Die Fabrik als touristische Attraktion: Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im Übergang zur Moderne [1 ed.] 9783412518837, 9783412507794, 9783412518820

155 98 28MB

German Pages [457] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Fabrik als touristische Attraktion: Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im Übergang zur Moderne [1 ed.]
 9783412518837, 9783412507794, 9783412518820

Citation preview

Die Fabrik als touristische Attraktion Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im Übergang zur Moderne

Daniela Mysliwietz-Fleiß

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

TransKult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte, Band 2

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Daniela Mysliwietz-Fleiß

Die Fabrik als touristische Attraktion Entdeckung eines neuen Erlebnisraums im Übergang zur Moderne

B ö h l au V e r l ag W i e n Kö l n W e i m a r

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Emil Limmer: Blockwalzwerk, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. XIIf.

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51882-0

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage 2.1. Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte. . . . . 2.1.1. Kulturgeschichte als Analyse des „selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe[s]“ des Menschen. . . . . . . . . . 2.1.2. Die Konstruktion von Wissensräumen. . . . . . . . . 2.1.3. Tourismus als symbolische Praxis. . . . . . . . . . . .

. . . . . 21 . . . . . 21 . . . . . 26 . . . . . 31

2.2. Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung. . . . . . . . . 37 2.2.1. Geschichtswissenschaftliche Forschungen zum Tourismus als symbolische Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.2.2. Forschungen zur Fabrik als touristische Attraktion . . . . . . . . 45 2.3. Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion. . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Die Rekonstruktion von touristischen Wissensräumen . . . . 2.3.2. Mediale Grundlagen der Rekonstruktion des Fabrikbesuchs: Reportagen und Industriebilder. . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Medien des Fabrikbesuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 51 . . 51 . . 56 . . 64

3. Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert 3.1. Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise. . . . . 81 3.2. Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“. . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.1. Vom ‚Reisenden‘ zum ‚Touristen‘. . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.2.2. Bürgerliches Reisen und soziales Geschlecht.. . . . . . . . . . 103

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

6

Inhalt

4. Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung 4.1. Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Die Rationalisierung und Spektakelisierung des Sehens seit der Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Die Reise ins Gebirge. . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Die Reise zum „Fetisch Ware“. . . . . . . . . . . . . . 4.1.4. Die ‚exotische‘ Reise. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . 113 . . . .

115 120 130 143

4.2. Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion.. . . . . . . . . . 4.2.1. Die frühe Wahrnehmung der Fabrik: Ein bedrohlicher Ort hinter hohen Mauern. . . . . . . . . . . 4.2.2. Die Technikbegeisterung des späten 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf das Erkenntnisinteresse des Bürgertums. . . 4.2.3. Ein neuer Umgang der Unternehmen mit der Öffentlichkeit: Die Fabrik wird zugänglich. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

4.3. Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien.. . . 4.3.1. „Eintrittskarten im Hof, erste Tür links“: Die Fabrik im Reisehandbuch. . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. „Zu Besuch bei Gebrüder Stollwerck in Köln“: Die Fabrik in den Reportagen populärer Zeitschriften. . 4.3.3. „So heiß, wie die Kohle beim glühenden Guß/ Ereile dich heute mein Essener Gruss“: Die Fabrik im Medium der Ansichtskarte. . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

160 165 179

. . . . 196 . . . . 196 . . . . 204 . . . . 207

5. Die Fabrik als touristische Konstruktion 5.1. Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 5.1.1. Private Besucherinnen und Besucher in der Fabrik als Massenphänomen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.1.2. Motive für einen privaten Fabrikbesuch. . . . . . . . . . . . . 230 5.2. Der Ablauf des Fabrikbesuchs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. „Man muß erst die Scylla des Portiers und die Charybdis des Meldezettels passieren“: Der Eintritt in die Fabrik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. „An der Hand eines kundigen Führers“: Der Gang durch die Fabrik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. „In rein frohem Sang konnte der inhaltsreiche Tag so aus­klingen“: Der Fabrikbesuch als bürgerlich-touristisches Ereignis. . . . . .

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

254 255 260 269

7

Inhalt

6. Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis 6.1. „Das Leben und Treiben in den Fabriken macht einen eigenartigen Eindruck, doch lohnt es sich, ihm einen Augenblick zuzusehen“: Erlebnisse in der Fabrik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1. Faszination Produktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2. Faszination Maschine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3. Faszination ‚Arbeiter‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

285 285 304 313

6.2. Das Werksleben jenseits der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6.2.1. Das Werksleben in der unternehmerischen Selbstdarstellung.. 355 6.2.2. Das Werksleben in der touristischen Betrachtung.. . . . . . . 365 6.3. Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 7. Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Anhang Abkürzungsverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Quellenverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

8

Inhalt

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820



Vorwort Die Fabrikanlage von Volkswagen in Wolfsburg ist nicht nur einer der größten Standorte der Autofertigung weltweit und der größte Arbeitgeber in der Region, sondern auch eine touristische Attraktion für diejenigen, die im Rahmen einer Fabrikbesichtigung als Gast in die längste Werkshalle der Welt kommen. Nachdem man den Pförtner passiert hat, nimmt man, wohl angeleitet von einem versierten Führer, eine Mahlzeit in einer der Kantinen des Werks mitten unter ‚echten‘ VW-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein. Danach geht es in die Fertigungsanlagen, durch die die Gästeschar in einem Spezialfahrzeug, einer Achterbahn nicht unähnlich, manövriert und dabei mit dem Produktionsprozess vertraut gemacht wird. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, an denen man auf diese Weise vorbeizieht, halten in ihrer Arbeit inne und winken scheinbar fröhlich. Ich kann nicht anders, ich winke zurück. Vergnügen, Belehrung und Selbst­inszenierung treffen bei einer Fabrikbesichtigung unmittelbar zusammen. Diese Reise ins VW-Werk in der Gegenwart, an der ich sozusagen beobachtend teilnahm, deren Mechanismen ich mich dennoch nicht entziehen konnte, korrespondierte mit meiner Forschungsreise entlang der touristischen Pfade des 19. Jahrhunderts zu den Wurzeln der Fabrik als touristische Attraktion, zu den ersten Fabriktouristinnen und -touristen, die den Produktionsprozess und die darin involvierten Arbeiterinnen und Arbeiter mit einer Mischung aus Neugier, Wissensdurst und dem Drang nach Abgrenzung und Selbstverortung betrachteten. Dieser mehrjährige Forschungsausflug führte zu der vorliegenden Arbeit, die als Dissertation im Rahmen des Promotionsverfahrens zur Dr. phil. von der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen im Frühjahr 2013 angenommen wurde. Die wichtigste Begleiterin auf dieser Tour war meine Betreuerin Prof. Dr. Angela Schwarz. Sie motivierte mich dazu, die Reise anzutreten, half mir in intensiven Gesprächen auch nach langen Arbeitstagen, meine Hypothesen zu schärfen, wann immer ich drohte, den Weg aus den Augen zu verlieren, und stand mir zur Seite, wenn die Expedition zu lang und mühselig erschien. Nicht zuletzt sorgte Prof. Schwarz für eine Arbeitssituation an ihrem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, die es mir immer wieder möglich machte, den Universitätsalltag zu verlassen und den Fabriktouristinnen und -touristen auf ihren Pfaden zu folgen. Ich danke ihr nicht nur für die ‚Reiseleitung‘ im Rahmen meiner Dissertation, sondern insgesamt für die Jahre der intensiven Ausbildung, die mit meinem ersten Neuzeit-Proseminar als Studentin an der Universität Duisburg-Essen vor über 15 Jahren begannen und in denen mir Prof. Schwarz jeden Tag ein Beispiel für eine vorbildliche Wissenschaftlerin und akademische Lehrerin war. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich ebenso bei meiner Zweit-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

10

Vorwort

gutachterin Prof. Dr. Bärbel Kuhn, die die Arbeit intensiv kommentiert und mir für die Überarbeitung zur Drucklegung wertvolle Hinweise, insbesondere zur Geschlechtergeschichte des 19. Jahrhunderts und zur Gendertheorie, geliefert hat. Auf meinem Weg haben mich außerdem meine Kollegen vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte begleitet. Sie ließen mir in Kolloquien und unzähligen Gesprächen am Schreibtisch wertvolle Anregungen zukommen. Mein Dank gilt insbesondere Jan Pasternak, der nicht nur bei technischen und formalen Problemen unverzichtbare Hilfe leistete, sondern mich über die Jahre immer ermutigt und unterstützt hat. Mein Dank gilt weiterhin den Kolleginnen und Kollegen des wissenschaftlichen Mittelbaus der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen, die mir im interdisziplinären Austausch viele Hinweise gaben, die meine Dissertation in der vorliegenden Ausrichtung möglich machten. Unschätzbare Unterstützung erfuhr ich außerdem durch die Archivarinnen und Archivare des Historischen Archivs Krupp in Essen, des Bayer Archivs Leverkusen, des Deutschen Technikmuseums Berlin sowie des Rheinisch-Westfälischen- und des Rheinischen Wirtschaftsarchivs in Dortmund beziehungsweise Köln, die sich auf meinen kulturgeschichtlichen Ansatz einließen und es mir ermöglichten, die Bestände ihrer Archive in einem neuen Licht zu betrachten. Für die Finanzierung meiner Reise(n) – und das im ganz wörtlichen Sinn – bedanke ich mich bei der Nachwuchsförderung der Philosophischen Fakultät, die einen großen Beitrag zur Deckung der Kosten meiner Archivreisen leistete. Danken möchte ich auch dem Forschungskolleg der Universität Siegen (FoKoS) für seine Unterstützung. Mein Dank gilt außerdem Prof. Angela Schwarz für die Aufnahme in die Schriftenreihe „TransKult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte“. Schließlich möchte ich meiner Familie und meinen Freunden danken, die mir den Rücken gestärkt haben, wenn das Reisegepäck zu schwer zu werden schien. Neben meinem Mann Norbert und meinen Eltern haben mich besonders meine langjährigen Freundinnen Dr. Dagmar Melzig und Dipl. Kff. Simone Eberhardt ermutigt, auf dem langen Weg einen Schritt vor den anderen zu setzen. Meine Eltern haben in mir nicht nur die Liebe zu Büchern und zur Geschichte geweckt, sondern mich auch im Studium und in der Berufswahl unterstützt. Meinem Mann Norbert danke ich von Herzen dafür, dass er das Wagnis eingegangen ist, sich parallel zu meiner Reise in die Fabriken des 19. Jahrhunderts mit mir auf die Reise des Lebens zu begeben, eine Reise, die uns in eine Zukunft mit unserem Sohn Noah geführt hat, der die letzten Arbeiten an der Druckfassung teilweise lautstark kommentiert hat. Daniela Mysliwietz-Fleiß Bottrop, September 2019

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820



1. Einleitung Im Sommer des Jahres 1906 unternahm die Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft aus Posen, deren Mitglieder nach der Selbstbeschreibung „meistens höhere Verwaltungsbeamte, einige Kaufleute, Offiziere u.a.“1 waren, eine Studienreise nach Westfalen. Die Reisegruppe von ca. 30 Personen besichtigte die Leinenindustrie und die Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld, das Stahlwerk Hösch, die Kronenbrauerei, die Zeche Minister Achenbach sowie das Schiffshebewerk Henrichenburg in Dortmund, die Hafenanlagen in Duisburg und Ruhrort und die Gussstahlfabrik Krupp in Essen, jeweils in der Hoffnung, man möge den Vereinsmitgliedern „einen kleinen Einblick in den großartigen Betrieb […] gestatten.“2 Die Reise der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, eines Vereins, zu dem sich 1901 mehrere Posener Bildungsgesellschaften verschiedener Ausrichtung zusammengeschlossen hatten,3 gehörte zu einer größeren Bewegung, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer mehr Menschen als Schaulustige in die Fabriken4 des Deutschen Reiches führte. Schon für die Jahre nach 1890 lässt sich ein Anstieg der Zahl von betriebsfremden Gästen in den Fabriken der Schwer-, Elektro- und Konsumgüterindustrie erkennen. Verschiedene Indizien in den Archivquellen legen die Vermutung nahe, dass der Besuch nicht mehr allein der Einkommenssicherung, beruflichen Fortbildung oder, wie in der Zeit zuvor, der Industriespionage, sondern einem weiterführenden Zweck diente. Die chemischen Fabriken der Firma Bayer in Leverkusen, die Werkstätten der metallverarbeitenden Krupp-Werke in Essen, der Süßwarenhersteller Stollwerck in Köln oder der Elektrokonzern AEG in Berlin wurden ebenso wie viele andere Fabriken in verschiedenen Industriezentren Deutschlands innerhalb weniger Jahre zu Besuchermagneten.5 Gleichzeitig griffen Publikationsorgane wie Reisehandbücher, Zeitschriften oder Postkarten das Thema der Fabrik als Ausflugsziel auf, indem sie diese als lohnenden Besichtigungspunkt auf einer Reiseroute vorstellten, Reportagen über die Erlebnisse 1

