Armee machen konnte.56

Körper: lebendige und statuarische Lippert vergleicht im Kommentar zu seiner Daktyliothek die Soldaten Maria Theresias, die er beim Baden in der Elbe beobachtet hatte, mit antiken Marmorstatuen. Die Militärs, die »von den Gränzen Griechenlandes und Macedoniens gebürtig waren«, zeigten Bewegungsmuster, die von »Schönheit«, »leichte[n] und hurtige[n] Bewegung[en]«, »ungezwungene[m] und edle[m] Anstand« geprägt waren. Zur Körpergestalt der balkanischen Soldaten resümiert Lippert, »daß unter hundert Marmorn kaum einer diesen schönen Körpern beykommen wird«.57 Ähnliches gilt für die »kroatischen« Tanzpraktiken, denn auch diese seien den Tänzen der Antike ähnlich.58 Die Engführung der imaginierten antiken Plastik und des lebendigen Körpers, die Lippert hier anlässlich seiner konkreten Beobachtung vornimmt, ist ein Topos und zugleich eine kulturelle Praktik in der Antikenrezeption um 1800. Sammlungen antiker Skulpturen wurden bei Fackelschein besucht, um den Eindruck einer Verlebendigung zu erlangen und dieser Brauch fand in Literatur, Theorie und Malerei seinen Niederschlag.59 In seinem ersten ausgestellten Bild dokumentiert etwa Joseph 55 Die von Böttiger in diesem Zusammenhang genannten neapolitanischen »Lazzaroni« wurden auch von Herder in Gesprächen mit Böttiger ihrer Schönheit wegen hervorgehoben. Vgl. Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 1), S. 110 (17. Januar 1796). Goethe hat in sozialer, ökonomischer und ethnologischer Hinsicht detaillierte Reflexionen über diese Angehörigen der großen neapolitanischen Unterschicht angestellt. Vgl. Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 28), S. 332–338 (28. Mai 1787). 56 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 68. 57 Philipp Lippert: Daktyliothek, Leipzig 1767, S. XLf. 58 Ebenda, S. XLI. 59 Siehe dazu mit zahlreichen Quellenangaben Dominik Müller: Statuenbelebung – realistisch. In Wilhelm Raabes Frau Salome sowie Gottfried Kellers Regine und Herr Jacques, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, Berlin, New York 2004, Bd. 45, S. 16–32, hier S. 16–20. Auch immer noch lesenswert und sehr materialreich August Langen: Attitüde und Tableau in der Goethezeit, in: Ders.: Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur. Zum siebzigsten Geburtstag des Verfassers, ausgewählt und hg. von Karl Richter, Gerhard Sauder, Gerhard Schmidt-Henkel unter Mitwirkung von Hansjürgen Blinn, Berlin 1978, S. 292–353, hier bes.

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Abb. 8 Statuenbelebung bei Kerzenlicht

Wright of Derby wie drei Männer beim flackernden Licht konzentriert eine Statuette des Borghesischen Fechters studieren und abzeichnen.60 Böttiger selbst besuchte im Sommer 1798 die Dresdner Antikengalerie, deren Direktor er 1814 werden sollte, »mit Fackel-beleuchtung«. Die Eindrücke der Visite hat er in einem kurzen, separat erschienenen Aufsatz publiziert. Das Licht der »vergeistigende[n] Fackel« vermöge es, die Plastiken »wundersam [zu] entwirren und [zu] beleben«, einen »vollen Ausdruck« hervorzurufen, und die Kunstwerke so mit Leben zu erfüllen, als ob ihre »Lichtausstralungen« die Betrachter im »feuchten, farbenlosen, nordischen Himmelsstrich […] erwärmen und […] erfreuen« sollten.61

S. 304–307. – In Madame de Staëls Corinne betreten die Protagonisten auch das Atelier des Zeitgenossen Canova und erblicken dessen klassizistische Werke im Licht einer Fackel. [Anne Louise Germaine de] Staël[-Holstein]: Corinna oder Italien, übers. und hg. von Friedrich Schlegel, 2. Teil, Berlin 1807, S. 182f. 60 Vgl. Judy Egerton: Wright of Derby. Published by order of the Trustees 1990 on the occasion of the exhibition at the Tate Gallery: 7 February – 22 April 1990; Grand Palais, Paris: 17 May – 23 July 1990; Metropolitan Museum of Art, New York: 6 September – 2 December 1990, London 1990, Kat.-Nr. 22, S. 61–63; sowie Müller: Statuenbelebung – realistisch (wie Anm. 59), S. 19. 61 Karl August Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen, den 25. August 1798, Dresden 1798, S. 2–4. – Eine archäologische Rekonstruktion dieses Besuches der Dresdner Antikengalerie bietet der Beitrag von Kordelia Knoll im vorliegenden Band.

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Anlässlich einer durch das Licht der Fackeln initiierten Verlebendigungsphantasie evoziert Böttiger hier eine Überwindung der geographischen und klimatischen Distanz des nordischen Dresden zur mediterranen Welt. Deren »Himmel« – als Begriff, der historisch-kulturelle ebenso wie naturräumliche und klimatische Faktoren zusammenfasst, – war schon für Winckelmann ein wichtiger Faktor, der die athletische und künstlerische Bildung in Hellas entscheidend begünstigt habe.62 An der Wende zum 19. Jahrhundert findet sich dieser Gedanke dann auch bei Wilhelm von Humboldt.63 Dass Böttiger den »feuchten, farbenlosen, nordischen Himmelsstrich« seiner Heimat ausgerechnet im August des außergewöhnlich heißen Sommers 1798 kritisiert,64 ist an dieser Stelle irrelevant: Wird hier doch eine grundsätzliche Aufhebung der ›himmelweiten‹ Unterschiede zwischen der nordischen und der antiken Welt in der ästhetischen Erfahrung der scheinbar zum Leben erweckten Plastik imaginiert. Reflektiert, verwischt oder überschritten wurden mit der Statuenbeschauung bei Fackellicht zudem noch weitere Grenzen, wie Dominik Müller festhält: Im Kontext des Pygmalion-Mythos die Grenze zwischen toter Materie und lebendigem Körper, geschichtsphilosophisch die Grenze zwischen dem heidnischen Altertum, aus dem die Plastiken stammen, und der christlichen Gegenwart der Betrachter, gattungsästhetisch die Grenze zwischen Skulptur und Malerei oder zwischen Skulptur und Poesie, wenn es um die Beschreibung und bildliche Darstellung der Statuenbetrachtung geht, und schließlich die Grenze zwischen passiver Kunstrezeption und aktiver künstlerischer Produktion des Wahrnehmenden.65 Viele Jahre später, nun als Direktor der Dresdner Antikengalerie, entwickelt Böttiger in einer Vorlesung den Gedanken der belebten Statuen weiter und situiert

62 Die Gedanken über die Nachahmung beginnen mit einem Hinweis auf die Bedeutung des Klimas, vgl. Winckelmann: Gedanken (wie Anm. 45), S. 3; vgl. auch ebenda, S. 77–79 (Erläuterung). Auch in anderen Werken Winckelmanns findet sich der Hinweis auf die Wichtigkeit des Klimas, vgl. etwa die Geschichte der Kunst des Altertums, Dresden 1764 (Erstes Kapitel: Von dem Ursprung der Kunst und den Ursachen ihrer Verschiedenheit unter den Völkern, erstes Stück: Allgemeiner Begriff der Geschichte sowie drittes Stück: Einfluß des Klimas auf die menschliche Gestalt, Entstehung nationaler Verschiedenheiten; Viertes Kapitel: Von der Kunst unter den Griechen, erstes Stück: Vom Einfluß der klimatischen Gegebenheiten). 63 Wilhelm von Humboldt: Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 2 (wie Anm. 47), S. 73–124, hier S. 97f. Vgl. – nun ex negativo argumentierend – auch Humboldts Brief an Carl Gustaf von Brinckmann, Rom, 22. Oktober 1803, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 5 (wie Anm. 51), S. 200–207, hier S. 203. 64 Vgl. Christoph Heinrich Pfaff: Ueber den heißen Sommer von 1811 nebst einigen Bemerkungen über frühere heiße Sommer, Kiel 1812, S. 67f. 65 Vgl. Müller: Statuenbelebung – realistisch (wie Anm. 59), S. 20. Vgl. auch Norbert Miller: Mutmaßungen über lebende Bilder. Attitüde und »tableau vivant« als Anschauungsform des 19. Jahrhunderts, in: Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst, hg. von Helga de la MotteHaber, Frankfurt/M. 1972, S. 106–130, Taf. I–V, hier S. 112f.

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ihn zugleich mythenhistorisch.66 Elegisch beklagt Böttiger, mit ähnlichen Worten wie schon in dem kurzen Text von 1798, die »Gefangenschaft [der Plastiken] in diesen Gegenden«. Im Norden sei »alles Kunststudium […] nur eine exotische Treibhauspflanze«, weil die Kunstwerke ihrem ursprünglichen Standort unter »glücklicherem Himmel« entrissen sind.67 Während sie in Hellas begeisterten und im – genuin unkreativen68 – Rom der Antike zumindest noch » s chmückten und ergö tz ten«,69 erfüllen die Plastiken in der neuzeitlichen Welt »jenseits der Alpen« 70 lediglich noch einen letzten und »unterste[n] Zweck«: sie dienen der Lehre sowie der Prunksucht ihrer neuen Besitzer. Damit verbunden ist nur zu oft das Bemühen, beschädigte Statuen durch Restaurierungen unbedingt zu komplettieren, kritisiert Böttiger.71 Vor allem aber sind die Statuen in den modernen Museen nicht mehr in das gesellschaftliche und religiöse Leben eingebunden, deren konstitutives Element sie in der Antike einst gewesen waren.72 Was Böttiger hier für den konkreten Bereich der Antikensammlungen feststellt, ist zentraler Bestandteil der deutschen Griechenrezeption um 1800. Beklagt wird die Auflösung einer vielgestaltigen Einheit antiken Lebens. Aus einer harmonischen Ganzheit des Lebens, so resümiert etwa Schiller in den Göttern Griechenlandes oder Wilhelm von Humboldt in seinen theoretischen Schriften,73 ist eine unverbundene und antagonistische Pluralität geworden. In seinen Verlebendigungsphantasien beschränkt sich Böttiger konsequenterweise nicht auf die Vorstellung, dass die marmornen Statuen in der Lage sind, Bewegungsmuster zu vollziehen. Er skizziert vielmehr eine Szenerie, in der die Plastiken auch »Zungen bekämen und uns erzählen könnten, wo sie zuletzt standen«.74 Ihr Standort mag dann ein »Ringe- oder Badeplatz« gewesen sein, wo sich in den Körpern der Athleten ästhetische und sportliche Aspekte des antiken Lebens vereinten. Wie an anderen Stellen seines Œuvres erweitert Böttiger einen Diskurs, der per se nicht neu ist, zu einem ganzheitlichen Bild des Altertums. Die populären Beschreibungen der Statuenbetrachtung bei Fackellicht verwandeln sich bei Böttiger so in eine polyperspektivische Imagination der Antike, welche ihre Legitimation 66 67 68 69 70 71 72 73

Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 25f. Ebenda, S. 26f. Vgl. ebenda, S. 38. Ebenda, S. 28, Emphase im Original. Ebenda, S. 29. Vgl. ebenda, S. 29f. und auch S. 36. Vgl. ebenda, S. 27. Vgl. etwa Wilhelm von Humboldt: Über das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondere, in: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 2 (wie Anm. 47), S. 1–24, hier S. 3f. 74 Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 25. – Zur Verlebendigung als Umkehrung der Apolithose bei Böttiger und den Pionieren der französischen Moderne und zur Transformation von Böttigers Verlebendigungsmotiv in Tiecks Novelle Die Vogelscheuche vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 26), S. 456–458 und S. 464.

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gleichermaßen aus der philologischen Interpretation wie der Analyse archäologischer Artefakte bezieht.75 Als Gegenstück zur Statuenbetrachtung etablierte sich um 1800 die Kunst der Attitüden und tableaux vivants.76 Erstere fand in Lady Hamilton, der Ehefrau Sir William Hamiltons, ihre vielbewunderte Meisterin. Emma Hamilton ahmte in Neapel vor allem antike Statuen und Szenen aus der Mythologie des Altertums nach. Prominente Besucher durften in der Villa Hamilton nicht nur die Vasensammlung des Hausherrn besehen, sondern auch einer Attitüden-Vorstellung der attraktiven Geliebten beiwohnen. Goethe war ebenso beeindruckt wie zahlreiche zeitgenössische Maler, die Lady Hamilton in einer ihrer Posen portraitierten.77 Für ihre Inszenierungen lässt sich ästhetisch und gattungstheoretisch Ähnliches konstatieren wie für die nächtlichen Statuenbesuche bei Fackelschein. Böttiger war dieses ›Antikenprojekt‹ in Neapel natürlich bekannt. Der deutschen Protagonistin der Attitüden-Kunst, Henriette Hendel-Schütz, widmete sich Böttiger in einem umfassenden Aufsatz ebenfalls.78 Vielleicht kannte er, der oft englische Karikaturen publizierte,79 auch den satirischen Stich von Rowlandson,80 der unter dem Titel Lady H******* Attitude’s Emma Hamiltons mutmaßliche frühere Tätigkeit als Modell satirisch wiedergibt und die »im modernen Sinne als Peep Show zu bezeichnende Veranstaltung« anprangert.81 Ausführlich bespricht Böttiger im Journal des Luxus und der Moden eine Sammlung von zwölf Stichen Friedrich Rehbergs, die verschiedene Attitüden Lady Hamiltons im aktuellen monochromen 75 Vgl. zu dieser Methodik auch etwa Böttigers Kritik der Restaurierung des Faustkämpfers in: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 44–50. 76 Vgl. – mit Verweis auf das dramatische Erbe – auch Langen: Attitüde und Tableau (wie Anm. 59), bes. S. 302f. 77 Goethe: Italienische Reise (wie Anm. 28), S. 209 (16. März 1787), S. 330 (27. Mai 1787); siehe außerdem Langen: Attitüde und Tableau (wie Anm. 59), S. 307–310 sowie vor allem – mit zahlreichen zeitgenössischen Berichten – die kunsthistorisch argumentierende Monographie von Ulrike Ittershagen: Lady Hamiltons Attitüden, Mainz 1999, sowie Silke Köhn: Lady Hamilton und Tischbein. Der Künstler und sein Modell. Begleitheft zur Ausstellung im Landesmuseum Oldenburg 20.6. bis 26.9.1999, Oldenburg 1999, S. 15–24. 78 Der Aufsatz erschien anlässlich einer Dresdner Vorstellung der Künstlerin. Böttiger liefert eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Szenen, verbunden mit allgemeinen Reflexionen über diese Kunstform und Hinweisen auf den altertumskundlichen Kontext. Auch vor einem Literaturhinweis an die Künstlerin und einem Selbstzitat schreckt Böttiger nicht zurück. Karl August Böttiger: Pantomimische Vorstellungen der Händel-Schütz in Dresden, in: Morgenblatt für gebildete Stände, Stuttgart und Tübingen 1814, Bd. 8, Nr. 152–155 (27.–30. Juni 1814), Nr. 157f. (2. Juli, 4. Juli 1814), S. 607, 611, 615, 619, 627f. und 631. Zu Hendel-Schütz’ Darbietungen vgl. auch Langen: Attitüde und Tableau (wie Anm. 59), S. 310–327. 79 Vgl. Anm. 26. 80 Vgl. Anm. 25. 81 Ittershagen: Lady Hamiltons Attitüden (wie Anm. 77), S. 12; zur Karikatur Rowlandsons vgl. ebenda, S. 9–12 und 14.

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Abb. 9 Statuenbelebung, erotisch

Umrissstil dokumentiert.82 Für Böttiger »erinnert man sich sogleich an alte Kunstwerke, die durch die hier gegebenen Figuren gleichsam wieder belebt zu seyn scheinen«. Die Attitüden Lady Hamiltons konstituieren für Böttiger aber kein autonomes 82 Friedrich Rehberg: Drawings Faithfully copied from Nature at Naples and with permission dedicated to the Right Honourable Sir William Hamilton. His Britannic Majesty’s Envoy Extraordinary and Plenipotentiary at the Court of Naples, [Rom?] 1794. Eine deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel Attitüden der Lady Hamilton, gezeichnet von Friedrich Rehberg und gestochen nach [Tommaso] Piroli von Schenck, München 1840. Eine weitere deutsche Ausgabe aus dem gleichen Jahr (Attitüden der Lady Hamilton. Nach dem Leben gezeichnet von Friedrich

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Kunstwerk, sondern können und sollen in seinen Augen als geschmacksbildendes Muster dienen: »die ganze Reihe dieser lieblichen Acte kann in mehr als einer Rücksicht für die Veredlung des Geschmacks und der Angewöhnung zur ächten griechischen Simplicität von sehr wohlthätigen Folgen seyn.« 83 Konkret stellt Böttiger sich eine Veränderung der Frauenmode hin zu einfachen Gewändern im griechischen Stil – was eine Abwendung von den extravaganten Vorbildern in Frankreich und England bedeutet – sowie eine neue Art des Theaterkostüms vor. Auf die Weise wird eine antike Plastik mittels der prominenten Umsetzung einer Abb. 10 Statuenbelebung, klassisch Lady Hamilton oder einer Schauspielerin zum Paradigma der alltäglichen Anthropogenese des Altertums in Gestalt einer reformierten à la grecqueMode. Die Grenze zwischen antiker Plastik und lebendigem Körper reflektiert Böttiger aber nicht nur anlässlich dieses berühmten Neapolitaner Beispiels oder nach nächtlichen Statuenbetrachtungen, sondern sie taucht durch die Objekte auch in den »museographischen« Berichten auf, die in den von ihm betreuten Periodika publiziert wurden. Wiederholt werden hier Abbildungen antiker Athleten – mithin Darstellungen genuin bewegter Körper – besprochen, die sich in zahlreichen Kunstgattungen finden.84 So wird ein »stehender Athlet unter Lebensgröße« im AntikenRehberg. In zwölf Blättern lithographirt von H. Dragendorf und hg. von Auguste Perl, München 1840) ist über die Herzogin Anna Amalia Bibliothek online verfügbar: http://ora-web.swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen &a_id=4648 (Abruf 13. März 2012). Siehe zu Rehbergs Werk ausführlich Ittershagen: Lady Hamiltons Attitüden (wie Anm. 77), S. 72–110, und knapp Köhn: Lady Hamilton und Tischbein (wie Anm. 77), S. 15f. 83 Karl August Böttiger: Tischbein’s Vasen. Lady Hamilton’s Attitüden von Rehberg, in: Journal des Luxus und der Moden, Weimar 1795, Bd. 10, Februar, S. 58–85, hier S. 82. Zu Böttigers These, Lady Hamiltons Attitüden gingen auf die englische Theatertradition der »Imitations« zurück (ebenda, S. 78) und sie habe diese selbst gezeigt, vgl. ablehnend Ittershagen: Lady Hamiltons Attitüden (wie Anm. 77), S. 13. 84 Vgl. Wolfgang Decker: Sport in der griechischen Antike. Vom minoischen Wettkampf bis zu den Olympischen Spielen, München 1995, S. 188.

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museum zu Turin 1825 in einem Bericht Ludwig Schorns in der Amalthea publiziert,85 ein Artikel Jakob Andreas Konrad Levezows über die Berliner Antikensammlung in der gleichen Zeitschrift erwähnt mehrere Athletenplastiken,86 und ein Aufsatz des Sankt Petersburger Staatsrats Heinrich Karl Ernst von Köhler diskutiert knapp die Möglichkeit von Athletendarstellungen auf Gemmen.87 Im Unterschied zu diesen referierend-katalogisierenden Bestandsaufnahmen nimmt Böttiger in der schon oben zitierten Dresdner in situ-Vorlesung aus dem Jahre 1814 eine Athletenstatue zum Anlass, um ausführlich antike Sportgeschichte und moderne Restaurierungstechniken zu diskutieren. Dabei verknüpft er konsequent philologische Interpretation und archäologische Autopsie. Böttiger entwickelt einen Blick auf den antiken Sport, der vom Wissen über die Körperübungen ebenso wie von der Betrachtung der Plastiken bestimmt ist und in dem die Grenzen zwischen totem Marmor und lebendigem Fleisch in der imaginierten Bewegung verschwimmen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Kritik der Restauration des »Faustkämpfers«, der ihm zwar nicht eines der schönsten, doch eines der »merkwürdigsten« Bildwerke der Dresdner Sammlung ist.88 In einer detaillierten, den Forschungsstand integrierenden Analyse der Statue weist Böttiger nach, dass die Wiederherstellung als »Faustkämpfer« mit Schlagriemen an den Händen nicht korrekt ist, da es sich um einen »Pankratiasten« oder noch wahrscheinlicher um einen Pentathleten handeln muss. Seine exakte Zuordnung des Kampfsportlers zu einer der zahlreichen 85 [Ludwig] Schorn: Das Antiken-Museum in Turin im Juli 1823, in: Amalthea oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde, hg. von Karl August Böttiger, Bd. 3, Leipzig 1825, S. 457–469, hier S. 461. 86 [Jakob Andreas Konrad] Levezow: Ueber die Königlich Preußischen Sammlungen der Denkmäler alter Kunst, in: Amalthea, Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 339–394, hier S. 388. 87 Heinrich Karl Ernst von Köhler: Dioscorides und Solon. Erster Abschnitt. Nebst einer Einleitung über die Gemmen mit den Namen der Künstler, in: Archäologie und Kunst, hg. von Karl August Böttiger, Bd. 1, Stück 1, Breslau 1828, S. 1–49, hier S. 25–28. 88 »›Faustkämpfer‹, Inv. Hm 97 (H 160 cm mit Plinthe). Die Statue galt in früheren Jahren als barocke Umarbeitung einer antiken Statue (so auch im Paris-Katalog 1999, s. unten: 2. Jh. nach Chr.), gilt heute bei uns jedoch als nachantikes Werk. Aber das Problem ist ›noch in Arbeit‹ und das letzte Wort noch nicht gesprochen. Kopf und Arme wurden 1894 unter Georg Treu abgenommen. […] Die Statue soll aus Tivoli stammen und 1739 (nicht 1763) als Geschenk des Kardinals Albani an den Kurprinzen Friedrich Christian nach Dresden gekommen sein. Zur Statue in den letzten Jahren: Seymour Howard: Bartolomeo Cavaceppi: Eighteen-CenturyRestorer, New York, London 1982, S. 101ff., S. 290, fig. 7. – Hadrien. Trésors d’un villa impériale, Ausstellungskatalog Paris 1999, S. 232 Nr. 75 (mit weiterführender Literatur).« Kordelia Knoll an René Sternke, Dresden, 19. August 2011. – Die von Böttiger kritisierte und von Treu revidierte barocke Überarbeitung, die Wilhelm Gottlieb Becker 1811 Bartolomeo Cavaceppi zuschrieb, stammte, wie Böttiger 1814 nachwies, von Carlo Napoleone. Vgl. dazu Kordelia Knoll: Zur Entstehung der Dresdener Antikensammlung, in: Thomas Weiss (Hg.): Von der Schönheit weissen Marmors. Zum 200. Todestag Bartolomeo Cavaceppis, Mainz 1999, S. 51–57, hier S. 54f. sowie Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 31 und 49f.

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Abb. 11 »Auf den Effect berechnet« – Dresdner Faustkämpfer, Kupferstich, Augusteum, 1811

Abb. 12 »… blos Willkür des restaurirenden Bildhauers« – Dresdner Faustkämpfer, ergänzt von Carlo Napoleone

athletischen Disziplinen begründet Böttiger durch einen sporthistorisch fundierten und zugleich vielfältig philologisch und kunsthistorisch abgesicherten Blick auf Einzelheiten der Plastik. Die nur »auf den Effect berechnet[e]« Wiederherstellung der Statue mit den zum Kampfe erhobenen Schlagriemen widerspreche dem Detail der bleiernen Sprunggewichte (halteres), die sich am Palmenstamm, der Statuenstütze, befinden. Diese Sprunggewichte wiesen auf einen Pentathleten hin, der neben dem Faustkampf noch im Lauf, (Fünf-)Sprung, Diskus- und Speerwurf antrat.89 Sportler in dieser Disziplin 89 Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 24), S. 44–50, Zitate S. 44f. Böttiger verweist auf die Abbildung in Wilhelm Gottlieb Becker: Augusteum. Dresdens antike Denkmäler enthaltend, Bd. 3, Leipzig 1811, Taf. CIX. – Vgl. Abb. 11. Ein Digitalisat findet sich unter http://digital.slub-dresden.de/id306454661 (Abruf 23. Januar 2011). Zu dem heutigen Forschungsstand über die Halteres und zu den Hypothesen über ihren Einsatz vgl. Florian Knauß: Weitsprung, in: Wünsche, Knauß (Hg.): Lockender Lorbeer (wie Anm. 3), S. 118–127.

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hätten im Unterschied zu den »Faustschlägern« (pugiles) aber keine Handschuhe oder Schlagriemen getragen, was durch die Interpretation einer Stelle des Pausanias durch einen »scharfsinnigste[n]« Philologen belegt sei.90 (Heute weiß man zudem, dass gerade Pentathleten wegen ihres harmonischen Körperbaus bevorzugt als Modell für Plastiken ausgewählt wurden.91) Die Plastik des Faustkämpfers wird von Böttiger mithin als Momentaufnahme aus dem Ablauf eines längeren Wettkampfgeschehens interpretiert, worauf die Ausrüstung für eine andere, schon absolvierte Disziplin verweist. Ohne dass dies Böttiger als Intention unterstellt werden kann, wird der Dresdner Faustkämpfer in der Beschreibung ›verlebendigt‹, indem er in einen imaginierten ZeitAbb. 13 »Bleimassen, deren Bestimmung … an einen Pankratiasten … erinnern« – Dresdner Faustkämpfer, entrestauriert

90 Böttiger bezieht sich auf »Paulus Faber«, gemeint ist Pierre [also eigentlich »Petrus«] DuFaur de Saint-Jor[r]y (ca. 1550–1612), ein französischer Polyhistor und Jurist. Er hat u. a. eine Bearbeitung von Hieronymus Mercurialis’ De arte gymnastica libri sex (Venedig 1569), eines ersten Standardwerks zu Körperübungen verfasst: Petrus Faber [Pierre Du Faur[e] de SaintJor[r]y]: Agonisticon, sive de re athletica ludisque veterum gymnicis, musicis, atque circensibus spicilegiorum tractatus, Lyon [Genf] 1592; online verfügbar unter http://dx.doi.org/10.3931/ e-rara-3380 (Abruf 8. April 2012). – Die Frage, welcher Sportart der abgebildete Athlet zuzuordnen sei, wurde offenbar noch einige Zeit unter den Fachleuten diskutiert: So erklärt Aloys Hirt in den Kunstbemerkungen auf einer Reise über Wittenberg und Meißen nach Dresden und Prag (Berlin 1830, S. 158), dass die »gedrungene, kraftvolle Gestalt unseres Athleten« – trotz der unpassenden Ausrüstungsgegenstände – unzweifelhaft für die Statue eines Faustkämpfers spreche. 91 Vgl. Raimund Wünsche: Sport in der Antike, in: Architektur + Sport. Vom antiken Stadion zur modernen Arena, hg. vom Architekturmuseum der TU München, Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Regina Prinz und Hilde Strobl. In Verbindung mit dem Lehrstuhl für Tragwerksplanung der TU München, Wolfratshausen 2006, S. 15–43, hier S. 23.

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lauf – eben das Wettkampfgeschehen, das einen ganzen Nachmittag umfasst 92 – integriert wird. Die Verwischung der Grenze zwischen einer Plastik, die den Athleten in einer spezifischen Pose dokumentiert, und dem sportlich bewegten Körper wird auch in Böttigers generellen Ausführungen zur farblichen Gestalt deutlich. Entscheidend ist dabei die Oberfläche des lebendigen wie des statuarischen Körpers. Die Ineinssetzung erfolgt dabei über das Kolorit, das auch bei den Berichten der nächtlichen Statuenbetrachtungen als ein entscheidender Faktor erwähnt wird. In seinen altertumskundlichen Abhandlungen berichtet Böttiger mehrfach über die Körperpflege und Diät93 der Sportler des Altertums; die Körperpflege war dabei schon um 1800 nicht nur durch Texte philologisch rekonstruierbar, sondern auch durch Funde und Darstellungen von Schabeisen und Ölflaschen archäologisch dokumentiert.94 Aus beiden Quellentypen ließ sich die Genese der Hautfarbe rekonstruieren. Durch den Aufenthalt im Freien und das regelmäßige Einölen, das zur Vorbereitung auf die Körperübungen in den Gymnasien gehörte und von speziellen »Salbemeister[n] (Aliptae)« überwacht wurde,95 erhielten die Körper der Sportler eine braune Farbe, die von Böttiger differenziert beschrieben wird: Erreicht werden sollte ein ideales »ziegelfarbiges«96 oder »honig far bige[s]« 97 Kolorit, das sich von »unserer bäuerischen Sonnenfärbung« in der Moderne »himmelweit« unterscheidet.98 Der Jüngling oder Mann war durch das Kolorit seiner Haut definiert, die

92 Vgl. Decker: Sport in der griechischen Antike (wie Anm. 84), S. 102; zum heutigen Wissen über das pentathletische Wettkampfgeschehen vgl. außerdem Florian Knauß: Fünfkampf, in: Wünsche, Knauß (Hg.): Lockender Lorbeer (wie Anm. 3), S. 97–101. 93 Z. B. Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 1: 1. Cursus, Dresden und Leipzig 1826, S. 134, Anm. **. 94 Vgl. Böttiger: Ideen zur Archäologie der Malerei (wie Anm. 4), S. 219, Anm. 4. – Ders.: Die Aldobrandinische Hochzeit. Eine archäologische Ausdeutung, nebst einer Abhandlung über dies Gemälde von Seiten der Kunst betrachtet, von H[einrich] Meyer, Dresden 1810, S. 159f., Anm. 24. – Ders.: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen (wie Anm. 16), S. 34. – Ders.: Ueber die späte Essstunde, in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 3 (wie Anm. 19), S. 192–195, hier S. 192. – Zum heutigen Forschungsstand zusammenfassend: Susanne Lorenz: Nicht nur mit Schwamm und Schaber, in: Wünsche, Knauß (Hg.): Lockender Lorbeer (wie Anm. 3), S. 262– 276. 95 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 63. Die Aliptae werden aus heutiger Perspektive als eine Mischung von Masseur und Physiotherapeuten gesehen. 96 Böttiger: Die Aldobrandinische Hochzeit (wie Anm. 94), S. 57. 97 Karl August Böttiger: Vergleichungen, in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 3 (wie Anm. 19), S. 102– 128, hier S. 119, Anm. **, Emphase im Original. 98 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 63. – Der heutigen Forschung gilt die »von der Sonne gebräunte Hautfarbe […] als Gütesiegel des aristokratischen Standes«. Ulrich Sinn: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst, 2., durchges. Aufl., München 2004, S. 140. Wie Böttiger argumentiert Sinn hier philologisch, nämlich unter Bezugnahme auf Aristoteles.

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Bräunung wurde »für eine Bedingung der blühenden Männlichkeit gehalten«.99 Damit hob der Mann sich vom Weiß der »aufgedunsenen Kranken«100 und der Frauen – ihre helle Hautfarbe galt in Hellas als »ein Zeichen weibischer Zurückgezogenheit« – sowie von der pejorativ präsentierten Blässe der stubenhockenden »Schattenpflegling[e]« 101 ebenso ab wie von der »Schwärze« eines »neapolitanischen oder römischen Banditen«.102 Die Bräune der griechischen Athleten ist aber nicht nur Ausdruck der Vitalität ihres sportlich geübten Körpers, sondern verbindet sie mit ihren plastischen Abbildern. Das Hautkolorit lässt die Skulptur lebendig erscheinen und erhebt den Athletenkörper gleichzeitig in den Rang eines Denkmals. Herausragende Bildhauer wie Polyklet und Myron widmeten der Legierung ihrer Bronze daher große Aufmerksamkeit, um die gewünschte Tönung möglichst präzise zu erreichen. In den spezifischen Metallmischungen – deren exakte Analyse er herbeisehnt103 – spiegelt sich nach Böttiger der Versuch, den unterschiedlichen Bräunungen nahe zu kommen. Durch sie unterscheiden sich die »jugendlichen Ephebenkörper«, die Polyklet schuf, von den »gewaltigen Athleten- und Pankratiastenformen« der Myron’schen Statuen.104 »Sonderbar und doch wahr!« sei diese metallurgische Fundierung einer je spezifischen Körperästhetik, durch die man in der Antike versucht habe, auch in der Plastik die »Carnation« zu erreichen – eine lebensnahe Fleischfarbe, die hier das glänzende Bronzefarben der gesalbten und unterschiedlich gebräunten Athletenkörper bedeutet.105 Auch bei den fackelilluminierten Galeriebesuchen der Zeit um 1800 wurde der Eindruck der Verlebendigung marmorner Plastiken nicht nur durch die dynamischen Lichteffekte der sich bewegenden Flamme, sondern auch durch ihren rötlichen Widerschein erreicht. Dieser verleiht dem Stein eine lebendige Tönung, bringt ihn »zum Erröten«.106 Die mutmaßliche Hauttönung der idealisierten Griechen, der Böttiger hier eine detaillierte Diskussion widmet, bleibt auch in der weiteren Geschichte der Antikenrezeption kein randständiges Phänomen. Maren Möhring hat gezeigt, wie in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die Hautfarbe eine nun rassisch aufgeladene Verbindung von antiken Griechen und modernen »Germanen«

99 100 101 102 103 104 105 106

Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 63. Böttiger: Die Aldobrandinische Hochzeit (wie Anm. 94), S. 58. Böttiger: Vergleichungen (wie Anm. 97), S. 119, Anm. **. Karl August Böttiger: Ueber die Sclaventracht der Fabula Palliata, in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 292–294, hier S. 293. Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 63f., bes. S. 63, Anm. **. Ebenda, S. 64. Zu diesen Schwerpunktsetzungen vgl. auch S. 66f. Ebenda, S. 64. Müller: Statuenbelebung – realistisch (wie Anm. 59), S. 17; vgl. mit weiteren Quellennachweisen aus Literatur und bildender Kunst außerdem ebenda, S. 19f., 21 (Anm. 13) und 23.

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oder Deutschen konstruiert wurde.107 Für unsere Gegenwart wiederum konstatiert Gunter Gebauer, dass im medial vermittelten Bild von Bodybuildern und Sportlern ein »Eindruck des Plastischen durch das Glänzen der Haut« erzeugt wird.108 Auch der Olympiasieger im Diskurswurf 1996 Lars Riedel ließ sich nackt in der Pose des Myron’schen Diskobol fotografieren und war dabei komplett gold-bronzen geschminkt.109 In der Wahrnehmung Böttigers werden aber nicht nur die antiken Sportlerstatuen vermittels des spezifischen Kolorits verlebendigt. Vielmehr nähert sich in seiner Vorstellung auch umgekehrt der lebendige Körper der Plastik an. Myrons plastische Abbildungen der »Athleten und Pankratiasten, denen die ganze Seele in der geballten Faust oder in der gediegenen Brustmuskel sass«, dokumentieren – wenngleich nur noch in wenigen erhaltenen Exemplaren – eine schwerathletische Welt, die der Moderne ansonsten verborgen bleibt.110 Ableiten lässt sich aus den Plastiken die Körperstatur, die Böttiger als eine Differenzerfahrung formuliert. Die Leiber der antiken Athleten sind ihm »fast bis zur sträflichen Ungebühr aufgefütterte[ ] Massen, wo der ganze Körper gleichsam mit prallen Fleischkissen überpolstert wurde«.111 Doch die muskelbepackte Physis der Schwerathleten wird nicht als groteske Verzerrung von Proportionen gewertet. Vielmehr malt sich Böttiger aus, wie diese Körper durch stetiges Umformen gestaltet wurden. Die »tausend Umtastungen und Reibungen der Salbemeister« waren ein Teil dieses Prozesses, die »mürbeklopfenden Schläge und Griffe der Gegner« ein anderer. Beides führte dazu, dass die lebendigen Körper »bis zur untadelhaftesten Gediegenheit verarbeitet und gleichsam durchgeknetet« wurden.112 Böttiger präsentiert die antiken Sportlerkörper 107 Die vermeintliche Verwandtschaft der modernen Deutschen und der antiken Griechen wurde dabei entweder über die vorgebliche Hellhäutigkeit der Griechen oder über die Bräune der Haut hergestellt, die beide Völker verbinde. Dabei wurden je nach Argumentation entweder Marmor- oder Bronzestatuen als Beleg herangezogen. Vgl. Maren Möhring: Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln u. a. 2004, S. 254–257. 108 Gunter Gebauer: Olympia als Utopie, in: Olympische Spiele – die andere Utopie der Moderne. Olympia zwischen Kult und Droge, hg. von Gunter Gebauer, Frankfurt/M. 1996, S. 9–23, hier S. 16. Vgl. auch ebenda, S. 19–20. Ähnlich auch Lorenz: Nicht nur mit Schwamm und Schaber (wie Anm. 94), S. 263: »Eine weitere Theorie hebt hervor: Die Öl glänzenden Körper seien ästhetisch besonders ansprechend gewesen – wohl vergleichbar mit den modernen Bodybuildern, die sich vor dem Posing einölen, um ihre Muskeln möglichst vorteilhaft zu präsentieren.« 109 Wünsche, Knauß (Hg.): Lockender Lorbeer (wie Anm. 3), S. 117 (Abb. 13.30). 110 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 67. 111 Ebenda, S. 68. 112 Ebenda. – Nicht zuletzt in der Wortwahl manifestieren sich hier die bronzene Statue und der imaginierte Athletenkörper als Eckpunkte des Diskurses: »gediegen« bezeichnet um 1800 im engeren bergmännischen Sinne das reine, feste Erz oder Metall. Daneben werden allgemein ein fester Körper – der durchaus ein menschlicher, ein Athletenleib sein kann – und im übertragenen Sinne eine sozial fest integrierte, reife (bürgerliche) Person als »gediegen« bezeich-

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hier als Objekte von Prozessen, die dem plastischen Gestalten eines Künstlers ähnlich sind. Wie dieser in sukzessivem Umarbeiten eine Skulptur als mimetisches Abbild des lebendigen Körpers geschaffen habe, so modelliert die heilende Tätigkeit der Salbemeister ebenso wie die zerstörerische Kraftausübung der Gegner beim antiken Athleten eine Physis, die der einer Statue gleicht. Aspekte des modernen Bodybuilding, einer »visuellen Sportart«,113 bei der nicht die Funktion, sondern die bewusst geformte Gestalt des Körpers im Zentrum steht, werden hier vorweggenommen: 114 Viele Bodybuilder verstehen sich als Künstler, die am Erscheinungsbild des eigenen Körpers arbeiten wie an einem Marmorblock, und nicht als Sportler, die den Körper ›nur‹ zum Erreichen bestimmter, messbarer Leistungen abrichten.115 So vergleicht Arnold Schwarzenegger in einem Filminterview aus dem Jahre 1975 seine Tätigkeit mit der Arbeit eines Bildhauers.116 Ein Jahr später trat er zusammen mit anderen Bodybuildern bei der Veranstaltung Articulate Muscle: The Male Body in Art im New Yorker Whitney Museum of American Art auf, und die Akteure selbst sahen sich dort in der Tradition griechischer Plastik.117 Bei Böttiger bildet der lebendige Körper des Athleten – der nur aus den erhaltenen Plastiken und Abbildungen rekonstruiert werden kann – andererseits wiederum das Vorbild für das Kunstschaffen in der Antike. Historisch sei die griechische Plastik auf dem Weg zur Erschaffung von künstlerischen Idealen »von der spätern

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net. Aus dem letztgenannten semantischen Zusammenhang ließe sich noch eine ethischmoralische Vorbildhaftigkeit des antiken Sportlers ableiten. Vgl. Art. Gediegen, in: Jakob und Wilhelm Grimm: Das Deutsche Wörterbuch, Nachdr. der Originalausgabe [von 1838–1961], München 1999, Bd. 4, Sp. 2020–2024. Vgl. Bernd Wedemeyer: Starke Männer, starke Frauen. Eine Kulturgeschichte des Bodybuildings, München 1996, S. 42 und 181. Die Verbindung von antiker Statue und dem durch Bodybuilding geformten Körper findet sich auch bei Karl Friedrich Müller alias »Eugen Sandow«, einem »Bodybuilding-Superstar« des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In seiner – vermutlich erfundenen – Autobiographie behauptet Sandow, in Rom und Florenz beim Anblick antiker Athletenskulpturen zu seinem Sport motiviert worden zu sein. Vgl. Eugen Sandow: Kraft und wie man sie erlangt, Berlin 1904, S. 114, hier nach Wedemeyer: Starke Männer, starke Frauen (wie Anm. 113), S. 97. Bei seinen späteren Auftritten stellte Sandow mit bronziertem Körper dann u. a. antike Statuen nach. Vgl. ebenda, S. 101. In diesem Kontext immer noch lesenswert ist der Essay von Bodo Kirchhoff: Body-Building – Versuch über den Mangel, in: Kursbuch Nr. 52: Utopien I: Zweifel an der Zukunft, hg. von Hans Magnus Enzensberger, Berlin 1978, S. 9–23, zum Kunst-Aspekt von Body-Building siehe S. 18f. Kultur- und ideengeschichtlich neuerdings Jörg Scheller: No Sports! Zur Ästhetik des Bodybuildings, Stuttgart 2010. Der Film Pumping Iron (Regie: George Butler und Robert Fiore, USA) erschien 1977 und zeigt im Wesentlichen Wettkampfvorbereitungen aus dem Jahre 1975. Vgl. dazu Scheller: No Sports! (wie Anm. 115), S. 204f. Die Moderatorin der Veranstaltung sieht diese Traditionslinie, die von den Bodybuildern selbst ebenso wie von Betrachtern gezeichnet wurde, aus späterer Perspektive skeptisch.

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Gymnastik unterstützt« 118 worden und in den Gymnasien, so Böttiger, haben Künstler wie Myron die lebenden Vorbilder für ihre Kunstwerke gefunden. Myron schuf seine »vollkommensten Bildwerke«, indem er die Athleten in den Palästren »unablässig betrachte[te] und ihre kraft- und ausdrucksvollsten Stellungen belausch[te]«. Er und andere Künstler konnten aus dem dem »Schatz von Modellen« an den Trainingsstätten schöpfen119 und ihre Modelle waren »alle[n] unsre[n] academischen Acte[n] und Gliedermänner[n]« weit überlegen.120 Tatsächlich waren Künstler in der griechischen Antike regelmäßige Besucher der Sportstätten und fanden dort Vorbilder für ihre Werke. Das belegen zahlreiche Abbildungen, die nicht nur Idealgestalten und Wettkämpfe, sondern auch Alltagsszenen des Sports dokumentieren.121 In der Geschichte der Antikenrezeption ist es wieder Winckelmann, der die konstante Nähe von Künstlern und Athleten prägnant formuliert: »Die Schule der Künstler war in den Gymnasien, wo die jungen Leute […], ganz nackend ihre Leibesübungen trieben. Der Weise, der Künstler gingen dahin: […] ein Phidias, aus diesen schönen Geschöpfen seine Kunst zu bereichern.«122 Winckelmann folgt dabei einem mimetischen Kunstbegriff, für ihn waren die Athletenstatuen exakte Abbilder von Körpern. Siegerstatuen bei den Olympiaden hätten den Augenblick des Sieges in einem Wettkampf dokumentieren müssen und seien daher ein Beleg dafür, »daß die Künstler alles nach der Natur gearbeitet haben«.123 Auf einen anderen Aspekt, der sich aus dieser von Winckelmann, Böttiger und anderen angenommenen dokumentarisch-mimetischen Nähe von lebendigem Athletenkörper und Sportlerstatue ergibt, hat Alexander Honold hingewiesen. Denn für das Studium des bewegten Leibes bieten die Plastiken die einzige Möglichkeit, »Anatomie und Kinetik menschlicher Bewegungsabläufe zu studieren, bevor technische Medien in der Lage sind, die Zeit zu vergrößern oder anzuhalten und [dadurch] vergleichbare Beobachtungen an lebendigen Körpern anzustellen. Bei der Erziehung des Leibes fungiert die griechische Antike nicht nur als mythischer Traditionsquell, sie stellt auch das erste Lehrmaterial bereit.«124 So bezieht sich auch Johann Christoph Friedrich GutsMuths in seiner philanthropischen Gymnastik für die Jugend nicht nur auf antike Texte, sondern auch auf die »noch übrigen Kunstwerke[ ] des

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Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 1 (wie Anm. 93), S. 14. Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 67f. Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen (wie Anm. 16), S. 113. Vgl. dazu Decker: Sport in der griechischen Antike (wie Anm. 84), S. 181–197, besonders S. 194; sowie zu den Alltagsszenen: Sport in der Antike. Wettkampf, Spiel und Erziehung im Altertum, hg. von Ulrich Sinn, Würzburg 1996, hier S. 114f. (Abb. 80, Kat.-Nr. 37). 122 Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung (wie Anm. 45), S. 8. 123 Ebenda, S. 87. 124 Honold: Nach Olympia (wie Anm. 6), S. 97.

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Alterthums«, um die Bewegungsmuster des Diskuswurfs zu rekonstruieren.125 Die Plastiken – selbst Abbilder von Sportlern – werden so in der reformpädagogischen Körperpraktik um 1800 ›wiederbelebt‹. In Böttigers Vorstellung konnte die Nähe von Kunstschaffen und Athletenkörper, die sich täglich in den Besuchen der Künstler an den Sportstätten konstituierte, sogar zu einer personellen Identität in Gestalt des Künstlers werden. Denn dieser, »so bald er nur eine freie Erziehung genossen hatte«, war auch »einst selbst […] so bearbeite[t]« worden126 – er war als junger Athlet Objekt der Griffe und Schläge von Salbmeistern und Gegnern gewesen. Böttiger skizziert mit dieser knappen Bemerkung eine exemplarische Biographie, in der sich mehrfach Statue und Athlet, künstlerisches Schaffen und sportliche Leistung miteinander verschränken. Der Körper des jugendlichen Sportlers wird wie eine Plastik geformt, der ehemalige Sportler schafft dann später als Künstler Statuen idealer Athleten und zwar nach den Modellen, die ihm wiederum die Trainierenden in den Gymnasien bieten. Susan Sontag hat in ihrem Roman die Haltung Sir William Hamiltons gegenüber seiner Geliebten als »a Pygmalion with a round-trip ticket« beschrieben. Der »cavaliere« Hamilton konnte seine Emma, die er wegen ihrer klassischen, an eine antike Statue erinnernden Gestalt geheiratet hatte, bei ihren Attitüden-Vorstellungen gleichsam in eine griechische Plastik verwandeln und sie wie Pygmalion dann wieder ›verlebendigen‹.127 So kam es wohl auch den Zeitgenossen des realen Hamilton vor, denn Horace Walpole kommentierte dessen Heirat mit den Worten: »Sir William Hamilton has actually married his gallery of statues.«128 Gegenüber den neapolitanischen Inszenierungen nach dem Muster Pygmalions entfaltet Böttiger in seinen Texten indes eine Verbindung von Statue und lebendigem Körper, die über die Evokation eines solchen »Pygmalion with a round-trip ticket« hinausgeht. Die geschilderten mehrdimensionalen Bezüge zwischen Athletenkörper und -statue führt Böttiger noch weiter, indem er den Künstler mit seinen Werken einmal mehr in einen Wettbewerb eintreten lässt. Die Konkurrenz der Sportler findet ihren Niederschlag in den Siegerstatuen, die den Ausgang der Wettbewerbe nicht nur in den Tempeln und heiligen Arealen der Wettkampfstätten, sondern auch in den Heimatstädten der Athleten dokumentieren. Zugleich erweist sich der Schaffensprozess wiederum als Wettkampf – die Frage, 125 Johann Christoph Friedrich GutsMuths: Gymnastik für die Jugend, 2., veränd. und erhebl. erw. Aufl., Schnepfenthal 1804, S. 420–422, Zitat S. 421. 126 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 68. 127 Susan Sontag: The Volcano Lover. A Romance, New York u.a. 1993, S. 144, S. 146. Vgl. auch ebenda, S. 130 (»Hers was the beauty he had adored on canvas, as a statue, on the side of a vase.«), sowie S. 148f. 128 Horace Walpole an Mary Berry, 11. September 1791, in: Ders.: Correspondence, hg. von William Stanley Lewis, Bd. 11, Yale u. a. 1970, S. 349f., hier zitiert nach Ittershagen: Lady Hamiltons Attitüden (wie Anm. 77), S. 41.

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Abb. 14 »Ein neuer Wettkampf beginnt im Schleudern der Wurfscheibe«

welcher Künstler die Siegesstatuen herstellen durfte, »veranlaßte neue Wettkämpfe unter den Bildnern selbst. […] Immer suchte der Nachfolger seine Vormänner zu überbieten.« In dem Kontext benennt Böttiger Myron als einen herausragenden Künstler, denn ihm sei es gelungen, Abbilder der »in die gewagtesten Stellungen 144

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gebrachten Athletenkörper« zu schaffen.129 Die Umsetzung des bewegten Körpers in eine Plastik kann, so unterstellt Böttiger hier, von einem exzellenten Künstler in einer Weise gelingen, die die Grenzen zwischen Athlet und Statue verschwimmen lässt.130 Myron habe dies durch zahlreiche nicht erhaltene Pankratiastenstatuen ebenso bewiesen wie durch den berühmten Diskobol.131 Letzterer sei mit seiner »lebendigste[n] Gewandtheit der Stellung« der Beitrag gewesen, mit dem sich Myron in den »kühnen Wettstreit« mit den Ephebenstatuen des Polyklet »wagte«.132 So wie Böttiger hier Statuen und Athleten über den Wettkampfcharakter eng verbunden sieht, war eine grundsätzliche Nähe von Kunst und Sport bei den Agones ein zentrales Element des zeitgenössischen Antikebildes. Von Schiller werden in der 1797 entstandenen Ballade Die Kraniche des Ibykus die Isthmischen Spiele als athletische und zugleich künstlerische Konkurrenzen – als »Kampf der Wagen und Gesänge« – präsentiert und auch in Herders Epigramm Das innere Olympia »singen Dichter; es kämpfen Kämpfer; [und] der Läufer läuft«.133 Böttiger erwähnt in den Ideen zur Archäologie der Malerei ebenfalls Konkurrenzen der Künstler bei den Agones.134 Im Myron-Aufsatz geht Böttiger aber über die zeitgenössische Zusammenschau von Kunst und Sport – die nicht zuletzt Ausdruck des idealistischen Harmonieideals ist135 – hinaus. Er imaginiert eine fortgesetzte Durchdringung der Sphären von sportlichem Körper und künstlerischer Plastik. Diese Beziehung zwischen Kunst und Körper wird in eine lebendige Schilderung integriert; der Scheitelpunkt ist dabei die Skizzierung einer exemplarischen Biographie in der Antike, in der der jugendliche Athlet nach der Plastik geformt wird, als Wettkämpfer zugleich Modell ist und als erwachsener Künstler wiederum Statuen junger Sportler schafft.

129 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 67. 130 Ebenfalls im Myron-Aufsatz geht Böttiger in einigen Bemerkungen auf die Frage ein, inwieweit durch die Sprache ein Kunstwerk adäquat beschrieben werden könne, denn zahlreiche Statuen des Altertums, auf die er sich bezieht, waren nur noch aus zeitgenössischen Texten bekannt. Die Frage nach dem Potential und den Grenzen der Sprache bei der Kunstbeschreibung wurde seit Lessings Laokoon-Aufsatz (1766) intensiv verhandelt. Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 71f. 131 Ebenda, S. 70f. und 73. 132 Ebenda, S. 70f. 133 Friedrich Schiller: Die Kraniche des Ibykus, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte, Dramen 1, hg. von Albert Meier, München 2004, S. 346–352, hier V. 1 S. 346; Johann Gottfried Herder: Das innere Olympia, in: Ders.: Werke, Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt/M. 1990, S. 771. 134 Böttiger: Ideen zur Archäologie der Malerei (wie Anm. 4), S. 252f. Böttiger nennt hier Konkurrenzen in der Musik, der Malerei und der Plastik. 135 Vgl. dazu Saure: Beautiful Bodies (wie Anm. 7), S. 365f.

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Orte: Wörlitz und Olympia Übung und Wettkampf der antiken Athleten fanden in »in einem der griechischen Prachtgebäude, die Gymnasien hiessen«,136 statt, heißt es in Myron und der athletische Kreis. Architektur ist für Böttiger Ausdruck der Bedeutung, die die sportliche Betätigung im antiken Griechenland hatte. Diese war für den Einzelnen zwar ein Wert an sich, doch zugleich zählte die Körperbildung der jungen Männer zu den »Staatsangelegenheiten«, die Lehrer in den Gymnasien vollzogen dort, so Böttiger, »eine Liturgie der edelsten und reichsten Bürger« zur Vorbereitung auf die »heiligen Wettkämpfe[ ]«.137 Schon in der Terminologie – »Staatsangelegenheiten«, »Liturgie«, »junge Männer«, »edelste Bürger« – manifestiert sich die Vorstellung vom umfassenden Charakter des antiken Sports, in dem sich Gemeinschaft und Individuum, religiöse und politische Aspekte verbunden hatten. In dem oben dargestellten Konnex von Plastik und Athletenkörper manifestierte sich zudem der enge und zugleich mehrdimensionale Zusammenhang von Kunst und Athletik. Böttiger belässt es aber nicht bei Reflexionen über das Altertum, sondern skizziert in seinen Architektur- und Reisebeschreibungen indirekt eine Körperkultur für seine Gegenwart. In dem Aufsatz Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze durch Kunstwerke im antiken Geschmacke übernimmt Böttiger die schon von Winckelmann betonte hohe Bewertung der Sportstätten im griechischen Altertum,138 deren »Pracht« um 1800 dann auch von den Philanthropen Peter Villaume und GutsMuths herausgestellt wurde.139 Zeitgenössische Sportstätten bewertet Böttiger vor diesem Hintergrund als ästhetisch defizitär: Anders als die »geschmackvoll […] ausgeschmückt[en]« und mit »Reichthum von Bildnerey aller Art« angefüllten öffentlichen Bauten in Hellas seien die derzeitigen »Tempel der neuen Gymnastik« »kahl und nackend«, »öde und bloß«.140 Als Grund benennt Böttiger ein Defizit, das für eine geschichtsphilosophisch fundierte Kulturkritik seit Rousseau bestimmend war und so auch von ihm 136 Böttiger: Myron (wie Anm. 15), S. 70. 137 Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen (wie Anm. 16), S. 112. – Zur staatlichen ›Sportförderung‹ in der griechischen Antike vgl. Florian Knauß: Nicht nur für Ölzweig und Ehre, in: Wünsche, Knauß (Hg.): Lockender Lorbeer (wie Anm. 3), S. 286–303, hier S. 293–297. 138 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, 2 Bde., Dresden 1764; hier vgl. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, hg. von Wilhelm Senff, Weimar 1964, S. 117. 139 Vgl. Peter Villaume: Von der Bildung des Körpers, Frankfurt/M. 1969, S. 95 (Villaumes umfangreicher Aufsatz erschien zuerst 1787 in der von Johann Heinrich Campe herausgegebenen Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens); GutsMuths: Gymnastik für die Jugend, (wie Anm. 125), S. 138. – Böttiger kannte GutsMuths’ Werk, vgl. z.B. Böttiger: Vergleichungen (wie Anm. 97), S. 127, Anm. *; ders.: Ideen zur Archäologie der Malerei (wie Anm. 4), S. 219. 140 Böttiger: Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze (wie Anm. 37), S. 8f.

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übernommen wird: Die Konzentration des modernen Menschen allein auf die intellektuelle Dimension und damit der Verlust einer in der Antike noch vorhandenen harmonischen Einheit, die stets auch den Körper als konstitutives Element menschlichen Seins einbezogen habe.141 Böttiger spricht vom »allzudüstern und vermauerten Gelehrsamkeitszwinger« des Gymnasiums in der zeitgenössischen »Bücher- und Buchstabenwelt«.142 Als modernes Gegenbeispiel zu dieser kritischen Bestandsaufnahme führt er das fürstliche Reithaus in Dessau an, das 1790/91 von Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf errichtet worden war – nach Plänen des Regenten, wie Böttiger betont, der dagegen den eigentlichen Architekten nicht erwähnt.143 Mit dem Reithaus habe der »erhabene Kunstkenner«144 Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau ein Muster geliefert, »wie auch die bildenden Künste mit den gymnastischen aufs schönste verschwistert, und wie Plätze, die den letzteren geweiht sind, durch Hülfe der erstern im Geiste des Alterthums ausgeschmückt werden können«.145 Auf insgesamt 22 lebensgroßen Hochreliefs wurde im Inneren der Halle die Geschichte der Reitkunst von der Erschaffung des Pferdes durch Neptun in mythischer Vorzeit bis zu den Wettkämpfen englischer Jockeys in der Gegenwart geschildert. Noch aus heutiger Perspektive erscheint das Dessauer Beispiel als »Höhepunkt einer dekorativen Ausgestaltung einer Reitbahn«.146 Außergewöhnlich ist aber nicht nur die ästhetische Qualität, sondern auch das Nutzungskonzept. Reitbahnen waren in der Regel Orte der aristokratischen Selbstinszenierung – z. B. in Form des Rossballetts – und als solche der Hofgesellschaft vorbehalten. »Vater Franz« hingegen erlaubte den Schülern des Dessauer Philanthropinums, der 1774 gegründeten Muster- und Versuchsschule, bei schlechtem Wetter die Reitbahn und das DietrichsPalais für handwerkliche Arbeiten und Körperübungen zu nutzen.147 Letztere waren integraler Teil der Erziehung an der schon von Kant bewunderten »Experimentalschule« und Kant sah dort seine grundsätzliche Forderung nach einer Ausbildung 141 Vgl. besonders – und mit Hinweis auf Rousseau – Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 1 (wie Anm. 92), S. 161f. 142 Böttiger: Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze (wie Anm. 37), S. 9. 143 Zur Reithalle in Dessau siehe Liliane Skalecki: Das Reithaus. Untersuchungen zu einer Bauaufgabe im 17. bis 19. Jahrhundert, Hildesheim 1992, S. 157–160 und S. 278 (Abb. 38). Schon ab 1794 fanden dort – was der zeitgenössischen Doppelnutzung von Reithallen, die oft auch als Festsäle dienten, entsprach – regelmäßig Theateraufführungen statt. Ab 1798 existierte ein separater Theaterbau, der jedoch 1922 abbrannte. Von 1923 bis 1938 diente dann wieder die Reitbahn als Theater, u. a. fand dort eine Aufführung mit Bühnenbildern Wassily Kandinskys statt. Vgl. http://www.anhaltisches-theater.de/das_theater (Abruf 18. Oktober 2010). Im Zweiten Weltkrieg wurde der Bau zerstört. 144 Böttiger: Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze (wie Anm. 37), S. 13. 145 Ebenda, S. 12f. 146 Skalecki: Das Reithaus (wie Anm. 143), S. 160. 147 Vgl. Erhard Hirsch: Die Dessau-Wörlitzer Reformbewegung im Zeitalter der Aufklärung. Personen – Strukturen – Wirkungen, Tübingen 2003, S. 330.

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des Körpers als ein unverzichtbares Element der »physischen Erziehung« erfüllt.148 Mit der Nutzung durch die auch bürgerlichen Eleven des Philanthropinums wurde die Reitbahn als aristokratischer Ort zumindest exemplarisch den Einwohnern des Musterstaats Dessau-Wörlitz geöffnet. Der Gebrauch der Reithalle wurde so in eine Richtung erweitert, in der der Sport immerhin temporär in das Leben der Gemeinschaft integriert wurde. Wie oben bereits dargelegt, war in der zeitgenössischen Hellaswahrnehmung die antike Körperkultur ein dezidiert öffentlicher Teil der griechischen Existenz. Nicht allein architektonisch und durch das Bildprogramm war die fürstliche Reitbahn deshalb an die Antike angebunden, sondern auch durch das Verständnis von dieser Sportstätte als einem (semi-)öffentlichen Ort von Körperkultur. Böttiger geht in seinem Reitbahn-Aufsatz nicht auf die Nutzungsmöglichkeiten ein. Gleichwohl macht die Terminologie – »geweiht«, verschwisterte Künste, »Tempel [!] der neuen Gymnastik« – deutlich, dass es ihm nicht nur um Ratschläge zum Dekorieren fürstlicher Bauwerke im modischen antiken Stil geht,149 sondern dass ihm offenbar eine Art von exemplarischem Kunstwerk vorschwebt, das einen Abglanz der idealen Menschenexistenz in der aetas aurea des Altertums liefern soll.150 Indem Böttiger ausführlich auf die ästhetische Wirkung des Baus eingeht und das Dargestellte durch die von ihm gewohnten extensiven Kommentare, Erläuterungen und Literaturhinweise altertumskundlich fundiert, geht er zudem deutlich über die enge sozialreformerische Perspektive der Philanthropen hinaus, die ebenfalls Reitbahnen als teilöffentliche Sportstätten vorgesehen hatten.151 Zugleich entwirft Böttiger das Bild eines mit Historie, Kunst und Sport gleichermaßen vertrauten fürstlichen Erbauers. Einen weiteren Ort öffentlicher Körperkultur im antiken Geiste sollte Böttiger Anfang August 1797 erblicken, ihn aber gleichwohl nie erreichen: »[u]ns gestattete die Zeit nicht, den Platz zu besuchen«. Auf einer Reise in das Dessau-Wörlitzer Gartenreich sah Böttiger von Ferne den »Drehberg«. Dort hatte »Vater Franz« sich ein Mausoleum errichten lassen, das aber nie als Grablege genutzt wurde. Seinen Namen, so heißt es in Böttigers Journal über den Drehberg weiter, »soll er von den 148 Immanuel Kant: Über Pädagogik, in: Ders.: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 6., unveränderte Aufl. (unveränderter Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1954), Darmstadt 2005, S. 691–761, hier S. 708f. und 724–726. 149 Während sich in der Innendekoration auch Szenen aus der griechischen Mythologie und Geschichte finden, ist die Architektur an römischen Vorbildern orientiert. Vgl. Skalecki: Das Reithaus (wie Anm. 143), S. 158. 150 Zum Muster-Charakter siehe auch Böttiger: Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze (wie Anm. 37), S. 41. 151 Vgl. Gerhard Ulrich Anton Vieth: Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen, Bd. 2: System der Leibesübungen, Berlin 1795, S. 43f. Zu Vieths Gymnastik-Werk siehe Gerhard Lukas: Gerhard Ulrich Anton Vieth. Sein Leben und Werk, Berlin 1964, S. 139–181.

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Abb. 15 »Die bildenden Künste mit den gymnastischen aufs schönste verschwistert« – Die neue Dessauer Reitbahn

Abb. 16 »Ganz im Geiste der Antike gearbeitet« – Rossebändiger an der Dessauer Reitbahn

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hier alle Jahre am 24. Sept. am Geburtstage der Fürstin gehaltenen Wettrennen der benachbarten jungen Burschen und Mädchen erhalten haben«.152 Dieses Volksfest in dem spätaufklärerischen Musterstaat Anhalt-Dessau fand von 1776 bis 1799 statt153 und wurde von den gebildeten Zeitgenossen als Attraktion der fürstlichen Herrschaft gewertet.154 Im Beisein des Fürstenpaares fanden am Drehberg alljährlich Wettbewerbe im Laufen und Reiten statt, an denen Kinder und Jugendliche in verschiedenen Altersklassen teilnahmen und denen manchmal tausende Besucher beiwohnten.155 Festmahl, Freibier, abendlicher Tanz, organisierte Kinderspiele und die Ausstattung von Bräuten durch die Fürstin komplettierten den Tag, und Böttiger waren auch diese kulturellen und sozialen Elemente des Drehbergfestes bekannt.156 Insgesamt wertet er die »Geburtstagsfeierlichkeiten« als »etwas sehr Romantisches und im wahren Geiste des Altertums Gedachtes«.157 Einer solchen Einschätzung entsprechen sowohl die Architektur der Anlage als auch die Inszenierung des Festes. Beide weisen zahlreiche Referenzen an die Antike auf – von den Pappeln, die das Mausoleum umstanden und wohl an Zypressen erinnern sollten,

152 Karl August Böttiger: Reise nach Wörlitz 1797, aus der Handschr. ed. und erl. von Erhard Hirsch, 8., überarb. und erg. Aufl., Berlin und München 2000, S. 29, Anm. *. Zum Drehbergfest immer noch grundlegend die Forschungsergebnisse von Erhard Hirsch, z.B. DessauWörlitzer Reformbewegung (wie Anm. 147); ders.: Dessau-Wörlitz. Aufklärung und Frühklassik. ›Zierde und Inbegriff des 18. Jahrhunderts‹ , hg. von Christian Antz, Dössel 2006, S. 109–114. 153 Später wurde das Fest anlässlich des 100. Geburtstags des Fürsten wiederbelebt. Vgl. Annette Dorgerloh: ›Antik gelebt, antik begraben‹. Hermann Fürst von Pückler-Muskau und seine Erinnerungslandschaften in Muskau und Branitz, in: Übersetzung und Transformation, hg. von Hartmut Böhme, Christof Rapp und Wolfgang Rösler, Berlin u. a. 2007, S. 235–265, hier S. 257. Seit 1989 lässt man die Tradition der »Lust am Drehberg« wieder aufleben. Siehe zu den ersten Jahren dieser neuen Tradition Der Drehberg im Dessau-Wörlitzer Gartenreich, hg. von der Stiftung Bauhaus Dessau, Red. Heike Brückner, Dessau 1997. Vgl. auch Michael Niedermeier: Sport und Tod. Das Drehbergfest bei Wörlitz und die Bedeutung des Totenagons für die Gartengrab-Entwicklung, in: Annette Dorgeloh, Marcus Becker und Michael Niedermeier: Et in Arcadia ego – Grab und Memoria im frühen Landschaftsgarten, München 2012 (im Druck). 154 Vgl. die Hinweise von Erhard Hirsch, in: Böttiger: Reise nach Wörlitz (wie Anm. 152), S. 93f., Anm. 54 und Hirsch: Dessau-Wörlitzer Reformbewegung (wie Anm. 147), S. 350f. 155 Vgl. Hirsch: Dessau-Wörlitzer Reformbewegung (wie Anm. 147), S. 341. – Ders.: ›Olympische Spiele‹ am Drehberg in Anhalt-Dessau zur Goethezeit, in: Nikephoros, Hildesheim 1997, Bd. 10, S. 265–288, hier S. 277–279, rekonstruiert Lauf und Wettreiten detailliert. – Zur politischen und sozialen Funktion vgl. auch Michael Niedermeier: Troja und Olympia im Norden. Jugendwettkämpfe und Totenverehrung als patriotische und ›nationale‹ Gartenfeste um 1800, in: Leben, Lust und Tod in Gärten um 1800, hg. von Annette Dorgerloh, Michael Niedermeier, Hanno Schmitt, Potsdam 2004, S. 39–53. 156 Vgl. Böttiger: Reise nach Wörlitz (wie Anm. 152), S. 29, Anm. * sowie S. 60. 157 Ebenda, S. 29, Anm. *.

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Abb. 17 »Im wahren Geiste des Altertums gedacht« – Der Drehberg bei Wörlitz

Abb. 18 Der Drehberg heute – unter »nordischem Himmel«

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über die nicht erhaltenen klassizistischen Wandgemälde gymnastischer Übungen im Inneren des Baus bis zum Wettreiten ohne Sattel wie im Altertum.158 Bei einer derartigen Fülle an Antikenbezügen wundert es nicht, dass der Philanthrop GutsMuths, der in der Zweitauflage der Gymnastik für die Jugend dem Drehbergfest eine ausführliche Beschreibung widmet, hier »die olympischen Spiele gleichsam wieder aufleben« sah.159 Der Drehberg erscheint als paradigmatischer Ort einer im Geiste der Antike reformierten Gegenwart, die in Fürst Franz ihren auch von Böttiger bewunderten Gestalter gefunden hat. * Während in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einem mitteldeutschen Duodezfürstentum die zeitübliche Antikenbegeisterung beim Drehbergfest um konkrete sportliche, architektonische und gesellschaftliche Dimensionen ergänzt wurde, geriet auch der Ursprungs- und Projektionsort dieser Faszination verstärkt in den Blickwinkel. Gänzlich war in Europa die Erinnerung an Olympia seit dem Ende der Olympischen Spiele im Jahre 393 n. Chr. niemals verloren gegangen, daran hatte nicht zuletzt die Tradierung der Werke Pausanias’ und Pindars Anteil.160 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts schreibt Winckelmann an verschiedenen Stellen über die panhellenischen Spiele161 und um 1800 waren die antiken Wettkämpfe in Deutschland dann zu einem wichtigen Element des idealistischen Griechenbilds geworden.162 Über die darin enthaltenen geschichtsphilosophischen, bildungstheoretischen und nationalkulturellen Projektionen geht Böttiger hinaus, ohne aber diese Aspekte aus den Augen zu verlieren. 158 Vgl. August Rode: Beschreibung des Fürstlichen Anhalt-Dessauischen Landhauses und Englischen Gartens zu Wörlitz, Reprint der Neuaufl. Dessau 1796, Berlin 1987, S. 3–7, hier zitiert nach dem Abdruck in Hirsch: ›Olympische Spiele‹ (wie Anm. 155), S. 288. Siehe dazu auch ders.: Dessau-Wörlitzer Reformbewegung (wie Anm. 147), S. 342f. – Auch dass die Drehbergspiele 1776 erstmalig begangen wurden, ist nach Ansicht Günter Witts eine assoziative Referenz des Fürsten an die ersten Olympischen Spiele im Jahre 776 v. Chr. Günter Witt: ›Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist‹. Harmonie von Geist und Körper – Wirklichkeit und Dichtung bei Goethe, Weimar u. a. 2003, S. 123. – Die Jahresangaben zum Beginn und Ende der Drehbergspiele sind nicht einheitlich, vereinzelt sind auch die Jahre 1777 als Beginn und 1800 als Ende zu lesen. Hirsch nennt 1776. 159 GutsMuths: Gymnastik für die Jugend (wie Anm. 125), S. 144. 160 Vgl. dazu die kommentierte Anthologie von Karl Lennartz: Kenntnisse und Vorstellungen von Olympia und den Olympischen Spielen in der Zeit von 393–1896, Schorndorf 1974. 161 In den Gedanken über die Nachahmung (1755) verweist Winckelmann auf die nationale Kohäsionskraft der »großen Spiele« – Winckelmann nennt allgemein die Spiele und beschränkt sich nicht auf Olympia –, die »al len jungen Gr ie ch en ein kräftiger Sporn« gewesen seien. Winckelmann: Gedanken (wie Anm. 45), S. 5. Emphase von mir, F. S. 162 Dazu unverzichtbar: Honold: Nach Olympia (wie Anm. 6).

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Anders als viele seiner Zeitgenossen, die »Olympia« und die »Agones« weitgehend als Chiffren verwendeten, um ein nicht näher erläutertes Bild griechischer Existenz für ihre Gegenwart zu reklamieren, ordnet Böttiger die Agones mythologisch, kunstgeschichtlich und historisch möglichst genau ein. In detaillierten Anmerkungen widmet er sich archäologischen und kunsthistorischen Kontroversen und Thesen zu Olympia. Themen und Streitpunkte sind hier eine mit Bildnissen geschmückte Stoa in Olympia,163 die genaue, elfenbeinsparende Konstruktionsweise beim Bau der Zeusstatue durch Phidias,164 die Blöße des Oberkörpers dieser Plastik,165 die Frage nach der Form der Vorhänge im Zeustempel166 und – hier ist Böttiger Herausgeber des Beitrags – die exakte Position von Phidias’ Künstlersignatur auf dem Denkmal.167 Fast zwei Generationen vor Beginn der systematischen Ausgrabungen ab 1875 musste sich Böttiger bei der Diskussion dieser Fragen in erster Linie auf Zeugnisse antiker Schriftsteller und zur Analogiebildung allenfalls noch auf Kenntnisse des modernen Kunsthandwerks168 verlassen. Auch die strittige Frage, ob in Olympia nur eine heilige Stätte oder aber eine ständig bewohnte Stadt bestanden hat, beantwortet Böttiger unter Rückgriff auf Bücher. Seine Antwort fällt deutlich aus, er spricht von der »Unstatthaftigkeit der Stadt Olympia«. Böttiger gesteht einem Kollegen zwar die Richtigkeit der Annahme zu, dass in Olympia Abwasserrinnen existiert hätten. Diese seien auch schon, so Böttiger, in Suetons Nero dokumentiert. Sie könnten aber keinesfalls als Beweise für die Existenz einer Stadt Olympia gelten. Vielmehr seien diese »Cloaken und Abzugskanäle« zwangsläufig für die »großen Opferbedürfnisse und Schlächtereien auch im Bezirk des Heiligthums von Olympia« notwendig gewesen.169 Suetons Text ist eine Herrscherbiographie und die »latrinas« in Olympia werden erwähnt, weil Nero darin angeblich die Siegerstatuen versenken ließ, um sich so zum einzigen Gewinner zu erheben.170 Die rhetorische Funktion der Kloaken, durch die 163 Böttiger: Ideen zur Archäologie der Malerei (wie Anm. 4), S. 279. 164 Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen (wie Anm. 16), S. 108f. 165 Karl August Böttiger: Die Familie des Tiberius auf einem Onyxcameo zu Paris, in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 2 (wie Anm. 15), S. 292–305, hier S. 298. 166 Karl August Böttiger: Antiquarische Analecten, 3. Sammlung, Nr. 89, in: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 3 (wie Anm. 19), S. 455f. 167 [Karl Gottfried] Siebelis: Bemerkungen über einige Stellen des Pausanias, welche archäologische Gegenstände betreffen, in: Amalthea, Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 252–265, hier S. 255f. 168 Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen (wie Anm. 16), S. 108. 169 Karl August Böttiger: Nachschrift des Herausgebers [zu einer Sammelrezension britischer Neuerscheinungen], in: Amalthea, Bd. 3 (wie Anm. 85), S. 402f., Zitat S. 403. – Zum heutigen Forschungsstand bezüglich der Hygiene vgl. Sinn: Olympia (wie Anm. 98), S. 121–123. 170 Suetonius Tranquillus: Nero, Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. von Marion Giebel, durchges. und bibliograph. erg. Aufl., Stuttgart 2001, 24,1; S. 40–43. Dazu vgl. Marion Giebel: Nachwort, ebenda, S. 127–142, hier S. 134; zu Nero in Olympia siehe außerdem Sinn: Olympia (wie Anm. 98), S. 199–202.

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Neros Laster und Verbrechen nahezu grotesk vergrößert erscheinen, ist für Böttiger aber kein Grund, die Validität dieser Aussagen in Hinsicht auf die konkrete räumliche Situation in Olympia anzuzweifeln. Böttigers Vorgehen ist insofern außergewöhnlich, als dass er sich von zwei Tendenzen der Zeit deutlich absetzt. Zum einen ist er nicht fixiert auf singuläre, meist ästhetisch hochwertige Kunstwerke oder bedeutende Bauten, die auch das primäre Ziel von Ausgrabungen waren. Vielmehr integriert er Aspekte antiken Lebens in seine Argumentation, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung als marginal, skurril oder anstößig erscheinen mussten. Außerdem geht es Böttiger nicht nur um die politische und kulturelle Funktion Olympias, sondern er bemüht sich, den konkreten Ort aus der zeitlichen und räumlichen Distanz zu rekonstruieren. Dabei bezieht er die archäologisch nutzbaren Passagen antiker Texte samt modernen Interpretationen ebenso ein wie erste Publikationen, die von Reisen zu der noch weitestgehend verschütteten Stätte berichten. Böttiger war nicht nur mit Winckelmanns altem »Lieblingsproject«, Olympia auszugraben, vertraut,171 sondern auch mit entsprechenden neueren Bestrebungen.172 Vor allem aber kannte er die maßgeblichen Dokumentationen der frühen archäologischen Reisen auf den Balkan und in den Orient.173 Seinen Blick richtet er auf die Gesamtheit der Anlage, wobei er ständig zwischen antiken Textdokumenten und der durch Publikationen vermittelten ersten ›Anschauung‹ des Zustandes zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermittelt. Insofern ist Böttiger nahezu modern zu nennen, denn auch die heutige Archäologie interpretiert ihre Artefakte und Stätten in steter Auseinandersetzung mit den schriftlichen

171 Böttiger: Nachschrift (wie Anm. 169), S. 403; ders.: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 2 (wie Anm. 44), S. 181. Zu Winckelmanns Projekt vgl. Honold: Nach Olympia (wie Anm. 6), S. 54f. 172 Vgl. William Hamilton: Einleitung über das Studium der antiken Vasen und die daraus entspringenden Vortheile für Künstler und Kunstliebhaber. Mit Anmerkungen des deutschen Herausgeber, in: Böttiger: Griechische Vasengemälde, Bd. 1, Heft 1 (wie Anm. 2), S. 13–59, hier S. 30, Anm. *; Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 2 (wie Anm. 44), S. 181f. (über Fauvels Ausgrabungen). 173 In Böttigers eigenen Texten oder in Artikeln, die Böttiger als Herausgeber zur Kenntnis genommen hat, finden sich Nachweise folgender Werke zeitgenössischer archäologischer Reisen: Julien-David Le Roy: Les Ruines des plus beaux Monuments de la Grece, 2 Bde., Paris 1758 (Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen (wie Anm. 16), S. 74); James Stuart, Nicholas Revett: The Antiquities of Athens measured and delineated, 4 Bde., London 1762–1816 (Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen (wie Anm. 16), S. 74; Karl August Böttiger: Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin, Teil 1, 2., verbesserte und erg. Aufl., Leipzig 1806, S. 234; Ideen zur Archäologie der Malerei (wie Anm. 4), S. 290 u.a.; Richard Chandler, Nicholas Revett, William Pars: Ionian Antiquities. Published with permission of The Society of Dilettanti, 5 Bde., London: 1769–1915 [sic!] (Levezow: Ueber die Königlich Preußischen Sammlungen (wie Anm. 86), S. 339–391, hier S. 352f., Anm. **).