Daniels an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft Posen, 14.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 421, 422. 2 Ebd. 3 Vgl. Statut der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft in Posen, 1901, Wielkopolska Biblioteka Cyfrowa (Großpolnische digitale Bibliothek), URL: http://www.wbc.poznan.pl/dlibra/ docmetadata?id=42236&from=publication (Stand: 01.09.2019). 4 Als Fabriken werden im Folgenden alle Industriestandorte bezeichnet, also beispielsweise auch Zechen. 5 Vgl. Kapitel 5.1.1.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

12

Einleitung

im Innern der Werkshallen abdruckten oder Motive von und aus der Fabrik als Bebilderung einer Ansichtskarte nutzten, um damit einen Gruß aus der Ferne in die Heimat zu schicken. Die riesigen Maschinen der Schwerindustrie, die Hitze, die Geräuschkulisse, das Farbenspiel etwa bei der Stahlherstellung und -verarbeitung, die einzelnen, rätselhaft wirkenden Arbeitsschritte, die planlos erscheinenden und doch planvoll den Produktionsvorgängen folgenden Bewegungen der Arbeiterschaft waren Vorgänge, die ihre Wirkung auf die ortsfremden Beobachterinnen und Beobachter nicht verfehlten und von den Darstellungen in Berichten und Reportagen oder auf Bildern aus der Fabrik in besonderer Weise aufgegriffen wurden.6 Die Fabrik wurde zur touristischen Attraktion. So vertraut heute Führungen durch Brauereien, Schokoladenfabriken und Autowerke, selbst stillgelegte Industrieanlagen als Zeugen der ‚Industriekultur‘ als Freizeit­ event auch erscheinen mögen,7 so unerwartet ist ihr bereits verhältnismäßig hoher Verbreitungsgrad auf den ersten Blick im wilhelminischen Kaiserreich. Unter den damaligen Umständen der Hochindustrialisierung wäre vordergründig ein anderes Verhalten anzunehmen gewesen, nämlich dass Fabriken und industrialisierte Landschaften als schmutzig und trostlos empfunden wurden, wie es zahlreiche bekannte Reisebeschreibungen der Zeit tatsächlich vermittelten.8 Sie präsentierten sie als Ort der proletarischen Arbeit und daher für andere Gesellschaftsschichten als ‚No go Area‘, allenfalls noch als Ort des viel besungenen Fortschritts, der aus der sicheren Ferne betrachtet wurde.9 In den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts statteten der Fa­ brik regelmäßigere Besuche vor allem Fachleute – Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler – ab, zumeist mit dem Ziel, sich neues Wissen anzueignen, das sie dann zielgerichtet in ihrem Beruf einsetzen konnten. Prominente Fälle waren Eberhard Hoesch und Alfred Krupp, die sich 1823 beziehungsweise 1838 in England aufgehalten und 6 7

8

9

Vgl. Kapitel 4.3. Vgl. zum aktuellen Phänomen des Industriekulturtourismus z.B. Daniela Fleiß/Dörte Strelow: Urlaub im Schatten des Förderturms. Industriekultur als Tourismusattraktion und Hoffnungsträger, in: Angela Schwarz (Hrsg.): Industriekultur, Image, Identität. Die Zeche Zollverein und der Wandel in den Köpfen, Essen 2008, S. 221–260; Achim Schröder: Industrietourismus, in: Christoph Becker/ Hans Hopfinger/Albrecht Steinecke (Hrsg.): Geographie der Freizeit und des Tourismus. Bilanz und Ausblick, 3. Aufl., München 2007, S. 213–224. Vgl. hierzu z.B. die Untersuchungen von Dirk Hallenberger: Industrie und Heimat. Eine Literaturgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2000. Diese Art der Beschreibung zieht sich durch die gesamte Berichterstattung über das Ruhrgebiet vom Beginn der Industrialisierung bis in die Zeit des Strukturwandels in den sechziger bis achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Vgl. u.a. Michael Salewski: Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: ders./ Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77–91.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

13

Einleitung

dort wertvolles Wissen gesammelt hatten, das sie in ihren eigenen Betrieben anwenden konnten.10 Die zweite Gruppe, die ein in gewisser Weise berufliches Interesse an der Fabrik und den Vorgängen in ihrem Innern hatte, bestand aus Sozialreformern, die durch die persönliche Erfahrung in der Lebenswelt der Arbeiterschaft versuchten, Wissen, das heute als ethnografisch eingestuft würde, für ihre reformerische Praxis zusammenzutragen. Der Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels, der eigentlich ebenfalls zur Weiterbildung und Vorbereitung auf die Arbeit im väterlichen Betrieb in verschiedene englische Fabriken geschickt worden war, entwickelte sich durch die Erlebnisse vor Ort zu einem der ersten Sozialreformer und veröffentlichte im Anschluss 1845 sein Hauptwerk Die Lage der arbeitenden Klasse in England mit dem Untertitel Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen. Welche Motive aber führten gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend Besucherinnen und Besucher – ‚Fremde‘ im Duktus der Unternehmen –11 jenseits solcher konkreter Interessen an den Ort industrieller Fertigung? Eine einfache, aber leicht nachzuvollziehende Erklärung, zumindest in Bezug auf die Stätten der Großindus­trie, wäre die, dass es die reine Neugier war, zu erfahren, was sich hinter den zumeist hohen Mauern und geschlossenen Werkstoren der ‚verbotenen Stadt‘ ereignete. Diese Neugier, unbekanntes Terrain zu erkunden, insbesondere wenn die Geräusche oder Rauch und Feuerschein aus der Fabrik die Fantasie beflügelten, regt auch heute noch zu Besuchen von Indus­trieanlagen an.12 Eine solche Begründung kann jedoch allenfalls ein erster Anhaltspunkt sein für die Suche nach tiefergehenden Motiven, die ebenso von generellen, durch die menschliche Natur bestimmten Zusammenhängen, wie von speziellen gesellschaftlichen und zeitlichen Umständen bestimmt wurden und werden. Die Fabrik, die Vorgänge und Menschen in ihrem Inneren, waren etwas Fremdes, etwas 10 Vgl. Klaus Herrmann: Ingenieure auf Reisen. Technologieerkundung, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 297–304, hier S. 303. 11 Die Firma Stollwerck führte beispielsweise ein „Fremdenbuch“, das alle externen Personen, die Zutritt zum Werk erhielten, auflistete: Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3. Die Firma Krupp führte eine genau zu protokollierende „Fremdenführung“ durch: Protokolle von Fremdenführungen bei der Firma Krupp, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1. Und auch die Firma Bayer sprach bei Besichtigungen ihrer Fabrikanlagen durch auswärtige Besucherinnen und Besucher von „Fremdenführungen“: Direktion, Rundschreiben, Dezember 1903, BA, Bestand: 221-2 – Sozialabteilung Leverkusen; Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen, [Sept. 1909], vgl. auch BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). 12 Vgl. Fleiß/Strelow, Urlaub im Schatten des Förderturms, S. 228; Silke Röllinghoff: „Zollverein muss kompromisslos gut werden“ oder: „Vergangenheit hat Zukunft“, in: Schwarz, Industriekultur, Image, Identität, S. 261–307, hier S. 302f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

14

Einleitung

Unbekanntes, mit dem die Personen aus der Welt außerhalb des Werkes umzugehen versuchten. Das Fremde, ob nun in der Form der Arbeiterschaft, von Maschinen oder Produktionsverhältnissen in der Fabrik oder in irgendeiner anderen Art des Unbekannten, regte dazu an, die eigene Identität näher zu bestimmen. Im Blick auf das Fremde gewann das Eigene Kontur. Diese anthropologische Grundkonstante der Definition des Eigenen durch die Abgrenzung vom Anderen schlug sich in jeder Zeit und Gesellschaft in unterschiedlichen Fremdheitsdiskursen und gesellschaftlichen Praktiken nieder.13 Die Dichotomie zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ bestand im 19. Jahrhundert beispielsweise zwischen ‚Männern‘ und ‚Frauen‘‚14 ‚zivilisierten‘ und ‚wilden‘ Völkern,15 zwischen ‚normalen‘ Menschen und ‚Freaks‘16 oder zwischen ‚Bürgern‘ und ‚Arbeitern‘,17 wobei die Erstgenannten jeweils diejenigen waren, die das Verhältnis deuteten und das ‚Fremde‘ definierten. Gerade das Bürgertum bedurfte dieser Selbstdefinition durch die Abgrenzung, die Distinktion vom Anderen, speziell vom ‚Arbeiter‘ als dem gesellschaftlich Anderen. Denn beim Bürgertum des späten 19. Jahrhundert handelte es sich nicht mehr um eine Gruppe innerhalb einer Ständegesellschaft, die sich durch ein gemeinsames ständisches Recht ausgezeichnet hätte, noch bildete es eine Klasse der Industriegesellschaft, die durch ihre einheitliche Marktlage abgegrenzt gewesen wäre.18 Stattdessen definierte 13 Vgl. zur Differenz zwischen dem Fremden und dem Eigenen als anthropologischer Grundkonstante Ortfried Schäffter (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991. Vgl. zur Theorie der Selbstdefinition durch Distinktion vor allem Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique Sociale du Jugement, Paris 1979. 14 Vgl. zum bürgerlichen Geschlechterdiskurs Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48, hier S. 22. 15 Vgl. etwa Urs Bitterli: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnungen, München 1976. 16 Vgl. Robert Bogdan: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago, IL/London 1990, insbes. S. 6, 95, 105–107; Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Berlin 2011, insbes. S. 15–64. 17 Vgl. als vergleichende Betrachtung dieser beiden Gesellschaftsgruppen Jürgen Kocka (Hrsg.): Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986. 18 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. überarb. Aufl., Tübingen 1976, S. 531–540. Vgl. auch Rudolf Vierhaus: Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 64–78, hier S. 64, vgl. Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders., Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 21–63, hier S. 41.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

15

Einleitung

sich das Bürgertum durch gemeinsame Wertvorstellungen und Gesellschaftskonzepte, Gebilde, die ständig verhandelt werden mussten, wodurch diese Gruppe fortwährend unter dem Druck stand, die eigene Identität neu zu bestimmen. Diese an sich schon unsichere Lage, in der sich das Selbstbewusstsein des deutschen Bürgertums grundsätzlich befand, wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch eine gesellschaftliche Umbruchsituation in eine noch prekärere überführt, als das Bürgertum in eine Identitätskrise geriet. Ihr zugrunde lag zunächst einmal eine allgemeine Krise der Gesellschaft, für die Ernst Bloch 1935 den Begriff der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“19 prägen sollte. Damit meinte er den Zustand von wirtschaftlichem und technischem Fortschritt sowie rationaler Lebenseinstellung bei gleichzeitigem politischen Konservativismus und mentaler Modernitätsverweigerung, in dem sich die Kräfte des Status quo und des Fortschritts blockierten. Dieses Phänomen traf alle gesellschaftlichen Gruppen des Kaiserreichs und führte zu einer allgemeinen Krisenstimmung, die – so eine verbreitete Deutung in der Forschung – den Weg in den Ersten Weltkrieg ebnete.20 Für das Bürgertum im Besonderen stellte sich diese Zeit als noch viel problematischer dar.21 Denn von der gescheiterten ‚bürgerlichen‘ Revolution 1848/49 an habe der Liberalismus, so die einhellige Meinung der historischen Bürgertumsforschung, und mit ihm die Idee der bürgerlichen Gesellschaft an gesellschaftlicher Deutungsmacht verloren. Mit der Nationalstaatsgründung durch die etablierte politische Obrigkeit sei der Liberalismus, so argumentiert etwa Hans-Ulrich Wehler, dann politisch völlig ins Abseits gedrängt worden.22 Lediglich auf wirtschaftlichem Gebiet habe sich der freiheitliche Gedanke noch behaupten können, er sei letztlich aber durch die Gründerkrise zwischen 1873 und 1879, die die Zeitgenossen auf die ungezähmten Kräfte des freien 19 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962 (Erstausgabe 1935). 20 Vgl. Gunther Mai: Der Erste Weltkrieg, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Scheidewege der deutschen Geschichte. Von der Reformation bis zur Wende 1517–1989, München 1995, S. 159–170, hier S. 159. 21 Hier wird der Annahme einer Krise des Bürgertums nach 1918, in der es breiten Teilen der Mittelklassen unter den Einwirkungen von Krieg und Inflation nicht mehr möglich gewesen sei, die Standards eines bürgerlichen Lebensstils aufrecht zu erhalten, vgl. Michael Schäfer: Bürgertum in der Krise, Göttingen 2003, S. 402, insofern widersprochen, dass nicht erst von einer Krise durch die Entwicklungen in der Weimarer Republik ausgegangen, sondern der Beginn einer Krise des Bürgertums schon in der Zeit vor der Jahrhundertwende verortet wird. Diese Tatsache bestreitet zwar nicht die krisenhafte Situation in der Zwischenkriegszeit, gibt ihr aber einen anderen Stellenwert und zum Teil andere Wurzeln. 22 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Wie „bürgerlich“ war das Deutsche Kaiserreich?, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 243–280, hier S. 271. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Thomas Nipperdey in seiner Epochendarstellung der deutschen Geschichte, vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 314–331.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