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Abb. 19 »Der heilige Kampfplatz am Alpheus«, Anfang des 19. Jahrhunderts

Quellen.174 Für Böttiger lag der Schwerpunkt quellenbedingt auf letzterem Vorgehen – dass er aber bestrebt war, die Grenzen seiner Arbeit zu verschieben, macht seine Aufmerksamkeit für die beginnende feldarchäologische Forschung deutlich. Obgleich er nie in Griechenland war, deutet sich somit in Böttigers Lektüren die Neuausrichtung der Archäologie von einer textorientierten Geistes- hin zu einer objektorientierten ›Spatenwissenschaft‹ an. Was Böttiger mit dem zeitgenössischen idealistischen Olympiabild verbindet, ist die Interpretation der Wettkämpfe als nationales Ereignis. So erläutert er in den Ideen zur Kunst-Mythologie die Genese des olympischen Zeus, wobei er die Stellung und Funktion der Gottheit als » p a n h e l l e n i s ch « und als »Nationalgott bei dem allgemeinen vierjährigen Nationalfest« herausstellt.175 Die Bedeutung von Theseus für die Begründung der Isthmischen Spiele wird in den Griechischen Vasengemälden ebenfalls beleuchtet und auch hier ist von Theseus als einem »Nationalheros« die Rede,176 was wiederum die Isthmischen Spiele als gesamtgriechische Angelegenheit klassifiziert. Nicht zuletzt zeigt sich die Relevanz der Spiele für ganz Griechenland 174 Vgl. etwa Ulrich Sinn: Einführung in die klassische Archäologie, München 2000, S. 41f. Im Bereich des Sports kommen zu den philologischen und archäologischen Argumenten noch solche, die sich aus Bewegungsstudien und biomechanischen Untersuchungen ergeben. Vgl. Knauß: Weitsprung (wie Anm. 89), S. 127. 175 Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 1 (wie Anm. 93), S. 301. Emphase im Original. Die Olympia- bzw. Zeus-Episode fügt sich in das Gesamtkonzept der Ideen zur Kunst-Mythologie ein, denn darin »bindet Böttiger die künstlerische Bewältigung des Mythos an eine völkerübergreifende Religionsgeschichte an«. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 26), S. 30. 176 Karl August Böttiger: Sechstes Vasengemälde, in: Ders.: Griechische Vasengemälde, Bd. 1, Heft 2 (wie Anm. 44), S. 134–163, hier S. 155f.

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auch in der Zahl der Anwesenden, denn Böttiger erklärt, »Hundertausenden der Panhellenen« sei in Olympia jeweils der Sieger verkündet worden.177 Die Idee, dass sich in Olympia periodisch eine (Kultur-)Nation konstituierte, die realpolitisch nicht existierte, ist prägend für das deutsche Griechenbild. Mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung findet sich diese Denkfigur bei Hölderlin, Schiller, Herder und Humboldt ebenso wie bei GutsMuths.178 Auch Böttiger geht davon aus, dass Olympia als »Mittelpunkt […] des panhellenischen Völkervereins« fungierte, denn üblicherweise »zermalmte« die »ewige Fehde« die Beziehungen zwischen den 340 unterschiedlichen politischen Herrschaftsgebilden, aus denen Hellas laut Böttiger bestand.179 Aus der »Herrlichkeit des großen Nationalfestes zu Olympia«180 erwuchs eine griechische Identität nicht nur in politischer und kultureller, sondern auch in semantischer Hinsicht: »Von Olympia aus kam erst der Name He l lene im weitern Sinn in Umlauf« und transzendierte die Namen, Geschichten und Ethnien der einzelnen Staaten.181 Böttiger verbleibt aber nicht auf der Ebene des Vergleichs von Kulturnation und politischen Einzelstaaten, sondern die sportlichen Wettbewerbe sind für ihn noch auf andere Art Kohäsionskraft der hellenischen Welt. Anders als die »Tourniere der Ritter zu den Zeiten der Kreuzzüge« boten die Olympiaden allen freien Männern die Möglichkeit der Teilnahme, nicht nur den Angehörigen eines bestimmten Standes. Außerdem entfalteten die Wettkämpfe auch in ökonomischer und künstlerischer Hinsicht eine Wirkung auf Gesamtgriechenland, die mit keiner anderen länderübergreifenden Zusammenkunft in der Geschichte zu vergleichen ist. »Schon für Handel und Verkehr« hätten die olympischen Spiele mehr »Nutzen« gestiftet als andere nationale und religiöse Großveranstaltungen; Böttiger nennt in dem Zusammenhang die Wallfahrten der Hebräer nach Jerusalem und der Moslems nach Mekka.182 Selbst die Kunststücke sophistischer Rhetorik sind als »Prachtreden« positives Element Olympias.183 Schließlich boten die Spiele ein unerreichtes Reservoir an Modellen für Künstler, die ebenfalls in großer Anzahl vor Ort anzutreffen 177 Böttiger: Forioso und die Seiltänzer zu Cyzikus (wie Anm. 19), S. 340. 178 Schiller: Die Kraniche des Ibykus (wie Anm. 133), V. 3, 66 und 91–94, S. 346 und 349. – Auch in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen spricht Schiller ausdrücklich im Plural, wenn er die »griechischen Völkerschaften in den Kampfspielen zu Olympia« nennt. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen (wie Anm. 44), S. 617 (15. Brief); Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, hg. von Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart 1990, S. 23f.; Humboldt: Geschichte des Verfalls und Unterganges der griechischen Freistaaten (wie Anm. 63), S. 107; GutsMuths: Gymnastik für die Jugend (wie Anm. 124), S. 139f. 179 Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie, Bd. 2 (wie Anm. 44), S. 142 und 145, Anm. *. 180 Ebenda, S. 143. 181 Ebenda, S. 145, Anm. *. 182 Ebenda, S. 146, Anm. *. 183 Ebenda, S. 147, Anm. *.

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waren.184 Die Vorstellung, dass die griechischen Athletenstatuen nach dem Leben gebildet wurden, findet in Olympia den Ort ihrer räumlich-zeitlichen Verdichtung. Ästhetik und Ökonomie, Staatsverträge und private Kontrakte, religiöse Kulte und athletische Wettbewerbe – mit dieser dezidiert polyperspektivischen Ansicht der olympischen Spiele erweitert Böttiger den zeitgenössischen Olympiadiskurs in gleich mehrere Richtungen. Die von ihm eingebrachten religions-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte – die auch von der heutigen Forschung bestätigt werden185 – wurden von vielen seiner Zeitgenossen nicht als konstitutive Elemente der Olympischen Spiele wahrgenommen.

184 Ebenda, S. 146, Anm. *. 185 Vgl. zu den nicht-sportlichen Bedeutungen und Funktionen Olympias Florian Knauß: Die »heiligen Kranzspiele«: Olympien, Pythien, Isthmien und Nemeen, in: Wünsche, Knauß (Hg.): Lockender Lorbeer (wie Anm. 3), S. 44–55, hier S. 45 und 50; Sinn: Olympia (wie Anm. 98), S. 172f.; Paul Veyne: Was faszinierte die Griechen an den Olympischen Spielen?, in: Olympische Spiele – die andere Utopie der Moderne (wie Anm. 108), S. 39–61, hier S. 55f. und 41: »In Olympia begeisterten sich die einen für die Sportwettkämpfe, andere kamen, um zu kaufen und zu verkaufen, und wieder andere, um die Redner und Philosophen zu hören.«

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Vorstellungen und Visionen von einem idealen Antikenmuseum Karl August Böttiger und die Dresdner Antikensammlung1

I Im Jahre 1728 hatte Kurfürst Friedrich August I., als König von Polen August II., genannt der Starke, durch seinen Kunstagenten und königlichen Architekten, Raymond Leplat, in Rom ein großes Konvolut antiker Statuen aus dem Besitz der Fürstenfamilie Chigi und des Kardinals Alessandro Albani erwerben können. Aus anderen römischen Sammlungen kamen ägyptische Mumien, griechische Vasen, Bronzestatuetten und -geräte, Säulen, Urnen, Inschriften und andere »Anticaillen« hinzu. Nach ihrer Ankunft in Dresden wurden die knapp 200 Antiken sogleich repräsentativ im Festsaal und in den angrenzenden vier Räumlichkeiten des Palais im Großen Garten aufgestellt – ganz nach dem Vorbild römischer Antikengalerien der Barockzeit. August der Starke konnte sich damit rühmen, der Begründer einer der ältesten und bedeutendsten Antikensammlungen außerhalb Italiens zu sein.2 Er beauftragte Leplat mit der Herstellung eines Stichwerks, das seinen Antikenbesitz vollständig wiedergeben sollte und das 1733 als Recueil des marbres antiques qui se trouvent dans la Galerie du Roy de Pologne à Dresden erschien.3 Auch Böttiger wird sich später in seinen Abhandlungen auf dieses Abbildungswerk beziehen.

1 Zu diesem Thema bereits: René Sternke: Die Dresdener Antikensammlung als Objekt des archäologischen Diskurses, in: Ders.: Böttiger und der archäologische Diskurs. Mit einem Anhang der Schriften »Goethe’s Tod« und »Nach Goethe’s Tod« von Karl August Böttiger, Berlin 2008, S. 225–231. – Julia A. Schmidt-Funke: Winckelmanns Vermächtnis. Böttiger in Dresden, in: Dies.: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006, S. 102–110. 2 Zur Sammlungsgeschichte: Gerald Heres: Dresdner Kunstsammlungen im 18. Jahrhundert, Leipzig 1991, S. 77–83 und S. 143–153. – Beatrice Cacciotti: Kunsthändler, Antiquare und Antikensammler in Rom zwischen 1700 und 1733, in: Stephan F. Schröder (Hg.): Verwandelte Götter. Antike Skulpturen des Prado zu Gast in Dresden. Ausstellungskatalog Dresden, Madrid 2009, S. 96 –105. – Kordelia Knoll: Die Dresdner Sammlung im 18. Jahrhundert und ihre Entwicklung bis heute, ebenda, S. 108–121. 3 Zum Stichwerk von Leplat vgl. Heres: Dresdner Kunstsammlungen (wie Anm. 2), S. 79–84.

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Die großzügig angeordnete Sammlung4 wurde nach dem Tod Augusts des Starken in vier das Palais umgebende Pavillons umgesetzt, weil dieses für die Hochzeitsfeierlichkeiten seiner Enkel benötigt wurde.5 In den Pavillons waren die Antiken seit 1747 nur notdürftig untergebracht und schlecht zugänglich. Berühmt ist Johann Joachim Winckelmanns Klage: »Der größte Schatz von Altertümern befindet sich zu Dresden […]. Ich kann aber das Vorzüglichste von Schönheit nicht angeben, weil die besten Statuen in einem Schuppen von Brettern wie die Heringe gepackt standen.«6 Obwohl ihre Aufstellung im Laufe der Jahre verbessert wurde und die Dresdner Antiken »in Ansehung und Würde« sogar mit denen des Kapitols in Rom verglichen wurden,7 begann eine neue Ära erst 1786 mit ihrem Umzug in das Japanische Palais. Auf Betreiben des Oberkammerherrn Camillo Marcolini8 konnte sich die Sammlung dort in einer Abfolge von zehn Sälen im Erdgeschoss des Palais mit dem Blick auf Elbe und Schloss erstmals in ihrer Breite und ganz museal präsentieren. Kurfürst Friedrich August III., ein Urenkel August des Starken, sah sich als Gründer eines Museums, über dessen Eingang die Worte gesetzt waren MUSEUM USUI PUBLICO PATENS. Der Ruhm der Sammlung war groß. Im Gästebuch, das seit 1763 geführt wurde, finden sich berühmte Namenszüge, unter ihnen die von Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller, Friedrich Schlegel, Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm, Karoline und Alexander von Humboldt und Gottfried Schadow, um nur eine Auswahl zu nennen.9 Am 8. Juni 1789 besucht Karl August Böttiger die neu eingerichtete Antikensammlung im Japanischen Palais. Er war von Guben aus, wo er seit 1784 als Gym-

4 Seit 1744 erscheint die Sammlung im Hof- und Staats-Calender als »Gallerie von antiquen und modernen Statuen«. Vgl. Heres: Dresdner Kunstsammlungen (wie Anm. 2), S. 83. 5 August III. benötigte das Palais für die Doppelhochzeit seiner beiden Kinder, des Prinzen Friedrich Christian (1722–1763) und der Prinzessin Maria Anna. 6 Johann Joachim Winckelmann: Abhandlung von der Faehigkeit der Empfindung des Schoenen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben: An den Edelgebohrnen Freyherrn, Friedrich Rudolph von Berg, aus Liefland (Dresden 1763), in: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. von Walther Rehm, Berlin 1968, S. 224. 7 Karl Wilhelm Daßdorf: Beschreibung der vorzüglichsten Merckwürdigkeiten der Churfürstlichen Residenzstadt Dresden und einiger umliegender Gegenden, Dresden 1782, S. 552f. 8 Graf Camillo Marcolini (1763–1814) kam aus seinem Geburtsort Fano am Adriatischen Meer an das Pageninstitut nach Dresden und avancierte 1763 zum Kammerpagen des noch unmündigen Kurfürsten Friedrich August III. Nach dem Regierungsantritt des Kurfürsten 1768 erhielt Marcolini die Stelle des Oberhofmeisters. Seit 1774 war er Direktor der Porzellanmanufaktur Meißen und nach dem Tod Ludwig von Hagedorns 1780 wurde ihm die Direktion der Kunstakademie und der kurfürstlichen Sammlungen übertragen. 9 Lessing (1775), Schiller (1786), Schlegel (1790, 1792, 1793), Goethe (1790), Wilhelm und Karoline von Humboldt (1793), Alexander von Humboldt (1797), Gottfried Schadow (1798).

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Abb. 1 Japanisches Palais, Aquarell um 1790

nasialdirektor wirkte, nach Dresden gereist.10 Schon einige Jahre zuvor hatte er die Antiken kennengelernt, als sie sich noch in den Pavillons des Großen Gartens befanden. Jetzt, im Sommer 1789, durchläuft er mit Johann Friedrich Wacker, dem Inspektor der Antikengalerie und des Münzkabinetts,11 die Flucht der neu eingerichteten hellen und weitläufigen Antikensäle, die er »mit königlicher Pracht« aufgestellt findet.12 Wacker, den Böttiger einen »alten Freund« nennt,13 hatte die berühmte Sammlung im Großen Garten mehrfach aus- und umlagern müssen, er hatte sie über den Siebenjährigen Krieg gerettet,14 bis er sie endlich 1786 in das Japanischen Palais (Abb. 1) überführen und sie dort nach seinen Plänen neu aufstellen konnte. Nach dem Vorbild des Kapitolinischen Museums in Rom hatte er herausragende Skulpturen in die Mitte des Raumes gestellt, die übrigen Werke dagegen an den Wänden

10 Zur Biographie vgl. Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 1998, S. 9 –21. 11 Johann Friedrich Wacker (um 1730–1795) wurde 1755 im Staatshandbuch für das Königreich Sachsen als »Anwärter« der Antikensammlung genannt. Seit 1762 war er, nach dem Ausscheiden von Johann Gottlieb Cronawetter, Inspektor der Antikensammlungen. 12 Karl August Böttiger: Reise von Guben nach Dresden, Dresden 30. Mai –14. Juny 1789, hier: »den 8. Juny«, S. 23. SLUB Dresden, h 37, II Vermischtes 4°, Bd. VIII, Nr. 4. 13 Ebenda, S. 20. 14 Die Antiken wurden 1760 aus dem Großen Garten in die Stadt, in die Keller des Zeughauses, des später sogenannten Albertinums, ausgelagert. 1763 kehrten sie von dort in die Pavillons des Großen Gartens zurück und wurden von Wacker in neuer Ordnung aufgestellt.

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Abb. 2 Japanisches Palais, Saal 10, Saal des Columbariums, Ausmalung von J. B. Theil um 1785

entlang geordnet.15 Dass fast alle antiken Skulpturen barocke Marmorergänzungen trugen, wurde zunächst noch als Selbstverständlichkeit betrachtet. In seinen tagebuchartigen Reise-Aufzeichnungen des Jahres 1789 hebt Böttiger vor allem – »was mich am meisten vergnügte«16 – den letzten Ausstellungsraum (Abb. 2) hervor, in dem Wacker das 1726 an der Via Appia gefundene Columbarium der Sklaven und Freigelassenen der Livia hatte nachbilden lassen.17 Die Entwürfe für 15 Einen Eindruck der Aufstellung vermitteln die Raumpläne, die dem Katalog der Antikensammlung von Lipsius beigeordnet sind: Johann Gottfried Lipsius: Beschreibung der Churfürstlichen Antiken-Galerie in Dresden, zum Theil nach hinterlassenen Papieren Herrn Johann Friedrich Wacker’s ehemaligen Inspector’s dieser Galerie, Dresden 1798. 16 Böttiger: Reise von Guben nach Dresden (wie Anm. 12), hier: »den 8. Juny« S. 23. 17 Columbarium, lat. Taubenschlag, ist ein Grabbau, in dem sich über- und nebeneinander viele Nischen für Urnen befinden. Diese »Nischenarchitektur« erinnert an einen Taubenschlag. Im Columbarium der Kaiserin Livia (58 v. Chr.–29 n. Chr.) war, wie aus Inschriften hervorgeht, in mehr als 550 Nischen die Asche von mehr als 1100 Sklaven und Freigelassenen der Kaiserin Livia beigesetzt, vgl. Eva Hofstetter-Dolega: Die Ausgrabungen – oder woher stammen die

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Abb. 3 Sarkophag mit dem Triumphzug des Dionysos, Inv. Hm 271, um 220 n. Chr.

die Rekonstruktion stammten von Hofbaumeister Gottlob August Hölzer (1744– 1814) und der Raum war von dem Theatermaler Johann Benedikt Theil (1745– 1797) stimmungsvoll als Grotte ausgemalt worden. Als Vorlage diente Theil vermutlich ein Stich, der im Tafelwerk von Francesco Bianchini wiedergegeben war und der die taubenschlagartig mit Urnen-Nischen ausgestattete, annähernd kirchenhohe Grabkammer mit baufällig ruinöser Dachzone zeigt.18 Böttiger bewundert in diesem Raum den römischen Sarkophag mit der Darstellung des »Bacchanal in basrelief« 19 (Abb. 3) und die Mumien (Abb. 4 und 5), die 1615 von Pietro della Valle in Saqqara ausgegraben worden waren und die zu den ersten Funden dieser Art gehören. Sie waren 1728 über die Sammlung Gualtieri mit der Sammlung Chigi nach Dresden gekommen.20 Später, 1811, wird Böttiger diesen Mumien in seinen Ideen zur Archäologie der Malerei einen eigenen Beitrag widmen und an ihnen den »hellenisierenden Styl« in der ägyptischen Kunstgeschichte nachweisen und zeigen, dass an ihnen »kein

Antiken?, in: Max Kunze (Hg.): Außer Rom ist fast nichts schönes in der Welt. Römische Antikensammlungen im 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog Wörlitz, Mainz 1998, S. 67–96, hier S. 83. – Bei der Rekonstruktion des Columbariums im Japanischen Palais konnte es sich nur um eine Anmutung des monumentalen Grabbaus handeln. 18 Francesco Bianchini: Camera ed iscrizioni sepulcrali de’ liberti, servi ed ufficiali della casa di Augusto scoperte nella via Appia, ed illustrata con le annotazioni di Francesco Bianchini, Rom 1727, Taf. 4, zitiert nach Hofstetter-Dolega: Die Ausgrabungen (wie Anm. 17), S. 83 und Abb. III.8. 19 Böttiger: Reise von Guben nach Dresden (wie Anm. 12), hier: »den 8. Juny«, S. 23. – Sarkophag mit dem Triumphzug des Dionysos, Inv. Hm 271, um 220 n. Chr., aus der Sammlung des Kardinals Albani 1728 in Rom erworben. 20 Mumie eines Mannes und einer Frau. Inv. Aeg. 777–778. – Ägyptische Altertümer aus der Skulpturensammlung Dresden, Ausstellungskatalog Dresden, Skulpturensammlung, 1977, S. 39, Kat. 39–40.

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Abb. 4 Mumie eines Mannes, Inv. Aeg. 777

Abb. 5 Mumie einer Frau, Inv. Aeg. 778

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Abb. 6 Agrippina, aus: Raymond Leplat: Recueil des marbres antiques …, Dresden 1733, Taf. 35 (Agrippine)

einziger Zug ägyptisch sey«.21 Tatsächlich erinnern die in prächtige Leichentücher gewickelten Mumien mit aufgesetzten Ornamenten, z. T. in vergoldetem Stuck, und die aufgemalten Porträts nur noch entfernt an die pharaonische Zeit Ägyptens, sie stehen bereits in der Tradition der Spätantike und werden in das 4. Jh. n. Chr. datiert. Wacker führt Böttiger weiter zu der überlebensgroßen Statue einer sitzenden Frau, der sogenannten Agrippina (Abb. 6) und erzählt nebenbei, dass der Kurfürst (Friedrich August III.) schon einige Male die neue Antikenaufstellung gesehen habe, 21 Karl August Böttiger: Ideen zur Archäologie der Malerei. Erster Theil. Nach Maasgabe der Wintervorlesungen im Iahre 1811, Dresden 1811, S. 65–89: Excurs über die Mumien des della Valle in der Dresdner Gallerie, hier S. 66 und S. 67. – Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, Zweites Buch: Von der Kunst unter den Aegyptiern, Phöniziern und Persern, in: Winckelmanns Werke, Bd. 1, Dresden 1839, S. 40f.

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»C’est charmant, ca surprend, c’est pourtant charmant«, seien aber seine einzigen »Exclamationen« gewesen.22 Die Statue der »Agrippina« 23 war seit jeher besonders berühmt. Bevor sie in die Sammlung Chigi kam, war sie im 16. Jahrhundert im Besitz des Kardinals Ippolito d’Este und bereits im Stichwerk von Cavalieri von 1585 abgebildet.24 Winckelmann hatte sie 1755 in seiner Dresdner Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst beschrieben25 und Lessing interessierte sich unter den Antiken vornehmlich für diese Statue, der er am 15. April 1771 einen ganzen Aufsatz in der Neuen Braunschweigischen Zeitung widmete. Nicht nur um ihre Benennung – »Agrippina«, »Trauernde Ariadne« oder »Niobe« – herrschte damals unter den Gelehrten Uneinigkeit,26 sondern auch die Zugehörigkeit des Kopfes zur Statue war unsicher. Lessing zum Beispiel hielt den Kopf für nicht zur Statue gehörend, eine Meinung, der sich Böttiger anschließt, während Wacker ihn zugehörig und nur falsch aufgesetzt findet. Später, 1893, sollte der in der Tat nicht zugehörige Kopf im Zuge der Entrestaurierungsmaßnahmen27 von der Statue abgenommen und separat aufgestellt werden (Abb. 7).28

22 Böttiger: Reise von Guben nach Dresden (wie Anm. 12), hier: »den 8. Juny«, S. 24. 23 Sitzende Nymphe, Typus Muse Dresden-Zagreb, Inv. Hm 241, 1. Drittel 1. Jh. n. Chr. nach einem griechischen Werk des 2. Jhs. v. Chr., aus der Sammlung Chigi 1728 in Rom erworben. – Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Katalog der antiken Bildwerke II 1–2, Idealskulptur der römischen Kaiserzeit, hg. von Kordelia Knoll, Christiane Vorster, Moritz Woelk, München 2011, Kat. 63 (Friederike Sinn). 24 Giovanni Battista Cavalieri: Antiquarum Statuarum Urbis Romae. Primus et secundus liber, Rom 1585, Taf. 50 (Christian Hülsen: Römische Antikengärten des XVI. Jahrhunderts, Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 4, Heidelberg 1917, S. 110, Abb. 85). 25 Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften (wie Anm. 6), S. 40. 26 Winckelmann nannte die Statue »Agrippina«, unter diesem Namen ist sie auch im Inventar der Sammlung Chigi von 1662 vermerkt. Giovanni Battista Casanova sagt dagegen: »Diese unvergleichliche Bildsäule eines Frauenzimmers, die mehr in einer tiefsinnigen und nachdenkenden, als traurigen Stellung sitzt, trägt mit Unrecht den Namen der Agrippine, mit dem sie auch Winckelmann belegt«. Abhandlung über verschiedene alte Denkmäler der Kunst, besonders aus der Churfürstlichen Antiquitätensammlung zu Dresden, Leipzig 1771, S. 31. – Johann Gottfried Lipsius interpretierte sie als »Niobe«. Lipsius: Beschreibung der Churfürstlichen Antiken-Galerie (wie Anm. 15), S. 376. So nannte sie damals auch Böttiger, während Becker sie als »trauernde Ariadne« bezeichnete. Augusteum, Dresdens antike Denkmäler enthaltend, 3 Bde., Leipzig 1804, 1808, 1811, Bd. I, S. 100–106. 27 Zu den Entrestaurierungen im 19. Jahrhundert vgl. Kordelia Knoll: Die Abnahme der Ergänzungen von den antiken Skulpturen und die Einrichtung und Aufstellung der Antikensammlung, in: Das Albertinum vor 100 Jahren – die Skulpturensammlung Georg Treus, Dresden 1994, S. 131–142. – Dies.: Der Umgang mit den Antikenergänzungen in Dresden, in: Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23). 28 Idealer weiblicher Kopf, Inv. Hm 115, spätes 1. Jh. n. Chr. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 71 (Wilfred Geominy).

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Abb. 7 Sitzende Nymphe, Typus Muse Dresden-Zagreb, Inv. Hm 241, 1. Drittel des 1. Jhs. n. Chr. nach einem griechischen Werk des 2. Jhs. v. Chr.

1794 besucht Böttiger von neuem Dresden, diesmal nicht von Guben, sondern von Weimar aus, wo er auf Herders Betreiben 1791 Rektor des dortigen Gymnasiums geworden war.29 Er ist in Begleitung von Heinrich Meyer und Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr und jetzt ist nicht mehr von »königlicher Pracht«, sondern von »abscheulicher« Aufstellung der Antiken die Rede: »Sie ist abscheulich aufgestellt. […] Auch steht der jämmerlichste Schofel unter den herrlichsten Antiken.«30 29 Zu Böttigers Weimarer Zeit vgl. Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 10), S. 10–20. – Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (wie Anm. 1), S. 85–102. – Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. XVIIf. 30 Böttiger: Einige Bemerkungen über die Dresdner Antiken Gallerie. geschrieben in Dresden d. 26 August 1794. SLUB Dresden, h 37, II Vermischtes 4°, VIII. Capsel, Nr. 16. – Vgl. Böttigers Bericht über Ramdohr und dessen Urteil über Dresden und die Antikensammlung in: Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 10), S. 334 –339, hier S. 335.

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Abb. 8 »Sich salbender Athlet«, aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 121 (Mercure)

Sie gehen vor die Statue des sich salbenden Athleten,31 die als Hauptwerk der Sammlung gilt (Abb. 8). Die dreiseitige monumentale Kandelaberbasis mit flachen Reliefs in archaistischer Manier32 – »eine alte dreiseitige ar a im alten Stil mit 31 Ölausgießender Athlet, Typus Dresden-Florenz, Inv. Hm 67, Kopie des frühen 2. Jhs. n. Chr. nach einem Vorbild des frühen 3. Jhs. v. Chr., aus der Sammlung Chigi 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 167 (Joachim Raeder). 32 Kandelaberbasis, Inv. Hm 27: Seite A: Dreifußstreit zwischen Apoll und Herakles, Seite B: Dionysos und eine Priesterin, zwischen ihnen ein Dreifußpfeiler, Seite C: Zeus und eine Priesterin, zwischen ihnen ein Pfeiler mit einem Gefäß mit Apolls Pfeilen. Römisch, 1. Hälfte 2. Jh. n. Chr., aus der Sammlung Chigi 1728 in Rom erworben. – Hans-Ulrich Cain: Römische Marmorkandelaber, Mainz 1985, S. 154, Kat. 19, Taf. 21,2–4; 22,2.4; 85,2.

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Abb. 9 Kandelaberbasis, Inv. Hm 27, Dreifußstreit zwischen Apoll und Herakles, römisch, 1. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr.

Arabesken, u. der Geschichte des Hercules, des Dreifußreubers« – ist ihnen »höchst merkwürdig« (Abb. 9). Die große marmorne Vase mit der Darstellung eines dionysischen Festumzugs »im sonderbarsten Stil« (Abb. 10), hält Böttiger zu recht für »neu«.33 Vor der überlebensgroßen Statue des »Alexander«34 (Abb. 11) findet Ramdohr »viel zu mäkeln«, nicht zuletzt, wie Böttiger anmerkt, weil sie zu niedrig und in

33 Barocke Schmuckvase Inv. 1810 Nr. 290. Rom, 17. Jahrhundert, ursprünglich Sammlung Giustiniani, dann Sammlung Chigi, aus dieser Sammlung 1728 in Rom erworben. 34 Statue des Dionysos, Inv. Hm 273, 120–140 n. Chr., aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 131 (Jens Dähner).

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Abb. 10 Barocke Schmuckvase, aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 1

schlechtem Licht aufgestellt war.35 Die Statue des »Aesculap«36 (Abb. 12) ist »aus dem spätesten Zeitalter u. unter aller Critik«37 und die von allen Gelehrten immer wieder bewunderte Statue der »Agrippina« (Abb. 6) sei, »bis auf den Kopf, welcher im 170

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Abb. 11 »Alexander«, aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 122 (Alexandre le Grand)

Abb. 12 »Aesculap«, aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 83 (Esculape)

35 Böttiger: Einige Bemerkungen über die Dresdner Antiken Gallerie (wie Anm. 30): »Man muß nur denken, daß diese Colossalstatue von unten angesehn werden müßte u. hier eine elende Exposition erhalten hat. Im rechten Lichte würde sie gewiß ihre Wirkung nicht verfehlen.« – Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 10), S. 335: »In der Antikensammlung fand R[amdohr] eins der schönsten und bewundertsten Stücke, den kolossalischen Alexander, sehr mittelmäßig, und vermißte an der einen Seite anatomische Richtigkeit«. 36 Sog. Dresdner Zeus, Inv. Hm 68, 120–130 n. Chr., aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 95 (Stephan F. Schröder). – Schröder: Verwandelte Götter (wie Anm. 2), S. 140, Kat. 2 (Stephan F. Schröder). 37 Böttiger: Einige Bemerkungen über die Dresdner Antiken Gallerie (wie Anm. 30).

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schönsten Stil gearbeitet u. vielleicht ein wirklicher Niobekopf ist, aus sehr spätren Zeiten, u. des Pomps von Lobpreisungen nicht werth, die man an sie verschwendet hat«.38

II Bei aller Kritik an den Dresdner Antiken und ihrer unzulänglichen Aufstellung konnte Böttiger seine archäologische Beobachtungs- und Urteilsgabe im Angesicht der bedeutenden und vielseitigen Sammlung doch aufs beste schärfen. Die unmittelbare Betrachtung der Werke – »Schönes und immer Schöneres winkt uns«39 – war ihm Quelle neuer Inspirationen zu archäologischen, philologischen und historischen Überlegungen. So war es nahe liegend, dass er sich 1795 nach dem Ableben Wackers um dessen Stelle als Inspektor über die berühmte Sammlung bemühte. Dass ihn auch verwandtschaftliche Beziehungen an Dresden banden, gab seinem Vorhaben zusätzliches Gewicht. Er setzte sich nach Wackers Tod von Weimar aus mit seinem Dresdner Freund Joseph von Racknitz in Verbindung. Aus dessen Antwortbrief an Böttiger vom 31. März geht hervor, dass sein Ansinnen, die Nachfolge Wackers anzutreten, schwierig durchführbar sei, denn ein »gewisser Magister Lipsius«40 be38 Ebenda: »Die bewunderte Agrippina ist nach allen Merkmalen bis auf den Kopf, welcher im schönsten Stil gearbeitet u. vielleicht ein wirklicher Niobekopf ist, aus sehr spätren Zeiten, u. des Pomps von Lobpreisungen nicht werth, die man an sie verschwendet hat. Dies beweist der Faltenwurf an mehren Orten. So ist eine Falte über dem einen Schenkel höchst unnatürlich gebrochen. Wa cker geht dabei von dem Grundsatz aus, daß der Kopf falsch aufgesetzt sei, aber doch durch ein Wunder (doch an einem ganz andern Orte gefunden) zu dieser Statue gehöre.« – Dass es sich bei der Statue um eine »Niobe« handle, meinte Böttiger noch 1814 in seiner Vorlesung am 31. August, hier formulierte er – allerdings vorsichtig: »Unbestimmt ist die Deutung, aber entzückend der Anblick der wohl erhaltenen Theile an der sitzenden, colossalen Heroinenfigur im hohen Stil, die wir so lange eine Niobe nennen werden, als noch kein anderes Denkmal uns die Figuren angegeben hat, welche mit ihr in Verbindung gedacht werden müssen und deren Abwesenheit für jetzt das Räthsel unauflöslich macht.« Karl August Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie. Eine Vorlesung, im Vorsaale derselben gehalten den 31. August 1814, in: Ders.: Kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts, gesammelt und hg. von Julius Sillig, 3 Bde., Dresden und Leipzig 1837/38, Bd. 2, S. 25–52, hier S. 35. In einer dazugehörigen Anmerkung heißt es: »Diese auch durch Lessings Urtheil […] berühmt gewordene Statue ist gewiss keine Ariadne, wofür sie B e cker zu halten geneigt war; weit eher eine Niobe.« 39 Karl August Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 38), S. 37. 40 Johann Gottfried Lipsius (1756–1820), Unterinspektor der Antikensammlung 1807–1820. Er war zunächst Lehrer an der Kreuzschule und seit 1797 Sekretär an der Königlichen Bibliothek. Als Inspektor der Antikensammlung widmete er sich besonders der Ordnung und Erweiterung des Münzkabinetts. Von Wacker war er mit der Überarbeitung von dessen unvollendet gebliebenem Katalog der Dresdner Antikensammlung betraut worden, den er 1798, noch als Sekretär der Bibliothek, herausgab und dem er 1803, ein Jahr vor Erscheinen von Beckers Augusteum (wie Anm. 26), einen Band mit Kupferstichen als Supplement zu Leplats Stichwerk folgen ließ.

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wege schon geraume Zeit »Himmel und Erde«, um die Aufsicht über die Münzsammlung zu erhalten.41 Und auch »Professor Becker«, Lehrer der Geschichte an der Kadettenschule und Verfasser empfindsamer Prosa, habe sich mit dem Chef dieser Schule überworfen und »steiget um so mehr daher um die Wakersche Stelle«. Zum Schluss ließ Racknitz durchblicken, dass Becker, sollte er die Stelle, denn er hätte »viele und starke Protectors«, tatsächlich bekommen, sie nicht lange werde genießen können, da er sehr krank sei (er lebte dann noch 18 Jahre). Obwohl Böttiger sich auch persönlich beim Oberkammerherrn Marcolini um die Nachfolge Wackers mit Nachdruck bemühte, lehnte dieser die Anstellung Böttigers ab.42 So trat im Jahre 1795 nicht Böttiger, sondern Wilhelm Gottlieb Becker (1753–1813) das Amt des Inspektors der Antikengalerie an – ein Mann mit »litterarischen Kenntnissen«, der seine Ansprüche darauf gründete, dass er »sich viel mit den bildenden Künsten beschäftiget, und in Italien gewesen« sei.43 Böttiger dagegen blieb in Weimar. Er hatte Verbindung zu dem von Wieland, Herder und Goethe geprägten Musenhof Anna Amalias geknüpft, wo er dank seiner exzellenten altphilologischen Bildung und seiner Kenntnisse auf dem gesamten Gebiet des Altertums ein gefragter Gesprächspartner und Berater geworden war. In Weimar richtete sich von nun an sein Interesse auch verstärkt auf archäologische Probleme.44 41 SLUB Dresden: h 37, II Vermischtes Q, Antikeninspector, Brief von Racknitz, 31. März 1795. 42 Ebenda, Briefe von Marcolini vom 20. April 1795 und vom 3. Mai 1795. 43 Ebenda, Brief von Racknitz vom 31. März 1795. – Wilhelm Gottlieb Becker (1753–1813) hatte von 1773 bis 1776 in Leipzig die »schönen Wissenschaften« studiert und hier seine dichterische Laufbahn begonnen. Mit der bildenden Kunst wurde er durch den Direktor der Leipziger Zeichenschule, Adam Friedrich Oeser, bekannt, den Freund Winckelmanns und Goethes. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in der Schweiz trat er 1782 an der Dresdner Ritterakademie die Stelle eines Professors der Moral an. Als Inspektor der Antikensammlung (1795–1813) hat sich Becker vor allem mit seinem Kupferstichwerk Augusteum (wie Anm. 26) einen Namen gemacht. Da das Stichwerk von 1733 von Leplat unbefriedigend in seiner Ausführung war, ließ Becker die vorzüglichsten Antiken noch einmal zeichnen und in Kupfer stechen. Die 152 Tafeln sind für das Studium der Dresdner Statuen bis heute von besonderem Wert, da Becker die zahlreichen, z. T. entstellenden Ergänzungen durch unterschiedliche Schraffur von den originalen Teilen absetzen ließ. Böttiger ließ das Augusteum durch seinen Freund Auguste Duvau ins Französische übersetzen. Vgl. Karl August Böttiger: Briefwechsel mit Auguste Duvau. Mit einem Anhang der Briefe Auguste Duvaus an Karl Ludwig von Knebel, hg. und kommentiert von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 2004, S. 84. Er schrieb einen ausführlichen Nachruf auf Becker im Morgenblatt für gebildete Stände vom 24. Juni 1813. 44 Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 10), S. 11f. – Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. 105–266. – Ders.: Karl August Böttiger, der archäologische Diskurs und die moderne Dichtung, in: Veit Rosenberger: »Die Ideale der Alten«. Antikerezeption um 1800, Stuttgart 2008, S. 93–112. – Zu Böttigers journalistischer Tätigkeit in Weimar vgl. Friedrich Sondermann: Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar, Bonn 1983 (Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit, 7).

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In diesem Zusammenhang zog es ihn immer wieder nach Dresden zurück. Im August 1798 ist er für mehrere Tage zu Gast im Japanischen Palais.45 Am 21. August beschreibt er ausführlich die antiken Gefäße der Sammlung. Die damals vorhandenen acht Vasen standen im letzten Saal, im Saal des Columbariums, »auf zwei Tafeln von antiken Serpentinstein«.46 Sie waren 1728 mit den übrigen Antiken aus Rom gekommen und stammen vermutlich aus der Sammlung Gualtieri, die damals in Rom zum Verkauf angeboten und von Leplat besichtigt worden war. Sie bilden, gemeinsam mit einer neunten Vase, die »auf einem Glasschranke«47 im Münzkabinett aufbewahrt wurde, den Grundstock der Dresdner Vasensammlung, die sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entscheidend vergrößern sollte.48 Eine auf diesen Beobachtungen fußende ausführliche Beschreibung der Dresdner Vasen legt Böttiger im Jahr 1800 vor49 und ist damit der erste, der sie umfassend würdigt. Besonders beschäftigt Böttiger die außergewöhnliche Darstellung auf einem gut erhaltenen Krater (Abb. 13), einem Gefäß mit weiter Mündung, in dem in der Antike Wein und Wasser gemischt wurden. Für Böttiger ist diese Vase »von wahrer schönen Glockenform […] in Absicht auf die Composition und Zierlichkeit des Gemäldes die vorzüglichste unter allen«.50 Bei dem »König oder Priester«, der auf einer Vasenseite in der Mitte des Bildes auf einem Thron sitzend dargestellt ist, handle es sich um einen »sogenannten rex barbarus«,51 der phrygischen mitra wegen, die er auf dem 45 Karl August Böttiger: Erinnerungen an Dresden. 1798. 1802., SLUB Dresden, h 37, II Vermischtes 4°, VIII. Capsel, Nr. 16. 46 Karl August Böttiger: Nachrichten über Vasensammlungen: Ueber die im churfürstl. Antikencabinet zu Dresden befindlichen Vasen, in: Ders.: Griechische Vasengemälde. Mit archäologischen und artistischen Erläuterungen der Originalkupfer. Ersten Bandes Dritter Heft, Magdeburg 1800, Teil 3, 1800, S. 1–23, hier S. 2. 47 Ebenda, S. 21. 48 Vgl. Corpus Vasorum Antiquorum (CVA), Deutschland, Bd. 76: Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Skulpturensammlung, Bd. 1, bearbeitet von Rolf Hurschmann, München 2003; zur Geschichte der Dresdner Vasensammlung ebenda, S. 11–14 (Kordelia Knoll). – Böttiger sah folgende acht unteritalische (kampanische, apulische, lukanische) Gefäße des 4.–3. Jhs. v. Chr.: Glockenkrater Dr. 374 (CVA Dresden 1, Taf. 51.1-5), Glockenkrater Dr. 375 (CVA Dresden 1, Taf. 52.1-6), Glockenkrater Dr. 396, Krater Dr. 518 (CVA Dresden 1, Taf. 18.1–3), Amphora Dr. 522 (CVA Dresden 1, Taf. 37.6–9), Amphora Dr. 524 (CVA Dresden 1, Taf. 37.10–17), Lekythos Dr. 533 (CVA Dresden Taf. 45.5–8), Lebes Gamikos H4 19/55 (CVA Dresden 1 Taf. 44.1–6). – Die neunte Vase, die sich ehemals im Münzkabinett befand, ist eine attisch-schwarzfigurige Amphora des Edinburgh-Malers, Dr. 233 (H4 10/16), vgl. John D. Beazley: Attic Blackfigure Vase-Painters, Oxford 1956, S. 485,6. – Zu Böttigers Beschäftigung mit den antiken Vasen vgl. René Sternke: Das wachsende Interesse an der Keramologie im Zusammenhang mit der Konstitution und Publikation großer Vasensammlungen. Böttiger und Raoul-Rochettes Teilhabe an diesem Prozeß, in: Ders.: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. 54–61; Theoriebildung in der Keramologie, ebenda, S. 61–63. 49 Böttiger: Ueber die im churfürstl. Antikencabinet zu Dresden befindlichen Vasen (wie Anm. 46). 50 Ebenda, S. 6. 51 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Den 25. August 1798. Abends.«

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Abb. 13 Lukanisch-rotfiguriger Glockenkrater, Inv. Dr. 374. Kreusa-Maler, 380–370 v. Chr.

Kopf trägt. An dieser Deutung hat sich bis heute nichts geändert.52 Die im Münzkabinett aufbewahrte Vase ist eine kleine schwarzfigurige Amphora, die den Kampf von Theseus mit Minotaurus darstellt. Sie ist bei Winckelmann in den Monumenti Inediti (1767) auf Tafel 100 abgebildet und war vermutlich einst im Besitz von Anton Raphael Mengs:53 »Die Figuren sind schwarz auf roth, also im ältesten griechischen, 52 In der Druckfassung der Griechischen Vasengemälde (wie Anm. 46) heißt es auf S. 9f.: »Sollte man der Versuchung ja nicht widerstehn können, das mit Namen zu bezeichnen, was vielleicht der Mahler selbst schon nicht mehr zu nennen wußte: so würde ich den Alten auf dem Throne einen Priamos nennen, welchen Paris vor seiner Abreise nach Griechenland oder auch ein anderer verbündeter asiatischer Prinz eine feierliche Zusicherung giebt.« Der lukanisch-rotfigurige Krater (Inv. Dr. 374) wird heute dem Kreusa-Maler zugeschrieben und um 380–370 v. Chr. datiert, vgl. CVA Dresden 1, Text zu Taf. 51,1–5: »Der Orientale wird in der Forschung als Fürst oder König angesprochen […] und der Stock mit dem waagerechten Querholz in seiner Hand als Szepter bezeichnet […]. Jedoch kann es sich nicht um ein Szepter handeln, da der Stock mit waagerechtem Querholz eher einem Geh- oder Krückstock gleicht, wie ihn ältere Männer, vornehme Jünglinge, aber auch mythische, orientalische Könige halten und sich auf sie stützen« (Rolf Hurschmann). 53 Kunze: Außer Rom ist fast nichts schönes (wie Anm. 17), S. 152, Kat. V.17 und V.18.

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Abb. 14 Japanisches Palais, Münzkabinett, Stich nach einer Zeichnung von J. B. Theil, aus: Johann Gottfried Lipsius: Kupfer zu der Beschreibung der Churfürstlichen Antiken-Galerie zu Dresden … Suppl. zu Le Plat’s Récueil …, Dresden 1803

nicht etruscischen Stil, hart, trocken, in den Extremitäten kaum mit Strichen angedeutet, aber voll Bewegung und Leben«. Böttiger charakterisiert damit den Stil der griechischen spät-schwarzfigurigen Vasenmalerei, deren Darstellungen mit schwarzem Glanzton auf den roten Gefäßgrund gemalt worden sind und die meist nur noch flüchtige Binnenritzlinien zeigen. Die Figuren beginnen sich jedoch bereits aus der strengen Silhouette zu lösen und finden zu mehr Bewegtheit und Raumhaltigkeit, die dann in der rotfigurigen Vasenmalerei im mittleren 5. Jahrhundert v. Chr. ihren Höhepunkt findet.54 Zwei Tage später, am 23. August, besichtigt er das Münzkabinett (Abb. 14).55 Auf den Münzschränken sieht er 48 Bronzestatuetten stehen, unter ihnen »eine ganz reife 54 Zur griechischen Vasenmalerei vgl. John Boardman: Schwarzfigurige Vasen aus Athen, Mainz 1977. – Ders.: Rotfigurige Vasen aus Athen, Mainz 1981. – Ingeborg Scheibler: Griechische Töpferkunst. Herstellung, Handel und Gebrauch der antiken Tongefäße, Mainz 1983. 55 Aus Böttigers früheren, aus dem Jahre 1789 stammenden Aufzeichnungen, ist bekannt, dass die Münzsammlung seit dem Siebenjährigen Krieg eingepackt im »grünen Gewölbe« lagerte und erst seit 1786, als sie in einem Erdgeschosssaal des neu eingerichteten Japanischen Palais Aufstellung gefunden hatte, wieder öffentlich zu sehen war. Im »Arbeits- oder Vorzimmer« des Münzkabinetts hatten seither zum Schutz von Münzen und Personal stets geladene Pistolen

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Abb. 15 Stehende Aphrodite, Bronze, Inv. AB 694 (H4 44/4), römisch, 1. Jh. v. Chr.

Venus, nach Art der großen Capitolinischen«,56 »einen Jupiter mit dem Donnerkeil« und eine »in Pallasgestalt sitzende Roma, die sehr fein gearbeitet ist«. Außerdem eine »Venus mit den herrlichen runden Hintertheilen«57 (Abb. 15). In einem Schrank bereit gelegen: »Als dies Cabinet eingerichtet war, und neu fürs Publikum geöffnet werden sollte, wurden Wackern von einem Unbekannten mit der Post ein paar seltene englische […]pistolen mit der Bedeutung überschickt, er solle sie, wenn er im Münzkabinet sei, immer bei sich tragen, weil er nicht sicher genug sei. Wirklich liegen sie auch stets geladen im Arbeitsoder Vorzimmer.« Böttiger: Reise von Guben nach Dresden (wie Anm. 12), hier: »den 8. Juny«. 56 Stehende Aphrodite, Inv. Hase 4 465 (H2 115/443), römisch 1.–2. Jh. n. Chr. 57 Aphrodite Inv. H4 44/4 (AB 694), römisch 1. Jh. v. Chr. – vgl. Martin Raumschüssel: Die Bronzestatuette einer Aphrodite in der Skulpturensammlung, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 7, 1967, S. 97–100.

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unter Glas bemerkt er »ohngefahr 76 geschnittene Steine in goldene Ringe gefasst, in 4 schwarzsamtnen Etuis«. Unter diesen sind »mehrere herrliche Carneole von dem vortrefflichsten Schnitt«. Den Höhepunkt und Abschluss dieser Tage bildet jedoch der Besuch der Antikengalerie mit »einem Kreis von Kunstfreunden« am 25. August abends bei Fackelbeleuchtung.58 Böttigers Beschreibung dieses Abends ist eine Huldigung – nicht nur an die Skulpturen, sondern auch an das »belebende« und zugleich »trennende« Licht der Fackel: »Man kann diese Beleuchtung den Schein einer Prometheusfackel nennen, so sehr werden die schönen Marmormassen dadurch gehoben und belebt«, heißt es in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen und in der Druckfassung dieser Aufzeichnungen formuliert er ungehalten mit Bezug auf die misslichen neuzeitlichen Ergänzungen: »Wie lebendig quillt alles ächte hervor! Wie hässlich und plump erscheint alles angeflickte Machwerk!«59 Obwohl er nicht mit Kritik spart, die vor allem den barocken Restaurierungen der antiken Werke gilt, spürt man aus seiner Beschreibung des außergewöhnlichen Rundgangs die empfindsam-andächtige Stimmung heraus, mit der man sich der Betrachtung der Werke hingab. Inspektor Becker, der Nachfolger Wackers, der den Rundgang leitete, hatte einen Aufwärter bei sich, der die Fackel trug und nach Beckers Anweisungen die Statuen ins rechte Licht zu bringen versuchte – eine Tätigkeit, an der Böttiger freilich manches auszusetzen hatte: »Schade nur, daß H. Prof. Becker selbst noch etwas fremd mit dieser Art, seine Antiken zu zeigen, zu seyn schien, und daher oft den Aufwärter falsch commandierte.«60 Rasch wurde an diesem Abend der erste Saal durchschritten, den zwei monumentale Löwen im ägyptischen Stil flankierten61 und in dem gleichsam als Huldigung für die Landesväter die Büsten der sächsischen Kurfürsten aufgestellt waren, und man betrat Saal 2, der den Bronzenstatuetten des 17. und 18. Jahrhunderts gewidmet war. Hier standen in der Mitte vier antike Skulpturen frei im Raum, u. a. der von Böttiger immer wieder gerühmte dreiseitige »Altar« mit der Darstellung des Dreifußraubes.

58 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Den 25. August 1798. Abends.« – Die Beschreibung des Rundgangs in leicht überarbeiteter Form liegt auch in einer Druckfassung vor: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen den 25. August 1798. 59 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 1. 60 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Den 25. August 1798. Abends.« 61 Zu den Löwen Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 38), hier S. 26 und S. 40 – 44 (Die ägyptischen Löwen). – Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. 479f. – In der Sammlung befinden sich insgesamt drei römische Löwen nach ägyptischem Vorbild, Inv. Hm 16–18, 1. Jh. n. Chr. – Inv. Hm 16 aus der Sammlung Chigi, Inv. Hm 17–18 aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani. Alle drei Löwen wurden 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 253–255 (Friederike Sinn).

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Abb. 16 »Tuccia«, aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 56 (Tuccia)

Im nächsten Saal, der als mittlerer Saal des östlichen Palaisflügels durch Größe und Weiträumigkeit hervorragte, hält Böttiger die Statue der Vestalin »Tuccia« (Abb. 16),62 die ihre Unschuld beweisen sollte, indem sie Wasser in einem Sieb zum Tempel der Vesta tragen musste, und die »Becker ich weis nicht warum für eine Priesterin der Diana ausgiebt«,63 für eine der schönsten weiblichen Statuen. Das Sieb,

62 Eilende Peplos-Figur, sog. Tuccia, Inv. Hm 118, frühes 1.Jh. n. Chr. nach einem Vorbild des 1. Jhs. n. Chr., aus Sammlung Chigi 1728 in Rom erworben. – Die Statue war ergänzt mit dem Kopf einer Muse mit Kiefernkranz, Typus Euterpe, Inv. Hm 135, 120–140 n. Chr. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 53 (Christiane Vorster) und Kat. 61 (Friederike Sinn). 63 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), den 18. August 98. – Becker: Augusteum (wie Anm. 26), Bd. II, S. 40.

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Abb. 17 Eilende Peplos-Figur, sog. Tuccia, Inv. Hm 118, frühes 1. Jh. n. Chr. nach einem Vorbild des 1. Jhs. n. Chr. – Im Hintergrund der von der Statue abgenommene Kopf, Inv. Hm 135

das ihr der Restaurator in die Hand gegeben hat, findet er albern64 und meint damit wohl die unförmige Ausführung dieser Ergänzung, aber »Kopf und Gewand sind vorzüglich schön, so wie die etwas vorwärts gebogene Haltung des Oberleibes dem Ganzen eine große Anmuth einhaucht«.65 Georg Treu erkannte um 1890, dass der 180

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Abb. 18 Kopf einer Muse mit Kiefernkranz, Typus Euterpe, Inv. Hm 135, 120–140 n. Chr.

schöne Kopf und der qualitätvolle Gewandtorso im 17. Jahrhundert willkürlich zusammengesetzt worden waren, trennte sie voneinander und stellte beide separat auf (Abb. 17 und 18).66 64 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Dresden den 18. August 98.«: »Gewiss hat sie statt des albernen Siebes, was so ihr der Restaurator in die Hand gab, ein Körbchen oder anderes Opfergeräth in beiden Händen vor sich her getragen«. – Die Statue war 1663 von Baldassare Mari mit Armen und Händen und dem Sieb und einem nicht zugehörigen antiken Kopf ergänzt worden, vgl. Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 53 (Christiane Vorster). 65 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Dresden den 18. August 98.« 66 Georg Treu war von 1882 bis 1915 Direktor der Antiken- und Abgusssammlung. Er vereinigte 1887 beide Sammlungen zur Skulpturensammlung und erweiterte diese um zeitgenössische Skulpturen. Zwischen 1891 und 1899 ließ er alle barocken Ergänzungen von den antiken Statuen abnehmen. Zu Georg Treu vgl. den Ausstellungskatalog: Das Albertinum vor 100 Jahren (wie Anm. 27). – Zu den Entrestaurierungen vgl. Knoll: Die Abnahme der Ergänzungen (wie Anm. 27). – Dies.: Der Umgang mit den Antikenergänzungen in Dresden (wie Anm. 27).

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Im nächsten kleineren Saal 4 verweilte man ausführlich vor der Statue des »Aesculap« (Abb. 12) und der »colossalen Minerva« (Abb. 19). »Aesculap« wurde später aufgrund von einer im Zeus-Heiligtum von Olympia 1877 ausgegrabenen Replik als »Zeus« identifiziert und dieser Statuentyp von nun an »Dresdner Zeus« genannt.67 Die »colossale Minerva«, eine jugendlich schlanke, in aufrechter Haltung kontrapostisch stehende Athena, wurde 1893 von Adolf Furtwängler aufgrund der schriftlichen Quellen als die berühmte bronzene Statue der »Athena Lemnia« des Phidias auf der Athener Akropolis erkannt.68 Mit Ergriffenheit stehen die Besucher vor beiden Statuen, aber Böttiger fallen sofort die unrichtigen barocken Ergänzungen ins Auge und er ist dankbar, dass die »vergeistigende Fackel« beim Aesculap-Zeus nur den Oberkörper beleuchtet und die »Restaurationsgräuel der treppenförmigen Draperie und der abgefleischten untern Gliedmasen« im Dunkeln bleiben.69 Zwischen 1891 und 1897 sollten unter Treu diese »Restaurationsgräuel« abgenommen und in Gips neu und besser ergänzt werden (Abb. 20). Und auch die »colossale Minerva« findet er »unaussprechlich elend ergänzt«. Er preist an ihr die hoheitsvolle, selbstgenügsame Haltung und beobachtet den »nachlässig verschobenen, schuppigten Aegiden-panzer«, der in Anbetracht des strengen und klaren Aufbaus der hochklassischen Statue ein geschickt eingesetztes, auflockerndes Element darstellt und dessen Schlangenknoten sich beim Fackellicht »wundersam entwirren und beleben«.70 Später spricht Böttiger im Rahmen seiner 19. Vorlesung im Jahre 1806 ausführlich über die Athena-Standbilder des Phidias und auch über die Statue unter ihnen, die Pausanias für »die Schauenswürdigste unter allen« hielt – die Statue der Athena Lemnia, die »Lemnierin«. Böttiger zitiert neben Pausanias auch Lukian, der an dieser Athena »den herrlichen Contour des Antlitzes, die Zartheit der Wangen und das Ebenmaas der Nase« rühmt.71 Wie nah war er hier der Entdeckung der »Lemnia«! (Abb. 21)

67 Zum Dresdner Zeus Inv. Hm 68 vgl. Anm. 37. 68 Statue der Athena, sog. Athena Lemnia, Inv. Hm 49 (eine zweite Replik Inv. Hm 50), 2. Viertel des 1. Jhs. n. Chr. nach einem Bronzeoriginal der Zeit um 450/440 v. Chr. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 2 (Joachim Raeder). – Zur Identifizierung der Athena Lemnia durch Furtwängler vgl. Heiner Protzmann: Antiquarische Nachlese zu den Statuen der sogenannten Lemnia Furtwänglers in Dresden, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen 16, 1984, S. 7–22. 69 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 2. 70 Ebenda. 71 Karl August Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen über die Archaeologie im Winter 1806. gehalten von C. A. Böttiger. Erste Abtheilung. Algemeine Uebersichten und Geschichte der Plastik bei den Griechen, Dresden 1806, S. 85 und S. 90f. – Die Ergänzungen der Statuen Inv. Hm 49 und Inv. Hm 50 wurden 1891 durch Treu entfernt, dadurch wurde die Identifizierung der beiden Repliken mit der Statue der Lemnia 1893 sehr erleichtert.

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Abb. 19 »Colossale Minerva«, aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 41 (Minerve)

Abb. 20 Statue des sog. Dresdener Zeus, Inv. Hm 68, 120–130 n. Chr.

Nach dem Durchschreiten des östlichen Seitenflügels betritt man den quadratischen Saal, der zum südlichen, der Elbe zugewandten Hauptflügel überleitet (Abb. 22). Hingerissen ist die Gesellschaft von der in der Mitte stehenden Gruppe von Amor und Psyche72 (vgl. Abb. 22 Hintergrund). Abgesehen von den »modernisirenden« Köpfen – Ergänzungen aus dem 17. Jahrhundert –, wird sie mit der berühmten Gruppe auf dem Kapitol verglichen. Das Fackellicht gießt über diese Plastik

72 Eros-Psyche-Gruppe, Typus Kapitol, Inv. Hm 210, 120–150 n. Chr. nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr., aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 198 (Stephanie Oehmke).

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Abb. 21 Statue der Athena, sog. Athena Lemnia, Inv. Hm 49 (eine zweite Replik Inv. Hm 50), 2. Viertel des 1. Jhs. n. Chr. nach einem Bronzeoriginal der Zeit um 450/440 v. Chr.

»namenlosen Liebreiz« und ist dieser Gruppe zuträglicher als das Tageslicht, das in diesem Eck-Zimmer »so unhold-blendend« ist.73 Vor allem aber zeigt sich in diesem Raum »in wahrer Verklärung« die Statue des sogenannten Einschenkenden Satyrn74

73 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 3. 74 Ebenda, S. 4. – Statue des sog. Einschenkenden Satyrn, Inv. Hm 100, 80–100 n. Chr. nach einem Vorbild des zweiten Viertels des 4. Jhs. v. Chr., aus der Sammlung Chigi 1728 in Rom erworben. Der Satyr stammt aus der Domitiansvilla von Castelgandolfo, wo er im 17. Jh. mit drei weiteren Statuen desselben Typus gefunden wurde. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 207 und 208 (Christiane Vorster, Wilfred Geominy).

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Abb. 22 Japanisches Palais, Blick aus Saal 4 in den Ecksaal 5. – Im Hintergrund die Gruppe Eros und Psyche. Ausmalung von Gottfried Semper 1835

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(Abb. 23), eine römische Kopie nach einem Vorbild des griechischen Bildhauers Praxiteles, die Böttiger zu recht als »Mundschenk« des Bacchus bezeichnet und, schriftgelehrt die Beschreibungen des Pausanias (Buch 1, 20,1) über Attika in der Erinnerung, mit dem »Periboetos« des Praxiteles in Verbindung bringt. »Man muss sie langsam umgehn, um die sanften Schwingungen des nicht üppig-weichlichen, aber höchst-vollendeten Körpers von allen Seiten mit der Beschauung zu umtasten«, heißt es in der Druckfassung75 seiner Betrachtungen über die Statue. Mehr als eine halbe Stunde ist die Gesellschaft mit dem Studium dieser Skulptur beschäftigt.76 Im langgestreckten Saal 6, der in der Mitte von sechs großen weiblichen Statuen beherrscht wird, werden die »hochgefeierten Ercolanenserinnen«, die Statuen der drei sogenannten Herkulanerinnen,77 wie sie seither und bis heute genannt werden, betrachtet. Von den nebenstehenden Statuen heben sie sich durch die lebendige, plastisch-stoffliche Gestaltung ihrer kostbaren Gewänder hervor. Sie wurden 1711 in Resina, am Fuße des Vesuvs, auf dem Boden des antiken Herkulaneum ausgegraben und waren die ersten Funde der in Lava verschütteten Stadt. Winckelmann hatte sie 1755 in seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst beschrieben und ihnen eine zentrale Bedeutung in der Kunstgeschichte zugewiesen.78 So wurden sie zu Schlüsselwerken bei der Herausbildung des Klassizismus Winckelmannscher Prägung. An diesem Augustabend aber werden die Frauenstatuen, obwohl sie die Betrachter »mit unsäglichem Zauber« umgaben,79 durch das Fackellicht nur unbefriedigend beleuchtet, so dass sie ihre Wirkung nicht in gewohnter Weise entfalten können (Abb. 24). In seiner am 31. August 1814 gehaltenen Vorlesung wird er die Statuen später noch einmal hymnisch würdigen: Ehrfurcht gebietend bei’m ersten Anblick, Entzücken ausströmend bei wiederkehrender und aus neuen Gesichtspunkten gefasster Beschauung. […] Welche neue Geheimnisse der Kunst, die noch in der Draperie sich verherrlichte, als alle Körperideale schon längst erschöpft waren, und in den Gewändern selbst ein Mittel fand, das Nackende aus jedem Fältchen zu enthüllen, werden uns hier aufgethan. Man hat sie, anstössig genug für jede Regel der Kunstauslegung, Vestalinnen genannt. Sie sind es aber in der geistigsten Potenz. Ihre himmlische Ruhe, ihre sich in sich selbst einschmiegende züchtige Sittsamkeit müsste selbst dem entartetsten Zweifler hohe Ehrfurcht vor dem Schönsten in der Natur, vor dem huld- und tugendbegabten Weibe, gebieten! 80 75 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 4. 76 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Den 25. August 1798. Abends.« 77 Die sog. Große Herkulanerin, Inv. Hm 326, und die beiden sog. Kleinen Herkulanerinnen, Inv. Hm 327–328. Vgl. Jens Dähner (Hg.): Die Herkulanerinnen. Geschichte, Kontext und Wirkung der antiken Statuen in Dresden, München 2008, S. 73–99: Die Dresdener Statuen der Großen und der Kleinen Herkulanerin (Christiane Vorster), S. 101–127: Die Statuentypen der Herkulanerinnen in römischer Zeit (Jens Dähner), S. 129 –157: Griechische Ursprünge: Die Vorbilder der Herkulanerinnen (Christiane Vorster). 78 Winckelmann: Kleine Schriften (wie Anm. 6), S. 40f. 79 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 6. 80 Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 38), S. 38f.

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Abb. 23 Statue des sog. Einschenkenden Satyrn, Inv. Hm 100, 80–100 n. Chr. nach einem Vorbild des zweiten Viertels des 4. Jhs. v. Chr.

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Abb. 24 Japanisches Palais, Saal 6 mit den Statuen der Herkulanerinnen. Ausmalung von Gottfried Semper 1835

Bis heute haben die Herkulanerinnen nichts von ihrer Ausstrahlung verloren und ihre anmutige Würde vermag die Betrachter bis in unsere Tage zu berühren (Abb. 25 und 26). Dass der antike Bildhauer »in den Gewändern ein Mittel fand, das Nackende aus jedem Fältchen zu enthüllen«, ist eine treffende Beobachtung. Vor allem bei der Großen Herkulanerin schmiegt sich das Gewand so gekonnt und stofflich weich um Leib und Arme, dass die Verhüllung, statt zu verdecken, die Schönheit ihres lebensvollen Körpers besonders reizvoll hervorhebt. Im nächstfolgenden repräsentativen Mittelsaal des Südflügels stehen die zwei Gruppen eines Hermaphroditen und eines Silens.81 Sie sind in eine heftige erotische

81 Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma, Inv. Hm 155, 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr., aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 221 (Christiane Vorster). – Fragmente einer Satyr-Hermaphrodit-Gruppe, Typus Dresdner Symplegma, Inv. Hm 156, 1. Hälfte 2. Jh. n. Chr. nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr., aus einer römischen Privatsammlung 1726 erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 222 (Christiane Vorster).

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Abb. 25 Statue der sog. Großen Herkulanerin, Inv. Hm 326, Mitte 1. Jh. n. Chr. nach dem Vorbild des späteren 4. Jhs. v. Chr.

Abb. 26 Statue der sog. Kleinen Herkulanerin, Inv. Hm 327, letztes Viertel des 1. Jhs. v. Chr. nach dem Vorbild des späten 4. Jhs. v. Chr.

Balgerei verstrickt. Die raffinierte Komposition und das Ausbalancieren des labilen Gleichgewichts der Figuren zeugen von der Virtuosiät des hellenistischen Bildhauers des 2. Jahrhunderts v. Chr. (Abb. 27 und 28). Böttiger sieht diese Werke als »sprechende Denkmale einer alles auflösenden Verweichlichung, die sich auch dem Marmor im Ausdruck des allgeschmeidigen […] Hermaphroditenkörpers mittheilte. 189

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Abb. 27 Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma, Inv. Hm 155, 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr.

[…] Man kann die Kunst bewundern und dabei doch wünschen, dass die Menschheit nie wieder bis dahin ausarte«, so heißt es in der Druckschrift.82 Im Manuskript zeigt er sich lyrischer: Viel neue Ansichten erhielten die beiden Symplegmen, der mit dem Satyr kämpfende Hermaphrodit [Hm 155], und die von einem Satyrn bezwungene so eben zum Kampfpreis (Vollendung der That) sich hinbeugende Nymphe [Hm 156]. Die weichlichen Umrisse des wunderbar schön sich niederbiegenden und wiederaufschwingenden Hermaphroditen mit seinem algeschmeidigen Körper […], und die lechzende Lüsternheit in den lachenden Faunengesicht zeigte sich jetzt mit der lebendigsten Stärke. Der Marmor wird Fleisch, das Fleisch schmelzt in weichlich-süsser Wellenschwingung.83

Die so beschriebene Gruppe (Hm 156) (Abb. 29) ist eine um 90 Grad nach links gekippte und mit nicht zugehörigen antiken Köpfen verfremdete Replik der nebenstehende Gruppe (Hm 155). 1828 wird Böttiger in der Zeitschrift Archäologie und Kunst einen Beitrag Ueber die Hermaphroditen-Symplegmen in der Dresdner Antiken-

82 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 5. 83 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Den 25. August 1798. Abends.«

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Abb. 28 Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma (Inv. Hm 155), aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 80 (Un Faune et un Hermaphrodite)

Galerie veröffentlichen und darlegen, dass beide Gruppen gleiche Repliken sind und auf ein und dasselbe Original zurückgehen.84 Saal 8 wird mit den in der Mitte stehenden Statuen des alten und jungen »Gladiators«85 nur kurz durchlaufen. Andächtig zeigt man sich wieder im nächsten Saal, 84 Der Archäologe Karl Otfried Müller hatte 1828 auf eine Statuettenwiederholung in Ince Blundell Hall aufmerksam und diese in einer Zeichnung bekannt gemacht. Böttiger druckte die Beobachtungen Müllers in der Zeitschrift Archäologie und Kunst 1828 gemeinsam mit einem Text von Heinrich Hase ab. Karl August Böttiger, Otfried Müller, Heinrich August Hase: Ueber die Hermaphroditen-Symplegmen in der Dresdner Antiken-Gallerie, in: Karl August Böttiger (Hg.): Archäologie und Kunst. Im Verein mit mehrern Freunden des Alterthums im Inlande und Auslande in freien Heften herausgegeben, 1. Bd., 1. Stück, Breslau 1828, S. 165–174. – Vgl. auch Karl August Böttiger: Ueber die Hermaphroditen-Fabel und Bildung, in: Ders.: Amalthea oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde. Im Verein mit mehrern Freunden des Alterthums herausgegeben, 3 Bde., Leipzig 1820–1825, Bd. 1, S. 352–366, hier S. 355. 85 In der Sammlung befinden sich jeweils zwei Paare von Statuen eines jungen und alten Kämpfers, Inv. Hm 233–236, 120–150 n. Chr., alle vier Statuen aus der Sammlung Chigi 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 169–172 (Jens Dähner).

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Abb. 29 Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma (Inv. Hm 156), aus: Leplat: Recueil (wie Abb. 6), Taf. 67 (Un Faune et une Nymphe)

wo man die »Mutter der Anmuth, mit ihrem sanft anschwellenden Körper,« mit Huldigungen bedenkt (Abb. 30, die Aphrodite im Hintergrund),86 vor der einige der Anwesenden, unter ihnen »die Mdme Schl e ge l « , vor Ergriffenheit unwillkürlich

86 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 7. – Torso einer Aphrodite Typus Medici, Inv. Hm 238, frühes 2. Jh. n. Chr. nach einem Original des frühen 3. Jhs. v. Chr., aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 28 (Dietrich Boschung).

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Abb. 30 Japanisches Palais, Saal 9 mit Blick in Saal 10 auf das Columbarium. – Im Vordergrund die sitzende Muse, die ehemals Agrippina, Niobe und Ariadne genannt wurde, hinten links der sich salbende Athlet und rechts die Aphrodite Medici. Ausmalung von Gottfried Semper 1835

ihr Knie beugen.87 Die Statue galt nicht nur als eine der schönsten der Sammlung, sondern war auch das kostbarste und teuerste Werk unter den Ankäufen Augusts des Starken. Weiter geht es zu »Agrippina« (Abb. 6–7) und Böttiger hebt vor ihr noch einmal hervor, dass der Kopf nicht zum Körper gehören kann. Schließlich bekräftigt er seine Überzeugung, dass es sich bei dieser Statue nicht um »Agrippina«, sondern um die im Schmerz versteinerte Niobe handeln muss.88 Bei der Statue des »sich selbst salbenden Athleten«, dem »Hauptstück der Galerie«, wünscht man, dessen Fleisch zu betasten, »ob es dem Fingerdruck weiche«,89 so plastisch lebensvoll vermochte der Bildhauer die Körper wiederzugeben (Abb. 31).

87 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Den 25. August 1798. Abends.« 88 Ebenda. – Als 1815 durch Friedrich Wilhelm Thiersch in der Nähe von Salzburg ein Bodenmosaik mit der Darstellung von Theseus und der trauernden Ariadne entdeckt worden war, ist Böttiger nun sicher, in der Dresdner Statue »Ariadne« sehen zu können. Vgl. Karl August Böttiger: Salzburger Mosaik-Fussboden, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 38), Bd. 2, S. 284–291, hier S. 286. Das römische Mosaik befindet sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien (Inv. II 20) und wird ins 4. Jh. n. Chr. datiert. 89 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 7f.

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Abb. 31 Ölausgießender Athlet, Typus Dresden-Florenz, Inv. Hm 67, Kopie des frühen 2. Jhs. n. Chr. nach einem Vorbild des frühen 3. Jhs. v. Chr.

Und im selben Raum wird bei der überlebensgroßen Statue des »Alexander« die Bildung von Brust und Schultern gelobt.90 Rätselhaft dagegen ist »der diesem Körpergebild so wenig zusagende, an sich so merkwürdige Kopf«91 (Abb. 11). Der 90 Die ursprünglich als »Alessandro Magno« benannte Statue hatte Becker 1804 (Becker: Augusteum (wie Anm. 26), Bd. I, S. 109) bereits als Bacchus-Statue erkannt, später sah man in ihr einen »Antinous«. Neue Forschungen erweisen ihn als Dionysos, Inv. Hm 273, 120–140 n. Chr., aus der Sammlung des Kardinals Alessandro Albani 1728 erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 131 (Jens Dähner). 91 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 8.

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Abb. 32 Antinous als Bacchus (ursprünglich »Alexander« genannt), Gipsergänzungen von Emil Kauer 1830

Abb. 33 Statue des Dionysos (ursprünglich »Alexander«, dann «Antinous als Bacchus« genannt), heutiger Zustand

Eindruck des Merkwürdigen trügt ihn nicht. 1830, als Böttiger schon längst Inspektor der Antikengalerie ist, wird der Kopf, der mit einem barocken Helm verbunden war, zwar als antik, aber als nicht zugehörig erkannt, die Statue restauriert, der Kopf mit dem Helm abgenommen und von dem Bildhauer Emil Kauer durch einen frei erfundenen Gipskopf ersetzt,92 ein Versuch, der allerdings nicht gut geheißen wurde, weshalb die Zusammenarbeit mit Kauer ein rasches Ende fand (Abb. 32 und 33). Mit einem Blick in den Raum des Columbariums (Abb. 2), wo sich die Sarkophage, Mumiensärge und ägyptischen Aschenkrüge befanden und wo es bei der nächtlichen Stimmung »dem Gesamt-eindruck nicht an schauerlicher Täuschung« fehlte,93 wird der Rundgang und der Besuch des Japanischen Palais beschlossen.

92 Vgl. Kordelia Knoll: Der Umgang mit den Antikenergänzungen in Dresden, in: Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23) und ebenda, Kat. 131 (Jens Dähner). 93 Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen (wie Anm. 58), S. 8.

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III Zurück in Weimar wurde Böttigers Stellung wegen aufkommender Spannungen zwischen ihm und dem Weimarer Gelehrten- und Dichterkreis zunehmend unerquicklich. So war es ein Glück für ihn, dass es ihm dank der Vermittlung seiner Dresdner Freunde schließlich gelang, 1804 nach Dresden überzusiedeln, um hier die Stelle des Direktors am Pageninstitut zu übernehmen. Zudem verlockte ihn die Möglichkeit, künftig einen größeren Freiraum für seine wissenschaftliche, d. h. vor allem archäologische Tätigkeit zu haben – dass diese im Angesicht der berühmten Antikensammlung stattfinden sollte, war der besondere Glücksfall. Seit Januar 1806 hielt er neben der Leitung des Pageninstituts auch Vorlesungen über Archäologie und Altertum. Auf diesem Gebiet vermochte er seine Persönlichkeit am besten zu entfalten und mit seinen Kenntnissen in die Breite zu wirken. Über sieben Jahre hinweg, von Januar 1806 bis 1813, trafen sich in seiner Wohnung im 3. Stock des Cosel’schen Palais zweimal pro Woche Mitglieder der einflussreichsten und vornehmsten Kreise der Stadt – Fürsten, Minister, Generale, Gesandte, Staatsbeamte, Pagen und Künstler –, um seinen Abhandlungen zu folgen.94 Er machte seine Zuhörer mit den neuesten Forschungsergebnissen nicht nur zur griechischen, sondern auch zur indischen, persischen, babylonischen und palmyrenischen Altertumskunde bekannt und befand sich auf diesem Gebiet stets auf der Höhe der Zeit. Und er erweiterte seine Vorlesungen um die durch Napoleons Ägyptenfeldzug im Aufblühen begriffene ägyptische Archäologie.95 Er zeigte eine universale Entwicklungsgeschichte der Kunst von Asien bis zur römischen Antike auf und richtete damit seinen Blick weit über die abendländische Kultur hinaus: Die Archaeologie muss wenn sie kein blosser Plunderkram seyn, sondern auch auf einem menschenwürdigen d. h. weltbürgerlichen Zweck hinarbeiten soll, eine treue und behutsame Dienerin der Geschichte der Menschheit seyn […]. Darum sei der enge Begriff, dass die griechische Kunst der Forschung des Archaeologen al lein werth sei, fern von uns!96

Er sprach 1807 über Museographie,97 1808 zur Kunstmythologie, seinem Spezialgebiet. 1809 sprach er über Zeus, 1810 über Hera-Juno und Neptun. Nach jeder 94 Gerald Heres: Carl August Böttigers archäologische Vorlesungen in Dresden, in: Miszellen zur Wissenschaftsgeschichte der Altertumskunde, hg. von Horst Gericke, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1980/38, Halle 1980, S. 69–78. – Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. 234–241. – Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (wie Anm. 1), vor allem S. 102–110. 95 Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. 17–25. 96 Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen über die Archaeologie (wie Anm. 71), S. XVIf. 97 Vgl. Karl August Böttiger: Ueber Museen und Antikensammlungen. Eine archäologische Vorlesung, gehalten den 2. Januar 1807 (mit einer späteren Anmerkung), in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 38), Bd. 2, S. 3–24. – Zu den Vorlesungen vgl. René Sternke: L’archéologue Millin – modèle de l’archéologue Böttiger, in: Geneviève Espagne, Bénédicte Savoy (Hg.): Aubin-Louis

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Stunde wurde eine Zusammenfassung des Vorgetragenen in einer kleinen ungebundenen Druckschrift verteilt, so dass sich jedermann den gehörten Stoff schwarz auf weiß nach Hause tragen konnte. Später, 1826, begann Böttiger, diese Schriften unter dem Titel Ideen zur Kunst-Mythologie in Buchform zu publizieren.98 Die Vorlesungen über die Malerei des klassischen Altertums wurden 1811 als Ideen zur Archäologie der Malerei gedruckt. Hier dehnte Böttiger seine Betrachtungen auf die chinesische und aztekische Kunst aus. In den Jahren 1816 und 1821 sprach er zu Amor und Psyche und zum Herkules-Mythos. Seine Vorträge wurden in Dresden zu einer Institution und er avancierte über die Landesgrenzen hinweg zu einer Berühmtheit.

IV Böttigers berufliche Laufbahn sollte jedoch bald eine neue Wendung nehmen. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 und der Niederwerfung Napoleons schien in Sachsen zunächst ein neues Zeitalter angebrochen zu sein. König Friedrich August I. (Kurfürst 1763–1806, König 1806–1813 und 1815–1827) war ins Exil gegangen. Die Regierungsgeschäfte hatte das russische Generalgouvernement unter Fürst Repnin-Wolkonski übernommen. Zahlreiche Sachsen folgten den Aufrufen der Verbündeten und meldeten sich freiwillig zum Kampf gegen Napoleon, denn ein gesamtdeutsches, alle Schichten der Bevölkerung bewegendes Nationalgefühl war erwacht. Im kulturellen Bereich sollte Sachsen während der Zeit des Generalgouvernements eine grundlegende Erneuerung erfahren. Die Kunstakademie sollte reformiert werden und die Kunstsammlungen galt es nach den Kriegsereignissen neu zu ordnen. Vor allem für das letztere Vorhaben war Böttiger als Kenner der Dresdner Verhältnisse und der Dresdner Sammlungen, als Gelehrter und berühmte Persönlichkeit der ideale Vermittler, der sich mit Begeisterung der neuen Regierung zur Verfügung stellte und bald für alle kulturellen Belange des Generalgouvernements unverzichtbar wurde. Gleichzeitig nutzte er die Gunst der Stunde, um endlich ans Ziel seiner beruflichen Wünsche zu gelangen. Denn im Juni 1813, mitten in den Wirren der napoleonischen Kriege, war Wilhelm Gottlieb Becker gestorben. Jetzt, nach Beckers Tod, sah er die Gelegenheit gekommen, sich um die nun vakant gewordene »Oberaufsicht über die Antikengallerie und das Mengsische Museum und die Mitaufsicht über das Münzkabinett« zu bewerben. Sein Gesuch von Dezember 1813,99 das er dem Generalgouvernement einreicht, ist ganz von patriotischer Begeisterung getragen: »Ein Tag fröhlicher Verjüngung Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclopédique – Les lettres à Karl August Böttiger, Hildesheim 2005, S. 79–93. 98 Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. 30. 99 Ehrerbietigstes Gesuch vom 28. Dezember 1813: Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geheimes Kabinett Loc. 895/16 Acta, Die Kunst=Academie und Kunst=Sammlungen allhier betr. 1813 sq., Vol. 1, fol. 19–26, hier fol. 23.