16

Einleitung

Marktes zurückführten, ebenso diskreditiert worden wie zuvor sein politisches Pendant. Im Zuge dieser Entwicklungen habe das Bürgertum nicht nur seine politischen Einflussmöglichkeiten und einen Teil seiner wirtschaftlichen Potenz, sondern vor allem einen seiner bedeutendsten ideologischen Stützpfeiler verloren. Hinzu kam die zwar tatsächlich existierende, subjektiv aber um ein Vielfaches stärker empfundene Bedrohung der eigenen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Position durch die unterlegene Schicht der Industriearbeiterschaft und die überlegene des Adels. Während die schiere Masse der Arbeiterschaft und ihr steigender Organisationsgrad, verbunden mit entsprechenden Forderungen nach mehr Rechten und Mitbestimmung, ein Gefühl der Einschüchterung auslöste, gab die konservative Führungsschicht dem Bürgertum zunehmend ein Gefühl der (politischen) Ohnmacht.23 Ein anschauliches Beispiel für diese Vorgänge liefert die Mehrgenerationen-Studie über die Wirts- und Kaufmanns­ familie Bassermann von Lothar Gall, der die Ereignisse des ökonomischen Abstiegs und das berufliche Versagen vieler Familienmitglieder sowie den Verlust ökonomischer und politischer Unabhängigkeit durch Großkonzernbildung und politische Massenorganisationen als Merkmale des Niedergangs oder sogar der Krise interpretiert.24 Dieses Krisenbewusstsein, das Gall für die Familie Bassermann exemplarisch nachgewiesen hat, führte, so kann man für weite Teile dieser Schicht annehmen, zu einem Gefühl des partiellen Verlustes der Individual- und der Gruppenidentität. Verstärkte Akte der Selbstdefinition waren in dieser Situation vonnöten, wozu auch die Distinktion vom ‚Anderen‘, vom ‚Fremden‘, gehörte. Eine Möglichkeit, diese Abgrenzung zu verstärken, wurde, so die hier zugrundegelegte Überlegung, durch touristische Praktiken eröffnet. Reisen an sich war für das Bürgertum um 1900 nichts Neues mehr. Das Reisen hatte als Teil des bürgerlichen Tugendkatalogs, als Mittel zur Bildung und Persönlichkeitsformung seit der Entstehung dieser Sozialformation einen besonderen Stellenwert.25 Durch die Erfahrung der Weite und Vielfalt von Natur und Gesellschaft, durch das Erlebnis von Kultur im engeren Sinne und durch Kontakte zu weltgewandten Persönlichkeiten sollte die innere und äußere Ausbildung des ‚Bürgers‘ auf eine Weise vervollkommnet werden, wie sie ohne die Reise nicht möglich gewesen wäre. Mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Verbreitung des Reisens entwickelte sich das originäre Erlebnis jedoch immer mehr zum vorgefertigten Ereignis und zum bürgerlichen Statussymbol: Der ‚Tourist‘ war geboren.26 Sein optisches Erkennungs23 Vgl. Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim/München 1986, S. 46. 24 Vgl. Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland, Berlin 2000, S. 440–465. 25 Vgl. Vierhaus, Der Aufstieg des Bürgertums, S. 66. 26 Zur Begriffserklärung und Differenzierung zwischen dem Reisenden und dem Touristen vgl. Kapitel 2.1.3. und Kapitel 3.2.1.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

17

Einleitung

merkmal war, so das Klischee, das aufgeschlagene Baedeker-Reisehandbuch vor der Nase, das ihm vorgab, was wie zu betrachten sei und es damit erst zum touristischen Objekt machte. Der touristische Blick, den das Reisehandbuch vorgab, erschien als ein umfassendes Phänomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Durch diesen Blick, der gleichermaßen auf unbekannte geografische Gegebenheiten wie beispielsweise die Alpen, auf unbekannte Tiere und Menschen aus entfernten Ländern oder auf besonders gefertigte Waren ebenso wie – was im Folgenden genauer untersucht werden soll – auf die Arbeiterin und den Arbeiter in der Fabrik fallen konnte, rückte die Inszenierung des Betrachteten in den Vordergrund, während sein Charakter an sich oder seine ursprüngliche Bestimmung in den Hintergrund geriet.27 Der reale Raum, dessen Durchmessen für das Reisen noch konstitutiv gewesen war, trat dabei in seiner Bedeutung hinter einen neu erschaffenen Raum zurück, der nur auf einer mentalen Ebene existierte. Die Touristinnen und Touristen mussten nur noch kommen und sehen, und zwar nicht die Wirklichkeit, sondern die – touristische – Attraktion. Für diese Art des Sehens lassen sich im 19. Jahrhundert eine Unmenge von Beispielen finden: die ‚zoologische Schaulust‘28 im Tierpark, der Blick, der auf ‚gezähmte Wilde‘29 in Völkerschauen fiel, die neugierige Betrachtung der Ausgestoßenen der Gesellschaft in ‚Irrenanstalten‘, Zuchthäusern und Gefängnissen.30 Dabei bestanden die Betrachtenden zwar stets darauf, dass es sich eben nicht um bloße Schaulust handele, sondern dass dem Ganzen ein Bildungswert zugrunde liege.31 Die Verwandtschaft dieser Inszenierungen zu der in den ebenfalls zu jener Zeit aufkommenden Kaufhäusern mit ihren Schaufenstern32 offenbart aber etwas anderes: Der Bildungsgedanke hatte zumindest zu einem guten Teil nur den Zweck der 27 Vgl. für den Inszenierungscharakter gesellschaftlicher Handlungen Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung, in: dies. (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität (Theatralität, Bd. 1), 2. Aufl., Tübingen 2007, S. 9–28. 28 Christina Wessely: „Künstliche Tiere etc.“. Zoologische Schaulust um 1900, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, Bd. 16, Nr. 2, 2008, S. 153–182. Vgl. Utz Anhalt: Tiere und Menschen als Exoten. Die Exotisierung des „Anderen“ in der Gründungsund Entwicklungsphase der Zoos, Saarbrücken 2008. 29 Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940, Frankfurt am Main 2005. 30 Harro Zimmermann: Irrenanstalten, Zuchthäuser und Gefängnisse, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 207–213. 31 Vgl. zu diesen beiden Konzepten Christopher B. Balme: Schaulust und Schauwert. Zur Umwertung von Visualität und Fremdheit um 1900, in: Hans-Peter Bayerdörfer/Bettina Dietz/Frank Heidemann/Paul Hempel (Hrsg.): Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 63–78. 32 Christina Wessely verweist auf diese Verwandtschaft, indem sie das Warenhaus und das Tierhaus vergleichend in den Blick nimmt, vgl. Wessely, „Künstliche Tiere etc.“, S. 168.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

18

Einleitung

Rechtfertigung der Schaulust, seine Betonung diente zur Festigung der eigenen Identität in dem touristischen Erlebnis. In diesem Sinne kann auch der Fabrikbesuch als touristische Handlung gedeutet werden. Es gilt zu untersuchen, ob und wenn ja wie die Umwandlung des Arbeitsortes Fabrik in eine touristische Attraktion einen neuen touristischen Raum entstehen ließ, durch dessen Konstruktion und Rezeption sich das Bürgertum in einer als für die gesellschaftliche Gruppe krisenhaft empfundenen Zeit gegen den Adel wie gegen die Arbeiterschaft abgrenzen konnte. Was die Besucherinnen und Besucher in der Fabrik erleben konnten, wie sie es deuteten und zu welchem Zweck diese Praktik angewandt wurde, steht im Folgenden im Mittelpunkt. Wurde mehr gesehen als die für den Laien oft undurchschaubaren Produktionsvorgänge? Sollte das zutreffen, dann erlebten die Industrietouristin und der Industrietourist eine Inszenierung, in der die Beschäftigten der Fabrik wie die ‚Wilden‘ in den Völkerschauen und die Tiere im Zoo zum Objekt der Schau wurden. Um das Innere der Fabrik durch die Augen der Industrietouristin und des Industrietouristen zu erkunden und dadurch zugleich die mentalen Räume, die die Bürger und Bürgerinnen bei ihrem Besuch erschufen, zu durchmessen, muss in einem ersten Schritt festgestellt werden, wie und warum touristische Räume im 19. Jahrhundert allgemein entstanden und welchen Charakter sie hatten. Sodann gilt es, nach den Spuren zu fragen, die die Touristinnen und Touristen hinterließen und aus denen man ihre Erlebnisse nachvollziehen kann. Welche Quellen lassen heute das Erlebnis des Fabrikinneren vor 150 Jahren wiedererstehen? Welche Überreste verweisen auf das Innere des mentalen Raumes, den das Bürgertum mit dem Fabrikbesuch konstruierte? Damit die Touristinnen und Touristen des späten 19. Jahrhunderts die Fabrik überhaupt als touristische Attraktion entdeckten, bedurfte es bestimmter gesellschaftlicher Zusammenhänge, in denen die Fabrikbesucherinnen und Fabrikbesucher als Mitglieder des Bürgertums standen. Ein Überblick über die Zusammensetzung und Situation des Bürgertums im späten 19. Jahrhunderts kann Aufschluss darüber geben, wie es um die führende Gesellschaftsgruppe des ‚bürgerlichen Jahrhunderts‘ am Ende dieses Zeitalters bestellt war. Insbesondere die kulturelle Praktik des Reisens spielte in dieser Zeit für diese Schicht eine bedeutende Rolle. Welchen Zweck verfolgten die bürgerlichen Touristen und – in Anlehnung oder in Abgrenzung zu ihnen – auch die Touristinnen mit der Erkundung von unbekannten Landstrichen, Tieren und Völkern? Entwickelten sie dabei ritualisierte Praktiken, die möglicherweise dazu beitrugen, das Phänomen des Industrietourismus vorzuzeichnen? Welche anderen Interessen des Bürgers – und in gewissem Maße der Bürgerin – verwiesen auf die Fabrik als Objekt der Neugier? Die allgemeine Begeisterung für Wissenschaft und Technik speziell im Bürgertum, so lässt sich vermuten, rückten die Fabrik

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

19

Einleitung

als Ort der Technik schlechthin in den Blick dieser Gesellschaftsgruppe. Gleichzeitig war eine positive Einstellung der Unternehmensleitung gegenüber dem öffentlichen Interesse an ihren Produktionsstätten nötig, um aus dem reinen Interesse einen Besuch werden zu lassen. Woraus resultierte diese offenbar vorhandene Einstellung der Unternehmer? Populäre Medien wie illustrierte Zeitschriften, Postkarten oder Reisehandbücher griffen schließlich die Neugier auf die Fabrik auf und verbreiteten die Idee, eine Fabrik zu besichtigen. Wie sah danach der Schritt in den Fabrikinnenraum aus? Wie viele Touristinnen und Touristen wählten sich überhaupt die Fabrik als Ziel? Woher stammten sie? Wie verhielten sich die Anteile der Geschlechter in dieser Gruppe zueinander? Welche Gründe bewogen sie zu dem Schritt und welche Art von Unternehmen bevorzugten sie? Mit diesen Informationen lässt sich anschließend der mentale Innenraum, der durch die Besichtigung entstand, besser ausmessen. Denn in ihm stellten sich verschiedene Erlebnisse ein, ließen sich jeweils unterschiedliche Bereiche – Produktionsprozess, Maschine und Arbeiterin beziehungsweise Arbeiter – erfahren. Auf den Spuren der Bürgerinnen und Bürger in der Fabrik soll so der Annahme nachgegangen werden, dass der Fabrikbesuch einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsfindung dieser gesellschaftlichen Schicht leistete. Der Arbeitsort Fabrik wurde, so die These, dabei in eine Attraktion umgewandelt, wodurch ein neuer touristischer Raum entstand, in dem sich das Bürgertum jenseits der klassischen, am Adel orientierten Bildungsreise seiner selbst versicherte.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

2. Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage 2.1. Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

Dass Menschen bestimmte Orte oder Ereignisse als touristische Attraktionen begreifen, sie durch ihre Handlungen auf eine Weise inszenieren, die diese in einen neuen Sinnzusammenhang stellt, hängt wesentlich von den jeweiligen Voraussetzungen einer Gesellschaft ab. Um die Fabrik als touristischen Raum deuten zu können, müssen diese unbewussten, jedoch handlungsleitenden Einstellungen sichtbar gemacht und in ihren lebensweltlichen Auswirkungen erkannt werden. Daher soll im Folgenden zuerst das generelle Paradigma der Kulturgeschichte, das der Untersuchung ebensolcher Einstellungen zugrunde liegt, skizziert werden. Sodann gilt es, die sozialen Auswirkungen und den Nutzen unbewussten Wissens zu untersuchen und die Möglichkeit auszuloten, Tourismus als eine solche Auswirkung zu begreifen. Schließlich stellt sich die Frage, wie Interpretationsmodelle für solche Inszenierungen aussehen können.

2.1.1. Kulturgeschichte als Analyse des „selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe[s]“1 des Menschen

Das Verhalten eines einzelnen Menschen oder einer sozialen Gruppe kann nicht allein durch die Analyse politischer Machtverhältnisse und Praktiken, durch die Interpretation von Tabellen zur wirtschaftlichen Entwicklung und durch die Untersuchung von Daten zur sozialen Lage erklärt werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse reichen, obwohl als Kontext unerlässlich, doch nicht aus, die von den Menschen erfahrenen Wirklichkeiten zu erfassen.2 Hierzu muss die Kultur eines Kollektivs, also eines Volkes, einer Schicht, eines Standes, einer Gesellschafts- oder Berufsgruppe in einer bestimmten Zeitspanne und in einem bestimmten Raum in Betracht gezogen werden.3 Die 1 2

3

Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, S. 9. Vgl. für eine eingehendere Beschreibung dieser Methode Kapitel 2.3.1. Vgl. Rudolf Vierhaus: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier, Göttingen 1995, S. 5–28, hier S. 8. Vgl. Peter Dinzelbacher: Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, in: ders. (Hrsg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. XVII–XLIII,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

22

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Kultur umfasst die Gesamtheit der gesellschaftlich konstituierten raum- und zeitbezogenen Werte, Einstellungen und Vorstellungen. Diese bestimmen, ebenfalls als Teil der Kultur, die Lebenswelt als individuell wahrgenommene, selbstverständliche Wirklichkeit und die in ihr möglichen Handlungen.4 Menschen leben in einem „selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe“5 und dieses begründet ihr Verhalten. Um dieses Gewebe zu analysieren, um den ganzen historischen Prozess jenseits zählund messbarer Daten in seiner Tiefe und Breite6 auszumachen, bedarf es einer umfassenden Kulturgeschichte, deren Ziel es ist, durch die Rekonstruktion der Lebenswelt das Verhalten verständlich und erklärbar zu machen.7 Dazu ist es nötig, alle Lebensbereiche des Menschen, sowohl materielle wie geistige Dimensionen, in ihren Vernetzungen zu erfassen.8 Die Kulturgeschichte umfasst und bündelt daher Elemente der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte ebenso wie die der Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Die Ergebnisse der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bilden den Rahmen der

4

5 6

7 8

hier S. XXVIII. Die Aufzählung ließe sich um viele weitere Aspekte wie beispielsweise Geschlecht, Klasse, ethnische Gruppe oder regionale Verortung ergänzen. An dieser Stelle soll nicht die Diskussion über Entwicklung, Stellung und Bedeutung der Kulturgeschichte und der Mentalitätsgeschichte nachgezeichnet oder zu dieser Diskussion Position bezogen, sondern eine Definition nach eigenen Überlegungen geliefert werden. Dabei wurden besonders die Ausführungen bestimmter Autoren und Abhandlungen mit einbezogen: vgl. Volker Sellin: Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift, Bd. 241, H. 3, 1985, S. 555–598; Hagen Schulze: Mentalitätsgeschichte. Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 36, Nr. 4, 1985, S. 247–270; Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 9–16; Thomas Mergel: Kulturgeschichte – die neue „große Erzählung“? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 41–77; Manfred Hettling: Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Peter Lundgreen (Hrsg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 18), Göttingen 2000, S. 319–339, hier S. 319; Dieter Hein/Andreas Schulz: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, München 1996, S. 9–16; Otto Gerhard Oexle: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Hardtwig/Wehler, Kulturgeschichte heute, S. 14–40, hier S. 25–27; Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XVII–XLIII. Geertz, Dichte Beschreibung, S. 9. Vgl. Mergel, Kulturgeschichte, S. 59f. Während Mergel sich mit der Wendung der Breite auf die Ausweitung des Themenspektrums bezieht, will er mit dem analytischen Begriff der Tiefe die Untersuchung um die Dimension von Sinn und Bedeutung erweitern, die jedem menschlichen Handeln zugrunde liege, womit nicht zwingend die Beschäftigung mit neuen Themen verbunden wäre, sondern die Suche nach neuen Zugängen. Vgl. Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten, S. 13. Vgl. Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXXIII.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

23

subjektiv wahrgenommenen Wirklichkeit.9 Dass die Fabriktouristinnen und -touristen Ende des 19. Jahrhunderts zum überwiegenden Teil zum Bürgertum gehörten, dass sie sich in Abgrenzung zum Adel und zur Arbeiterschaft definierten, dass sie in einer Zeit raschen wirtschaftlichen Wandels und in einem obrigkeitsstaatlichen politischen System lebten, war, wie spätere Ausführungen darlegen sollen,10 der Hintergrund, vor dem sich ihre Lebenswelt entfaltete. Wie die Menschen die Realität wahrnahmen und transportierten, offenbaren die Ideen- und die Mentalitätsgeschichte. Dabei ist die Idee „die bewusste[ ] Konstruktion eines individuierten Geistes“, während die Mentalität „die Vorstellungen und Urteile der sozialen Subjekte ohne deren Wissen beherrscht.“11 Als Idee begegnet uns die Vorstellung von der Aufklärung als dem „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“12 und dem daraus resultierenden Konzept einer bürgerlichen Gesellschaft freier und gleicher Individuen. Doch selbst wenn diese grundlegende Idee einen wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung der Lebenswelt des Bürgertums leistete, kann sie doch die subjektive Wirklichkeitswahrnehmung und die daraus folgenden Handlungen des bürgerlichen Menschen nicht vollständig beschreiben und erklären. Darum spielt die Frage nach der Mentalität die bedeutendere Rolle, zumal in ihr immer noch bisher wissenschaftlich ungenutzte Erklärungsmöglichkeiten liegen, speziell im Hinblick auf die Wirklichkeitswahrnehmung und das daraus resultierende Verhalten der Menschen aus dem Bürgertum Ende des 19. Jahrhunderts.13 Das generelle Konzept der Mentalität14 konstatiert in Anlehnung an den Entwurf der ‚Représentations Collectives‘ Émile Durkheims, dass es unbewusste Vorstellungen gibt, auf die durch äußere Erscheinungen, also Verhalten, hingewiesen wird. Diese Vorstellungen entstehen im Miteinander der Individuen und gehen über den Einzelnen hinaus, sind also kollektiv, so das Konzept.15 Die Mentalität eines Menschen ist demnach 9 Vgl. ebd., S. XX. 10 Vgl. Kapitel 3.1. und Kapitel 3.2.1. 11 Roger Chartier: Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten, in: Ulrich Raulff (Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 69–96, hier S. 78. 12 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Berlinische Monatsschrift, Jg. 4, Nr. 12, 1784, S. 481–494, hier S. 481. 13 Vgl. Ulrich Raulff: Vorwort. Mentalitäten-Geschichte, in: ders., Mentalitäten-Geschichte, S. 7–17, hier S. 11. Raulff plädiert für eine Mentalitätsgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, da seiner Meinung nach gerade die Zeit der Jahrhundertwende nach mentalitätsgeschichtlichen Erklärungen verlange, worauf auch das Auftauchen der Begriffe wie ‚Weltbild‘, ‚Welt­anschauung‘, ‚Lebensduktus‘ zu dieser Zeit hindeutete. 14 Zur Begriffsgeschichte vgl. u.a. Jacques Le Goff: Eine mehrdeutige Geschichte, in: Raulff, Mentalitäten-Geschichte, S. 18–33, hier S. 24f. 15 Vgl. Émile Durkheim: Représentations Individuelles et Représentations Collectives, in: Revue de Metaphysique et de Morale, Bd. 6, 1898, S. 273–302.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

24

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

eine „geistig-seelische Disposition“,16 die als unmittelbare Prägung durch die soziale Lebenswelt entsteht und ihrerseits die subjektive Wirklichkeit beeinflusst. Dabei ist sie, zumindest im Verhältnis zu den klarer formulierten Ideen, relativ unbewusst.17 Auf den Konnex zwischen dem Konzept der Mentalitäten in der Geschichtswissenschaft und dem eines vortheoretischen Wissens der Soziologie verweist der Historiker Alexander Schmidt, indem er beide Phänomene als un- oder teilbewusste Deutungsmuster erkennt, die Wissensgemeinschaften mit speziellen Wirklichkeitsmodellen erschaffen.18 Nicht aus innerer Freiheit bewege sich das Individuum auf diese oder jene Weise in der sozialen Welt, sondern es sei bestimmt durch vorab formierte Denk- und Handlungsdispositionen, die es implizit mit seiner Vergesellschaftung aufnehme. Auf diese Weise, so die Kernannahme der Wissenssoziologie, entstehe Wirklichkeit als gesellschaftliche Konstruktion.19 Wie sich jemand in bestimmten Situationen verhält und warum er dieses Verhalten an den Tag legt, hängt also von gruppenspezifischen, unbewussten Einstellungen – Mentalität, vortheoretischem Wissen – ab. Das Verhalten resultiert aus der inneren Haltung und macht diese Haltung sichtbar. Das jeweils gruppenspezifische Bündel vortheoretischen, unbewussten, durch die Vergesellschaftung vermittelten Wissens, das bestimmte Verhaltensweisen evoziert, bezeichnet die Soziologie als den Habitus, der schließlich einen spezifischen Lebensstil als Bündel symbolischer Praktiken konstituiert.20 Der Habitus generiert mit dem Lebensstil Schemata, die der Wahrneh16 Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1967 (Erstausgabe 1932), S. 77. 17 Vgl. Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 561; Le Goff, Eine mehrdeutige Geschichte, S. 21; Peter Burke: Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: Raulff, Mentalitäten-Geschichte, S. 127–145, hier S. 127. 18 Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997, S. 21f. 19 Vgl. Peter Berger/Thomas Luckman: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 20. Aufl. (unveränderter Abdruck der 5. Auflage 1977), Frankfurt am Main 2004 (amerikanische Erstausgabe 1967), S. 16. Mit der Kernaussage, Wirklichkeit sei eine gesellschaftliche Konstruktion, stimmt die Wissenssoziologie im Übrigen mit der Diskurstheorie überein, vgl. Nikolas Coupland/Adam Jaworski: Discourse, in: Paul Cobley (Hrsg.): The Routledge Companion to Semio­tics and Linguistics, London 2001, S. 134–148, hier S. 134f. 20 Vgl. Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique Sociale du Jugement, Paris 1979, S. 189f. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Max Weber und Werner Sombart, die die Ausdrücke ‚Gesinnung‘, ‚Geist‘, ‚Lebensführung‘ und ‚Ethos‘ verwendeten. Vgl. Werner Fuchs-Heinritz/Alexander König: Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz 2005, S. 134, 181. Vgl. zusammenfassend zum Habitus-Begriff Ulrike Heß-Meining: Der Habitusbegriff. Ein soziologischer Ansatz zur Erfassung kollektiver Charaktere, Identitäten, Mentalitäten, in: Heinz Hahn (Hrsg.): Kulturunterschiede. Interdisziplinäre Konzepte zu kollektiven Identitäten und Mentalitäten, Frankfurt am Main 1999, S. 199–216. Die Chancen und Risiken, eine soziologische Theorie, und insbesondere das Habitus-Konzept Bourdieus, für die Geschichtswissenschaft nutzbar zu machen, diskutieren Ingrid Gilcher-Holtey und Olivier