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und Wiedergeburt ist angebrochen für alles was schwächlich oder veraltet da steht«, so beginnt Böttiger dieses Gesuch, in dem er Richtlinien aufstellt, wie sich die Antikensammlung in der neu angebrochenen Zeit und unter seiner Leitung entwickeln solle. Er will als erstes ein Verzeichnis aller Werke erstellen und in Druck geben, denn was »im heiligen Sinne Nationalgut ist, muß jeder zu jeder Zeit wißen und übersehen können«.100 Ein solches Verzeichnis wäre die Vorbedingung zur Öffnung der Sammlung für das Publikum. Er will »Kenner und ausgezeichnete Reisende« durch die Sammlung führen101 und bedingt sich aus, eigenständig über den Einsatz der Fackelbeleuchtung zu entscheiden. Er will seine Vorlesungstätigkeit aus seiner Wohnung sowohl in die Vorhalle der Antikensammlung als auch in die der Abgusssammlung verlegen und dort, in direkter Nachbarschaft zu den Kunstwerken, vor Studenten der Kunstakademie und vor dem allgemeinen Publikum sprechen. Da »das ganze gebildete Publikum auf dieß köstliche Bildungsmittel des Geschmacks, als auf ein Gemeingut der Nation, unbezweifelte Ansprüche hat: so würde ich stets erbötig sein, darüber auch einer auserwählten Zahl von Kunstfreunden besondere Vorlesungen zu halten.«102 Böttigers Gesuch wurde vom Generalgouvernement wohlwollend aufgenommen. Am 7. Februar 1814 erhielt er – inzwischen waren 19 Jahre seit seiner ersten vergeblichen Bewerbung vergangen – die »Oberaufsicht über die Antiken Gallerie und über die Sammlung der Mengsschen Abgüsse, ingleichen die Mitaufsicht über das Münzcabinet ertheilet« und am 2. Mai 1814 wird ihm von Johann Georg Friedrich von Friesen die Bestallungsurkunde ausgefertigt mit der Aufforderung, »dem Hohen General-Gouvernement des Königreichs Sachsen treu, hold und gewärtig zu seyn, dabei den Königlichen Sächsischen Lande Nuzen und Wohlfahrth nach seinen Kräften zu befördern, Schaden und Nachtheil aber zu verhüten und abzuwenden«.103 Böttiger übernahm dieses Amt unentgeltlich, denn er blieb offiziell an der Ritterakademie, in die das Pageninstitut inzwischen umgewandelt worden war, angestellt 100 Ebenda, fol. 21. 101 Ebenda. 102 Ebenda, fol. 23. – Vgl. auch fol. 21f.: »Die Hauptgegenstände dieser Vorlesungen wären 1. Mythologie und Fabelkunde 2. Sitten und Gebräuche des klassischen Altertums mit der Lehre vom Ueblichen und von den Kostümes, 3. Geschichte der alten Kunstsprachen, oder vom Stil. 4. Die Lehre von der Allegorie und von der Anwendung der alten Kunst auf die Neuere.« Besonderen Wert legt er bei seinen Vorlesungen auf deren Veranschaulichung durch die unmittelbare Nachbarschaft mit den Kunstwerken, »also mit einer versinnlichten Gegenwart, wie sie außer in Paris in Millin’s Kunstsälen, schwerlich irgendwo anders statt fänden«. – Zu Aubin-Louis Millin, der mit seinen archäologischen Vorlesungen in Paris Böttigers Vorbild war, vgl. Bénédicte Savoy: Savoir archéologique partagé. Les Lettres d’AubinLouis Millin à Karl August Böttiger 1797–1817, in: Espagne, Savoy, Aubin-Louis Millin et l’Allemagne (wie Anm. 96), S. 61–77. 103 Hauptstaatsarchiv Dresden, 13458 Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung, Akte 1814–1832 (ohne Seitennummerierung).

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und bezog von dort auch sein Gehalt. Die im Anstellungsschreiben vereinbarten Vorlesungen bzw. Vorträge hielt er in Zukunft zweimal pro Woche, an jedem Mittwoch und Sonnabend, und zwar im Sommer von Mai bis September im Vorraum der Antikensammlung. Etwa zeitgleich mit seinem Anstellungsgesuch sind Bemerkungen über die Dresdner Antikensammlungen überliefert, in denen sich Böttiger kritisch mit den bisher herrschenden Verhältnissen auseinandersetzt und dem Generalgouvernement Vorschläge zu deren Verbesserung macht.104 Auch in dieser Schrift ist der Grundtenor die schon im Gesuch hervorgehobene Überzeugung, dass die Antiken »nicht Fürstengut sondern Gemeingut sind und als solches der ganzen Nation und allen nach Verfeinerung und Veredlung aufstrebenden Menschen zu Gute kommen müssen«.105 Aber das war gerade in Dresden nicht der Fall. Die Antiken waren schlecht zugänglich und es herrschte »viel Verwirrung und Planlosigkeit« in ihrer Aufstellung.106 Es gebe kein zweckmäßiges Verzeichnis zu kaufen und gerade dieses sei wichtig, denn der Besucher verlange, unterrichtet zu werden. Statt die Kenner und Liebhaber mit »auswendig gelernten Sprüchen« und mit »Kunst=solöcismen« zu ärgern,107 sollten in den Museumsräumen »allgemeine Vorlesungen statt finden, wovon bald Zöglinge anderer Staatsanstalten, bald die höhern Classen beider Geschlechter, wie in den Nationalsälen der Bibliothek in Paris bei Millins Vorlesungen, Zutritt finden könnten«.108 Die Antiken sollten restauriert und die barocken Ergänzungen abgenommen werden, denn »in ungestörter Nachbarschaft gränzt das stümperhaft Ergänzte, das Modern-Antike neben dem Vortrefflichsten«.109 Und überhaupt müssten die Werke durch Abgüsse oder Reproduktionen viel mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens gestellt werden, um den Geschmack zu läutern und bildend und erziehend zu wirken.110 Auf Böttigers Initiative ging auch die vom russischen, später preußischen Generalgouvernement geplante, wenn auch nicht ausgeführte Dresdner Museumsreform und die Reform der Dresdner Kunstakademie zurück. In einer Schrift vom 26. September 1814, die den Titel Ideen zu einem Conservatorium der Dresdner Kunstsammlungen trug und in der Böttiger dem Generalgouvernement eine Neuordnung der Dresdner Kunstsammlungen in ihrer Gesamtheit ans Herz legte, erweiterte er die bereits in 104 SLUB Dresden, h 37, II Vermischtes 2°, Aufsätze 2, Nr. 4. Böttigers Verdienste um Altertümer und Kunstsammlungen, D. – Bemerkungen über die Dresdner Antikensammlungen, Jan. 1814, fol. 66–82. 105 Ebenda, fol. 71. 106 Ebenda, fol. 68. 107 Ebenda, fol. 69. 108 Ebenda, fol. 71b. – Vgl. auch René Sternke: L’archéologue Millin – modèle de l’archéologue Böttiger, in: Espagne, Savoy, Aubin-Louis Millin et l’Allemagne (wie Anm. 96), S. 79–93. 109 Ebenda, fol. 68. 110 Ebenda, fol. 78ff.

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seinem Anstellungs-Gesuch um das Inspektorenamt der Antikensammlung angeführten Erneuerungs-Ideen um weitere Gesichtspunkte.111 Böttiger rechnete hier in aller Direktheit mit den Verhältnissen ab, die an den Sammlungen in den vergangenen Jahrzehnten geherrscht hatten: »Wie wenig wurden doch diese Schätze bisher als Bildungs- und Veredelungsmittel der Nation angesehen«. Die Ursachen sah Böttiger im »Protections- und Hofschranzenwesen«. Denn sowohl die oberste Direktion, als auch alle mit der unmittelbaren Aufsicht der Sammlungen betrauten Personen waren Mitglieder des Hofetats gewesen. Graf Marcolini, der die Oberaufsicht zuletzt über sämtliche Kunstsammlungen an sich genommen hatte, sei »ohne die geringste Kunstkenntnis« gewesen. Die Inspektoren- und Aufseherstellen, die nach Marcolinis Willkür besetzt worden waren, hier dachte Böttiger mit Sicherheit an seine eigene Zurückweisung durch Marcolini im Jahre 1795, waren Versorgungsposten für Hofbediente, »oft unbrauchbare Invaliden katholischer Religion«. So seien nicht die tauglichsten, sondern die geschmeidigsten Männer für diese Stellen auserwählt worden. Um den desparaten Zuständen, in denen sich die Kunstsammlungen befanden, abzuhelfen und um die einzelnen Sammlungen zu einem organischen, demokratisch organisierten und ihre Bildungsaufgabe erfüllenden Ganzen zu vereinigen, sollten sie einem »wahrhaft unterrichteten Wissenschafts- und Kunstliebenden Staatsmanne« unterstellt werden. Sie sollten zu fünf Institutionen zusammengefasst werden, denen fünf »Conservatoren« vorstehen und die gemeinschaftlich über die Museen in jederlei Beziehung entscheiden könnten. Vor allem sollten die Museen öffentlich sein. Nur diese, bereits in Frankreich erfolgreich praktizierte Neustrukturierung der Sammlungen garantiere, sie der »belehrenden Beschauung und der zweckmäßigsten Benutzung […] zurückzugeben«. Tatsächlich war vom Generalgouvernement beabsichtigt, Böttigers Vorschläge zur Erneuerung der Sammlungen in die Tat umzusetzen. Im Herbst 1814 wurde zunächst begonnen, den Studenten der Kunstakademie einen geregelten Zugang zu den Sammlungen zu ermöglichen. In einer von Fürst Repnin unterzeichneten und gedruckten Schrift, der Constitution der Königl. Sächsischen Akademie der bildenden Künste, wurde festgelegt,112 dass die Antiken- und Abgusssammlung im Sommer viermal pro Woche für die Studenten zu öffnen seien und zwar vormittags von 8 bis 12 Uhr die »Antiken=Gallerie« und nachmittags von 2 bis 6 Uhr das »Mengsische Gypscabinet«. Die Öffnung der Sammlung für das breite und allgemeine Publikum ergriff das preußische Gouvernement, das am 19. November 1814 das russische ab111 SLUB Dresden, h 37, II Vermischtes 2°, Aufsätze 2, Nr. 4. Böttigers Verdienst um Altertümer und Kunstsammlungen. Ideen zu einem Conservatorium der Dresdner Kunstsammlungen, unpaginiert. 112 Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 895/15, Acta Die Oberaufsicht über die Königlichen Sammlungen von wissenschaftlichem Apparat, Kunstsachen und andern Kostbarkeiten betr. 1771, 1813–15, fol. 23–30, hier fol. 26b Paragraph 14.

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löste. An einigen Tagen der Woche sollten die Sammlungen fortan den Einheimischen und Fremden sogar unentgeltlich offen stehen, ganz wie es der Forderung Böttigers entsprach. Zu diesen und weiteren Maßnahmen kam es jedoch nicht mehr. Am 5. Juni 1815 legte das preußische Gouvernement seine Arbeit nieder und am 7. Juli kehrte König Friedrich August I. aus der Gefangenschaft zurück, um die Regierungsgeschäfte wieder zu übernehmen.

V Es war zunächst nicht sicher für Böttiger, ob der König ihm die vom russischen Gouvernement übertragenen Ämter, das Direktorat an der Ritterakademie und die Oberaufsicht über die Antiken-, Münz- und Abgusssammlung, belassen würden. Doch zeigte sich Friedrich August großzügig. Aber von Böttiger wird es fortan keine ähnlich kritischen und im bürgerlichen Sinne engagierten Schriften mehr geben. Nach der Zeit der Freiheitskriege mit ihrer Hoffnung auf eine politische und kulturelle Erneuerung schien mit der Heimkehr des Königs und dem Wiederaufbau des absolutistischen Regimes Resignation sich seiner bemächtigt zu haben. Und obwohl Böttiger das lang ersehnte Inspektorenamt endlich innehatte, verlegte er fortan sein Wirken immer mehr auf Bereiche, die außerhalb des Museums lagen und konzentrierte seine Aktivitäten verstärkt auf Tätigkeiten, bei denen er freie Hand hatte und weniger fürchten musste, in seinen Bestrebungen eingeengt zu werden. Böttiger mag damals ähnlich empfunden haben, wie es Ludwig Richter 1826 beschreibt, in Erinnerung an die Zeit der Freiheitskriege und an die Hoffnung, die diese Zeit geschürt hatte und die nur zu bald unter den alten Verhältnissen wieder erstickt worden waren: Der Geist des Volkes rauschte auf wie eine Welle. Die Erwartungen des deutschen Volkes wurden von den Fürsten nicht erfüllt, die schöne Welle brandete und verlor sich. […] Die Männer, die jetzt noch dastehen, sind der Kunst müde, sie sehen, daß sie nun in solchen Verhältnissen doch nicht durchdringen, nicht das werden kann, was werden sollte. Ein zeitiger Frühling! Frost kam in die tausend herrlichen Knospen […].113

Die Journalisterei, die er seit seinem Weggang aus Weimar weitgehend zurückgesetzt hatte, rückte wieder in den Vordergrund. In der Dresdner Abend-Zeitung und dem ihr angegliederten Wegweiser veröffentlichte er nun verstärkt und bis zu seinem Tod zahlreiche Artikel zu Kunst und Literatur. Ab 1822 redigierte er das von ihm ins Leben gerufene Artistische Notizenblatt. In der Allgemeinen Zeitung erschienen regelmäßig seine Bücherschauen, Biographien und Nekrologe. 1820 gründete er die Zeitschrift Amalthea, die 1820, 1822 und 1825 bei Göschen in Leipzig in drei Jahrgängen erschien und für die er neueste Aufsätze zur vorderasiatischen, ägyptischen 113 Ludwig Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, Dresden 1950, S. 449.

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und griechisch-römischen Kunstgeschichte von Gelehrten wie Georg Friedrich Grotefend, Aloys Hirt, Leo von Klenze, Friedrich Thiersch, Karl Otfried Müller, Konrad Levezow und Heinrich Meyer heranzog. Jedoch wurde sie zum Verlustgeschäft, wie auch die 1828 in Breslau von ihm herausgegebene Zeitschrift Archäologie und Kunst, die nur ein Mal erschien.114 1820, im Jahr der Gründung der Zeitschrift Amalthea, wird auf Böttigers Empfehlung der aus Altenburg stammende Heinrich Hase als Unterinspektor der Sammlungen eingestellt.115 Böttiger wird ihn später »mein verehrter College und Mitaufseher« nennen.116 Er ging Böttiger in allen Museumsdingen zur Hand und erledigte fortan auch die administrativen und praktischen Aufgaben, die die Museumsarbeit und die Sammlungen betrafen. Böttiger selbst tritt von nun an im Museum in den Hintergrund. Das von ihm 1814 geforderte Verzeichnis des ausgestellten Bestandes fertigte 1826 Hase an. Es erschien bis 1839 in fünf Auflagen.117 Hase übernahm auch das Verfassen der Jahresberichte, die der sächsische Innenminister Bernhard August von Lindenau, der gleichzeitig die Aufsicht über die Kunstakademie und die Kunstsammlungen innehatte, seit 1830 von jeder Sammlung forderte.118 Und Hase führte weitgehend alle Korrespondenz soweit sie unmittelbar die Sammlungsangelegenheiten betraf. In den überlieferten Akten und Unterlagen aus jenen Jahren ist Böttigers Handschrift nur noch selten zu finden. Eine Umordnung der Antikenaufstellung in den Sälen des Japanischen Palais – Wacker habe damals, wie Böttiger 1814 bemerkt, »nur auf Symmetrie, nicht auf Gehalt, Stil und Bedeutung der Statuen blickend, das Mittemäßige mit dem Vortrefflichsten, modernes Machwerk mit antiker Kunstschöpfung auf die unbegreiflichste Weise« zusammengepaart119 – konnte aus Kostengründen nicht in Angriff genommen werden. Es musste bei wenigen Umstellungen bleiben, die aber das Bild der Sammlung nicht grundlegend veränderten.

114 Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. 268–337. 115 Heinrich Hase (1789–1842) war seit 1820 Unterinspektor und 1835–1842 Oberinspektor über die Antiken-, Abgusssammlung und das Münzkabinett. – Karl Alfred von Hase: Unsere Hauschronik. Geschichte der Familie Hase in vier Jahrhunderten, Leipzig 1898, S. 133–167. – Kordelia Knoll: Freund antiker Skulpturen. Heinrich Hase, Direktor der Dresdener Antikensammlung 1820–1842, in: Antike Welt 36, 2005, S. 66–68. 116 Böttiger in der Zeitschrift Archäologie und Kunst (wie Anm. 84), S. 167. 117 Heinrich Hase: Verzeichniss der alten und neuen Bildwerke in Marmor und Bronze, in den Sälen der Kgl. Antikensammlung zu Dresden, Dresden 1826, 21829, 31833, 41836, 51839. 118 Inge Titz-Matuszak: Bernhard August von Lindenau (1779–1854). »Feind der Reaction und der Revolution«. Eine politische Biographie, in: Joachim Emig (Hg.): Bernhard August von Lindenau (1779–1854), 2 Bde., Weimar 2000, Bd. 1, S. 121–125. 119 Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 38), S. 32.

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VI Hase war es auch, der sich tatkräftig um die »Restaurationsgräuel«, die »stümperhaft« ergänzten antiken Skulpturen, kümmerte, deren Zustand Böttiger seit Jahrzehnten beklagt und getadelt hatte. Tatsächlich waren die bei ihrer Entdeckung zum Teil nur fragmentarisch erhaltenen Dresdner Skulpturen im Zeitalter des Barock in römischen Restaurierungswerkstätten aufwendig ergänzt worden.120 Nur vollständige Statuen galten damals als vollkommen. So waren barocke Neuschöpfungen entstanden, die dem antiken Werk in Form und Gehalt nicht entsprachen. Diesen Sachverhalt hatte bereits 1732 der Antiquar Scipione Maffei erkannt, der die Unterscheidung von Original und Ergänzung wünschte.121 Gleiches forderten Winckelmann 1764122 und Christian Gottlob Heyne 1779.123 Zwar hatten auch in Dresden Giovanni Battista Casanova,124 Lipsius125 und Becker126 die Ergänzungen der Dresdner Antiken angemerkt bzw. kritisiert, keiner jedoch so konsequent und radikal wie Böttiger: »jämmerlichen Schofel«, »Restaurationsgraeuel« und »angeflicktes Machwerk«127 nannte er die Ergänzungen und »jammervolle Verstümmelung«,128 »Verkrüppelung, Verunzierung, Unsinn oder Mißverständniß«.129 Hase geht das Restaurierungsproblem mit viel Elan an, wie aus den Akten hervorgeht. Und dass Böttiger seine Hände dabei ordnend über den Dingen gehalten hat, wird anlässlich der Restaurierung der archaistischen Athena (Hm 26) und ihrer Rekonstruktion am Gipsabguss durch Christian Daniel Rauch deutlich. Als dieser von Berlin aus 1822 die Antikensammlung besuchte, empfahl er dem »GeneralDirektor« und Oberaufseher über die Königlichen Sammlungen, Johann Georg Friedrich von Friesen, einige Werke zur Restaurierung. Rauch hatte in den römischen Antikenmuseen die dortige Ergänzungspraxis studiert. In Dresden trat er nun zu Böttiger in freundschaftliche Verbindung, die sich in ihrem Briefwechsel wider120 Frank Martin: Antikenergänzungen in der Sammlung Flavio Chigi, in: Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), S. 17–79. 121 Vgl. Ulrike Müller-Kaspar: Das sogenannte Falsche am Echten. Antikenergänzungen im späteren 18. Jahrhundert in Rom, Bonn 1988, S. 46. 122 Johann Joachim Winckelmann: Abhandlung von der Faehigkeit der Empfindung des Schoenen in der Kunst (wie Anm. 6), S. 241. 123 Christian Gottlob Heyne: Irrthümer in Erklärung alter Kunstwerke aus einer fehlerhaften Ergänzung, in: Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd. 2, Leipzig 1779, S. 172–182. 124 Casanova: Abhandlung über verschiedene alte Denkmäler (wie Anm. 26), S. 6f. 125 Lipsius: Beschreibung der Churfürstlichen Antiken-Galerie (wie Anm. 15). – Lipsius benennt die Ergänzungen in den einzelnen Katalogbeiträgen zwar, wertet sie aber wenig kritisch. 126 Becker: Augusteum (wie Anm. 26), Bd. I, S. V. 127 Böttiger: Erinnerungen an Dresden (wie Anm. 45), »Den 25. August 1798. Abends.« – Die Beschreibung des Rundgangs in leicht überarbeiteter Form liegt auch in einer Druckfassung vor. 128 Böttiger: Ueber die Dresdener Antiken-Galerie (wie Anm. 38), S. 26. 129 Ebenda, S. 29.

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Abb. 34 Japanisches Palais, Saal 4. – Im Vordergrund die archaistische Athena, hinten links die Gipsrekonstruktion von Christian Daniel Rauch. Hinter dem Athena-Torso die Statue des »Aesculap« (Dresdner Zeus). Ausmalung von Gottfried Semper 1835

spiegelt.130 Vermutlich im Zusammenhang mit der Abnahme der neuzeitlichen Ergänzungen von der archaistischen Athena131 wurde Rauch mit der Rekonstruktion der Athena-Statue beauftragt. Diese nahm er in seinem Berliner Atelier am Gipsabguss vor, den 1822 »der römische Formatore« Domenico Bianconi in Dresden 130 Robert Boxberger (Hg.): Briefe des Bildhauers Chr. Rauch, meist an Hofrath Böttiger, aus dessen Nachlaß auf der Bibliothek in Dresden, in: Jahrbuch der kgl. Preuß. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, N.F. 11, 1882, S. 115–175. 131 Archaistische Athena, sog. Dresdner Pallas, Inv. Hm 26, erste zwei Jahrzehnte 1. Jh. n. Chr., aus der Sammlung Chigi 1728 in Rom erworben. – Katalog der antiken Bildwerke II (wie Anm. 23), Kat. 238 (Friederike Sinn). – Zu dieser Athena-Statue vgl. Böttiger: Der Pallas-Sturz im ältesten griechischen Stil, in: Ueber die Dresdener Antikengalerie (wie Anm. 38), S. 50–52. Böttiger hielt zu Recht den Kopf (Inv. Hm 181) für nicht zugehörig zur Statue, er hielt ihn jedoch für antik. Neue Forschungen haben ergeben, dass es sich bei dem Kopf um eine Ergänzung des 16. Jahrhunderts handelt.

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Abb. 35 Archaistische Athena, sog. Dresdner Pallas, Inv. Hm 26, erste zwei Jahrzehnte des 1. Jhs. n. Chr.

abgenommen hatte. Im Briefwechsel kann man Rauchs Ringen um die richtige Rekonstruktion nachvollziehen, das Böttiger mit Rat und Zuspruch begleitete. Von der Aufstellung der Rauch’schen Gipsrekonstruktion im 3. Saal des Japanischen Palais berichtet Böttiger im Artistischen Notizenblatt Nr. 8, 1825. Die antike AthenaStatue, von der man die Ergänzungen – Kopf und Arme – abgenommen hatte, wurde in unmittelbarer Nachbarschaft der Gipsrekonstruktion als Torso aufgestellt (Abb. 34 und 35). Erstmals erhielt damit das antike Fragment eine ästhetische 205

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Aufwertung – ein erstaunlicher Vorgang in einer Zeit, in der antike Skulpturen noch aufwendig in Marmor ergänzt wurden.132 Im Laufe der Jahre werden zwar noch weitere Statuen restauriert bzw. entrestauriert, jedoch werden diese Arbeiten eher stockend und unsystematisch verwirklicht. In seinen letzten Lebensjahren kann Böttiger durch ein Pro Memoria zur Abgusssammlung 1831 verhindern, dass diese, die seit 1796 im Stallhof gut aufgestellt und besucht war, in das an der Elbe gelegene, baufällige Brühl’sche Palais übersiedelt, wo die Abgüsse in feuchten und zu kleinen Räumen dem Verfall preisgegeben gewesen wären.133 Und schließlich ist er gemeinsam mit Lindenau daran beteiligt, dass der junge Gottfried Semper gewonnen werden konnte, die Antikensäle im Japanischen Palais im antikisierenden Stil auszumalen.134

VII Hases Zusammenarbeit mit Böttiger kann nicht ungetrübt gewesen sein. Ein Bericht der Leipziger Zeitung vom 21. Januar 1832, in dem Böttiger aus Anlass der Verleihung des Königlichen Zivildienstordens als »Oberinspektor« der Antikensammlung und des Münzkabinetts qualifiziert wurde, ergrimmte Hase aufs äußerste: H. B. war seit Jahren angestellt und das Ducatenwesen war durch ihn standhaft aufrecht erhalten worden, nicht ein Schritt läßt sich nachweisen, wo er auf allgemeine Öffentlichkeit angetragen hätte. Er war jahrelang angestellt und hat für die bessere Aufstellung nie das Geringste gethan. Er war jahrelang angestellt und sah einige greuliche Stücke […] mit eben der Gelassenheit an, als ob es die wertvollsten Fragmente wären, ging sogar so weit, ganz moderne Dinge für antik zu erklären, bis eine Autorität sein nachgesprochenes Urtheil endlich umstimmte.135 132 In seiner Vorlesung vom 31. August 1814 schlug Böttiger bereits vor, Antiken »ohne Ergänzung […] verständig aufzustellen«. Karl August Böttiger: Ueber die Dresdener AntikenGalerie (wie Anm. 38), S. 30. – Zu den Ergänzungen der Berliner Antiken in jener Zeit, z. B. zu den Ergänzungen von Emil Wolff, vgl. Huberta Heres: Von Bartolomeo Cavaceppi zu Christian Daniel Rauch – Die Restaurierung der Statuen im 18. und 19. Jahrhundert, in: WolfDieter Heilmeyer, Huberta Heres, Wolfgang Maßmann: Schinkels Pantheon. Die Statuen der Rotunde im Alten Museum, Mainz 2004, S. 19ff. 133 Hauptstaatsarchiv Dresden, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 2520, Acta Die OberCämmerey und die Kunst- und wißenschaftlichen Sammlungen betr. 1828, vol. IV, fol. 205–215. 134 Im Jahresbericht für 1834, verfasst am 6. Januar 1835 (Hauptstaatsarchiv Dresden, 13458 Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Skulpturensammlung, Akte 1830–1842), drängt Hase nachdrücklich auf eine Renovierung der inzwischen unansehnlich gewordenen Antikensäle. Am 2. Februar 1835 erfahren Böttiger und Hase durch Lindenau u. a., dass die »beantragte Ausmalung der Säle des Antiken-Cabinets nach einem, von den Herren Hofräthen Böttiger und Hase, Hr: von Quandt und Professor Semper zu bearbeitenden Plane genehmigt« ist. 135 Hauptstaatsarchiv Dresden, 13458 Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Akten der königlichen Antikensammlung 1830–1842, Schreiben Hases an Lindenau ohne Datum und Seitenangabe.

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Vorstellungen und Visionen von einem idealen Antikenmuseum

Was das »Ducatenwesen« betrifft, so entschuldigt Böttiger, dass er für sein Inspektorenamt nicht bezahlt wurde, sondern dieses unentgeltlich führte. Dass er für eine »bessere Aufstellung [der Antiken] nie das Geringste« getan habe, lag am hohen und offenbar nicht zu billigenden Kostenaufwand, der eine Umstellung mit sich brachte. Diese hätte nicht nur vom Seckelmeister, sondern vor allem vom König genehmigt werden müssen und lag also nicht allein in Böttigers Hand: »Die ganze Aufstellung so fehlerhaft sie auch im Ganzen ist, mag ohne großen Kosten-Aufwand jetzt nicht geändert werden«, stellte er bereits 1814 in seinen Bemerkungen über die Dresdner Antikensammlungen fest.136 Bei den »greulichen« Stücken, die er mit »Gelassenheit« ansah, spielt Hase auf die barock ergänzten Antiken an. Böttigers »Gelassenheit« scheint aber aus der Erkenntnis geboren gewesen zu sein, dass das Unterfangen der sogenannten Entrestaurierung ein so umfangreiches und grundlegendes zu werden versprach, dass dieses nicht ohne geeignete Bildhauer und nicht ohne die Assistenz eines größeren Kreises von Kunsthistorikern und Archäologen durchführbar gewesen wäre. So verhielt sich Böttiger, nicht zuletzt auch seiner zunehmenden Kränklichkeit wegen, denn er war in der Zwischenzeit ein alter Mann geworden, abwartend und überließ diese Aufgabe getrost nachfolgenden Generationen. Im späten 19. Jahrhundert, in einer Zeit großer Veränderungen in der Dresdner Museumslandschaft und einer Zeit, in der Ausgrabungen in Griechenland und Kleinasien zu vielen neuen Erkenntnissen in der Archäologie führten, sollte sich der Charakter der Antikensammlung vor allem durch die Restaurierungsmaßnahmen grundlegend wandeln. Georg Treu, der spätere Nachfolger Böttigers, hat die Abnahme der misslichen Ergänzungen wieder aufgenommen und mit einem gigantischen Arbeitsaufwand zu Ende geführt.137 Er vollzog, was Böttiger bereits 1820 vorhergesehen hatte, nämlich dass doch »früher oder später einmal geschehen muß« die »völlige Absonderung und Trennung der schönsten Torsos und Fragmente von den entstellenden und verwirrenden Flickwerken«.138 Und schließlich wiegt der Vorwurf, dass Böttiger »ganz moderne Dinge für antik« angesehen habe, leicht. In der vielfältigen und breit angelegten Sammlung können durchaus »moderne Stücke« für antik angesehen werden, oder umgekehrt. Bei einigen Werken der Sammlung gibt es in dieser Hinsicht bis in die Gegenwart Meinungsverschiedenheiten und bis heute können wissenschaftliche Diskussionen darüber nicht immer zu einem endgültigen Ergebnis führen. Böttigers Ideale und reformerische Ideen für ein Antikenmuseum im Sinne einer bürgerlichen Bildungsanstalt konnten zwar nicht sofort, aber dann seit 1830 unter 136 SLUB Dresden, h 37, II Vermischtes 2°, Aufsätze 2, Nr. 4. Böttigers Verdienst um Altertümer und Kunstsammlungen, Bemerkungen über die Dresdner Antikensammlungen, Jan. 1814, fol. 72–73. 137 Knoll: Die Abnahme der Ergänzungen (wie Anm. 27). – Dies.: Der Umgang mit den Antikenergänzungen in Dresden (wie Anm. 27). 138 Böttiger im ersten Band der Amalthea (wie Anm. 84), S. XIII.

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Kordelia Knoll

Bernhard August von Lindenau in Erfüllung gehen.139 Für die Antikensammlung wirkte Böttiger dank seines großen pädagogischen und exegetischen Talents vor allem mit seinen Vorlesungen und Führungen nach dem Motto »Das Cabinet ist nur eine todte Masse, aber deren belebende Seele ein tüchtiger Aufseher«.140 Wie lebensvoll und leidenschaftlich-mitreißend seine Vortragsweise gewesen sein muss, wie staunenswert sein Wissen, wie geistvoll und schillernd seine Persönlichkeit, zeigen die in gedruckter Form vorliegenden Vorlesungen vom 2. Januar 1807 und vom 31. August 1814. Wie sehr er seiner ganzen Anlage nach eine pädagogische Natur war, formuliert er selbst 1826 in der Vorrede zu den Ideen zur Kunst-Mythologie: »Ich bin dreisig Jahre lang Rector an nicht unbedeutenden Schulen und Gymnasien gewesen. Da lebte und webte ich nur im lebendigen Vortrage auf dem Katheder. Die Erklärung der Alten verbunden mit Vorträgen über verschiedene Theile der literarischen und bildlichen Alterthumskunde ging mir über alle Schriftstellerei.«141 Bei der Lektüre der Vorlesungsnotizen erhält man Einblick in seine archäologische Gelehrsamkeit, die auf den neuesten Erkenntnissen der damaligen Forschung basierte. Dass Böttiger die Dresdner Antiken und mit ihnen das Altertum in seiner Vielfalt weiten Kreisen der Bevölkerung nahebrachte, dass er zu begeistern suchte für die Erhabenheit und Schönheit der Werke, dass er mit einer »südlich erwärmten Phantasie« das Altertum aufleben lassen wollte, »um den vollen Zauber jener Gestalten und ihren ergreifenden […] Eindruck zu fassen«,142 dass er damit die antike Welt in Dresden gleichsam ins alltägliche Leben hineintrug und so auch wesentlich zur »Institutionalisierung« und zur »Akzeptanz« des Faches Archäologie beitrug,143 dass er seine Vorstellungen und Visionen von einem idealen Antikenmuseum, die erst spätere Zeiten umzusetzen in der Lage waren, zu formulieren wusste, dass er in dieser Richtung Wegbereiter für die Zukunft war – darin liegt Böttigers überragende Bedeutung, nicht nur für die Dresdner Antikensammlung, sondern für die Dresdner Kunstsammlungen ganz allgemein.

139 Titz-Matuszak: Bernhard August von Lindenau (wie Anm. 117), Bd. 1, S. 121–125. 140 SLUB Dresden, h 37, II Vermischtes 2°, Aufsätze 2, Nr. 4. Böttigers Verdienst um Altertümer und Kunstsammlungen, Bemerkungen über die Dresdner Antikensammlungen, Jan. 1814, fol. 74 (Manuskript). 141 Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus. Stammbaum der Religionen des Alterthums. Einleitung zur vor-homerischen Mythologie der Griechen. Aus den für seine Zuhörer bestimmten Blättern herausgegeben, Dresden und Leipzig 1826, S. X. 142 Vgl. Böttiger: Ueber Museen und Antikensammlungen (wie Anm. 96), S. 6. 143 Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 1), S. XIX. – Sternke, ebenda, S. 241: »Die Öffnung des archäologischen Diskurses gegenüber einem nichtwissenschaftlichen Publikum stellt eine entscheidende Voraussetzung für seine Konstitution als wissenschaftliche Disziplin dar.«

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René Sternke

Juno die Schwanzsaugerin Karl August Böttigers erotisch-antiquarische Studien

wie ihr hoden habt, um das licht zu hören & eierstöcke, um die klänge zu visualisieren Bert Papenfuß Klaus Hallof gewidmet, dem Kontinuator Boeckhs Am 9. Juni 1903 bietet der Dresdner Antiquar – die Bezeichnung ist an dieser Stelle im heutigen Wortsinn zu nehmen – und Buchhändler Carl Richard Bertling der Königlichen Bibliothek in Dresden zu einem Preis von 30 Mark neben zwei handgeschriebenen Briefen ein Konvolut zum Kauf an, das er mit folgenden Sätzen charakterisiert: Ei genhändiges Ma nuscr ipt, hier und da auch mit Randbemerkungen von J. Fr. Blu menba ch’s Hand. 37 theilweise oder ganz beschriebene Seiten. 4.°, 3 Seiten. 8.° – Nebst 6 Kupfertafeln mit zahlreichen priapischen Zeichnungen (Phallos-Abbildungen u. dergl.) in Probedrucken. Auf dem Umschlag – ebenfalls von Boettiger’s Hand der Titel: »Phallica e Thesauro Brandenburgico illustrationi nostrae notas adspenit Blumenbachius Gottingensis.« Wissenschaftliches Material, bestehend in Schilderungen und Studien über stark erotische Handlungen und Vorgänge bei den Alten, mit vielen Citaten, nebst kunstarchaeologischen und bibliographischen Hinweisen, zumeist in deutscher Sprache.1

Handelt es sich bei den heterogenen Blättern tatsächlich um ein Ganzes, ein Manuskript, wie Bertling sagt, oder um eine bloße Materialsammlung, die Böttiger, seiner Arbeitsweise gemäß, zu ganz unterschiedlichen Zwecken verwenden wollte? Am 30. September 1835 schreibt Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, der ihm die Druckfahnen des Kapitels De la pornographie seiner Peintures antiques inédites zugeschickt hatte, dass er vor vierzig Jahren ausgiebige Studien zur »libertinage de 1 SLUB Dresden, Msc. Dresd. h 37 Verm. XVII, i. – Böttiger schreibt nicht »adspenit«, sondern »adspersit«. Vgl. Anhang, Bl. 0r.

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l’art grec« betrieben habe.2 Handelt es sich bei den überlieferten Papieren um eine Arbeit zur ›Libertinage der Kunst‹, zur ›Pornographie‹, oder, wie Bertling meint, zu stark ›erotischen Handlungen und Vorgängen‹ – also dem, was wir heute mit dem Terminus ›Sexualität‹ bezeichnen – bei den Alten? Können wir diese Papiere Böttigers als eine Geschichte der Pornographie oder eine Kulturgeschichte der Sexualität deuten? Der Terminus ›Pornographie‹ war von Raoul-Rochette in der genannten Abhandlung gerade erst lanciert worden, der Begriff der ›Sexualität‹ befand sich gleichfalls noch im Prozess seines Entstehens. Die Kategorie der ›Pornographie‹ bildete sich im Rahmen der Archäologie heraus, das Konzept der ›Sexualität‹ entstand im Bereich der Naturforschung. Das Zusammenspiel beider Konzepte im Rahmen einer Diskursformation kam erst nach und nach zustande. Um Böttigers unvollendete und bisher unveröffentlichte Studien adäquat interpretieren zu können, ist es notwendig, sie im Zusammenhang der zeitgenössischen Diskurse über dasjenige Problemfeld, das wir heute mithilfe der Begriffe ›Sexualität‹ und ›Pornographie‹ denken, zu untersuchen. Dabei wollen wir an Böttigers Methode anknüpfen. Das Besondere an Böttigers Studien ist, dass er sich nicht nur auf die Beschäftigung mit antiken Sachverhalten beschränkt, sondern auch die Möglichkeit einer solchen Beschäftigung reflektiert. Dabei berücksichtigt Böttiger den gesamten historischen Zeitraum von der frühesten Antike bis in die eigene Zeit. * Auffällig ist die Heterogenität der Aufzeichnungen. Die Manuskripte haben unterschiedliche Formate und sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Greifen wir Böttigers eigene Datierung – »il y a 40 ans« – auf, so stammen einige Blätter aus den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. Die »Queries« an Johann Friedrich Blumenbach (Bl. 2r–v und Bl. 31r–v), welche nach den »ersten junonischen Züge der Majestät« der Juno Sispita fragen (Bl. 2v), entstanden möglicherweise gleichzeitig zu Böttigers Studien zur Mythologie der Juno, die den Inhalt seiner im Januar 1810 einsetzenden Wintervorlesungen bildeten. Auf anderen Blättern werden Werke aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts zitiert. Der »Katalog von C. A. Böttiger’s Hand« – wie eine fremde Handschrift (Bl. 7r) bemerkt – über Böttigers erotische Sammlung (Bl. 7–12) ist vielleicht erst in den Jahren vor dessen Tod entstanden, als Böttiger sich aufgrund der Schuldenmacherei Gustav Böttigers, seines jüngeren Sohnes,3 mit dem Gedanken des Verkaufs dieser Sammlung trug. Für die Datierung einzelner Blätter 2 Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 30. September 1835, vgl. Anm. 351. 3 »Mais la mort de ma femme avec laquelle j’avois veçu 46 ans dans une parfaite union, des soins pénibles qui en ont été amenés pour un nouvel arrangement de mon petit menage, un fils cadet, qui par sa mollesse et insouciance s’étoit endetté jusqu’au col, d’autres contretems qui m’ont accablés et la foiblesse de ma santé m’ont paralyse jusqu’au mois de Juillet.« Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 28. August 1832, Bibliothèque des Institut de France, Paris, MSS. – 2065 (t LXV), pièce 134.

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Abb. 1 »die ersten junonischen Züge der Majestät« (Bl. 2v) – Juno Sispita

lässt sich aufgrund der Erscheinungsjahre der erwähnten Literatur ein Terminus post quem finden. Die Datierung des Ganzen bleibt jedoch problematisch. * Heterogen ist auch der Inhalt der Aufzeichnungen. Geht es in ihnen um Texte, um Monumente oder um historische Sachverhalte? Handelt es sich also um philologische, archäologische oder historische Studien? Oder bildet das Ganze überhaupt keine Einheit? Die Beantwortung dieser Fragen ist insofern schwierig, als die Hierarchie der Texte unklar ist. Die Fragen beziehen sich auf Monumente. Zahlreiche Überschriften wie »Spintriae« (Bl. 19r), »Drilopótai« (Bl. 22r), »Pudenda siliginea, cerea, fiolilia, vitrea« (Bl. 21r) oder »Wollüstige Gemälde« (Bl. 27r) bezeichnen Objektklassen. Andere wie »Ueber die unnaturliche Befriedigung des Geschlechtstriebes« (Bl. 4r), »Cunnagium« (Bl. 6r), »Scäma III« (Bl. 13r) oder »Obscöne Ketzer« (Bl. 24r) verweisen auf kulturhistorische Phänomene. Der Titel »Verba praetextata« (Bl. 5r) thematisiert hingegen ein philologisches Problem. Sacherläuterungen und Worterläuterungen greifen immer ineinander. Der Abschnitt zum ›Keletismos‹ beginnt mit einer Wortgeschichte (Bl. 13r). Die Drilopotai, die phallosförmigen Trinkgefäße, so erfahren wir auf Blatt 21 und 22, verdanken ihren Namen dem Drilos, dem Regenwurm: »Denn drílov, eigentlich Regenwurm, hieß auch das männliche Glied.« Auf diese Weise gehen philologische, archäologische und kulturgeschichtliche Erläuterungen beständig ineinander über und komplettieren einander. * 211

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In seinen Vorlesungen zur Kunstmythologie im Jahre 1808 bezeichnet Böttiger »die alte sinnreiche Deutung, wie Uranus, oder der Aether, in den Schooß der Gäa, wie der Himmel zur Erde herabsteigt,« als i™eròv gámov.4 Er übersetzt diesen Ausdruck mit »heilige Hochzeit«,5 aber auch mit »heilige Hochzeitfabel«.6 ¿Ieròv, heilig, ist alles, was die Menschen von den Göttern empfangen haben und was den Göttern gehört.7 Der i™eròv gámov wurde in mimischen Festen sowie in Hochzeitsgebräuchen nachgebildet.8 Auf diese Weise wurde die von den jungen Eheleuten vollzogene Handlung, das Herabsteigen in den Schoß, wie sie Böttiger bildhaft benennt, sakralisiert. Diese Fabel steht aber bereits auf einer sehr hohen Kulturstufe. Böttigers Kulturgeschichte setzt mit der Vorstellung von einem »rohen Naturmenschen« ein, der »noch nicht in abstracten und allgemeinen Begriffen denken« konnte. Er zerstückelte und personifizierte alles: Feuer,Wasser, Erde, Sonne, Mond, Berge, Quellen, Flüsse, Bäume.9 Aus den personifizierten Naturgegenständen und Naturkräften seien später Götter geworden: Den Gottheiten des Orients lagen blos Naturgegenstände oder Naturkräfte zum Grunde. Naturgegenstände: Man verehrte die Sonne, den Mond, die Gestirne des Thierkreises, die Erde, den Strom, der die Erde bewässert (Nil). Oder es sind Naturkräfte: die erzeugende, erhaltende, zerstörende Natur (Trimurti der Inder), oder man trägt diese Kraft auf die wechselnden Naturerscheinungen über; Adonis-Thammuz, Attis ist das Bild der Frühlings- und Wintersonne, der entfesselten und gebundenen Erzeugungskraft.10

Die wichtige Rolle, welche Naturgegenstände und -kräfte in Böttigers Religionsgeschichte spielen, macht es verständlich, dass in Böttigers Sammlung wie in einer barocken Wunderkammer, in welcher Kunst- und Naturgegenstände als sinnträchtige Elemente eines einheitlichen Symbolsystems aufbewahrt wurden, auch »Naturkörper« (Bl. 10v) und Abbildungen von Naturgegenständen an der Seite von Kulturgegenständen figurierten. Die »auf dem Ganges schwimmende Nymphaea Nelumbo«, die heilige Lotusblume der Hindus, die der Dresdner Blumenmaler Johann Christian Jacob Friedrich für Böttiger gemalt hatte, und von welcher Böttiger ein getrocknetes Exemplar aufbewahrte, erhielt ihren Platz in Böttigers Sammlung, weil aus derselben »sich der Dienst des Lingam und der Yoni, der männlichen und weiblichen Glieder in Indien entwickelt hat«. In engem Zusammenhang mit dem Lingam steht die Dionaea, die indische Venusmuschel, »aus welcher der Abt Lichten4 Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus. Stammbaum der Religionen des Alterthums. Einleitung zur vor-homerischen Mythologie der Griechen. Aus den für seine Zuhörer bestimmten Blättern herausgegeben, Dresden und Leipzig 1826, S. 1. 5 Karl August Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Zweiter Band. Zweiter, dritter und vierter Cursus. Jupiter, Juno und Neptunus, Amor und Psyche. Aus C. A. Böttigers hinterlassenen Papieren herausgegeben von Julius Sillig, Dresden und Leipzig 1836, S. 235. 6 Ebenda, S. 242. 7 Ebenda, S. 106f., Anm. ††). 8 Ebenda, S. 242. 9 Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus (wie Anm. 4), S. 5. 10 Ebenda, S. 210.

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stein in Helmstadt den Cultus der Yoni, des weiblichen Gliedes in Indien ableitete« und von welcher Böttiger ein Exemplar in einem Schächtelchen sowie drei getuschte Blätter aufbewahrte. In der Kunst-Mythologie heißt es von ihr, sie sei »bei den Griechen gleichfals ein Symbol des Lingam«.11 * Die indische Nymphaea Nelumbo nennt Böttiger in seiner Kunst-Mythologie »das älteste Symbol der Erzeugung im befruchteten Wasser«.12 Indien bildet für den an William Jones anknüpfenden Böttiger wie dann auch für die sich ihm anschließenden Romantiker den Ursprung der Symbolik und letztlich auch der klassischen Mythologie. In handschriftlich überlieferten Aufzeichnungen Böttigers Zur Geschichte der Symbolik heißt es: Die Symbolik hat im Orient ihre Wiege, in Indien wo man sich von jeher bemüht der heiligen Thiere Sprache u. der Pflanzen noch unentwickelt zart und still Gemüth zu deuten und ihr Leben zu verstehn.13

Böttigers Symboltheorie verbindet Naturgeschichte und Kulturgeschichte. Die Symbole sind Bestandteil einer Hermeneutik. * An die Naturbegriffe und Naturgötter knüpft sich ein i™eròv lógov,14 eine in geheimer Lehre mitgeteilte und nur selten ausgelegte Priesterallegorie: Man muß bei der Entwicklung des Phallusdienstes vielleicht von der indischen Mythe des Eswara (Schiwa, Ixora) anfangen, wo man den i™eròv lógov bei der Zeugung antrifft. Auf dem silbernen Berge Calaia, wo der Gott thront, steht auf einem silbernen Tische eine silberne Glocke und eine Lotosblume, an welcher zwei Mädchen hervorragen, weiß und zart wie Perlen. Brigosiri und Tavesiri, Mund- und Zungenjungfrau, loben die Götter unausgesetzt. Mitten in der Blume ist ein Dreieck (Zeichen der weiblichen Schaam) mit dem männlichen Erzeugungsgliede in der Mitte konisch hervorragend. Dieses zusammen ist der wahre Lingam, und war auch der wahre Nabelstein der paphischen Göttin.15

Bemerkenswert an Böttigers ungeschriebener Geschichte des Phallischen ist, dass das älteste Symbol göttlicher Erzeugungskraft nicht der männliche Phallus, sondern der androgyne Lingam ist. Darauf insistiert Böttiger in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als das durch die Naturgeschichte entwickelte Konzept der Sexualität seinen siegreichen Einzug in die Kulturgeschichte hält. In Abgrenzung von seinen Vorgängern und Vorbildern Winckelmann, Caylus, Heyne und Millin hält Böttiger den Hermaphroditen nicht für »ein bloßes Geschöpf der üppigsten Kunst11 12 13 14 15

Ebenda, S. 56. Ebenda, S. 55. SLUB, h 37, Verm., 2°, Böttigers Verdienste um Alterthümer und Kunstsammlungen. Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus (wie Anm. 4), S. 210. Ebenda, S. 55.

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phantasie«.16 Zwar muss sich Böttiger nach Äußerung seiner Ansichten über die »Wirklichkeit androgynischer Zwitter«17 von seinem Freund Blumenbach mit der Vorhaltung, dass »bis dato auch nicht ein einziges unbezweifelbares Beyspiel der Verbindung der beiderley Sexualorgane in Einem menschlichen Individuum bekannt« sei,18 zurechtweisen lassen, doch bleibt er bei seiner Auffassung, dass das zweigeschlechtliche Wesen als »eine der merkwürdigsten Hieroglyphen des uralten Völkerglaubens«,19 »die ursprüngliche Vermischung beider Geschlechter«, »die alte Figur des göttlichen Mannweibes«,20 zur Darstellung bringe: Der indische Lingam in seiner vollendeten Gestalt (der männliche Phallus, Mierich, mit dem weiblichen Dreieck, Ioni verbunden), geht durch ganz Oberasien, Aegypten und Griechenland.21

Böttigers religionshistorische Gender-studies gehen nicht von sexueller Differenz und Identität aus. Auf das Konzept der ›Sexualität‹ rekurriert Böttiger noch nicht. * Das Aufbrechen der »vollendeten Gestalt« des Lingam in distinkte, sexualisierte Gestalten, bei welchem die ursprünglich zentrale androgyne Gottheit zum subalternen Genius herabsinkt, spricht Böttiger in der Amalthea an: Natürlich konnte in den Sacris Phallicis, worauf mehr oder weniger doch alle bacchischen Orgien begründet waren, nur in den dazu gehörigen Bachus-Einweihungen auch diese Spuren eines mannweiblichen Urwesens nicht ganz fehlen, so sehr sie auch durch LiberJacchus und Libera-Proserpina in den zwei Hauptfiguren getrennt schienen. Da wurden wenigstens die dienenden Genien hermaphroditisch, wie die vermischten Geschlechtstheile dieser geflügelten Diener und Brautführer auf hundert noch vorhandenen Vasengemälden zur Genüge zeigen.22 16 Karl August Böttiger: Hermaphroditen, in: Christoph Martin Wieland, [Friedrich Justin Bertuch, Karl Leonhard Reinhold, Karl August Böttiger]: Neuer Teutscher Merkur, 1805, März, S. 215–221, hier S. 216. 17 Karl August Böttiger: Ueber die Hermaphroditen-Fabel und Bildung. Als Zugabe von Herausgeber, in: Ders. (Hg.): Amalthea oder Museum der Kunstmythologie und bildlichen Alterthumskunde. Im Verein mit mehrern Freunden des Alterthums herausgegeben von C. A. Böttiger, Oberaufseher der K. Antikensammlungen in Dresden, auswärtigem Mitgliede der K. K. Academien der Wissenschaften in Berlin, München und Copenhagen, Mitgliede des Instituts des Königsreichs der Niederlande und der Königl. Societät der Wissenschaften in Göttingen, der Academien der Künste in Berlin und Wien, der archäologischen Academie in Rom und der Academie von den jonischen Inseln, der lateinischen Gesellschaft in Jena und vieler andern Gesellschaften, 3 Bde., Leipzig 1820–1825, Bd. 1, S. 352–366, hier S. 354. 18 Johann Friedrich Blumenbach an Karl August Böttiger, Göttingen, 12. Mai 1821, SLUB, h 37, 4°, Verm., Bd. 14, Nr. 18. – Die betreffende Passage dieses Briefes druckt Böttiger ab in: Ders.: Amalthea (wie Anm. 17), Bd. 2, S. XVII–XIX. 19 Böttiger: Ueber die Hermaphroditen-Fabel und Bildung (wie Anm. 17), hier S. 352. 20 Ebenda, S. 353. 21 Ebenda, S. 352f. 22 Ebenda, S. 354.

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Abb. 2 »Princip der Erzeugung« (Kunst-Mythologie) Sarkophag mit Bacchanal, Marmor

So äußert er etwa, dass das mannweibliche Urwesen bei Bacchus-Einweihungen in den zwei Hauptfiguren des Liber-Jacchus und der Libera-Proserpina getrennt erscheine.23 In dem Bemühen, durch die Beschreibung des Religionstransfers und der damit einhergehenden Vermischungen und Verwandlungen der Religionen die Kontinuität der Religionsgeschichte aufzuzeigen, identifiziert er den Lingam mit dem Phallus und lässt letzteren zum alleinigen Zeugungsprinzip werden, wenn er heraufbeschwört, wie »das orientalische Symbol des Sonnengottes, als der männlichen Erzeugungskraft auf der Erde, der Lingam oder Phallus, bald durch den aus Oberasien hervorbrechenden Sabaziosdienst, bald als Osiris, bald als Hebon-Minotaurus, bald als Bacchos und Dionysos auftritt, aber bei den Orgien in mystischen Kästchen und Körbchen verschlossen und endlich als Gott von Lampsacus zum plumpesten Fetisch aus Feigenholz geschnitzt wird; wie er aber auch durch den phönizischen Handelsverkehr an die Hermensäulen, als Abzeichen phönizischer Ansiedelung, angeheftet, sich aus jenen Hermen oder Tronks in den Pan auf dem Lande, in den Hermes oder Merkur in den Städten umgestaltet«.24 Die hauptsächlich in zwei Strängen, im Einzelnen aber über zahlreiche auseinander- und zusammenfließende Verzweigungen verlaufende Geschichte der Metamorphosen des phallischen Sonnenstiers erzählt Böttiger immer wieder. Dabei verbirgt sich das Erzeu23 Ebenda. 24 Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus (wie Anm. 4), S. 54f.

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Abb. 3 »Hieroglyphe des Unsichtbaren« (Kunst-Mythologie) Unterkörper eines phallischen Pan, Terrakotta

gungsglied bald in einem mystischen Körbchen, bald züngelt es als Schlange daraus hervor, bald verbindet es sich mit anthropomorphen Gottheiten, von welchen außer den bereits genannten auch Priapus und Hermes zu erwähnen sind.25 Da der Bock, »Princip der Erzeugung und der Urfetisch der Heerde« bei den arkadischen Ziegenhirten,26 und der Widder neben dem Stier »Repräsentanten aller Erzeugung bei Hirten und ackerbauenden Völkern« sind, fallen der bocksbeinige Pan und der widderförmige Ammon mit anderen phallischen Gottheiten zusammen.27 Aus Böttigers Sicht entwickeln sich die als Naturreligionen entstandenen Religionen im Rahmen eines auf Handel, Kriegen und Siedlungsbewegungen basierenden Kulturtransfers. Da ihre Symbole, aus dieser Perspektive betrachtet, ineinander übersetzbar sind, bildet der Phallus in Böttigers Augen ein universales zentrales religiöses Symbol. In den kunstmythologischen Vorlesungen von 1808 bestimmt Böttiger die Funktion der Religionen in enger gedanklicher Anlehnung an Gotthold Ephraim Lessings 1780 in Berlin erschienene religionsphilosophische Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts als zivilisatorisch:

Der Mensch ist zur Religion bestimmt und organisirt. Die Entwicklung dieser Organisation durch Völker- und Weltperioden heißt: Erziehung des Menschengeschlechts. Ein Volk erzieht sich Gott selbst durch Offenbarungen. Plan des Reiches Gottes auf Erden. Rechts und links Fehlgriffe des ahnenden, tastenden Verstandes, daß dies Sichtbare eine Hieroglyphe des Unsichtbaren sei.28

Hier stellt Böttiger die Offenbarungsreligion und somit auch das Christentum den nach der Wahrheit tastenden Religionen entgegen. Diese erfüllen aus Böttigers Perspektive jedoch in gleicher Weise wie das Christentum eine Erziehungsfunktion. Der Phallus ist eine Hieroglyphe des Unsichtbaren. 25 26 27 28

Böttiger: Amalthea (wie Anm. 17), Bd. 3, S. 413. Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus (wie Anm. 4), S. 204. Böttiger: Amalthea (wie Anm. 17), Bd. 3, S. 413f. Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus (wie Anm. 4), S. 154.

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Böttiger begreift die Religionen nicht von ihrer dogmatischen, sondern von ihrer sinnlichen und performativen Seite her. Man »stiftete […] die Geburtsfeier der neuen Götter in mimischen Tänzen und Hymnen«.29 Dabei erfüllten die Religionen laut Böttiger, indem sie durch Vergegenwärtigungen, Versinnlichungen und verinnerlichende Einübung von Normen eine Bändigung der Instinkte ermöglichten, eine zivilisierende Funktion: Nur durch heilige Scheu und stark-sinnliche Eindrücke konnte ja der wild herumschweifende Instinct gebändigt und jene Grundveste alles Völkerwohls und jener hellenischen Humanität, wodurch die Griechen im Gegensatz aller Barbaren zum einflußreichsten Mustervolk aller Zeitalter erhoben wurden, die e i nf ach e E h e (Monogamie) gestiftet werden. Götter vergegenwärtigen durch ihre eigene Vermählung den sinnlichen Anbetern am lebendigsten die Weihe der Ehe (das télov), und um die Versinnlichung so anschaulich und eindringlich als möglich zu machen, denkt man sich jederzeit den Bräutigam und die Braut selbst als Darsteller jener ersten heiligen Ehe, und alle Ceremonien, die bei der Hochzeitfeier vorkommen, kamen, der heiligen Ueberlieferung zu Folge, auch bei der ersten heiligen Götterhochzeit vor.30

Aber nicht nur die Monogamie wurde nach Böttigers Auffassung auf diese Weise gegen die Polygamie durchgesetzt, sondern auch die Liebe zum anderen Geschlecht gegenüber der Knabenliebe.31 * Der Bacchuskult rückt aus doppeltem Grunde in das Zentrum von Böttigers Interesse: Zum einen bündelt sich in ihm eine Vielzahl der von Böttiger beobachteten phallischen Traditionen, zum anderen bezieht sich eine große Anzahl der überlieferten Monumente auf ihn. In Böttigers Sammlung beziehen sich mehrere Texte und Objekte darauf. In seinen Ideen zur Archäologie der Malerei äußert Böttiger, dass wenigstens zwei Drittel von einigen Tausend Vasen auf den Bacchuskult Bezug nehmen. Diese Vasen wurden in der Regel in Gräbern gefunden. Daher äußert Böttiger die Vermutung, dass die Personen, denen diese Vasen beigegeben wurden, in die Mysterien des Bacchuskults eingeweiht worden waren.32 Nach Auffassung der Kirchen29 Karl August Böttiger: Ilithyia oder die Hexe, ein archäologisches Fragment nach Lessing, in: Ders.: Kleine Schriften archäologischen und antiquarischen Inhalts, gesammelt und hg. von Julius Sillig, 3 Bde., Dresden und Leipzig 1837/38, Bd. 1, S. 61–92, hier S. 68. 30 Karl August Böttiger: Die Aldobrandinische Hochzeit. Eine archäologische Ausdeutung von C. A. Böttiger. Nebst einer Abhandlung über dies Gemälde von Seiten der Kunst betrachtet, von H. Meyer, Dresden 1810, S. 63. 31 »Man darf dabei den Umstand nicht aus der Acht lassen, daß bei der allgemein herrschenden, an vielen Orten, wie in Theben, sogar als patriotische Sitte geheiligten Knabenliebe eine Darstellung, wo Eros selbst nur die Geschlechtsliebe begünstigte, selbst nur seine Psyche heirathete, als ein Gegengift gegen die unnatürliche Päderastie […] angesehen werden mußte.« Böttiger: Kunst-Mythologie. Zweiter Band (wie Anm. 5), S. 410. 32 Karl August Böttiger: Ideen zur Archäologie der Malerei. Erster Theil. Nach Maasgabe der Wintervorlesungen im Jahre 1811 entworfen von C. A. Böttiger, Dresden 1811, S. 177.

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väter bestand die geheime Lehre, der i™eròv lógov, der bacchischen Mysterien darin, dass ein Drache, eine heilige Schlange in der cista mystica, die Ceres oder Proserpina beschlafen habe, welche darauf den kleinen Iacchus geboren habe. Auf diese Weise seien die Bacchusorgien im griechischen Mutterland mit den der Ceres geweihten eleusinischen Mysterien verbunden worden. In Asien seien die Bacchusfeste mit Tänzen, Farcen und Mummereien zu rauschender Trommel- und Cymbelmusik gefeiert worden, wobei es vielleicht sogar Menschenopfer gegeben habe. Im griechischen Mutterland seien an die Stelle dieser Orgien streng geordnete Prozessionen sowie die Tragödie, die Komödie und das Satyrspiel getreten.33 Seien die Bacchusfeiern auch in Großgriechenland geordneter geworden, so blieb doch das wilde Treiben in viel stärkerem Maße erhalten. Es habe Ballette, improvisierte Possenspiele, mimische Episoden und Intermezzi gegeben. Auf den Vasengemälden, die nach Böttigers Meinung tatsächliche Szenen abbilden, sieht man Zither- und Flötenspielerinnen, auf den Reliefs, die bacchische Szenen aus der Vergangenheit liefern, dagegen Bacchantinnen mit Handtrommeln, Cymbeln und Kastagnetten.34 Bei den Satyrn habe es sich um verkleidete und maskierte Tänzer gehandelt. Die zottigen Hautbekleidungen sollten die tierischen Borsten andeuten. Die Tänzer hüllten sich in imitierte Pantherhäute und banden sich einen großen roten ledernen Phallus um.35 In Gegenwart des Zuges der Bacchanten, des Thiasos, sah man »eine ganze Menge von b est immten Satyr-stellungen, Sprüngen und Tänzen«. Dabei gab es kleine Ballette: Eine Mänade, die sich der Zudringlichkeit zweier Satyrn erwehrt oder die mit einem um die Wette hüpft oder ihm gegenüber tanzt.36 Spuren dieses Phallusdienstes fanden sich in den Städten Italiens noch unter der Römerherrschaft: nächtliche Zusammenkünfte, geräuschvolle Ausrufungen der Geweihten, asiatisches Trommel- und Cymbelgetön, fanatische Veitstänze älterer Frauen, welche, mit aufgelösten Haaren, die brennenden Fackeln in vollem Laufe schwangen und mit Schwefel und ungelöschtem Kalk auf dem Tiber in Brand setzten, zum Schluss des Ganzen heilige Gastmähler mit Vermischung der Geschlechter und Bäder.37 Im Anschluss an seine Schilderungen von Bacchanalen wirft Böttiger die Frage auf, »wie weit Sittenlosigkeit und Licenz durch diese Weihungen beider Geschlechter verbreitet und befördert worden sey«.38 Was Livius über den Bacchanalienunfug in Rom berichte, sei späte Ausartung. Schließlich kommt Böttiger aufgrund des sozialen Status der Bacchantinnen zu dem Schluss, dass es bei den Bacchanalen, gemessen an den sittlichen Kriterien des Altertums, nicht zu Normverstößen gekommen sei:

33 34 35 36 37 38

Ebenda, S. 186–188. Ebenda, S. 196. Ebenda, S. 200. Ebenda, S. 201f. Ebenda, S. 206–208. Ebenda, S. 232.

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Abb. 4 »eine ganze Menge von b est immten Satyr-stellungen« (Archäologie der Malerei) – Sarkophag mit Bacchanal, Marmor Uebrigens aber ist es sehr wahrscheinlich, dass die Weiber, welche die üppigern Tarantellen und Bacchustänze bei dieser Feier mit den verlarvten Satyrn tanzten, zu der Classe der freien Dirnen und Lustmädchen gehörten, die als musikalische Aufwärterinnen, als Tänzerinnen und mousourgoí, im Alterthum gleichsam dazu privilegirt waren, sich öffentlich darzustellen. Wenigstens ist diess von den Flötenspielerinnen, die wir auf unsern Vasen oft in prächtig gestickten Gewändern, oft sich zärtlichen Umarmungen preiss gebend, erblicken, eine ausgemachte Sache. Diese t i bicina e dienten, als freie Dirnen, jeder Art von Belustigung, und machten eine eigene Classe der alten Hetären […]. Hierdurch kann also im Geiste des Alterthums die Sinnlichkeit weder auf eine unerlaubte Weise gereizt, noch die wahre Sittlichkeit und Zucht ehrbarer Frauen und ihrer Töchter beleidigt worden seyn.39

Böttiger relativiert die Bedeutung von Gesten und körperlichen Interaktionen – dieselben Handlungen können in diesem Kontext kultisch und in jenem sittenlos sein – und historisiert den Umgang der Menschen mit ihrer Sinnlichkeit. * Die phallischen Symbole, aber auch die Darstellungen des weiblichen Geschlechts wurden auf unterschiedliche Weise materialisiert. Böttiger findet die Phalli gemalt, gebacken, auf Münzen, wo sie ihrerseits auf Textilien (dem Kleid der Astarte) dargestellt sind, in Leder, aus Ton und in Glas. Dabei konstatiert er eine enorme Differenz in der Funktion derartiger Darstellungen sowie der Objekte, die ihre materiellen Substrate bilden (Bl. 25r): 39 Ebenda, S. 232f.

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Abb. 5 »in Holz … aus Mehlteig … aus Wachs u. Thon« (Bl. 21r) – Einsatzphallos, Terrakotta Welch eine Kluft zwischen den heiligen Phallis, wie sie Lucian de dea Syra beschreibt u wie man sie auf Münzen des Demetrius II Königs von Syrien antrifft, wo die Astarte oder Göttermutter in einem langen Kleide erscheint, das von der Mitte bis unten mit einer Doppelreihe von emporstehenden Phallis besetzt ist […] und den o¢lisbov dekadáktulon, den die Milesischen Tribaden erfunden hatten, oder die skotinh epikouría in Aristophanes Lysistrata?

Hatten die Phallusdarstellungen auf dem Mantel der Göttin eine sakrale Bedeutung, so erfüllten die ledernen Phalli, die sich die Milesierinnen in die »Geburtstheile« steckten, eine profane Funktion. Bei diesem Vergleich konstatiert Böttiger zwischen beiden eine unermessliche Kluft. Oftmals sind Objekte isoliert überliefert. So stößt Böttiger bei dem Versuch der deutlichen Trennung der sakralen von der profanen Funktion immer wieder auf Schwierigkeiten, da der Einsatz der symbolischen Objekte in einem religiösen Kontext ja deren sinnliche Wirkung durchaus mit einschloss, wie Böttiger am Beispiel eines Kybelepriesters feststellt, der zu Ehren der Göttin aus einem gläsernen Phallus trinkt (Bl. 21r): Bekannt ist aus Juvenals Sat. II, 93. v it re o bibit ille Pr i a p o, in der Schilderung eines wei bi s ch en Pathicus aus der Sippschaft der die Geheimnisse der Bona Dea, der Cybele, feiernden Gallenpfaffen. Denn eigentlich war es ein wollüstiger Sinnenreiz für die Weiber und die zu Weibern in der Knabenliebe entarteten Männer.

Wenn Böttiger hier am Ende doch nicht die sakrale, sondern die profane Funktion (wollüstiger Sinnenreiz) als die eigentliche ansieht, so liegt das daran, dass Böttiger das negative Urteil des Satirikers, der ihm das Beispiel liefert, übernimmt, sowie daran, dass er sich niemals von den Wertungen seiner eigenen Zeit völlig freimacht. An anderer Stelle beschreibt Böttiger die heilige Wut der Gallenpriester sachlicher und insistiert dabei auf der Verankerung ihres Enthusiasmus in einer auditiven Kultur.40 * 40 »Der dieser Gottheit bewiesene Naturdienst gehört zu den mit heiliger Wuth und mit einer bis zum Wahnsinn gehenden Begeisterung begangenen Gebräuchen, von welchen man von der frühesten Vorwelt an in Asien die merkwürdigsten Spuren findet, zu den sacris enthusiasticis,

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Böttiger beobachtet den Übergang von der sakralen zur profanen Bedeutung der Phallica schon in der Antike. Er beobachtet in der Spätantike einen Säkularisierungsprozess, der durch eine Aufklärungsbewegung hervorgerufen worden war. Noch dampften ihre Altäre in den gesetzten Jahresfesten; noch wurden ihre Bildsäulen in Pomp und Schaugepränge durch die Strassen getragen, und Tempel und Theater füllten sich an den Tagen der Weihe mit Tausenden von Zuschauern. Allein von Anbetung wussten diese Zuschauer nichts mehr. Die Kunst selbst, welche in idealischen Göttergestalten schwelgte, war nur ein verfeinerter Sinnenreiz. Daher hielt auch der weniger Altgläubige, fest bei der Ueberzeugung, dass nur den uralten Bildern voll steifer, trockener Unform die Gottheit leibhaftig beiwohne. Die Volksreligion stellte sich vergeblich der heillosen Aufklärung der Philosophen und Spötter entgegen. Mit Füssen wurde göttliche und menschliche Satzung und Alles, was dem beschränkten, frommen Väterglauben das Heiligste gewesen war, weggestossen und zertreten.41

In dem von Böttiger beschriebenen Säkularisierungsprozess fallen die äußere Gestalt und die religiöse Bedeutung der Symbole auseinander. Während infolge der Aufklärung die Bedeutung des Symbols verschwindet, entfaltet sich gleichzeitig im Rahmen eines Ästhetisierungsprozesses die Gestalt des Symbols und entwickelt autonom in ihrer differenzierten Ausprägung (Verfeinerung) und durch ihre von der ursprünglichen Bedeutung emanzipierte Wirkung (Sinnenreiz) eine eigene Bedeutung. Den zitierten Passus aus der Isis-Vesper von 1809 nimmt Böttiger 1823 in einer überarbeiteten Fassung in Sabina an der Künste von Neapel auf: Noch dampften ihre Altäre an den gesetzten Jahresfesten, noch wurden ihre Bildsäulen in prächtigen Processionen durch die Strassen getragen, und Tempel und Theater füllten sich ihren Feiertagen mit Tausenden von Zuschauern. Allein von Anbetung wussten diese Zuschauer nichts mehr. Die Kunst schwelgte in Idealformen. Aber die wenigen Altgläubigen hielten fest an der Ueberzeugung, dass nur den uralten Bildern voll steifer, trockener Unform die Gottheit leibhaftig beiwohne. Alle später vollendete hohe Göttergestalten waren nur Augenlust der höchsten Kunstverfeinerung. Kurz, von den Ohren, die durch heilige Gesänge und erweckende Formeln einst die Seelen zur Andacht geweckt hatten, war auch in Absicht auf die Volksreligion aller Genuss in die Augen gewandert. Die

von welchen sich noch auf die neueste Zeit in den türkischen Derwischen und Fakirs eine Spur erhalten hat. Die heilige Wuth selbst wurde durch das Schlagen der Handtrommeln und Pauken und durch das Blasen großer Doppelpfeifen entflammt. Nichts hat auf rohe Gemüther einen stärkern Einfluß, als der einfachste Rhythmus, der gerade durch Schlagen der Handtrommel und jener lärmenden Instrumentalmusik in der phrygischen Tonweise hervorgebracht wurde. […] In dieser Wuth bildeten sich die davon Ergriffenen ein, sie wären Weiber, und entmannten sich, um den Weibern ganz gleich zu werden, trugen von nun an weibliche Kleidung und nannte sich Priester der Cybele, Galen, Galli, d. h. Wanderer. Sie bildeten einen eignen Orden, wovon der Ordensgeneral Archigallus hieß.« Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus (wie Anm. 4), S. 281f. 41 Karl August Böttiger: Die Isis-Vesper. Nach einem Herculanischen Gemälde, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 210–230, hier S. 212.

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René Sternke gepriesenen Götter Griechenlands waren in diesem Zeitalter Roms durchaus zu einem leeren, aber ästhetisch-vollkommenen Schaugepränge herabgesunken.42

Neu sind in dieser Fassung die Kategorien des ›Ästhetischen‹ und des ›Vollkommenen‹, die den Ästhetisierungs- und Autonomisierungsprozess noch deutlicher charakterisieren, sowie der Diskurs über die Sinne, welcher die im 20. Jahrhundert von McLuhan reaktivierte These der Ablösung einer auditiven durch eine visuelle Kultur vorträgt. Der Ausdruck ›Augenlust‹, der auch in Böttigers Charakteristik des Sports erscheint,43 zitiert in Luthers Übersetzung den ersten Brief des Johannes, in welchem der Apostel die Gläubigen auffordert, sich von der Augen Lust und des Fleisches Lust abzukehren, die der Welt und nicht dem Vater zugehörten.44 Böttigers Beschreibung der Profanierung der sakralen Symbole durch Ästhetisierung antizipiert Raoul-Rochettes Vorstellung von der Entstehung der ›Pornographie‹. Die Theologie der Griechen habe die Darstellung einer Reihe von Gegenständen, die dem Anstand (l’honnêteté) widersprächen, zugelassen, die sich im hieratischen Stil nur an das religiöse Empfinden gewandt hätten. Später als die Kunst sich vervollkommnet habe und die Gesellschaft der Sittenverderbnis anheimgefallen sei, seien diese Darstellungen unter den Händen geschickter Künstler zu einem Medium geworden, um die glühende Fantasie zu verführen und den unmoralischen Leidenschaften zu schmeicheln.45 * Die noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts an einem abgelegnen Ort in Italien in den katholischen Kult integrierten wächsernen Phalli beweisen, dass die profane Funktion des Phallischen die sakrale nie vollständig ablöst. Zu seiner Aufzählung der in der Antike nachweisbaren gläsernen, wächsernen, tönernen und gebackenen Phalli notiert Böttiger am Rande (Bl. 21v): »Hierher gehören auch die wächsernen Priapen, die in der Kirche von St. Cosmo zu Isernia als Amulete vertheilt wurden, und vom Ritter Hamilton aufgespürt den engl. Archäologen Robert Paine Knight veranlaßten sein Buch on the worship of Priapus zu schreiben.« Eine Reihe der von Böttiger gesammelten phallischen Darstellungen erfüllen eine solche apotropäische Funktion. 42 Karl August Böttiger: Sabina an der Künste von Neapel, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 29), Bd. 3, S. 243–301, hier S. 244f. 43 Vgl. den Beitrag von Felix Saure im vorliegenden Band, S. 116. 44 Joh. 2,15–16. 45 »La théologie des Grecs admettait, dans un sens positif ou allégorique, une foule d’images contraires à l’honnêteté, qui d’abord, présentées sous une forme sacerdotale, dans un style de convention hiératique, n’exprimaient que des dogmes sacrés, et ne s’adressaient qu’au sentiment religieux ; mais qui, pus tard, à mesure que l’art s’était perfectionné, au sein d’une civilisation corrompue, devinrent, entre les mains de peintres habiles, des moyens propres à séduire des imaginations ardentes et à flatter des passions immorales.« Raoul-Rochette: Désiré Raoul-Rochette: Peintures antiques inédites précédées de recherches sur l’emploi de la peinture dans la décoration des édifices sacrés et publics, chez les Grecs et chez les Romains ; faisant suite aux Monuments inédits, par M. Raoul-Rochette, Paris 1836, S. 246.

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Bereits 1795 bemerkt Böttiger in einem Aufsatz im Neuen Teutschen Merkur, dass der Phallus »Symbol der Fruchtbarkeit« und »das kräftigste Verwahrungsmittel gegen alle Zaubereien« war:46 Aus mehreren Stellen, z. B. bei’m Martial III, 68., wird es deutlich, dass der Phallus auch zur Verwahrung der Gärten gebraucht wurde. Gewiss ist es, was auch neuerlich Bartels in seinen Briefen über Calabrien und Sicilien […] wieder erinnert hat, dass die Alten bei der Gewöhnung an das Nackende und der religiösen Ideenverbindung, die man dabei hatte, kein so schlüpfriges Bild daran erblickten, als wir uns vorstellen. So war es lächerlich, dass man in dem wiederaufgegrabenen Pompeji ein Haus, vor welchem ein Priap als Entzauberungsmittel angebracht war, für ein Bordell erklären wollte. […] So ist der Phallus auf der Vase im Palast Chigi ein bloses Amulet.47

Der »nichts weniger als obscöne Priapus« habe »seiner ursprünglichen Bedeutung nach« »durch das, was ihn auszeichnet, nicht den Dieben eigentlich, sondern den bösen Zungen und Augen wehren« sollen. Diesen Helfer »gegen allen Zauber« hätten »fromme Personen« als Amulette getragen.48 Es liege bei diesen Vorstellungen »die Idee von der erzeugenden Naturkraft« zum Grunde.49 Die Wirkungsweise der Amulette, mit welchen sich auch eines der Bücher in Böttigers Sammlung, Ueber die Amulete und das, was darauf Bezug hat von Joseph Emele, beschäftigt (Bl. 8r), die Herbeiführung des Sieges der erzeugenden Naturkraft über den bösen Zauber, sieht Böttiger in der Ablenkung des bösen Blickes: »Baskánia hiessen eben alle die lächerlichen und hässlichen Dinge, wodurch man die Fascination verhindern wollte.«50 Böttiger geht davon aus, dass »die von frommen Personen als Amulete in Ringen« getragenen Phalli »erst später von der befleckten Einbildungskraft ausgemergelter Wollüstlinge beflügelt und in unsaubere Spintrien verwandelt« worden seien: »Spätere Raffinements ausgearteter Wollüstlinge«.51 Böttiger sammelt derartige Darstellungen (Bl. 36r) und interessiert sich in seinen Fragen an Blumenbach dafür, ob es eine physiologische Veranlassung zu dem Glauben an den bösen Blick geben könnte, der mit derartigen Amuletten abgewiesen werden sollte, und versucht auf diese Weise ein weiteres Mal, natur- und kulturgeschichtliche Studien zu verbinden (Bl. 31r–v): Alle diese goldnen und bronzenen Glieder mit Kettchen und Bändern zum Aufhängen sind Amulete gegen die giftigen Augen, gegen den báskanov, fascinatio? Wie kam man wohl auf die sonderbare Vorstellung, daß aus dem Blick eines Menschen ein schädlicher Zauber hervorgehen könne? Giebt es eine physiologische Veranlassung zu diesem Ammenwahn? Der fascinus in der Mitte mit der längsten Kette hat eine Hand an der einen Seite. Da sind

46 Karl August Böttiger: Ueber das Wort Maske und über die Abbildungen der Masken auf alten Gemmen, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 29), Bd. 3, S. 402–413, hier S. 405. 47 Ebenda, S. 406, Anm. **). 48 Ebenda, S. 406f. 49 Ebenda, S. 407, Anm. *). 50 Ebenda, S. 408, Anm. ***). 51 Ebenda, S. 407, Text und Anm. *).

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René Sternke offenbahr einige Finger weggebrochen. Den[n] die Hand sollte wieder, das männliche Glied bilden, die so genannte Feige durch den digitus infamis, den Mittelfinger, bilden. Ist diese Mutmaaßung wahrscheinlich?

In seiner Besprechung des Real Museo Borbonico im dritten Band der Amalthea erläutert Böttiger, dass auch der in Pompeji mehrmals vorkommende Phallus, das männliche Glied, welches an mehreren Häusern in plastischen Formen zu sehen sei, »keineswegs ein sogenanntes balneum venerium, (ein Bagnio im verworfnen Sinn,)« bezeichne, sondern »ein figurirtes praefiscine, ein probaskánion« sei und wundert sich darüber, dass noch die neueren Beschreiber Pompejis darüber im Zweifel sein konnten.52 In Bezug auf eine der Abbildungen aus Begers Thesaurus (Bl. 37r) plädiert er jedoch für eine Einordnung des dargestellten Objekts in die Sphäre antiker Libertinage (Bl. 31v): Ich erkläre mir diese Figur so: Um die höchste Geilheit auszudrücken, gab man dem Mistfinken hier einen Hahnenkamm und auch die Wammen (palcaria) des Hahns. Was er in beiden Händen hält sind verschiedene Gewichte, die er sämtlich, um die unüberwindliche Standhaftigkeit seiner Erection zu beurkunden, noch anzuhängen gesonnen ist.

Blumenbach bezweifelt in seiner Antwort, dass es sich um Gewichte handle, und rangiert diese bildliche Darstellung, indem er auf »eine 2armige Bronze, einerseits mit einem phallus anderseits mit einer Hand welche die Feige macht und unter beiden an Kettchen ein Paar Anhänger (fast wie das hier an der linken) die ich doch ehe für Klöckchen halten würde«, in Quirinis Sammlung verweist, ebenfalls unter die apotropäischen Objekte (Bl. 31v). * Auch die Olisboi, deren profane Funktion zutage liegt, haben nach Böttigers Auffassung ihren Ursprung in den mit religiösem Bezug geschaffenen Nachbildungen der Phalli. Ebenso gehören entsprechende Trinkgefäße in den profanen Bereich (Bl. 22r): »Eine eigene, gleichsam symbolische Art des a¬rretopoieijai, der irrumatio, war, daß man Trinkgefäße und Geschirre verfertigte, die in der Gestalt von Priapen und weiblichen Muscheln beim Trinken an diese unnatürliche Wollust erinnerten.« Indem sie die Symposiasten beim symbolischen Vollzug des Oralverkehrs an denselben erinnerten, dienten sie ihnen zum sinnlichen Genuss (Bl. 21v): »So wie man nun hier das männliche Glied trank oder aß, so geschah es auch mit dem weiblichen. Die Männer erhitzten sich durch dergleichen bei ihren Tafelgenüssen.« So hat die Wollust ihre spezifischen Medien, die Olisboi, die Trinkgefäße, die Aphrodisiaka usw. *

52 Karl August Böttiger: Ueber das neue Werk Museo Borbonico, in: Ders.: Amalthea (wie Anm. 17), Bd. 3, S. 337–342, hier S. 340, Anm.

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Abb. 6 »So ritt also gleichsam das Mädchen auf dem Phallus« (Scäma III, Bl. 13r) – Bildlampe, Ton

In den profanen Bereich gehören auch die Liebestechniken der Hetären, die Schemata, die Modi. Böttiger beobachtet innerhalb der Professionalisierung Spezialisierung. Er beschreibt die Techniken. Er sammelt die Versuche ihrer quantitativen Erfassung: mal sieben, mal 1000 nach Ovid (Bl. 3r), zwölf bei Aretino (Bl. 9r), zehn bei den Chinesen (Bl. 7v). Er etabliert den Zusammenhang zwischen Physiologie und Kulturtechnik: »Alzuschlanke Frauen paßten nicht gut dazu: Kurze gedrungene Figuren waren die besten«, heißt es zu Schema III (Bl. 15r). Als Technik ist die Liebe auch eine Kunst. In Anlehnung an Ovids Ars amatoria, in welcher diese Kunst Gegenstand der Dichtkunst ist, sieht Böttiger die Liebeskunst in Parallele zur Schifffahrtskunst und zur Reitkunst. Dementsprechend leitet er die Termini technici etymologisch her. Auch in seiner Schrift Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze durch Kunstwerke im antiken Geschmacke bezeichnet Böttiger bei der Behandlung der antiken Reitkunst »die verschiedenen Stellungen der Schule« als »schemata«.53 Beide Künste werden aber auch, wie übrigens auch Musik, Theater usw., wettkampfmäßig ausgeführt (Bl. 13r): »Als die Reitekunst algemein über die frühere Fahrkunst die Oberhand behielt, bekam kelhv die besondere Bedeutung, daß es einen Wett53 Karl August Böttiger: Ueber Verzierung gymnastischer Uebungsplätze durch Kunstwerke im antiken Geschmacke, Weimar 1795, S. 14.

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renner, equum desultorium bezeichnet, und so gehörte der kelhtismóv in die Agonistik der Alten.« Auch die Hetären üben ihre Kunst wettkampfmäßig aus (Bl. 31v): Da alles im Alterthum ein Wettkampf wurde, da die Huren einen Wettkampf anstellten, welche wohl am wollüstigsten die hintern Backen u Hüften bewegen könne, so mag es wohl auch Bocksnaturen gegeben haben, die ihre Lendenkraft dadurch erprobten, daß sie so viel Pfund an das rigidum cornu, wie es in den Priapejen heißt, aufhingen u. andre damit herausfoderten.

Da sie also einen Schauwert besitzt, ist die Hetärenliebe nicht nur sinnlicher Genuss, Geschäft, Kunst, Technik und agonistische (sportliche) Disziplin, sondern auch Spektakel, Show. * Der Ausdruck ›figura‹ – seine griechische Entsprechung lautet scñma – ist aber auch ein rhetorischer, grammatischer und logischer Terminus. César Chesneau Dumarsais leitet ihn in der Encyclopédie 54 von ›fingere‹, in der Bedeutung ›efformare, componere, former, disposer, arranger‹, her. In Anlehnung an Scaliger versteht er eine besondere Form der Anordnung, disposition, eines oder mehrerer Wörter. Diese besonderen Abweichungen, in denen die Wort- und Denkfiguren bestehen, beziehen sich auf einen Ur- oder Grundzustand (état primitif ou fondemental) der Wörter oder Sätze. In seiner Abhandlung Des tropes definiert Dumarsais die Figuren als Redeweisen, die sich von den natürlichen oder gewöhnlichen entfernen. Étienne de Bretteville sehe in ihnen Denk- und Ausdrucksformen, deren man sich im Allgemeinen nicht bediene.55 In Analogie dazu stellen auch die Schemata des Liebesakts eine kunstvolle Kommunikations- und Erkenntnisform dar, die von der gewöhnlichen oder natürlichen abweicht. Auch diese Bedeutungsdimension muss mitgedacht werden, wenn Böttiger von »unnatürlicher Wollust« (Bl. 22r) und »unnatürlichem Beischlaf« (Bl. 23r) spricht. Auch in der Unordnung erkennt er eine Ordnung, denn das Schema III ist ihm »gleichsam das zweite Hauptschema nach dem ordentlichen Beischlaf selbst« (Bl. 13r). Die Modi scheinen für Böttiger die Figuren einer universalen Rhetorik der Liebe zu sein. Er setzt »die 12 Aretinischen Grupen/Figuren nach Giulio Romano« in eine Beziehung zu den Künsten der dwdekamäcanai. Er nennt »10 Stellungen des Beischlafs bei den Chinesern«. Auch in seinen Ausführungen über »Juno die Schwanzsaugerin« (Bl. 18r) bemerkt er: »Uebrigens ist zwischen diesem Orphischen Skandal und den Reliefs in den Pagoden von Canova, die Townley in Kupfer stechen ließ, eine unverkennbare Verwandschaft.« * 54 Vgl. César Chesneau Dumarsais: Des tropes ou des différents sens, Figure et vingt autres articles de l’Encyclopédie, suivi de L’abrégé des tropes de l’abbé Ducros. Présentation, notes et traduction : Françoise Douay-Soublin, Paris 1988, S. 317–336. 55 Vgl. ebenda, S. 62.

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Phallische Darstellungen sakraler oder profaner Natur sind durch eine Vielzahl antiker Objekte überliefert. Bildete die Wollust aber auch einen spezifischen Gegenstandsbereich der Kunst? Und gibt es eine spezifische Gruppe von Kunstwerken, die der Erregung der Wollust dienten? Diese Fragen sind jenen Blättern implizit, welche die Überschriften »Wollüstige Gemälde« und »Ueppige Gemälde« tragen. Auf dem ersten der beiden Blätter führt er ein Beispiel dafür an, dass es Gemälde gab, die der Erregung der Wollust dienten. Böttiger hatte bereits als Schüler auf Schulpforta begonnen, eine Terenzedition vorzubereiten. 1794 hatte er eine Abhandlung über die Masken ausgehend von Terenz’ Phormio und 1795 eine Probe seiner Edition publiziert. Hier zitiert er die Stelle aus dem Eunuchen, in welcher Chärea, ein 16-jähriger junger Mann, schildert, wie er auf der Suche nach einem von ihm geliebten Mädchen in einem Haus – es handelte sich um das Haus einer Hetäre – ein Gemälde betrachtet habe, auf welchem dargestellt war, wie Jupiter als goldener Regen in den Schoß der Danae fließt. Chäreas Bericht mündet in eine ausgiebige Schilderung seiner Empfindungen. Böttiger bezieht sich mit folgenden Worten auf diese Szene (Bl. 27r): In dem Hause der Buhlerinnen hingen wollüstige Gemälde. Bekannt ist die Szene im Castraten des Terenz, wo Chärea sich durch den Anblick des als Goldregen herabfließenden Zeus im Schooß der Danae mächtig aufgeregt fühlt.

Das Sujet des Bildes (die symbolische Darstellung des Koitus), der Ort, an dem es seine Funktion erfüllen soll (ein Lupanar), und die Vorführung seiner Wirkungsweise (die starke Erregung des jungen Chärea) deuten darauf hin, dass die »wollüstigen Gemälde« eine besondere Klasse bilden. Das Beispiel sollte auch Eingang in das Kapitel De la pornographie von Raoul-Rochettes Peintures antiques inédites finden.56 Böttiger bemerkt im Anschluss (Bl. 27r): »Daher wird es in der lächerlichen Pectation, die in der Eselskomödie (Asinaria) des Plautus IVV, 1.) ein Liebhaber durch den Parasit für sein Mädchen entwerfen läßt, auch mit stipulirt.« Er führt die mit seiner Interpretation übereinstimmenden Urteile der Philologen an. * Der Abschnitt »Ueppige Gemälde« lässt sich als Versuch deuten, derartige Gemälde als spezifisches Genre der Malerei zu fassen: Ueppige Gemälde. Aristides, Pausanias u. Nikophanes hießen pornográfoi. Athenäus XIII, II. Von Parrhasius sagt Plinius Pinxit et minoribus tabellis libidines, eo genere petulantis ioci se reficiens. Eine eigne kleine Sammlung von Vasenbildern in der Art veranstaltete Mil lin für Dilettanten in dieser Gattung. Eine sehr wollüstige Szene findet sich auf einem Vasengemälde in Millingen’s Peintures antiques et inedites des vases pl. XXVII. wo Millingen in der Erklärung S. 45 einige feine Bemerkungen über dieß Genre macht. 56 Raoul-Rochette: Peintures antiques inédites (wie Anm. 45), S. 266f.

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Die Deipnosofistaí des Athenaios liefern den einzigen antiken Beleg für das Wort ›Pornograph‹. In der entsprechenden Passage57 wird dem Sophisten Myrtilos der Vorwurf gemacht, er ziehe nicht etwa mit seinen Freunden, sondern seinen Freundinnen, begleitet von einem Schwarm von Kupplerinnen, durch die Tavernen und kolportiere unermüdlich gewisse Bücher des Aristophanes, Apollodoros, Ammonios, Antiphanes und Gorgias von Athen, all jener Leute, die über die Hetären geschrieben hatten, so dass man ihn wie die Maler Aristeides, Pausias und Nikophanes, von deren großem Geschick, diese Frauen zu malen, Polemon in seinem Buch über die Malerei von Sikyon berichtet, ›Pornographen‹ nennen könne. Hier wird das zur Bezeichnung der Verfertiger figurativer Hetärendarstellungen dienende Wort auf die über Hetären schreibenden Autoren übertragen. Raoul-Rochette wird Athenaios’ Verweis auf Polemons Buch Perì tøn e¬n Sikuøni Pinákwn als Beleg dafür ansehen, dass die Griechen die ›Pornographie‹ als eigenes Genre kannten.58 Böttiger scheint in ebendiese Richtung zu steuern, wenn er diese Stelle mit derjenigen aus Plinius’ Historia naturalis zusammenstellt,59 an welcher es heißt, dass Parrhasius zu seiner Erholung in sehr kleinem Format Bilder der Wollust, Bilder im laszivsten Genre (»du genre le plus lascif«), wie sich Raoul-Rochette ausdrückt, der diese Passage im Anschluss an das Athenaios-Zitat anführt,60 gemalt habe. Hier wird mit dem Ausdruck ›tabulæ libidines‹ eine weitere mögliche Bezeichnung für diese Klasse von Bildern ins Spiel gebracht. Böttiger greift Plinius’ Ausdruck ›genus‹ auf, wenn er in Bezug auf die von seinen Freunden Millin und Millingen vorgelegten Zusammenstellungen von Bildern »in der Art« die Ausdrücke »diese Gattung« und »dieß Genre« verwendet. * Als der Benediktinerpater Montfaucon 1719 L’Antiquité expliquée, et représentée en figures vorlegte, war er seit 34 Jahren durch seinen Orden damit beauftragt, über die Kirchenväter zu arbeiten. Ihm war klar geworden, dass man deren Texte, die die Kenntnis der Geschichte und Mythologie der Griechen und Römer sowie anderer Völker voraussetzen, nicht verstehen könne, ohne sich eingehend mit dem Profanen zu beschäftigen. Götter, Helden, Kulte, Alltagsgebräuche, Kleidung, Möbel, Vasen, Geld, Maße, Bäder, Hochzeiten, Spiele, Pracht, Jagd, Fischfang, Künste, Kriege, Fahrzeuge, Wegebau, Brücken, Aquädukte, Schifffahrt, Kriegswesen, Begräbnisse, Beleuchtungen und Foltern – alles musste genau untersucht werden. Zu Böttigers Plänen gehörte über lange Zeit ein neuer Montfaucon.61 Doch das Erkenntnisinteresse hatte sich zu seiner Zeit gewandelt. Man hatte begonnen, die Realia um

57 58 59 60 61

Ath. XIII 567, a. b. Raoul-Rochette: Peintures antiques inédites (wie Anm. 45), S. 254f. Plinius XXXV, 9, 36. Raoul-Rochette: Peintures antiques inédites (wie Anm. 45), S. 255. Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs, Berlin 2008, S. 268–277.

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ihrer selbst willen zu studieren. In Böttigers Studien über die Phallica werden die Kirchenväter als Zeugen aufgerufen, von der Existenz einschlägiger Kunstwerke zu berichten. »Die Kirchenväter haben uns in ihrem heiligen Eifer Pröbchen von dieser Leichtfertigkeit aufbewahrt, die allerdings fast allen Glauben übersteigen«, notiert Böttiger (Bl. 17r). Er referiert ausgiebig die Schilderung eines Bildes durch Origenes und resümiert (Bl. 17r–v): Die Juno war also als múzouriv, fellatrix, Schwanzsauger in auf diesem Bilde vorgestellt. Den[n] das heißt der Grieche a¬rrhtopoieîn […].

Den Vorwurf, dass »die Götter mit menschlichen Leidenschaften aufgestellt« worden seien, findet er dann auch bei Diogenes Laertios, der ihn gegenüber Orpheus erhoben habe. – Beim Zitieren der Kirchenväter werden aber nicht nur deren Aussagen angeführt und philologisch hinterfragt, sondern auch deren Reaktionen: der »heilige Eifer« der Kirchenväter, der »fromme Unwillen« des Origenes. Böttiger schreibt, wenn er diese historischen Gefühle und Wertungen referiert, gleichzeitig zu der Geschichte der Phallica eine Geschichte ihrer Rezeption. * Böttigers erotisch-antiquarische Studien beschränken sich nicht auf die Antike, sondern sie sind auf der Suche nach einem Standpunkt, von welchem aus die gesamte Geschichte überschaut werden kann. Der Abschnitt über die Bedingungen, unter denen Prostitution gesetzlich wird, macht das deutlich (Bl. 30r): Über die gesetzliche Hurerei. Sie wird gesetzlich a) durch die Religionsgebräuche. Herodot. I. 93. S. Heyne de more Babyloniorum in den Commentatt. Gott. T. XVI. b) durch gesetzliche Bordells. Venedig vertrieb einst die Huren, musste sie aber, um die Ehre ehrbarer Frauen zu sichern, zurückrufen, u. in den deswegen erlassenen Proclama nost re bene mer ite mere t r ici heissen. S. Maier Beschreibung von Venedig II, 188. 89 nebst Reinhards Moral I, 546. neue Ausgabe.

Die beiden Beispiele, von denen das eine der Antike, das andere der christlichen Moderne entnommen ist, zeigen die gesetzliche Prostitution als transhistorisches Phänomen; sie verdeutlichen aber auch den Gegensatz zwischen Antike und Moderne: In der Antike wird die gesetzliche Prostitution durch die Religion motiviert, so dass die Prostituierten dem sakralen Bereich angehören. In der Moderne sind es pragmatische, d. h. profane Erwägungen, die zu einer Legitimierung der Prostitution und zu einer relativen Hochschätzung der Prostituierten führen. In beiden Fällen ist die Prostitution eine Einrichtung, die der Aufrechterhaltung, Regulierung und Harmonisierung des sozialen Zusammenlebens dient. Das moderne Beispiel zeigt, dass die konsequente Anwendung der christlichen Moral durch das rigorose Verbot der Prostitution zumindest in dieser konkreten Situation nicht durchführbar war. * 229

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Böttigers Notizen über »das sogenannte ius luxandae coxae oder Cunnagium, welches die alten Grafen von Lyon ausübten i.e. licentia prima nocte cum sponsa concumbendi oder das ius primae noctis« (Bl. 6r) beschäftigen sich ebenso wie diejenigen über die gesetzliche Prostitution (Bl. 30r) mit der Tatsache, dass die Übertretung des christlichen Gebots »Du sollst nicht ehebrechen« 62 in der christlichen Ära durchaus legitimiert sein kann. Solche Körperhandlungen, die nur von den Ehegatten innerhalb der Ehe unternommen werden dürfen, werden hier durch eine dritte Person, den Herrscher, mit der Braut ausgeführt, um die Ehe zu begründen. Der Beischlaf zwischen diesen beiden Personen dient u. a. der Markierung und Befestigung der sozialen Ordnung und der Bestätigung sozialer Abhängigkeitsverhältnisse. Wenn Böttiger auf demselben Blatt (Bl. 6r) feststellt, dass »Bonus homo für einen Cocu, Hanrey […] in einer vorgeblich alten Inschrift« vorkomme, bestimmt er den Hahnrei als modernen Typus, der vor der Folie der christlichen Moral auftritt. Das Christentum erweist sich als eine Form der sittlichen Regulierung, die aufgrund ihres Rigorismus Ausnahmen und Normübertretungen mit sich bringt. * Böttigers Aufzeichnungen dokumentieren das moderne Comeback der antiken Phallica exemplarisch. Das früheste Beispiel, das Böttiger liefert, ist Antonii Panormitae Hermaphroditus, ein Werk aus der Feder des Antonio Beccadelli (1393–1471), das Friedrich Karl Forberg ediert und Johann Georg Meusel 1824 in Coburg verlegt hatte (Bl. 8r). In der Renaissanceepoche wurden die verschiedenartigsten antiken Texte wiederentdeckt und nachgeahmt. Die Priapeien sowie Martials Satiren regten Antonio Beccadelli zu Nachahmungen an, die er zu einer zweiteiligen Sammlung mit dem Titel Hermaphroditus fügte. Die Titelwahl wird damit begründet, dass das Buch sowohl den Cunnus als auch die Mentula, also das weibliche wie das männliche Geschlechtsorgan, vorweisen könne,63 womit der Inhalt des Werkes auch schon ziemlich genau charakterisiert ist. Gewidmet sind die Verse dem über Florenz herrschenden Cosimo de’ Medici dem Älteren (1389–1464), dem Begründer der Accademia platonica. In einigen der Gedichte, die den Mäzen umschmeicheln, wird die dem Buch zugedachte Funktion genau bestimmt. Mit heiterer Seele und in Verachtung des Gemeinen möge der Widmungsträger dieses Buch, obgleich es lasziv sei, lesen und so wie der Autor dem Beispiel der Alten folgen.64 Um von den Sorgen, 62 Mose 20,14. 63 »Si titulum nostri legisti, Cosme, libelli, / Marginibus primis Hermaphroditus erat. / Cunnus et est nostro simul est et mentula libro; / Conveniens igitur quam bene nomen habet.« L’Hermaphrodite de Panormita (XV e siècle). Traduit pour la première fois. Avec le texte Latin et un choix des Notes de Forberg, Paris 1892, S. 4. 64 »Ad Cosmum Florentinum ex illustri progenie Medicorum virum clarissimum, quod spreto vulgo libellum æquo animo legat, quamvis lascivum, et secum una priscos viros imitetur.« Ebenda, S. 2.

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welche die Macht ihm bereite, auszuruhen, möge Cosimo diesen Band lesen. Lachen würde er hervorrufen und selbst das Glied eines Hippolyt aus dem Schlaf holen. Becadelli meinte, den Spuren der alten und weisen Dichter zu folgen, deren Leben sittsam gewesen sei, obgleich ihre Schreibtafeln voller Obszönitäten waren. Der dumme Pöbel hingegen sorge sich nicht um die Kenntnis der Alten, sondern bekümmere sich nur um seinen Bauch.65 Somit sieht Beccadelli das auf Belustigung und erotische Stimulation abzielende literarische Spiel mit dem Lasziven und Obszönen nicht als etwas Vulgäres, sondern sogar als eine vom Vulgären distinguierende Beschäftigung an. Publikum und Rezeptionssituation werden folgendermaßen bestimmt: Der erste Teil könne den Gästen nach dem Morgenmahl, der zweite den Betrunkenen nach dem Gastmahl vorgelesen werden.66 Die Matronen und keuschen Jungfrauen mögen sich, während das Buch, das immer unter der Gestalt des Hermaphroditus imaginiert wird, sein Glied aus dem offenen Hosenschlitz hervorschnellen lässt, entfernen, Nichina und die an den Anblick nackter Männer gewöhnte Ursa hingegen, zwei Huren, deren Aktivitäten in verschiedenen Gedichten näher geschildert werden, sind unter die Zuhörer geladen.67 Als sich Beccadelli später zu der Publikation dieses Jugendwerkes entschied, erntete er zunächst das Lob solcher Kenner wie Gian Francesco Poggio Bracciolini, Giovanni Pontano und Battista Guarini. Später verdammte das Konzil von Konstanz (1414–1418) das Buch, es wurde öffentlich in verschiedenen italienischen Städten verbrannt, die Verbrennung seines Autors gefordert.68 Indem er die Kategorien des Lasziven und des Obszönen zur Charakterisierung seines Werkes einsetzte, bewertete und rechtfertigte Beccadelli die Freiheiten, die er sich genommen hatte und die als Verstöße gegen die Moral verurteilt werden sollten, als poetische Lizenzen, Verstöße gegen den gewöhnlichen Sprachgebrauch, die ihm durch die Existenz illustrer Vorbilder und die Besonderheit und Exklusivität der Redesituation gerechtfertigt schienen. * 65 »Si vacat a patrii cura studioque senatus, / Quidquid id est, placido lumine, Cosme, legas. / Elicit hoc cuivis tristi rigidoque cachinnos, / Cuique vel Hippolyto concitat inguen opus. / Hac quoque parte sequor doctos veteresque Poetas, / Quos etiam lusus composuisse liquet, / Quos et perspicuum est vitam vixisse pudicam, / Si fuit obsceni plena tabella joci. / Id latet ignarum vulgus, cui nulla priores / Visere, sed ventri dedita cura fuit, / Cujus et hos lusus nostros inscitia carpet.« Ebenda, S. 2 und 4. 66 »Ad Cosmum, virum clarissimum, quando et cui legere libellum debeat / Hactenus, o patriæ decus indelebile, panxi, / Convivæ quod post prandia, Cosme, legas. / Quod reliqui est, sumpta madidis sit lectio cœna, / Sicque leges uno carmina nostra die.« Ebenda, S. 62. 67 »Ad matronas et virgines castas / Quæque ades, exhortor, procul hinc, Matrona, recede; / Quæque ades, hinc pariter, virgo pudica, fuge. / Exuor, en bracis jam prosilit inguen apertis, / Et mea permulto Musa sepulta mero est. / Stet, legat et laudet versus Nichina procaces, / Adsueta et nudos Ursa videre viros.« Ebenda, S. 6. 68 Vgl. ebenda, Avertissement, S. V–X, hier S. VI.

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Abb. 7 »hier ist der gewöhnliche Beischlaf geschildert« (Bl. 13v) Reliefplatte, Terrakotta

Als Giulio Romano bei der Ausmalung der Sala di Constantino im Vatikan verschiedene Modi zeichnete, knüpfte er an Darstellungen an, wie sie auf antiken Bordellmarken überliefert sind. Aus Athenaios und Plinius war auch bekannt, dass die berühmte Hetäre Elephantis ein illustriertes Buch über die figuræ Veneris verfasst hatte. Da erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Exemplar der Stiche Marcantonio Raimondis wieder aufgefunden worden ist, konnte Böttiger dessen Darstellungen nicht kennen. Bekannt waren ihm die Sonetti lussuriosi Aretinos und ähnliche Darstellungen von Camillo Procaccini oder Agostino Carracci. Er selbst besaß »12 Zeichnungen, in einer kleinen Mappe« sowie »die 8.9.10.te Gruppe daraus gemalt aus der Sammlung des Herzogs August von Gotha« (Bl. 9r). Die Bilder Giulio Romanos waren zweimal in ein anderes Medium, zunächst den Kupferstich, dann das Sonett, transponiert worden. Daher spricht Böttiger von den »Aretinischen Grupen/Figuren nach Giulio Romano« (Bl. 9r). Wenn Böttiger die »12 Aretinischen Grupen/Figuren nach Giulio Romano« – es waren ja in Wahrheit 16 – im Zusammenhang mit den dwdekamäcanai sieht, zeigt das, dass er in diesen Darstellungen vor allem eine Form der Renaissance der Antike erblickte. Böttigers eingehende Studien zu den Schemata und die Redundanz dieses Problemfeldes in seinen Aufzeichnungen lassen erkennen, dass er in dem Gegenstand dieser Darstellungen ein zentrales Moment der antiken ars amatoria erblickte. Auch RaoulRochette sollte er in seinem Brief vom 30. September 1835 auf die Zwölfkünstlerinnen besonders hinweisen.69 Die Geschichte der Einkerkerung Raimondis, der Ver69 Vgl. Anm. 351.

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nichtung seiner Kupfer, des Verbotes der Sonette und der unvermeidbar gewordenen Flucht Aretinos aus Rom verdeutlicht, dass die Kategorie des Luxuriösen, des wollüstigen Schwelgens, ebenso wenig wie die Kategorien des Lasziven und des Obszönen geeignet war, einen Weg zur Antikeaneignung zu eröffnen. * Jedes Kommunikationsmedium von den Höhlenzeichnungen bis zum Internet bemächtigt sich sogleich bei seinem Erscheinen erotischer Inhalte. Vor allem in Frankreich brachte der Buchdruck eine Fülle erotischer Werke hervor. Auf dem Titelblatt von einem der bekanntesten, das seine erste Auflage im Jahre 1660 erlebte, heißt es: Aloisiæ Sigæ Toletanæ. Satyra sotadica de arcanis Amoris et Veneris. Aloisia hispanice scripsit. Latinitate donavit Ioannes Mevrsivs. Böttiger schreibt das Buch zu Recht Nicolas Chorier zu (Bl. 8r). Die fingierte Zuschreibung der lateinischen Fassung an den berühmten holländischen Philologen Jan van Meurs hat dazu geführt, dass die Forschung das Werk in den Kontext philologischer Libertinage eingeordnet hat, welche philologische Forschung und eigene neulateinische dichterische Produktion mischte.70 Das Adjektiv ›sotadicus‹ verweist auf Sotades von Maroneia, der im 3. Jahrhundert im ionischen Dialekt kinaidoi, d. h. satirische Angriffe auf »Wüstlinge«, Könige und Privatpersonen, verfasste. Im vorangestellten Monitum Lectori wird der Bezug zu den Schriften der Elephantis hergestellt.71 Das Buch enthält die Gespräche zweier Frauen, welche sich über die Geheimnisse des Amor und der Venus, wie es im bereits zitierten Titel heißt, in sehr expliziter Weise auslassen. Das Werk lehrt die Kunst der Liebe und ist auf sinnliche Stimulation hin angelegt und verstößt somit gegen moralische Normen, die in jenem Jahrhundert immer noch religiös begründet werden, deren Verletzung aber bereits durch weltliche Instanzen geahndet wird. Das Buch zog, vermutlich weil es in lateinischer Sprache verfasst war, nicht dieselbe Verfolgung nach sich, wie die 1655 erschienene École des filles, die ähnliche Dialoge darbietet. Das Medium des Buchdrucks zeigt, dass es sich an einen größeren Leserkreis richtete, welcher wiederum durch das Medium der den Gelehrten vorbehaltenen lateinischen Sprache eingegrenzt wurde. Erst 1680 erschien es in französischer Übersetzung unter dem Titel L’Académie des dames. Im Vorwort der neuen Übersetzung von 1749 wird die mit der Übersetzung in die französische Sprache verbundene Problematik ausgiebig reflektiert: während die lateinischen Ausdrücke keine unehrbaren, abstoßenden oder groben Ideen mit sich brächten, so dass man gewissermaßen sagen könne, dass diese Sprache über nichts erröte, sei die französische Sprache von einem derartigen Zartgefühl, dass sie keine Möglichkeit aufbiete, um gewisse Handlungen, die an und für sich nicht strafbar seien, auf eine anständige Weise dar70 Vgl. Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2007, S. 42. 71 [Nicolas Chorier:] Aloisiæ Sigæ Toletanæ. Satyra sotadica de arcanis Amoris et Veneris. Aloisia hispanice scripsit. Latinitate donavit Ioannes Mevrsivs, [1660], Monitum Lectori, unpaginiert.

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zustellen.72 Wie bereits die Aretinischen Modi, die gleichfalls durch eine moderne Reproduktionstechnik vervielfältigt worden waren, diente das Werk auch kommerziellen Zwecken auf einem expandierenden Markt, auf dem das durch aus der Normverletzung resultierende Verbot als ein Rarefizierungsverfahren eine Wertsteigerung bewirkte. * Die romans licencieux, welche einen wesentlichen Bestandteil der französischen Aufklärung konstituierten und in Böttigers Sammlung durch L’Arretin moderne von Henri Joseph Laurent, genannt Du Laurens, in der zweiten Ausgabe, der Ausgabe von 1768, vertreten waren, zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die erotischen Darstellungen, ohne dass ein Verweis auf deren antike Vorläufer noch unbedingt notwendig war, in den Dienst aggressiver satirischer Angriffe auf die katholische Kirche gestellt worden sind. Schon der fingierte und ironische Druckort des zuerst 1763 erschienenen Arretin moderne, Au dépens de la Congrégation de l’Index, den Böttiger nicht festzuhalten vergisst (Bl. 8r), stellt eine enorme Provokation dar und markiert mit dem Verweis auf den Index deutlich, dass die Verletzung eines Verbots intendiert ist. Der 1737 geborene Autor, ein ehemaliger Geistlicher, der außer diesem Buch noch eine Reihe von Werken mit derselben Tendenz verfasst hatte, wurde 1767 in das kirchliche Gefängnis Marienbaum eingewiesen, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1797 schmachtete.73 Die Kirche wird in den lizenziösen Romanen vor allem aufgrund ihres Anspruchs, das Liebesleben der Menschen zu regulieren, angegriffen. Der Arretin mischt Erzählungen, in denen die Geistlichen als verderbt dargestellt werden, mit eher theoretischen pamphletartigen Texten. So enthält er eine Abhandlung gegen Keuschheit und Zölibat.74 Das darüber gestellte, Voltaire entnommene 72 »La seconde différence qui se rencontre entre ces deux langues, est que la Latine n’est jamais gênée sur aucune matiére ; tous les termes qu’elle employe, n’emportent aucune idée deshonnête, rebutante ou grossiére ; on peut dire qu’elle ne rougit de rien. / La nôtre est d’une délicatesse qui n’est pas convenable : point de termes pour exprimer décemment des actions qui ne sont point moralement criminelles en elles-mêmes ; les circonlocutions auxquelles on est obligé de recourir, énervent en ce cas toute la force du discours.« Nouvelle traduction du Mursius connu sous le nom d’Aloïsia ou de l’Académie des dames ; Revûë, corrigée & augmentée de près de moitié, par la restitution de tout ce qui en avoit été tronqué dans toutes les Editions qui ont paru jusqu’à présent ; & aussi délicatement renduë qu’elle l’avoit mal été dans toutes les précédentes : purgée des termes obscênes dont elles fourmilloient, sans cependant avoir énervée en rien la force des pensées. Le tout orné de quantité de jolies figures en taille-douce sur des desseins nouveaux. Divisé en deux Parties, Tome premier, A Cythére, Dans l’Imprimerie de la Volupté, 1749. 73 Vgl. Henri Joseph Laurent: L’Arétin Moderne par l’Abbé du Laurens. Édition conforme à l’édition originale de 1763 publiée avec un portrait de l’auteur, une introduction et une bibliographie par Radeville et Deschampas, Paris 1920, S. 1–5. 74 [Henri Joseph Laurent:] La chasteté. Ou le célibat, in: [Ders.:] L’Arretin moderne, Première Partie, A Rome. Au dépens de la Congrégation de l’Index, 1776, S. 214.

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Motto – »L’homme est trop faible, hélas, pour dompter la nature« – zeigt, dass in ihr philosophisch und anthropologisch argumentiert wird. Die Natur wird als eine den Menschen beherrschende und von ihm nicht beherrschbare Macht konzipiert. Wollust und Beischlaf bilden ein Problem- und Handlungsfeld, auf welchem die Unterwerfung des Menschen unter die Natur besonders augenfällig wird. In dieser Perspektive erscheinen z. B. Keuschheit und Zölibat als dem göttlichen Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu mehren, entgegenwirkende Götzenbilder, als Verhaltensmuster und Institution, die der Natur widerstreben, weil sie die menschliche Seelenkraft überforderten, deren Wirkungsvermögen durch den Ton, aus dem der Mensch gebildet ist, eingeschränkt sei.75 Der Ehe kommt die Regulierungsfunktion einer heilbringenden Bremse gegen die Sünde zu. Das Außerkraftsetzen dieses auf Schrift und Erfahrung beruhenden Regulierungsmechanismus durch das Zölibat führe notwendig zu Übertretungen der göttlichen Gebote. Daher müsse das von der Kirche diktierte bloß menschliche Gesetz zugunsten des durch die Heilige Schrift, die Natur und die Erfahrung begründeten göttlichen Gesetzes verworfen werden.76 Der Antikebezug ist im Arretin moderne durchaus gegeben. Kirchliche Bräuche wie der Gebrauch des Weihwassers werden in dem Kapitel über Les petites niaiseries du culte romain in heidnische Traditionen gestellt. Diese Argumentation findet sich in Böttigers Schriften häufig und zuweilen auch mit satirischer Stoßrichtung.77 Die Bezeichnung ›godemiché‹ für den künstlichen Phallos, den Olisbos, die sich in Böttigers Aufzeichnungen mehrfach findet (Bl. 12r und 14r), entstammt dem Sprachgebrauch der romans licencieux. Der Arretin enthält eine Histoire merveilleuse et édifiante de Godemiché, deren Titel bereits Religiöses und Obszönes korreliert und die die Erfindung, für deren Urheberinnen Böttiger asiatische Haremsbewohnerinnen hält, den Nonnen zuschreibt. Motiviert ist die Erfindung des »vrai consolateur du monde« in dem einen wie in dem anderen Fall durch die »Ermangelung des wirklichen Beischlafs« (Bl. 19r). * Die Kategorie des Natürlichen, die in den romans licencieux wie noch in Böttigers Aufzeichnungen eine zentrale Rolle spielt, verweist auf den Philosophen JeanJacques Rousseau als den großen Theoretiker der Natürlichkeit. Anders als die frivo75 »La Chasteté, cette vertu stérile que Dieu n’a point faite ni commandée, puisque la première Loi donnée à l’homme, fut celle de croitre & de multiplier, est une idole qui n’a ni pied ni patte. Cette vertu enfin que l’Eglise a mise sur ses autels, ne dépend ni de la faiblesse de l’homme ni des forces de son ame, elle est impossible à la plupart des mortels tant qu’ils resteront attachés à l’argile qui les enveloppe.« Ebenda, S. 215; »resteteront« wurde zu »resteront« korrigiert. 76 »Le Mariage, ce frein salutaire contre le péché, selon St. Paul & l’expérience, ne peut retenir vos Prêtres & vos Moines. Est-ce pour les exposer à violer plus souvent les commandemens les plus sacrés, que vous les tenez sous le joug du célibat ? Votre Loi humaine est elle préférable à la Loi divine ?« Ebenda. 77 Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 133 und S. 476–478.

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len Romane, die, um ihren Gegner, die katholische Kirche, der Obszönität zu zeihen, vor dem provokativen Einsatz obszöner Darstellungen nicht zurückschrecken, sieht Rousseau das Natürliche im Gegensatz zum Obszönen. Obszön sind ihm die Werke der römischen Dichter und er denunziert unter diesen vor allem Ovid, Martial und Terenz, denen Böttigers besonderes Interesse gilt und die auch in dessen erotischen Papieren immer wieder als Zeugen und Kenner antiker Liebespraktiken aufgerufen werden. Kennzeichen der Obszönität ist die Verletzung des Schamgefühls: »cette foule d’auteurs obscènes dont les noms seuls alarment la pudeur«.78 Im Discours sur l’inégalité beschreibt Rousseau mehrfach die flüchtigen, zielgerichteten, problemlosen Begegnungen der Männer und Frauen im Naturzustand, wie er sie imaginiert: Gelegenheit und Begierde führten die Vereinigungen herbei, diese vollzogen sich wahrscheinlich wortlos und man trennte sich mit derselben Leichtigkeit, mit der man zueinander gefunden hatte.79 Da der einfache Naturtrieb – la simple impulsion de la nature – nicht durch ihn begleitende Ideen getrübt wurde und der Naturmensch auch sonst keine Ideen hatte, kannte der Naturmensch nur solche Leidenschaften, die aus seinen physischen Bedürfnissen – ses besoins physiques – hervorgingen, so dass der austauschbare zur Begattung nur zufällig herangezogene Partner nur eines unter anderen Gütern wie Nahrung und Ruhe war.80 Der Frage, in welcher Weise der Naturmensch, der keine Scham und keine Zurückhaltung kannte, der Liebesleidenschaft, dieser brutalen und ungezügelten Wut, die den Menschen zum Blutvergießen treibe, ausgeliefert war,81 begegnet Rousseau mit einer Analyse der Liebe. Er unterscheidet in diesem Gefühl das Moralische vom Physischen. Unter dem Physischen versteht er den allgemeinen Trieb – ce désir général –, der den Menschen zur geschlechtlichen Vereinigung dränge. Das Moralische, das ihn zu einer bestimmten 78 »C’est au temps des Ennius et des Térence que Rome, fondée par un pâtre et illustrée par des laboureurs, commence à dégénérer. Mais, après les Ovide, les Catulle, les Martial, et cette foule d’auteurs obscènes dont les noms seuls alarment la pudeur, Rome, jadis le temple de la vertu, devient le théâtre du crime, l’opprobre des nations et le jouet des barbares.« Jean-Jacques Rousseau: Discours sur cette question : Le rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs ?, in: Ders.: Discours sur les sciences et les arts. Discours sur l’inégalité. Deux mémoires, Paris, Les grands classiques illustrés, o. J., S. 15–47, hier S. 22. 79 »[…] les mâles et les femelles s’unissoient fortuitement, selon la rencontre, l’occasion et le désir, sans que la parole fût un interprète fort nécessaires des choses qu’ils avoient à se dire : ils se quittoient avec la même facilité.« Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, ebenda, S. 163–278, hier S. 184. 80 »Les passions à leur tour tirent leur origine de nos besoins et leur progrès de nos connoissances ; car on ne peut désirer ou craindre les choses que sur les idées qu’on en peut avoir, ou par la simple impulsion de la nature ; et l’homme sauvage, privé de toute sorte de lumières, n’éprouve que les passions de cette dernière espèce ; ses désirs ne passent pas ses besoins physiques ; les seuls biens qu’il connoisse dans l’univers sont la nourriture, une femelle et le repos ; les seuls maux qu’il craigne sont la douleur et la faim.« Ebenda, S. 179. 81 »Que deviendront les hommes en proie à cette rage effrénée et brutale, sans pudeur, sans retenue, et se disputant chaque jour leurs amours au prix de leur sang ?« Ebenda, S. 198.

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Objektwahl führe, sei ein künstlich erzeugtes Gefühl – un sentiment factice –, das erst durch die Gesellschaft – Rousseaus Naturmensch ist ja ein Einzelgänger – hervorgebracht werde und das von den Frauen benutzt werde, um die natürliche Geschlechterordnung umzukehren.82 Rousseau sieht das Moralische im Zusammenhang mit Macht- und Herrschaftsstrategien. Gefühle wie ›Liebe‹ oder ›Bewunderung‹ entstehen durch die Anwendung von Konzepten – notions – wie ›Verdienst‹ oder ›Schönheit‹, die auf Abstraktionsprozessen und anderen komplizierten gedanklichen Operationen beruhen. Dem Wilden, der über derartige Konzepte nicht verfügt, sind alle potentiellen Objekte des Begehrens gleichwertig.83 Die Gesetze sieht Rousseau in Interdependenz mit den Leidenschaften und Verbrechen. Die Gesetze, die im Kulturzustand existieren, unterdrücken die Leidenschaften und die aus ihnen resultierenden Verbrechen nicht, sondern stehen vielmehr mit ihnen in einem systematischen Zusammenhang. Hier findet sich der Kern von Foucaults These, dass polymorphe Verhaltensweisen erst durch Machtdispositive produziert werden.84 Der Fantasie weist Rousseau eine negative Rolle zu, denn sie produziert die Ideen und Konzepte, ohne deren Existenz der Mensch sich friedlich seinem Naturtrieb hingeben, sein Bedürfnis stillen und seine Begierde würde versiegen lassen. Auch wenn Böttigers »J. J. Rousseau’s Paradoxon vom schädlichen Einflusse der Cultur« 85 distanziert gegenübersteht, spielt in seinen erotischen Papieren die Kategorie des Natürlichen, wie wir noch sehen werden, eine zentrale Rolle. * Martial, welchen Böttiger in seinen erotisch-antiquarischen Papieren immer wieder zitiert, gehörte zu seinen Lieblingsautoren. Spätestens seit 1787 beschäftigte sich Böttiger mit einer dreibändigen Handausgabe des Martial. Den Ausgangspunkt für 82 »Commençons par distinguer le moral du physique dans le sentiment de l’amour. Le physique est ce désir général qui porte un sexe à s’unir à l’autre. Le moral est ce qui détermine ce désir et le fixe sur un seul objet exclusivement, ou qui du moins lui donne pour cet objet préféré un plus grand degré d’énergie. Or, il est facile de voir que le moral de l’amour est un sentiment factice né de l’usage de la société et célébré par les femmes avec beaucoup d’habileté et de soin pour établir leur empire et rendre dominant le sexe qui devroit obéir.« Ebenda, S. 198f. 83 »Ce sentiment étant fondé sur certaines notions du mérite ou de la beauté qu’un sauvage n’est point en état d’avoir, et sur des comparaisons qu’il n’est point en état de faire, doit être presque nul pour lui ; car, comme son esprit n’a pu se former des idées abstraites de régularité et de proportion, son cœur n’est point non plus susceptible des sentiments d’admiration et d’amour qui, même sans qu’on s’en aperçoive, naissent de l’application de ces idées : il écoute uniquement le tempérament qu’il a reçu de la nature, et non le goût qu’il n’a pu acquérir, et toute femme est bonne pour lui.« Ebenda, S. 199. 84 »Ces comportements polymorphes ont été réellement extraits du corps des hommes et de leurs plaisirs ; ou plutôt ils ont été solidifiés en eux ; ils ont été, par de multiples dispositifs de pouvoir appelés, mis au jour, isolés, intensifiés, incorporés.« Michel Foucault: La volonté de savoir, Paris 1976, S. 65. 85 Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Erster Cursus (wie Anm. 4), S. 161.

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die damit verbundenen Forschungen bildete eine kritische Auseinandersetzung mit Lessing, einem von Böttigers Vorbildern, an dessen Arbeiten auch für seine Ilithyia 86 sowie mehrere andere Werke den Anknüpfungspunkt bilden: Der H[err] Hofrath Eschenburg hat mir aus der Wolfenbüttler Bibliothek die vier schon von Lessingen angeführten Handschriften zugeschickt, und durch diese, und die Vergleichung der ältern Ausgaben, so viel ich davon habe, ist mir so viel deutlich geworden, daß sich alle Handschriften des Dichters, von denen Lesarten bis jezt etwas bekannt worden ist, in nicht mehr als zwei Familien theilen, woher sich auch alle nicht bloß in Druckfehlern bestehenden Abweichungen der cod[icum] impressorum volkommen erklären lassen. Nun trift sichs grade sehr gut, daß meine Wolfenbüttler Handschriften sich in beide Familien theilen, und dadurch wirklich einen grösern Werth erhalten, als ihnen Lessing zuerkennen wolte. […] Meine Hauptabsicht ist und bleibt auf die Erklärung und ästhetische Beurtheilung des Dichters gerichtet. […] Unter der ästhetischen Beurtheilung verstehe ich die Würdigung der einzelnen vorzüglichen Epigramme, nach ihrem epigrammatischen Werth, ein Umstand, der vor Lessingen ganz übersehen worden, und doch beym Martial, dem Vater des neuern, in modernen Sprachen fast allein gekannten, und bearbeiteten Sinngedichts, sehr interessant ist.87

In seinen Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm stellt Lessing in dem III. Martial gewidmeten Abschnitt fest, dass »der unzüchtige Inhalt, den seine Sinngedichte nicht selten haben«, diesem Dichter sehr geschadet habe, und meint, dass die »eigene Entschuldigung des Martials über den Punct der Unzüchtigkeit, Lasciva est nobis pagina? vita proba est – «, nicht hinreiche.88 Lessing entschuldigt Martial damit, »daß er die Absicht nicht hat, auch nur eine von den groben unnatürlichen Wollüsten anzupreisen, deren bloße Benennungen bei uns schon so viel Abscheu erregen«.89 In einer fiktiven Selbstverteidigung gegen den Dichter Sabellus, der mit verführerischer Beredsamkeit zu diesen Lüsten anreize, lässt Lessing Martial sagen, dass er das Anreizen und die Erweckung der Begierden verdamme und das, was geschehe, »höchstens nur eben so ohne Scham sage, als es geschieht«, damit seine Satire wirken könne.90 Damit trennt Lessing die beiden Kriterien, die bis heute bei gesetzlichen Regelungen darüber, welche erotischen Darstellungen welchem Publikum zugänglich sein dürfen, ausschlaggebend sind: 1. der Inhalt, dessen Darstellung, unabhängig von deren Wirkung, die nach allgemeinen gesellschaftlichen 86 Karl August Böttiger: Ilithyia oder die Hexe, ein archäologisches Fragment nach Lessing. Als Einladung zu einer Schulfeierlichkeit den 4ten October 1799, Weimar 1799. 87 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Guben, 19. Januar 1788, in: Klaus Gerlach, René Sternke (Hg.): Karl August Böttiger. Briefwechsel mit Christian Gottlob Heyne, Berlin 2012, Nr. 3, Z. 17–27, 40f. und 49–54. 88 Gotthold Ephraim Lessing: Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammatisten. 1771, in: Ders.: G. E. Lessing’s gesammelte Werke. Neue rechtmäßige Ausgabe, Bd. 6, Leipzig 1855, S. 213–341, hier S. 275f. 89 Ebenda, S. 277. 90 Ebenda, S. 278.

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Abb. 8 »so ohne Scham sage, als es geschieht« (Lessing) Symplegma, schwarzer Stein

Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des Anstandes überschreitet; 2. die in sinnlicher Stimulation bestehende Wirkung. Bestimmt ist nur das erste Kriterium, da der Inhalt einer Darstellung, nicht aber die Wirkung bestimmbar ist. Beide Aspekte hängen eng zusammen, da wirkungslose Inhalte unproblematisch sind und Wirkungen adäquate Inhalte voraussetzen. Bei der Anwendung beider Kriterien werden jedoch unterschiedliche Wirkungen angenommen: 1. Ablehnung, 2. Lust. Lessing will Darstellungen erotischer Sachverhalte zulassen, welche die erste Wirkung intendieren, und jene geißeln, welche auf die zweite Wirkung abzielen: »ich schlage, und du kitzelst«.91 Die Darstellungsmittel, »die nackten schamlosen Worte«, sind jedoch in beiden Fällen dieselben, nur würden sie mit verschiedener Absicht eingesetzt.92 Lessing hält an der Kategorie der ›Schamhaftigkeit‹ – auch Rousseau, der Martial ablehnt, spricht von ›pudeur‹ – zur Regulierung erotischer Darstellungen fest, indem er diese Kategorie neu interpretiert: Schamhaftigkeit äußere sich im Unwillen.93

91 Ebenda, S. 279. 92 »Dieses Anreizen, diese Erweckung der Begierden ist es, was ich eigentlich an dir verdamme, und mich auf keine Weise trifft: nicht die nackten schamlosen Worte, die ich freilich eben so brauche, als du: aber zu einer andern Absicht, als du.« Ebenda, S. 278. 93 »Röthe ist Schamhaftigkeit, und Schamhaftigkeit ist nie ohne Unwillen oder Furchtsamkeit.« Ebenda, S. 279.

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Böttiger orientiert sich im Umgang mit der erotischen Überlieferung aus dem Altertum an Lessing, indem er in seine Ausführungen immer wieder Unwillensbekundungen wie die folgende einfließen lässt (Bl. 23r): In welchen Pfützen der Wollust müssen sich damals die Griechen und Römer herumgewälzt haben, wen[n] sie so viel von so unnatürlichem und schändlichem Beischlaf träumten?

Lessings Umgang mit der Erotik bleibt jedoch problematisch, denn die Realisierung der intendierten moralischen Wirkung durch die bloße Absicht ist niemals garantiert, da – wie Lessing selbst bemerkt – auch dasjenige, was als Schlag intendiert worden ist, als Kitzel erlebt werden kann. Lessing behilft sich daher damit, dass er diejenigen, welche entgegen der Intention des Autors sinnlich erregt werden, kurzerhand als »eine menschliche Gattung von Waldeseln« in eine besondere Menschenklasse rangiert und gleichzeitig diskreditiert.94 * In Böttigers Aufzeichnungen finden sich auch die Spuren der Kommentare und Miszellen der Gelehrten, der Philologen, Theologen, Juristen und Antiquare: Isaac Casaubon, Claude Saumaise, Nicolaas Heinsius, Jacques Philippe d’Orville, Johannes Gerhard Scheffer, Gilles Ménage, Pierre Bayle, Lorenz Beger, Angelo Quirini, Johannes Reiske, Johann Gottlob Schneider, David Ruhnken, Johann Matthias Gesner, Daniel Wilhelm Triller, Andreas Wilhelm Cramer, Richard Franz Philipp Brunck, Jonathan Toup, Carl Eduard Julius Burmeister, Caspar von Barth, Christian Friedrich Wilhelm Jacobs, Philipp Baron von Stosch, Charles Townley, Pierre François Hugues, selbsternannter Baron d’Hancarville, Aubin Louis Millin de Grandmaison, James Millingen usw. Böttigers Papiere belegen, wie die Beschäftigung mit dem Phallischen als einer Komponente der antiken Kulturen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aus dem gelehrten Milieu herausgetreten ist und wie sie sich auf verschiedene Weise mit Geselligkeit, Satire und Religionskritik verbunden hat, wie sie die Volkssprachen, neue Medien und ein neues Publikum erobert hat. Die gelehrten Diskurse, welche die anderen Diskurse mit Material und Ideen, vor allem mit Wissen von antiken, d. h. neuen Konzepten, Praktiken und Medien, gespeist haben, haben ihrerseits Ideen und Impulse aus der den Elfenbeinturm umgebenden Welt empfangen. Die Erläuterung der Realia machte eine Versinnlichung der Texte immer wieder notwendig. Das Beispiel des goldenen Sporns, den die Hetäre Lysidike als Weihgeschenk an der Pforte des Venustempels aufgehängt hatte, macht das deutlich (Bl. 14r): 94 »Zwar, höre ich, soll es auch eine menschliche Gattung von Waldeseln geben, deren dicke Haut meine Schläge selbst zu Kitzel macht. Aber wer fragt nach der? An der ist nichts zu bessern, und nichts zu verderben: und wenn es meine Schläge nicht sind, welche ihr juckendes Fell krauen, so ist es der erste der beste Eckstein«, ebenda, S. 279f.

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Abb. 9 »Eine Dame liest in einer Bibliothek ein Buch« Kupferstich von Bernard Picart (Ausschnitt) Jedermann verstand nun den Sinn der Allegorie. Lysidike ist eine gute Amazone, eine gute Reiterin geweßen. Sie war volkommen im Schema des kelhtismóv. Wie konnte Toup zu Suidas an den o¢lisbov oder godemiché dabei denken. Das fühlte auch Brunck sehr wohl, der sich in seinem Annotatt. ad h. I. sehr über Toup formalisirt, aber selbst auch fehl schließt, weil er glaubt die Lysidike sei eine Tribade geweßen. Wie paßt dieß alles zur Reiterin?

Garantierte der Gebrauch der lateinischen Sprache noch eine Abschließung des gelehrten Diskurses von der Libertinage? Mit dem Gebrauch der Volkssprachen als Wissenschaftssprachen wurde die Grenze zwischen den Diskursen noch unschärfer. Alexander Kosˇeninas Literarische Anthropologie zeigt einen »Kupferstich aus dem Jahre 1716 von Bernard Picart, wo eine lesende Frau in ihrem Boudoir so tief in einen Folianten versunken ist, dass sie die mit Büchern auf dem Boden herumtollenden Kleinkinder nicht beaufsichtigen kann«.95 Was Kosˇ enina »Boudoir« nennt, ist 95 Alexander Kosˇenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008, S. 123.

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laut Bildtitel eine Bibliothek. Deuten wir die geflügelten Wesen zu Füßen der Dame nicht als unbeaufsichtigte Kleinkinder, denen nach den ovidischen oder kafkaesken Geheimnissen einer literarischen Anthropologie, die sich »bewusst forcierter Bewertungen der dargestellten Phänomene« enthält,96 Flügel gewachsen sind, sondern als Amoretten, die die Gedanken und Gefühle der Dame symbolisieren, könnte die Dame – für einen roman licencieux ist das Buch zu groß – Begers Thesaurus Brandenburgicus oder ein ähnliches antiquarisches Werk lesen. * Unter den antiquarischen Werken, die in Böttigers Studien erwähnt werden, nehmen die Abbildungen aus Lorenz Begers von 1696 bis 1701 erschienenem Thesaurus Brandenburgicus,97 auf welche sich auch die an Blumenbach gerichteten »Queries« (Bl. 2 und 31) beziehen, einen besonderen Platz ein, da der sich auf sie beziehende Titel Phallica e Thesauro Brandenburgico möglicherweise der Titel des gesamten Faszikels ist, welches anderenfalls überhaupt keinen Titel hat. Einen Anhaltspunkt für den Zeitpunkt ihrer Aufnahme in das Korpus liefert Böttigers Brief an Heyne vom 14. April 1811, in welchem er diesem über das Zustandekommen seiner Archäologischen Aehrenlese Auskunft gibt, welche sich teilweise ebenfalls auf Abbildungen aus Begers Thesaurus stützt: Ich kam durch einen Zufall in den Besitz mehrer alter Kupferplatten aus Begers Thesaurus Brandenburgicus.98

Die Tafeln (Bl. 32–37) sind dem im dritten Band des Werkes auf S. 217 beginnenden Teil mit dem Titel Antiquitates variæ entnommen. An Begers übergreifendes Ordnungsprinzip schließt Böttiger in seinen Ideen zur Kunst-Mythologie an. Abgehandelt werden die verschiedenen antiken Gottheiten in der Reihenfolge ihrer Bedeutung, wobei die Götterhierarchie Anhaltspunkte liefert. Eine derartige Ordnung ist möglich, da, anknüpfend an antike Anschauungen, davon ausgegangen wird, dass sich die verschiedenen Mythologien aufeinander beziehen und ineinander übersetzen lassen. Beger beginnt mit Jupiter Capitolinus, es folgen Jupiter Ammon, dessen Orakel96 Vgl. Kosˇeninas kondeszendente Bemerkungen über den »Querdenker und Kulturkritiker Foucault«, ebenda, S. 19. 97 Lorenz Beger: Thesauri Regii et Electoralis Brandenburgici volumen tertium: continens antiquorum numismatum et gemmarum, Quæ Cimeliarchio Regio-Electorali Brandenburgico nuper accessére Rariora: Ut & Supellectilem Antiquariam Uberrimam, id est Statuas, Thoraces, Clypeos, Imagines tàm Deorum, quàm Regum & Illustrium: Item Vasa & Instrumenta varia, eaque inter, fibulas, Lampades, Urnas, quorum pleraque cum Museo Belloriano, quædam & aliunde coëmta sunt, Dialogo illustrata à Laurentio Begero, Serenissimi & Potentissimi Regis Prussiæ & Electoris Brandenburgici Consiliario ab Antiquiatibus & Bibliotheca, Coloniæ Marchicæ, Impressit Ulricus Liebpertus, Typographus Regius & Electoralis Brandenburgicus [1701]. 98 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Dresden, 14. April 1811, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 87), Nr. 284, Z. 27–29.

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Abb. 10 »der Kñbov, den die Aegpter so häufig als Hieroglyphen bilden« (Bl. 2r) – Cynocephalus

taube, Minerva, Diana Ephesia, Diana Lucifera usw. In Böttigers Nachlass überliefert sind die Tafeln 2, 3 und 10–13.99 Anhand der Fragen Böttigers und der Antworten Blumenbachs lassen sich die nicht überlieferten Abbildungen mehr oder weniger genau ermitteln.100 Die erste Tafel zeigt laut Beger den Cynocephalus, den dieser Antiquar in den Zusammenhang des Isiskultes stellt. Vor ihm ist eine Darstellung des Osiris, dahinter die eines Canopus. Die erste Figur der zweiten Tafel zeigt eine mit Hieroglyphen versehene Votivhand (Manus cum hieroglyphis votiva). Im Thesaurus folgt ihr eine ähnliche Darstellung, die eines »Digitus votivus«, sie zeigt also ein Objekt mit gleicher Funktion. Die zweite Figur auf dieser Tafel steht bei Beger unter der Überschrift »Manus Herculeis insignibus ornata«. Sie befindet sich aufgrund der darauf befindlichen Inschrift inmitten verschiedenartiger Monumente, die durch 99 Bl. 32: Tab. III: Die obere Figur findet sich im Thesaurus, Bd. 3, S. 435, die untere in Bd. 3, S. 264; Bl. 33: Tab. II: Die obere Figur findet sich auf S. 404, die untere auf S. 282; Bl. 34: Tab. 10: Die Abbildung findet sich ebenda, S. 258; Bl. 35: Tab. 11: Die Abbildung findet sich ebenda, zwischen S. 260 und S. 261; Bl. 36: Tab. 12: Die Abbildungen sind ebenda, zwischen S. 426 und 427; Bl. 37: Tab. 13: Die Abbildung findet sich ebenda, S. 266. 100 Tafel 1: Es handelt sich vermutlich um folgende Abbildung im Thesaurus: Bd. 3, S. 307. Tafel 4: Es handelt sich um die Abbildung, ebenda, S. 250. Tafel 5: Es handelt sich vermutlich um folgende Abbildung: ebenda, S. 253. Tafel 6: Es handelt sich vermutlich um folgende Abbildung: ebenda, S. 300. Tafel 7: Es handelt sich um die Abbildung ebenda, S. 306. Tafel 8: Es handelt sich um die Abbildung ebenda, S. 255. Tafel 9: Es handelt sich um die Abbildung ebenda, S. 252.

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Abb. 11 »wozu soll diese zampa faunescha … gedient haben?« (Bl. 2v) Faunus nymphae raptor

Abb. 12 »Ist es ein Faun oder eine Faunesse?« (Bl. 2v) Faunus an Satyros ridens?

Abb. 13 »Ist diese ägyptische Büste wirklich ein Hierax accipiter?« (Bl. 2v) – Osiris

Abb. 14 »man habe … nach dem Schall der Doppelflöte … gekeltert?« (Bl. 2v) – Tityri

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Abb. 15 »in dem fruchterfüllten Mantel … Birnen, Aepfel, oder Nüsse?« (Bl. 31r) – Sacrum Sylvani

das gemeinsame Thema ›Hercules‹ aufeinander Bezug nehmen. Die obere Abbildung auf der dritten Tafel trägt bei Beger die Bezeichnung »Lucerna ænea virum penulatum referens«. Eingeordnet ist das dargestellte Objekt im Thesaurus nicht nach dem Sujet, sondern nach der Objektklasse unter die Lampen (Lucernæ). Das untere Objekt der dritten Tafel heißt bei Beger »springender Priapus« – »Priapus saltans« – und stammt aus dem Abschnitt, der dem Priapus als Fruchtbarkeitsgott gewidmet ist: »Priapus, deus generationis«. Der auf der vierten Tafel dargestellte, unten in einer Tatze endende eine Nymphe raubende Faun, »Faunus nymphæ raptor«, findet sich bei Beger in einer Reihe von Faunendarstellungen. Die Darstellung auf Böttigers fünfter Tafel zeigt, wenn wir sie richtig identifiziert haben, laut Beger einen lachenden Faun oder, Beger ist sich nicht sicher, Satyr – »Faunus an Satyros ridens?«. Diese Darstellung leitet bereits zur nächsten Gruppe, den Satyrn, über, denn Beger handelt ähnlich geartete mythologische Gestalten, Bacchus, Bacchantinnen, Silene, Faunen, Satyrn, Silvane, Priapen, nacheinander ab, wobei metaphorische und metonymische Beziehungen bei den Übergängen zwischen den behandelten Phänomenen wechseln. Die sechste, nicht überlieferte Tafel zeigt laut Begers Überschrift eine »Isis«. Der von Böttiger in Frage gestellte Bezug zur Juno Sispita findet sich bereits in Begers Kommentar. Tafel 7 stellt laut Beger einen Osiris dar, dessen Gestalt laut Kommentar die eines Raubvogels (accipiter) ist. Die Bacchanten auf der achten Tafel bezeichnet Beger als »Tityri«. Das Bild folgt im Thesaurus dem des lachenden Fauns 245

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bzw. Satyrn, welcher den den Satyrn gewidmeten Abschnitt eröffnet. Der scherzende Faun (Faunus ludibundus) auf Tafel 9 findet sich im Thesaurus unter den Faunen. Auf der zehnten Tafel ist nach Beger ein »Sacrum Silvani«, ein dem Sylvanus, einem Fruchtbarkeitsgott, dargebrachtes Opfer zu sehen. Tafel 11 zeigt den bereits erwähnten »Priapus, deus generationis« und eröffnet eine ihm gewidmete Folge von Darstellungen. Die dreizehnte Tafel trägt bei Beger den Titel »Phalli«. Diese finden sich dort zwischen Spiegeln, Ketten, Spangen usw. Tafel 12 zeigt ein Bildnis des Priapus: »Priapi simulacrum«. Böttigers Abbildungen entstammen verschiedenen Teilen des dritten Bandes des Thesaurus Brandenburgicus. Böttigers Auswahl konzentriert sich jedoch um verschiedene Zentren wie den Isiskult, das Bacchanal oder die Fruchtbarkeitsgötter, die schon bei Beger angelegt sind und zum Teil schon bei diesem ineinander übergehen. Doch stellen die Darstellungen, die Böttiger unter dem Titel Phallica zusammengefasst hat, bei Beger noch keinen eigenen Objektbereich dar. * Die in der 1734 gegründeten Gesellschaft der Dilettanti vereinigten Gelehrten, Liebhaber und Sammler, die der britischen Haute volée angehörten, übten Forschung und Geselligkeit auf untrennbare Weise. Davon, dass die Erotika ein Element unter anderen bildeten, um diese beiden Aspekte ebenso spielerisch wie tiefsinnig ineinander zu verschränken, vermittelt d’Hancarvilles Edition antiker geschnittener Steine unter dem Titel Monumens du culte secret des dames romaines, pour servir de suite aux monumens de la vie privée des XII Césars eine lebhafte Vorstellung. Gleich eingangs grenzt d’Hancarville die von ihm edierten Denkmäler des geheimen Kultes der römischen Damen von den aus Sittenverfall und Libertinage herrührenden lizenziösen Produktionen dezidiert ab und ruft die Vernunft des Lesers zu seiner Zeugin auf. Mit der Nennung des fingierten Druckortes Caprée, jenes Ortes, an dem Tiberius nach den Vorgaben der Kurtisane Elephantis seine Spintriæ hatte stellen lassen, woran der Leser später erinnert wird,101 und des fingierten Verlegers Sabellus, jenes Verführers, den Lessing dem Moralisten Martial entgegenstellt, greift das gelehrte Buch jedoch das Spiel der lizenziösen Romane auf und setzt es fort.102 Die Liebesfreuden – les plaisirs de l’amour –, aus welchen nämlich der geheime Kult der römischen Damen bestand, seien, so bemerkt d’Hancarville, von den Alten anders bewertet worden als von seinen eigenen Zeitgenossen. Die zärtliche Vereinigung der 101 »La plûpart des pierres qu’on trouvera ici, remontent à l’âge de ces deux Empereurs, & surtout du fils de Livie, dont les plaisirs, ainsi que la belle collection qu’il fit des tableaux d’Eléphantis dans l’île de Caprée, sont si connus.« [D’Hancarville:] Monumens du culte secret des dames romaines, pour servir de suite aux monumens de la vie privée des XII Césars, A Caprée, chez Sabellus 1784, S. XXI. 102 »En effet, les personnes raisonnables feront une distinction bien sensible entre l’Ouvrage que je leur présente, & ces productions licentieuses produites par la dépravation des mœurs & par le libertinage.« Ebenda, S. IV.

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beiden Geschlechter habe die Verehrung der Römer erregt, weil die Religion diesen Naturakt geheiligt zu haben schien.103 Die heidnische Theologie habe ihren Ursprung in einem aus der Beschauung hervorgegangen Studium der Natur,104 so dass es nicht verwunderlich sei, dass die Liebe, diese verführerische Leidenschaft, zu einem der Hauptgegenstände ihres Kultes geworden sei. Sämtliche Lebewesen schienen in den Augen der Alten allein deshalb zu existieren, um orgastisch zu genießen (jouir) und sich fortzupflanzen. D’Hancarville sieht die zentrale Bedeutung, welche die Alten dem Naturakt in ihrer Religion zukommen lassen hätten, begründet in dessen zwiefacher Natur als generatives Vermögen und Quelle intensivster Genüsse.105 Die einfacheren und energischeren Genien jener Zeit hätten den Handlungen, die sie als den Zweck der Natur und den Gipfel der Glückseligkeit erachteten, keinerlei Schändlichkeit angeheftet.106 Daher hätten sich bei den Alten die Autoren, und analog zu ihnen die Bildhauer und Maler, frei und rückhaltlos ausdrücken können über Gegenstände, für welche die Modernen die Schamhaftigkeit erfunden hätten. D’Hancarville historisiert also die Wertungen, die Denk- und Empfindungsweisen sowie die diesen zugrunde liegenden Konzepte, welche er als Erfindungen einstuft. In Abhängigkeit von den jeweiligen kulturellen Praktiken, von den Bewertungen und Haltungen, seien es nun Ehrfurcht (vénération) und Weihe (consécration) in der Antike oder Schändlichkeit (turpitude) und Scham (pudeur) in der Moderne, welche den natürlichen Handlungen von außen angeheftet würden, differenzieren sich für d’Hancarville die Möglichkeiten, über diese Akte zu kommunizieren: freier Ausdruck (s’exprimer librement) vs. Zurückhaltung (retenue).107 Peter Wagners These, einige von d’Hancarvilles Stichen seien »offensichtlich von seinen homoerotischen Neigungen beeinflußt worden«,108 die auf der Annahme fußt, »die Darstellung des Geschlechtsaktes und homosexueller Praktiken« habe »in den sich entwickelnden 103 »Les Anciens ne regardaient pas du même œil que nous, les plaisirs de l’amour. Cette tendre union des deux sexes excitait leur vénération, parce que la religion semblait consacrer cet acte de la nature.« Ebenda. 104 »Cette théologie des Payens semble avoir pris naissance dans l’étude de la simple nature : elle était l’objet de la contemplation des anciens peuples.« Ebenda, S. V. 105 »Tous les êtres animés, depuis la tendre colombe jusqu’à la fiere lionne, depuis l’insecte éphémère jusqu’à celui qui existe le plus long-tems, paraissent n’exister que pour jouir, se perpétuer & se transmettre les uns aux autres cette faculté générative, source des plus vives délices.« Ebenda. 106 »Il n’est donc pas surprenant que l’amour, cette passion séduisante, ait été un des principaux objets de leur culte : & les génies de ce tems, plus simples, mais aussi plus énergiques que les nôtres ne pouvaient attacher aucune espece de turpitude à des actions qu’ils regardaient comme le but de la nature, & le comble de la félicité.« Ebenda. 107 »Aussi voyons-nous que non-seulement les Auteurs anciens s’exprimaient librement sur les sujets pour lesquels nous avons inventé de la pudeur ; mais même les Peintres & les Sculpteurs ne gardaient aucune retenue à cet égard.« Ebenda, S. Vf. 108 Vgl. Peter Wagner: Lust & Liebe im Rokoko, Nördlingen 1986, S. 22.

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Wissenschaftsbereichen Archäologie und Ethnologie einen ausgezeichneten Vorwand« gefunden,109 findet in d’Hancarvilles Monumens du culte secret des dames romaines in der Argumentation des Autors keine Bestärkung. Der »amour antiphysique« – das Konzept der Homosexualität, das für diese Spielart der Liebe ein spezifisch veranlagtes Subjekt annimmt, war d’Hancarville unbekannt – wird als Exzess, der über den Naturzweck hinausschießt, und als Verfallserscheinung, beschmutzendes Laster und Unbeherrschtheit qualifiziert. Dabei wird der Übergang von der physischen zur antiphysischen Liebe als kontinuierlicher Prozess des Überund Ausgleitens konzipiert, der im Übergang von der Religion zur Philosophie seine Parallele findet.110 Die Denkfigur des schleichenden Verfalls der Sitten, der auch als unmerkliche Säkularisierung des Religiösen aufgefasst wird, findet sich in den Bildanalysen d’Hancarvilles immer wieder. Wenn d’Hancarville einräumt, dass sich die Korruption auf der Mehrzahl der Darstellungen abzeichne, so insistiert er doch gleichzeitig darauf, dass die Verbindung zur Religion immer noch sichtbar sei, denn Wollust und religiöser Eifer seien eins gewesen.111 D’Hancarville verwischt aber nicht nur die Grenze zwischen Religiosität und Korruption, er rechtfertigt auch die Grenzüberschreitung zur Wiederherstellung der Ordnung. So sieht er im Analverkehr ein Mittel, das die Frauen einsetzten, um die Männer vom »amour désordonné« zu der von der Natur vorgeschriebenen Liebe zurückzuführen.112 Um letztlich aber, da er die Korruption der Römer und Griechen nun einmal einräumt, einer Verurteilung der gesamten Antike als Zeitalter der Verderbnis vorzubeugen, verweist d’Hancarville darauf, dass der Kult des wahren Gottes, welchen er denjenigen Göttern entgegengestellt, deren Exempel die Menschen auf natürliche Weise zur Verderbnis gelenkt habe, keineswegs zur Ausübung der moralischen und bürgerlichen Tugenden ge109 Ebenda, S. 20. 110 »L’homme inconséquent n’a jamais su s’arrêter au vrai but de la nature. Dans les institutions les plus saines, il porte l’excès de ses desirs jusqu’à la dépravation. De l’amour naturel à l’amour antiphysique le pas était trop glissant, pour qu’il ne marquât pas de sa chûte. La Grece fut remplie de ces adorateurs profanes ; & ce qu’il y a de singulier, les Philosophes ne furent pas les moins souillés de ce vice ; la plûpart s’en faisaient gloire ; & les Disciples de leur doctrine étaient souvent ceux de leur incontinence.« [D’Hancarville:] Monumens du culte secret des dames romaines (wie Anm. 101), S. VIf. 111 »Quoique la corruption des mœurs s’annonce dans la plûpart de ces Monumens, on y découvre cependant une liaison avec la Religion, que la licence n’avait pas encore rompue. Le culte de plusieurs Divinités tendait aux plaisirs de l’amour ; leurs fêtes sacrées étaient accompagnées des caracteres de la volupté : & les Dames Romaines étaient fort exactes à remplir ces actes religieux. Les plus qualifiées d’entr’elles en donnaient l’exemple ; il était si doux d’obéir aux Dieux !« Ebenda, S. VIIf. 112 »La complaisance d’une femme triomphe dans cette gravure. La dépravation des hommes & le goût peu orthodoxe avaient tant prévalu chez les peuples les plus polis & les plus voluptueux, que les Dames furent obligées à se prêter à tous leurs caprices, essayant par ce moyen de les rappeller de l’amour désordonné, à celui que la nature leur prescrivait.« Ebenda, S. 53.

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Abb. 16 »cette attitude est du goût de beaucoup de gens« (d’Hancarville) (Scäma IV, Bl. 16r) – Gefäßfragment, Terra sigillata

führt habe, sondern dass das gegenwärtige Zeitalter unendlich verderbter sei.113 Beispiel ist ihm die »antiphysische Liebe«, welche die Alten wenn nicht erlaubt, so doch toleriert hätten und die in der neueren Zeit eine durch Vorurteil, Vernunft und Gesetz verworfene schändliche Handlung sei, jedoch weder durch die Religion noch durch den Abscheu der Vernünftigen noch durch die Gesetze gebannt worden sei, so dass es in den modernen großen Städten ebenso viele dieses Verbrechens Schuldige gebe wie im Rom oder Athen des Altertums.114 – Eine wichtige Rolle spielen die Schemata in den Monumens du culte secret des dames romaines. Anlässlich eines geschnittenen Steines, auf welchem der Mann stehend und die Frau auf bzw. an ihm sitzend gezeigt wird, zitiert d’Hancarville das auch von Böttiger (Bl. 3r) festgehaltene »Mille modi Veneris« des Ovid, den er den »précepteur des Amours« nennt, und bemerkt, dass der hier gezeigte Modus einer der wollüstigsten und von den Spartanerinnen sehr geschätzt worden sei.115 Bei einer Darstellung jenes Schemas, welches Böttiger Keletismos nennt, bemerkt d’Hancarville, dass diese Attitüde dem Ge113 »Le culte du vrai Dieu a dissipé celui d’une foule de Divinités, dont l’exemple portait naturellement les hommes à la corruption ; mais il n’a pu les ramener entiérement à l’exercice des vertus civiles & morales. Nous sommes donc bien injustes, lorsque nous regardons les beaux siecles de la Grece & de Rome, comme étant ceux de la plus haute dépravation. Et si nous comparons ces siecles avec le nôtre, eu égard aux idées religieuses & morales qui dominaient alors, nous conviendrons sans peine, que le siecle présent est infiniment plus corrompu.« Ebenda, S. XVIf. 114 »L’amour antiphysique, regardé par les anciens, sinon comme permis, du moins comme publiquement toleré, est aujourd’hui une action abominable que la raison, le préjugé & les loix proscrivent également. Cependant ni l’horreur des hommes raisonnables pour ce vice, ni les menaces des loix & de la religion n’on pu le bannir de ce siecle. Et l’on compterait, peut-être, presqu’autant de coupables de ce crime dans nos grandes Villes, qu’il y en avait à Athenes & dans l’ancienne Rome.« Ebenda, S. XVI. 115 Ebenda, S. 47.

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schmack vieler entspreche und auch den Damen großen Genuss bereite. Der Priapos dringe tiefer ein, die Dame könne sich durch ihre Bewegungen eine lebhaftere Wollust und eine reichere Libatio herbeiführen. Ja, d’Hancarville empfiehlt sogar den Connaisseuren und den Damen, sich eigene Erfahrung und eigenes Urteil zu verschaffen.116 Auf diese Weise bildet d’Hancarville die Connaisseure aus bloßen Kennern und Liebhabern des Altertums auch zu solchen in der ars amandi, im ar t de jouir. Seine Studien zum bildlichen Altertum enthalten den Versuch, die antike Liebeskunst zu aktualisieren. * Die Auffassung, dass erst der Exzess oder die Verkehrung bei der Stillung des natürlichen Appetits Unreinheit, Lizenz und Schändlichkeit hervorbringe, vertritt auch ein 1786 erschienenes Buch aus der Feder eines anderen Mitglieds der Society of Dilettanti.117 In A Discourse on the worship of Priapus von Richard Payne Knight wird der Phallus als »a very natural symbol of a very natural and philosophical system of religion« bezeichnet.118 Die Entstehungsgeschichte dieses Buches berichtet Böttiger im letzten Band der Amalthea: Als er [Richard Payne Knight] in der Mitte des 9. Jahrzehends des vorigen Jahrhunderts sich lange Zeit in Italien und besonders in Neapel aufhielt, wo er die schönsten alten Bronzen und Münzen um jeden Preis erwarb, führte ihn sein antiquarischer Freund, der englische Gesandte, Sir William Hamilton nach Isernia […] und machte ihn mit den sonderbaren Wachsfiguren ex voto dort bekannt, wodurch die dortige Geistlichkeit die Fruchtbarkeit der Frauen theils befördert, theils beweist. Es war der alle Jahre am 27. September dort gehaltne Jahrmarkt, wo diese dem heiligen Comus und Damianus geweihten Phallusfiguren von den Verkäuferinnen dort in Menge feil geboten, von den Käuferinnen dann mit besondern Gebräuchen geopfert, und dafür allerlei Ablässe (Perdonanze) ertheilt wurden. [...] Knight fand sich durch alles dieß so lebhaft angeregt und wußte bei seiner Belesenheit in den Alten so viele Beziehungen auf den Lingamdienst des Schiwa in Indien und auf den Bacchischen Phallusdienst zu finden, daß er sich, viel-

116 »Cette Spintria parle d’elle-même. Ce n’est point sur un Priape insensible, que la belle est à cheval : un jeune homme très-bien fait & très-vigoureux en fait la fonction. Cette attitude est du goût de beaucoup de gens, & les Dames mêmes y trouvent plus de plaisir. On prétend que Priape va plus au fond, & que la belle par ses mouvemens se procure une volupté plus vive & une libation plus abondante. Les connaisseurs & les Dames en jugeront d’après leur expérience.« Ebenda, S. 49. 117 »There is naturally no impurity or licentiousness in the moderate and regular gratification of any natural appetite; the turpitude consisting wholly in the excess or perversion.« A discourse on the worship of Priapus and its connection with the mystic theology of the ancients by Richard Payne Knigth to which is added an account of the remains of the worship of Pripapus lately existing at Isernia in the Kingdom of Naples by Sir William Hamilton, K. B., London 1786, S. 30. 118 Ebenda, S. 27.