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

25

mung, Ordnung und Interpretation der sozialen Wirklichkeit dienen und zum Handeln anleiten. Aufgrund des Habitus sind die Menschen in der Lage, an der sozialen Praxis teilzunehmen und selbst soziale Praxis hervorzubringen.21 Während lange Zeit in der dominierenden Forschungsrichtung der Mentalitätsgeschichte davon ausgegangen wurde, dass sich Mentalitäten relativ langsam veränderten,22 geht vorwiegend der Forschungszweig, der das Konzept für die Neuere und Neueste Geschichte nutzbar machen möchte, ebenso von der Existenz mittlerer und kurzer Mentalitäten aus. Er bezeichnet das industrielle Zeitalter als „Zeitalter der Beschleunigung des Mentalitätswandels“,23 in dem das Entstehen und das Vergehen von Mentalitäten in verhältnismäßig engen zeitlichen Zusammenhängen mit gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen gleichzusetzen seien,24 was dem vorgestellten Konzept der umfassenden Kulturgeschichte entspricht. Danach sei sogar davon auszugehen, dass Mentalitäten in einem bestimmten Punkt der Geschichte, zum Beispiel in einer politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Krise, manifest würden.25 In diesem Zusammenhang ist zusätzlich von Bedeutung, dass Mentalitäten nicht nur durch serielle Auswertungen quantifizierbarer Daten zu erfassen sind, wie vorwiegend von der Annales-Schule praktiziert,26 sondern ebenso durch mit hermeneutischen Methoden durchgeführte Fallstudien.27 Diese beiden grundsätzlichen Erkenntnisse deuten die

21

22

23 24 25 26 27

Christin ausführlich. Vgl. Olivier Christin: Geschichtswissenschaften und Bourdieu, in: Catherine Colliot-Thélène/Etienne François/Gunter Gebauer (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Deutsch-französische Perspektiven, Berlin 2005, S. 195–207; Ingrid Gilcher-Holtey: Gegen Strukturalismus, Pansymbolismus und Pansemiologie. Pierre Bourdieu und die Geschichtswissenschaft, in: Colliot-Thélène/ François/Gebauer, Pierre Bourdieu, S. 179–194. An das Habitus-Konzept erweist sich auch die Diskurstheorie als anschlussfähig, geht sie doch davon aus, dass das den Habitus konstituierende Wissen durch Diskurs erzeugt werde und wiederum diskursive Praktiken hervorbringe, vgl. Coupland/ Jaworski, Discourse, S. 140. Vgl. Pierre Bourdieu: Soziologie symbolischer Formen, Frankfurt am Main 1991, S. 143; Werner Georg: Lebensstile in der Freizeitforschung. Ein theoretischer Bezugsrahmen, in: Christiane Cantauw (Hrsg.): Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Bd. 88), Münster/New York, NY 1995, S. 13–20, hier S. 14–18; Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 113f. Vgl. z.B. Le Goff, Eine mehrdeutige Geschichte, S. 23. Le Goff gibt einen anschaulichen Einblick in die Auffassung der Annales-Schule, die als quantifizierende Wirtschafts-, Sozial- und Bevölkerungsgeschichte mithilfe von aus großen Quellenmassen isolierten Datenreihen langfristige Strukturen und Konjunkturen sichtbar zu machen suchte. Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, S. 585. Vgl. ebd., S. 565, 589; Schulze, Mentalitätsgeschichte, S. 256f. Vgl. Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXVIII. Vgl. Anm. 22. Michel Vovelle: Serielle Geschichte oder „Case studies“. Ein wirkliches oder nur ein ScheinDilemma?, in: Raulff, Mentalitäten-Geschichte, S. 114–126.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

26

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Möglichkeit an, Mentalitäten, vortheoretisches Wissen, aus der beispielhaften Analyse des Verhaltens einzelner Individuen in einem relativ kurzen Zeitraum zu rekon­struieren. Damit erst eröffnet sich eine Möglichkeit, das im späten 19. Jahrhundert zunehmend zu beobachtende Phänomen, eine Fabrik ohne erkennbares berufliches Ziel zu besuchen, auf der Basis eines dieser Handlung zugrunde liegenden vortheoretischen Wissens zu deuten. Hierzu erweisen sich Überlegungen als fruchtbar, die die Fabrik nicht nur als absoluten, dinglichen Raum verstehen, in dem ein Produktionsvorgang stattfindet, sondern sie darüber hinaus als einen relativen Raum begreifen, der erst durch soziale Operationen konstituiert wird.28 Die Fabrik kann so nicht nur als Produktionsort untersucht werden, sondern ebenso als Ort sozialer Beziehungen und sozialen Handelns und, um der weiteren Untersuchung vorzugreifen, als mental konstruierter Raum, als Erlebnis.

2.1.2. Die Konstruktion von Wissensräumen

Die in der Neuzeit hauptsächlich auf den Erfolgen der Naturwissenschaft fußende Sichtweise, dass es einen absoluten, von Gott gegebenen Raum gebe,29 dominierte lange auch die moderne Sozial- und nicht minder die Geschichtswissenschaft.30 Gegen dieses Konzept eines Raumes als reine Hülle rückte speziell der französische Philosoph Henri Lefebvre in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in entscheidendem Maße die Produktion von Raum als das Ergebnis sozialer Praxis in den Blick.31 Nach Lefebvre 28 Die folgenden Überlegungen sind teilweise beeinflusst vom so genannten ‚spatial turn‘ der Geistesund Gesellschaftswissenschaften in den letzten drei Jahrzehnten, durch den neben der zeitlichen Dimension Raumvorstellungen als wirkmächtige Faktoren in der Gesellschaft wahrgenommen werden, vgl. hierzu allgemein Doris Bachmann-Medick: Spatial Turn, in: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe, 4. Aufl., Stuttgart 2008, S. 664–665; Jörg Döring: Spatial Turn, in: Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdiszi­plinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 90–99; Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. Vgl. für Überlegungen zum ‚spatial turn‘ in der Geschichtswissenschaft Simon Gunn: The Spatial Turn. Changing Histories of Space and Place, in: ders./Robert J. Morris (Hrsg.): Identities in Space. Contested Terrains in the Western City since 1850, Aldershot 2001, S. 1–14. Vgl. zur Kritik am ‚spatial turn‘ Roland Lippuner/Julia Lossau: Kritik der Raumkehren, in: Günzel, Raum, S. 110–119. 29 Vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2009, S. 33–39, 44. 30 Vgl. für die Sozialwissenschaften die Zusammenfassung von Schroer, ebd., S. 46f. Für die Geschichtswissenschaft ist die Verwendung von Raumkonzepten bisher nicht systematisch untersucht worden. 31 Vgl. Henri Lefebvre: La Production de l’Espace, Paris 1974. Bereits einige Jahre vor Lefebvre hatte sich Michel Foucault mit Räumen beschäftigt, die nicht rein geografisch definiert waren, sondern

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

27

existiert Raum nicht einfach, sondern wird erst durch soziale Beziehungen konstituiert: „L’espace (social) est un produit (social).“32 Ein ähnliches Konzept, das Raum als Ausdruck sozialer Beziehungen begreift, findet sich bei Pierre Bourdieu. Nach Bourdieu existiert soziale Realität zweimal: in den Dingen und in den Köpfen, außerhalb und innerhalb der Akteure, auf der Ebene der objektiven Gegebenheiten und der symbolischen Repräsentationen. Auf der objektiv-materiellen Ebene entscheidet der Besitz an ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital, auf der Ebene der symbolischen Repräsentation finden symbolische Praktiken als Ausdruck von Lebensstilen statt.33 Entscheidend ist an der Stelle, dass dieser Raum der symbolischen Repräsentationen als völlig unabhängig von jedem materiellen Raum verstanden werden kann. Denn während der soziale Raum, den Lefebvre beschreibt, durchaus Bezüge zur materiellen Welt besitzt, sie zum Teil erst in ihrer jeweiligen Form erschafft – beispielsweise durch die Städteplanung –, erscheint der Raum, der durch symbolische Praktiken entsteht, als losgelöst von materiellen Objekten, da er nur noch im Bewusstsein der ihn erschaffenden Akteure existiert. Wenngleich Bourdieu diese Besonderheit des Raumes als Element der symbolischen Repräsentation selbst nicht eigens herausarbeitet, so ist er doch in der hier vorgestellten Lesart in die Nähe neuester extrem zugespitzter Überlegungen zu rücken, in denen Raum allein als kognitives Schema interpretiert wird, als „eine Konstruktion psychischer (Bewusstseins-)Systeme, die operativ keinen Umweltkontakt haben.“34 Der Sozialgeograf Andreas Pott stützt die in sozialen Interaktionen mit Sinn versehen werden. Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien, in: ders. (Hrsg.): Die Heterotopien; Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main 2005 (französische Erstausgabe 2004), S. 9. Foucault bezeichnete damit jedoch nicht rein mentale Konstrukte, sondern ganz konkrete Orte wie Gärten, Friedhöfe oder Gefängnisse, die lediglich eine weitergehende gesellschaftliche Bedeutung zugewiesen bekommen. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. auch ders.: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, 7. Aufl., Leipzig 2002, S. 34–46. Die Überlegung, dass Raum durch das Verhalten der Menschen konstituiert werde, lässt sich im Übrigen auch in Anlehnung an die Theorie des ‚Doing Gender‘ nach Judith Butler ableiten, so geht die Soziologin Gillian Rose davon aus, dass der Entstehung von Raum ein perfomatives ‚Doing Space‘ zugrunde liege, vgl. Gillian Rose: Performing Space, in: Doreen Massey/John Allen/Philip Sarre (Hrsg.): Human Geography Today, Cambridge/Oxford 1999, S. 247–259. 32 Lefebvre, La Production de l’Espace, S. 39. Vgl. auch Pitrim A. Sorokin: Sociocultural Causality, Space, Time. A Study of Referential Principles of Sociology and Social Science, New York, NY 1964, insbes. S. 114–156; Laura Kajetzke/Markus Schroer: Sozialer Raum, in: Günzel, Raum, S. 192–203. 33 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: Kulturelle und symbolische Praktiken. Das Unternehmen Pierre Bourdieu, in: Hardtwig/Wehler, Kulturgeschichte heute, S. 111–130, hier S. 115. Für weitere Ausführungen zu den verschiedenen von Bourdieu definierten Kapitalsorten vgl. z.B. Fuchs-Heinritz/König, Pierre Bourdieu, S. 157–171. 34 Andreas Pott: Orte des Tourismus. Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung, Bielefeld 2007, S. 29.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