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Abb. 17 »a very natural symbol of a very natural … system of religion« (Knigth) – Phallusvotive, Ton fach von Hamilton darin aufgemuntert und unterstützt, entschloß, ein mythologischantiquarisches Werk darüber auszuarbeiten und der Societät, deren Mitglied er war, zuzueignen.119

Die hier von Böttiger aus dem Discourse on the worship of Priapus referierten Gedanken über den zu vermutenden Traditionszusammenhang vom indischen Lingamdienst zum Bacchischen Phallusdienst und darüber hinaus finden sich, wie wir gesehen haben, in Böttigers Ideen zur Kunst-Mythologie wieder. In seinen erotischen Studien bezieht sich Böttiger dort, wo er die Nachbildungen des männlichen Gliedes in verschiedenen Materialien abhandelt, ausdrücklich auf den Discourse (Bl. 21v): Hierher gehören auch die wächsernen Priapen, die in der Kirche von St. Cosmo zu Isernia als Amulete vertheilt wurden, und vom Ritter Hamilton aufgespürt den engl. Archäologen Robert Paine Knight veranlaßte sein Buch on the worship of Priapus zu schreiben.

Böttigers erotische Forschungen knüpfen an diejenigen Knights an, stellen jedoch keine Ausführung der Grundgedanken derselben dar. So hatte Böttiger seine eigenen Forschungen zum bösen Blick und zum Fascinus, zu welchen er seinen Freunden eine Abhandlung in Archäologie und Kunst zu liefern versprach,120 nicht in das Konvolut der Phallica eingeordnet, sondern gesondert abgelegt.121 In dem bereits zitierten Nekrolog, den Böttiger nach Knigths Tod im Jahre 1824 in der Amalthea veröffentlichte, beurteilt er dessen Buch sehr kritisch:

119 Karl August Böttiger: Zusatz des Herausgebers [zu einem Brief Noehdens]. Ueber Richard Payne Knigth, in: Amalthea (wie Anm. 17), Bd. 3, S. 408–418, hier S. 411f. 120 Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 4. November 1827, Bibliothek des Institut de France, Signatur: MSS. – 2065 (t LXV), pièce 117. 121 SLUB, Msc. Dresd. h 37, Verm. 2°, Kapsel 1, 4) Böttigers Verdienste um Alterthümer und Kunstsammlungen, Catalog, S. 428f.

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René Sternke Indeß behandelte Knight dieß Aergerniß von Isernia nur als Veranlassung zu einer tiefern Forschung in den Priapusdienst der asiatischen und griechischen Vorwelt überhaupt, und mühte sich sehr mit vorgeblichen Androgynenbildern ab, die er auch in Kupferstichen beilegte, ohne jedoch nach dem Standpunkt, auf welchem damals dergleichen Forschungen gestellt waren, eine lichtvollere Uebersicht in diesen die ganze alte Welt durchdringenden Geschlechtsdualismus des befruchtenden und befruchteten Prinzipes zu gewinnen.122

Böttiger stellt Knigths Darstellung einer linearen Geschichte die Vorstellung einer mehrsträngigen, komplexeren und differenzierteren Entwicklung entgegen: Man muß, um dieß hier nur in den äußersten Umrissen anzudeuten, durchaus eine doppelte Einwanderung des Phallusdienstes in das pelasgische Griechenland annehmen, einmal durch den sabazischen Bacchusdienst aus Phrygien und Kleinasien nach Thrazien herab bis nach Theben. Hier wurde das stiergestaltete Sonnenprinzip durch ein Symbol des Erzeugungsgliedes in dem mystischen Körbchen, an dessen Stelle die daraus hervorzüngelnde Schlange tritt, (und damit das Vorspiel zu aller Symbolik der spätern gnostischen Orphiten) oder auf der mystischen Kornschwinge (Vannus mystica) repräsentirt. Man schnitzte es aber auch aus Feigen- oder Olivenholz, und so kam es einst auf eine eigene Weise verhüllt in Lesbos angeschwommen. (Pausan. X, 19. 2.) Dieß der spätere Ursprung des eigentlichen Priapusdienstes am Hellespont, zu Lampsacus u.s.w. wobei ein älterer Dämon aus dem Thiasos des sabazischen Gottes nur zum Träger des eigentlichen Gliedes, der wahre Mutinus wurde. Auf einer andern Seite kam durch den phönizischen Hermesdienst der syrisch-ägyptische Phallus zuerst an die griechischen Küsten, indem an die zum Merkzeichen aufgerichtete rohe Säule aus Holz, später viereckig behauen aus Stein, dieß allgemein giltige Prinzip der erzeugenden Kraft angeheftet wurde. Daher hatten alle Hermen, wenn keine Hermokopiden sie verstümmelt hatten, dieß Abzeichen, welches aber, so bald es zu Hermen gehört, nicht Priap genannt werden sollte. Damit fließt nun der arcadische Pan und der widderförmige Ammon zusammen. Denn Stier, Bock, Widder sind die drei Repräsentanten aller Erzeugung bei Hirten und ackerbauenden Völkern.123

Abschließend erinnert Böttiger im Nekrolog an den durch das Buch ausgelösten Skandal, der zu seiner Unterdrückung geführt hatte, so dass er selbst es nur durch einen Glücksfall in Weimar124 hatte kennen lernen können: Allein die Sache nahm in England besonders, durch absichtliche Missdeutung und Witzelei verdächtigt, bei der großen Decenz der Brittinnen in den hohen Ständen, eine sehr verdrießliche Wendung für den Verfasser und verbitterte ihm manche Stunde seines Lebens. Er schenkte die Auflage, wovon er nur wenige Exemplare selbst vertheilt oder seinem Freund, dem Ritter Hamilton in Neapel zur Vertheilung anvertraut hatte, der 122 Böttiger: Zusatz des Herausgebers (wie Anm. 119), S. 413. 123 Ebenda, S. 413f. 124 Wie Böttigers Ausführungen in der Amalthea belegen, behauptet Julia A. Schmidt-Funke zu Unrecht, dass er das Exemplar der Herzogin Anna Amalia »offenbar« in seinen Besitz gebracht habe. Vgl. Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760–1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg 2006, S. 97. Das Exemplar mit der Widmung Hamiltons befindet sich noch heute in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar: Vgl. http://opac.ub.uniweimar.de/DB=2/SET=2/TTL=2/SHW?FRST=6

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Abb. 18 »nur … Träger des eigentlichen Gliedes« (Amalthea) Phallisches Figürchen, Fayence

Ant i q u a r i a n S o c i e t y, deren thätigstes Mitglied er war, oder den Herausgebern der Arch a e o l o g i a Br i t t a n i c a , die aber das ärgerliche Buch unter Riegel und Siegel legten und mit größter Strenge darüber hielten, dass nichts davon ins Publikum käme. Darum gehört es überall zu den größten bibliothekarischen Seltenheiten und kann nur durch Geschenk erworben werden. (Das auf der Großherzogl. Weimarischen Bibliothek befindliche Exemplar war ein Geschenk, welches Hamilton an die Reisegefährten der verwittweten Herzogin Amalia machte.) Aber immer hing sich eine böse Nachrede an dieß Buch.125

Die böse Nachrede, die sich an das Buch gehängt hatte, fand ihre Ursache auch darin, dass die Dilettanti, in deren Mitte Knight seine Forschungen durchführte, die antiken Symbole im Rahmen ihrer Geselligkeitskultur mit neuer lebendiger Bedeutung erfüllten. Böttiger verteidigt 1825 seinen verstorbenen Briefpartner gegen die Angreifer mit einem Gegenangriff: »Wer hier obscönes wittert, der hat schon eine befleckte Fantasie.«126 * 125 Böttiger: Zusatz des Herausgebers (wie Anm. 119), S. 414. 126 Ebenda.

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Als Teil der in den neunziger Jahren einsetzenden britischen Kampagne gegen den Connoisseur als überlebtes kulturelles Ideal und kosmopolitischen Schädling verspotteten James Gillrays ebenso schlüpfrige wie moralisierende Karikaturen die Liebschaft der Lady Hamilton mit dem General Nelson in einem Zuge mit ihren antikisierenden Attitüden, den Antikensammlungen ihres Gatten, des Ritters Hamilton, und der mit Blasphemien gespickten historisch-antiquarischen Abhandlung über den Priapuskult von Richard Payne Knigth.127 Durch ihre im abgeschlossenen Raum vorgenommenen erotischen Studien erregten die Dilettanti öffentliches Ärgernis, wobei ihnen auch das Wirken im Verborgenen zum Vorwurf gemacht wurde. Auf ihren parodistischen Umgang mit antiker und moderner Religion antwortete Gillray mit der Parodie ihrer eigenen kulturellen Praktiken. Böttiger wiederum parodiert Gillrays Karikaturen im parodistischen Gebrauch eines philologischen Genres: des Kommentars. Böttiger hatte Gillrays Spottbilder in London und Paris so scharfsinnig analysiert, dass seine »awareness«, sein rhetorisches Geschick und sein aggressiver Witz noch 2008 in dem zu einer Ausstellung im Getty-Museum erschienenen Katalog bewundert werden, der den »parodic commentator« ausgiebig zitiert.128 So wie Knight mit den Religionen parodistisch umgeht und so wie Gillray Knigth parodiert, so parodiert Böttiger Gillray. Die Karikaturen gegen den Ritter und die Lady Hamilton bilden nun ihrerseits einen Bestandteil der Böttiger’schen Sammlung (Bl. 9r): 3 grosse colorirte erot. Caricaturen, worunter die zwei berühmten von Gilray, Lady Hamilton als Didone abandonnata da Nelson fortsegelt und Chevalier Hamilton als Conoscenti.

Dass Böttiger diese Karikaturen in seine antiquarischen Papiere integriert, ist in mehrfacher Hinsicht signifikant, denn diese Karikaturen reflektieren einerseits die antiquarische Forschung über erotische Gegenstände und sind andererseits, wie Böttigers Bezeichnung ›erot[ische] Carikaturen‹ belegt, selbst erotisch. Böttiger reflektiert durch die Einbeziehung dieser modernen Monumente nicht nur die Wirkung erotisch-antiquarischer Forschungen, sondern auch die äußeren Bedingungen und inneren Voraussetzungen derartiger Forschungen. Erotisch sind die metaerotischen Forschungen, erotisch ist aber auch ihre Kritik durch Gillray. Der erotische

127 Vgl. Bruce Redford: James Gillray’s ›Cognoscenti‹ Caricatures: Flaying the cosmopolitan amateur, collector, and connoisseur, in: Ders.: Dilettanti. The antic and the antique in eighteenthcentury England, Los Angeles 2008, S. 129–142, hier 129–136. 128 Ebenda, S. 139f. – Eine Neuedition von verschiedenen Kommentaren Böttigers zu Gillrays Karikaturen in englischer Übersetzung findet sich in: Christiane Banerji, Diana Donald: Gillray observed. The Earliest Account of his Caricatures in London and Paris, Cambridge 1999.

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Diskurs lässt sich für ihn vom metaerotischen Diskurs nicht trennen.129 Erotische Studien schließen sich in ihren eigenen Untersuchungsgegenstand ein. * Die Kategorie des ›Natürlichen‹, deren Verwendung wir in verschiedenen Zusammenhängen bemerkt haben, spielt auch in der anthropologischen Forschung eine bedeutende Rolle. Böttiger, der diese Kategorie in seine erotischen Forschungen übernimmt, knüpft ausdrücklich an derartige Studien an, wenn er notiert (Bl. 4r): Ueber die unnaturliche Befriedigung des Geschlechtstriebes S. Meiners Geschichte des weiblichen Geschlechts I, 142–56.

In dem hier hervorgehobenen Abschnitt des genannten Buches aus dem Jahre 1788 untersucht Christoph Meiners, ordentlicher Professor der Weltweisheit in Göttingen, die Entstehung der erwähnten Praxis anhand der Bewohnerinnen des Harems: Durch die träge und geschäftlose Ruhe, in welcher sie leben, und durch die Nahrungsmittel und Leckereyen, die sie genießen, werden ihre natürlichen Triebe bis zur verzehrenden Heftigkeit entflammt, und da diese Triebe in den wenigsten auf natürliche Art befriedigt werden, so entstehen daher scheußliche Lüste und Laster, die in Europa nur den verdorbensten Ungeheuern in den grösten Hauptstädten bekannt sind.130

Meiners führt »die Ausbrüche unnatürlicher Lüste, Leidenschaften und Laster« auf »die Beraubungen erlaubter Freuden« und »die Unterdrückungen natürlicher Triebe« zurück.131 Meiners stellt fest, dass die Morgenländerinnen um die Gunst von schönen Mädchen mehr buhlten als um die von Männern und sich untereinander feuriger liebten, als sie ihre Männer und Gebieter liebten. Der Göttinger Professor begründet dass damit, dass die unnatürlichen Neigungen einen Hass gegen das männliche Geschlecht hervorriefen, so wie die unnatürliche Liebe der Männer Gleich-

129 Die Problemstellung ist aktuell: »Das Sprachproblem bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Pornografie besteht und kann nicht vermieden werden, aber es d a r f auch nicht vermieden werden. […] Man kann sich nicht dispensieren, nicht heraushalten, man wird persönlich tangiert und mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen, Verhaltensweisen, Sehnsüchten und Abgründen konfrontiert.« Werner Faulstich: Die Kultur der Pornographie. Kleine Einführung in Geschichte, Medien, Ästhetik, Markt und Bedeutung, Bardowick 1994, S. 26f. – »Ein Buch über die Geschichte des pornographischen Films kann gar nicht anders, als selber in gewissem Maße pornographisch sein (und damit meine ich keineswegs nur den Bildteil). Wäre sie es das nicht, so müßte diese Geschichte eine sein, die für die Zensoren geschrieben wurde. Um sie aber als Geschichte gesellschaftlicher Wahrnehmung zu schreiben, muß man sich hier und da diese Wahrnehmung selbst zu eigen machen.« Georg Seeßlen: Der pornographische Film, Berlin 21990, S. 11. 130 Christoph Meiners: Geschichte des weiblichen Geschlechts von C. Meiners ordentlichem Lehrer der Weltweisheit in Göttingen. Erster Theil, Hannover 1788, S. 142f. 131 Vgl. ebenda, S. 145.

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gültigkeit gegen Weiber hervorbringe.132 – Böttiger übernimmt Meiners’ Erklärungsmuster in seiner Erörterung der Erfindung der Olisboi. Er sieht darin eine »Erfindung des asiatischen Harems«, die durch die »Ermangelung des wirklichen Beischlafs« verursacht worden sei (Bl. 19r). Unnatürlich nennt er es, wenn die Griechen die Schemata »im Incest mit der Mutter geträumt« hätten (Bl. 23r). Auch den Oralverkehr, die Irrumatio, wie Böttigers Ausdruck lautet, an welchen man sich durch das Trinken aus Gefäßen »in der Gestalt von Priapen und weiblichen Muscheln« erinnere, bezeichnet er als eine »unnatürliche Wollust« (Bl. 22r). * Bei Böttigers erotischen Studien handelt es sich keineswegs um Niederschriften eines isolierten Individuums, die außerhalb eines jeglichen Kommunikationszusammenhanges stehen. Die zitierten Texte zahlreicher Autoren schließen Böttigers Aufzeichnungen an unterschiedliche Diskurse an. Es treten aber auch Kommunikationspartner auf die Bildfläche, deren Äußerungen Böttiger nicht nur rezipiert, sondern mit denen er direkt in einem mündlichen oder schriftlichen Austausch über die hier interessierende Thematik gestanden hat: Sammler wie der Herzog von Gotha, die Böttiger ihre Sammlungen zugänglich gemacht haben, Archäologen wie Millin oder Heinrich August Hase, mit denen Böttiger brieflich oder mündlich diskutierte, Künstler wie Heinrich Gotthold Arnold, Johann Conrad Wolf oder Johann Christian Jacob Friedrich, die für Böttiger Erotika kopierten, Freunde wie Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall, die Böttiger dergleichen verschafften, usw. Wir dürfen also annehmen, dass eine lebhafte mündliche Kommunikation um die fraglichen Gegenstände stattgefunden hat, deren Spuren nur mühsam aufgefunden werden können. So notierte Böttiger Wielands Ansichten über die »sacris phallicis des grauen Alterthums« als die »ehrwürdigsten Naturfeierlichkeiten« und dessen Bemerkung, dass »der heiligste Naturtrieb« nun »durch Pfafferei entadelt und verschrien« worden sei.133 Böttiger kannte aus Goethes Sammlung den »priapischen Carpophoros«,134 den beider Freund Heinrich Meyer zeichnete, und hielt ein Gespräch mit Wieland 132 Ebenda, S. 153. 133 »Ich habe besondere Vorstellungen von den sacris phallicis des grauen Alterthums. Es waren die ehrwürdigsten Naturfeierlichkeiten. So bald der Mensch nur ein Glied an seinem Leibe hat, dessen er sich schämen muß, hat er seine Unschuld verloren. Man tadelt es, daß nackte Figuren da aufgestellt werden, wo Mädchen im Hause sind. Hätte ich nur recht viel, ich wollte alle meine Zimmer davon anfüllen. Warum ziehn wir denn den Hunden und Ochsen nicht auch Hosen an? Der heiligste Naturtrieb ist durch Pfafferei entadelt und verschrien worden.« Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, hg. von René Sternke und Klaus Gerlach, Berlin 1998, S. 172f. 134 »Auch zeichnete M[eyer] den priapischen Carpophoros, den Göthe von dem H[er r n] v. Mur r bey seiner Rückkehr aus Italien kaufte. Schon bey der Hinreise hatte ihn Murr und wollte 20 Ducaten dafür haben. Jetzt bekam ihn G[oethe] durch die feine Art, mit [der] er dem Brocanteur Gold zeigte, für die Hälfte.« Ebenda, S. 77f.

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Abb. 19 »die ehrwürdigsten Naturfeierlichkeiten« (Wieland) Phallischer Dämon, Fayence

und Goethe fest, in welchem letzterer äußerte, »daß die ursprünglich einzige vis comica in den Obscenitäten und den Anspielungen auf Geschlechtsverhältnisse liege, und von der Comödie gar nicht entfernt gedacht werden könne«.135 * Dabei ist jedoch keineswegs davon auszugehen, das innerhalb der Gesellschaft, die in Weimar und Dresden mündlich über derartige Gegenstände kommunizierte, ein Konsens darüber bestand, ob und wie darüber gesprochen werden kann, soll oder darf. Die zuletzt zitierte Bemerkung Goethes lieferte Wieland ein Argument zu Verteidigung seiner Übersetzungen des Aristophanes, der ihm »der Gott der alten Comödiendichter«, anderen aber ein »Schweinigel« war.136 Wielands erste Bemer135 »Göthe äuserte gegen Wieland, daß die ursprünglich einzige vis comica in den Obscenitäten und den Anspielungen auf Geschlechtsverhältnisse liege, und von der Comödie gar nicht entfernt gedacht werden könne.« Ebenda, S. 251. 136 »Darum sei Aristophanes der Gott der alten Comödiendichter, sagt Wieland, und darum hätten wir eigentlich gar kein Lustspiel mehr. (Selbst die Comödie des Menanders hatte noch einzelne bons mots, die das Volk unendlich belustigten Lepus tute es, et pulpamentum quaeris. Ego illum vel sobrius. Quis heri Chrysidem habuit? u.s. w.) Es ist auch wahr, fuhr Wieland fort, daß selbst der strengste, ernsthafteste Mann, sobald er es unbemerkt thun darf, bei einem glücklichen Einfall aus dieser Fundgrube des Witzes, der den Bettler wie den König

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kung wurde durch Schillers »hämischen Ausfall« auf seine Dichtungen in dessen in den Horen publiziertem Aufsatz Die sentimentalischen Dichter veranlasst.137 Wir haben beobachtet, wie Rousseau den Naturzustand, in welchem der Mensch noch einzeln lebe, dem Kulturzustand schroff entgegenstellt und erst in letzterem Sittlichkeit und Unsittlichkeit als einander bedingende und gemeinsam einen systematischen Zusammenhang konstituierende Phänomene aufkommen sieht. An dieser Stelle setzen bekanntlich seine Kritiker wie Joseph de Maistre an, die den Menschen von Anbeginn an unter gesellschaftlichen Bedingungen leben sehen.138 Doch selbst wenn der von Rousseau angenommene Naturzustand nur hypothetischen Charakter hat, behält seine Reflexionsfigur doch eine anhaltende Bedeutung und ist von neueren Denkern wie Foucault aufgegriffen worden. Wenn Friedrich Schiller sagt, dass »aus den Sitten die natürliche Unschuld verschwunden« sei, weicht er das Rousseau’sche Denkmodell auf, indem er die Existenz eines frühen Kulturzustandes annimmt, in welchem die natürliche Unschuld noch geherrscht habe, jedoch anstelle der in der späteren künstlichen Welt als heilig geltenden Gesetze des Anstandes noch die Gesetze der Natur in einer Unschuldswelt regiert hätten.139 Diese Retusche an Rousseaus Tableau ermöglicht es Schiller, eine belustigt, seine Stirn entrunzelt, und daß diesem universellen Mittel aus Democritus Apotheke eigentlich kein Sterblicher widerstehen kann. (Darum die Aeschrologia und ijufallika in den ernsthaftesten und heiligsten aller alten Religionsgebräuche in den Mysterien der Ceres, von welchen man erzählte, sie hätten selbst der unaussprechlich bekümmerten Mutter, wenn Sie auf dem a¬gélastov petra gesessen habe, Lachen abgelockt) Darum ist eben mein Aristophanes kein solcher Schweinigel, als ihn unsere Ueberverfeinerung achten will.« Ebenda. 137 »Als ich zu ihm kam, hatte er eben den hämischen Ausfall S ch i l l ers in den Horen 1795. XII St[ück] gelesen, und war über der letzten Revision seiner Abderiten begriffen. […] Komme ich einst dazu, die Geschichte meiner Schriften zu schreiben, so werde ich vieles über die mir angeschuldigte Schlüpfrigkeit meiner Schriften zu sagen haben.« Ebenda, S. 172. 138 »Or si nous demandons à l’histoire ce que c’est que l’homme, l’histoire nous répond que l’homme est un être social, et que toujours on l’a observé en société. […] Et il faut bien remarquer qu’on n’a point de droit de nous dire : Prouvez que l’homme a toujours vécue en sociét é, car nous répondrions : Prouvez qu’il a vécu aut rement, et, dans ce cas, rétorquer c’est répondre, parce que nous avons pour nous, non seulement l’état actuel de l’homme, mais son état de tous les siècles, attesté par les monuments incontestables de toutes les nations.« Joseph de Maistre: Contre Rousseau (De l’état de la nature), Paris 2008, S. 38. 139 »Die Gesetze des Anstandes sind der unschuldigen Natur fremd; nur die Erfahrung der Verderbnis hat ihnen den Ursprung gegeben. Sobald aber jene Erfahrung einmal gemacht worden, und aus den Sitten die natürliche Unschuld verschwunden ist, so sind es heilige Gesetze, die ein sittliches Gefühl nicht verletzen darf. Sie gelten in einer künstlichen Welt mit demselben Rechte, als die Gesetze der Natur in der Unschuldswelt regieren.« Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe, hg. von Hans-Günther Thalheim u. a., Berlin 2005, Bd. 8, S. 433–522, hier S. 482.

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Dichtertypologie aufzustellen und den naiven Dichter, der in sich alles, was an die künstliche Welt erinnere, auszulöschen und die Natur in ihrer ursprünglichen Einheit wieder herzustellen vermöge, dem den Kulturzustand reflektierenden sentimentalischen Dichter entgegenzustellen. Für die poetische Lizenz, erotische Gegenstände zu behandeln, setzt Schiller folgende sie einschränkende Regeln fest: Fürs erste: nur die Natur kann sie rechtfertigen. Sie dürfen nicht das Werk der Wahl oder einer absichtlichen Nachahmung sein […]. Sie müssen also Naivetät sein. […] Fürs zweite: nur die s ch ö n e Natur kann dergleichen Freiheiten rechtfertigen. Sie dürfen mithin kein einseitiger Ausbruch der Begierde sein […]. […] Aus dem Ganzen und aus der Fülle menschlicher Natur müssen auch diese sinnlichen Energien hervorgehen.140

Folglich wird Ovid, der Autor einer Kunst der Liebe, von Schiller, wie schon zuvor von Rousseau, verworfen. Ebenso verwirft Schiller Wielands erotische Darstellungen, die zwar »keine materielle Tendenz« hätten, aber durch »den kalten Verstand« entworfen worden seien.141 Böttiger greift Schillers Gegenüberstellung des Naiven und des Sentimentalen auf, sieht darin aber nur verschiedene Darstellungsweisen, von denen die Antike die erste, die Darstellung durch ein den sinnlichen Genuss begünstigendes, eindeutiges natürliches Symbol, die Moderne aber die zweite, die Darstellung durch ein zur Reflexion einladendes, ins Unbestimmte und Vieldeutige weisendes künstliches allegorisches Zeichen, bevorzugt habe.142 Böttiger erläutert das an einem erotischen Kunstwerk, der Kapitolinischen Gruppe Amor und Psyche, von welcher die Dresdner Sammlung eine Replik »aus sehr später Zeit« enthält, deren Datierung in die Antike Böttiger in Frage stellt:143 Zwei holde jugendliche Gestalten in der ersten Schönheitsknospe umarmen sich liebkosend und küssend. Wer wollte dadurch nicht befriedigt, gleichsam in Lust getaucht und berauscht sein. […] In der ant iken Gr upp e ist die Darstellung ganz symbolisch (rei n al l e gor isch). Der Kuß ist der natürliche Ausdruck der innigen Vereinigung zweier Liebenden, das Siegel, welches den Bund der Herzen bestätigt. Es giebt also auch kein natürlicheres, treffenderes Symbol der Liebe, als Umarmung und Kuß. So spricht sich die antike Gruppe ganz selbst aus. Sie bedarf keiner Auslegung. […] – In der m o der nen Gr upp e ist der Schmetterling, den Psyche auf Amors Hand setzt, ein allegorisches Zeichen. Ich muß es mir erst in meine eigene Denkform übersetzen (wie Worte einer fremden Sprache, die ich nur angelernt habe, in der ich nicht denke), unter dessen geht ein guter 140 141 142 143

Ebenda, S. 483. Vgl. ebenda, S. 485. Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 168–173. »Es giebt auch kleine Nachbildungen dieser Gruppe, die man für Antiken hält. Die Dresdner Antikengalerie enthält eine dergleichen Gruppe aus sehr später Zeit (wenn überhaupt antik?). Da sie aber auch aus der Chigischen Sammlung nach Dresden kam, that ihr Becker die unverdiente Ehre an, sie im achten Heft No. LXV. auch stechen zu lassen. In der Erklärung S. 59. sagt er selbst, sie sei ohne allen Kunstwerth.« Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Zweiter Band (wie Anm. 5), S. 431f. – Zu Böttigers früherem Urteil und zur heutigen archäologischen Beurteilung dieser Gruppe vgl. den Beitrag von Kordelia Knoll im vorliegenden Band, S. 183f.

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Abb. 20 »kein natürlicheres, treffenderes Symbol der Liebe« (Kunst-Mythologie) Amor und Psyche, Marmor Theil des rein sinnlichen Eindruckes, des G enusses in der Anschauung , verloren. […] In antiken Werken ist Ausdruck der Handlung selbst, der Moment des Kusses, der Mittelpunkt des Interessanten, und dieß heißt n a i v. […] – Dem ohngeachtet werden die sentimentalen Beschauer, die das Unbestimmte und Vieldeutige lieben, weil sich da Viel hinein legen läßt, das moderne Werk stets vorziehen. Wer aber das Naturzeichen selbst für treffender und verständlicher hält, als jede künstliche Bezeichnung, wer den natürlichen Ausdruck des Affects dem allegorischen vorzieht, wem eine schöne Idee mehr gilt, als eine schöne Mürbheit und Zartheit im Ausdruck, der wird sich am Ende doch für die antike Gruppe erklären.144

Der natürliche Ausdruck verhält sich hier zum künstlichen wie das verbum proprium zur rhetorischen Figur. Er gehört, auch wenn er Charakteristik einer älteren Epoche ist, ebenso wie der künstliche dem Kulturzustand an. Böttiger betont den Aspekt der 144 Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Zweiter Band (wie Anm. 5), S. 432–440.

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Sittlichkeit in der antiken naiven Darstellung ausdrücklich, indem er an dieser die Merkmale der Zucht und der Schamhaftigkeit hervorhebt.145 Gleichzeitig fasst Böttiger Schillers Begriff des Naiven in Bezug auf die Sinnlichkeit neu und sentimentalisiert ihn gewissermaßen. Wie Schiller sieht Böttiger Naivität und Lüsternheit in Opposition. Während Schiller die Naivität sinnlicher Darstellungen daran erkennt, dass sich der Künstler ganz und gar der Natur unterworfen und damit die Sinnlichkeit freigelassen habe,146 setzt Böttiger die Naivität als etwas nur psychisch Wirkendes der sinnlichen Lüsternheit entgegen.147 Die naive Darstellung ist nach Böttigers Begriffen nicht weniger reflektiert, sinnbildlich und geistreich als die sentimentale.148 Das Konzept naiver Sinnlichkeit, wie sie Schiller dem in den Naturzustand zurückgekehrten Künstler zuspricht, bleibt Böttiger fremd. * Goethes Venezianische Epigramme und Römische Elegien sind Werke eines sentimentalischen Dichters, wie ihn Schiller charakterisiert, denn sie sind unleugbar »das Werk der Wahl« und »einer absichtlichen Nachahmung«. Als Ausdruck der Entfremdung von der den Dichter umgebenden Welt und Gegenentwurf zu den ihn umgebenden »kleinlichen Vorstellungen« sind die darin enthaltenen erotischen Darstellungen Reflexion, Kritik und Provokation der Gegenwart.149 Die in diesen 145 »Sie umstrickt mit züchtiger Umarmung den Geliebten« Ebenda, S. 433. – »Daß es der erste Kuß ist, zeigt die noch bis zur Hüfte heraufreichende schamhafte Bekleidung der Psyche.« Ebenda, S. 434. 146 »[…] nur einem Herzen, welches sich allen Fesseln der Natur unterwirft, erlauben wir, von den Freiheiten derselben Gebrauch zu machen.« Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (wie Anm. 139), S. 483. 147 »Es ist nur das Vorspiel der Liebe, mithin der Ausdruck der höchsten Unschuld und Naivität, welche hier nur psychisch wirken und alle sinnliche Lüsternheit entfernen können.« Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Zweiter Band (wie Anm. 5), S. 433. 148 »Dennoch tritt der reflectirende Verstand hinzu und sagt, daß dadurch die innigste Vereinigung zweier Liebenden zum ewigen Ehebund versinnbildet, allegorisirt wurde.« Ebenda. – »Es ist in der Umar mung eine sehr geistreiche, charakteristische Andeutung beider Geschlechter.« Ebenda. 149 »In Italien fühlt’ ich mich nach und nach kleinlichen Vorstellungen entrissen, falschen Wünschen enthoben und an die Stelle der Sehnsucht nach dem Land der Künste setzte sich die Sehnsucht nach der Kunst selbst; ich war sie gewahr geworden, nun wünscht’ ich sie zu durchdringen. / Das Studium der Kunst wie das der alten Schriftsteller gibt uns einen gewissen Halt, eine Befriedigung in uns selbst; indem sie unser Inneres mit großen Gegenständen und Gesinnungen füllt, bemächtigt sie sich aller Wünsche die nach außen strebten, hegt aber jedes würdige Verlangen im stillen Busen; das Bedürfniß der Mittheilung wird immer geringer, und wie Mahlern, Bildhauern, Baumeistern, so geht es auch dem Liebhaber; er arbeitet einsam, für Genüsse die er mit andern zu theilen kaum in den Fall kommt. / Aber zu gleicher Zeit sollte mich noch eine Ableitung der Welt entfremden und zwar die entschiedenste Wendung gegen die Natur, zu der ich aus eigenstem Trieb auf die individuellste Weise hin-

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Dichtungen unternommenen Traditionsbezüge sind evident. – In welchen räumlichen Verhältnissen befindet sich der Liebende, der Sprecher, zur Geliebten? Immer halt’ ich die Liebste begierig im Arme geschlossen, Immer drängt sich mein Herz fest an den Busen ihr an, Immer lehnet mein Haupt an ihren Knien, ich blicke Nach dem lieblichen Mund, ihr nach den Augen hinauf. 150

Drei Bilder folgen aufeinander, zwischen dem zweiten und dem dritten, zwischen Vers 2 und 3, hat offensichtlich ein Positionswechsel der Liebenden stattgefunden. Die Leiber der Liebenden werden bald ganz, bald partiell wiedergegeben (die Liebste und sein Arm, sein Herz und ihr Busen, sein Haupt und ihre Knie), so dass es der Fantasie des Lesers aufgegeben ist, das Bild der beiden Körper zu vervollständigen. Die Figur des pars pro toto geht hier mit einer anderen einher, der Litotes, denn der Leser darf sich die übrigen Gliedmaßen, die er zu ergänzen hat, nicht unabhängig von Handlung und Bewegung vorstellen. Gehört das »hinauf« in Vers 4 zu den Augen oder auch zum Mund? Immerhin bildet die Zäsur nach Mund einen vorläufigen Abschluss. Was ist mit dem »lieblichen Mund« gemeint? Sollte in dem Gedicht eine Metapher vorkommen? – Ein anderes Bild: […] hatte das Mädchen im Schoos.151

Wieder ein anderes, – wobei nach dem »mir«, das nachdrücklich zu sprechen ist, damit es als Hebung hervorgehoben und die Zäsur nicht verwischt wird, eine unscheinbare Sprechpause entstehen dürfte, in der die Fantasie des Lesers schweifen kann: Warum leckst du dein Mäulchen, indem du mir eilig begegnest? Wohl dein Züngelchen sagt [ | ] mir [……] wie gesprächig es sei.152

Gleich anschließend heißt es: Sämtliche Künste lernt und treibet der Deutsche; […]153

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gelenkt worden. Hier fand ich weder Meister noch Gesellen und mußte selbst für alles stehen. In der Einsamkeit der Wälder und Gärten, in den Finsternissen der dunklen Kammer wär’ ich ganz einzeln geblieben, hätte mich nicht ein glückliches häusliches Verhältniß in dieser wunderlichen Epoche lieblich zu erquicken gewußt. Die Römischen Elegien, die Venetianischen Epigramme fallen in diese Zeit.« Johann Wolfgang Goethe: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 30, Stuttgart und Tübingen 1829, S. 192f. Johann Wolfgang von Goethe: Epigramme. Venedig 1790, in: Ders.: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Bd. 1, Weimar 1887, S. 305–331, Nr. 3, S. 308. Nr. 27, ebenda, S. 313. Nr. 32, ebenda, S. 314. Nr. 33, ebenda.

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Abb. 21 »hatte das Mädchen im Schoos« (Goethe) – Symplegma, Terrakotta

Dass unter den Künsten, die der Deutsche lernt und – treibt, durchaus auch die ars amator ia begriffen ist, macht das folgende Epigramm klar: Gut der Deutsche versteht sich auf Necktar, wie ihr. […] Dann ein Liebchen des Nachts, das ihn von Herzen begehrt.154

Aber kehren wir zu den Stellungen der Körper zurück: Kehre nicht, liebliches Kind, die Beinchen hinauf zu dem Himmel; Jupiter sieht dich, der Schalk, und Ganymed ist besorgt.155 154 Nr. 34a, ebenda, S. 315. 155 Nr. 38, ebenda, S. 317.

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Abb. 22 »Wende die Füßchen zum Himmel nur ohne Sorge!« (Goethe) – Symplegma, Fayence

Welcher Anblick des Körpers bietet sich dem herabschauenden Jupiter dar, wenn das liebliche Kind die Beine dem Himmel entgegenkehrt? Warum sollte sich Ganymed deshalb Sorgen machen müssen? Das Gedicht veranschaulicht exemplarisch, wie sehr die Epigramme, um überhaupt einen Sinn zu entfalten, auf den mitdenkenden Leser angewiesen sind, der durch Anspielungen zur Evokation konkreter Körperhandlungen eingeladen wird. Im anschließenden Epigramm wird die Situation aufgegriffen und der Liebende als Mithandelnder inszeniert. Die Liebeshandlung ist gleichzeitig Gebet und Parodie des Gebets. Der Sprecher, der sein aufrichtiges oder auch nur parodiertes Schuldbewusstsein reflektiert, ist nichts weniger als naiv: Wende die Füßchen zum Himmel nur ohne Sorge! Wir strecken Arme betend empor; aber nicht schuldlos, wie du.156

Ein Vergleich des folgenden Epigramms mit Marcantonio Raimondis fragmentarisch überlieferter Vorlage157 zu Aretinos fünftem Sonett zeigt deutlich, dass Goethes Venezianische Epigramme mit ihren dem »schwankenden Blick« dargebotenen »die holden Glieder verwechselnd« »willkürlich verwebten Gestalten«158 Transpositionen der Schemata darbieten und somit »Werke einer absichtlichen Nachahmung« sind, wie sie Schillers sentimentalischer Dichter hervorbringt: 156 Nr. 39, ebenda. 157 Neun Fragmente der auf päpstlichen Befehl vernichteten Exemplare der Originalholzschnitte sind im British Museum überliefert. Erst im 20. Jahrhundert wurde ein unvollständiges Exemplar entdeckt, das heute in Privatbesitz ist. In ihm fehlen die Sonette V und VI einschließlich der dazugehörigen Stiche. Vgl. Pietro Aretino, Thomas Hettche: Stellungen. Vom Anfang und Ende der Pornografie, Köln 2003, S. 12–14 und 43. 158 Vgl. Goethe: Epigramme (wie Anm. 150), Nr. 41, S. 317f.

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Abb. 23 »Seitwärts neigt sich dein Hälschen« (Goethe) – Kupferstich von Marcantonio Raimondi zu Nr. V der Sonetti lussuosi von Aretino Seitwärts neigt sich dein Hälschen. Ist das ein Wunder. Es träget Oft dich ganze; du bist leicht, nur dem Hälschen zu schwer. Mir ist sie gar nicht zuwider die schiefe Stellung des Köpfchens; Unter schönerer Last beugte kein Nacken sich je.159

Tatsächlich muss der Leser, wie es laut Böttiger für das sentimentale Kunstwerk charakteristisch ist, das Unbestimmte und Vieldeutige ausdeuten und viel hineinlegen, um überhaupt ein Bild vor die Augen zu bekommen. Auch Aretinos Gedichte liefern nur fragmentarische Momentaufnahmen der Handlung, die in den Wahrnehmungen der Körperteile aus der Perspektive der Liebenden bestehen. Zitieren wir zum Vergleich das Oktett aus dem fünften Sonett Aretinos, in welchem ebenfalls der Liebende spricht: Posami questa gamba in su la spalla, E levami dal cazzo anco la mano, E quando vuoi ch’io spinga forte o piano, Piano o forte col cul sul letto balla. E s’in cul dalla potta il cazzo falla, Di’ ch’io sia un forfante e un villano, Perch’io conosco dalla vulva l’ano, Come un caval conosce una cavalla.160 159 Nr. 40, ebenda, S. 317. 160 Pietro Aretino, Thomas Hettche: Stellungen (wie Anm. 157), S. 42.

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Im Fokus der Aretinischen Darstellung jener Stellung, die möglicherweise auch von Goethe beschrieben wird, stehen andere Fragmente des Körpers: la gamba, la spalla, il cazzo, la mano, il culo bzw. l’ano, la vulva – in Thomas Hettches Nachdichtung: das Bein, die Schulter, der Schwanz, die Hand, der Hintern bzw. Arsch oder Anus und die Vulva.161 Es sind diejenigen Körperteile, die bei der Liebeshandlung in Bewegung versetzt werden und in unmittelbare Berührung miteinander treten. Dagegen thematisiert der Liebende bei Goethe allein diejenigen Partien des Körpers der Geliebten, die sich in seinem Blickfeld befinden, eine statische Position bezogen haben, nicht von ihm berührt werden und deren Darstellung unverfänglich ist: Hälschen, Köpfchen und Nacken, wobei die Sentimentalisierung des Verhältnisses der Liebenden durch den Gebrauch der Diminutive verstärkt wird. Dennoch stellten die Venezianischen Epigramme und die Römischen Elegien eine unglaubliche Provokation dar. Häufig zitiert wird Böttigers Brief an Johann Christoph Friedrich Schulz vom 27. Juli 1795: Zu den merkwürdigsten Erscheinungen an unserm literarischen Himmel gehören Goethes Elegien im Sechsten Stück der Horen. Es brennt eine genialische Dichterglut darinnen, und sie stehn in unserer Literatur ein zi g . Aber alle ehrbaren Frauen sind empört über die bordellmäßige Nacktheit. Herder sagte sehr schön, er habe der Frechheit ein kaiserliches Insigel aufgedrückt. Die Horen, müßten nun mit dem u gedruckt werden. Die meisten Elegien sind bei seiner Rückkunft im ersten Rausche mit der Dame Vulpius geschrieben.162

Böttigers Zeugnis besteht aus drei Teilen: seinem eigenen Urteil, dem Referieren der Weimarer Rezeption und einem Kommentar zur Entstehung. Letzterer stimmt mit Goethes eigenem Bericht überein, der die Venezianischen Epigramme seinerseits in den bezeichneten Entstehungszusammenhang stellt.163 Hervorzuheben ist, dass Böttiger die genialische Dichterglut und die Einzigkeit der Römischen Elegien betont. Mitteilenswert und bedeutsam waren ihm offenbar aber auch die beiden Aspekte, die in den Urteilen der anderen angesprochen werden: das Problematische erotischer 161 »Komm, leg mir auf die Schulter dies Bein / Und nimm vom Schwanz deine Hand, / Wirst du gern heftig oder sanft bemannt, / Falle dein Hintern in den Rhythmus ein. / Und rutscht mir der Schwanz in den Arsch hinein, / Nenn mich ruhig Rüpel und Ignorant. / Mir sind Vulva und Anus so gut bekannt / Wie dem Hengst die Stute, mein Mägdelein.« Ebenda, S. 41. – Hettches naiv sentimentalisierender Zusatz »mein Mägdelein« ist offensichtlich dem Reim geschuldet. 162 Vgl. Wilhelm Bode (Hg.): Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Bd. 2: 1794–1816, [Textrevision Regine Otto], München 1982, S. 41f. 163 »Angenehme häuslich-gesellige Verhältnisse geben mir Muth und Stimmung die Römischen Elegien auszuarbeiten und zu redigiren. Die Venetianischen Epigramme gewann ich unmittelbar darauf.« Johann Wolfgang Goethe: Annalen oder Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse, von 1749 bis 1822, in: Ders.: Goethe’s sämtliche Werke in vierzig Bänden. Vollständige, neugeordnete Ausgabe, Bd. 27, Stuttgart und Tübingen 1840, S. 1–410, hier S. 12; zum Jahr 1790. – Vgl. auch Anm. 149.

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Darstellungen – und damit der Kunst überhaupt – in einer Gesellschaft, in der die Geschlechtertrennung, wie sie in der Antike bestanden hat, aufgehoben ist,164 und die Verbindung von erotischer Darstellung und Prostitution. * Böttigers Aufzeichnungen halten im Abschnitt Ueppige Gemälde den einzigen antiken Beleg für das Wort pornográfoi fest (Bl. 28r) und enthalten einen Abschnitt Über die gesetzliche Hurerei (Bl. 30r). Dazwischen liegt ein Blatt mit der Transkription des dem Appendix zur Anthologia Palatina entnommenen griechischen Epigramms165 auf dem mit einem den Dichter und die Musen darstellenden Relief geschmückten Sarkophag des Künstlers Marcus Sempronius Nikokrates, Dichters und Gitarristen, Mitglieds der Schauspielgilde und Händlers von schönen Frauen (Bl. 29r). Beide Problemfelder, die sinnlich stimulierenden Gemälde und die Prostitution, stehen in engem Zusammenhang, weil es sich bei den Frauen, die auf derartigen bildlichen Darstellungen zu sehen sind, notwendig um Prostituierte handelte. Das belegt auch die oben angeführte Athenaios-Stelle, in welcher der Begriff ›pornográfoi‹ zunächst auf die Maler, welche Prostituierte darstellten, bezogen und dann auf Personen, die über Prostituierte schreiben, übertragen wird. 1769 veröffentlichte Nicolas Rétif de La Bretonne anonym ein Werk unter dem Titel Le Pornographe, ou Idées d’un honnête-homme sur un projet de réglement pour les prostituées, Propre à prévenir les Malheurs qu’occasionne le Publicisme des Femmes : avec des Notes historiques et justificatives. Das Werk zielte also nicht auf sinnliche Erregung des Lesers, sondern auf die gesetzliche Zulassung und Regelung der Prostitution, die der Autor mit dem Terminus »Pornognonomie« bezeichnet.166 In diesem Zusammenhang erläutert er auch den Neologismus »Pornographe«, den er einen halbbarbarischen Ausdruck nennt und welcher einen Schriftsteller bezeichne, der die Prostitution behandle.167 Die Wörterbücher von Charles Duboille aus dem Jahre 1788,168 164 Vgl. dazu Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 189–208. 165 M. SEMPRWNIOS NIKOKRATHS, in: Christian Friedrich Wilhelm Jacobs (Hg.): Anthologia Graeca ad fidem codicis olim Palatini nunc Parisini ex apographo Gothano edita. Curavit epigrammata in codice Palatino desiderata et annotationem criticam adiedit Fridericus Jacobs, Bd. 2, Leipzig 1814, S. 836, Nr. 252. Vgl. auch Bd. 4: Notarum criticarum in corpus epigrammatum quae in anthologia Palatina et Planudea in marmoribus et antiquis scriptoribus servata sunt pars altera, Leipzig 1817, S. 941. 166 »Ce mot grec signifie La Règ le des Lieux de débauche.« [Nicolas Rétif de La Bretonne:] Le Pornographe, ou Idées d’un honnête-homme sur un projet de réglement pour les prostituées, Propre à prévenir les Malheurs qu’occasionne le Publicisme des Femmes : avec des Notes historiques et justificatives, Londres, La Haye 1790, S. 32, Anm. 1. 167 »C’est-à-dire, Écr iv ain qui t r aite de la Prostitution.« Ebenda, Anm. 2. 168 Charles Duboille: Dictionnaire portatif des mots françois, dont la signification n’est pas familière à tout le monde. Ouvrage fort utile à ceux qui ne sont pas versés dans les Langues anciennes & modernes, & dans toutes les connoissances qui s’acquierent par l’étude & le travail. Pour donner aux Mots leur sens juste & exact, dans la lecture, dans le langage & dans le style. On y a joint les

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von Pierre-Claude-Victoire Boiste von 1828,169 von Jean-Baptiste-Bonaventure de Roquefort von 1829,170 von François Raymond von 1832,171 von Jean-Baptiste Morin von 1839172 sowie das Dictionnaire des Dictionnaires aus demselben Jahre173 übernehmen die Definition des Wortes ›pornographe‹ von Rétif de la Bretonne und bestimmen in Ableitung davon ›pornographie‹ als »traité sur la prostitution«, wobei mehrere die Bildung aus ›porné‹, ›femme débauchée‹ und graphô, ›j’écris‹ erläutern. Dafür, dass das Wort ›Pornographie‹ aus Rétifs Ausdruck abgeleitet wurde, spricht, dass Jean-Benjamin de La Bordes Tableau de la Suisse Rétifs Le Pornographe mit der Titelangabe La Pornographie zitiert.174 Roquefort verweist in seinem Wörterbuch ausdrücklich auf das Werk von Rétif de la Bretonne,175 während Morin sich auf dem Titelblatt seines etymologischen Wörterbuchs der dem Griechischen entlehnten Wörter auf die Vorarbeiten des großen Hellenisten Villoison beruft.176 Raymond hebt 1832 hervor, dass die Wörter ›pornographe‹, ›pornographie‹ und ›pornographique‹ selten benutzt werden.177 Laut François Roux’ deutsch-französischem Wörterbuch von 1831 bezeichnet ›pornographe‹ ein ›Unzuchtshaus‹.178 Allerdings

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Noms & les Propriétés de la plupart des Animaux et des Plantes. Nouvelle édition considérablement augmentée, Bd. 2, Paris, Liège 1788, S. 333. Pierre-Claude-Victoire Boiste: Dictionnaire universel de la langue française, avec le latin et les étymologies, extrait comparatif, concordance, critique et supplément de tous les dictionnaires, manuel encyclopédique de grammaire, d’orthographe, de vieux langage, de néologie, Bd. 2, Bruxelles 1828, S. 106. Jean-Baptiste-Bonaventure de Roquefort: Dictionnaire étymologique de la langue françoise, où les mots sont classés par familles ; contenant les mots du dictionnaire de l’Académie françoise, avec les principaux termes d’arts, de scienes et de métiers, Bd. 2, Paris 1829, S. 250. François Raymond: Dictionnaire général de la langue française et vocabulaire universel des sciences, des arts et des métiers, Bd. 2, Paris 1832, S. 274. Jean-Baptiste Morin: Dictionnaire étymologique des mots françois dérivés du grec : Ouvrage utile à tous ceux, qui se livrent à l’étude des sciences, des lettres et des arts, et qui ne sont point versés dans les langues anciennes ; Auquel on a joint les noms des nouvelles mesures, et les autres mots nouveaux tirés du Grec, Paris 21839, S. 247. Dictionnaire des Dictionnaires ou vocabulaire universel et complet de la langue française, reproduisant le dictionnaire de l’Académie française (sixième et dernière édition, publiée en 1835) et le supplément à ce dictionnaire ; publié sous la direction d’un membre de l’Académie française, 2. Bd., Bruxelles 1839, S. 767. Vgl. Jean-Benjamin de La Borde: Tableau de la Suisse, ou voyage pittoresque fait dans les XIII cantons du Corps Helvétique, & États alliés, Représentant les divers Phénomenes que la Nature y rassemble, & les beautés dont l’Art les a enrichis, Bd. 8, Paris 21834, S. 275. »Pornographe, auteur d’un traité sur la pornographie ; titre d’un ouvrage de Rétif de la Bretonne sur les filles publiques.« Roquefort: Dictionnaire étymologique (wie Anm. 170). »Enrichi des notes par M. d’Ansse de Villoison, membre de l’Institut de France, des Académies de Londres, Berlin, Gottingue, Iéna, &c. &c.« Raymond: Dictionnaire général (Anm. 171), S. 274. François Roux: Nouveau Dictionnaire François-Allemand et Allemand-François, contenant tous les mots usités des deux langues, de même que leurs significations propres et impropres, leur usage

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gibt das Dictionnaire des dictionnaires von 1839 unter dem Stichwort ›pornographe‹ neben der Bedeutung »Auteur d’un traité sur la pornographie« auch »Auteur d’un livre obscène« an. Das Konzept der ›Pornographie‹ stand Böttiger noch nicht zur Verfügung. * Der Übergang von der Verwendung des Wortes ›Pornographie‹ für einen Diskurs über die Prostitution zu seinem Gebrauch, um textliche und schließlich bildliche Darstellungen lusterregender Gegenstände zu bezeichnen, scheint das Wort einem abrupten Bedeutungswechsel zu unterwerfen. Bedenken wir jedoch, dass die Ehe, diese vernünftigen Zwecken unterworfene Institution, gemäß dem in jener Zeit vorherrschenden Verständnis weder ein Ort der Leidenschaft noch ein Ort der Sinnlichkeit sein sollte, so erkennen wir, dass der Bedeutungswandel von der Bezeichnung des Diskurses über die Prostitution, die den gesellschaftlichen Rahmen sinnlich raffinierter physischer Interaktionen bildete, zur Benennung des textlichen oder figurativen Diskurses über diese aufreizenden Handlungen in einem sanften metonymischen Gleiten besteht. Schon Seneca hatte gemeint, dass eine Gattin nicht wie eine gewöhnliche Maitresse geliebt werden dürfe, und der Heilige Hieronymus hatte ihm beigestimmt.179 Als Therese Forster sich 1793 von ihrem Mann getrennt und einem anderen zugewandt hatte, wurde das in seiner Anzeige von Forsters Briefen auch von Böttiger falsch ausgelegt. In einem Brief aus dem Jahre 1829 gibt sie ihm daher den Schlüssel zum Verständnis ihres Schrittes in die Hand: »Aber auch ohne die Dazwischenkunft eines Dritten wäre eine Ehe für mich unselig gewesen, weil bei mir Gefühl und Geist herrschte, und ihn das harte Geschick mit einer tierischen, heftigen Sinnlichkeit begabt hatte.«180 Bereits kurz nach ihrer Trennung hatte sie an ihren Vater geschrieben, dass die Forderungen, die ihr Mann an sie gemacht habe, sie »unüberwindlich zurückgeschreckt« hätten, und über Forster geäußert: »seine ungestümen Sinne brauchen bei einem andern Weibe keine Liebe«.181 Die unterschiedlichen Positionen des Ehepaars Forster zur Ehe, für Therese Ort empfindsamer Liebe, für Georg Ort intensiver Sinnlichkeit, sind exemplarisch für unterschiedliche Ehekonzeptionen, wie sie um 1800 erwogen und ausprobiert wurden. dans les sciences, les arts, en stile familier, populaire, burlesque, poëtique etc. Les proverbes, gallicismes et germanismes, le tout distingué soigneusement par des lettres particulières, et mis au jour, Halle 101831, S. 805. 179 Paul Veyne: Sexe et pouvoir à Rome, Paris 2005, S. 170. 180 Maria Theresia Huber an Karl August Böttiger, 6.–8. April 1829, in: Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher und Briefe, hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Bd. 17: Briefe 1792 bis 1794 und Nachträge, bearbeitet von Klaus-Georg Popp, Berlin 1989, S. 706. 181 Maria Theresia Forster an Christian Gottlob Heyne, Saint-Aubin, 22. März 1793, ebenda, S. 704–706, hier S. 704 und 705f.

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Schenken wir Robert Muchembled Glauben, so setzte sich das Konzept des ›double standard‹ durch,182 das dem Mann in der Ehe Gemüthaftigkeit und in der Prostitution, der ihr komplementären Institution, Sinnlichkeit bot. * Das Konzept der romantischen Liebe, wie es Schlegel 1799 in der Lucinde entwickelt, spricht von einem »Enthusiasmus der Wollust«183 und sieht für Gegenwart und Zukunft eine Vereinigung von Religiosität und Sinnlichkeit vor, wie sie im Altertum bestanden habe. Schlegel, für den Prüderie Unnatürlichkeit ist, feiert die Rückkehr zur »ältesten kindlichsten einfachsten Religion«.184 Wie Böttiger bewundert er die Gruppe Amor und Psyche, in welcher er jedoch nicht nur, wie es jener tut, den Ausdruck der innigen Vereinigung zweier Liebender, das Siegel, welches den Bund der Herzen bestätigt, erblickt, sondern die Rose des Lebens, das stille Verlangen nach dem Unendlichen und den heiligen Genuss einer schönen Gegenwart, eine völlige Einheit des Sterblichen und des Unsterblichen, die reine Liebe, ein unteilbares und einfaches Gefühl ohne die leiseste Störung von unruhigem Streben.185 Doch stellt Schlegel das Heilige, wenn er es auf die bekanntermaßen flüchtige Sinnlichkeit stützt, nicht auf ein sehr unsicheres Fundament? Die Frage ist aktuell. Auf Jacques Lacans Feststellung, dass es keine sexuelle Beziehung gebe – »ce rapport sexuel qui n’est pas«186 –, weil das Subjekt mit dem Genuss (la jouissance) nichts zu tun habe und Genuss nur Selbstbezug sei,187 reagierte Alain Badiou, indem er die Liebe zum 182 Vgl. Robert Muchembled: L’orgasme et l’Occident. Une histoire du plaisir du XIXe à nos jours, Paris 2005, S. 256 und 311. 183 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman von Friedrich Schlegel, Stuttgart 1835, S. 12. 184 »Es ist die älteste kindlichste einfachste Religion, zu der ich zurückgekehrt bin. Ich verehre als vorzüglichstes Sinnbild der Gottheit das Feuer; und wo giebts ein schöneres, als das was die Natur tief in die weiche Brust der Frau verschloß? – Weihe Du mich zum Priester, nicht um es müßig zu beschauen, sondern um es zu befreien, zu wecken und zu reinigen: wo es rein ist erhält es sich selber, ohne Wache und ohne Vestalinnen.« Ebenda, S. 34f. 185 »Dieser Augenblick, der Kuß des Amor und der Psyche ist die Rose des Lebens. – Die begeisterte Diotima hat ihren Sokrates nur die Hälfte der Liebe offenbart. Die Liebe ist nicht bloß das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart. Sie ist nicht bloß eine Mischung, ein Uebergang vom Sterblichen zum Unsterblichen, sondern sie ist eine völlige Einheit beider. Es giebt eine reine Liebe, ein untheilbares und einfaches Gefühl ohne die leiseste Störung von unruhigem Streben. Jeder giebt dasselbe was er nimmt, einer wie der andere, alles ist gleich und ganz in sich vollendet wie der ewige Kuß der göttlichen Kinder.« Ebenda, S. 110f. 186 Jacques Lacan: Le séminaire, texte établi par Jacques-Alain Miller, Livre XX. Encore. 1972–1973, Paris 1975, S. 59. 187 »Un sujet, comme tel, n’a pas grand-chose à faire avec la jouissance.« – »Pour vous repérer dans la voie où nous avançons, souvenez-vous du pas que nous avons fait tout à l’heure, en formulant que la jouissance se réfère centralement à celle-là qu’il ne faut pas, qu’il ne faudrait pas pour qu’il y ait rapport sexuel, et y reste tout entière accrochée.« Ebenda, S. 48 und 58.

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Ersatz für diese Nichtbeziehung erkor.188 Aber ist der Andere in der Liebe nicht ebenfalls nur Mittel, Projektionsfläche, für den Liebenden? Friedrich Schlegel war sich der Problematik durchaus bewusst. Wie schon Rousseau weist Schlegel, wie aus den Worten der Lucinde hervorgeht, der Fantasie die entscheidende Rolle bei der Entstehung von Liebe zu. Die Wunderblume, die der Liebende anblickt, malt und heiligt, wenn er seine Geliebte anzusehen, zu malen und zu heiligen vermeint, ist seine eigene Fantasie. Er selbst ist es, zu dem der Liebende durch die Liebe in ein Verhältnis tritt: Nicht ich, mein Julius, bin die, die du so heilig malst; obschon ich klagen möchte, wie die Nachtigall, und, wie ich innig fühle, nur der Nacht geweiht bin. Du bist’s, es ist die Wunderblume deiner Fantasie, die du in mir, die ewig dein ist, dann erblickst, wenn das Gewühl verhüllt ist und nichts Gemeines deinen hohen Geist zerstreut.189

Das den Band abschließende Kapitel trägt den Titel Tändeleien der Fantasie. Gemäß Schlegels romantischem Liebeskonzept garantiert die Fantasie die Fortdauer der Liebe, bildet die Grundlage der Familie und ist die Quelle von Religiosität: Welche Seele solche Träume schlummert: die träumt sie ewig fort, auch wenn sie erwacht ist. Sie fühlt sich umschlungen von den Blüthen der Liebe, sie hütet sich wohl die losen Kränze zu zerreißen, sie giebt sich gern gefangen und weiht sich selbst der Fantasie und läßt sich gern beherrschen von dem Kind, das alle Muttersorgen durch seine süßen Tändeleien lohnt. / Dann zieht ein frischer Hauch von Jugendblüthe über das ganze Daseyn und ein Heiligenschein von kindlicher Wonne. Der Mann vergöttert die Geliebte, die Mutter das Kind und alle den ewigen Menschen.190

In Schlegels Versuch, antike Religiosität wiederzubeleben und die gesellschaftlichen Beziehungen durch Heiligung der Sinnlichkeit neu zu fundieren, hatte Böttiger offenbar kein Vertrauen. Seine Äußerungen über die Lucinde sind negativ. Er verfasste als Antwort auf den im Athenäum gegen ihn gerichteten heftigen Angriff August Wilhelm Schlegels191 eine Generalabrechnung mit den Romantikern unter dem Titel Ein die Gebrüder Schlegel betreffender Auszug aus einem Briefe an Wieland. mitgetheilt von dem O[ber]C[onsistorial]R[at] Böttiger, die weder Göschen, der sie »ein Muster von ätzenden Curmitteln« und einen »Höllenstein« nannte, noch August Adolf Friedrich von Hennings in den Verlag zu nehmen wagte.192 Auf die 188 »S’il n’y a pas de rapport dans la sexualité, l’amour est ce qui vient suppléer au manque de rapport sexuel.« Alain Badiou, Nicolas Truong: Éloge de l’amour, Paris 2009, S. 29. 189 Schlegel: Lucinde (wie Anm. 183), S. 149. 190 Ebenda, S. 155. 191 Vgl. [August Wilhelm Schlegel:] Litterarischer Reichsanzeiger oder Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, in: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. 2, 2. Stück, Berlin 1799, S. 328–340, hier S. 328–330. 192 Vgl. Georg Joachim Göschen an Karl August Böttiger, Leipzig, 18. November 1799, in: Wielands Briefwechsel, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 15.2, bearbeitet von Thomas Lindenberg und Siegfried Scheibe, Berlin 2004, S. 55.

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Lucinde wird darin mehrfach gezielt, wobei Böttiger die Attacke auf das Buch mit einem Schlag gegen den Autor verbindet. Ernst Friedrich Sondermann, der den Aufsatz als erster ediert hat, bemerkt, »ein solches Machwerk« wäre »der scharfen Feder und dem ätzenden Witz der Romantiker« nie gewachsen gewesen. Doch ist Böttigers Text durchaus witzig. Allerdings vertritt Böttiger die Position der sozialen Angepasstheit und wirft den Romantikern ihren Nonkonformismus vor, so dass es Lachen erregen muss, wenn heute die sozial Angepassten, sobald sie sich zu der Fehde zwischen Böttiger und den Romantikern äußern, stets gegen den ersten und für die letzteren Partei ergreifen. Gleich eingangs meint Böttiger, dass sich die Gebrüder Schlegel, da sie über kein Vermögen verfügten, keine Impertinenz erlauben dürften. Innerhalb dieser Argumentation macht er bei der Feststellung ihres geringen Besitzes folgenden Ausfall: Mit diesem Eigenthum gehet es nun den Eigenthümern eben so wie einem iungen Ehemann mit einer alten Frau, und wäre sie des Ritters Michaelis oder gar Mendelssohns Tochter. Es bleibt seinem Besitzer unangefochten, und man überläßt es ihm mit sich selbst auszumachen, wie er dazu gekommen ist.193

Schlegels Erklärung der reiferen Frau zum erotischen Objekt – Lucinde war »schon Mutter gewesen von einem schönen starken Knaben«,194 die »üppige Ausbildung ihres schönen Wuchses war [ihrem Geliebten] für die Wuth seiner Liebe und seiner Sinne reizender, wie der frische Reiz der Brüste und der Spiegel eines jungfräulichen Leibes«195 – stellte eine ausgesprochen provokative Innovation dar, mit deren Verspottung Böttiger sicher sein konnte, die Lacher auf seine Seite zu bringen. Noch 1835 rümpft Karl Gutzkow bei der Neuherausgabe von Schleiermachers Vertrauten Briefen über Schlegels Lucinde die Nase über die Lucinde als »ein Mädchen, die, wie man sich auszudrücken pflegt, schon einmal abgelegt hat«, und distanziert sich von der Vorstellung, »daß man auch Poesie fände in der gesprengten Pforte«;196 noch 1847 bemerkt Gustave Flaubert, dass Balzac mit La femme de trente ans im Universum der Liebe einen neuen Kontinent entdeckt und nahezu ein neues Geschlecht 193 Karl August Böttiger: Ein die Gebrüder Schlegel betreffender Auszug aus einem Briefe an Wieland. mitgetheilt von dem O[ber]C[onsistorial]R[at] Böttiger, in: Ernst Friedrich Sondermann: Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar, Bonn 1983, S. 222–227, hier S. 223. 194 Schlegel: Lucinde (wie Anm. 183), S. 96. 195 Ebenda, S. 99f. 196 »Schlegel hat sich freilich die Lösung der Frage sehr leicht gemacht; denn Lucinde ist ein Mädchen, die, wie man sich auszudrücken pflegt, schon einmal abgelegt hat. Das Vinculum nymphaeum ist der Punkt, um welchen sich hier Alles bewegt. Schlegel hat schön ausmalen und schwärmen; denn sein Julius ist ein höchst seltsamer Mensch, der sich über Vieles hinwegsetzt. Ich meine nicht, daß sich die Resignation auf das Prinzip: aus der ersten Hand! soweit bei Allen ausdehnen soll, daß man auch Poesie fände in der gesprengten Pforte.« Karl Gutzkow: Vorrede, in: Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde. Mit einer Vorrede von Karl Gutzkow, Hamburg 1835, S. V–XXXVIII, hier S. XXXIVf.

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Abb. 24 »Gestalten und Situationen der Freude … Rhetorik der Liebe« (Friedrich Schlegel) Symplegma, Ton

erfunden habe.197 Mit der zitierten Passage Böttiger greift die von Schlegel in der Lucinde vorgenommene öffentliche Dar- und Ausstellung der eigenen erotischen Praxis an. Tatsächlich ließen manche Leser, etwa Böttigers Berliner Freund Garlieb Merkel, die ihnen mitsamt ihren physischen Eigenarten aus persönlichem Umgang bekannten Personen in den durch das Buch mit ziemlicher Konkretheit evozierten »schlüpfrigen Situationen« vor ihrem geistigen Auge agieren und posieren.198 Das 197 »[…] c’est là enfin qu’il a découvert la femme de trente ans, cette création immortelle ! inconnue à l’antiquité, comme le christianisme dont elle relève, que je prise plus que celle de la plupart de l’industrie moderne [...]. Exhumer dans ce qu’on rejetait hors d’usage des trésors nouveaux de plastique et de sentiment, découvrir dans l’univers de l’amour un continent nouveau, et appeler à son exploitation des milliers d’êtres qui s’en trouvaient rejetés, cela n’est-il pas spirituel et sublime ? Prolonger l’exercice d’un sexe, n’est-ce presque pas en inventer un autre ?« Gustave Flaubert, Maxime du Camp: Par les champs et par les grèves. Édition critique par Adrianne J. Tooke, Genf 1987, S. 92. 198 »Sein Verhältniß mit der bucklich-schielenden, rothaarigen Jüdin Veit kennen Sie. Es giebt ein ganz eignes Interesse, sich diese Fee Magotine in alle diese schlüpfrigen Situationen zu denken.« Garlieb Helwig Merkel an Karl August Böttiger, Berlin, 12. Juni 1799, zitiert nach: Hartwig Schultz: Clemens Brentano 1778–1842. Zum 150. Todestag, Bern u. a. 1993, S. 198.

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Wagnis derartiger Darstellungen war selbst des Ritters Michaelis und Mendelssohns Tochter problematisch erschienen. Die erstere schrieb: »wenn ich seine Geliebte wäre, so hätte es nicht gedruckt werden dürfen«;199 die zweite betrübte, »daß das Innerste so herausgeredet werden soll – was mir so heilig war, so heimlich, jetzt allen Neugierigen, allen Hassern preisgegeben«.200 Der Vorwurf, den Böttiger gegen die explizite öffentliche Darstellung von Erotik erhebt, indem er von der »verschämten Weibsperson Lucinde« spricht und den Roman »schmutzigen Unsinn« nennt,201 lautet: Schamlosigkeit. Er richtet sich desgleichen gegen die Aufwertung der Wollust und gegen die Darstellung der Modi, den Keletismos einbegriffen, der »Gestalten und Situationen der Freude«,202 wie sie in Schlegels »Rhetorik der Liebe«203 heißen. Den Vorwurf der Schamlosigkeit erhebt Böttiger dann öffentlich in seiner Kritik der Weimarer Aufführung von August Wilhelm Schlegels Ion, in der es u. a. heißt: (Dafür schlugen auch hier bei dieser wollüstigen Bildnerei viele Zuschauerinnen beschämt die Augen nieder und freuten sich heimlich, doch wenigstens nicht an der Stelle der Schauspielerin zu sein, die so etwas sagen müsse).204

Den Hauptgrund dafür, dass Böttiger erotische Darstellungen wie die Schilderung des Beilagers der Kreusa mit dem Apollo, wie sie doch – wenn auch, wie Böttiger betont, in anderer Form – im Ion des Euripides ebenfalls vorkommen, in Schlegels Ion nicht mehr für zulässig hält, bildet die Aufhebung der Geschlechtertrennung in der modernen Gesellschaft.205 * Während Schlegels Lucinde ein erotischer Diskurs über die Erotik ist, sind Schleiermachers ebenfalls 1799 erschienene Vertraute Briefe über die Lucinde eine Reflexion über die Bedingungen eines solchen Diskurses. Wir haben gesehen, dass es 199 Karoline Schlegel an Friedrich von Hardenberg, 20. Februar 1799, in: Friedrich Schlegel: Lucinde; Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über Schlegels Lucinde, Leipzig 1970, S. 197. 200 Dorothea Veit an Friedrich Schleiermacher, 8. April 1799, ebenda, S. 204. 201 Böttiger: Ein die Gebrüder Schlegel betreffender Auszug (wie Anm. 193), hier S. 224 und 226. 202 Z. B. »In den geschwollenen Adern tobt das wilde Blut, der Mund durstet nach Vereinigung und unter den vielen Gestalten der Freude wählt und wechselt die Fantasie und findet keine, in der die Begierde sich endlich erfüllen und endlich Ruhe finden könnte. […] Wir müssen ihre [der Gegenwart] verzehrende Gluth in Scherzen lindern und kühlen und so ist uns die witzigste unter den Gestalten und Situationen der Freude auch die schönste. Eine unter allen ist die witzigste und die schönste: wenn wir die Rollen vertauschen […].« Schlegel: Lucinde (wie Anm. 183), S. 8 und 12. 203 Vgl. ebenda, S. 29. 204 Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 198–208; das Zitat ebenda, S. 206. 205 Vgl. ebenda, S. 189–198.

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Abb. 25 »Jene ängstliche und beschränkte Schamhaftigkeit« (Schleiermacher) – Priapos

im Wesentlichen zwei verschiedene Aspekte bei der Problematisierung erotischer Darstellungen gibt: ihren Gegenstand und ihre Wirkung. Der Vorwurf der Schamlosigkeit richtet sich gegen das gewählte Objekt der Darstellung, die Sinnlichkeit. Wie schon Lessing trennt Schleiermacher die beiden Vorwürfe. Während erotische Darstellungen in Lessings Augen durch eine satirische Tendenz gerechtfertigt werden können, versucht Schleiermacher in seinen einen Versuch über die Schamhaftigkeit enthaltenden Vertrauten Briefen 206 den Vorwurf der Schamlosigkeit zu entkräften, indem er die Kategorie der Schamhaftigkeit als Charakteristikum einer verkehrten und verderbten Gesellschaft verwirft: 206 Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über die Lucinde, Stuttgart 1835, S. 42–62.

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René Sternke Jene ängstliche und beschränkte Schamhaftigkeit, die jetzt der Charakter der Gesellschaft ist, hat ihren Grund nur in dem Bewußtseyn einer großen und allgemeinen Verkehrtheit, und eines tiefen Verderbens.207

So wie Schiller die sinnlichen Energien als Bestandteil des Ganzen und der Fülle menschlicher Natur akzeptabel findet, hält auch Schleiermacher die Ausgrenzung dieses Teiles der menschlichen Natur unter Rückgriff auf die Kategorie der Schamhaftigkeit für ängstlich und beschränkt. Schleiermacher verwirft die Schamhaftigkeit als Ausdruck der »Abscheulichkeit der gemeinen Denkart«.208 In verschiedenen Romanen Wielands, etwa im Don Sylvio von Rosalva oder im Peregrinus Proteus, wird gezeigt, wie ein Schwärmer von einer Schwärmerei geheilt wird, indem er die Erfahrung macht, dass sich hinter dem vermeintlich Göttlichen, für welches er schwärmt, bloß Natürliches, bloß Sinnliches, bloß Animalisches verbirgt. Schleiermachers Diktum über Wieland lautet: »seine erotischen Sachen sind unsittlich, weil sie schlecht sind«.209 Während Schiller Wieland, weil seine Werke keine materielle Tendenz hätten, über Crébillon stellt,210 hält Schleiermacher »den Wieland für eine unedle Natur« »weit mehr als den Crebillon, oder wen Sie sonst von der Art nennen wollen«:211 Diese Leute ignoriren den geistigen Bestandteil der Liebe gänzlich, sie geht bei ihnen immer nur von der Schönheit, oder vielmehr von dem Reiz der Gestalt aus, sie malen immer nur die Sinnlichkeit, und sind dabei ganz unbefangen. […] Wielands Subjekte hingegen sind fast niemals rein sinnlich, sie müssen sich wenigstens immer etwas einbilden von andern Gefühlen, und sein bester Spaß ist, sie darüber auszulachen.212

Schleiermacher verteidigt die Erotik als etwas Geistig-Sinnliches und als Komponente des ganzen Menschen. Die Liebe vereinige Sinnliches und Intellektuell-Mystisches auf untrennbare Weise: Sie sagen zwar, die Liebe als Fülle der Lebenskraft, als Blüthe der Sinnlichkeit, sey bei den Alten etwas Göttliches gewesen, bei uns sey sie ein Skandal; ist sie es aber wohl aus einem andern Grunde, als weil wir sie immer dem intellektuellen, mystischen Bestandtheil der Liebe, der das höchste Produkt der modernen Kultur ist, entgegensetzen?213

Damit hält Schleiermacher keineswegs jegliche Darstellungen des Sinnlichen für gerechtfertigt, denn derartige Darstellungen dürfen ihm auf gar keinen Fall auf sinnliche Stimulation ausgerichtet sein. Verbannt werden müsse »jede Andeutung«, »mit der es darauf angesehen ist, das Verlangen zu wecken«.214 Schleiermacher fordert in 207 208 209 210 211 212 213 214

Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 84. Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (wie Anm. 139), S. 485. Schleiermacher: Vertraute Briefe (wie Anm. 206), S. 85. Ebenda, S. 85f. Ebenda, S. 88. Ebenda, S. 55.

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Abb. 26 »eine solche Darstellung läßt das Gemüth … ganz frei« (Schleiermacher) Sich selbst salbender Athlet, Marmor

Bezug auf den Rezipienten Freiheit des sich in der Anschauung des Schönen sättigenden Gemüts von Ekel oder leidenschaftlichem Verlangen; sollten letztere Wirkungen dennoch eintreten, schiebt er die Schuld dem Rezipienten zu.215 Daher grenzt 215 »Denn eine solche Darstellung läßt das Gemüth, wenn es sich an der Anschauung des Schönen gesättigt hat, ganz frei und enthält in sich nicht den geringsten bestimmten Reiz zum Uebergange weder in einen widrigen Begriff noch in ein leidenschaftliches Verlangen; und wo eins von beiden zur Unzeit geschieht, ist es ein lediglich genommenes Aergerniß, daß bloß in einer herrschenden Stimmung des Anschauenden seinen Grund haben kann.« Ebenda, S. 54.

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Schleiermacher, wie schon vor ihm Lessing, die unendlich Reizbaren, in denen auf den kleinsten entfernten Anstoß von außen Regungen der Leidenschaft entstehen und die aus diesem Grunde zur Schamhaftigkeit Zuflucht nehmen, aus.216 Wenn Schleiermacher an Lessing und Schiller auf vielfache Weise anknüpft, so geht er doch mit seiner radikalen Verwerfung der sozialen Normen und der in der Gesellschaft gültigen Konzepte weit über beide hinaus. Schleiermacher stellt sich der allgemeinen, durch die Aufklärung vorangetriebenen Tendenz zu einem Verständnis der Sinnlichkeit als eines für sich existierenden, in sich abgeschlossenen Natürlichen und rein Physiologischen entgegen, also derjenigen Tendenz, die in das Konzept der Sexualität mündet. Im Namen der Ungeteiltheit des inneren Lebens wendet sich Schleiermacher gegen die »trockne objektive«, d. h. sowohl die theoretisch-analytische als auch die praktische Trennung von Physiologischem und Geistigem: Setzen wir also den Zustand des innern Lebens, der Liebe und des Bewußtseyns davon als herrschend, so folgt zuerst, daß in diesem eben jene trocknen objektiven Vorstellungen schamlos seyn müssen. Denn sie beziehn sich auf das animalische Leben, auf das ganze System desselben vom zartesten und wunderbarsten bis in das gröbste und unliebenswürdigste, und von dieser physiologischen Ansicht zieht sich die Liebe scheu zurück, und kann gar nicht bestehen, wenn dasjenige isolirt und zum Mechanismus herabgewürdigt wird, was in ihr mit dem Höchsten verbunden ist.217

* Während Schleiermacher Schlegels Lucinde zu rechtfertigen suchte, bemühte sich Böttiger um die Rechtfertigung der bacchischen Sujets der Alten. Während Schleiermacher auf der Untrennbarkeit von Sinnlichem und Geistigem insistiert, sieht Böttiger das Geistige im Gegensatz zum Sinnlichen, wie er sich im Kontrast des Göttersohnes Bacchus zu seiner tierischen Umgebung äußere: Ideal d es B a cchu s. […] Es ist die personificirte, ewige Fröhlichkeit im s i e g rei ch en Göttersohne, die vergötterte Ruhe nach bezwungener Roheit in der holdesten Jünglingsgestalt, die gleichsam zwischen den Knaben und Mädchen die Mitte hält, das würdevollste far niente im Spiel mit den scherzenden Umgebungen. Aber der wahre Triumph der Kunst liegt im Contrast mit den Umgebungen. Man vergleiche nur die leichte Elasticität und Zartheit seiner Glieder mit den halbthierischen Figuren, die ihn umgaukeln. […] In diesem Contrast der himmlischen Fröhlichkeit mit dem ausgelassenen, lasciven 216 »Was soll man also von denen halten, die in dem Zustande des ruhigen Denkens und Handelns zu seyn vorgeben und doch so unendlich reizbar sind, daß auf den kleinsten entfernten Anstoß von außen, Regungen der Leidenschaft in ihnen entstehen, und um desto schamhafter zu seyn glauben, je leichter sie überall etwas Verdächtiges finden? Nichts als daß sie sich in jedem Zustande eigentlich nicht befinden, daß ihre eigne rohe Begierde überall auf der Lauer liegt, und hervorspringt, so bald sich von fern etwas zeigt, was sie sich aneignen kann, und daß sie davon die Schuld gern auf dasjenige schieben möchten, was die höchst unschuldige Veranlassung dazu war.« Ebenda, S. 57f. 217 Ebenda, S. 55f.

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Abb. 27 »Diesen ist ihr thierisches Abzeichen gegeben« (Andeutungen) Mundschenk des Bacchus, Marmor Jubel der Bocks- und Affennatur und der bäurischen Lustigkeit liegt zugleich die haltbarste Rechtfertigung der alten Kunst, wenn man ihr die muthwillig-üppigen Szenen des bacchischen Thiasos zum Vorwurf machen wollte.218

Der Triumph der Kunst besteht für Böttiger im Triumph des zwischen den Geschlechtern schwebenden Geistigen über das Sinnliche. Die Darstellung der Sinnlichkeit dient der Darstellung ihrer Überwindung. Dabei sieht Böttiger das Sinnliche als etwas für sich Bestehendes, das er dem Geistigen gegenüber zwar abwertet, dem er aber seine Berechtigung nicht abspricht und das er daher auch für einen Gegenstand der Kunst ansieht, den diese sich allerdings gegen den Widerstand der Moral durch List erobern muss: [...] auch die Thierheit hat ihre Rechte. Einen Jüngling, der eine Jungfrau öffentlich (d. h. in Bildwerk ausgestellt) liebkoste, konnte die Zucht nicht ertragen. Darum versteckte sich die Kunst hinter bacchische Gruppen, Nymphenbeschleichungen und Ueberlistungen durch Panisken und Satyrisken. Diesen ist ihr thierisches Abzeichen gegeben, ein spriessendes Hörnchen an der Stirn, Bocksfüsse, Schwänzchen.219 218 Karl August Böttiger: Andeutungen zu vier und zwanzig Vorträgen über die Archaeologie im Winter 1806. gehalten von C. A. Böttiger. Erste Abtheilung. Algemeine Uebersichten und Geschichte der Plastik bei den Griechen, Dresden 1806, S. 163f. 219 Ebenda, S. 164.

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Abb. 28 »ein spriessendes Hörnchen an der Stirn, Bocksfüsse, Schwänzchen« (Andeutungen) Satyrknabe, Marmor

Dabei ist Böttigers eigene Sprache sinnlich und lustvoll, wenn er fortfährt: Züngelnd lechzt der Thiermensch mit schwellender Unterlippe, lauschend spitzt er die Ohren, an welchen oft eigene thierische Extuberanzen oder Knorpel […] vorkommen.220

Lüsternheit und Ausgelassenheit dürfen sich nur unter der Maske der Natur zeigen und stehen für Böttiger im Gegensatz zur reineren und veredelten Menschheit: Die Weinlese weckt Lüsternheit und Ausgelassenheit. Sie ist die Mutter aller Maskeraden, die nun wieder Gegenstand der dramatischen und daraus der bildenden Kunst werden. Will man, (wie Heinse im Ardinghello) ausgelassen seyn, so muss man erst die faunische Natur anziehn und sich dazu maskiren. Die reinere Menschheit darf, a l s s ol che nicht bis zu diesem losen Spiel herabsteigen. Darum herrscht Bacchus über diese Thier- und Maskenwelt und der Contrast der nun um so mehr veredelten, gegenüber gestellten Menschheit ist voll erhabener Deutung.221 220 Ebenda. 221 Ebenda, S. 165.

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Abb. 29 »Ausartungen späterer Verdorbenheit« (Andeutungen) Hermaphroditensymplegma, Marmor

Der Unterschied der Auffassung Böttigers zu den Positionen Schillers, Schlegels und Schleiermachers, die die Darstellung des Sinnlichen nur als Komponente des ganzen Menschen und in seinem Zusammenhang mit dem Geistigen für gerechtfertigt halten, ist offenbar. Wenn Böttiger bei seiner Rechtfertigung erotischer Darstellungen das Sinnliche im Gegensatz zu den Genannten stark abwertet und dem Geistigen schroff entgegenstellt, so liegt das wohl auch daran, dass er ihre Idealvorstellung von einem durch eine erotische Darstellung hervorgerufenen ästhetischen Genuss, bei dem das Gemüt in Freiheit und der Körper unbeteiligt bleiben sollen, nicht teilt. Denn gerade aus dem Sinnlichen sieht Böttiger die Kunst entstehen: Bei den Weinlesefesten entstanden alle Dramen des Alterthums. Vor allem blieb das Drama Satryricum […] dem alten Charakter der bäur ischen Lust getreu.222

In Anlehnung an Herders Humanitätsbriefe sieht Böttiger die Kunst später wieder in raffinierte Wollust ausarten:

222 Ebenda.

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René Sternke Wollüstige Symplegmen und Attituden sind Ausartungen späterer Verdorbenheit, für Wollustkammern (se l lar ia) und Bäder erdacht, und aus den züchtigen Palästern zur aphrodisischen Klinopale herabgezogen. Vergl. He r d e r Briefe zum Studium der Humanität, VI, 63–69.223

* Ein anderer protestantischer Geistlicher, auf den sich Böttiger bei der Rechtfertigung der erotischen antiken Kunst und seiner eigenen Studien derselben stützt, ist sein Freund der Dresdner Oberhofprediger und Oberkonsistorialrat Franz Volkmar Reinhard. In seinen erotisch-antiquarischen Papieren sich Böttiger dreimal auf ihn (Bl. 5r, 23r und 30r), dabei zweimal auf sein System der Christlichen Moral (Bl. 5r und 30r). Die erste Stelle ist eine bloße Literaturangabe: Ver ba pr aetextata Ueber ossonitate u. Zoten hat B ay l e in seinen IV Eclaircissements zu seinem Dictionaire T. IV. p. 3007. ff. die trefflichsten Bemerkungen gemacht. Vergl. Reinhards Mor al I, 539. ff. System der Cyniker u. Stoiker S. Sext. Empir. de Chrysippo.

Reinhard, der die »Obscenität«, d. h. alle »Reden, welche die Wirkungen und Ausschweifungen des Geschlechtstriebes in Scherz verwandeln, und eine leichtsinnige Denkungsart in Absicht auf denselben verrathen«, zu den »äußerlichen Merkmalen, durch welche sich eine allzu große Gewalt des Geschlechtstriebes zu erkennen giebt«, rechnet,224 bestimmt das Verhältnis von Sinnlichem und Sittlichem grundsätzlich. Ausgangspunkt ist ihm der Begriff der Sünde: es werde »das verschuldete Uebel in der Schrift als Sünde beschrieben«. Bei einem verschuldeten Übel handle es sich um »jede Abweichung vom Sittengesetz, die von der menschlichen Freyheit herrührt«.225 Darüber hinaus nimmt Reinhard ein dem Menschen »Angebohrnes Verderben« an, womit Reinhard auf die Sinnlichkeit des Menschen abzielt. Aus dieser Sachlage ergibt sich als Zielstellung, »daß der sinnliche Mensch ein vernünftiges Wesen werde, und dem Antrieb seiner Lüste widerstehen lerne«.226 Die Opposition von Positivem (Sittengesetz, Vernunft, Widerstand gegenüber den Lüsten) und Negativem (Sünde, Verderben, Sinnlichkeit, Antrieb der Lüste) findet sich bei Böttiger wieder, wenn dieser sich um eine differenzierte Bewertung der antiken Erotik bemüht und etwa die heiligen Phalli der Dea Syria den Olisben der milesischen Tribaden gegenüberstellt (Bl. 25r). Böttiger übernimmt von Herder, Reinhard usw. die negative Bewertung der Sinnlichkeit. 223 Ebenda. 224 Franz Volkmar Reinhard: System der Christlichen Moral von D. Franz Volkmar Reinhard, vormals Königl. Sächsischem Oberhofprediger, Kirchenrathe und Oberconsistorialassessore. Erster Band. Neueste vermehrte und verbesserte Auflage, Reutlingen 1802, S. 539 und 537. 225 Franz Volkmar Reinhard: System der Christlichen Moral von D. Franz Volkmar Reinhard Churfürstl. Sächsischem Oberhofprediger, Kirchenrathe und Oberconsistorialassessore. Erster Band. Dritte umgearbeitete Auflage, Wittenberg und Zerbst 1797, S. 349. 226 Ebenda, S. 352 und 362.

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Andererseits versucht Böttiger, seine archäologischen Forschungen an die Naturforschung anzubinden. Davon zeugt das erste Blatt seiner erotisch-antiquarischen Sammlung, ein handschriftlicher Text aus der Feder Millins, in welchem dieser sich zu den Phalänen äußert, einer Schmetterlingsart, die den Alten als Seelensymbol gedient habe. Der Zusammenhang zu den übrigen Texten ist durch den Mythos von Amor und Psyche gegeben. In seinen Ausführungen über diesen Mythos sieht Böttiger das Symbol dieser »Selbstzünder« motiviert durch das Bild der »verliebten Mädchen, die sich an der Fackel des Liebesgottes verbrennen«.227 Wusste Böttiger, dass die fállaina im Kult von Delos als der geflügelte und dämonisierte fallóv galt?228 * In den in den erotisch-antiquarischen Papieren überlieferten Fragen Böttigers und Antworten Blumenbachs geht es mehrfach um den Einsatz naturkundlichen Wissens zur Deutung archäologischer Sachverhalte, darunter mehrerer, die mit der Lüsternheit und Ausgelassenheit weckenden Weinlese, dem Ausgangspunkt aller dramatischen und bildenden Kunst, zusammenhängen. Bei der ersten Frage geht es um die Identifikation des dargestellten Tiers, welches Böttiger als Hund und Blumenbach als Großen Pavian deutet (Bl. 2r). Mit der zweiten Frage lässt sich Böttiger versichern, dass er einen Ibis richtig identifiziert hat (Bl. 2r). In der dritten identifizieren die beiden Kenner in einem Fragment eine Pantherhaut, welche einst Teil einer bacchantischen Figur war (Bl. 2r). In Frage 4 will Böttiger wissen, ob es sich bei der Figur um die Tatze eines Dreifußes handelt, erhält aber von Blumenbach keine Antwort (Bl. 2v). »Ist es ein Faun oder Faunesse?«, lautet die fünfte Frage, denn die abgebildete Gestalt weist keine Backenwarzen auf. Blumenbach antwortet: »Wenn die Warzen wirklich ein constantes wahrzeichen der männlichen Faunen wären so müßte freylich dieß eine Fauneße seyen. Aber bey den Böcken, von welchen sie entlehnt worden, sind sie weder constant (denn es finden sich genug ohne dergl.) noch diesem sexus eigen (denn gar viele Ziegen haben auch welche).« (Bl. 2v) Vergeblich fragt Böttiger Blumenbach, ob bei der Juno Sospita mit Ziegenfell und Hörnern die ersten junonischen Züge der Majestät sichtbar seien, wie die Kunstrichter bemerken wollten, vergeblich, ob diese ägyptische Büste wirklich ein Hierax accipiter sei? (Bl. 2v) Schließlich geht es auf der achten Tafel um ein Bacchanal. Böttiger will wissen, ob man die Trauben nach dem Schall der Doppelflöte, die mit der Fußklapper begleitet wurde, gekeltert habe. »So gut wie Dreschen und Flachsklopfen nach dem Takt«, antwortet Blumenbach (Bl. 2v). Auf Tafel 9 und 10 geht es wieder um die Identifikation 227 Böttiger: Ideen zur Kunst-Mythologie. Zweiter Band (wie Anm. 5), S. 414. 228 Vgl. Hans Herter: Phallos, in: Konrat Ziegler, Walther Sontheimer (Hg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet, 5 Bde., München 1979, Bd. 4, Sp. 702–706, hier Sp. 706.

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Abb. 30 »Wär es ein Faun … müßte er … haarge Backenwarzen haben« (Bl. 2v) – Faunus ridens, Marmor

von Naturgegenständen: Ist es Weinlaub, was der Satyrisk dem Pan darbringt? Sind es Birnen, Äpfel, oder Nüsse, was der Sylvan neben den Trauben und Granatäpfeln im fruchterfüllten Mantel hält? (Bl. 31r) Böttiger fragt umsonst. Bisher ging es in den Fragen, um Gegenstände, die in einem zwar nicht explizit bestimmten, aber doch plausiblen Zusammenhang zu den Phallica, welche den Titel lieferten, stehen. Es geht Böttiger nicht um die Interpretation der Werke, sondern um das richtige Verstehen undeutlicher, zumeist naturkundlicher Details. Zweimal geht es um das Verständnis eines Fragments, einmal, in Bezug auf die Juno, wird Blumenbach ein ästhetisches Urteil abverlangt, einmal, in Bezug auf das Bacchanal, geht es um die Kenntnis antiker Gebräuche. * 1805 äußert Böttiger im Neuen Teutschen Merkur in seinem Beitrag Hermaphroditen, dass »die neuesten Aerzte und Zergliederer noch immer über gewisse lebendige Exemplare der Androgynen ihre Verwunderung äußern, und die verschiedensten Stufen und Abartungen dieser Monstrosität bei weitem noch nicht erschöpfend genug beobachtet zu sein scheinen«, und nennt in einer Anmerkung verschiedene Koryphäen der Medizin, die von der »neuesten, ungemein merkwürdigen Erscheinung der Art« Zeugnis ablegen.229 1820 beantwortet er in seinem Aufsatz Ueber die 229 Böttiger: Hermaphroditen (wie Anm. 16), hier S. 215f.

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Hermaphroditen-Fabel und Bildung »die physiologische Frage über die Wirklichkeit androgynischer Zwitter und Misgeburten« mit der Gegenfrage: »Wer mag sie läugnen?«230 Wieder führt er die Belege von Fachleuten an und wirft bei dieser Gelegenheit seinem Freund Blumenbach vor, »die alten androgynischen Vasenfiguren, die offenbar nur mystisch-allegorische Wesen sind, zum Beweis für die Wir klichkeit der Hermaphroditen zu machen«.231 In seinem Brief vom 12. Mai 1821 protestiert Blumenbach dagegen: Wohlgebohrner Herr weiland Hochverehrter Freund und respective vielfacher Wohlthäter jetzt aber seit Empfang der übrigens so sehr Gehaltreichen Amalthea für die ich Ihnen meinen allererkenntlichsten Dank abstatte sind wir nun geschiedne Leute, aufgesagt ist Huth und weide: sintemahlen mir aus besagten sonst so fruchtbar ergiebigen Füllhorn p. 355. der schmähliche Vorwurf zuwächst quasi als ob ich eifriger Physiologe der doch aber auch am archäologischen Studium seine Freude hat, die wunderschönen antiquarischen Hermaphroditen mit den unglücklichen Menschenkindern mit mißgestalteten Genitalien verwechselte, die man überhaupt ganz unrichtig mit jenem Namen belegt, da mir wenigstens bis dato auch nicht ein einziges unbezweifelbares Beyspiel von Verbindung der beiderley Sexualorganen in Einem m enschlichen Individuum bekannt ist.232

Blumenbach wartet im Anschluss an diese Ausführungen mit einer medizinischen Typologie vermeinter Hermaphroditen auf. Diese Passagen druckt Böttiger im nächsten Band der Amalthea ab.233 Im Zusammenhang damit deutet Blumenbach ein ex voto aus der Sammlung von Charles Townley medizinisch, welches Böttiger in seiner Abhandlung über den Fascinus, die er für den dritten Band verspricht und niemals schreiben wird, archäologisch deuten will. Böttiger berichtet, dass der inzwischen verstorbene Townley ihm selbst eine Abbildung dieser Bronze zugeschickt hatte.234 Im Verzeichnis seiner Sammlung steht (Bl. 7v): Spintrien und Satyrköpfe aus dem Museum Townley in London. 6 Tafeln, nur von ihm selbst verschenkt.

Bemerkenswert ist, dass medizinische Termini wie ›Genitalien‹ und ›Sexualorgane‹, wie sie der Naturhistoriker Blumenbach benutzt und wie sie später in den allgemeinen Sprachgebrauch eingehen werden, von dem Archäologen Böttiger nicht verwendet werden. * 230 231 232 233

Böttiger: Ueber die Hermaphroditen-Fabel und Bildung (wie Anm. 17), hier S. 354. Ebenda, S. 355. Blumenbach an Böttiger, Göttingen, 12. Mai 1821 (wie Anm. 18). Karl August Böttiger: Vorbericht in: Ders.: Amalthea (wie Anm. 17), Bd. 2, S. III–XXXII, hier S. XVII–XIX. 234 Ebenda, S. XVII, Anm. *).

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Der Briefwechsel zwischen Blumenbach und Böttiger gibt Einblick in die Praxis der privaten Sammler. Zwischen den im Nachlass Böttigers überlieferten Briefen Blumenbachs befindet sich ein gedrucktes Verzeichnis von Objekten und Büchern, die der Göttinger Obermedizinalrat zur Vervollständigung seiner Sammlung suchte.235 Blumenbach war in erster Linie an naturhistorischen Objekten interessiert. In seinen Briefen finden sich Bitten wie die folgende: Nur um nicht so ganz mit leeren Händen vor Ihnen zu erscheinen nehme ich mir die Freyheit Ihnen anbey mit einer neuen Edit. des Handbuchs der N[atur]G[eschichte] aufzuwarten. und zugleich erlauben Sie daß ich Ihnen 2 Dinge die ich wohl aus Dresden zu erhalten wünschte, bloß auf den Fall, nennen darf daß sich über lang oder kurz Ihnen etwa eine Gelegenheit darböthe, mir zum einen oder zum andern zu verhelfen. Das wäre nemlich a) ein Abdruck der Mumien aus dem Augusteum. wenns auch nur ein Correcturblatt wäre. ich wünschte mirs zur Completierung einer hübschen Sammlung von Abbildungen von Mumien die ich sonach und nach zusammengebracht. und b) ein Specimen von dem sogenannten Madenstein dem gar merkwürdigen präadamitschen Petrefact […]. wie gesagt es ist eine ausnehmende Seltenheit. aber die Möglichkeit ist doch nicht undenkbar daß Ihnen einmal ein Stück vorkäme deßen Besitzer generös genug wäre auf Ihre Fürsprache mir als einem Liebhaber der sich con amore mit dem wißenschafftlichen Petrefactenstudium beschäfftigt einen kleinen Mundbißen davon abschneiden zu laßen.236

Wie die Nennung der Dresdner Mumien zeigt, gehören auch archäologische Objekte unter die naturhistorischen. So berichten die Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1823 von einer Vorlesung Blumenbachs, in welcher dieser über die anatomischen Vorstellungen in der Antike sowie »von den Nationalphysiognomieen der beyden den alten bekannten Raßen des Menschengeschlechts, der Caucasischen und Aethiopischen auf Kunstwerken des Alterthums« sprach: Und wieder zur Vergleichung ward ein gar sprechendes altägyptisches Negerköpfchen von gebranntem Thon mit spangrüner Glasur, aus den Mumien Catacomben von Sakara vorgelegt, womit Hr. Hofr. Böttiger, dessen Freundschaft der Verf[asser] seit 30 Jahren so vielseitig lehrreiche Mittheilung für seine Studien verdankt, seine anthropologische Sammlung bereichert hat.237

Auch Böttiger war ein Sammler. Als Raoul-Rochette ihm von den enkaustischen Portraits einer ägyptischen Familie schreibt,238 bittet Böttiger ihn um eine Kopie und 235 Mit nachstehendem Verzeichnis A) einiger Desiderate für seine Sammlungen; B) einiger Schriften die er wenigstens zur Einsicht zu erhalten wünscht; und c) einiger litterarischer Anfragen empfiehlt sich seinen Gönnern und Freunden zur gelegentlicher Erinnerung Joh. Fr. Blumenbach, o. O. o. J. 236 Johann Friedrich Blumenbach an Karl August Böttiger, Göttingen, 14. April 1807, SLUB Dresden, h 37, 4°, Verm., Bd. 14, Nr. 2. 237 [Blumenbachs Vorlesung vom 19. Juli 1823 in der Königlichen Societät der Wissenschaften], in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 2. Bd., 125. Stück, August 1823, S. 1241–1245, hier S. 1244 und 1245. 238 Désiré Raoul-Rochette an Karl August Böttiger, Paris, 4. Dezember 1834, SLUB Dresden, Msc. Dresd. h 37, 4°, Bd. 152, Nr. 29.

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gibt gleichzeitig eine Übersicht über seine ägyptische Sammlung. Hier erwähnt er neben einer Katzenmumie auch Zeichnungen der Lotusblume, die François Gabriel Comte de Bray, der bayrische Gesandte in Paris, daselbst für ihn hatte anfertigen lassen.239 In dem auf Veranlassung seiner Erben erstellten Verzeichnis über Böttigers archäologischen Nachlass heißt es, dass die Ægyptica darin eine kleine, abgeschlossene Sammlung bildeten.240 Das Sammeln war ein soziales Phänomen mit spielerischem Charakter. So schreibt Böttiger 1811 an Heyne: Wie gewöhnlich habe ich auch dießmal meinen würdigen Reinhard mit einem Gedicht gebunden wovon ich hie 3 Exemplare beilege u. den HH Blumenbach und Heeren eines zuzutheilen bitte. Das beste war die dabei überschickte bronzene, schön vergoldete antike Lampe, wozu ich das auf dem Titel abgedruckte Emblem en relief oben hatte arbeiten lassen. Der Candelaber war auch nett gerathen. Da spielen wir denn mit antiquarischen Spielsachen! 241

Blumenbach war wie Böttiger ein Sammler von Erotika. In Böttigers erotischen Papieren heißt es z. B. (Bl. 7r): Die sämtlichen Spintrien des Venezianischen Nobile Angelo Quirini XXII Folio tafeln, genau copirt mit untergeschriebenen Erklärungen. Nur der geh Medizinalrath Blumenbach besitzt noch ein Exemplar davon.

Ein an Böttiger gerichteter Brief Blumenbachs aus dem Jahre 1799 gibt einen Eindruck davon, wie die Liebhaber ihre Sammlungen erotischer Darstellungen bereicherten, indem sie einander die Möglichkeit verschafften, derartige Darstellungen zu kopieren, und wie sie ihre Praxis reflektierten: Hier mein Theurer Gönner und Freund habe ich die Ehre Ihnen mit einer neuen Ausgabe meines Handbuchs der N[atur]G[geschichte] aufzuwarten. Zugleich lege ich von den religiosen Gruppen aus der FelsenPagode zu Elephanta das Kupfer in or i g i n a li bey damit Sie Sich zu Ihrer HausAndacht copiren laßen können. Da es aber ein mir sub rosa rosissima mitgetheiltes anecdoton ist, so bitte mirs bald zu remittiren und nichts davon public werden zu laßen. Da das Blatt doch schon gebrochen war da ichs erhielt, so hab ichs auch nur wieder zusammen gelegt und nicht aufgerollt. / Nach dem alten Sprichworte Wurst wider

239 »Eh bien, les portraits dont Vous parlez m’interessent infiniment et j’ose Vous prier de me procurer, si cela se peut, une copie coloriée de celui, que Vous comptez inserer dans Votre ouvrag[e]. J’ai une petite collectio[n] d’anticaglies Egyptiennes, un chat momisé, un relief inédit dans une pierre calcaire et des dessins coloriés du lotus et du papyrus que feu le Comte de Bray avoit fait executer à Paris. J’y mettrai aussi ce portrait.« Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 30. Dezember 1834, Bibliothek des Institut de France, Paris, MSS. – 2065 (t LXV), pièce 145. 240 »Eine kleine eigene Sammlung bilden die Aegyptica ehedem die Zierde von Böttigers Vorzimmer.« Es folgt die Aufzählung verschiedener Objekte. Vgl. G[ustav] Kl[emm]: K. A. Böttiger’s archäologischer Nachlass, o. O. o. J. 241 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Dresden, 13. März 1811, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 87), Nr. 280, Z. 36–42.

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René Sternke Wurst erwarte dagegen auch von Ihrer Güte die vertrauliche Mittheilung der beiden allerliebsten Spintrien auf Vasengemälden wovon Sie mir schreiben.242

Derartige Darstellungen wurden also nach dem Motto ›Wurst wider Wurst‹ durch Tausch verbreitet. Dabei handelte es sich um eine vertrauliche, sub rosa rosissima stattfindende clandestine Praxis, von der nichts publik werden durfte. In diesem Fall handelt es sich sogar um eine unpublizierte Darstellung, ein Anekdoton. Das Epitheton »allerliebst« deutet an, was für ein großes Vergnügen die Sammler an den Objekten hatten. Der Ausdruck »religiose Gruppen« charakterisiert die historische Funktion der erotischen Darstellungen sachgerecht. Die Bemerkung, dass Böttiger sie zu seiner Hausandacht kopieren lassen könne, ist dagegen ironisch und charakterisiert den Kult der Sammler um ihre Objekte als eine Parodie der religiösen Kulte und somit als zumindest gespielte Freigeisterei. * Erotik erweist sich im Kontext der Praxis des Sammelns als Rarefizierungsverfahren. »Nur der geh Medizinalrath Blumenbach besitzt noch ein Exemplar davon«, heißt es über die Spintrien Quirinis. Die »Tempelfriese, die ein britischer Dilettant in den Tempel ruinen eines ägyptischen Hypogäum genau copiren liess«, konstituieren »ein in seiner Art einziges Stück«. Die »Spintrien aus dem Cabinet des Herzogs von Orleans von St. Aubin gestochen« sind »complett« (Bl. 7r). Aufgrund ihrer Seltenheit sind erotische Darstellungen kostbar. Zu dem »Fragment eines Alto Rilievos aus der Pagode von Salsette mit einer Fellatrix und einem Cunnilingos. aus dem Museum Townley« notiert Böttiger: »daß Kupfer ward in England mit 4 Guineen bezahlt«. Die »Spintrien und Satyrköpfe aus dem Museum Townley in London. 6 Tafeln« wurden »nur von ihm selbst verschenkt« (Bl. 7v). Zu einem bronzenen Phallus aus der Casa di Lupanar zu Pompeji heißt es, dass dergleichen »sich selten gefunden« habe, zu der »Description de trois peintures inedites des Vases Grecs du Musée de Portici par Millin. Paris 1801. mit 3 Umrissen in 4.«: »Jetzt sehr selten und vergeblich gesucht.« (Bl. 10r) Erotische Objekte waren schwer zugänglich, so war das »phallisch Bacchanal mit 2 wollustigen Gruppen, wo ein bärtiger Aegipan eine Manade nothzüchtigt, und ein zweiter der die Mänade von hinten bedient«, »Noch nie edirt u. jetzt ganz verschlossen«, und auch »Der ein Priapenbündel auf dem Rücken tragende Pan mit Priapen an der Lende umgürtet« war »verschlossen« (Bl. 11r). Desgleichen: »Der berüchtigte Satiro colla capra, einst in Herculanum gefunden, jetzt im Museo Borbonico unter Riegel und Schloß.« (Bl. 12r) Bei erotischen Büchern sieht es nicht anders aus. Zu »Antonii Panormitae Hermaphroditus, primus in Germania edidit Frohbergens. [sic] Coburg, Meusel 1824. Mit einem Kupfertheil in 20 Tafeln. zwanzig erotische Gruppen und Symplegmen enthaltend«, bemerkt Böttiger: »der vol242 Johann Friedrich Blumenbach an Karl August Böttiger, Göttingen, 3. Mai 1799, SLUB Dresden, h 37, 4°, Verm., Bd. 14, Nr. 1.

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Juno die Schwanzsaugerin

Abb. 31 »Der ein Priapenbündel auf dem Rücken tragende Pan mit Priapen an der Lende« (Bl. 11r), Marmor

ständigste der Art. Confiscirt.« (Bl. 8r) Das Verbot erotischer Darstellungen und ihre Abdrängung in einen clandestinen Raum erschweren den Zugang zu ihnen, erzeugen ihre Seltenheit und steigern ihre Kostbarkeit. Dabei enthalten die Sammlungen der Gelehrten Kopien von Objekten aus den Sammlungen der Herrscher, Diplomaten und Nabobs, des Kaisers, des preußischen Königs, des sächsischen Kurfürsten, des Herzogs von Orléans, des Herzogs von Sachsen-Gotha-Altenburg, des Venezianischen Nobile Angelo Quirini, des dilettante Charles Townley. Als Komponente illustrer Sammlungen dienten die in den Gabinetti segreti aufbewahrten antiken erotischen Objekte der sozialen Distinktion. * 289

René Sternke

Abb. 32 »Römische Matrone … sich auf den Gott von Lampsacus stützend, der in völliger Erection unter dem faltigen Gewand begriffen ist« (Bl. 11r), Marmor

Eine eigene Abteilung bildeten in Böttigers erotischer Sammlung Reproduktionen von Dresdner Antiken. Dem Direktor der Antikengalerie war es ein leichtes Spiel, Kopien derartiger Kunstwerke bei Künstlern aus seinem Bekanntenkreis in Auftrag zu geben. So umfasste seine Sammlung vier Handzeichnungen nach Erotischen Bildwerken in altem Marmor in der Dresdner Antiken-Gallerie (Bl. 11r). Da ist eine »Römische Matrone, halb Lebengrösse, mit der patera in der Hand, sich auf den Gott von Lampsacus stützend, der in völliger Erection unter dem faltigen Gewand begriffen ist. Handzeichnung in der Grosse des Originals.« Von den beiden Dresdner Hermaphroditensymplegmen, bei deren einem der Hermaphrodit als Nymphe restauriert worden war, besaß Böttiger »Kupferabdrucke auf grossem Papiere«. Weiterhin zierten seine Sammlung »Ein phallisch Bacchanal« und »Der ein Priapenbündel auf dem Rücken tragende Pan mit Priapen an der Lende umgürtet, in Alabaster-marmor. In der Grösse des Originals in zwei Blättern von vorn und auf der 290

Juno die Schwanzsaugerin

Abb. 33 »Der wollustige Kampf des Satyr …« (Bl. 11r), Symplegma

Abb. 34 »… mit dem Hermaphroditen« (Bl. 11r), Symplegma

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René Sternke

Abb. 35 »Maske der dreifachen griechischen Dea« (Bl. 11r), Marmorrelief, Vorderseite

Abb. 36 »Priapea dea … mit zum Schwanzsaugen geöffneten Mund« (Bl. 11v), Marmorrelief, Rückseite

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Juno die Schwanzsaugerin

Abb. 37 »ein Altar, auf welchem 6 Phalli aufgeschichtet« (Bl. 11r) – Puteal, Marmor

Seite auf braunem Papier crayonirt von Prof. Arnold.«. Böttiger hatte Auserdem zwei Gypsabgüsse anfertigen lassen (Bl. 11r–v), von welchen das eine auf der Vorderseite »die Maske der dreifachen griechischen Dea« zeige. Die beiden auf der Rückseite dargestellten Figuren, die Herme mit dem erigierten Phallos, an welchem Schellen hängen, und den Kopf der »Priapea dea« setzt Böttiger zueinander in Beziehung, indem er annimmt, letztere sei mit »mit zum Schwanzsaugen geöffneten Mund« dargestellt. Dass Böttiger von den Dresdner Erotika derartige private archäologische Editionen anfertigte, hängt auch damit zusammen, dass korrekte Publikationen kaum möglich waren. So Böttiger behauptet von dem »phallisch Bacchanal mit 2 wollustigen Gruppen«, es sei »Noch nie edirt«. Dabei hatte doch Leplat das mit diesem Sujet verzierte Puteal 1733 in seinem Recueil des marbres antiques qui se trouvent dans la Galerie du Roy de Pologne à Dresden bereits publiziert (siehe im vorliegenden Band S. 170, Abb. 10). Allerdings war die Darstellung in dieser Ausgabe so bearbeitet worden, dass diejenigen Merkmale, die Böttiger in seiner Beschreibung hervorhebt, getilgt worden waren und man sich fragen möchte, ob Böttiger und Leplat überhaupt auf dasselbe Werk Bezug nehmen. Die Zweifel an der richtigen Identifikation des Werks, welche die eklatante Diskrepanz zwischen Böttigers Ekphrasis und Leplats Stich bei uns wecken musste, ließen sich durch eine Autopsie heben, bei welcher uns die Dresdner Archäologin Saskia Wetzig zur Seite gestanden hat. Zutreffend ist Böttigers Beschreibung: »In der Mitte ein Altar, auf welchem 6 Phalli aufgeschichtet ligen.« Diese Phalli hat Leplat in Früchte transformiert. Mit Recht spricht Böttiger von einem »phallisch Bacchanal«, denn sowohl die Bacchanten als 293

René Sternke

Abb. 38 »Ein phallisch Bacchanal« (Bl. 11r) Puteal, Marmor

Abb. 39 »wo ein bärtiger Aegipan eine Manade nothzüchtigt« (Bl. 11r) – Puteal, Marmor

Abb. 40 »ein zweiter der die Mänade von hinten bedient« (Bl. 11r) – Puteal, Marmor

auch die Herme weisen erigierte Phalloi auf. Den imposanten Ityphallos der Herme hat Leplat in einen Ast verwandelt. Bei den Satyroi hat er die Phalloi gleichfalls weggelassen, so dass die Handlungen, zu welchen die Akteure ansetzen und deren Verlauf Böttiger bereits antizipiert, nämlich dass »ein bärtiger Aegipan eine Manade nothzüchtigt« und ein zweiter »die Mänade von hinten bedient«, nicht mehr erkennbar 294

Juno die Schwanzsaugerin

sind. Zu seiner Privatedition gibt Böttiger folgende Erläuterung: »Die Figuren in der Grosse des Originals von dem gelehrten Professor Arnold mit Mühe gezeichnet (er erhielt 20 Th. dafür) sind mit Kreide auf braunem Papier aufgehöht.« Böttigers Anmerkung »Noch nie edirt u. jetzt ganz verschlossen« weist darauf hin, dass der Umgang mit derartigen Kunstwerken einer zunehmenden Restriktion unterlag, deren Datierung aufgrund der durch Kordelia Knoll im vorliegenden Band vorgenommenen Rekonstruktion von Böttigers Besichtigungen der Dresdner Galerie möglich ist. 1794 wurde das sich für antik ausgebende, Böttiger aber über sein wahres Alter nicht hinwegtäuschende barocke Puteal offenbar noch gezeigt. Böttigers Bericht über die Beschauung der Galerie bei Fackelbeleuchtung im August 1798 erwähnt es nicht mehr. * Die Gelehrten spielten ihr heimliches Spiel mit den aus dem Altertum überkommenen erotischen Darstellungen im schützenden Schatten der Mächtigen. Mit ihren Forschungen bereicherten sie deren Vergnügungen und beteiligten sich daran. In Böttigers Aufzeichnungen heißt es im Abschnitt »Ueppige Gemälde« (Bl. 28r): Eine eigne kleine Sammlung von Vasenbildern in der Art veranstaltete Mil lin für Dilettanten in dieser Gattung. Eine sehr wollüstige Szene findet sich auf einem Vasengemälde in Millingen’s Peintures antiques et inedites des vases Grecs pl. XXVII. wo Millingen in der Erklärung S. 45 einige feine Bemerkungen über dieß Genre macht.

Aus Millins eigner kleiner Sammlung für Dilettanten in dieser Gattung besaß Böttiger auch Abbildungen (Bl. 10r): Description de trois peintures inedites des Vases Grecs du Musée de Portici par Millin. Paris 1801. mit 3 Umrissen in 4. (Jetzt sehr selten und vergeblich gesucht.

Interessant ist, dass Böttiger die »üppigen Gemälde« als eigene Gattung und eigenes Genre bezeichnet. Millin selbst spricht in der genannten Description von Werken in dieser Gattung, »ouvrages de ce genre«, und vom »genre licencieux«. Es gebe eine Unzahl davon; ihr Merkmal sei Obszönität. Millin spricht auch von Darstellungen lasziver Szenen. Er betont, dass es sich bei den drei von ihm publizierten Vasenbildern um Kunstwerke handle. Er rechtfertigt seine Beschäftigung mit ihnen durch ihre ästhetische Qualität: Einzigartigkeit der Komposition, Schönheit und Ausdruckskraft der Zeichnung.243 Millin unterscheidet zwei Klassen von Priapeen: die243 »Je n’aurois jamais pensé à publier ces trois peintures, si, comme une infinité d’ouvrages de ce genre, elles n’étoient remarquables que par leur obscénité : mais la singularité de la composition, la beauté et l’expression du dessin, doivent, sans contredit, les faire considérer comme des ouvrages du bel art ; et parmi ceux du genre licencieux, je n’en connois pas de plus parfaits.« [Aubin Louis Millin:] Description de trois peintures inédites de vases grecs du Musée de Portici, o. O. o. J., S. 3.

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jenigen mit religiöser Funktion und diejenigen, die dazu bestimmt waren, Vorstellungen zu erzeugen, welche den Sinnen schmeichelten.244 Die zweite Klasse enthalte freizügige Darstellungen, welche wollüstige Männer hätten ausführen lassen, um ihrem Hang zur Libertinage zu fröhnen.245 Schließlich liefert Millin eine kurze Übersicht über die verschiedenartigen Objekte mit Darstellungen dieser Art. Dabei erwähnt er auch die bekannte Athenaios-Stelle und übersetzt ›pornographes‹ mit »peintres de courtisanes«.246 Er schreibt elegant, aber sachlich und distanziert. Nirgendwo scheint Begeisterung für die Darstellungsgegenstände durch, wie wir sie bei d’Hancarville finden, dem Millin vorwirft, zahlreiche moderne Steine als antik ausgegeben zu haben.247 Millin bewundert die Kunst, ihre Reinheit, Größe, Singularität, eine eingehende Erläuterung der ihm im Übrigen recht klar erscheinenden Sujets lehnt er ab.248 Anonymität des Herausgebers, geringe Auflage und private Distribution sind Merkmale dieser Edition, die verdeutlichen, dass Millin sich in einer Grauzone im Grenzland des eigentlichen antiquarischen Diskurses bewegte. * Der Vorwurf der Unsittlichkeit konnte jedem, der sich zu Erotik oder Prostitution in der Antike oder Moderne äußerte, gemacht werden und wurde wie der Schlamm in einer Schlammschlacht hin- und hergeworfen. 1802 weist Böttiger in einer von Goethe unterdrückten, aber dann im Druckbogen zirkulierenden Rezension auf die Erotik in August Wilhelm Schlegels Ion hin und beschreibt nacherlebbar die schwüle Atmosphäre und die Verlegenheit, die das Stück bei der Aufführung vor einem gemischtgeschlechtlichen Publikum im Weimarer Hoftheater hervorgerufen hatte.249 Im selben Jahr publiziert Friedrich Joseph Wilhelm Schelling im Kritischen Journal der Philosophie folgenden Angriff auf Böttiger: Der Verfasser dieses ist in einem rechtgläubigen Lande gebohren und hat die dort erhaltenen Begriffe von theologischer Ehrwürdigkeit noch immer nicht los werden können. Er weiß, daß wenn in seinem Vaterlande, z. B. ein Oberconsistorialrath alle Arten der literarischen Industrie triebe, sein Studierzimmer zu einem Comptoir machte, von dem aus er 4–5 Novitäten-Journale expedirte und diese benutzte, Ausfälle auf öffentlich angestellte Lehrer in Fächern, von denen er nichts versteht, anzubringen, noch dazu nicht in eignen 244 »On les exécutoit pour deux objets, ou comme ayant rapport à la religion, ou comme rappelant des idées qui flattoient les sens.« Ebenda. 245 »La seconde classe de Priapées appartient aux représentations licencieuses que des hommes voluptueux ont fait exécuter afin de satisfaire leur penchant de libertinage.« Ebenda, S. 4. 246 Ebenda, S. 5. 247 Ebenda, S. 6. 248 »La pureté et même la grandeur du dessin, la singularité de la représentation, m’ont engagé à les faire graver comme des ouvrages de l’art dignes d’admiration ; mais on n’attendra pas de moi, j’espère, une explication circonstanciée du sujet, qui du reste est assez clair.« Ebenda, S. 8. 249 Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 199–208.

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Juno die Schwanzsaugerin sondern in fremden Diensten, und wenn er zugleich sich als den Parasiten der Buchhändler hinstellte, auf der Leipziger Messe mit Lob und Tadel feil hätte, schlechte Scribenten durch seine Anpreisungen zu heben suchte, ehrliche Leute mit Lob incommodirte, er schon darum in der allgemeinen Verachtung leben würde. / Man setze aber: daß er, anstatt in Predigten oder erbaulichen Schriften gegen die Modesucht und den einreißenden Luxus zu arbeiten, selbst ein Journal des Luxus und der Moden redigirte, oder anstatt, wie es seines Amtes wäre, gegen die Unsittlichkeit der gangbaren Schauspiele zu schreiben, vielmehr die liederlichsten Stücke lobpriese, Meisterwerke dagegen, wär’ es auch nur aus den Antiquitäten, herunter zu reißen suchte; man setze: er könnte, – da ihm, wenn er etwa noch Schulmann dabey wäre, vielleicht erlaubt seyn möchte, von den griechischen Hetären, obgleich nicht ex professo, doch beyläufig, zu reden – nicht aufhören, von den schlechten Häusern und öffentlichen Mädchen in London und Paris zu schreiben: so würde er, wohl zu merken, nach den in jenem Lande, und vielen andern, herrschenden Begriffen seines geistlichen Amtes ohne Widerrede entsetzt werden. Ich zweifle, ob ihm noch das Schulamt gelassen würde; vielleicht, mit der Weisung, sich bloß an die Antiquitäten zu halten. Wofern er aber von Monat zu Monat die englischen Carricaturblätter eigends zur Schau ausstellte und ihre Unfläthereyen mit Bildern aus der griechischen Mythologie recht con amore erläuterte, so würde er als ein offenbarer Verderber des Geschmacks und der Reinheit der Jugend ohne Zweifel auch dieses Amtes entledigt, und es stünde ihm dann frey, mit Carricaturbildern und Pamphlets von Haus zu Haus feil zu gehen, und die freche Schamlosigkeit, gegen eine, die Heiligkeit der Natur, der Religion und der Kunst lehrende, Philosophie, als gegen ein Verderbniß und Gift der Jugend, Invectiven auszustreuen, mit Anstand zu treiben.250

Böttiger, der nach dem Ion-Skandal nicht in Weimar bleiben konnte, verhandelte mit Berlin und Dresden. Am 1. August 1803 schreibt er an seinen französischen Freund Auguste Duvau: Sie wollen wissen, wie es mit mir steht, ob ich nach Berlin gehn werde u.s.w. Lieber du Vau, das alles liegt im Schooße der alles wissenden Götter, Ihr Freund weiß nichts. Nur so viel weiß er, daß einige Oberpfaffen, worunter besonders sich der Oberconsistorialrath Zölner, das unerschöpflichste Vademecum buch Berlins, sehr auszeichnete, alle Boßheit u. Plattheit aufgeboten haben, um mir dort zu schaden […]. Denken Sie nur, man hat gesagt; ich hätte in meinen Schriften anstößige Stellen gegen die Sittlichkeit. Sie kennen mein Leben, meine Denkart, meine Verhaltnisse zu meinen mir treu ergebenen Schülern. Donnern Sie gegen diese Verleumder […].251

Tatsächlich erhielt Böttiger die von ihm angestrebte Stelle aus dem genannten Grunde nicht. In seiner Sabina rechtfertigt sich Böttiger für seine – übrigens ihrer250 [Friedrich Wilhelm Josef Schelling:] Anhang zu No. II, in: Ders., Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Hg.): Kritisches Journal der Philosophie, Tübingen 1803 (Reprint: Hg. von Hartmut Buchner, Hildesheim 1967), 2. Bd., 2. Stück, S. 57–62, hier S. 60–62. – Sondermann schreibt den Aufsatz, darin an Böttiger anschließend, Karoline Schelling zu; vgl. Sondermann: Karl August Böttiger (wie Anm. 193), S. 232. 251 Karl August Böttiger an Auguste Duvau, Weimar, 1. August 1803, in: Ders.: Briefwechsel mit Auguste Duvau. Mit einem Anhang der Briefe Auguste Duvaus an Karl Ludwig von Knebel, hg. und kommentiert von Klaus Gerlach und René Sternke, Berlin 2004, S. 80f.

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René Sternke

seits sinnlich raffinierte – Darstellung raffinierter Sinnlichkeit durch die Betonung seiner sozialkritischen Absicht. Der Rezensent in der Allgemeinen Literatur-Zeitung schließt die Verwendung der Sabina in den Gymnasien nicht aus, betont aber: […] Schullehrer, welche ihre Zöglinge auf den umfassenden Inhalt der Schrift und auf den lebhaften, anziehenden Vortrag mit Wohlgefallen aufmerksam machen, werden doch wohl genöthiget seyn, über manche allzu üppig ausgemalte Scene einen züchtigen Schleier zu ziehen.252

1818 weist Böttiger dem Archäologen Hirt in einem von diesem arrangierten Ballett moralisch Anstößiges nach. Wie in dem Angriff auf Schlegels Ion bot auch hier die Kritik des Anstößigen Böttiger eine Gelegenheit, pikante Gelehrsamkeit und gelehrte Pikanterien öffentlich auszubreiten.253 Franz Grillparzer berichtet, dass er lachen musste, »wie die Tochter des Hofrats Böttiger ihrem Vater etwas zu melden kam und, während sie sprach, ihren Augen gegenüber ein Stellbrett von Phallen und ägyptischen Götterscheusalen mit aufgerichteten Schamgliedern hatte«.254 Seine Erotikasammlung wagte Böttiger, als er aufgrund der Schuldenmacherei seines jüngeren Sohnes in Verlegenheit kam, nicht zu verkaufen, als er erkannte, dass sie in die Hände eines Lüstlings geraten würde.255 * Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel nahm Anstoß an Böttigers Texten: Böttigers Herumtatscheln an den weichen Marmorpartien der weiblichen Göttinnen gehört nicht zur Kunstbeschauung und zum Kunstgenuß. Denn durch den Tastsinn bezieht sich das Subjekt, als sinnlich Einzelnes, bloß auf das sinnlich Einzelne und dessen Schwere, Härte, Weiche, materiellen Widerstand; das Kunstwerk aber ist nichts bloß Sinnliches, sondern der Geist als im Sinnlichen erscheinend.256

Indem er den anzüglichen Ausdruck »Herumtatscheln« verwendet, versucht der sittenstrenge Philosoph, den mondänen Archäologen, der an der Lebensechtheit anti252 [anonyme Rez. zu:] Sabina, oder Morgenscenen im Putzzimmer einer reichen Römerin, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Jena, Nr. 220/221, 3. August 1803, Sp. 257–267. 253 Vgl. Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 241–256. 254 Vgl. ebenda, S. 205. 255 »Wie warnte er auch seine Schüler vor dem Laster des Spiels, der Wollust u.s. w. Selbst als Gelehrter vermied er gern das Ueppige Schlüpfrige, das die Sinnlichkeit Aufregende. Zu seinen archäologischen Sammlungen gehörte auch eine sehr seltende Sammlung Erotika, oder Spintrien, die er weislich verschlossen hielt und später zu verkaufen suchte; er fand auch einen Liebhaber, der den gesetzten Preis dafür geben wollte, aber B. machte sogleich den Kauf rückgängig, als er im Käufer einen reichen Lüstling entdeckte, in dessen Hand die Sammlung nur ihm selbst und, wenn auch da nichts mehr zu verderben war, gewiß noch manchem Andern Gift werden konnte.« Karl Wilhelm Böttiger: Karl August Böttiger. Eine biographische Skizze von dessen Sohne, Leipzig 1837, S. 119f. 256 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Ästhetik, 2 Bde., Berlin und Weimar 1984, Bd. 2, S. 14f.

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Abb. 41 »Böttigers Herumtatscheln an den weichen Marmorpartien der weiblichen Göttinnen gehört nicht … zum Kunstgenuß« (Hegel) Torso der Aphrodite, Marmor

ker Kunstwerke seine Freude hat, moralisch zu diskreditieren. Tatsächlich umfasst der Genuss, der Böttiger durch die Illusion der Realität bereitet wird, auch erotisches Vergnügen: Trefflich treten die zarten Krümmungen des Rückens und der gerundete Oberschenkel in der mit buntem Marmor ergänzten Venus heraus.257

Unverkennbar erklingt Böttigers Vergnügen an Darstellungen üppiger weiblicher Körperformen in dieser Passage aus der Schrift Die Dresdner Antikengalerie mit Fackelbeleuchtung gesehen den 25. August 1798. Die Textstelle, mit welcher Böttiger seinem Verlangen »herumzutatscheln« Ausdruck verleiht, bezieht sich jedoch nicht, wie Hegel behauptet, auf eine weibliche Göttin, sondern auf den »sich selbst salbenden Athleten«: »und man bewundert nun erst die zum Leben erweichten Umrisse und wünscht das Fleisch zu betasten, ob es dem Fingerdruck weiche«.258 Dabei sieht 257 Karl August Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung gesehen den 25. August 1798, o. O. 1798, S. 3. – Eine archäologische Rekonstruktion dieser Besichtigung der Dresdner Antikengalerie bietet der Beitrag von Kordelia Knoll im vorliegenden Band. 258 Ebenda, S. 7f.

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Abb. 42 »das Fleisch … betasten, ob es dem Fingerdruck weiche« (Fackel-beleuchtung) Sich selbst salbender Athlet, Marmor

Böttiger im Gegensatz zu Johann Gottfried Herder, gegen dessen 1778 bei Hartknoch in Riga erschienene Plastik sich Hegel wohl mit größerer Berechtigung hätte wenden können, den Tastsinn nicht als Organ zur Auffassung des Kunstwerks an, denn das Betasten wird hier keineswegs als Form des Kunstgenusses hingestellt. Die Betastung der Statue wird einzig erwogen, um den Eindruck des Natürlichen, der dem Gesichtssinn bei Fackelbeleuchtung ersteht, auf die Probe zu stellen. Um die Intensität der Illusion zum Ausdruck zu bringen, bedient sich Böttiger eines Verfahrens, dem wir in den griechischen Maleranekdoten immer wieder begegnen: Meisterschaft bedeutet Täuschung. Die Tauben picken an den gemalten Trauben des Zeuxis, den gemalten Vorhang des Parrhasios versucht aber Zeuxis selbst aufzuziehen.259 Erst Ent-Täuschung macht Täuschung erkennbar. Eine solche Desillusio259 Vgl. Ingeborg Scheibler: Griechische Malerei der Antike, München 1994, S. 11.

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nierung glaubt Böttiger angesichts der durch die »vergeistigende Fackel«260 hervorgebrachten Illusion heraufbeschwören zu müssen, wohl wissend, dass eine tatsächliche Betastung der »weichen Marmorpartien« den Eindruck ihrer Weichheit sofort zerstört. Indem er Böttigers Synästhesie aufgreift, tatschelt Hegel heimlich mit. Mutwillig verfälscht er Böttigers Äußerungen, der in der Lebendigkeit des Kunstwerks durchaus den Geist im Sinnlichen erscheinen sieht. Die Vergeistigung wird allerdings von außen bewirkt. Sieht man einmal von persönlichen Motiven ab, die auch eine Rolle gespielt haben dürften, so zielt dieses satirische Verfahren, das der Philosoph hier in einem wissenschaftlichen Werk gekonnt zur Anwendung bringt, gegen Böttigers Auffassung vom Kunstgenuss als Vergnügen an realistischer Darstellung sowie als Sinnenfreude. * Böttigers Begeisterungsfähigkeit für die Rückenpartien weiblicher und androgyner Wesen, Augenlust, die der Fleischeslust verwandt ist, spricht sich in seinen Texten immer wieder aus. In seiner Erotikasammlung befand sich u. a: »Die Venus aux belles fesses (Callipygos) in Kreidezeichnung nach dem Original in halber Grösse von einem Dresdner Künstler in Neapel entworfen.« (Bl. 11v) »Man kann in der That nichts zierlicheres sehn, als diese Hermaphroditengestalten«, schreibt er in den Griechischen Vasengemälden: »Sie gehörten überhaupt in den Artikel, den die Wollust der Wollust delic ia e nannte«.261 Den sinnlichen Charakter der Kunstwerke charakterisiert Böttiger häufig mit dem Ausdruck »wollüstig« und spielt gern auf entsprechende Praktiken an: Die Verschmelzungen der Nymphe Salmacis mit dem holdesten Knaben, diese Erzeugnisse der wollüstigsten Künstlerfantasie suchte freilich durch das üppigste Aufgebot der weichlichsten Formen beider Geschlechter, wo es nach Martials Definition heißt: pars est una patris, cetera matris habet (XIV. ep. 74), ganz andere Zwecke zu erreichen, deren Endpunkt sich in den zwei Symplegmen der Dresdner Antikengalerie deutlich genug hervorhebt, da es hier wirklich zu einer vollendeten klinopálh kommt. […] Man braucht nicht erst die Epigrammen des Strato gelesen zu haben, um zu wissen, warum die auf dem Bauche liegende Stellung der Hermaphroditenstatuen dem Zwecke, wozu sie der griechische Künstler gerade so und nicht anders bildete, am meisten zusagte.262

Während Goethe und Schlegel in den Epigrammen und der Lucinde ihre privaten Praktiken zur Darstellung bringen, aktiviert Böttiger seine eigene Fantasie sowie die seiner Leser oder Zuhörer, um der griechischen Künstlerfantasie hermeneutisch auf die Schliche zu kommen. Die Evokation des Wollüstigen findet sich in Böttigers ero260 Karl August Böttiger: Die Dresdner Antikengalerie mit Fackel-beleuchtung (wie Anm. 257), S. 2. – Zur Verlebendigung der Statuen durch die Fackelbeleuchtung vgl. den Beitrag von Felix Saure im vorliegenden Band. 261 Karl August Böttiger: Griechische Vasengemälde. Mit archäologischen und artistischen Erläuterungen der Originalkupfer, Bd. 1, Heft 3, Magdeburg 1800, S. 16 und 16f., Anm. *). 262 Böttiger: Ueber die Hermaphroditen-Fabel und Bildung (wie Anm. 17), S. 355.

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Abb. 43 »Die Venus aux belles fesses (Callipygos)« (Bl. 11v) – Mengs’scher Gipsabguss

tischen Papieren immer wieder. Da ist von die Rede von den Huren, welche »einen Wettkampf anstellten, welche wohl am wollüstigsten die hintern Backen u Hüften bewegen könne« (Bl. 31v), da ist der »wollustige Kampf des Satyr mit dem Hermaphroditen«, ein »phallisch Bacchanal mit 2 wollustigen Gruppen, wo ein bärtiger Aegipan eine Manade nothzüchtigt, und ein zweiter der die Mänade von hinten bedient« (Bl. 11r), da sind »Wollustige tanzende und das Idol kränzende Hierodulen um einen grossen aufrecht stehenden dicken Phallos« (Bl. 11v), da heißt ihm der 302

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Abb. 44 »Man braucht nicht erst die Epigrammen des Strato gelesen zu haben« (Hermaphroditen-Fabel) – Hermaphroditensymplegma

Keletismos »das Liebesspiel mit der rosigen Doris in einem der wollustathmendsten Epigramme in der ganzen Anthologie« (Bl. 16r). Aber da sind auch die gläsernen phallusförmigen Gefäße als »wollüstiger Sinnenreiz für die Weiber und die zu Weibern in der Knabenliebe entarteten Männer« (Bl. 21r) und die »Pfützen der Wollust« (Bl. 23r). So schwankt Böttiger zwischen der eigenen sinnlichen Ansprechbarkeit und Ausdrucksweise auf der einen und der Verurteilung der Sinnlichkeit auf der anderen Seite. In dieses zweideutige Verhältnis zieht er den Rezipienten hinein, dem er, die Sinne sinnlich und die Vernunft rational ansprechend, eine widersprüchliche Botschaft vermittelt. Auf die Spitze treibt er dieses widersprüchliche Verfahren in dem Aufsatz Sabina an der Küste von Neapel : Die höchste Schande ist ihr eine Art von neuer Wollust. Sie lässt heute, weil ihr Liebling, der kleine Issus, ihr Schosshündchen, zu ihr hereingehinkt kam, eine ihrer brauchbarsten Sclavinnen halb todt peitschen und bestellt zu gleicher Zeit durch die Blumenhändlerin

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René Sternke Glykerion, die nebenbei auch das Gewerbe einer verkappten Kupplerin treibt, auf diesen Abend ein Kämmerchen in den untersten Schwibbögen des Amphitheaters des Titus. Die Tochter und Gemahlin eines römischen Consularen kann der Versuchung nicht länger widerstehen, auch diese unterste Hefe der Wollust auszukosten. Und diese Schamvergessene, die zwischen dem frechsten Gelüst und der ruchlosesten Befriedigung keinen Schlagbaum der Sitte und des Herkommens fand, den sie nicht zugleich muthig übersprungen hätte, zitterte doch bei jedem Traumbilde, das ihre gereizte Phantasie ihr am Morgen einer durchschwelgten Nacht vorspiegelte, und hatte ein syrisches Bettelweib regelmässig in ihren Sold genommen, die ihr jeden Traum ausdeuten und die Opfer und Büssungen vorzählen musste, womit sie die angedrohten Zornruthen des Himmels zerbrechen oder abkaufen könne.263

Es bleibt in der Schwebe, ob die sinnliche Darstellung die moralische Verurteilung oder die moralische Verurteilung die sinnliche Darstellung intensivieren soll, ob der Leser moralisch oder sinnlich erregt werden soll. Der Text ist auf Intensivierung des Leseerlebnisses und Lebensgefühls angelegt. Nicht nur Wollust, nicht nur höchste Schande, ja auch Empörung kann Wollust sein. * Der Begriff ›Sexualität‹ ist ein naturgeschichtlicher Begriff. Während des ersten Drittels des 19. Jahrhundert taucht er in den Büchern vor allem im Zusammenhang mit der heftig umstrittenen Frage auf, ob die Pflanzen eine Sexualität hätten. Der Übersetzer der Schrift Ueber das Leben und die Werke Gärtner’s und Hedwig’s von Joseph Philippe François Deleuze versteht unter Sexualität das Vorhandensein von männlichem Befruchtendem und weiblichem Befruchtetem, die aber auch Teile eines einzigen Geschlechtsorgans sein könnten, so dass es keinesfalls besondere voneinander verschiedene männliche und weibliche Geschlechtsorgane geben müsse, er unterscheidet Sexualität von Asexualität, bei welcher es überhaupt keine Befruchtungsteile gebe.264 In diesem Sinne wird ›Sexualität‹ auch im Encyclopädischen 263 Karl August Böttiger: Sabina an der Küste von Neapel (wie Anm. 42), S. 243. 264 »Den andern Hauptgrund, den Herr Deleuze für die männlichen Befruchtungstheile der Moose u. a. und die Art der Befruchtung geltend zu machen sucht, nimmt er von der Analogie mit andern Pflanzen her. Aber es ist die Frage, ob nicht hier eine höhere Analogie mit dem Thierreich eintritt, und ob nicht im Gewächsreich eben so, wie im Thierreich, nachdem sich die Trennung der Geschlechter lange Zeit erhalten hat, zwar immer noch eine Sexualität, aber durchaus keine Verschiedenheit mehr in Absicht auf Geschlechts-Organe, sondern nur Ein weibliches Organ übrig zeigen möchte, das durch seine eigene innere Kraft fähig wäre, Saamen hervorzubringen. Eine solche Parallele der lezten Glieder in der Reihe der Gewächse mit den lezten der Thiere erweißt sich ferner durch den Uebergang in die Asexualität bei den Lichenen Schwämmen […] wo blos Gemmen Produktion statt findet, und selbst diese bei mehreren der leztern noch in Zweifel gezogen werden kann, bis endlich auch diese verschwindet, und wie bei dem Schimmel eine Art von generatio æquivoca eintritt. Herr Deleuze ist in Rüksicht auf das, was Hedwig von männlichen Befruchtungstheilen der Lichenen und Pilze angibt, zwar der Meinung, daß es mehr Scharfsinn als Beweiskraft enthalte, scheint aber

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Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften von 1834 als eine besondere Form der ›Fortpflanzung‹ definiert, nämlich als »Fortpflanzung […] durch Wechselwirkung bestimmter Zeugungsstoffe in einem oder durch mehrere selbsts[t]ändige Individuen« und der einsamen geschlechtslosen Zeugung entgegengestellt.265 Die menschliche Sexualität stellt August Wilhelm Eduard Theodor Henschel 1820 in seinem Buch Von der Sexualität der Pflanzen als ein komplexes Phänomen vor: Sie umfasse den Geschlechtsunterschied, die Geschlechtsteile, die Geschlechtsbegier sowie den Geist des Geschlechtsmenschen, der sich seiner selbst nicht nur als Individuum, sondern auch als Gattung bewusst ist. Diese vier Bestandteile und Niveaus der menschlichen Sexualität sieht Henschel nacheinander heranreifen.266 Die Entwicklung des Menschen wurde also als Prozess seiner sexuellen Differenzierung begriffen. Wenn Blumenbach im Gegensatz zu Böttiger die Existenz von Hermaphroditen bestreitet, so tritt er hier keineswegs mit der Auffassung des Fachmannes der Auffassung des Laien entgegen. Böttiger führt für seine eigene Position medizinische Autoritäten an und aus der defensiven Argumentation267 des zu Blumenbachs Auffassung neigenden in Rüksicht aufs Daseyn der Saamen dieser Gewächse mit ihm einig zu seyn, die als solche eben so wenig erweisbar sind.« Vorrede [des Übersetzers], in: Joseph Philipp François Deleuze: Ueber das Leben und die Werke Gärtner’s und Hedwig’s von Deleuze. Aus den französischen Annalen des Museum’s der Naturgeschichte übersezt, Stuttgart 1805, S. III–VIII, hier S. VI–VIII. 265 »Die Fortpflanzung erfolgt nun entweder A) ohne offenbare geschlechtliche Gegensätze in einzelnen organischen Individuen oder B) durch Wechselwirkung bestimmter Zeugungsstoffe in einem oder durch mehrere selbsts[t]ändige Individuen, welches Verhältniss man im Allgemeinen Geschlechtlichkeit, Sexualität nennt, worin die Gegensätze der Männlichkeit und Weiblichkeit begriffen. / A) Die geschlechtslose Zeugung ist jedesmal eine einsame, das ist in einem einzelnen Individuum stattfindende (g[eneratio] monogenea).« P-e: Erzeugung, in: Dietrich Wilhelm Heinrich Busch, Carl Ferdinand Gräfe, Christoph Wilhelm Hufeland, Heinrich Friedrich Link, Johannes Müller: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, Bd. 11, Berlin 1834, S. 515–549, hier S. 518. 266 »Hat der Mensch denn früher seine wahre Sexualität als seine Vegetation vollendet ist? Der Fötus, der wie ein Hautthier, das in sich alle früheren Stufen vom Infusorium an zum Zoophyten u.s. w. wiederholt, im Mutterleibe wohnt und wächst, erhält (wie eine Ascidie auf der dritten Stufe des unteren Thierreichs) den ersten Keim der bloßen Organe des Geschlechtsunterschieds erst wenn im dritten Monate wenigstens das Rudiment des Darmkanals aus dem Nabelbläschen gebildet ist: er erhält vollkommene Geschlechtstheile erst, wenn er als ein nakter Wurm geboren ist und das Vegetiren in der Mutter beendigt hat: er erhält Geschlechtsbegier (wie ein Amphibion) erst wenn das Vegetiren außer der Mutter beschlossen ward, wenn die Pubertät, d. h. die innere Reife des leiblichen Gewächses im Sexualsystem, eingetreten ist – er ist Geschlechtsmensch erst, wenn der Geist sich nicht blos als Individuum (in der Blüthe des Jünglingsalters) sondern als die Gattung (in der Reife des Mannesalters) bewußt worden.« August Wilhelm Eduard Theodor Henschel: Von der Sexualität der Pflanzen. Studien. Nebst einem historischen Anhange von F. J. Schelver, Breslau 1820, S. 617. 267 »Es sey fern von mir, diese Meinung dem tiefern Wissen grosser Zoologen unserer Zeit gegen überstellen, und das Gesagte zu einer Kritik ihrer Theorieen erheben zu wollen.« Wilhelm

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Wiener Professors Wilhelm Joseph Schmitt in dem 1820 publizierten Aufsatz Ueber einige Missbildungen der weiblichen Genitalien geht deutlich hervor, dass die führende Auffassung diejenige von einem ursprünglichen Hermaphroditismus des Menschen war, wie er noch erkennbar sei an abweichenden Bildungen (Deflexen) der Genitalien, an bestimmten den Geschlechtern gemeinsamen Geschlechtsmerkmalen (Brüste usw.) und an den unterschiedlichen Ausprägungen der Individuen im Habitus, im dynamischen Ausdruck der Sexualität (d. h. im Geschlechtstrieb268) und in der psychischen Sphäre: Man ist heut zu Tage übereingekommen, alle Bildungsdeflexe der Genitalien, so wie die Widersprüche in der Typik der leztern und des Totalhabitus aus einem höhern Gesichtspuncte anzuschauen, und sie für Offenbarungen einer hermaphroditischen Tendenz zu halten […]. Die Idee, bei Thieren mit getrennten Geschlechtern, das Individuum ursprünglich als geschlechtslos zu betrachten, das den Begriff der Gattung einschliesse, und durch die höchste Individualisirung erst zum Geschlechtspole werde, ist eine der lichtvollesten und anziehendesten im Gebiete der Physiologie, in sofern das Wesen und Entstehen des Hermaphroditismus im Al lgem ei n en daraus begreiflich wird. […] Einige Zoologen begnügten sich, das Ursprünglich-Hermaphroditische beider Geschlechter in der männlichen und weiblichen Ruthe und in den Brüsten nachzuweisen. Indessen scheinen die Eigenthümlichkeiten, durch welche die Sexualität im Totalhabitus und in der dynamischen und psychischen Sphäre sich geltend macht und veroffenbart, nicht minder hieher bezogen werden zu müssen, da sie überhaupt leise Andeutungen der Geschlechtsdifferenzirung sind, und häufig zu dem Typus der Genitalien einen mehr oder minder hervorstechenden Gegensatz bilden.269

In einem derart abgesteckten theoretischen Rahmen wird die Herausbildung der menschlichen Individualität als ein Prozess begriffen, in welchem sich das Individuum dem einen oder dem anderen Geschlechtspol nähere.270 Dabei werde es in seiner Totalität (in seiner organischen und seiner dynamischen (d. h. Trieb-) Struktur) ergriffen. Da die beobachtbare Realität aber eine Mannigfaltigkeit von Joseph Schmitt: Ueber einige Missbildungen der weiblichen Genitalien, in: Johann Christian Friedrich Harless (Hg.): Rheinische Jahrbücher für Medicin und Chirurgie. Mit Zugabe des Neuesten und Wissenswürdigsten aus der medicinisch-chirurgischen Literatur des Auslandes, 4. Bd., 2. Stück, Bonn 1821, S. 1–49, hier S. 21. – Der an die Alten und die ältere Forschung anknüpfende Böttiger vertritt gegenüber den in der Tradition der Aufklärung stehenden die Existenz von Hermaphroditen leugnenden Naturforschern sogar den moderneren, erstmals etwa 1802 in Everard Homes Über Zwitter vertretenen Standpunkt, der wieder von der Existenz hermaphroditischer Bildungen ausgeht. Vgl. Maximilian Schochow: Die Ordnung der Hermaphroditen-Geschlechter. Eine Genealogie des Geschlechtsbegriffs, Berlin 2009, S. 248f. 268 Vgl. Schmitt: Ueber einige Missbildungen der weiblichen Genitalien (wie Anm. 267), S. 24f. 269 Ebenda, S. 15f. 270 »Im Augenblicke seines Werdens erscheint demnach jedes Individuum als Gattungswesen. Aber mit dem Daseyn beginnt aus der Tiefe des zur Individualisirung strebenden Organismus die Geschlechtspolarität sich aufzuschwingen, und zwar mit entschiedenem und aufs höchste gesteigerten Uebergewichte des einen oder andern Pols.« Ebenda, S. 18.

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Menschen darbietet, deren Körper auf unterschiedlichste Weise ausgebildet sind und deren dynamische und psychische Sphäre »häufig zu dem Typus der Genitalien einen mehr oder minder hervorstechenden Gegensatz bilden«, bringt Schmitt, um den Überblick zu behalten, die Kategorie des ›Normaltypus‹ ins Spiel. Und die Genitalien werden letztlich zu dem wesentlichsten und wichtigsten Teil des Individuums, welcher die ganze Totalität determiniert und den Dreh- und Angelpunkt der Individualität bildet: Die begonnene Geschlechts-Differenzirung ergreift, wenn sie sich ihrem Normaltypus getreu entwickelt, das Wesen des ganzen Individuums, und ermächtigt sich seiner Totalität nach der dynamischen und organischen Seite, woraus eine Mannichfaltigkeit universeller und specieller Geschlechtskaraktere sich entfaltet, die zur Zeit der Geschlechtsreife des Individuums erst ihren vollkommenen Ausdruck erhalten, und unter denen die Genitalien für die Erscheinung die wesentlichsten und wichtigsten sind.271

Der Hermaphrodit sei folglich das Ergebnis einer misslungenen Individualisierung.272 Schmitt, der in denjenigen Fällen, in denen die Genitalien keine klare Auskunft über die Individualität des Individuums geben, lieber Verbildungstypen als eine hermaphroditische Tendenz erblicken will,273 bemerkt für diese Fälle, in welchen der Kampf zwischen den beiden entgegengesetzten Geschlechtstypen unentschieden ausgehe, dass »es wohl zu einer Doppelseitigkeit der Gebilde, aber nie zu einer Doppelseitigkeit der Functionen kommen kann«.274 Damit wird die Individualität nicht nur um die Genitalien, sondern obendrein um deren Funktionserfüllung zentriert. Das bestätigt die Fallstudie, mit der Schmitt seinen Aufsatz eröffnet: »ein lockerer Geselle« habe bei seinen Seitensprüngen bemerkt, dass seine Frau »nicht gebauet wäre, wie andere Weiber«, und die Ehescheidung beantragt. Der Mediziner sah die Berechtigung dieser Forderung ein, »da nicht die Begattung allein […], sondern die Zeugung den eigentlichen Endzweck der Ehe ausmacht, und wo die physische Möglichkeit hiezu nicht gegeben ist, […] der Beischlaf, wenn auch nicht ganz zwecklos, doch als einem blos untergeordnetem Zwecke dienend erscheinen muss«.275 Gleichzeitig schreckte er in Anbetracht dessen, dass »die Unordnungen, welche für die bürgerlichen, religiösen und sittlichen Socialverhältnisse aus den Ehescheidungen hervorgehen, auch eine ernste Berücksichtigung« verdienten,276 davor zurück,

271 Ebenda. 272 »Die Möglichkeit des Hermaphroditismus bei Individuen mit getrennten Geschlechtern kann demnach nur aus einem nicht vollkommen gelungenen Siege des einen Geschlechtspoles über den andern begriffen werden. Dieses Mislingen wird sich […] durch mangelhafte Bildung der Geschlechtspartieen […] veroffenbaren.« Ebenda. 273 Ebenda, S. 20f. 274 Ebenda, S. 24. 275 Ebenda, S. 2f. 276 Ebenda, S. 3.

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das medizinische Konzept der ›Sexualität‹, das den Menschen um seine Genitalien herum ordnet und den Beischlaf auf die Zeugung reduziert, konsequent und radikal auf die sozialen Verhältnisse anzuwenden. * Das Konzept der ›Sexualität‹, d. h. der Zeugung aus dem Gegensatz zwischen einem positiven und einem negativen Pol heraus, fand als dialektische Denkfigur in der idealistischen Philosophie ein breites Wirkungsfeld und drang aus der Naturgeschichte und der mit ihr zeitweise engverbundenen idealistischen Naturphilosophie in andere Diskurse ein. Die Philosophie Johann Jakob Wagners, deren Besonderheit gegenüber den konkurrierenden philosophischen Systemen in einer viergliedrigen Konstruktionsmethode bestand,277 konzipiert die Sexualität des Geistes als Wiederholung der Sexualität des Leibes, sieht die gesamte Kultur und Geschichte aus der Sexualität der Geister entstehen und in der Sprache die geistige Reproduktion der Sexualität.278 Das Schema »Mann – Weib – Zeugung« lässt sich durch Analogiebildungen auf sämtliche Phänomene übertragen: Vor diesem Anfange der Geschichte [d. h. vor dem Sündenfall und menschlicher Sexualität] wird die Tonsprache blos Ton, die Schriftsprache blos Licht, und zwischen Licht und Ton ist das Verhältniß dasselbe, wie zwischen Geist und Gemüth. Die Frage über Licht und Ton aber ist dieselbe mit der über Halbmesser und Sehne, Mann und Weib, oder über die Sexualität des Universums, dahingegen das obige Problem von Schrift und Tonsprache die Sexualität der Menschen schon voraussetzt.279

Das hier seinem Kontext entrissene Zitat aus Wagner Staat ist nur verständlich, wenn wir bedenken, dass die Erscheinungen der Sexualität des Universums (Licht/Ton, Geist/Gemüt, Halbmesser/Sehne, Mann/Weib) in Wagners Philosophie unabhängig vom menschlichen Erkennen – und damit von Sündenfall und menschlicher Sexualität – sind, Schrift und Tonsprache aber menschliches Erkennen – und also Sündenfall und menschliche Sexualität – voraussetzen. Im Sündenfall äußere sich der »Trotz der Individualität« und der »Kreislauf des Lebens« vollende sich durch den Eintritt 277 Vgl. dazu Wolfgang G. Stock: Die Philosophie Johann Jakob Wagners, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 36, Heft 2, Meisenheim/Glan 1982, S. 262–282. 278 »Da die Sexualität des Leibes sich in der Sexualität des Geistes wiederholt, und eben aus dieser Sexualität der Geister ihre ganze Kultur und Geschichte quillt, so kann jenes erste Faktum in seinen Wirkungen vollständig nach dem Schema: Sprache Zeugung Arbeit Sexualität begriffen werden, wie denn aus der Arbeit die Stände, aus der Zeugung die Familienverhältnisse kommen, in der Sprache aber des Geistes vollständige Geschichte liegt, und alles dies zusammen aus der Sexualität entsteht, welche in der Sprache sich geistig reproducirt.« Johann Jakob Wagner: Der Staat, Würzburg 1815, S. 201f. 279 Ebenda, S. 222, Anm.

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des Lebens »aus dem Perihelium des Geisterlebens in das Aphelium des Körperlebens«. Der Sündenfall stellt für Wagner jenes »Urfaktum« dar, »aus welchem Sexualität der Menschheit entsprang und der Text der ganzen Weltgeschichte – das Suchen der Menschheit nach sich selbst – gegeben wurde«.280 Hier geht der philosophische Diskurs in der Valorisierung der Sexualität noch über den naturhistorischen hinaus, indem er in der Sexualität nicht nur die Individualität des Individuums, sondern den Text der ganzen Weltgeschichte, die Selbstsuche der Menschheit, erblickt. * Die Veränderung der Diskurse folgt im Zusammenhang einer Veränderung der gesamten Diskursformation. Der naturkundliche Begriff der Sexualität wird von der Philosophie aufgenommen und transformiert, während gleichzeitig die Medizin den Einfluss der Naturphilosophie erleidet. Das Eindringen des Sexualitätskonzepts in die Kulturgeschichte lässt sich am Beispiel des 1823 erschienenen Werkes Eros oder Wörterbuch über die Physiologie und über die Natur- und Cultur-Geschichte des Menschen in Hinsicht auf seine Sexualität beobachten. Das Werk knüpft direkt an ein medizinisches Nachschlagewerk an: das seit 1812 in Paris von der Crème der französischen Medizin in 60 Bänden herausgegebene Dictionnaire des sciences médicales.281 Während das gigantische französische Werk sich auf die Medizin konzentriert und sich an ein Fachpublikum richtet, integriert das anonyme zweibändige deutsche Werk, dessen Redaktion in Leipzig ansässig ist, den kulturhistorischen Aspekt und richtet sich an ein Laienpublikum,282 und zwar an »rein e, er ns te, reife und gebildete Leser«.283 Eros, der Titel des Werks, bezeichnet den Trieb, »der die physische Welt fortdauernd erhält, und der sich als primum movens und ulti280 Vgl. ebenda, S. 207. 281 Adelon, Alard, Alibert, Barbier, Bayle, Biett, Bouvenot, Boyer, Breschet, Cade de Gassicourt, Cayol, Chaumeton, Chaussier, Coste, Cullerier, Cuvier, Delpech, Des Genettes, Dubois, Esquirol, Flamant, Fournier, Gall, Gardien, Geoffroy, Gersent, Guilbert, Hallé, Heubteloup, Husson, Itard, Jourdan, Keraudren, Laeenec, Landré-Beauvais, Larrey, Legallois, Lerminier, Lullier-Winslow, Marc, Marjolin, Mérat, Montegre, Mouton, Murar, Nacquart, Nysten, Pariset, Percy, Petit, Pétroz, Pinel, Renauldin, Richerand, Roux, Royer-Collard, Savary, Sédillot, Spurzheim, Tollard, Villeneuve, Virey: Dictionnaire des sciences médicales, par une société de médecins et de chirugiens, 60 Bde., Paris 1812–1822. 282 »Vor allem müssen wir sagen, daß eine große Zahl unserer Abhandlungen ihr Entstehen einem großen, weitschichtigen, wissenschaftlichen, französischen Werke: Dictionaire des Sciences médicales verdankt, das, nur für Aerzte geschrieben, selbst nur sehr wenigen unter diesen in Deutschland zugänglich ist, und den Lesern, für die w i r schreiben, ganz unbekannt und unzugänglich seyn und bleiben dürfte«. Anonym: Eros oder Wörterbuch über die Physiologie und über die Natur- und Cultur-Geschichte des Menschen in Hinsicht auf seine Sexualität, 2 Bde., Berlin 1823, Bd. 1, S. 13f. – Der erste Band wird hier und im Folgenden zitiert nach: Neue Auflage, Stuttgart 1849. 283 Ebenda, S. 15.

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mum moriens, als der erste und der letzte Lebenshauch durch alles Geschaffene zieht«.284 Dieser wird einerseits als historische Konstante angesehen, andererseits aber auch als etwas, das im Laufe der Geschichte durch die gesellschaftlichen Umstände modifiziert wird, so dass Physiologie, Naturgeschichte und Kulturgeschichte bei seiner Untersuchung zusammenwirken müssen: Wie dieser Trieb im Menschen sich durch alle Zeiten und Völker, durch alle Staats- und gesellschaftlichen Umwälzungen in seiner Macht aufrecht erhalten, und nur unter verschiedenen Umständen sich verschieden modificirt hat, so müssen wir, wo es auf eine genügende Beleuchtung dieses Naturtriebes ankommt, den Menschen durch alle seine Lebensalter, durch alle Länder und Zeiten, durch die Geschichte seiner Cultur hindurch verfolgen, und sehen, wie sich der Geschlechtstrieb in der P hy s i o l o g i e , der Natur ges chichte und in der Cu l tu r ge s ch i ch te unsres Geschlechtes verhalten hat.285

In der Vorrede zum zweiten Teil heißt es, er liefere »noch weit wichtigere Aufschlüsse als der erste über die Art und Weise, wie der Mensch von jeher über seine Sexualität gedacht hat, und wie wieder die Cultur auf sie, diese auf die Ausbildung der Cultur gewirkt habe«.286 Die Sexualität wird also als etwas betrachtet, das kulturell geformt wird. Mit der Annahme einer kulturell variablen Sexualität wird jedoch keineswegs die Vorstellung von einer normierten Sexualität aufgegeben, ja es wird nicht einmal die Vorstellung von einer kulturell variablen, aber verbindlichen Norm, wie sie Böttigers und Heynes private Diskussion über Johannes von Müllers Vorliebe für junge Männer determiniert,287 zugelassen, sondern vielmehr eine transhistorische Norm aufgestellt, für welche die aus der Physiologie übernommene Kategorie des ›Gesunden‹, die ihrerseits an die der ›vitalen Function‹ rückgebunden ist, den Maßstab liefert.288 Die positiven Begriffe ›gesund‹, ›normal‹ und ›naturgemäß‹ übernehmen die sozial-regulative Funktion der negativen Kategorien ›Sünde‹ und ›Schande‹: Im Allgemeinen läßt sich nur dies physiologisch-ärztlich festsetzen: daß der Beischlaf so lange nicht in zu großer Frequenz vollzogen sei, als der Mensch nachher sich nicht zu sehr dadurch angegriffen und geschwächt fühlt. Denn der Beischlaf in gesundem Zustande und in normaler, naturgemäßer Frequenz geübt, muß, wenn jene eben angedeutete nur ganz augenblickliche Abspannung vorüber ist, durchaus gar kein Gefühl von Unbehaglichkeit, sondern gerade das Gegentheil hervorbringen.289 284 285 286 287

Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 11f. Ebenda, Bd. 2, S. VI. Siehe weiter unten. Vgl. auch Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 184–189. 288 »Was irgend in der Physiologie, das heißt in der Geschichte der Verrichtungen des gesu nden menschlichen Körpers, in näherem oder entfernterem Bezuge auf die physische Liebe steht, also die verschiedenen Theile des Körpers, seine Bewegungen, seine Ruhe, seine vitalen Functionen, Alles dieß verdiente, eben in Bezug auf jenen Trieb, wissenschaftlich beleuchtet zu werden.« Eros (wie Anm. 282), Bd. 1, S. 12. 289 Ebenda, S. 159.