28

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

sich in Anlehnung an die soziologische Systemtheorie nach Luhmann35 auf die Annahme, dass soziale Systeme keine räumlich-materielle, sondern eine völlig andere, nämlich rein endogen hervorgebrachte Form von Grenze hätten, weswegen die von ihnen hervorgebrachten Räume ebenfalls nur im Bewusstsein existieren könnten. Folglich lasse sich kein wie auch immer gearteter gegenständlicher Raum hinter einer Konstruktion des Mediums Raum annehmen. Stattdessen seien Räume ausschließlich als Formen zu verstehen, die von den Beobachtenden hergestellt würden.36 Selbst wenn man von derart radikalen Überlegungen absieht und davon ausgeht, dass mentale Räume letztlich doch auf einen realen geografischen Raum bezogen sind, stellt sich die Frage nach ihrer Entstehung und den Grundlagen ihrer Konstruktion. Antworten liefert das bereits vorgestellte Konzept der Mentalität beziehungsweise des vortheoretischen Wissens, das der Mensch mit seiner Vergesellschaftung aufnimmt und das seine Wirklichkeitswahrnehmung bedingt. Betrachtet man in Fortführung dieses Ansatzes Wirklichkeit als einen Bewusstseinsraum, in dem sich eine Gesellschaft oder soziale Gruppe bewegt, so lässt sich vermuten, dass ein solcher Bewusstseinsraum durch das (vortheoretische) Wissen der jeweiligen Gruppe in Diskursen determiniert, strukturiert oder mitunter in seinen besonderen Bedingungen erst geschaffen wird.37 Man kann diesen Raum daher als eine Art Wissensraum bezeichnen. Eine Situation, ein Ereignis wird von einem Individuum basierend auf seinem Wissen auf eine spezielle Weise wahrgenommen, es werden jeweils bestimmte Annahmen getroffen und es wird ein bestimmtes Verhalten an den Tag gelegt. Der Besuch einer Kirche zu einem Gottesdienst setzt voraus, dass der Mensch das Wissen um die Existenz einer transzendenten höheren Macht und deren angemessener Anbetung besitzt. Dann erst kann er das Gebäude als sakralen Ort erkennen und die Vorgänge im Gottesdienst als heilige Handlungen. Der Mensch wird zum Gläubigen, der sich entsprechend zu verhalten weiß, der nicht an unangebrachten Stellen laut spricht oder sich auf unangemessenen Wegen durch das Kirchenschiff bewegt, sondern an den entsprechenden Stellen niederkniet oder das Kreuzzeichen schlägt. Auf vergleichbare Weise, so die Vermutung, werden bestimmte geografische Räume als touristische Räume konstituiert. 35 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987 (französische Erstausgabe 1984). 36 Vgl. Pott, Orte des Tourismus, S. 28, 38. 37 Die gesellschaftliche Konstruktion von Räumen auf diskursiver Basis als wichtiger Bestandteil des Sozialen rückt in den letzten Jahren immer stärker in der Humangeografie ins Blickfeld, vgl. Anke Strüver: Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie, in: Georg Glasze/ Annika Mattissek (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeografie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld 2009, S. 61–82, hier S. 62.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

29

Mit dieser Feststellung, dass Menschen sich in Bewusstseinsräumen bewegen, die durch ihr Wissen determiniert sind, ist der Weg bereitet für die noch wesentlichere Frage nach den Gründen und Bedingungen der Entstehung solcher Räume. Wie, wann und warum wurden und werden jeweils bestimmte mentale (Wissens-)Räume hervorgebracht? Der Wissensraum, so haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, strukturiert die Wirklichkeit. Er gibt vor, wie Situationen gedeutet und mit Sinn versehen werden. Dadurch eröffnet er Möglichkeiten, sich der eigenen Identität als Teil einer Gruppe, die einen gemeinsamen Wissensraum konstruieren kann, zu vergewissern.38 Dazu trägt zusätzlich der Umstand bei, dass andere Gesellschaftsgruppen möglicherweise aufgrund fehlenden einschlägigen vortheoretischen Wissens zu diesem Wissensraum keinen Zugang haben. Die Deutung eines Ereignisses oder die Wahrnehmung eines geografischen Raumes ist gruppenspezifisch vorgegeben und kann in vielen Fällen nicht ohne weiteres geteilt werden. Bewusstseinsräume als mentale Konstruktionen erleichtern also die Inklusion von Menschen in eine Gesellschaftsformation ebenso wie ihre Exklusion und die Distinktion einer Formation von einer anderen.39 Bewusstseinsräume können Grenzen zwischen Menschen errichten, die unüberwindbarer sind als jede materielle oder geografische Abgrenzung.40 Das Prinzip der sozialen Schließung und Distanzierung, das in solchen Fällen Anwendung findet, kann unter anderem an die Theorie Pierre Bourdieus angelehnt werden. Mit dem Begriff der Distinktion bezeichnet der französische Soziologe das Phänomen, dass der Drang, sich von anderen zu unterscheiden, als strukturelle Grundbeziehung zwischen verschiedenen Gesellschaftsformationen gelten 38 Diese Annahme wird ebenfalls durch die Diskurstheorie nach Foucault gestützt. Dieser geht davon aus, dass das Subjekt durch Diskurspraktiken konstituiert wird, vgl. u.a. Strüver, Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie, S. 71, Diskurspraktien, so lässt sich ergänzen, die auf Wissen beruhen und den gemeinsamen Wissensraum hervorbringen, vgl. ebd., S. 61. 39 Unter dem Begriff der ‚Formation‘ versteht Rainer Lepsius in Anlehnung an das Konzept der Figuration ein konkretes Beziehungsgeflecht aufeinander angewiesener und voneinander abhängiger Menschen, das nach innen durch eine spezifische Symbolwelt und nach außen durch eine bestimmte Gestalt gekennzeichnet ist. Vgl. M. Rainer Lepsius: Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 8–18, hier S. 8. Vgl. auch Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation, 17. Aufl., Frankfurt am Main 1992 (Erstausgabe 1976), S. 314. Vgl. auch ders.: Was ist Soziologie?, 2. Aufl., München 1971, S. 139–145; ders.: Figuration, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, 9. erw. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 73–76; Roger Chartier: Social Figuration and Habitus. Reading Elias, in: ders. (Hrsg.): Cultural History. Between Practices and Representations, New York, NY 1988, S. 71–94. 40 Vgl. hierzu auch Foucaults Konzept der Heterotopien, das als gesellschaftliche Funktion der Heterotopien den Ein- oder Ausschluss von Menschen in eine Gruppe definiert, vgl. Strüver, Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie, S. 75.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

30

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

kann.41 Der mentale Zweck der Distinktion liegt vorwiegend in der Identitätsbildung für die eigene Gruppe, sie ermöglicht quasi eine Selbstvergewisserung auf emotionaler Ebene, der eine jede gesellschaftliche Gruppe bedarf.42 Die symbolischen Praktiken sind das distinguierende Mittel, dessen Auswirkungen die Forscherin oder der Forscher direkt untersuchen kann, während auf den Wissensraum selbst nur indirekte Rückschlüsse möglich sind. Wie können solche symbolischen Praktiken zur Distinktion aussehen? Nach Bourdieu ist das Mittel zur Distinktion die Verfeinerung, die Ästhetisierung der elementaren Triebe und Bedürfnisse, bei der die Form über der Funktion steht.43 Zugespitzt bedeutet dies eine Stilisierung des Lebens, die zwar in dieser oder jener Form in jeder gesellschaftlichen Gruppe auftreten kann, jedoch umso stärker zutage tritt, je höher die Gruppe in der Gesellschaft steht.44 Überlegungen, wie eine solche Strategie umgesetzt werden könnte, führen zu der Einsicht, dass symbolische Praktiken einen Aufführungscharakter besitzen. Sie fordern eine Inszenierung, die bestimmte performative Akte beinhaltet. Der Inszenierungsbegriff ist in diesem Zusammenhang anthropologisch dahingehend zu deuten, dass sich das Selbstverständnis einer Gesellschaft in inszenierten Akten gegenüber den eigenen Mitgliedern und den Fremden darstellt.45 41 Vgl. vor allem Bourdieu, La Distinction; ders.: Antworten auf einige Einwände, in: Klaus Eder (Hrsg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt am Main 1989, S. 395–410. Bourdieu lehnte sich damit an Max Weber an, indem er dessen Überlegung zur kulturell-symbolischen Dimension aufgreift. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 637–639. Vgl. als inhaltliche Vorläufer Bourdieus auch Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, London 1953 (amerikanische Erstausgabe 1899); Edmund Goblot: Klasse und Differenz. Soziologische Studie zur modernen französischen Bourgeoisie, Konstanz 1994 (französische Erstausgabe 1925). Auf ein historisches Thema übertrug Norbert Elias erstmals die Theorie der Distinktion, indem er die symbolischen Ausdrucksformen gesellschaftlicher Distinktion anhand der französischen Hofgesellschaft des 17. Jahrhunderts untersuchte. Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied 1969. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde der Ansatz immer stärker von Historikern aufgegriffen, so beispielsweise in einem Sammelband von Manfred Hettling und Paul Nolte, vgl. Manfred Hettling/ Paul Nolte (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993. 42 Vgl. dies.: Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 7–36, hier S. 16. 43 Vgl. Bourdieu, La Distinction, S. 199–203. 44 Vgl. Heinz Abels: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, 2., überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 215. 45 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung, in: dies. (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität (Theatralität, Bd. 1), 2. Aufl., Tübingen 2007, S. 9–28, hier S. 9, 19.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

31

In diesen Akten, die in kollektiven Deutungsmustern gründen, schaffen sich die Mitglieder einer Gesellschaft ihre Werteordnung und versichern sich ihrer selbst.46 Ereignisse werden so auf eine bestimmte Weise ausgestaltet und mit einer symbolischen Bedeutung versehen, die über den tatsächlichen Anlass hinausgeht. Der Zweck der Inszenierung liegt in der Distinktion gegenüber denjenigen, die diese Bedeutung und die performativen Akte, die sie transportieren und erzeugen, nicht entschlüsseln können, weil ihnen das entsprechende Wissen fehlt, und in der Inklusion derjenigen, die eben das entsprechende Wissen haben, um die Inszenierung deuten zu können und sie gleichzeitig mit zu tragen. Ein sehr anschauliches Beispiel für eine derartige Inszenierung ist der Tourismus als neues Phänomen des 19. Jahrhunderts, bei dem die Menschen zunehmend nicht mehr nur den geografischen Raum durchmaßen, sondern mit ihrer Reise die Realität in einer immer spezielleren Weise interpretierten und so eher mentale als geografische Räume (auf-)suchten.

2.1.3. Tourismus als symbolische Praxis

Im 18. Jahrhundert setzte eine Entwicklung ein, in deren Zuge der bisherige Reisende zum ‚Touristen‘ moderner Prägung wurde.47 Dieser verfolgte nunmehr das Ziel, Sehenswürdigkeiten zu entdecken, mit deren Besichtigung er die Erwartung eines herausragenden Erlebnisses verknüpfte. Als Sehenswürdigkeit, als touristischer Ort und Ereignis kann dabei grundsätzlich alles das gelten, was außerhalb des direkten Alltags der Betrachtenden steht und ihnen ein solches Erlebnis verheißt. Dazu gehören Landstriche und Regionen – die Alpen, der Rhein, die Mittelmeer-Länder48 – ebenso wie 46 Vgl. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: dies. (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 1–31, hier S. 2. Vgl. zur Kritik dieses Konzeptes in der Geschichtswissenschaft Barbara Stollberg-Rilinger: Rezension zu: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und ‚performative turn‘. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, in: H-Soz-Kult. Rezensionen. Bücher, 25.02.2004, URL: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-5240 (Stand: 01.09.2019). 47 Vgl. Kapitel 3.2.1. 48 Vgl. z.B. Matthias Stremlow: Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheißung der nahen Fremde zur Sportarena. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700, Bern/Stuttgart/Wien 1998; Horst-Johs Tümmers: Rheinromantik. Romantik und Reisen am Rhein, Köln 1968; Kerstin Schumann: Grenzübertritte. Das ‚deutsche‘ Mittelmeer, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Endlich Urlaub! Die Deutschen reisen, Köln 1996, S. 33–42.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