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Aus den physiologischen Gegebenheiten, der natürlichen Lage der Geschlechtsorgane, ergebe sich die naturgemäße Stellung, in welcher der Beischlaf auszuüben sei.290 Damit wird die ars amatoria mitsamt ihren Schemata überflüssig, so dass eine Diskrepanz zwischen dem Naturgemäßen und der kulturellen und sozialen Realität entsteht, die sich nicht auflösen lässt: Ist nun zwar der Mensch von der Natur, wie alle Thiere, nur auf eine einzige Stellung in der Begattung angewiesen, so hat ihn seine grobe Sinnlichkeit bald auf eine, wenn möglich noch größere Potenzirung des Geschlechtsgenusses denken lassen, und er hat diese in gewissen größern oder kleinern Variationen in der nöthigen Lage gesucht, welche Variationen man uns nicht zumuthen wird, hier aufzuzählen. Ein französischer lüsterner Schriftsteller, der sich damit beschäftigt hat, meint deren ganzer v ier und v ierzig zusammen nehmen zu können. Uns bedünkt, es könnte Jemand das halbe Hundert wohl voll bekommen, der sich die Mühe nähme, alle die verschiedenen Anerbietungen zu addiren, die man ihm machen wird, wenn er zwischen elf und zwölf in einer schönen Sommernacht in Paris über die Boulevards, durch die hölzerne Gallerie des Palais-Royal, durch den Durchgang Montesquieu, und durch die Vorstadt St. Ja cques wandert! –291

Letztlich werden alle kulturellen Abweichungen vom ›Gesunden‹, ›Naturgemäßen‹, ›Passenden‹ und ›Normalen‹ als ›Ausschweifungen‹ klassifiziert, so dass sich die im Titel angekündigte Kulturgeschichte der Sexualität im Wesentlichen auf eine Geschichte der Ausschweifungen reduziert. Der Artikel Ausschweifung ist 29 Seiten lang und gliedert sich in die Abschnitte: 1. Historische Beispiele der Ausschweifung und ihrer Folgen bei den alten Nationen Asiens und Afrika’s, 2. Die Ausschweifungen der Griechen und Römer, 3. Reformation der Sitten durch das Christenthum; Ausschweifungen der heidnischen Völker, 4. Die Ausschweifung und ihre Einflüsse bei den neuern Nationen Europas und 5. Die Ursachen der Ausschweifung und ihre Folgen für Gesundheit und Leben. Somit wird die Sexualität weiter nach den christlichen Normen reguliert, nur werden diese Normen nicht mehr durch die Offenbarung, sondern physiologisch begründet. Verworfen werden alle nichtchristlichen Religionen, die indische Lingam-Verehrung, die Verehrung der Venus, des Bacchus, des Priapus usw., da hier »die Excesse des Fortpflanzungstriebes oft selbst durch religiöse Gesetze geheiligt waren«.292 Und 290 »Die natürliche Lage der Organe, die zur Generation dienen, bestimmt in den verschiedenen Thierklassen die Stellung, die zum Beischlafe die naturgemäßeste, die passendste ist. Blumenba ch besitzt in seinen reichen Sammlungen ein Gemälde von Le onardo da Vinci, das zwar eben in keiner Kirche aufgehängt werden dürfte, aber doch vom physischanthropologischen Standpunkte aus, sehr ernst und interessant ist, denn es stellt die passendste Lage für die Vereinigung beider Geschlechter beim Menschen dar.« Ebenda, S. 154f. 291 Ebenda, S. 156f. 292 »So viel ist gewiß, daß in Europa, im Morgenlande und in allen Gegenden, wo das Christenthum die heidnische Gottesverehrung der Venus , des B a cchu s, Pr iapus u.v. a. verdrängte, die Ausschweifungen zu einem durch die Religion verdammten Laster gebrandmarkt, und die Sittlichkeit wieder zu Ehren gebracht wurde, während auf den übrigen Theilen der Erde die Excesse des Fortpflanzungstriebes oft selbst durch religiöse Gesetze geheiligt waren. Bei den Hindus besteht die P h a l lu s - oder L i n g a m s - Verehrung seit den undenk-

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das Ende der klassischen Antike wird als Rache der Natur am »Mißbrauch des Wollusttriebes« gedeutet.293 * Vergleichen wir Eros oder Wörterbuch über die Physiologie und über die Natur- und Culturgeschichte des Menschen in Hinsicht auf seine Sexualität mit Böttigers antiquarisch-erotischen Papieren und den in seinen verschiedenen Schriften zerstreuten Bemerkungen, so stellen wir eine große Gemeinsamkeit hinsichtlich der berührten Sachverhalte fest. Die Geschichte der Symbolik des erotischen Lebensprinzips, die vom Bild der vereinigten Sexualorgane, als Urbedingung alles organischen Lebens, ausgeht, findet sich im Eros 294 wie bei Böttiger. Bestimmte Medien der Sexualität, z. B. die Brille, mit der »ein bebrillter Zieraffe […] das edelste Organ […] abstumpft«,295 werden im Eros auf ähnliche Weise historisch und zivilisationskritisch behandelt wie bei Böttiger.296 Auch der launige Ton, das Aufrufen der eigenen Beobachtungen des Lesers, die besondere Berücksichtigung der Leserin, die überbordende enzyklopädische Bildungsfülle, insbesondere die Kenntnis der Naturgeschichte der Alten, die Zitierfreudigkeit, das Faible für Martial und die sprach- und wortschöpferische Fantasie297 finden sich im Eros, so dass manche Passagen, etwa im Artikel Aphrodisiaca, geradezu böttigerisch wirken: Die sogenannten kryptogamischen Pflanzen, (Gewächse die der letzten Klasse des Lin n é schen botanischen Systemes angehören,) stehen seit der Römer Zeiten in dieser Hinsicht im Geruch, und schon Mar t ial sagte: Cum sit anus conjux, et sint tibi mortua membra, Nil aliud bulbis quam satur esse potes – was wir, der Leserinnen wegen, unübersetzt lassen. Die Schmeckzungen wissen daher auch recht gut, daß sie ihre Trüffel-Pasteten, ihre Ragouts von Champignons nicht bloß des Gaumenkitzels wegen essen. L i n n é bemerkt, daß eine Gattung der Pflanze Orchis

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lichsten Zeiten, und nächst der Vielweiberei gibt es dort noch ganze Haufen Mädchen, welche der öffentlichen Unzucht gewidmet sind.« Ebenda, S. 74. »Ein s ol ch e s Volk mußte fallen! Rom fiel, und nach den einstimmigen Berichten aller Reiseschreiber bezeugt noch die heutige römische Generation der Nachwelt mit untrüglichen Zügen, daß die Natur sich für den Mißbrauch des Wollusttriebes zu rächen weiß!« Ebenda, Bd. 2, S. 280. »Offenbar beten also die alten Indier in ihrem S ch iw a eben jenes Lebensprincip der Natur an, die physische Liebe, die Zeugungskraft, und deutlicher als aus dieser Allegorie geht noch die Wahrheit dieser Auslegung über die, in der That, kein Streit ist, aus der Symbolik der Lehre und des Dienstes des S ch iw a hervor, da das Hauptsymbol dieser Lehre der berüchtigte L i n g a m ist, das Bild der vereinigten Sexualorgane, als Urbedingung alles organischen Lebens.« Eros (wie Anm. 282), Bd. 1, S. 7. Vgl. ebenda, S. 192. Vgl. Karl August Böttiger: Vergleichungen III. Die Brillenträger, in: Ders.: Kleine Schriften (wie Anm. 29), Bd. 3, S. 111–128. Vgl. dazu den Beitrag von Bernhard Fischer im vorliegenden Band.

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Juno die Schwanzsaugerin (einem Pflanzen-Geschlechte, dem schon D ioscor ides wegen seiner reizenden Kraft eine Lobrede sang) die Stiere in Dalecarlien sehr eifrig zum Fortpflanzungsgeschäfte aufgelegt mache.298

Auch für die von uns im Eros beobachtete Beurteilung der späten römischen Kultur als Epoche der Dekadenz lassen sich bei Böttiger Parallelstellen finden.299 Inwiefern Böttigers Schriften benutzt worden sind, ob er gar an dem Werk mitgearbeitet hat, lässt sich umso schwerer entscheiden, als die Beiträge redaktionell überarbeitet worden sind, um »den verschiedenen Gedanken und Arbeiten ihrer Mitarbeiter jene gemeinsame Physiognomie zu geben, ohne die ein lexicographisches Werk immer Stück und Flickwerk bleiben wird«.300 Bedeutsamer als die Gemeinsamkeiten zwischen der im Eros skizzierten Kulturgeschichte der Sexualität und Böttigers gedruckten und ungedruckten Schriften sind jedoch die Unterschiede, so dass es verfehlt wäre, in Böttigers erotischen Papieren die Vorarbeit zu einer Kulturgeschichte der Sexualität zu sehen, wie sie im Eros realisiert ist. Wo sich im Eros eine stringente Argumentation findet, ist bei Böttiger eine Kompilation. Einer klaren Verknüpfung der Gedanken steht eine Vielheit der Bezüge gegenüber. Wo die Nachweise im Eros fehlen, gibt es bei Böttiger eine Vielzahl der Quellen. Steht der Text im Eros für sich, so schiebt sich selbst in den ausgearbeiteten Texten Böttigers die Note hierarchisch über den Text und korrodiert ihn. Eros ist monologisch, Böttiger vielstimmig und dialogisch. Die Artikel im Eros sind abgeschlossen, Böttigers Texte unabgeschlossen, fragmentarisch. Wird eine Geschichte erzählt, etwa die Geschichte des Phallussymbols, so ist sie im Eros linear, bei Böttiger vielsträngig. Der Historie im Eros entspricht bei Böttiger eine Archäologie oder eine Genealogie der Phänomene. Die historische Distanz zu den Gegenständen bleibt im Eros konstant, während Böttiger ständig zwischen Verurteilung und Faszination oszilliert. Dem Blick von außen, den Eros praktiziert, entspricht bei Böttiger eine Hermeneutik, welche die fremden Gedanken und Gefühle zu verstehen trachtet. Mit dem Eurozentrismus des Eros kontrastiert Böttigers Polyperspektivität. Simplizität im Eros, Komplexität bei Böttiger. Dem unproblematisierten Diskurs des Eros entgegen steht Böttigers Selbstreflexivität und -problematisierung des Diskurses. Während der Eros Mäßigung der Sexualität predigt, sucht Böttiger nach dem Exzessiven und lässt es oft für sich stehen. Über die Aphrodisiaka etwa heißt es (Bl. 20r): Dann führt er [der Epitomator des Athenaios] aus dem Theophrast de Plantis IX 20. (vergl. Plinius XXVI, 10. s. 63.) die medizinischen Kräfte an, die als Stimulantien wohl 70 mal Erectionen brächten, u. es so weit trieben, daß der Saam endlich in blosem Blute bestünde.

298 Eros (wie Anm. 282), Bd. 1, S. 38. 299 Vgl. dazu René Sternke: Karl August Böttiger, der archäologische Diskurs und die moderne Dichtung, in: Veit Rosenberger (Hg.): »Die Ideale der Alten«. Antikerezeption um 1800, Stuttgart 2008, S. 93–112. 300 Eros (wie Anm. 282), Bd. 1, S. 14.

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René Sternke

Der Grundunterschied ist jedoch, dass die Liebe im Eros stets als Sexualität, d. h. im Zusammenhang von Befruchtung, Erzeugung, Geburt, gesehen wird, während Böttiger sie eine Vielzahl sozialer Funktionen erfüllen sieht. * In dem ersten, 1976 erschienenen Teil seiner Histoire de la sexualité betrachtet Michel Foucault die menschliche Sexualität noch als transhistorisches Faktum, als Thema, das im Laufe der Geschichte variiert wird. Wenn er dann im zweiten, 1984 erschienenen Teil der Histoire den Begriff ›sexualité‹ in Anführungszeichen setzt, konfrontiert er den Leser mit einem neuen Verständnis des Problemfelds. In eine Reihe mit der erst im 19. Jahrhundert entstehenden Erfahrungsform der ›Sexualität‹ stellt er als eigenartige historische Ausprägung (»figure historique singulière«) die christliche Erfahrung des ›Fleisches‹ sowie das Konzept der ›aphrodisia‹, der ›Liebesgenüsse‹, das bei den Griechen und Römern zur Bündelung der entsprechenden heterogenen Phänomene (Verhaltensweisen, Empfindungen, Bilder, Begierden, Instinkte, Leidenschaften) gedient haben könnte.301 Diese Abfolge der ›Genüsse‹ des Altertums, des ›Fleisches‹ des Mittelalters und der ›Sexualität‹ der Moderne nennt Paul Veyne Variationen ohne Thema.302 Akzeptieren wir diese grobe Gliederung der Geschichte, so lassen sich Böttigers erotische Studien an der Übergangsstelle von der historischen Figur des ›Fleisches‹ zu derjenigen der ›Sexualität‹ situieren. Wir finden den Rekurs auf die alten Erklärungsmuster, wenn Böttiger bei den protestantischen Theologen Herder und Reinhard Rückendeckung sucht und auf den Begriff des ›Schändlichen‹ zurückgreift. Wir finden leise Anzeichen der neuen Figur, wenn Böttiger bei den Anthropologen Meiners und Blumenbach Hilfe zu finden hofft und den Begriff des ›Natürlichen‹ ins Spiel bringt. Wir haben gesehen, dass beim Übergang von einem Erklärungsmuster zum anderen christliche Normen mehr oder weniger unangetastet bleiben. Böttiger scheint in erster Linie an der Aufrechterhaltung der zivilisatorischen Normen interessiert zu sein, weniger an den Erklärungsmustern. Betrachten wir die Geschichte nicht als vollkommen determiniert, sondern als offenen Prozess, so können wir fragen, ob an jener Übergangsstelle von der Erfahrungsform des ›Fleisches‹ zu derjenigen der ›Sexualität‹, in einem Moment, an dem die erstere Figur fragilisiert und die zweite noch nicht en place war, nicht ein anderes Konzept mit den dazugehörigen Gefühlen, Praktiken, Medien usw. in die Bresche hätte springen können. 301 Vgl. Foucault: La volonté de savoir (wie Anm. 84) sowie ders.: L’usage des plaisirs, Paris 1986, S. 9, 11 und 49f. 302 »[…] une fois que la variation est explicitée jusqu’au bout, le thème éternel s’efface, et à sa place il n’y a plus que des variations, différentes l’une de l’autre, qui se sont succédé et que nos appellerons les ›plaisirs‹ de l’Antiquité, la ›chair ‹ médiévale et la ›sexualité ‹ des modernes. Ce sont là trois idée générales que les hommes se sont faites sur le noyau incontestablement réel, probablement transhistorique, mais inaccessible qui se retrouve derrière elles.« Paul Veyne: Foucault, sa pensée, sa personne, Paris 2008, S. 16.

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Hätte man sich vorzustellen vermocht, eine Ordnung zu schaffen, in der, wie Foucault einmal sagt,303 einzig die Wirklichkeit der Körper und die Intensität des Genusses von Bedeutung wären? Wäre eine Reanimation der ›aphrodisia‹ der Alten möglich gewesen? Die lizenziösen Romane, die Romane des Marquis de Sade, die Böttiger als Verschwisterung von wollüstigster Weichlichkeit und blutgierigster, raffiniertester Grausamkeit ansieht,304 die archäologischen Erläuterungen d’Hancarvilles, Schlegels Lucinde, Heinses Ardinghello, Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde, die weit über die Lucinde hinausgehen, indem sie sich frontal gegen die der bürgerlichen Gesellschaft geläufigen Konzepte und üblichen Handlungen stellen und die Forderung erheben, zur Veränderung der bürgerlichen Einrichtungen mit den von Schlegel gezeichneten unkonformen Gedanken und Praktiken aus der Asozialität, in der sich die Liebenden in der Lucinde befinden, in die Gesellschaft hineinzugehen und in dieser zu wirken,305 präsentieren unterschiedliche Alternativen zu einem Sexualtitätskonzept, das die Genitalien, die Geschlechterpolarität und die Fortpflanzungsfunktion in den Mittelpunkt rückt und damit an der gesellschaftlichen Praxis vorbeigeht. Das Konzept der ›Sexualität‹ ist ein bürgerliches, ein rationales, ein ökonomisches Konzept. Es ist ein kapitalistisches Konzept, innerhalb dessen die Aspekte der Verwertung und der Wirtschaftlichkeit grundlegend sind. Während das hedonistische Konzept der ›Wollust‹ auf Konsum angelegt ist, zielt das Konzept der ›Sexualität‹ auf Produktion. Das spricht der Artikel Wollust im Eros unmissverständlich aus: Wir haben von einem Triebe zu sprechen, der allen thierischen Organismen von der weisen Natur eingepflanzt ist, der also wohl zur Erhaltung der irdischen Schöpfung nothwendig und wesentlich ist, und dessen Mißbrauch nur Menschererfindung ist, wie denn der Mensch allein die schmählichen Folgen dieses Mißbrauches sich und seiner Schwäche, nicht einer höhern Weltordnung beizumessen hat. Denn diese gab ihm ein kostbares Geschenk, ein Geschenk, an dem alles Lebende sich erfreut, aber sie gab ihm auch die 303 »[…] un ordre des choses où l’on pouvait s’imaginer que seules comptent la réalité des corps et l’intensité des plaisirs.« Michel Foucault: Le vrai sexe [1980], in: Ders.: Dits et écrits, 2 Bde., Paris 2001, Bd. 2, S. 934–942, hier S. 935. 304 »Dass sich übrigens die wollüstigste Weichlichkeit mit blutgierigster und raffiniertester Grausamkeit recht gut zu einem höllischen Bunde verschwistern kann, […] beweist der Höllenroman Justine, durch dessen Lectüre, wie Re t i f de la Bre ton n e versichert, Danton einst seine Blutgier entzündete.« Karl August Böttiger: Sabina oder Morgenszenen im Putzzimmer einer reichen Römerin. Ein Beytrag zur richtigen Beurtheilung des Privatlebens der Römer und zum bessern Verständniss der römischen Schriftsteller. Neue verbesserte und vermehrte Auflage, 2 Bde., Leipzig 1806, Bd. 1, S. 309, Anm. 1). 305 »Was soll er denn aber machen, wirst Du sagen, er hat ja einen entschiedenen Haß gegen alle bürgerlichen Verhältnisse? Nun, das ist es eben, was ich sage: diesen Haß dürfte er gar nicht mehr haben, seitdem er die Liebe gefunden hat. Wenigstens nicht in einer solchen Welt, wo die bürgerlichen Einrichtungen die Frauen so sehr erdrücken, da muß derjenige, dem sich ein Weib ergeben hat, schon aus Selbstvertheidigung in das bürgerliche Leben hineingehen und da wirken.« Schleiermacher: Vertraute Briefe (wie Anm. 206), S. 33f.

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René Sternke Vernunft, um den rechten Gebrauch dieses Geschenks einzusehen, und damit nach ihren weisen Planen zum Heil der Schöpfung zu wirthschaften, nicht aber damit zu wuchern.306

Böttiger greift dieses neue Konzept nicht auf, aber er bietet auch keine Alternative dazu an. Er schwankt zwischen einem hedonistischen Diskurs, der sich der Wollust einfach hingibt, und einem moralischen Diskurs, der sie als etwas zu Überwindendes versteht. Oftmals plaudert er das, was die Alten gesagt haben, einfach nur nach. So schreibt er 1820 in der Almathea über die wirklichen Hermaphroditen: Das sind häßliche Monstrositäten. Ins Wasser mit diesen! rief die römische Staats-Religion. Darum kümmert sich das plastische Alterthum nicht.307

Gibt Böttiger mit der Forderung nach der Tötung der Hermaphroditen nur die Auffassung der Römer wieder oder auch seine eigene? Bedeutet der letzte Satz, dass ihm der Umgang mit den Hermaphroditen, da das Problem nicht in sein Fach fällt, gleichgültig ist? Blumenbach schreibt ihm darauf, dass es sich bei den vermeintlichen Hermaphroditen zumeist um »die armen Lypospantioi mit mangelhaffter Harnröhre« handle, von denen er »zwey lebende Er wa chsne mit großen wißenschafftlichen Intereße aber«, wie er wohl gestehen müsse, »(– doch das bleibt unter uns –) nicht ohne Anwandlung von Ekel untersucht habe, ohne freilich wie der sonst so humane Verf[asser] L[oco] c[itato] der Am[althea] die armen Creaturen deshalb gleich zur Säckung zu verurtheilen«.308 Böttiger druckt den Brief in der Amalthea ab. Das »(– doch das bleibt unter uns –)« ersetzt er, um das Publikum durch Verwandlung der Indiskretion in einen Vertrauensbeweis in die exklusive und intime Kommunikationssituation einzubeziehen, durch ein »aber – im Vertrauen gesagt –«. Auf Blumenbachs Vorwurf, es mangle ihm in dieser Angelegenheit an Humanität, reagiert er mit einer Fußnote: So geht es den Antiquaren. Mein Eifer war nicht ohne Beispiel und wir können sagen: exemplo peccavimus. Denn alle Androgynen wurden nach dem Hetrurischen Ritual bei den Römern ins Meer geworfen. Beim Julius Obsequens kommt dieser Fall allein neunmal vor. S. S ch ef fer in den Anmerkungen p. 93. und Dav i s zu Cicero de Divinat. I, 43. Schon Gaspar B auhin in seinem gelehrten Werk de Hermaphroditis I, 37. sammelte alles Hiehergehörige.309

Böttiger räumt ein, mit seinem »Eifer« dem Beispiel der Römer gefolgt zu sein und gesündigt zu haben. Er entschuldigt sich mit einem fatalistischen »So geht es den Antiquaren«, als müssten die Altertumsforscher ihr eigenes aus der Zeit, in der sie zufällig lebten, stammendes Urteil aufgeben und sich die Urteile derer, die sie zu verstehen trachten, zu Eigen machen, da sie sie ja sonst nicht verstehen könnten. Er suggeriert, dass auch Scheffer, Davies, Bauhin u. a. die Urteile der von ihnen kommen306 307 308 309

Eros (wie Anm. 282), Bd. 2, S. 265. Böttiger: Ueber die Hermaphroditen-Fabel (wie Anm. 17), S. 355. Blumenbach an Böttiger, Göttingen, 12. Mai 1821 (wie Anm. 18). Böttiger: Vorbericht (wie Anm. 233), hier S. XVIIf., Anm. **).

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tierten antiken Autoren zu ihren eigenen gemacht hätten. Die menschliche Dimension, die Blumenbach anspricht, scheint ihn nicht zu interessieren, ihm liegen die historischen Fakten am Herzen. Oder ist es gerade diese Dimension, die er hervorhebt, indem er sein eigenes Sündigen zu einem Exempel für das »exemplo peccavimus« erhebt? Oder interessiert ihn nichts als die Herumplänkelei mit dem Leser? Die Ironie in Böttigers Texten bringt den Leser um ein vis à vis und wirft ihn auf sich selbst zurück. Gleichzeitig liefern diese Texte dem Leser eine Fülle von Stoff zum Nachdenken. * Böttigers Schwanken zwischen einem Relativismus, der sich in alle historischen Erfahrungsformen hineindenken und aus ihrer Fremdartigkeit Genuss ziehen kann, und einer protestantischen Moral, welche die Sinnlichkeit als ein durch die Vernunft zu überwindendes angeborenes Verderben ansieht, führt zu einer komplexen Konfiguration von Wahrheitsspielen, die in Abhängigkeit von der Kommunikationssituation wirksam werden. Damit diese jeux de vérité gespielt werden können, muss es eine Gemeinschaft geben, die sich darüber einig ist, in welchem Rahmen eine bestimmte Aussage gültig und in welchem sie ungültig ist. So notiert Böttiger ein Gespräch über August Wilhelm Iffland am 27. November 1796 im Hause Herder, an dem sich außer ihm Johann Gottlieb und Maria Karolina Herder, Emilie Dorothea Friedrike von Berlepsch, Heinrich Julius Alexander von Kalb auf Kalbsrieth und Christoph Martin Wieland beteiligten: Ifflands zweideutiger Ruf. Frau v. Berlepsch erzählt, daß als er vor 12 Jahren zum ersten mal nach Hannover in seine Vaterstadt zurückkam, er plötzlich binnen 4 Stunden die Stadt verlassen mußte. Seinen redlichen Vater machte man glaubend, er habe schnell nach Manheim zurückkehren müssen, aber seinem Bruder sagte man die wahre Ursache. Er hatte seine Augen auf einen schönen, jungen Soldaten geworfen, u. dieß hatten die Offiziere erfahren.310

Die Erzählung enthält Details (Ort, Zeit, beteiligte Personen), welche sie in der Realität verankern. Sie unterscheidet Wahres («wahre Ursache«) von Falschem («machte man glaubend«). Der Titel »Ifflands zweideutiger Ruf«, den ihr Böttiger vorangestellt hat, deutet jedoch darauf hin, dass die Erzählung ebenso wahr wie falsch sein kann. Schließlich wird ihr Wahrheitsgehalt bewertet: Morgen will uns die Fr[au] v. B[erlepsch] sein neuestes und schönstes Stück den Ha u sf r i e den bei der verwitweten Herzogin vorlesen. Sie hält alles für Verleumdung, wie billig.311

Emilie von Berlepsch bewertet ihre Erzählung als unwahr. Ihre Bewertung erhält von Böttiger und möglicherweise auch von Anderen Zustimmung. Die Unwahrheit der 310 Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen (wie Anm. 133), S. 113. 311 Ebenda.

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Geschichte hat jedoch nicht verhindert, dass sie mitgeteilt wurde. Vielmehr wird, gleich nachdem man sich über die Unwahrheit der Geschichte geeinigt hat, eine zweite erzählt, die neue Indizien für die Wahrscheinlichkeit jener ersten liefert: Ist Iffland wirklich in Berlin bestohlen worden? Dann ist es sicher sein eigener Bedienter, über welchem man sich in Manheim mit allerlei Geschwätz trägt. –312

Über Gotter, dessen »Epicurismus«, dessen »Geselschaft selbst unter dem niedrigsten im Volke, in den Dorfschenken u. s. w.« und dessen »oft zu streng beurtheilte Lebensart« er nicht zu erwähnen vergisst, notiert Böttiger: S ch a t z war damals Vorleser in diesem [Studnitzschen] Hause, und bey dieser Gelegenheit entsponn sich eine Vertraulichkeit zwischen beiden, die so gar dem übelgesinnten Publikum Stoff zu allerley nachtheiligen Gerüchten von Liebhabereien im Italienischen Geschmack gab. Allein nichts ist durch Thatsachen bewiesen.313

Das in beiden Fällen angesprochene Thema, die »Liebhabereien im Italienischen Geschmack«, wird beinahe ausschließlich in der privaten schriftlichen, aber vor allem mündlichen Kommunikation behandelt, die Aussagen darüber werden als ›Verleumdung‹, ›Geschwätz‹ oder ›Gerüchte‹ bewertet. Zu einer öffentlichen Behandlung des Themas kam es, als preußische Patrioten Johannes von Müller zu diffamieren suchten, der 1807 aus preußischen Diensten in die des Königs Jérôme von Westphalen getreten war. Als sich Böttiger nach 1809 zu einer öffentlichen Verteidigung seines verstorbenen Freundes anschickte, konsultierte er zunächst Christian Gottlob Heyne und legte diesem gegenüber seine Gedanken dar: Mein Schmerz über Johannes Müllers Tod – ein Bliz aus heitern Himmel – war grenzenlos. Denn ich bin wirklich so stolz zu glauben, daß ich zu denjenigen gehöre, die n i e irre an ihn wurden. Selbst seine größte Verirrung in dem, was Stratos Muse besingt, werde ich zwar nie rechtfertigen, kann sie mir aber als aus seinem ächt antiken Schönheitsenthusiasmus und glühenden Freundschaftsgefühl so erklären, daß mir der Mann dadurch weder anstößig, noch räthselhaft wird. Ich habe selbst einmal in Weimar einen ganzen Abend über die paidiká mit ihm gesprochen. Er enthüllte mir sein innigstes Gefühl darüber. Ich konnte nicht beipflichten, aber ihn auch nicht verdammen. Freilich vergriff er sich denn zuweilen furchtbar in den Subjecten. Das bracht ihn in Wien um 10000 F[lorin] und bracht ihn auch aus Wien! / Ich möcht gerade mit Ihnen darüber ein vertrautes Wort sprechen, mein ehrwürdiger, väterlicher Freund! Ich bin eine ächt hyperboreische Natur kan natürlich die Sache für mich selbst nicht ohn Ekel denken. Aber wer von Jugend auf unter den Alten lebte, wer sah und bemerkte, was ich schon in Schul Pforte als reifender Knabe von meinem Martial u. Juvenal in der Hand wußte und beobachtete, der hat sich wenigstens in jene andere Form hinein denken gelernt.314

312 Ebenda. 313 Ebenda, S. 314. 314 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Dresden, 20. Juni 1809, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 87), Nr. 240, Z. 2–20.

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Juno die Schwanzsaugerin

Böttiger kann sich in die ihm fremde Erfahrungsform hineindenken. Böttiger denkt Müllers Liebesleben nicht vom Naturtrieb her, sondern ausgehend von dessen durch die Beschäftigung mit der Antike geprägter Vorstellungswelt, in welcher die Vorstellungen von Schönheit, Enthusiasmus, Freundschaft zentral sind. An diese Vorstellungen schließen sich entsprechende Körperhandlungen, die er mit dem Ausdruck paidiká umschreibt, in einer Weise an, dass Müller Böttiger nicht anstößig wird. Die paidiká bilden ihm nicht dasjenige Zentrum, von welchem aus Müllers ganze Persönlichkeit zu erklären wäre, sondern sie lassen sich für ihn vielmehr als etwas Nachgeordnetes aus Müllers Schönheitsenthusiasmus und Freundschaftsgefühl ableiten. Heyne legt in seiner Antwort dar, dass eine bestimmte Form, den Naturtrieb physisch zu befriedigen, in Abhängigkeit von dem variablen und relativen (individuell, national, klimatisch, politisch und religiös determinierten) Moralischen mit jeweils anderen Bewertungen, Gefühlen und sozialen Praktiken verbunden wird: Daß Sie aber mit ihm gesprochen, und vertraut gesprochen hatten, wußte ich nicht, und so war es mir lieb von Ihnen eine Äusserung über eine Verirrung zulesen, von welcher ich sonst zusprechen mich nie verleiten lassen. Mich hat dieser Flecken so wenig irre gemacht als Sie: wer im Geist der Alten Welt denkt, kan nicht hochwunder schreyen. Bey der Moralität ist gar vieles zu unterscheiden. Rein moralisches in der Idee lasse man für sich stehen. Aber Menschenmoralisches enthält gar vieles, was Individuell, National, Climatisch, ist, was sich aus Politischen u. Religiösen, bildet, also bald Entschuldigung bald äusserste Verdorbenheit mit sich führt u eine Abomination auf sich selbst erwirkt: so in unserem, Clima, Verfassung s. w. Wird die Sache blos physisch betrachtet, in Beziehung auf den Genuß, ohne einträchtigung irgend einer socialen Verbindung und Verbindlichkeit: fällt das Urtheil ganz anders aus. Wo gar Gesetzliches Verbot wegfällt, wie in Griechenland, wo so gar öffentliche Meinung es begünstiget, so kömmt nur in Betrachtung die Einwilligung von beyden Theilen den Naturtrieb zu befriedigen. Soweit war man in Theben u. a. freygesprochen; und es konnte so gar ein Mittel zu hoher Gesinnung werden. Freylich leitet dieses nur unsre Ur t h ei l e über jene Menschen Zeiten u. Sitten. nicht aber entschuldiget es unsre Zeit; wo die Geschlechter nicht mehr so getrennt sind als ehemals. / Genies mit glühender Phantasie und reitzbaren Gefühlen sind zu allem sinnlichen Genuß geneigter, und so verzeihe ich es Müllern so gut, als Julius Cäsar ein großer Mann ward u. blieb, ob er gleich Nicomedes Ganymed gewesen war. Und so ist es bey mir von über allem dem abgethan, Salvis aliorum sententiis. Nur bedaure ich es, daß dieser Fleck an Mullern gewaltig in die öffentliche Meinung, Achtung und Wirksamkeit eingriff; er würde zwar immer in seiner Lage viel ausgerichtet haben, aber als integer vitae hätte er manches entfernt, was man sich gegen ihn erlaubte.315

Diesem Urteil Heynes stimmte Böttiger zu: »Wie wahr und groß urtheilen Sie über die traurige Verirrung unsers verewigten M[üller].«316 Böttigers Diskussion mit Heyne diente der Vorbereitung einer öffentlichen Stellungnahme zu dem Problem315 Christian Gottlob Heyne an Karl August Böttiger, Göttingen, 29. Juni 1809, ebenda, Nr. 242, Z. 4–33. 316 Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Dresden, 3. September 1809, ebenda, Nr. 347, Z. 17–19.

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Abb. 45 »ob er gleich Nicomedes Ganymed gewesen« (Heyne) Mundschenk des Bacchus, Marmor

Abb. 46 »antike, ächtsokratische Seelenund Schönheitsliebe« (Allgemeine Zeitung) Torso des Apollon, Marmor

feld, denn Müller war, nachdem er 1807 aus preußischen Diensten in die des Königs Jérôme von Westphalen getreten war, »in Berlin, wo die falschen, ungehirnten Patrioten, die ihren eigennützigen Sinn mit wütiger Vaterlandsliebe beschönigen wollten, sich grimmig freuten, an ihm ein Opfer zu finden«, wie es Karl Ludwig von Woltmann ausdrücken sollte,317 heftig attackiert worden. Für die meisten Menschen galt, laut Woltmann: Da sie sein Hinneigen zum männlichen, seine Entfernung vom weiblichen Geschlecht sahn, war bei ihnen ausgemacht, daß Er selbst in ein Laster versunken sei, welches die Zeiten des Christenthums in den Bann mit Abscheu gethan haben.318

Böttiger wusste von seinem vertrauten Freund Müller selbst, dass die Anschuldigungen gegen diesen gegründet waren. An Heyne schreibt er über die bereits in dem oben zitierten Brief erwähnte Fritz-von-Hartenberg-Affaire:

317 Karl Ludwig von Woltmann: Johann von Müller, Berlin 1810, S. 51. 318 Ebenda, S. 50.

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Juno die Schwanzsaugerin Seine großen Schulden fließen größtentheils aus dieser unreinen Quelle. Der Bub, der ihn zuletzt in Wien um 8 000 F[lorin] betrog, war sein Ganymed geweßen. Ich hab durch einen sonderbaren Zufall dessen eigenhändige Geständnisse in den Händen, die er im Gefängniß niederschrieb. Aber wie wenig hatte dieß alles auf die wahrhaft edle, klassische Denk- und Handlungsart des Einzigen Einfluß.319

In seiner öffentlichen Äußerung liefert Böttiger ein vollkommen anderes Bild der Dinge. Aus Böttigers Brief an Heyne geht hervor, dass er Müller als heterogene Persönlichkeit begreift: Müllers »Verirrung« habe auf dessen edle Denk- und Handlungsart kaum Einfluss gehabt. In seiner öffentlichen Stellungnahme stellt Böttiger Müller gemäß dem Schiller’schen Ideal als Individuum aus einem Guss und Repräsentanten der ganzen Menschheit dar: Gerade »Enthusiasmus«, »antike, ächtsokratische Seelen- und Schönheitsliebe« und »Freundschaftsgluth« hätten die Grundlage des Müllerschen Werks gebildet. Die sich im Sichvergreifen in den Subjekten äußernde »Verirrung« der Denk- und Handlungsart schneidet Böttiger von derselben ab. Entschieden leugnet er das ihm aus mündlichen und schriftlichen Quellen bekannte Faktum, dass Fritz von Hartenberg Müllers »Ganymed geweßen« war und dass es das, was er im Brief an Heyne eine »unreine Quelle« nennt, das »Unheiligste, was die Zunge nicht nennt,« durchaus gegeben hatte: Und wer erzählt uns nun, wie gut und offen und hingegeben allem, was die Menschheit adelt, wie durchdrungen und geläutert vom reinsten Enthusiasmus für alles Grose, Edle, Menschenwürdige, welcher Aufopferungen für Freundschaft im alten grosen, klassischen Sinn er fähig war. Seine antike, ächtsokratische Seelen- und Schönheitsliebe müsse selbst in ihrem Uebermaaße und in Verirrungen, über die nur ein höherer Richter richtet, nicht mit dem Unheiligsten, was die Zunge nicht nennt, auch nur leise zusammengedacht werden. Wenn er seinem Bonstetten in einem seiner elegischen Briefe zuruft: »schreibe mir, ich bitte dich sehr, du bist meines Lebens Rose und Balsam«, welcher Satan mag dis anklagend vergiften! Gerade diese, alle Elemente seines Seyns durchdringende, Freundschaftsgluth, wie sie ausser ihm vielleicht nur noch an Winkelmann bemerkt wird, hauchte auch seiner Sprache in Wort und Schrift die wahre Originalität ein, die jedem Nachahmer unerreichbar bleibt, gab ihm den Sinn für antike Heldengröse und den flammenden Eifer für Wiederbelebung alter Tugenden und Gesinnungen, machte zum Hauptziel seiner Geschichtsschreibung und ganzen Lebenstendenz bis zum Scheidepunkt von 1806. das, was er selbst am Schluß des ersten Buchs seiner Schweizergeschichte in der ältesten Ausgabe (S. 444) so ausdrükt: E r haltung der Freiheit in angestammten Verfassungen durch Wiederer wekung der älter n Militär tugend. Wer sich nicht in das geistigste Verhältniß der thebanischen heiligen Schaar, nicht in die Seele des Sokrates, als er in Alcibiades nur den verkörperten Götterfunken liebte und pflegte, Hellenen mit den Hellenen, hineindenken kan, der wage sich nicht an eine Beurtheilung des ehrwürdigen Johannes aus Schafhausen, der lästere mit dem Pasquillanten in der Gallerie preussischer Karaktere, und buchstabire sich die dort selbst noch unterdrükten Verläumdungen heraus. Er trug die Menschheit in seiner Brust. Sollte er nicht den erlesenen Jüngling, der ihm das kommende Geschlecht repräsentirte, mit Bruderliebe an seine Brust drüken. Zwar war er 319 Böttiger an Heyne, Dresden, 3. September 1809 (wie Anm. 316), Z. 24–30.

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René Sternke nie verheirathet, hatte nie Söhne. Aber er ehrte die Frauen mit dem innigsten Zartgefühl, und versicherte oft, nur Umgang mit ihnen bewahre vor Einseitigkeit und Pedanterie, und jedem Jüngling, der sich auch aus weiter Ferne an ihn schloß, wurde er im schönsten Sinn Vater und Pfleger.320

Wider besseres Wissen hatte Böttiger die von Müller ausgeübten Körperhandlungen des ›amour antiphysique‹ geleugnet und Müllers Liebe zu jungen Männern als reine Seelenliebe dargestellt. In dieser sublimierten Form konnte sie Böttiger sogar als Hauptziel im Leben und Werk des berühmten Historikers feiern. Der Historiker Karl Ludwig von Woltmann sollte an Böttiger anknüpfen. In seiner Biographie des verstorbenen Kollegen und Konkurrenten wollte er »eine Person so darstellen, daß an ihr das Zeichen Gottes geschaut wird, wodurch sie ein Individuum ward«,321 denn: Jedes Individuum unterscheidet sich von allen übrigen nicht nur durch zufällige Verschiedenheiten, sondern durch eine ursprüngliche, ihm nothwendige Naturanlage, und durch die Wechselwirkung, in welcher dieselbe mit der übrigen äußern und innern Welt gestanden und steht.322

Diese Naturanlage findet Woltmann in Müllers »Hinneigen zu seinem eigenen Geschlecht«. Obgleich auch Woltmann bestreitet, dass Müller »in ein Laster versunken sei, welches die Zeiten des Christenthums in den Bann mit Abscheu gethan haben«, genügt ihm der Befund der besonderen »Empfindungsweise«, um Müller als Menschen zu demontieren: Jenes Hinneigen zu seinem eigenen Geschlecht war ein Hauptzug in seiner Empfindungsweise, welcher durch sein reiches Gemüth und sein ursprüngliches Wohlwollen, eine überwiegende Macht auf sein Leben an sich gerissen. Was unstätes, sich selbst nicht getreues, kam so in seine Tage: man sah ihn bisweilen Eindrücken und Verbindungen hingegeben, die sehr befremdeten. Seine Rede war männlich stark, und seine Denkart, seine Maxime hatte etwas Großes, und von männlichem Muth zeugten seine Anstrengung und Beharrlichkeit in Erforschung und Beschreibung der vaterländischen Historie. Dennoch mußte man sich gestehn, daß Er kein Mann sei.323

Müllers Empfindungsweise bot Woltmann nicht nur die Grundlage, um ihn als Menschen, sondern auch als Historiker, nicht nur sein Leben, sondern auch sein Werk zu vernichten, denn mit der Frauenliebe habe Müller der Schlüssel zu den Geheimnissen der Weltgeschichte gefehlt.324 Woltmann habe den Manen des Ver-

320 [Karl August Böttiger:] Johannes v. Müller, in: Allgemeine Zeitung, München 1809, Beilage zu Nr. 21, S. 81–84, hier S. 83. 321 Woltmann: Johann von Müller (wie Anm. 317), S. 232. 322 Ebenda, S. 230f. 323 Ebenda, S. 45f. 324 »Wenden wir uns von diesen wieder zu dem Standpunkt der Männerfreundschaft, auf welchem wir Müllern sahn: so bleibt es nicht nur ein wehmütiges Gefühl, daß der Trefliche ohne das Bild einer Geliebten, ohne die Erinnerung holder Frauenliebe zu den Schatten hinabstieg;

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ewigten gelästert, schrieb Böttiger an Heyne.325 »Woltmanns Scriptum wird der gerechten Censur nicht entgehn«, rief er aus: »Welch ein bübischer Dünkel!«326 Böttigers Konstruktion eines im Geiste der Antike denkenden und empfindenden Menschen hatte nur die diskriminierende Konstruktion eines spezifischen, bereits aufgrund seiner Empfindungsweise diskreditierten Individuums vorbereitet. Der Vergleich der privaten Äußerungen Böttigers und Heynes mit dem Zeitschriftenaufsatz des ersteren zeigt, dass Böttiger in der für die Öffentlichkeit bestimmten Version nicht nur Müllers Handlungen, sondern auch die der Alten verzerrt dargestellt hatte. Während Heyne im Privatbrief erläutert, in Theben habe eine bestimmte Art der Befriedigung des Naturtriebes ein Mittel hoher Gesinnung werden können, stellt Böttiger im Zeitungsartikel nur »das geistigste Verhältniß der thebanischen heiligen Schaar« ins Licht und lässt das Übrige im Dunkeln verschwinden. Hatte Böttiger in seinem anonymen Artikel diese Retusche an der Wahrheit vorgenommen, weil Müllers Gedächtnis ansonsten unrettbar gewesen wäre? Heyne gegenüber nennt Böttiger einen anderen Grund. Anders als Müller, der laut Woltmann »in seiner Schweizerhistorie einen fast neugierigen Drang« gezeigt habe, »an sonst ausgezeichneten Männern zu bemerken, daß man sie solcher Entartung beschuldigt habe«,327 trug Böttiger Bedenken, mit dem Beispiel des berühmten Historikers ein Modell für ein gegen die geltende sittliche Norm verstoßendes Verhalten aufzustellen: Vielleicht lesen Sie, was ich in einer Beilage zur Al[gemeinen] Z[eitung] auch über diesen Pferdefuß eines Engels, wie es Wieland einmal nannte, zu sagen gleich nach seinem Tode im ersten Affect mich gedrungen fühlte. Jetzt reut es mich, diese Sache auch nur berührt zu haben. Damals glaubt ichs um der elenden Mistkäfer willen, die hier eine Beschönigung finden, thun zu müssen.328

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sondern man bedauert in ihm auch den Historiker, der die Wissenschaft, welche die Seele seines Lebens war, von einer Hauptseite her nicht gekannt haben wird. Die Art, die unerschöpflichen Mittel, wie das weibliche Geschlecht durch der Männer Herz in die Weltgeschichte eingreift, bleiben dem ein Räthsel, wer von der Frauenliebe nicht den Schlüssel zu diesen Geheimnissen erhielt.« – »[…] vor dem Historiker, dem die Frauenliebe entstand, fällt die Hälfte der Menschheit und der menschlichen Geschichte wie ein Traumgesicht hinweg; in seiner eigenen Natur fehlt ihm der Schlüssel zur Entzifferung der Berichte und Sagen darüber; und keine Gewalt, keine Gottheit kann dem Mann den Schlüssel geben, als einzig die Liebe der Frauen, die er liebt.« Ebenda, S. 55f. und 57. Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Dresden, 20. Dezember 1809, in: Böttiger: Briefwechsel mit Heyne (wie Anm. 87), Nr. 253, Z. 41f. Karl August Böttiger an Christian Gottlob Heyne, Dresden, 7. Februar 1810, ebenda, Nr. 256, Z. 28f. Woltmann: Johann von Müller (wie Anm. 317), S. 50. Böttiger an Heyne, Dresden, 3. September 1809 (wie Anm. 316), Z. 19–24.

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Böttiger war in der Verteidigung des Liebeslebens seines Freundes Müller weiter gegangen als Andere,329 am Ende aber reute es ihn, die Sache auch nur berührt zu haben. In seinen erotisch-antiquarischen Aufzeichnungen geht Böttiger selbst auf die – in der Formulierung »was die Zunge nicht nennt« alludierte – technische Seite hierher gehöriger Körperhandlungen ein (Bl. 21r): Bekannt ist aus Juvenals Sat. II, 93. v it re o bibit ille Pr i a p o, in der Schilderung eines wei bi s ch en Pathicus aus der Sippschaft der die Geheimnisse der Bona Dea, der Cybele, feiernden Gallenpfaffen. Denn eigentlich war es ein wollüstiger Sinnenreiz für die Weiber und die zu Weibern in der Knabenliebe entarteten Männer. Die Griechen hatten ein eignes Wort für diese fingirte muzouría.

* Um die Handlungen, Praktiken und Techniken, die wir heute mit ›sexuell‹ bezeichnen würden, in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, spricht Böttiger von »Befriedigung des Geschlechtstriebes«, »Begattung«, »Beischlaf« und »Liebe« und »Liebesspielen«. Er unterscheidet die »natürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes« durch den »gewöhnlichen«, »wirklichen« oder »ordentlichen Beischlaf« von der »unnatürlichen Befriedigung des Geschlechtstriebes« durch den »unnatürlichen und schändlichen Beischlaf«. Den ordentlichen Beischlaf sieht er in der Realisierung eines normierten Schemas durch ein gemischtgeschlechtliches Menschenpaar. Daneben kennt er aber eine große Anzahl von »Thier- und Menschenbegattungen«, die er alle mehr oder weniger missbilligt. Die »Knabenliebe« wird als »Entartung« angesehen, das »Mastrupiren« für »unerlaubt« erklärt, während das Vorgehen der Frauen, die sich »einen künstlich zugerichteten Phallus in die Geburtstheile steckten«, durch den Hinweis darauf, dass dies »in Ermangelung des wirklichen Beischlafs« geschah, zumindest verständlich gemacht wird. Alle Arten, den Partner »auf eine mehr als zärtliche Weise zu liebkosen«, werden als unnatürlich angesehen, nicht allein diejenigen, bei denen der Mann zum »Cunnilingos« wird oder die Frau »von hinten bedient« oder diese sich zum »Schwanzsaugen« anschickt, sondern auch die übrigen »Modi«, »Schemata«, »Stellungen«, »Gruppirungen«, »Symplegmen«, »phallischen

329 Vgl. die Darstellung der Diskussion in: Paul Derks: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750–1850, Berlin 1990, insbesondere S. 362f. – Böttiger ist dort als Autor der Beiträge in der Allgemeinen Zeitung und im Morgenblatt nicht identifiziert. – Wenn Derks annimmt, dass vor der Hetzjagd auf Müller in den Jahren 1807 bis 1809 eine der Emanzipation der Juden ähnliche Emanzipation der Homosexuellen möglich gewesen wäre (vgl. ebenda, S. 520), bedenkt er nicht, dass der Typus des »Homosexuellen« im Laufe des 19. Jahrhunderts erst allmählich konstruiert wird. Um 1800 war innerhalb einer öffentlich kaum in Frage gestellten christlichen Kultur nur die Vorstellung vom »amour antiphysique« als Laster und Sünde verfügbar; die Vorstellung von einem durch seine Naturanlage zu spezifischen Empfindungs- und Verhaltensweisen determinierten Individuum war erst im Entstehen.

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Abb. 47 »die das Mastrupiren für sehr erlaubt hielten« (Bl. 24r) – Silen und Satyr, Marmor

Abb. 48 »Mille modi Veneris« (Ovid) (Bl. 3r) – Bildlampe, Ton

Bacchanale«, »wollüstigen Kämpfe« oder »wollustigen Gruppen«, von welchen Böttiger zwei Formen des »Reitens«, diejenige, bei der das Mädchen »den rückwärtliegenden Gaul besteigt«, und diejenige, bei der »das reitende Mädchen dem Liebhaber zugekehrt war«, Schema III und IV, besonders eingehend erörtert. Böttigers Wissbegierde gilt aber nicht allein den Körperhandlungen in ihrer Äußerlichkeit, sondern auch den Gemütszuständen der historischen Akteure, ihrer »Geilheit«, »Wollust« und »Scherzhaftigkeit«, ihrer »entzündeten Fantasie« und ihrer »aristophanisch-paragischen Leichtfertigkeit«, dem »wollüstigen Sinnenreiz« und der »mächtigen Aufregung«, die sie empfinden, aber auch ihrem »frommen Unwillen« und ihrem »heiligen Eifer«. Nicht weniger interessiert sich Böttiger für den gesellschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen die von der von ihm recht eng gefassten Norm abweichenden Handlungen ermöglicht wurden, Bordelle, Harems, religiöse Feierlichkeiten und religiöse Sekten. Die Liebe, der Böttiger seinen Forschungseifer widmet, ist medialisiert. Da ist die Pantherhaut, um während des Bacchanals auszuruhen. Da sind die Kastagnette, die geschlagen wird, die Doppelflöte und die Fußklapper, die während des Bacchanals erklingen. Da sind das Weinlaub, die Trauben und die Granatäpfel und die Früchte, die dem Pan geweiht werden, die Wollust atmenden Epigramme, die Aretinischen Sonnette und die Romane Beccadellis und 325

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Abb. 49 »Da der Phallus eine so bedeutende Rolle im u. auser den Mysterien spielte« (Bl. 21r) – Einsatzphallos, Ton

Choriers, die künstlich zugerichteten, bisweilen zehn Finger langen Olisboi aus Leder, mit denen sich die Buhlerinnen manipulieren, die aus Holz und Wachs gebildeten Phalloi, die die Sinne der Weiber und Männer aufreizten, die aus Mehl gebackenen, die die Frauen verzehrten, die aus Ton geformten, aus denen sie tranken, die künstlichen Nachbildungen des weiblichen Geschlechts, aus denen die Symposiasten schlürften oder die sie verspeisten, die üppigen und wollüstigen Gemälde auf den Vasen und an den Wänden der Bordelle und Kirchen, an denen sich die Fantasie der Betrachter entzündete. * Das Konzept der ›Pornographie‹ entsteht fast zeitgleich mit dem Konzept der ›Sexualität‹. Beide Konzepte ergänzen einander insofern, als dass diejenigen Handlungen, die mit der Sexualität in einem kontingenten Zusammenhang stehen, aber nicht auf die Erhaltung der Gattung zielen, insbesondere diejenigen auf Lustgewinn abzielenden Körperhandlungen, bei denen Medien eingesetzt werden, in den als Auffangbecken fungierenden Bereich der ›Pornographie‹ abgeschoben werden können. Pornographie ist gewissermaßen medialisierte Sexualität. Das Konzept der ›Pornographie‹ entsteht jedoch unabhängig von dem der ›Sexualität‹. Während letzteres aus dem physiologischen und naturgeschichtlichen Diskurs in den kulturhistorischen übertragen wird, entsteht ersteres im Rahmen des sich herausbildenden archäologischen Diskurses und somit gleichzeitig mit der Archäologie. Dieses neue Konzept stellte eine Lösung für dasjenige Problem dar, an welchem Böttiger, wie wir vermuten, mit seinen erotisch-antiquarischen Studien gescheitert ist. * In ihrer Einführung zu The Invention of Pornography aus dem Jahre 1993 behauptet Lynn Hunt, in Etienne-Gabriel Peignots 1806 in Paris erschienenem Dictionnaire critique, littéraire et bibliographique des principaux livres condamnés au feu, supprimés et censurés den frühesten modernen Gebrauch des Terminus ›Pornographie‹ gefun326

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den zu haben.330 Doch gebraucht Peignot das Wort ›Pornographie‹ überhaupt nicht, sondern nur das Adjektiv ›pornographique‹. Dieses benutzt er allerdings bereits in seinem Dictionnaire raisonné de bibliologie aus dem Jahre 1804 in seinem Artikel über den von 1730 bis 1791 lebenden Bibliographen Abbé Jean-Joseph Rive, von welchem folgendes Manuskript überliefert sei: »Bibliothèque de livres sotadiques ou pornographiques, manuscrits ou imprimés, en toutes sortes de langues, mais sans analyse.«331 In dem von Hunt erwähnten Werk aus dem Jahre 1806 teilt er die von der Zensur unterdrückten Bücher in drei Klassen ein: I. Livres de religion, II. Livres de morale, III. Livres de politique.332 Die Bücher der zweiten Klasse charakterisiert er dadurch, dass sie die Sitten verletzten, die Tugend verleumdeten und die Laster anpriesen.333 Er unterteilt diese Klasse in drei Gruppen: 1. Bücher, die, ohne Obszönitäten darzubieten, von abseitigen und gefährlichen Meinungen in Hinsicht auf Tugenden, Laster, Sitten, Erziehung und Lebensführung durchsät sind, wozu Rousseaus Émile unter den Beispielen aufgeführt wird, 2. unmoralische Bücher in Prosa, die man »sotadiques« oder »pornographiques« nenne, 3. Bücher desselben Genres in Versen. Unter den Beispielen für die pornographischen Bücher nennt Peignot u. a. Choriers Satyra sotadica.334 Peignot nennt diese Bücher auch licencieux, gleichermaßen abstoßend durch Form und Inhalt,335 Kloaken der Literatur, Pesthauch atmende lizienziöse Monstrositäten,336 obszön, libertin und skandalös.337 Inwiefern präsentiert Peignot hier tatsächlich, wie Lynn Hunt behauptet, mit dem Terminus ›pornographique‹ das moderne Konzept der ›Pornographie‹? Neu ist Peignots strikte Trennung von »Livres de morale« und »Livres de religion«, da die aggressiven antiklerikalen Romane der französischen Aufklärung wie d’Argens’ Thérèse philosophe oder Diderots Religieuse 338 ja auch in der Kategorie »Livres de religion« hätten figurieren können. Mit seiner Charakteristik der spezifischen Wir330 Lynn Hunt: Introduction: Obscenity and the Origins of Modernity, 1500–1800, in: Dies. (Hg.): The Invention of Pornography. Obscenity and the Origins of Modernity, 1500–1800, New York 1993, S. 9–45, hier S. 14. 331 Etienne-Gabriel Peignot: Dictionnaire raisonné de bibliologie, Paris 1804, S. 288. 332 Etienne-Gabriel Peignot: Dictionnaire critique, littéraire et bibliographique des principaux livres condamnés au feu, supprimés et censurés, Paris 1806, Discours préliminaire (mit eigener Paginierung), S. x. 333 »[…] d’autres ont blessé les mœurs, calomnié la vertu, préconisé les vices […].« Ebenda, S. xix. 334 Ebenda, S. xij. 335 »En fait d’immoralité, je pourrais présenter un grand nombre de romans licencieux, aussi répugnans par la forme que par le fonds.« Ebenda, S. xxiv. 336 »Mais ne pénétrons pas plus avant dans les égoûts de la littérature, et laissons-y croupir ces monstruosités licencieuses, auxquelles on ne peut toucher sans qu’il s’en exhale des miasmes pestilentiels.« Ebenda, S. xxv. 337 Ebenda, S. xxviij. 338 Vgl. ebenda, S. xij.

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kungsweise der pornographischen Bücher greift Peignot daneben, da diese Schriften, wenn sie sich tatsächlich durch den Widerwillen, den sie erregten, selbst diskreditierten, nicht hätten verboten werden müssen. Inhaltlich führt Peignot den Neologismus auf die überkommenen Kategorien ›obscène‹, ›sotadique‹, ›libertin‹ und ›licencieux‹ zurück. Durch diese Rückführung des neuen Konzeptes ›pornographique‹ – der Erfassung des moralisch, aber nicht unbedingt religiös Anstößigen in einer besonderen Kategorie – auf das alte Konzept der ›Obszönität‹ wird die Grenze zwischen dem Neuen und dem Alten verwischt. Lynn Hunt bestimmt ›Pornographie‹ als eine spezifische »category of thinking, representation and regulation«.339 Diesen diskursanalytischen Denkansatz gibt sie in The Invention of Pornography schon im Untertitel und Titel der Einführung, Obscenity and the Origins of Modernity, auf, indem sie die Erfindung des modernen Konzepts der ›Pornographie‹ nicht als epistemologischen Bruch, sondern als fortgesetzten Gebrauch der frühneuzeitlichen Kategorie der ›Obszönität‹ deutet, deren Bedeutungsumfang und historische Singularität sie nicht bestimmt. Seitdem hat sich Joan DeJean aufzuzeigen bemüht, dass die Kategorie der ›literarischen Obszönität‹ in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frankreich im Zusammenhang mit der Einführung von Polizei und säkularer Zensur neuerfunden worden sei.340 Die Mehrzahl der Beiträger zu Hunts Band setzt hingegen noch ›Obszönität‹ und ›Pornographie‹ gleich, so dass die Pornographie in jenem Buch am Ende doch nicht als moderne Denk-, Repräsentations- und Regulierungskategorie, sondern als ein in der frühen Neuzeit beobachtbares (und im Grunde transhistorisches) Phänomen begriffen wird. Hunt bestimmt das Konzept der ›Pornographie‹ ausgehend von Peignots Verzeichnis verb otener Bücher und DeJean meint, dass es sich bei der ›literarischen Obszönität‹ um ein Phänomen der »sexual transgressiveness« handle,341 daran wird sichtbar, dass 339 Hunt: Introduction (wie Anm. 330), S. 11. 340 »We have thus come full circle to the two other words that were taking on new meanings at the time of obscen i t y ’s reinvention: news and p olice. […] In France, literary obscenity and civil censorship thus came of age together. Between the moment near 1620 to which both can trace the origin of their modern form and the early 1660s, when they truly came into their own, the friction between the two institutions caused literary obscenity to be reinvented as a legal problem.« Joan DeJean: The reinvention of obscenity. Sex, lies, and tabloids in Early Modern France, Chicago, London 2002, S. 21 und 23. 341 DeJeans Argumentation liegt die essentialistische Vorstellung von einem – gewiss von Georges Bataille inspirierten – a- oder transhistorischen Konzept von »sexual transgressiveness« zugrunde, wobei DeJean nicht bedenkt, dass das moderne Konzept der ›Sexualität‹ in dem untersuchten historischen Zeitraum noch nicht existiert und es sich bei den jeweiligen Transgressionen nicht um Verletzungen autonomer »sexual taboos«, sondern um Verletzungen von Gesetzen, religiösen Normen, sittlichen Normen, Traditionen, sprachlichen Normen, um literarische Lizenzen usw. handelt. Vgl. z. B. S. 7: »The greatest mystery in obscenity’s complex history is that of the centuries-long disappearance of words used to designate the concept of sexually transgressive material, both in Rome et from the seventeenth century till to today.«

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beide Autorinnen diese Kategorien – im impliziten, aber oberflächlichen Bezug auf Georges Bataille342 – ausgehend von Verbot und Transgression und somit – trotz des expliziten, aber ebenso oberflächlichen Bezugs auf Michel Foucault343 – von der hypothèse répressive her denken, dass sie in ihnen in erster Linie Repressionsmittel sehen, sie nicht in ihrer Komplexität und Multifunktionalität als ›categories of thinking, representation and regulation‹ begreifen und in ihnen keine Dispositive zur mise en discours der Sinnlichkeit erkennen. * Die amerikanische Forschung, die, obgleich – oder weil? – sie die nichtanglophone Literatur häufig genug ignoriert, den Ton angibt, statuiert: It is hard to believe that it was a German archaeologist, C. O. Müller, who invented the word pornography in 1850. Writing a scientific handbook on archaeology, Müller searched for a word to describe the many objects found at Pompeji that he and other archaeologists considered ›obscene‹. Like any good academician he delved in his Greek dictionary and found y likely word, pornographein, meaning ›to write about prostitutes‹.344

Der Grand Robert nennt das Jahr 1842 als Erstbeleg für ›pornographie‹ in der modernen Bedeutung: »Représentation (par écrits, dessins, peintures, photos …) de choses obscènes, destinées à être communiquées ou vendues au public.«345 Wir denken, dass das Konzept der ›Pornographie‹ tatsächlich im Rahmen des archäologischen Diskurses entstanden ist. Allerdings benutzt Otfried Müller, auf dessen später ins Englische übersetztes Handbuch der Archäologie der Kunst die amerikanischen Forscher Bezug nehmen, das Wort ›Pornographie‹ noch nicht. In der Ausgabe von 1830 findet sich lediglich das Wort ›Pornograph‹, dessen französische Form Millin bereits zu Beginn des Jahrhunderts in derselben Bedeutung gebraucht hatte. Müller suchte dieses Wort jedoch nicht, wie John R. Clarke sich aus den Fingern saugt, aus einer Sprachnot heraus in einem Wörterbuch auf, sondern entnahm es, wie schon Böttiger (Bl. 28r), den Deipnosofistaí des Athenaios. Er benutzt es keineswegs in Bezug auf gewisse in Pompeji gefundene Objekte, sondern bezieht es zunächst, wie seine 342 »L’expérience mène à la transgression achevée, à la transgression réussie, qui, maintenant l’interdit, le maintient p our en jouir.« Georges Bataille: L’érotisme, Paris 1957, S. 45. 343 »Tous ces éléments négatifs – défenses, refus, censures, dénégations – que l’hypothèse répressive regroupe en un grand mécanisme central destiné à dire non, ne sont sans doute que des pièces qui ont un rôle local et tactique à jouer dans une mise en discours, dans une technique de pouvoir, dans une volonté de savoir qui sont loin de se réduire à eux.« Foucault: La volonté de savoir (wie Anm. 84), S. 21. 344 John R. Clarke: Roman Sex: 100 B.C. to A.D. 250, New York 2003, S. 11. Auf den folgenden Seiten fährt Clarke fort, über Müllers Beweggründe »to coin the word ›pornography‹« zu phantasieren. – Ähnliches findet sich bei DeJean: The reinvention of obscenity (wie Anm. 340), S. 136f., Anm. 30. 345 Paul Robert: Le Grand Robert de la langue française. Deuxième édition dirigé par Alain Rey, 6 Bde., Paris 2001, Bd. 5, S. 958.

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Quelle, auf eine Gruppe von Malern der Attischen Schule. Nach der Aufzählung der von Athenaios pornográfoi genannten Maler in § 139 des Handbuchs 346 bezeichnet Müller dieselben in § 163, zurückverweisend auf § 139, mit ebendiesem Wort,347 das er in § 429 eindeutscht. Das Lehnwort kommt in einer Nachbemerkung zum Paragraphen Hochzeitsbilder vor: Anhangsweise muß hier auch der großen Anzahl obscöner Vorstellungen (besonders der Veneris figurae, auf Gemählden, Gemmen, Münzen, lasciva numismata Martial VIII, 78.) gedacht werden, zu denen auch die Mythologie viel Gelegenheit gab, wie außer dem §. 137, 3. Angeführten besonders das in Argos und Samos erwähnte scheußliche Bild von Zeus u. Hera’s Liebe zeigt. Lobeck Aglaoph. p. 606. Von den Pornographen §. 139, 2 ex. 163, 4.348

* Im Dezember 1835 publizierte Désiré Raoul-Rochette, der während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutendste französische klassische Archäologe, im Journal des Savans den Aufsatz De la Pornographie.349 Es handelte sich dabei um den Vorabdruck eines Kapitels seines Buches Peintures antiques inédites précédées de recherches sur l’emploi de la peinture dans la décoration des édifices sacrés et publics, chez les Grecs et chez les Romains, das 1836 erschien und dem Gedächtnis seines im November 1835 verstorbenen Freundes und Vorbilds Karl August Böttiger gewidmet wurde: »A la mémoire de Charles Boettiger«. Dieser hatte die Abhandlung De la Pornographie noch lesen können, weil Raoul-Rochette ihm die Druckfahnen seiner Peintures antiques inédites sogleich nach ihrer Fertigstellung, um eventuell notwendige Korrekturen noch vornehmen zu können, bogenweise zur kritischen Beurteilung zugeschickt hatte. De la pornographie ou des peintures licencieuses, la plupart de sujets sacrés, et exécutées de la main d’habiles maîtres, pour être placées dans les temples ou dans les édifices publics, et plus tard dans les habitations privées, das 5. Kapitel des ersten Teiles der Peintures antiques inédites befindet sich auf S. 246–268, auf Druckbogen 31 bis 34. Wie das ganze Buch war das Kapitel über die Pornographie Bestandteil einer großangelegten internationalen Kontroverse über die Natur der nicht überlieferten Meisterwerke der griechischen Historienmalerei. Handelte es sich um Wand- oder Tafelbilder? 1830 hatte der Architekt Jakob Ignaz Hittorf in den Archäologischen Annalen, T. 2, S. 263, die erstgenannte Auffassung vertreten. Darauf hatte ihn Raoul-Rochette, der die 1811 von Böttiger in den Ideen zur Archäologie der Malerei aufgestellte These, dass die große Malerei der Griechen Tafelmalerei gewesen sei, verfocht, 1833 im Journal des Savans zurechtgewiesen und mit der Exekution des 346 Karl Otfried Müller: Handbuch der Archäologie der Kunst von K. O. Müller, Prof. zu Göttingen, Breslau 1830, S. 123. 347 Vgl. ebenda, S. 144. 348 Ebenda, S. 602. – In § 137, 3 geht es um die Gemälde des Parrhasios. Vgl. ebenda, S. 121. – Zu dem »scheußlichen Bild« vgl. oben S. XXXVIf. und unten Bl. 17v–18v. 349 Désiré Raoul-Rochette: De la Pornographie, in: Journal des Savans, Dezember 1835, S. 717–732.

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sich zu wissenschaftlichen Fragen äußernden Künstlers ein Exempel statuiert. Aber waren die Archäologen denn ihrerseits kompetent über nur in Texten bezeugte Denkmäler zu urteilen? Spätestens als der berühmte Philologe Antoine-Jean Letronne, Raoul-Rochettes Kollege am Institut de France, sich der barsch zurückgewiesenen Meinung Hittorfs annahm, wurde der Streit um die Natur der griechischen Historienmalerei zu einem Streit darüber, wer berechtigt sei, den wissenschaftlichen Diskurs über die Antike zu führen.350 Die Hauptkontrahenten, Raoul-Rochette und Letronne, setzten einander auch mit persönlich, politisch und – wie die Schlacht um die Pornographie zeigt – ethisch, ästhetisch und kulturpolitisch motivierten Angriffen zu. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. * In seinem Brief vom 30. September 1835 gratuliert Böttiger Raoul-Rochette zu seiner »excellente dissertation de la Pornographie« und seiner darin entfalteten erstaunlichen Gelehrsamkeit. Das Sujet sei schlüpfrig gewesen: »Le sujet etoit lubrique«, doch Raoul-Rochette besitze das Talent, alles zu sagen, ohne das Zartgefühl zu beleidigen: »le talent de tout dire sans blesser la delicatesse«. Mit der Kategorie der ›délicatesse‹ bezeichnet Böttiger das, was er für das hauptsächliche Hindernis für den erotisch-antiquarischen Diskurs hält. In diesem Zusammenhang nennt Böttiger dann auch seine eigenen sehr minutiösen diesbezüglichen Studien, die er vor vierzig Jahren, also in den neunziger Jahren, unternommen habe. Den Gegenstandsbereich, den Raoul-Rochette mit dem Terminus ›Pornographie‹ bezeichnet, nennt Böttiger die ›Libertinage der griechischen Kunst‹: »le libertinage de l’art grec«.351 Aber wie 350 Eine eingehende Darstellung findet sich in: Sternke: Böttiger und der archäologische Diskurs (wie Anm. 61), S. 375–446. 351 »Vous avez raison d’appuyer beaucoup sur vos observations episodiques p. e. sur les portraits metalliques ou peints sur les boucliers p. 238, dans lesquelles Vous traitez ce sujet avec une erudition vraiment étonnante. Il en est de même de cette excellente dissertation de la Pornographie p. 246ff. Le sujet etoit lubrique. Mais Vous avez le talent de tout dire sans blesser la delicatesse. J’ai fait aussi il y a 40 ans des recherches même minitieuses sur le libertinage de l’art grec. Vous avez su rassembler tout ce qu’il en a rapport. Vous y auriez pu ajouter qu’il y avoit surtout 12 figures du concubitus avec des petites variations representées par les courtisanes fameuses en Grèce, appellées pour cela dwdekamäcanai. Au reste j’observe que le mot anaädeia ne signifie pas une conduite impudique, il est synonyme d’a¬naiscuntía et se rapporte à l’effronterie demagogique. Je ne crois non plus que skutália (p. 257) eussent jamais employées de tablettes. On y entend toujour de petits rouleaux ressemblans aux batons et par consequence raptoîsi ne doit pas etre change en graptoîsi. Aussi ne puis je jamais me persuader que la grámmata Efäsia eussent ete des dessins traces sur peau. On n’y entendoit que des caracteres magiques contre le fascinus et autres sorcelleries. Je n’ai pas le tems de prouver cela par des temoignages indubitables. Mais Vous pouvez Vous moquer de ces epluchures minutieuses. Le tout est parfait dans son ensemble.« Karl August Böttiger an Désiré Raoul-Rochette, Dresden, 30. September 1835, Bibliothek des Institut de France, Paris, Signatur: MSS. – 2065 (t LXV), pièce 150.

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hätte man eingehend über Libertinage reden können, ohne selbst ein Libertin zu sein? Die oben zitierten Vorwürfe in Schellings Kritischem Journal der Philosophie zeigen, dass das schwerlich möglich war. Dagegen schafft der Begriff der ›Pornographie‹ zwischen dem Gelehrten und seinem Gegenstand, in dem er diesen Gegenstand klar umreißt und eindeutig negativ bewertet, einen gewissen Abstand, trennt Subjekt und Objekt auf unmissverständliche Weise. Der Ausdruck ›libertinage de l’art grec‹ lässt offen, welche Beziehung zwischen Libertinage und Kunst besteht, während der Terminus ›Pornographie‹ auf eine bestimmte Gattung innerhalb der Kunst verweist. Mit der Kategorie der ›Pornographie‹ hatte Raoul-Rochette eine neue Wertungs- und Bewertungskategorie lanciert, die zwar eine negative Wertung transportierte, aber noch kein Verbot des unter diese Kategorie Fallenden mit sich brachte. Wie jeder Diskurs hatte das Konzept der ›Pornographie‹ Konsequenzen für die gesellschaftliche Praxis. Für manche soziale Gruppen funktionierte das Konzept der ›Pornographie‹ analog zu demjenigen der ›Obszönität‹: Frauen, Kinder, Jugendliche durften derartige Gegenstände nicht sehen; Männer, die entsprechende Objekte zu ihrem bloßen Vergnügen konsumierten, konnten das nur in clandestinen Räumen tun. Den Gelehrten aber wurden mit diesem neuen Konzept ein öffentlicher Kommunikationsraum und ein neues interessantes Forschungsfeld eröffnet. Die größere Leistungsfähigkeit des Pornographiekonzepts gegenüber demjenigen der Obszönität bestand darin, dass der mit dem Begriff ›obszön‹ nur vage umrissene Wirklichkeitsbereich als ›Pornographie‹ in der Form einer mehr oder weniger klar umrissenen Objektklasse begrenzt wurde, die mit Distanz analysiert werden konnte. Der Ausdruck ›obszön‹ verweist auf die Empfindungen, die der Gegenstand erregt, der Terminus ›Pornographie‹ hingegen ist vollkommen sachbezogen. Die unter die Kategorie der ›Pornographie‹ fallenden Antiken konnten, selbst wenn ihnen ein ästhetischer Wert nicht abgesprochen wurde, ihre Wirkung als Quelle sinnlichen Genusses aufgrund der Entrüstung, die sie hervorzurufen hatten, nicht entfalten; und folglich konnten sie aus kritischer Perspektive als Studienobjekte wahrgenommen werden. Ihr wissenschaftliches Prestige stieg auf Kosten der Leugnung ihrer ästhetischen Wirkung. * In der zu dem Kapitel De la Pornographie überleitenden Passage erklärt RaoulRochette, dass er unter dem allgemeinen Ausdruck ›Pornographie‹ (le titre général Por no g r ap h i e ) eine besondere Klasse von Malereien (une classe de peintures) verstehe, die er wenig später mit dem Ausdruck lizenziöse Bilder (peintures licencieuses) näher bestimmt.352 Millin, den Raoul-Rochette in einer Anmerkung der Oberflächlichkeit zeiht,353 hatte religiöse und licencieuse Darstellungen einander 352 Raoul-Rochette: Peintures antiques inédites (wie Anm. 45), S. 246. 353 Vgl. ebenda, S. 247.

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gegenübergestellt. Raoul-Rochette hingegen erklärt, dass die Theologie der Griechen selbst eine Fülle von Bildern zuließ, die dem Anstand (honnêteté) widerstritten. Diese seien aufgrund der Vervollkommnung der Kunst in einer verderbten Gesellschaft zu Mitteln geworden, um die in Glut geratene Einbildungskraft zu verführen und unmoralischen Leidenschaften zu schmeicheln. Auf diese Weise verbindet Raoul-Rochette den religiösen und den profanen Gebrauch erotischer Darstellungen auf ähnliche Weise wie Böttiger durch ein Säkularisierungsszenarium.354 Doch anders als Böttiger, der wie Millin die beiden Gebrauchsweisen voneinander zu trennen sucht und der den antiken Religionen eine zivilisierende Funktion zuspricht, macht Raoul-Rochette, indem er die modernen Vorstellungen von ›honnêteté‹ und ›immoralité‹ auf die Antike anwendet, der griechischen und römischen Religion und Kultur den Prozess. Raoul-Rochette ordnet den historischen Bewertungen absolute Urteile über, wenn er etwa sagt, dass die Gemälde, die den Griechen unschuldig vorgekommen sein mögen, es nicht gewesen seien.355 Für Raoul-Rochette gibt es Gemälde, die gleichzeitig ausschweifend und heilig gewesen seien: »ces peintures, qui étaient à la fois, par leur sujet même, licencieuses et sacrées«.356 In einer Gesellschaft, welche die Scham verloren habe, habe die Kunst keine Skrupel mehr gekannt, die Religion keine Heiligtümer mehr besessen, selbst an heiligen Orten habe es obszöne Bilder gegeben.357 Raoul-Rochette zählt die religiösen Gegenstände auf, die pornographische Sujets lieferten: die bacchischen Orgien, die wollüstigen Abenteuer der Venus, die zahlreichen Amouren des Göttervaters usw. Der Olymp sei ein weites Feld der Libertinage gewesen, es gebe keine Unreinheit, die ihr Modell nicht im Mythos eines Gottes gefunden habe.358 Die moralische Verurteilung der antiken Kunst, welche Ausdruck einer unmoralischen Religion sei, ermöglichte es Raoul-Rochette, deren negative Züge detailliert darzustellen, da eine solche Darstellung eine moralische Lehre vermittle.359 Raoul-Rochette führt eine Reihe von Äußerungen – u. a. die Athenaios-Stelle360 – an, um zu belegen, dass das Konzept der ›Pornographie‹ sowie das dieses Konzept bezeichnende Wort bereits in der griechischen Antike existiert hätten. Die Liebschaften der Venus oder des Jupiter hätten das bevorzugte Sujet jener mehr oder weniger obszönen allgemein mit dem Namen pornografía bezeichneten 354 Vgl. Anm. 45. 355 »[…] la Grèce [….] put trouver innocentes des peintures qui ne l’étaient pas […].« RaoulRochette: Peintures antiques inédites (wie Anm. 45), S. 252. 356 Ebenda, S. 251. 357 »Pour une société qui n’avait plus de pudeur, l’art n’eut plus de scrupules, et la religion elle-même plus de sanctuaires. Des tableaux obscènes furent exposés aux regards jusque dans l’enceinte des lieux sacrés […].« Ebenda, S. 247. 358 Vgl. ebenda, S. 250. 359 »C’est aussi parce qu’il s’y trouve une haute moralité qu’il doit m’être permis de rétablir cette page de son histoire [i.e. celle de l’art], en exposant en détail la preuve des faits qui viennent d’être énoncés d’une manière générale […].« Ebenda, S. 248. 360 Vgl. ebenda, S. 254.

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Abb. 50 »une société qui n’avait plus de pudeur« (Raoul-Rochette) – Sklave mit Töpfen, Ton

Darstellungen gebildet.361 Indem Raoul-Rochette den Begriff der ›Pornographie‹ sehr weit fasst, spricht er mehr oder weniger der gesamten antiken Kunst pornographischen Charakter zu. * Böttigers großes Lob veranlasste Raoul-Rochette zu einer Vorveröffentlichtung des Kapitels De la Pornographie als eigenständiger Abhandlung im Journal des Savans.362 Die Zeitgenossen, allen voran die Gegner Raoul-Rochettes, reagierten keineswegs so enthusiastisch wie Böttiger. August Emil Braun nannte die Tendenz des Choix de peintures de Pompéï, in welchem Raoul-Rochette sein Konzept der Pornographie 361 »C’étaient […] les aventures de Vénus et les amours de Jupiter qui formaient le sujet le plus ordinaire de ces peintures, d’une composition plus ou moins obscène, d’une exécution plus ou moins savante, comprises sous le nom général de pornografía […].« Ebenda, S. 258. 362 »Du reste, ce que vous me dites d’obligeant Sur ce morceau de la Pornografía m’a déterminé à le faire paraître dans le Journal des savants, comme un échantillon de mon travail […].« Désiré Raoul-Rochette an Karl August Böttiger, Paris, 12. November 1835, SLUB Dresden, Msc. Dresd. h 37, 4°, Bd. 152, Nr. 35.

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wieder aufgreift, schlichtweg pervers363 und August Wilhelm Schlegel schrieb 1837 an Antoine-Jean Letronne, in Raoul-Rochettes Peintures antiques inédites spreche nicht mehr der Archäologe, sondern der Polizist, der die schmutzigen Stiche auf den Boulevards konfisziere.364 Raoul-Rochettes Intimfeind Letronne verfasste eine 76-seitige Abhandlung unter dem Titel Lettre à M. Friedrich Jacobs, associé étranger de l’Institut sur la rareté des peintures licencieuses chez les anciens,365 deren Hauptstellen er unter dem Titel Trois fragments sur l’emploi des représentations licencieuses chez les anciens in der Revue archéologique erneut abdrucken ließ. Die Adressierung der Lettre an Christian Friedrich Wilhelm Jacobs war beziehungsreich und frech, denn der darin angegriffene Raoul-Rochette hatte gerade selbst den international berühmten Philologen, wie früher den international berühmten Archäologen Karl August Böttiger, in der Hoffnung, von ihm Beistand im Kampf gegen seine Feinde zu erhalten, in das Institut de France wählen lassen, wo Jacobs genau den Platz erhielt, den sein kurz zuvor verstorbener langjähriger Freund Böttiger innegehabt hatte, dessen Andenken die in der Lettre frontal attackierten Peintures antiques inédites gewidmet waren. Letronne betont, dass die Griechen weder das Wort pornografía noch ein Synonym dafür gekannt hätten, dass das Wort pornográfov nur ein einziges Mal belegt sei und einen Kurtisanenmaler oder einen Autor, der über diese Klasse von Frauen schreibe, bezeichne.366 Letronne schloss jedoch nicht auf die Unzulässigkeit des anachronistischen Konzeptes und dessen Verwerfung, sondern grenzte die Bedeutung des Kunstwortes vielmehr ein. Das Hauptlaster von De la pornographie bestehe nämlich darin, das Wort ›pornographie‹ nicht nur auf die ganz und gar obszönen Bilder (les images tout à fait obscènes), sondern auch auf die erotischen oder wollüstigen Herkulanischen Gemälde, die Raoul-Rochette selbst bezaubernd genannt habe, und überhaupt sehr verschiedene Dinge (des choses si distinctes) bezogen zu haben.367 Die von Raoul-Rochette unterlassene Distinktion nimmt Letronne nun selbst vor, indem er drei Objektklassen unterscheidet: 1.) Darstellungen die, wie etwa ithyphallische Figuren, den modernen Vorstellungen von Anstand widerspre363 Antoine-Jean Letronne: Trois fragments sur l’emploi des représentations licencieuses chez les anciens. A l’éditeur de la Revue archéologique, in: Ders.: Œuvres choisies de A.-J. Letronne, membre de l’Institut, assemblées mises en ordre et augmentées d’un index par E. Fagnan. Troisième série, tome deuxième, Paris 1883, S. 218–238, hier S. 218f. 364 »Ce n’est plus un antiquaire qui parle, c’est un agent de police chargé de confisquer les mauvaises gravures sur le boulevard.« August Wilhelm Schlegel an Antoine-Jean Letronne, 9. September 1837, ebenda, S. 238. 365 Antoine-Jean Letronne: Lettre à M. Friedrich Jacobs, associé étranger de l’Institut sur la rareté des peintures licencieuses chez les anciens, in: Ders.: Lettres d’un antiquaire sur l’emploi de la peinture historique murale dans la décoration des temples et des autres édifices publics et particulier chez les Grecs et les Romains ; ouvrage pouvant servir de suite et de supplément à ceux qui traitent de l’histoire de l’art dans l’antiquité, Paris, 1836, S. 1–76. 366 Vgl. Letronne: Trois fragments (wie Anm. 363), S. 232f., Anm. 3. 367 Ebenda, S. 230.

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Abb. 51 »Le mot pornografía … n’existe même pas dans leur langue« (Letronne) – Phallischer Dämon, Ton

chen, aber für die Alten eine religiöse Funktion erfüllten und die keinesfalls pornographisch genannt werden könnten; 2.) Gegenstände mit obszönen Formen, Vasen mit lizenziösen Sujets, Figuren in lasziver Attitüde, Objekte der Neugier und der Laune, die der Belustigung der Wollüstlinge und Kurtisanen dienten; 3.) Gemälde mit zärtlichen und verliebten Szenen aus der Göttergeschichte; 4.) wirklich obszöne Sujets, Früchte entzügelter Künstlerfantasie und im Geschmacke der Kurtisanen und Libertins. Letztere bildeten eine Klasse, die ganz und gar à part und nicht besonders umfangreich sei und auf die allein das von ›pórnh‹ (›Prostituierte‹) abgeleitete Wort ›Pornographie‹ anwendbar sei. Man finde dergleichen auch bei den Modernen.368 Letronne hebt hervor, dass die obszönen Darstellungen in der Antike keineswegs die sakralen und profanen öffentlichen Gebäude und Privathäuser geschmückt hätten, sondern einzig die geheimen Gemächer der Libertins und öffentlichen Frauen,369 und stellt die Schamlosigkeiten der modernen (d. h. christlichen) Zeiten ins Licht.370 368 Ebenda, S. 231 sowie S. 230. 369 Ebenda, S. 229. 370 Ebenda, S. 235.

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Aus Entrüstung über die Entehrung des Altertums mithilfe des hässlichen Namens ›Pornographie‹ – ce vilain nom de p or no g r aphie – schmiedet Letronne in Parallele zu dem Ausdruck ›Majestätsbeleidigung‹ (lèse-majesté) zur Bezeichnung dieses neuen Verbrechens einen Neologismus: lèse-antiquité – Altertumsbeleidigung!371 Doch trugen Raoul-Rochettes Gegner durch die Eingrenzung der ›Pornographie‹ auf bestimmte soziale Räume und ihre gleichzeitige historische Entgrenzung zur Präzisierung und Befestigung des von ihm lancierten Pornographiekonzepts bei und bereiteten damit sein Übergreifen von der Archäologie auf andere Diskurse vor. * Böttigers erotische Papiere sind unausgearbeitet und unveröffentlicht geblieben. Bot das von Raoul-Rochette vorgestellte neue Konzept der ›Pornographie‹ die Möglichkeit, das damit bezeichnete Problemfeld sachlich zu analysieren, so gibt es doch zahlreiche Indizien dafür, dass Böttiger selbst diesen in seinem Brief an RaoulRochette ausdrücklich begrüßten Ausweg aus dem Dilemma nicht eingeschlagen hätte. Das plaisir du texte, das er sogar aus dem Schauder zu gewinnen suchte, hätte er wohl kaum aufgeben mögen. In seinem ständigen Schwanken zwischen Libertinage und christlich-moralischem Diskurs gewinnt die Libertinage aufgrund seiner spielerischen écriture die Oberhand. Der ›Anstand‹ bezeichnet eine Grenze, die im Wechsel übertreten und verteidigt wird, um aus der Übertretung Vergnügen zu ziehen.372 Diejenigen, die den schlüpfrigen Böttiger schmähen, um mit ihrer Schmähung Leser anzulocken, folgen seiner eigenen Schreibstrategie. Das in seiner Zeit auftauchende reduktionistische Konzept der ›Sexualität‹, welches das damit bezeichnete Problemfeld auf physiologische Sachverhalte reduziert, kündigt sich bei Böttiger bestenfalls in der Kategorie des ›Natürlichen‹ an. Er betrachtet das Phänomen, was wir heute mit ›Sexualität‹ bezeichnen, in seiner Komplexität, d. h. Macht, Geld, Legislation, Selbstdarstellung, Individualität, Wettbewerb, Diätetik, Kunst, Geselligkeit, Amüsement, Spektakel, Medien, Performativität und vor allem die Religionen treten in sein Blickfeld. * Heute steht ein epistemologischer Neuanfang auf der Tagesordnung: überholt sind die Konzepte der ›Sexualität‹ und der ›Pornographie‹, weil sie die Praxis längst hinter sich gelassen hat. Die modernen Medien, von den Kontrazeptiva bis zum Internet, haben die regulative Funktion dieser Konzepte ausgehebelt. Ist eine neue ›Liebesordnung‹ oder ars amatoria notwendig? Wie lässt sich die ›Liebe‹, die auf neuartige Weise praktiziert wird, auch neu denken? Möglicherweise kann der Rück371 Ebenda, S. 237. 372 Vgl. Batailles Definition der Erotik in Anm. 342.

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blick auf den epistemologischen Umbruch im Ausgang des 18. und während des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, der uns die nun brüchig gewordenen Konzepte beschert hat, bei einer Neukonzeptualisierung des Problemfeldes hilfreich sein. Gemeinsam ist dem Theologen Schleiermacher und dem Kulturhistoriker Böttiger der Widerstand gegen die sich durchsetzende Tendenz einer Reduktion von Liebe und Sinnlichkeit auf bloß Funktionales und Physiologisches. Während Schleiermacher unseren Blick auf das Geistige im Sinnlichen zu konzentrieren sucht, weitet Böttiger unser Gesichtsfeld in Hinblick auf die Komplexität der sozialen Implikationen sinnlicher Interaktion.

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Karl August Böttigers antiquarisch-erotische Papiere

Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden Signatur: Msc. Dresd. h 37 Verm. 4°, XVII, i Konvolut von 37 Blättern, lose in graublauem Papierumschlag von 19,3 × 29,8 cm. Blattmaße zwischen 9,4 × 13,7 cm (Bl. 4) und 20,5 × 29,0 cm (Bl. 32–37). Titel auf dem Umschlag mit Tinte von Böttigers Hand: »Phallica e Thesauro Brandenburgico illustrationi nostrae notas adspersit Blumenbachius Gottingensis.« Foliierung mit Bleistift der Bl. 2–37 von alter Hand, später der Bl. [1], [25a] und [30a]. Es liegen: Bl. [1], Bl. 2 (Doppelblatt mit Bl. 31), Bl. 3 (Doppelblatt mit Bl. [30a]), Bl. 4–6, Bl. 7 (Doppelblatt mit Bl. 10), Bl. 8 (Doppelblatt mit Bl. 9), Bl. 10 (Doppelblatt mit Bl. 7) [folglich bilden die Bl. 7–10 ein aus zwei Bindungen gebildetes, zusammengehöriges Textkonvolut], Bl. 11–12, Bl. 13/14 (Doppelblatt), Bl. 15/16 (Doppelblatt), Bl. 17/18 (Doppelblatt), Bl. 19/20 (Doppelblatt), Bl. 21–24, Bl. 25/[25a] (Doppelblatt), Bl. 26–30, Bl. [30a] (Doppelblatt mit Bl. 3), Bl. 31 (Doppelblatt mit Bl. 2), Bl. 32–37. Die Blätter [1], 2, 7, 10, 11, 13, 14, 17, 19, 21 und 31 sind doppelseitig beschrieben, die Blätter [25a] und [30a] sind leer, alle anderen Blätter sind recto beschrieben. Auf den Blättern 32–37 Kupferstiche aus Lorenz Begers Thesauri Regii et Electoralis Brandenburgici volumen tertium [1701]. Handschriftliche Zuordnungen mit Tinte auf Bl. 32: »Tab. III« mit »Fig. 1« und »Fig. 2«, auf Bl. 33: »Tab. II« mit »Fig. 1« und »Fig. 2«, auf Bl. 34: »Tab. 10«, auf Bl. 35: »Tab. 11«, auf Bl. 36: »Tab. 12« und auf Bl. 37: »Tab. 13«.

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S. XXXIX Porträt von Karl August Böttiger, Stahlstich von C. Taeter nach einer Zeichnung von Ernst Rietschel, um 1840, Grafiksammlung Gleimhaus, Inv.-Nr. Ca 86, © Das Gleimhaus, Halberstadt S. 60

S. 70 S. 73

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Abb. 1: Die Messe in Leipzig, Aquarell von Georg Emanuel Opitz, um 1820, in: Mark Lehmstedt (Hg.): Geschichte des deutschen Buchwesens, Digitale Bibliothek Bd. 26, CDROM, Berlin: Directmedia Publishing 2000 Abb. 2: Eingang zur Papierhandlung von Ferdinand Flinsch in der Universitätsstraße in Leipzig, Lithographie von T. Krieger, um 1830, in: Lehmstedt (wie Abb. 1) Abb. 3: Leipziger Antiquar, Aquarell von Georg Emanuel Opitz aus der Reihe: Die Messe in Leipzig, Leipzig 1825, in: Lehmstedt (wie Abb. 1) Autograph Prinz Johann von Sachsen, Hauptstaatsarchiv Dresden, 12561 Fürstennachlass Johann, König von Sachsen, Nr. 198b Autograph Karl August Böttiger, Sächsische Staats-, Landes- und Universitätsbibliothek Dresden, Msc. Dresd. h. 37, Verm. 4º, XIII, 2

S. 112 Abb. 1: Jüngling zwischen zwei jungen Männern, der linke mit Stock und Leier, der rechte mit Stock und Ball (?), Abbildung auf einer nicht identifizierten antiken Vase, Verbleib unbekannt, rechte Hälfte, in: Pierre François Hugues d’Hancarville: Antiquités étrusques, grecques et romaines tirées du cabinet de M. Hamilton envoyé extraordinaire de S. M. Britannique à la Cour de Naples, Florenz 1801 [zuerst Neapel 1767–1776], Bd. 1, Taf. 109 (Ausschnitt), Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur: C 5970 Großfolio RES::1, Digitalisat der UB Heidelberg S. 118 Abb. 2: Thomas Rowlandson: Boxing match for 200 guineas between Dutch Sam and Medley fought 31 May 1810, on Moulsey Hurst near Hampton, kolorierter Druck eines Stichs, London 1810, 247 × 350 mm, Bildunterschrift: »The Concourse of people exceeded any thing we have ever witnessed. The Spectators were computed at ten thousand. At one O’Clock the Champions entered the ring, and Sam had for his second Harry Lee, whilst Joe Ward officiated for Medley, after a severe and bloody contest of 49 Rounds Victory was decided in favour of Sam«, London, British Museum, Prints and Drawings, Registration number: 1872,1012.4970, © Trustees of the British Museum S. 118 Abb. 3: Studie des freyen Faustkampfes, in: Gerhard Ulrich Anton Vieth: Encyklopädie der

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Leibesübungen, Zweyter Theil: System, Neue unveränd. Ausgabe, Leipzig: Cnobloch 1818, Taf. VI, Fig. 132, Foto: Klaus Gerlach Abb. 4: Zwei Boxer und ein Richter, Abbildung auf Halsamphora, attisch, schwarzfigurig, um 500 v. Chr., aus Vulci, H 43 cm, Gruppe von Würzburg 221, Seite B, Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München, Inv. 1541, Foto: Renate Kühling Abb. 5: Pallone-Spieler beim Anspiel, in: Antoine Jean-Baptiste Thomas: Un an à Rome et dans ses environs, Paris: Firmin-Didot 1823, Reprint Neapel: Alberto Marotta 1971, Taf. 34, Nr. 1, Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: 2 73.10, Digitalisat der BSB München Abb. 6: Der Zwerg mit dem Ball (Pallone spielender Zwerg), Statue aus Untersberger Forellenmarmor, hergestellt vermutlich von einem Künstlerkollektiv unter Leitung von Ottavio Mosto und Bernhard Michael Mandl, um 1690/91, H 116 cm, Vorlage: Jacques Callot: Pallonespieler im Schlosspark von Nancy (1625), Standort: Zwergenbastei im Mirabellgarten, früher: Park des Schlosses Arenberg, Salzburg, Quelle: http://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/0/04/Salzburg_Schloss_Mirabell_Zwergerlgarten_ Zwerg_18.jpg (Abruf 8. April 2012), Foto: Matthias Kabel Abb. 7: Kämpfender Krieger, sog. Borghesischer Fechter, Marmorskulptur, um 100 v. Chr., von Agasias (II), Sohn des Dositheos (vor 110 – nach 60 v. Chr.), 199 × 128 cm, Fundort: Antium, Herstellungsort: Ephesos (?), historische Montage mit den 1781/82 von Agostino Penna für das Piedestal geschaffenen gymnastischen Übungen, Paris, Musée du Louvre, Inv. MA527, © bpk / RMN / Paris, Musée du Louvre / Hervé Lewandowski Abb. 8: William Pether: Three Persons Viewing the Gladiator by Candle-light, MezzotintoDruck nach dem Ölgemälde (ausgestellt 1765) von Joseph Wright of Derby, London 1769, 471 (beschnitten) × 554 mm, Bildunterschrift: »Done from a Painting of Mr. Josh. Wright’s of Derby, by his Oblig’d Friend & Humble Servant Wm. Pether In the Collection of B. Bates M.D. of Aylesbury«, übrige Beschriftung Beschnittverlust, London, British Museum, Prints and Drawings, Registration number: 1867,0309.1722, © Trustees of the British Museum Abb. 9: Thomas Rowlandson: Lady H******* [Hamilton’s] Attitudes, Druck nach einem Stich, 1800 ?, 237 × 170 mm, London, British Museum, Prints and Drawings, Registration number: 1981,U.258, © Trustees of the British Museum Abb. 10: Friedrich Rehberg: Lady Hamilton als Iphigenie, in: Attitüden der Lady Hamilton. Nach dem Leben gezeichnet von Friedrich Rehberg. In zwölf Blättern lithographiert von H. Dragendorf und hg. von Auguste Perl, München: Johann Deschler 1840, Taf. VII, Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Signatur: 19 B 14110, Digitalisat der Herzogin Anna Amalia Bibliothek/Fotothek Abb. 11: Dresdner Faustkämpfer, Kupferstich, in: Wilhelm Gottlieb Becker: Augusteum. Dresden’s antike Denkmäler enthaltend, Bd. 3, Leipzig: Hempel 1811, Taf. CIX, Digitalisat: SLUB Dresden/Dresdner Digitalisierungszentrum nach einem Exemplar der Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden Abb. 12: Dresdner Faustkämpfer, (vermutlich) nachantike Statue mit Ergänzungen von Carlo Napoleone, Zustand vor Abnahme der Ergänzungen, Foto: H. Krone 1885, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden Abb. 13: Dresdner Faustkämpfer, entrestauriert, grauer Marmor, römisch, vor 1739, Geschenk des Kardinals Albani, (vermutlich) nachantik, H 160 cm mit Plinthe, Inv. Hm 97, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden Abb. 14: Diskobol, Statuette, römische Bronzekopie nach Myron, 2. Jh. n. Chr., H 30 cm, Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München, Inv. 3012, Foto: Renate Kühling

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Bildnachweise S. 149 Abb. 15: Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff: Fassade und Grundriß der Fürstlichen Reitbahn in Dessau (Ausschnitt), erbaut 1790/91, 32 × 47,5 cm, in: Erich Paul Riesenfeld: Erdmannsdorff. Der Baumeister des Herzogs Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, Berlin: Cassirer 1913, S. 114 S. 149 Abb. 16: Fürstliche Reitbahn in Dessau, Fassade mit Pferdeplastiken, Aufnahme aus der Zeit der Nutzung als Interimstheater (1923–1938), zerstört im Zweiten Weltkrieg, Bildquelle: Anhaltisches Theater Dessau/Archiv S. 151 Abb. 17: Frédéric Guillaume Le Bert de Bar: Der Drehberg bey Wörlitz im Deßauischen, 1786, Graphit, Feder in Schwarz, Pinsel in Braun, aquarelliert, 22,8 × 29,6 cm, Inv. Z 934, Anhaltische Gemäldegalerie Dessau – Graphische Sammlung S. 151 Abb. 18: Der Drehberg bei Griesen im Dessau-Wörlitzer Gartenreich, Foto vom Dezember 2009, Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9f/Der_Drehberg_bei_ Wörlitz.jpg (Abruf 9. April 2012), Foto: M_H.DE S. 155 Abb. 19: View in the Plain of Olympia, in: John Spencer Stanhope: Olympia or topography illustrative of the actual state of the plain of Olympia and of the ruins of the city of Elis, London: Rodwell and Martin 1824, S. 44b, Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur: C 3236 B Großfolio RES, Digitalisat der UB Heidelberg S. 161 Abb. 1: Japanisches Palais, Aquarell um 1790, Sächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Abt. Deutsche Fotothek S. 162 Abb. 2: Japanisches Palais, Saal 10, Saal des Columbariums, Ausmalung von J. B. Theil um 1785, Foto: Hermann Krone 1888, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 163 Abb. 3: Sarkophag mit dem Triumphzug des Dionysos, Inv. Hm 271, um 220 n. Chr., © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 164 Abb. 4: Mumie eines Mannes. Inv. Aeg. 777, Foto: Hans-Peter Klut 1995, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 164 Abb. 5: Mumie einer Frau. Inv. Aeg. 778, Foto: Hans-Peter Klut 1995, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 165 Abb. 6: Agrippina, aus: Raymond Leplat, Recueil des marbres antiques qui se trouvent dans la Galerie du Roy de Pologne à Dresden, Dresden 1733, Taf. 35 (Agrippine) S. 167 Abb. 7: Sitzende Nymphe, Typus Muse Dresden-Zagreb, Inv. Hm 241, 1. Drittel des 1.Jhs. n. Chr. nach einem griechischen Werk des 2. Jhs. v. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 168 Abb. 8: »Sich salbender Athlet«, aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 121 (Mercure) S. 169 Abb. 9: Kandelaberbasis, Inv. Hm 27: Dreifußstreit zwischen Apoll und Herakles, römisch, 1. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr., Altes Sammlungsfoto, Fotograf unbekannt S. 170 Abb. 10: Barocke Schmuckvase, aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 1 S. 171 Abb. 11: »Alexander«, aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 122 (Alexandre le Grand) S. 171 Abb. 12: »Aesculap«, aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 83 (Esculape) S. 175 Abb. 13: Lukanisch-rotfiguriger Glockenkrater, Inv. Dr. 374. Kreusa-Maler, 380–370 v. Chr., Foto: Hans-Peter Klut 2003, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 176 Abb. 14: Japanisches Palais, Münzkabinett, Stich nach einer Zeichnung von J. B. Theil, aus: Johann Gottfried Lipsius: Kupfer zu der Beschreibung der Churfürstlichen Antiken-Galerie zu Dresden … als Suppl. zu Le Plat’s Récueil des Marbres antiques …, Dresden 1803 S. 177 Abb. 15: Stehende Aphrodite, Bronze, Inv. AB 694 (H4 44/4), römisch, 1. Jh. v. Chr., Foto: Heinz Pfauder 1975, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

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Bildnachweise S. 179 Abb. 16: »Tuccia«, aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 56 (Tuccia) S. 180 Abb. 17: Eilende Peplos-Figur, sog. Tuccia, Inv. Hm 118, frühes 1. Jh. n. Chr. nach einem Vorbild des 1. Jhs. n. Chr. – Im Hintergrund der von der Statue abgenommene Kopf, Inv. Hm 135, Foto um 1900, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 181 Abb. 18: Kopf einer Muse mit Kiefernkranz, Typus Euterpe, Inv. Hm 135, 120–140 n. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 183 Abb. 19: »Colossale Minerva«, aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 41 (Minerve) S. 183 Abb. 20: Statue des sog. Dresdener Zeus, Inv. Hm 68, 120–130 n. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 184 Abb. 21: Statue der Athena, sog. Athena Lemnia, Inv. Hm 49 (eine zweite Replik Inv. Hm 50), 2. Viertel des 1. Jhs. n. Chr. nach einem Bronzeoriginal der Zeit um 450/440 v. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 185 Abb. 22: Japanisches Palais, Blick aus Saal 4 in den Ecksaal 5, Foto: Hermann Krone um 1865, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 187 Abb. 23: Statue des sog. Einschenkenden Satyrn, Inv. Hm 100, 80–100 n. Chr. nach einem Vorbild des zweiten Viertels des 4. Jhs. v. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 188 Abb. 24: Japanisches Palais, Saal 6 mit den Statuen der Herkulanerinnen, Ausmalung von Gottfried Semper 1835, Foto: Hermann Krone 1888, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 189 Abb. 25: Statue der sog. Großen Herkulanerin, Inv. Hm 326, Mitte 1. Jh. n. Chr. nach dem Vorbild des späteren 4. Jhs. v. Chr., Foto: Ingrid Geske 2007, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 189 Abb. 26: Statue der sog. Kleinen Herkulanerin, Inv. Hm 327, letztes Viertel des 1. Jhs. v. Chr. nach dem Vorbild des späten 4. Jhs. v. Chr., Foto: Ingrid Geske 2007, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 190 Abb. 27: Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma, Inv. Hm 155, 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 191 Abb. 28: Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma (Inv. Hm 155), aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 80 (Un Faune et un Hermaphrodite) S. 192 Abb. 29: Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma (Inv. Hm 156), aus: Leplat (wie Abb. 6), Taf. 67 (Un Faune et une Nymphe) S. 193 Abb. 30: Japanisches Palais, Saal 9 mit Blick in Saal 10 auf das Columbarium, Ausmalung von Gottfried Semper 1835, Foto: Hermann Krone 1888, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 194 Abb. 31: Ölausgießender Athlet, Typus Dresden-Florenz, Inv. Hm 67, Kopie des frühen 2. Jhs. n. Chr. nach einem Vorbild des frühen 3. Jhs. v. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 195 Abb. 32: Antinous als Bacchus, Gipsergänzungen von Emil Kauer 1830, Foto: Hermann Krone 1885, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 195 Abb. 33: Statue des Dionysos, heutiger Zustand, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 204 Abb. 34: Japanisches Palais, Saal 4, Ausmalung von Gottfried Semper 1835, Foto: Hermann Krone 1888, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

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Bildnachweise S. 205 Abb. 35: Archaistische Athena, sog. Dresdner Pallas, Inv. Hm 26, erste zwei Jahrzehnte des 1. Jhs. n. Chr., Foto: Hans-Peter Klut und Elke Estel 2008, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 211 Abb. 1: Juno Sispita, in: Lorenz Beger: Thesauri Regii et Electoralis Brandenburgici volumen tertium: continens antiquorum numismatum et gemmarum, Quæ Cimeliarchio Regio-Electorali Brandenburgico nuper accessére Rariora: Ut & Supellectilem Antiquariam Uberrimam, id est Statuas, Thoraces, Clypeos, Imagines tàm Deorum, quàm Regum & Illustrium: Item Vasa & Instrumenta varia, eaque inter, fibulas, Lampades, Urnas, quorum pleraque cum Museo Belloriano, quædam & aliunde coëmta sunt, Dialogo illustrata à Laurentio Begero, Serenissimi & Potentissimi Regis Prussiæ & Electoris Brandenburgici Consiliario ab Antiquiatibus & Bibliotheca, Coloniæ Marchicæ, Impressit Ulricus Liebpertus, Typographus Regius & Electoralis Brandenburgicus, [1701], S. 300, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Digitalisierungszentrum S. 215 Abb. 2: Sarkophag mit dem Triumphzug des Dionysos (Detail), kleinasiatischer Marmor, römisch, um 210 n. Chr., 1728 Sammlung Albani, Inv. Hm 271, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 216 Abb. 3: Unterkörper eines phallischen Pan, Terrakotta, alexandrinisch/römisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 C 378, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 219 Abb. 4: wie Abb. 2 (Detail), © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 220 Abb. 5: Einsatzphallos, Terrakotta, alexandrinisch/römisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 C 380, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 225 Abb. 6: Bildlampe mit runder Volutenschnauze, Symplegma, alexandrinisch, Ton, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 L 211, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 232 Abb. 7: Reliefplatte mit Symplegma, Terrakotta, alexandrinisch, 2. Jh. n. Chr.?, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 C 525, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 239 Abb. 8: Symplegma zwischen stehendem Mann und hockender Frau, schwarzer Stein, alexandrinisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 A 147, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 241 Abb. 9: Bernard Picart: Eine Dame liest in einer Bibliothek ein Buch, Ausschnitt, Kupferstich, 1716, Simon Emmering Rijksmuseum Amsterdam, hier nach: Alexander Kosˇenina: Literarische Anthropologie, Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 124 S. 243 Abb. 10: Cynocephalus, in: Beger (wie Abb. 1), S. 307, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Digitalisierungszentrum S. 244 Abb. 11: Faunus nymphae raptor, in: Beger (wie Abb. 1), S. 250, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Digitalisierungszentrum S. 244 Abb. 12: Faunus ridens, in: Beger (wie Abb. 1), S. 253, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Digitalisierungszentrum S. 244 Abb. 13: Osiris, in: Beger (wie Abb. 1), S. 306, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Digitalisierungszentrum S. 244 Abb. 14: Tityri, in: Beger (wie Abb. 1), S. 255, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Digitalisierungszentrum S. 245 Abb. 15: Sacrum Silvani, in: Beger (wie Abb. 1), S. 252, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Digitalisierungszentrum S. 249 Abb. 16: Gefäßfragment, Symplegmaszene, Terra Sigillata, aus Arezzo, 1885 aus Sammlung Dressel erworben, Inv. ZV 679, 37, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

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Bildnachweise S. 251 Abb. 17: Anatomische Votive, Phalloi, Ton, etruskisch, 1885 vom Antiquar Hugo Klein, Dresden, erworben, Inv. ZV 413, Inv. ZV 415, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 253 Abb. 18: Phallisches Figürchen, Fayence, alexandrinisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 M 11, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 257 Abb. 19: Phallischer Dämon, Fayence, alexandrinisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 M 09, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 260 Abb. 20: Eros-Psyche-Gruppe, Typus Kapitol, Marmor, um 120–150 n. Chr., nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr., 1728 Sammlung Albani, Inv. Hm 210, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 263 Abb. 21: Symplegma des stehenden bärtigen Herakles mit einer nackten Frau, Terrakotta, alexandrinisch, 1. Jh. v. Chr. – 1. Jh. n. Chr, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 C 526, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 264 Abb. 22: Symplegma, Fayence, alexandrinisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 M 14, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 265 Abb. 23: Kupferstich von Marcantonio Raimondi, 1510–1520, London, British Museum, Prints and Drawings, Registration number: 1972,U.1306–1314, © The Trustees of the British Museum S. 273 Abb. 24: Symplegma, Ton, alexandrinisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 M 15, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 275 Abb. 25: Statue der Aphrodite mit Priapos (Detail), Marmor, frühes 2. Jahrhundert n. Chr. (traianisch), Sammlung Albani, Inv. Hm 244, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 277 Abb. 26: Ölausgießender Athlet, Typus Dresden-Florenz, Marmor, frühes 2. Jh. n. Chr. nach einem Vorbild des frühen 3. Jhs. v. Chr., Sammlung Chigi, Inv. Hm 067, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 279 Abb. 27: Statue des sog. Einschenkenden Satyrn (Detail), Marmor, 80–100 n. Chr., nach einem Vorbild des 2. Viertels des 4. Jhs. v. Chr., Sammlung Chigi, Inv. Hm 100, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 280 Abb. 28: Statue eines Satyrknaben mit Querflöte (Detail), Marmor, spätes 2. Jh. n. Chr., nach einem Vorbild um 300 v. Chr., aus Privatsammlung, Inv. Hm 131, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 281 Abb. 29: Fragmente einer Satyr-Hermaphrodit-Gruppe, Typus Dresdner Symplegma, Marmor, 1. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr., nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr., aus Rom, Inv. Hm 156, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 284 Abb. 30: Kopf eines lachenden Satyrn, Marmor, 1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr., nach einem Vorbild des späten 3. Jhs. v. Chr., aus Rom, Inv. Hm 166, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 289 Abb. 31: Herme des Priapos, Marmor, Italien, 2. Hälfte des 16. Jhs., zunächst Sammlung Vendramin, Venedig, dann Sammlung Reynst, Amsterdam, 1671 von Kurfürst Friedrich Wilhelm erworben, vor 1721 nach Dresden gelangt, Inv. 1810 Nr. 439, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 290 Abb. 32: Statue der Aphrodite mit Priapos (Detail), Marmor, frühes 2. Jahrhundert n. Chr. (traianisch), Sammlung Albani, Inv. Hm 244, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

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Bildnachweise S. 291 Abb. 33: Hermaphroditensymplegma Hm 156, Wilhelm Gottlieb Becker: Augusteum, Dresdens antike Denkmäler enthaltend, Bd. 3, Leipzig 1811, Taf. XCVI, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 291 Abb. 34: Hermaphroditensymplegma Hm 155, Wilhelm Gottlieb Becker: Augusteum, Dresdens antike Denkmäler enthaltend, Bd. 3, Leipzig 1811, Taf. XCV, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 292 Abb. 35: Marmorrelief, Vorderseite, Sammlung Chigi, Inv. Hm 212, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 292 Abb. 36: Mamorrelief, Rückseite, wie Abb. 35, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 293 Abb. 37: Puteal mit dionysischem Thiasos (Detail), Marmor, wohl 17. Jh., Rom, Sammlung Giustiniani, Inv. 1810 Nr. 290, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 294 Abb. 38: wie Abb. 37 (Detail), © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 294 Abb. 39: wie Abb. 37 (Detail), © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 294 Abb. 40: wie Abb. 37 (Detail), © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 299 Abb. 41: Torso der Aphrodite, Typus Medici (Detail), Marmor, frühes 2. Jh. n. Chr. nach Original des frühen 3. Jhs. v. Chr., 1728 Sammlung Albani, Rom, Inv. Hm 238, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 300 Abb. 42: wie Abb. 26 (Detail), © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 302 Abb. 43: Sog. Aphrodite (Venus) Kallipygos, Gipsabguss, Mengs’sche Sammlung, Inv. ASN 2369, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 303 Abb. 44: Satyr und Hermaphrodit, sog. Dresdner Symplegma (Detail), Marmor, 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr., nach einem Vorbild des späten 2. Jhs. v. Chr., Sammlung Albani, Inv. Hm 155, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 320 Abb. 45: wie Abb. 27 (Detail), © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 320 Abb. 46: Torso des Apollon (Detail), Marmor, 2. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr., Sammlung Chigi. Inv. Hm 090, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 325 Abb. 47: Fragment einer Marmorvase mit Silen und Satyr, Mitte des 1. Jhs. v. Chr. – Mitte des 1. Jhs. n. Chr., aus Rom, Inv. Hm 152, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 325 Abb. 48: Bildlampe mit eckiger Volutenschnauze, erotisches Symplegma, Ton, alexandrinisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 L 147, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 326 Abb. 49: Einsatzphallos, Ton, alexandrinisch/römisch, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 C 379, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 334 Abb. 50: Sklave mit Töpfen, Ton, alexandrinisch, 2. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr., Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 C 398, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 336 Abb. 51: Phallischer Dämon, Ton, alexandrinisch, 4. Jh. v. Chr.?, Sammlung Sieglin, Inv. ZV 2600 C 372, © Skulpturensammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden S. 341–389 Karl August Böttigers antiquarisch-erotische Papiere, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Msc. Dresd. h 37 Verm. 4°, XVII, i

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Personenverzeichnis Die Autoren des Bandes wurden nicht in das Verzeichnis aufgenommen, auch wenn sie außerhalb ihres Beitrages genannt werden.

Ackermann, Rudolph 68 Adelung, Johann Christoph XXVI Agasias 125 Aglaophamos (Aglaophamus) 330 Albani, Alessandro 135, 159, 163, 169, 171, 178, 183, 188, 192, 194 Alexander (Alexandre) der Große 169, 171, 194f. Alfieri, Vittorino 50 Ammonios 228 Anhalt-Dessau – Leopold III. Friedrich Franz Fürst von 10, 11, 147f., 150, 152 – Luise Henriette Wilhelmine Herzogin von XXIX, 150 Antinous 194f. Antiphanes 228 Antz, Christian 150 Apollodoros (Apollodor) 228 Arburg, Hans-Georg von XXIV Arenhövel, Willmuth 5 Aretino (Arretin), Pietro 225f., 232–235, 264–266, 325 Argens, Jean-Baptiste de Boyer Marquis d’ 327 Ariosto (Ariost), Ludovico XVI Aristeides (Aristides) 227f. Aristophanes 220, 228, 256–258, 325 Aristoteles 138 Arndt, Ernst Moritz 39 Arnim, Carl Joachim Friedrich Ludwig von XXIII Arnold, Günter 51

Arnold, Heinrich Gotthold 256, 293, 295 Athenaios (Athenäus) 227f., 232, 267, 296, 313, 329f., 333 Badiou, Alain 270f. Balzac, Honoré de 36, 272 Banerji, Christiane XXV, 254 Barth, Caspar von 240 Barthes, Roland XXVIII Basedow, Johann Bernhard 11 Bataille, Georges 328f., 337 Baudissin, Wolf Heinrich Friedrich Graf von 83 Baudissin, Wolf Wilhelm Graf XXIII Bauer, Günther G. 119 Bauhin, Gaspard 316 Bayern – Karoline Friederike Wilhelmine Königin von 93 – Ludwig I. König von 82, 89f. – Maximilian I. Joseph König von 93 – Otto Friedrich Ludwig von 82 Bayle, Pierre 240, 282 Beazley, John D. 174 Beccadelli, Antonio 230f., 288, 325 Beck, Christian Daniel XXII Becker, Marcus 150 Becker, Wilhelm Gottlieb 135f., 166, 172f., 178f., 194, 197, 203, 259 Becker, Wolfgang 41f. Beethoven, Ludwig van 25 Beger, Lorenz 224, 240–246 Bellori, Giovanni Pietro 242

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Personenverzeichnis Bender, Wolfgang F. 32 Berg, Friedrich Rudolph von 160 Berghahn, Cord-Friedrich VII Berlepsch, Emilie Dorothea Friederike von 317f. Berry, Mary 143 Bertling, Carl Richard 209f. Bertuch, Carl 73 Bertuch, Friedrich Johann Justin 5, 23, 55, 62, 118f., 214 Bezold, Carl XXIII Bianchini, Francesco 163 Bianconi, Domenico 204f. Bielfeld, Jacob Friedrich Baron von 120 Biester, Johann Erich 8f. Blinn, Hansjürgen 128 Bloch, Georges 18 Blumenbach, Johann Friedrich 209f., 214, 223, 242f., 283–288, 305, 311, 314, 316f. Blumenberg, Bettina 111 Boardman, John 176 Bode, Wilhelm 266 Boeckh, August 209 Böhme, Hartmut 150 Bohnenkamp, Anne XXV Boieldieu, François-Adrien 48 Boiste, Pierre-Claude-Victoire 268 Bonaparte siehe Napoleon I. Bonin, Christian Friedrich Ferdinand Anselm von 47 Bonnet, Corinne XXIII Bonstetten, Karl Viktor von 321 Borbein, Adolf Heinrich 5–7 Boschung, Dietrich 192 Böttiger, Gustav 210, 298 Böttiger, Karl Wilhelm XXVIII, 5, 8, 36, 62, 87, 110, 298 Böttiger, Karoline Eleonore 210 Boxberger, Robert 1, 204 Boyer, Martine XXXVI Boyle, Nicholas 25 Braun, August Emil 334f. Bray, François Gabriel Comte de 287 Brentano, Clemens 273 Bretteville, Étienne de 226 Brilli, Attilio 119 Brinckmann, Carl Gustaf von 130

Brockhaus, Friedrich Arnold 55–57, 59 Brockhaus, Heinrich Eduard 55 Brückner, Heike 150 Brunck, Richard Franz Philipp 240f. Buchholz, Friedrich 71 Buchner, Hartmut 297 Büngel, Werner 81 Burdorf, Dieter 27 Burghardt, Karl August Hugo 48 Burke, Peter XXV, XXVII Burmeister, Carl Eduard Julius 240 Busch, Dietrich Wilhelm Heinrich 305 Butler, Eliza M. 28 Butler, George 141 Buttmann, Philipp Karl 40 Büttner, Frank 6 Byron, George Gordon Noël Lord 4, 122 Cacciotti, Beatrice 159 Caesar, Gaius Iulius 319 Cain, Hans-Ulrich 168 Calderón de la Barca, Don Pedro 37, 44 Callisen, Adolph Carl Peter XXII Camões, Luís Vaz de 37 Camp, Maxime du 273 Campe, Johann Heinrich 146 Canik, Hubert 80, 89 Canova, Antonio 25, 129 Carracci, Agostino 232 Carstens, Amus Jakob 6 Carus, Carl Gustav 83 Casanova, Giovanni Battista 166, 203 Casaubon, Isaac 240 Catel, Charles-Simon 48 Catel, Franz Ludwig 22 Catel, Louis Friedrich 22 Catullus (Catulle), Gaius Valerius 236 Cavaceppi, Bartolomeo 135, 206 Cavalieri, Giovanni Battista 166 Caylus, Anne Claude Philippe Comte de 213f. Censorinus 104 Chamisso, Adelbert von (Louis Charles Adélaïde de Chamissot de Boncourt) 40 Chandler, Richard 154 Cherubini, Luigi 48 Chézy, Wilhelmine Christiane (Helmina) von 36, 40

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Personenverzeichnis Chigi, Flavio 159, 163, 166, 168f., 178f., 184, 191, 203f., 223, 259 Chorier, Nicolas 233f., 325–327 Chrysippus XXXVI, 282 Cicero, Marcus Tullius 316 Cilleßen, Wolfgang XXV Clarke, John R. 329 Cleanthes siehe Kleanthes Clemens von Alexandria XXXVI Comus 250 Coray siehe Koraes Corneille, Pierre 43, 50 Cotta, Johann Friedrich XXX, 34, 55–74 Cramer, Andreas Wilhelm 240 Crébillon, Claude-Prosper Jolyot de 276 Creuzer, Friedrich Georg XX, XXVIf., XXX, 40 Cronawetter, Johann Gottlieb 161 Cuvier, Georges Léopold Chrétien XXXI, 309 Czapla, Georg XXIII Dähner, Jens 169, 186, 191, 194f. Damerval, Mme. 67 Damianus 250 Danneberg, Lutz XXIII Dante Alighieri 37, 84, 87f., 101f., 104, 106, 109 Danton, Georges Jacques 315 Danz, Johann Traugott Leberecht XVIIf., XXVI Daremberg, Charles Victor XXIII Daßdorf, Karl Wilhelm 160 Dautz, Adrian 81 Davies (Davis), John 316 Decius 104 Decker, Wolfgang 134, 138, 142 DeJean, Joan 328f. Delacroix, Eugène 82, 89 Deleuze, Joseph Philipp François 304f. Demetrius II. von Syrien 220 Demokritos (Democritus, Demokrit) 64, 258 Demosthenes 106 Derks, Paul 324 Deuter, Jörg 119 Dickopf, Karl 81 Diderot, Denis 327 Dierbach, Johann Heinrich XXII

Dietrich, Andrea 88 Dieulafoy, Michel 41 Dio Chrysostomos 116 Diogenes Laertios XXXVI, 89, 229 Dioscorides 135, 313 Distel, Theodor XXXI, 75, 77, 83 Dobbek, Wilhelm 51 Domitian 184 Donald, Diana XXV, 254 Dönike, Martin 7 Dorgerloh, Annette 150 Douay-Soublin, Françoise 226 Dovey 68 Dragendorf, H. 134 Duboille, Charles 267 Ducros, Abbé Jean-François 226 DuFaur de Saint-Jorry, Pierre 137 Dulaurens siehe Laurent Dumarsais, César Chesneau 226 Dumas, Alexandre 36 Duncan, Elizabeth 114 Duncan, Isadora 114 Duvau, Auguste XXXIf., 1, 126f., 173, 297 Eckardt, Götz 19 Eckermann, Johann Peter XVII Edinburgh-Maler 174 Egerton, Judy 129 Einem, Herbert von 119 Einsiedel, Friedrich Hildebrand von XI Elephantis 232f., 246 Elgin, Thomas Bruce, Earl of 122 Elliger, Winfried 116 Emele, Joseph 223 Emig, Joachim 202 Encke, Friederike, Gräfin von Lichtenau 6, 8, 15 Enfield, William 38 Engel, Johann Jacob 32 Ennius 236 Enzensberger, Hans Magnus 141 Epikuros (Epikur von Gargettus) XII, 318 Epimachus 104 Erdmannsdorf, Friedrich Wilhelm von 18, 147 Erhard, Benjamin 58 Ermisch, Hubert 83 Ernesti, Johann August 5

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Personenverzeichnis Ersch, Johann Samuel XXII Eschenburg, Johann Joachim XXXIV, 238 Espagne, Geneviève XX, 1f., 55, 196–199 Este, Ippolito d’ 166 Etrurien – Ludwig König von 93 Euchel, Isaac Abraham 13 Euler, Leonhard 58 Euripides 49, 86f., 90f., 97, 274 Extra, Alexander 113 Fabian, Bernhard 119f. Fagnan, Edmond 335 Faulstich, Werner 255 Fauvel, Louis-François-Sébastien 154 Fendt, Astrid 5 Fernow, Karl Ludwig 4 Férussac, André Étienne Just Pascal François d’Audebard Baron de XXXI Fiore, Robert 141 Fischer, Jutta XXXVIII Fischer-Lichte, Erika 35 Flaubert, Gustave 272f. Fliessbach, Holger 25 Flinsch, Ferdinand 70 Flitner, Andreas 126f. Forberg, Friedrich Karl 230, 288 Forioso, Pierre 116, 121, 156 Forster, Johann Georg Adam 269 Förster, Karl August 36f., 40 Forster, Marie Therese siehe Huber Foucault, Michel 237, 242, 258, 314f., 329 Frankreich – Karl X. König von 83 Franz II. 66 Franz, Agnes (Louise Antoinette Eleonore Konstanze Agnes Franzky) 39f. Frauenholz, Johann Friedrich 63 Freese, Rudolf 127 Freud, Sigmund 17 Friedrich, Caspar David XX, 2 Friedrich, Johann Christian Jacob 212, 256 Friesen, Johann Georg Friedrich Freiherr von 198, 203 Fruhtrunk, Wolf 112 Furtwängler, Adolf 182 Füssel, Stephan 55

Gaier, Ulrich 145 Garnier, Germain 69 Garrick, David 32 Gärtner, Joseph 304f. Garve, Christian 117 Gebauer, Gunter 140 Gedike, Friedrich 19 Gehe, Eduard Heinrich 40f., 44 Geiger, Ludwig XVIII Genlis, Stéphanie Félicité de 37 Gentz, Friedrich 117 Gentz, Johann Heinrich 22 Geominy, Wilfred 166, 184 Gerhardt, Luise 1 Gericke, Horst 196 Gerle, Adolph Wilhelm 40 Gesner, Johann Mathias 240 Getty, J. Paul 254 Gibelin, Antoine-Esprit 123 Giebel, Marion 153 Giel, Klaus 126f. Gildemeister, Otto 122 Gillmeister, Heiner 119 Gillray (Gilray, Gilrey), James XXV, 64, 254 Giulio Romano 226, 232 Giustiniani, Principe Vicenzo 169 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 14, 51 Goethe, Johann Wolfgang von VIIf., XI–XVII, XIX–XXI, XXV, XXVIII, XXXf., XXXIII, XXXV, XXXVIII, 2, 4–7, 9–13, 16–18, 20, 23–29, 33f., 39–41, 44, 47–52, 55, 59, 65, 74, 109f., 113f., 119, 122f., 126, 128, 132, 150, 152, 159f., 173, 256f., 261–267, 272, 296, 301 Golden, Mark XXV Goldoni, Carlo 44 Gordianus 104 Gorgias von Leontinoi 228 Göschen, Georg Joachim XI, 1, 55, 201, 271 Gotter, Friedrich Wilhelm 318 Gräfe, Carl Ferdinand 305 Grafton, Anthony 115 Gran-Aymerich, Ève XXIIIf. Gräße, Johann Georg Theodor XXIIf. Graun, Elisabeth 117 Greiling, Werner 119 Grétry, André-Erneste-Modeste 48 Gries, Johann Diederich 44

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Personenverzeichnis Grillparzer, Franz 44–46, 298 Grimm, Jakob 141 Grimm, Wilhelm 141 Größing, Stefan 119 Grotefend, Georg Friedrich 202 Gruber, Johann Gottfried XXII Gualtieri, Sebastiano 163, 174 Guarini, Battista 231 Gubitz, Friedrich Wilhelm 56 GutsMuths, Johann Christoph Friedrich 113, 142f., 146, 152, 156 Gutzkow, Karl 272 Hadrianus (Hadrian, Hadrien) 135 Hagedorn, Ludwig von 160 Hagemann, Alfred 6 Hahn, Matthias XXIV Hallof, Klaus 209 Hamilton, Lady Emma XXXVIII, 114, 132–134, 143, 254 Hamilton, Sir William Douglas 111f., 132f., 143, 154, 222, 250–254 Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr von 256 Hancarville, Pierre François Hugues Baron d’ 111f., 240, 246–250, 296, 315 Hardenberg, Karl August Freiherr von 70 Harless, Johann Christian Friedrich 306 Hartenberg, Friedrich von 320f. Hartknoch, Johann Friedrich 300 Hartmann, Ferdinand 75 Hase, Heinrich August XXXV, 177, 191, 202f., 206f., 256 Hase, Karl Alfred von 202 Hebel, Johann Peter 51 Hedenus, August Wilhelm XXXIII Hederich, Benjamin 19 Hedwig, Johannes 304f. Heeren, Arnold Hermann Ludwig 287 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 96, 297–301 Heine, Heinrich XXX, 120 Heinen, Ulrich VII Heinitz, Friedrich Anton von 6 Heinse, Wilhelm 4, 280, 315 Heinsius, Nicolaas 240 Heliodoros (Heliodor) 116 Hendel-Schütz, Henriette 132 Hennebo, Dieter 9

Hennicke, Johann Friedrich 58 Hennings, August Adolf Friedrich von 271 Henschel, August Wilhelm Eduard Theodor 305 Hensler, Karl Friedrich 47 Herakleitos (Heraklit) 64 Heres, Gerald 159f., 196 Heres, Huberta 206 Herder, Johann Gottfried IX, XVIIf., XXXV, 4f., 10, 12, 28f., 51, 70, 113, 128, 145, 156, 167, 173, 266, 281f., 300, 314, 317f. Herder, Maria Karoline XVIIf., 51, 317f. Herklotz, Ingo VII Herodotos (Herodot) von Halikarnassos XXIV, 106, 110, 229 Herter, Hans 283 Herz, Henriette Julie 8, 13 Herz, Marcus 8f., 13–15 Hettche, Thomas 264–266 Heyck, Eduard 57 Heydebrand, Renate von XIII Heydenreuter, Reinhard 81, 90 Heyne, Christian Gottlob XII, XVII, XIX, XXIf., XXIV, XXXII, XXXIVf., 1, 4f., 7–9, 19, 30, 33, 203, 213f., 229, 238, 242, 269, 287, 310, 318–321, 323 Hieronymus, Sophronius Eusebius 269 Himmel, Friedrich Heinrich 48 Hirsch, Erhard 9, 147, 150, 152 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 9 Hirt, Aloys XXIX, 3–10, 14, 16f., 137, 202, 298 Hittorf, Jakob Ignaz 330f. Hoffmann, Alfred 9 Hoffmann, Andreas Gottlieb XXII Hofstetter-Dolega, Eva 162f. Hogarth, William 66 Holbein Edler von Holbeinsberg, Franz Ignaz 45 Hölderlin, Friedrich 113, 156 Hollmer, Heide 120 Holm, Christiane XXIII Holtei, Karl von 40 Hölzer, Gottlieb August 163 Homeros (Homer) IX, XVI, XXIV, XXXI, XXXIII, 16, 66, 75, 77, 80, 85, 87–89, 91, 93, 98, 102, 104–106, 109f., 208, 212

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Personenverzeichnis Homes, Everard 306 Honold, Alexander 113, 142, 152, 154 Horatius Flaccus, Quintus (Horaz) 14 Horvath, Carl Christian 73 Houdon, Jean-Antoine 21 Howard, Seymour 135 Huber, Ludwig Ferdinand 269 Huber, Marie Therese 269 Hufeland, Christoph Wilhelm 22, 89, 305 Hugo, Victor 36 Hugues, Pierre François siehe Hancarville Hülsen, Christian 166 Humboldt, Alexander von 160 Humboldt, Karoline von 22, 127, 160 Humboldt, Wilhelm von 4, 20, 22, 25f., 113, 126f., 130f., 156, 160 Hummel, Ludwig 2 Hunt, Lynn 326–329 Hurschmann, Rolf 174f. Hüttner, Johann Christian 57, 68f. Iffland, August Wilhelm XI, XVI, XXX, 8, 13f., 30–33, 44–47, 50, 52, 317f. Iffland, Christian Philipp 317 Iffland, Johann Rudolf 317 Irmscher, Johannes 81, 89, 127, 156 Isouard, Nicolas 48 Ittershagen, Ulrike 132, 134, 143 Jacobs, Christian Friedrich Wilhelm 103, 240, 267, 335 Jagemann, Christian Joseph XII Jahn, Friedrich Ludwig XXXIII, 113 Jenisch, Daniel 13 Johannes 222 Johannes Stobaios 91 Johannsen, Rolf H. 5 Jones, William 213 Julianus 104 Julius Obsequens 316 Juvenal 220, 318, 324 Kafka, Franz 242 Kalb, Charlotte Sophie Juliane von 33 Kalb, Heinrich Julius Alexander von 317f. Kallinos von Ephesos 80 Kandinsky, Wassily 147

Kant, Immanuel 25, 147f. Katz, Marylin XXV Kauer, Emil 195 Kauer, Ferdinand 47f. Kayser, Julius XXVII Keiderling, Thomas 55 Keller, Gottfried 128 Kiesow, Rainer Maria 12 Kilcher, Andreas B. XXIII Kind, Johann Friedrich XXX, 36–39, 51 Kirchhoff, Bodo 141 Kleanthes (Cleanthes) XXXVI Kleist, Heinrich von XIII, XXX, 31, 44f., 47, 120 Klemm, Gustav 287 Klenze, Leo von 202 Klingemann, August 52 Klingenberg, Anneliese XII Klinger, Maximilian 39 Klopfer, Friedrich Gotthilf XXII Knauß, Florian 112, 136, 138, 140, 146, 155, 157 Knebel, Karl Ludwig von XXXII, 127, 173, 297 Knight, Richard Payne 222, 250–254 Köhler, Heinrich Karl Ernst von 135 Köhn, Silke 132, 134 Kopetzki, Annette 119 Koraes (Coray), Adamantios 116 Körner, Marie-Luise XXXVIII Kortländer, Bernd 120 Koselleck, Reinhart 52 Kosˇenina, Alexander 14, 241f. Kotzebue, August von XIII–XVI, XXVIII, 1, 22–24, 27, 31, 41, 44, 47f., 56 Kramer, Olaf VIII Kretzschmar, Hellmut 78 Kreusa-Maler 175 Krieger, T. 70 Kries, Friedrich Christian 58 Kritias 80 Krüger, Andreas Ludwig 17 Krüger, Hermann Anders 37–39, 51f. Krünitz, Johann Georg 61 Kügelgen, Gerhard von 51 Kuhn, Friedrich Adolf 38 Künstler, Vita Maria 122

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Personenverzeichnis Kunze, Max 162f., 175 Kurtz, Johann Heinrich XXIII Küster, Bernd 119 La Borde, Jean-Benjamin de 268 Lacan, Jacques 270 Lamers-Schütze, Petra 112 Lammel, Hans-Uwe XXIV Landfester, Manfred 89 Langen, August 128, 132 Lauremberg, Peter XXIII Laurent (Dulaurens), Henri Joseph 234f. Lennartz, Karl 152 Leonardo da Vinci 311 Leplat (Le Plat), Raymond Baron 159, 165, 168, 170–174, 176, 179, 183, 191, 293f. Le Roy, Julien-David 154 Lesky, Albin 89 Lessing, Gotthold Ephraim VII, X, XV, XXVIII, XXXIV, 14, 46f., 145, 160, 166, 172, 216f., 238–240, 246, 275, 278 Letronne, Antoine-Jean 331, 334–337 Leuschner, Brigitte XXXVIII Levezow, Jakob Andreas Konrad 135, 154, 202 Lewis, William Stanley 143 Lichtenberg, Georg Christoph 32, 66 Lichtenstein, Anton August Heinrich 212f. Liebpert, Ulrich 242 Lindenau, Bernhard August von 202, 206, 208 Lindenberg, Thomas XIII, 34, 271 Link, Heinrich Friedrich 305 Linné, Carl von 312f. Lippert, Philipp 128 Lipsius, Johann Gottfried 162, 166, 172, 176, 203 Livia 162, 246 Livius, Titus 218 Lobeck, Christan August 330 Loder, Justus Christian 22 Loesch, Perk XXXVIII Lohrmann, Wilhelm Gotthelf 83 Lope de Vega Carpio, Felix 37 Lorenz, Susanne 138, 140 Lukas, Gerhard 148 Lukian (Lucian) 182, 220

Luther, Martin 222 Lütteken, Laurenz 14 Lysidike 240f. Lysippos XXIX Mackowsky, Hans 23, 26 Maffei, Scipione 203 Mähly, Jacob Achilles XXIII Maier, Johann Christoph 229 Maistre, Joseph de 258 Malsburg, Ernst Friedrich Georg Otto Baron von der 36–38 Marburg, Silke 75 Marcolini, Camillo Graf 160, 173, 200 Mari, Baldassare 181 Maria Theresia 128 Marino, Giovan Battista XVI Mark, Friedrich Wilhelm Moritz Alexander Graf von der 15, 18 Marlin 67 Marsch, Ulrich 115 Martial XXXVI, 223, 230, 236–239, 246, 301, 312, 318, 330 Martin, Frank 203 Maßmann, Wolfgang 206 Mathys, Fritz Karl 119 Matuschek, Stefan 27 Maufroy, Sandrine 81 Maurach, Bernd 1, 3, 8f., 13 Maurer, Michael 119f. Mayer, Friedrich X McLuhan, Herbert Marshall 222 Mecklenburg-Strelitz – Friederike Herzogin von 16, 20f. – Luise Herzogin von 16, 20f. Medici, Cosimo de’ 230f. Méhul, Étienne 48 Meier, Albert 145 Meijer, Pieter A. XXXVI Meiners, Christoph Martin 255f., 314 Ménage, Gilles 240 Menander 257 Mendelssohn, Moses XXXIV, 272, 274 Mengs, Anton Raphael XXXIV, XXXVIII, 175, 197, 200 Mercurialis, Hieronymus 137 Merkel, Garlieb Helwig XIII, XXVI,1, 56, 273

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Personenverzeichnis Messlin, Dorit XX Mette, Hans Joachim 91 Meursius (Mursius), Johannes 233f. Meusel, Johann Georg 230, 288 Meyer, Johann Heinrich XIf., XXIV, XXXV, 7, 23, 28, 43, 138, 167, 202, 217, 256 Meyerbeer, Giacomo 37 Michaelis, Johann David 272, 274 Miller, Chris 112 Miller, Jacques-Alain 270 Miller, Johann Martin VIII Miller, Norbert 4, 130 Millin de Grandmaison, Aubin-Louis XX, 1f., 55, 196–199, 213f., 227f., 240, 256, 283, 288, 295f., 329, 332f. Millingen, James 227f., 240, 295 Mix, York-Gothart XXI Möhring, Maren 139f. Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 43–45 Montfaucon, Bernard de 228 Monti, Vincenzo 50 Morel, Frédéric 116 Moreto, Augustín 43f. Morhof, Daniel Georg VII Morin, Jean-Baptiste 268 Moritz, Karl Philipp XIIf., 4, 19, 27, 119f. Moßdorf, Bernhard 81 Motschmann, Uta 5 Motte-Haber, Helga de la 130 Muchembled, Robert 270 Müller, Adam 50, 53 Müller, Adelheid 5 Müller, Dominik 128–130, 139 Müller, Johannes 305 Müller von Sylvelden, Johannes XXIX, 310, 318–324 Müller, Karl Friedrich 141 Müller, Karl Otfried XXXVII, 191, 202, 329f. Müller, Lothar XXIV Müller, Wilhelm 122 Müller, Winfried 37 Müller-Kaspar, Ulrike 203 Müller-Salget, Klaus 120 Müllner, Amandus Gottfried Adolf 43 Mulsow, Martin XIX, XXVII, 233 Murr, Christoph Gottfried von 256

Myron XXXIIIf., 114–117, 121–123, 126, 128, 138–146 Myrtilos 228 Nagler, Georg Kaspar 123 Napoleon I. 6, 38, 71, 196f. Napoleone, Carlo 135f. Neidhardt, Alexander 122 Nelson, Horatio 254 Nemnich, Philipp Andreas 69 Nerdinger, Winfried 137 Nero 153f. Neumeister, Sebastian 37 Nicolai, Christoph Friedrich XXXIV, 1, 27, 63 Niebuhr, Barthold Georg 40 Niedermeier, Michael 150 Nikokrates, Marcus Sempronius 267 Nikomedes (Nicomedes) von Bithynien 319f. Nikophanes 227f. Nitsch, Paul Friedrich Achat XXII Noehden, Georg Heinrich 251 Nöldeke, Theodor XXIII Nostiz und Jänkendorf, Gottlob Adolf von 36, 40 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 274 Oehlenschläger, Adam Gottlob 51 Oehmke, Stephanie 183 Oeser, Adam Friedrich 173 Ogorek, Regina 12 Oken, Lorenz XX Oloros 101–104, 106 Opitz, Georg Emanuel 60, 73 Origenes Adamantius XXXVI, 229 Orléans, Louis-Philippe-Joseph Duc d’ 288f. Orpheus XXXVII, 226, 229, 252 Orville, Jacques Philippe d’ 240 Osterkamp, Ernst 17 Ostermann, Patrick 88 Österreich – Ferdinand I. Kaiser von 97 Otto, Regine 266 Ovidius Naso, Publius (Ovid) 225, 236, 242, 249, 259, 325 P-e 305 Papenfuß, Bert 209

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Personenverzeichnis Parma-Bourbon, Carolina Maria Theresia Josephina Prinzessin von 93 Parrhasios 227f., 300, 330 Pars, William 154 Paulus 235 Pauly, August Friedrich XXIII, 80, 89, 283 Pauly, Yvonne XIIf. Pausanias (Maler) 227 Pausanias (Autor) 137, 152f., 182, 186, 251 Pausias 228 Peignot, Etienne-Gabriel 326–328 Penna, Agostino 125 Perceau, Louis (Radeville et Deschampas) 234 Perl, Auguste 134 Perthes, Friedrich Christoph 61 Peters, Klaus 75–77, 79f. Peters, Sibylle 31 Pether, William 129 Petrarca, Francesco 37 Pezzaro 123 Pfaff, Christoph Heinrich 130 Phidias 122, 142, 153, 182 Picart, Bernard 241f. Pindaros (Pindar) 152 Piroli, Tommaso 133 Platon (Plato) IX, 107–109, 230 Plautus, Titus Maccius 227 Plinius Secundus Maior, Gaius XX, XXV–XXVII, 227f., 232, 313 Plutarchos (Plutarch) 89 Poggio Bracciolini, Gian Francesco 231 Polemon 228 Polyklet 139, 145 Pontano, Giovanni 231 Popp, Klaus-Georg 269 Posselt, Ernst Ludwig 57 Pott, Ute 14 Pottier, Edmond XXIII Praxiteles 186 Preußen – Friedrich II. König von XXXV – Friedrich Wilhelm II. König von 5–8, 15f. – Friedrich Wilhelm III. König von 26 – Friedrich Wilhelm (IV.) Kronprinz von 83, 97 – Louis Prinz von 18

– Wilhelm I. König von 83 Prinz, Regina 137 Procaccini, Camillo 232 Prölss, Robert 35 Protzmann, Heiner 182 Pückler-Muskau, Hermann von 120, 150 Puhlmann, Johann Gottlieb 4 Pythagoras von Samos 95f., 102f., 109 Quandt, Johann Gottlob von 206 Quirini, Angelo Maria 224, 240, 287–289 Raabe, Wilhelm 128 Rabe, Martin Friedrich 22 Racine, Jean 43f., 46, 48–50 Racknitz, Joseph Freiherr von 172f. Radeville et Deschampas siehe Perceau, Louis Raeder, Joachim 168, 182 Raimondi, Marcantonio 232, 264f. Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von XXXV, 167–171 Ramler, Karl Wilhelm XXXIV, 8, 14f., 19 Raoul-Rochette, Désiré XXX–XXXII, XXXV, XXXVII, 174, 209f., 222, 227f., 232, 251, 286f., 330–337 Rapp, Christof 150 Rauch, Christian Daniel 1, 3f., 21,26, 203–206 Raumschüssel, Martin 177 Raymond, François 268 Raynal, Guillaume-Thomas 64 Rebenich, Stefan XXIII Recke, Elisa von der 8f. Redford, Bruce XXV, 254 Rehberg, Friedrich 132–134 Rehm, Walther 160 Reichardt, Johann Friedrich 22 Reichenbach, Heinrich Gottlieb Ludwig 83 Reimer, Doris 55 Reimer, Georg Andreas 55f. Reimmann, Jakob Friedrich XXVII Reinecke (Reineke), Johann Christoph Matthias 58 Reinhard, Franz Volkmar XXIX, 229, 282, 287, 314 Reinhart, Karla 75 Reinhold, Karl Leonhard 214

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Personenverzeichnis Reiske, Johannes 240 Repnin-Wolkonski, Fürst Nikolai Grigorjewitsch 197, 200 Rétif de La Bretonne, Nicolas 267f., 315 Revett, Nicholas 154 Rey, Alain 329 Richter, Eckhard XXV Richter, Johann Andreas Leberecht XXII Richter, Karl 128 Richter, Ludwig 201 Riedel, Lars 140 Riedel, Wolfgang 124 Rive, Jean-Joseph 327 Robert, Ludwig 40, 44, 47 Robert, Paul 329 Rode, August 152 Rode, Bernhard 14 Roquefort, Jean-Baptiste-Bonaventure de 268 Rosenbaum, Julius XXII Rosenberger, Veit XXIII, XXXIV, 173, 313 Rösler, Wolfgang 150 Rousseau, Jean-Jacques 11, 70, 146f., 235–237, 239, 258f., 271, 327 Roux, François 268 Rowlandson, Thomas XXXVIII, 117f., 132f. Rückert, Friedrich 40 Rüegg, Walter 116 Ruhland, Volker 81f. Ruhnken, David 240 Sabellus 238, 246 Sachsen – Albert (I.) Prinz von 83, 85, 92–101, 103, 105 – Amalie Prinzessin von 100 – Amalia Augusta von 90–95, 97, 101, 103, 105 – Anna Prinzessin von 92, 100 – Anton König von 84, 93f., 97 – Carola Königin von 100 – Christian Friedrich Kurprinz von 135 – Elisabeth Prinzessin von 85f., 92, 95–101, 103, 105 – Ernst Prinz von 86f., 92, 95–98, 100f., 103, 105 – Friedrich August I. Kurfürst von 159f. – Friedrich August II. Kurfürst von 160

– Friedrich August III. Kurfürst / I. König von 34, 42f., 160, 165f., 197, 201, 207 – Friedrich August (II.) Prinz von 83f., 87, 94, 97 – Friedrich August Prinz von 94 – Friedrich Christian Prinz von 160 – Georg von 92, 97f., 100 – Johann (I.) Prinz von XXXI–XXXIII, 37, 75–110 – Johann Georg Herzog zu 83 – Margarete Prinzessin von 92, 100 – Maria Prinzessin von 85, 91–93, 95–97, 100f., 103, 105 – Maria Anna Prinzessin von 160 – Maria Luisa Carlotta Prinzessin von 93 – Maximilian Prinz von 85, 93f. – Sidonia Prinzessin von 92, 97f., 100 – Sophie Marie Prinzessin von 92, 100 Sachsen-Altenburg – Joseph Herzog zu 83 Sachsen-Coburg-Gotha – Leopold Georg Christian Friedrich von 82f. Sachsen-Gotha-Altenburg – August Herzog von 232, 256, 289 Sachsen-Weimar-Eisenach – Anna Amalia Herzogin von XII, XXIV, XXIX, 11, 23f., 29f., 134, 173, 252f., 317 – Karl August Herzog von XIII, XVII, 23f., 29f., 34, 44, 48 – Louise Herzogin von 29f. – Maria Pawlowna Erbprinzessin von XXXII – Sophie Großherzogin von XIV, 2, 34, 262 Sade, Donatien Alphonse François Marquis de 315 Saglio, Edmond XXIII Saint-Aubin, Augustin de 288 Sander, August 3, 13 Sander, Johann Daniel 1, 3f., 8–10, 13, 27 Sander, Sophie 4 Sangmeister, Dirk XIX, 27 Sartre, Jean-Paul 31 Sauder, Gerhard 120, 128 Saumaise, Claude 240 Savoy, Bénédicte XX, 1f., 55, 196–199 Schaaff, Johann Christian Ludwig XXII Schaarschmidt, Karl Friedrich XIX

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Personenverzeichnis Schadow, Christian Friedrich Gottlieb 17 Schadow, Johann Gottfried XXVIIIf., 1–28, 160 Schadow, Rudolf (Ridolfo) 1 Schattkowsky, Martina 37 Schatz, Georg Gottlieb 318 Scheffer, Johannes Gerhard 240, 316 Scheibe, Siegfried XIII, 24, 34, 271 Scheibler, Ingeborg 176, 300 Scheller, Jörg 141 Schelling, Friedrich Joseph Wilhelm XX, 22, 25, 119, 296f., 332 Schelling, Karoline 192, 272, 274, 296f. Schelver, Franz Joseph 305 Schenck (Kupferstecher) 133 Schenck, Ludwig XXIII Schiller, Johann Christoph Friedrich von VIII, XIV, XIX, XXIII, XXXII, XXXVIII, 5, 7, 12, 17, 25–29, 33f., 41, 43f., 46–49, 51, 74, 109, 113, 124, 126, 131, 145, 156, 160, 258f., 261, 264, 276, 278, 281, 321 Schincke, Christian Gotthelf XXII Schink, Johann Friedrich 31 Schinkel, Karl Friedrich 2, 25, 206 Schirmer, Friederike 35, 50f. Schlegel, August Wilhelm von XIII, XXI, 24, 26, 33, 43, 45, 58, 271f., 274, 296, 298, 335 Schlegel, Friedrich von XX, 24, 129, 160, 270–274, 278, 281, 301, 315 Schlegel, Karoline siehe Schelling Schleiermacher, Christian Friedrich Daniel 272, 274–278, 281, 315, 338 Schleinitz, Johann von 107 Schmidt-Funke, Julia A. XVIII–XXI, XXIII, XXV, 5, 27, 59, 78, 90, 109, 117, 127, 159, 167, 196, 252 Schmidt-Henkel, Gerhard 128 Schmitt, Hanno 150 Schmitt, Wilhelm Joseph 305–308 Schmitz, Siegfried 122 Schmitz, Walter XXV Schmölder-Veit, Andrea 112 Schneider, Johann Gottlob 240 Schnorr von Carolsfeld, Franz XXXIII, 1, 8 Schoch, Rainer 5 Schochow, Maximilian 306 Schöller, Wolfgang 18

Schopenhauer, Johanna 40 Schorn, Ludwig 135 Schreiber, Christa 5 Schreiber, Theodor XXXVIII Schröder, Friedrich Ludwig 31, 37f., 43, 45 Schröder, Sophie 46, 49 Schröder, Stephan F. 159, 171 Schultz, Hartwig 273 Schulz, Johann Christoph Friedrich 266 Schütz, Christian Gottfried 22 Schütze, Friedrich Wilhelm 18 Schwabe, Johann Joachim 19 Schwarzenegger, Arnold 114, 141 Schwarzkopf, Joachim von 61 Schweikert, Uwe 41 Scuffil, Michael 112 Seconda, Franz Bartolomäus 41 Sedlarz, Claudia XXIV, 5, 7 Seeck, Gustav Adolf 91 Seemann, Hellmut Th. XXIV, 119 Seeßlen, Georg 255 Seidel, Siegfried 26, 126 Selling, Andreas 120 Semper, Gottfried 185, 188, 193, 204, 206 Seneca 269 Senff, Wilhelm 146 Sengle, Friedrich 26, 47f. Sextus Empiricus 282 Shakespeare, William 37f., 43–45 Sichtermann, Hellmut 114 Siebelis, Karl Gottfried 153 Sieglin, Ernst von XXXVIII Sillig, Julius X, XXIX, 29, 87f., 90, 92f., 95–100, 105, 114–116, 124, 172, 212, 217 Simitis, Spiro 12 Simmel, Georg 12 Simon, Erika XXIVf. Simson, Jutta 18 Sinn, Friederike 166, 178f., 204 Sinn, Ulrich 138, 142, 153, 155, 157 Sittl, Karl XXIII Skalecki, Liliane 147f. Smith, Adam 64, 69f. Sokrates 109, 270, 321 Solon von Athen 80, 89, 106, 135 Sondermann, Ernst Friedrich 27, 55, 59, 74, 173, 272, 297

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Personenverzeichnis Sontag, Susan 111, 143 Sontheimer, Walther 283 Sophokles XXV Sotades von Maroneia 233, 327f. Spalding, Georg Ludwig 8f. Spazier, Richard Otto 56 Spenser (Spencer), Edmund XVI Sprengel, Kurt Polykarp Joachim XXII, XXIV, 58 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine Baronne de 129 Staiger, Emil 110 Stauf, Renate VII Stein, Charlotte Albertine Ernestine von 10 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 70 Sterne, Lawrence 66 Stock, Wolfgang G. 308 Stosch, Philipp Baron von 240 Strato 301, 303, 318 Strobel, Jochen XVIII–XXI, XXV Strobl, Hilde 137 Stuart, James 154 Studnitz, Hans Adam von 318 Stumpp, Bettina XXXVI Suardy 68 Suetonius Tranquillus 153 Sulzer, Johann Georg 9 Tasso, Torquato XVI Tausch, Harald XXIV Terentius Afer, Publius (Terenz) XI, 30, 48, 227, 236, 257 Teuffel, Wilhelm Siegmund XXIII Thalheim, Hans-Günther 258 Theil, Johann Benedikt 162f., 176 Theokritos (Theokrit) XVI Theophilos (Theophilus) von Alexandria XXXVI Theophrastus 313 Thiersch, Friedrich Wilhelm 40, 127, 193, 202 Thorvaldsen, Bertel 5 Thukydides 101–104, 106 Tiberius Iulius Caesar Augustus 153, 246 Tieck, Friedrich 21–24 Tieck, Ludwig XIII, XIX, XXV, XXX, 32, 37, 40f., 52, 83, 131

Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 2, 119, 132, 134 Titus 304 Titz-Matuszak, Inge 202, 208 Tocqueville, Alexis de 39 Toohey, Peter XXV Tooke, Adrianne J. 273 Töpel, Auguste 298 Toup, Jonathan 240f. Townley, Charles XXXVII, 226, 240, 285, 288f. Treu, Georg 43, 135, 166, 180–182, 207 Triller, Daniel Wilhelm 240 Trippel, Alexander 21 Trunz, Erich 119 Truong, Nicolas 271 Tuccia 179f. Uffenbach, Zacharias Conrad von 120 Uhlig, Ludwig 17, 126 Valle, Pietro della 163, 165 Veit, Dorothea 272–274 Veyne, Paul 157, 269, 314 Vieth, Gerhard Ulrich Anton 113, 118, 148 Villaume, Peter 113, 146 Villoison, Jean-Baptiste-Gaspard d’Ansse de 268 Voltaire (Jean-Marie Arouet) 44, 48, 234f. Vorster, Christiane XXIV, 166, 179, 181, 184, 186, 188 Voss, Johann Heinrich XXXI, 66 Vulpius, Christiane 262, 266 Wacker (Waker), Johann Friedrich 161f., 165–173, 177f., 202 Wagner, Johann Jakob 308f. Wagner, Peter 247f. Walpole, Horace XVI, 143 Weber, Carl Maria von XX, XXX, 35f., 38, 40–43, 48, 51 Wedemeyer, Bernd 141 Weigl, Joseph 48 Weiss, Thomas 135 Welcker, Friedrich Gottlieb XXXV Wendt, Amadeus 57 Werdy, Friederike 45f.

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Personenverzeichnis Werner, Hans Georg 39 Westphalen – Jérôme I. König von 318, 320 Wetzig, Saskia XXXVIIf., 293 Wezel, Elsa van 7 Wezel, Johann Karl 122 Wiegel, Hildegard XXIV, 112 Wieland, Anna Dorothea 26 Wieland, Christoph Martin XIII, XXXV, 3, 5, 10, 12, 22–26, 29, 34, 55, 63, 74, 173, 214, 256–259, 271f., 276, 317f., 323 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 89 Wilder, Frederick L. 122 Winckel, Therese Emilie Henriette aus dem XX, 2, 36 Winckelmann (Winkelmann), Johann Joachim XXVIII, XXXIIIf., 4f., 16f., 19, 25, 27, 113f., 117, 124, 126, 130, 142, 146, 152, 154, 159f., 165f., 173, 175, 186, 203, 213f., 321 Winkler, Karl Gottfried Theodor XXX, 35f., 38–41, 44, 51 Winko, Simone XIII Witt, Günter 152

Wittichen, Friedrich Carl 117 Woelk, Moritz XXIV, 166 Wolf, Friedrich August 4 Wolf, Johann Conrad 256 Wolff, Emil 206 Wollkopf, Roswitha XIIf. Woltmann, Karl Ludwig von 58, 320, 322f. Worsley, Sir Richard 122 Wright of Derby, Joseph 128f. Wünsche, Raimund 112, 136–138, 140, 146, 157 Wurm, Johann Friedrich 58 Zelle, Carsten 14 Zeuxis 300 Ziegler, Konrat 283 Zieten, Hans Joachim von 18, 26 Zimmer, Jürgen 5 Zimmermann, Ingo XXXII, 84 Ziolkowski, Theodore XXI, 114 Zöllner (Zölner), Johann Friedrich 297 Zschokke, Johann Heinrich Daniel 44f.

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Danksagung

Zunächst danke ich den Beiträgern. Gedankt sei auch allen Bibliotheken und Archiven, die in den Bildnachweisen im Einzelnen aufgeführt sind, insbesondere der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD), die dieses Forschungsprojekt durch die großzügige Bereitstellung von Material unterstützten und es auf diese Weise überhaupt erst ermöglichten. Mein besonderer Dank gilt Professor Dr. Thomas Bürger, Generaldirektor der SLUB, der an dem Zustandekommen dieses Buches lebhaften Anteil nahm, der Handschriftenabteilung der SLUB, namentlich Perk Loesch, der das Konvolut des in diesem Band faksimilierten Manuskripts detailliert beschrieb, und Kerstin Schellbach, die die Autoren bei ihren Recherchen unterstützte, sowie Saskia Wetzig von den SKD, welche die Erarbeitung der Bildnachweise mit archäologischer Kompetenz begleitete. Ebenfalls danke ich Dr. Ute Pott vom Gleimhaus und Dr. Norbert Michels von der Anhaltischen Gemäldegalerie. Marie-Luise Körner und Dr. Brigitte Leuschner danke ich vielmals dafür, dass sie das Manuskript inhaltlich und sprachlich sorgfältig prüften. Weiterhin bedanke ich mich bei Professor Dr. Mark Lehmstedt, Dr. Michael Niedermeier, Sabine Steiner und Brigitte Wall, die mir bei der Beschaffung von Bildmaterial halfen. Vor allem aber danke ich meinem Lektor Peter Heyl, der durch sein starkes Engagement und seine langjährige Erfahrung zu dem Gelingen dieses Buches wesentlich beitrug. Der Herausgeber