32

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

historisch konnotierte Orte – Burgen, Schlachtfelder, geschichtsträchtige Städte49 –, künstlich erbaute Welten – das Shoppingcenter, der Freizeitpark50 – und sogar das Alltagsleben anderer Gesellschaftsgruppen – das verwahrloste Viertel in der eigenen Stadt, die Suppenküche.51 In der ethnologischen Forschung wurde die Frage, wie und warum sich wann und wo die touristische Realitätsinterpretation änderte, wie selbst eigentlich Alltägliches in den Rang einer Sehenswürdigkeit aufstieg, zwar schon Ende der achtziger Jahre des vorherigen Jahrhunderts thematisiert,52 und mit der Einbindung der Diskurstheorie in die Tourismusforschung in den vergangenen Jahren erhielten diese Überlegungen noch einmal eine vertiefte theoretische Grundlage.53 Eine ausführliche Antwort – erst recht aus Sicht der Geschichtswissenschaft – steht jedoch noch aus. Daher soll hier ein Erklärungsansatz präsentiert und verfolgt werden, der die Fähigkeit, Dinge ebenso wie Handlungen als touristische Objekte zu sehen, zurückführt auf eine Inszenierungs- und Ästhetisierungsleistung, die auf gruppenspezifischem, vortheoretischem Wissen beruht und die Gruppe, die sich dieser Mittel bedient, von anderen unterscheidet. 49 Vgl. für die Untersuchung verschiedener Orte des Geschichtstourismus u.a. Angela Schwarz/Daniela Mysliwietz-Fleiß (Hrsg.): Reise in die Vergangenheit. Geschichtstourismus im 19. und 20. Jahrhundert (TransKult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte, Bd. 1), Wien/Köln/Weimar 2019. 50 Vgl. beispielsweise Gerd Hennings/Sebastian Müller (Hrsg.): Kunstwelten. Künstliche Erlebniswelten und Planung, Dortmund 1998; Max Rieder/Reinhard Bachleitner/Jürgen Kagelmann (Hrsg.): ErlebnisWelten. Zur Kommerzialisierung der Emotionen in touristischen Räumen und Landschaften, München/Wien 1998; Horst W. Opaschowski: Kathedralen des 21. Jahrhunderts. Die Zukunft von Freizeitparks und Erlebniswelten, Hamburg 1998; Albrecht Steinecke: Kunstwelten in Freizeit und Konsum. Merkmale – Entwicklungen – Perspektiven, in: Becker/Hopfinger/ders., Geographie der Freizeit und des Tourismus, S. 125–137. 51 Vgl. u.a. Angela Schwarz: „East-Enders“. Zur Konstruktion des neugierigen Blicks auf die städtischen Unterschichten in der Illustrated London News, in: Natascha Igl/Julia Menzel (Hrsg.): Illustrierte Zeitschriften um 1900. Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016, S. 281–307; Carol Poore: The Bonds of Labor. German Journeys to the Working World, 1890–1990, Detroit, MI 2000; Dominique Kalifa: Das Gegenstück des Boulevards: La tournée des grands-ducs und der Elendstourismus, in: Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hrsg.): Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung (edition lendemains, Bd. 25), Tübingen 2012, S. 67–80. Vgl. ausführlicher Kapitel 4.1.4. Kompakt fassen Barbara Kirshenblatt-Gimblett und Edward M. Bruner die Diversität touristischer Attraktionen zusammen, vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett/Edward M. Bruner: Tourism, in: Richard Bauman (Hrsg.): Folklore, Cultural Performances, and Popular Entertainments. A Communications-centered Handbook, Oxford 1992, S. 300–307, hier S. 302. 52 Vgl. Burkhart Lauterbach: Baedeker und andere Reiseführer, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 85, H. 2, 1989, S. 206–234, hier S. 231. 53 Als eine der ersten untersuchten in bündiger Form die Tourismuswissenschaftlerin Annette Pritchard und der Soziolinguist Adam Jaworski, „how the multiplicity of tourism experiences and performances can be variously explored through discourse and communication.“ Annette Pritchard/Adam Jaworski: Introduction: Discourse, Communication and Tourism Dialogues, in: dies. (Hrsg.): Discourse, Communication and Tourism, Clevedon 2005, S. 1–13, hier S. 1.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

33

Damit stand nicht mehr das Bereiste selbst im Vordergrund, sondern die Bedeutung, die die Reisenden ihm zumaßen. Reisen wurde seit dem 19. Jahrhundert zur symbolischen Praxis, die eine Inszenierung des Bereisten durch bestimmtes Verhalten, bestimmte performative Akte, beinhaltete. Daher müssen für eine Untersuchung des bürgerlichen Tourismus als Teil des Lebensstils dieser Gesellschaftsgruppe nicht so sehr die tatsächlichen geografischen Orte der Reise oder überhaupt das Reisen, verstanden als Prozess des geografischen Ortswechsels, in den Blick genommen werden, sondern die Art und Weise, wie diese Orte mit Bedeutung versehen wurden, also ihre Konstruktion als Wissensraum.54 Dies wurde möglich, indem die Touristinnen und Touristen zurückgriffen auf Repräsentationen des Bereisten, auf ein diskursiv vermitteltes Set von Vorstellungen und Bewertungen,55 und so einen Raum gesellschaftlich konstruierten, der die ursprüngliche Topografie des geografischen Raumes überlagerte. Die Aussage des Bereisten, so lässt sich Matthias Stremlows Analyse in seiner Untersuchung der Alpen als Tourismusraum zustimmen, lag nicht im Objekt selbst, sondern in seiner kulturellen Interpretation.56 Wie diese Interpretation ausfalle, hänge nicht von subjektiven Einstellungen ab, sondern sei ein Produkt gesellschaftlicher Konventionen, die beispielweise durch literarische und bildliche Zeugnisse als Seh- und Interpretationshilfen vermittelt würden.57 Insbesondere das touristische ‚Sehen‘, der ‚Tourist Gaze‘, verstanden nicht nur als körperliche Sinnes-, sondern gleichfalls als geistige Interpretationsleistung, kann daher als zentraler performativer Akt des Tourismus gelten, der gewöhnliche Orte in tou-

54 Matthias Stremlow verwendet in inhaltlicher Verwandtschaft den Begriff des ‚Imaginationsraums‘. Vgl. Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht, S. 13. Vgl. für Überlegungen zu touristischen Räumen als soziale Konstruktion über die allgemeinen Anmerkungen zu Raumkonstruktionen in Kapitel 2.1.2. hinaus auch Rob Shields: Places on the Margin. Alternative Geography of Modernity, London/New York, NY 1991, S. 31. 55 Repräsentationen lassen sich definieren als Spiegelungen der ideologischen Anlagen, die in einer Gesellschaft gegenwärtig sind und die auf mehr oder weniger unbestrittenen Klassifizierungen von Menschen und Umständen beruhen, vgl. z.B. die Definiton bei Coupland und Jaworski: Coupland/ Jaworski, Discourse, S. 142. Damit entsprechen Repräsentationen exakt dem Untersuchungsgegenstand der Foucaultschen Diskurstheorie, vgl. z.B. die Definition bei Strüver, Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie, S. 62. 56 Vgl. Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht, S. 13–16; vgl. auch Shields, Places on the Margin, S. 31; Kirshenblatt-Gimblett/Bruner, Tourism, S. 300–307. Diese Interpretationsleistung bezeichnen Pritchard und Jaworski als „Doing Tourism“ und betonen damit die Handlungszentrierung, die sich auch in den Konzepten des „Doing Gender“ und „Doing Space“ (vgl. Anm. 31) findet, vgl. Pritchard/Jaworski, Introduction, S. 6. 57 Vgl. Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht, S. 13–16.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

34

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

ristische Räume verwandelt.58 Das Phänomen des bürgerlichen Tourismus ist damit letztlich als Seh-Modus zu begreifen, als „a way of being in the world, encountering, looking at it and making sense.“59 Der touristische Blick beinhaltet das implizite Wissen, was der ‚Tourist‘ sehen soll und wie er es zu bewerten hat, was im 19. Jahrhundert unter anderem durch das zeitgenössische Motto ‚to see is to know‘ der anthropologischen Ausstellung der World’s Columbian Exposition in Chicago 1893 sehr treffend auf den Punkt gebracht wurde.60 Das Verhalten, das der Einzelne im Rahmen der touristischen Inszenierung ausführt, beinhaltete es, „[to] look at symbolic attractions in distinctive styles, communicate and consume particular narrative interpretations and move through tourism spaces in specifiable ways.“61 Der Vorgang des Schauens ließ die Touristinnen und Touristen zu Semiotikern werden, die das bereiste Land nach visuellen Zeichen als Referenzen für bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen und Klischees absuchten.62 Nicht das, was sie tatsächlich vor sich hatten, stand im Vordergrund, sondern der spezielle Blick, der immer schon das Urteil vorwegnahm.63 Eingeübt wurde die Praktik vom Bürgertum des 19. Jahrhunderts durch die Rezeption der Normen, Werte und Bildungsideale, die sich in die Wissensbestände zeitgenössischer Reiseberichterstattung, beispielsweise der illustrierten Massenpresse, der Natur- und Kunstgeschichte sowie Völkerkunde, eingeschrieben hatten.64 „Die Erfahrung des Fremden reduziert[e] sich daher [...] zu einer Erfahrung im Umgang mit Vorstel58 Vgl. für den Begriff des ‚Tourist Gaze‘ John Urry: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Con­ temporary Societies, London 1990 (zur Bedeutung dieses Konzeptes in der Forschung vgl. Kapitel 2.2.1.). Vgl. auch Jorgen Ole Baerenholdt/Michael Haldrup/Jonas Larsen/John Urry: Performing Tourist Places. New Directions in Tourism Analysis, Aldershot 2004, S. 2; John Urry: Consuming Places, New York, NY 1995, S. 179. 59 Baerenholdt/Haldrup/Larsen/Urry, Performing Tourist Places, S. 2. 60 Vgl. für eine ausführliche Interpretation dieses Mottos Raymond Corbey: Ethnographic Showcases 1880–1930, in: Cultural Anthropology, Bd. 8, Nr. 3, 1993, S. 338. 61 Tim Edensor: Staging Tourism. Tourists as Performers, in: Annals of Tourism Research, Bd. 28, Nr. 2, 2000, S. 322–344, hier S. 325. 62 Vgl. Urry, The Tourist Gaze, S. 12. Vgl. auch Birgit Mandel: Wunschbilder werden wahr gemacht. Aneignung von Urlaubswelt durch Fotosouvenirs am Beispiel der Fotoalben deutscher Italientouristen der fünfziger und sechziger Jahre, Frankfurt am Main 1996, S. 57. Mandel stellt heraus, dass das Reiseziel nur noch das vorfabrizierte Bild von etwas sei, nicht mehr die Sache selbst. Vgl. für die Bedeutung der Fotografie als sinnstiftende Praxis, die das Erlebnis strukturiert, interpretiert und schließlich sogar ersetzen kann, Patricia C. Albers/William R. James: Travel Photography. A Methodological Approach, in: Annals of Tourism Research, Bd. 15, Nr. 1, 1988, S. 134–158, hier S. 136. 63 Vgl. Urry, Tourist Gaze, S. 3; Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940, Frankfurt am Main 2005, S. 49. 64 Vgl. Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner: Touristischer Raum. Mobilität und Imagination, in: Günzel, Raum, S. 280–293, hier S. 282.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Wissensräume als Teil der Kulturgeschichte

35

lungen vom Fremden.“65 Das „geistige[ ] Reisegepäck“66 des ‚Touristen‘ wurde damit immer größer, Bilder und Verhaltensweisen verfestigten sich immer stärker. Nicht was der Reisende sehen konnte, sondern was er sehen sollte, stand im Reiseführer, wie die Einleitung des Reiseführers von Murray für Deutschland und Europa 1858 betonte.67 Als Konsequenz war es praktisch unmöglich, das bereiste Land mit seinem Wert und Charakter an sich zu sehen, sondern nur die konstruierte Sehenswürdigkeit, die Daniel Boorstin als ‚Pseudo-Event‘ klassifiziert.68 „Die Inszenierung geriet […] zum Maßstab der Wahrnehmung.“69 Die Erfahrung vor Ort passte sich diesem Maßstab entweder an und ließ sich selbst durch eine andersartige Wirklichkeit nicht davon abbringen70 oder führte zu einer großen Enttäuschung des Reisenden im Kontakt mit Angehörigen fremder Kulturen und den Zeugnissen dieser Kultur.

65 Hartwig Gebhardt: Kollektive Erlebnisse. Zum Anteil der illustrierten Zeitschriften im 19. Jahrhundert an der Erfahrung des Fremden (1834–1900), in: Ina M. Greverus/Konrad Köstlin/Heinz Schilling (Hrsg.): Kulturkontakt – Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1988, S. 517. 66 Ueli Gyr: Touristenkultur und Reisealltag. Volkskundlicher Nachholbedarf in der Tourismusforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 85, H. 2, 1988, S. 224–240, hier S. 233. 67 Vgl. John Murray: A Handbook for Travellers on the Continent. Being a Guide to Holland, Belgium, Prussia, Northern Germany, and the Rhine from Holland to Switzerland, 12. Aufl., London 1858, S. v-vi; vgl. dazu auch Rudy Koshar: ‚What ought to be seen‘. Tourists’ Guidebooks and National Identities in Modern Germany and Europe, in: Journal of Contemporary History, Bd. 33, Nr. 3, 1998, S. 323–340. 68 Vgl. Daniel J. Boorstin: The Image. A Guide to Pseudo-Events in America, New York, NY 1977, S. 102. Vgl. für die Ausführung dieser Theorie Kapitel 2.2.1. Vgl. auch Grosser, der feststellt, dass „eigentlich keiner sah […] was er zu sehen glaubte“, sondern das, was ihm die Reiseliteratur vorgab, die wiederum nicht das dokumentierte und publizierte, was tatsächlich zu sehen war, sondern schon eine Interpretation des Gesehenen. Thomas Grosser: Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bürgerliche Bildungsreise, in: Michael Maurer (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 135–176, hier S. 137. Zur Kritik eines solchen standardisierten Tourismus vgl. z.B. Mandel, Wunschbilder werden wahr gemacht, S. 25–29; Tümmers, Rheinromantik, S. 117. 69 Philipp Prein: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Münster 2005, S. 130. 70 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Erkundung der Moderne. Bürgerliches Reisen nach 1800, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 87, H. 1, 1991, S. 29–52, hier S. 39; ders.: Aufbruch in die Welt der Moderne, in: Klaus Beyrer/Wolfgang Behringer (Hrsg.): Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600–1900, Karlsruhe 1992, S. 222–235, hier S. 228. Konkret stellt diesen Umstand Joachim Stud­ berg in seiner Untersuchung von Reiseaufzeichnungen des Wuppertaler Großbürgertums fest, in denen die Reisenden unter anderem darlegten, dass ihnen ein Bergbauernfest nicht pittoresk genug, die Menschen zu verhärmt erschienen. Vgl. Joachim Studberg: Globetrotter aus dem Wuppertal. Eine Untersuchung großbürgerlicher Mentalität anhand autobiographischer Reiseaufzeichnungen aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs, Pfaffenweiler 1991, S. 216.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

36

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Die Performance auf Seiten der bürgerlichen Betrachterinnen und Betrachter erforderte allerdings mehr als nur die Einhaltung der Regeln des Reiseführers oder ähnlicher Anleitungen. Das durch diese ‚Marker‘ vermittelte konkrete Wissen, wie sie wo und wann agieren sollten, half der Touristin und dem Touristen zwar, sich angemessen zu verhalten, dahinter stand jedoch ein bestimmtes vortheoretisches Wissen und ein darauf beruhender Habitus, der sich in der Fähigkeit äußerte, die Anweisungen des Reiseführers nicht nur unreflektiert auszuführen, sondern Teil der Inszenierung zu werden und die ganze Handlung mit einem übergeordneten Sinn zu verbinden. So sehr touristische Objekte und Aussichten durch die Beschreibung von durch Sternchen ausgezeichneten malerischen Ansichten inszeniert wurden, so wenig konnte sie doch derjenige erkennen, dem die mentale Voraussetzung fehlte. Das touristische ‚Sehen‘ erweist sich damit als soziokulturelle Praktik, die vom historischen und sozialen Kontext abhängt, aus dem die Betrachtenden stammen.71 Touristische Ziele können in dieser Sichtweise dann alle „places of spectacle“72 sein, an denen sich der ‚Bürger‘ als ‚Tourist‘ verhält, an denen er Teil einer touristischen Inszenierung wurde.73 Als ein solches ‚Spektakel‘ können insbesondere Handlungen zählen, die ursprünglich für den Zielort ganz alltäglich waren, nun aber von der Touristin und dem Touristen betrachtet und dadurch zu einem Ereignis, einer Sehenswürdigkeit werden. Die Performance-Theoretikerin Barbara Kirshenblatt-Gimblett benennt in ihrer breit rezipierten Studie Destinatin Culture als Attraktionen für Touristinnen und Touristen das Melken von Kühen auf einem Bauernhof, die U-Bahn in Mexico-City während der Hauptverkehrszeit, Straßenfriseure in Nairobi oder das Baderitual in Japan.74 Durch die Situation, in der die Touristinnen und Touristen ein bestimmtes Bild konstruieren und kommunizieren, mit dem sie gewisse Wahrheits- und Wirklichkeitsansprüche verknüpfen, offenbart sich ein Machtgefälle zwischen Betrachtenden und Betrachtetem.75 Wurde die Fabrik mit einer entsprechenden Bedeutung versehen, so ließ sie sich ebenfalls als touristische Attraktion inszenieren und konnte damit als konstruierter Wissensraum dienen, in dem sich Machtverhältnisse manifestierten.

71 72 73 74

Vgl. Sophia Prinz: Die Praxis des Sehens, Bielefeld 2014, S. 7f. Corbey, Ethnograpic Showcases, S. 338. Vgl. Edensor, Staging Tourism, S. 323, 341. Vgl. auch Karentzos/Kittner, Touristischer Raum, S. 280, 290. Vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1998, S. 132. Vgl. auch Urry, Consuming Places. 75 Vgl. Coupland/Jaworski, Discourse, S. 142; Strüver, Grundlagen und zentrale Begriffe der Fou­ cault’schen Diskurstheorie, S. 62.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

37

2.2. Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

Während die gerade skizzierten Konzepte von Tourismus als symbolischer Praxis und als Inszenierung vorwiegend auf den Überlegungen der soziologisch orientierten Tourismusforschung und ähnlich ausgerichteten Fächern fußt, wie ein kurzer Blick auf den Forschungsstand zeigen soll, sind die auf dieser Basis operierenden Studien im Bereich der Tourismusgeschichte erst jüngeren Datums und eher vereinzelt zu finden. Auch die historisch ausgerichteten Studien, die sich – auf welcher theoretischen Grundlage auch immer – mit der Fabrik jenseits ihrer Bedeutung als Ort der Fabrikation beschäftigen, sind eher Ausnahmen. Ein Überblick über die geschichtswissenschaftliche Arbeit in beiden Feldern soll nichtsdestoweniger die Erforschung der Fabrik als touristischer Attraktion im späten 19. Jahrhundert flankieren und so dazu beitragen, die Forschungsergebnisse in bereits bestehende Zusammenhänge einzuordnen.

2.2.1. Geschichtswissenschaftliche Forschungen zum Tourismus als symbolische Praxis

Tourismus als symbolische Praxis und als Inszenierung zu begreifen, bedeutet, das Feld dessen, was als touristische Handlung im erweiterten Sinne gelten kann, auf alles auszudehnen, was mit einem touristischen Blick angeschaut werden konnte. Touristische Handlungen liegen dann vor, wenn Dinge, Menschen und Ereignisse einem Reisenden auf eine Weise präsentiert und von ihm betrachtet werden, die sie aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen lösen und so ästhetisieren. Der Forschungstrend, touristische Inszenierungen zu untersuchen, lässt sich unter anderem auf die Überlegungen von Roland Barthes zu den ‚Mythen des Alltags‘ aus der Mitte des vorherigen Jahrhunderts zurückführen. Der französische Soziologe stellte in der Untersuchung der Guides Bleus, einer französischen Reiseführerserie ähnlich dem Baedeker, fest, dass eine Landschaft dem Publikum nicht als Wirtschafts- oder Lebensraum vorgestellt, sondern ihm nur als malerischer Ausblick präsentiert wurde. Menschen spielten laut Barthes in dieser Darstellung nur insofern eine Rolle, als sie als Dekor dieses Ausblicks dienen konnten.76 Fast zeitgleich entwickelte Daniel J. Boorstin die bereits skizzierte Überlegung, dass die Touristinnen und Touristen beziehungsweise der Reiseführer eine Sehenswürdigkeit künstlich erschafften, indem sie die ursprüngliche Bedeutung verleugneten. Auf diese Weise entstehe ein ‚Pseudo-Event‘, ein künstliches Ereignis, das das ursprüngliche Erlebnis überlagere. Das wesentliche Merkmal eines 76 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1970 (französische Erstausgabe 1957), S. 59f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

38

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

derart verstandenen Tourismus war die Tatsache, dass nicht das bereiste Land, sondern die inszenierten Attraktionen wahrgenommen wurden.77 Barthes’ und Boorstins Überlegungen zeigten sich damit als Teil eines Authentizitätsdiskurses, der nicht nur den Tourismus, sondern das ganze Leben in der Moderne als Inszenierung begriff.78 Seit Ende der achtziger Jahre bezogen sich immer mehr Studien zum Tourismus auf den inszenatorischen Charakter dieser kulturellen Handlung. Hervorzuheben ist hier die Untersuchung von John Urry, der den bereits vorgestellten Begriff des ‚Tourist Gaze‘, des touristischen Blicks, prägte,79 und in den folgenden Jahren zu einem umfassenden Konzept der touristischen Konsumtion von Destinationen ausführte.80 Wie schon kurz angerissen legte ein ähnliches Konzept die Performance-Forscherin Barbara Kirshenblatt-Gimblett zur ‚Destination Culture‘ vor.81 Und auch der Sozialgeograf Tim Edensor verfolgte bei seiner Untersuchung touristischen Verhaltens konsequent die Annahme, dass das ganze soziale Leben performativ sei und Lebensstile als performative Akte angesehen werden müssten.82 Solche Inszenierungen aufzuspüren, sie zu dekonstruieren und ihre Entstehung zu rekonstruieren, stellt seitdem ein bedeutendes Ziel der interdisziplinären Tourismusforschung dar.83 Speziell die Suche nach Bildern, die in der kollektiven Imagination vorgeprägt sind, offenbart die Dialektik des Verständnisses von Eigenem und Fremdem.84 Diese vor wenigen Jahren von Nicolai Scherle getroffene Feststellung hat bereits 77 Vgl. Boorstin, The Image, S. 102. 78 Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 4. Aufl., München 2003 (englische Erstausgabe 1959). 79 Vgl. Urry, The Tourist Gaze. 80 Vgl. ders., Consuming Places. 81 Vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Destination Culture. 82 Vgl. Edensor, Staging Tourism, 322–344. Vgl. auch Baerenholdt/Haldrup/Urry, Performing Tourist Places. 83 Der Artikel zum touristischen Raum im interdisziplinären Handbuch über das Phänomen des Raumes stellt fest, dass man bei der Beschreibung touristischer Räume nicht nur die konkrete Gestalt betrachten, sondern „die Bilder und Narrationen, die ihnen zugrunde liegen“, untersuchen müsse. Vgl. Karentzos/Kittner, Touristischer Raum, S. 280–293, insbes. S. 282. Das Phänomen der Kunstwelten in der Gegenwart ist in der Geografie in den letzten Jahren verstärkt thematisiert worden. Vgl. Steinecke, Kunstwelten in Freizeit und Konsum, S. 125–137; Opaschowski, Kathedralen des 21. Jahrhunderts; Reinhard Bachleitner: Erlebniswelten. Faszinationskraft, gesellschaftliche Bedingungen und mögliche Effekte, in: ders./Rieder/Kagelmann, ErlebnisWelten, S. 43–57; Jürgen Kagelmann: Erlebniswelten. Grundlegende Bemerkungen zum organisierten Vergnügen, in: ders./Rieder/ Bachleitner, ErlebnisWelten, S. 58–95. 84 Vgl. Nicolai Scherle: Nichts Fremdes ist mir fremd. Reiseführer im Kontext von Raum und der systemimmanenten Dialektik des Verständnisses von Eigenem und Fremdem, in: Rudolf Jaworski/Peter Oliver Loew/Christian Pletzing (Hrsg.): Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa (Veröffentlichungen der Academia Baltica, Bd. 1), Wiesbaden 2011, S. 53–70.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

39

einen bedeutenden Vorläufer in der Studie von Maurice Halbwachs über die Stätten der Verkündigung im Heiligen Land, die ausführte, dass die Vorstellung der Gläubigen von den heiligen Stätten, die sich in der Entfernung und über die Zeit ausgeformt hatten, nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprächen, diese dennoch an Bedeutung überträfen.85 Solche imaginären, im kulturellen Gedächtnis bewahrten Räume, so erklärt die Soziologin Judith Adler, trügen dazu bei, die Identität einer Gesellschaftsgruppe zu schärfen. Die Fähigkeit, sich als ‚Tourist‘ zu verhalten und touristische Inszenierungen mitzugestalten oder überhaupt erst zu erschaffen, sei damit auf die Sozialisierung und das dadurch vermittelte unbewusste Wissen des Menschen zurückzuführen.86 Dieses wiederum dient dazu, Identität und Alterität entlang dieser Fähigkeit zu schärfen: „Performed as an art, travel becomes one means of […] self-fashioning.“87 Von ähnlichen Annahmen geht ebenfalls die in den vergangenen Jahren etablierte, von der Diskurstheorie Foucaults inspirierte Tourismusforschung aus, die Tourismus als semiotisches System versteht und das touristische Erleben auf diskursive Praktiken zurückführt. Sie untersucht, inwieweit der Tourismus Diskurse über Menschen und Orte im Verlauf der Zeit verändert und so Bilder für die Eigen- und Selbstdefinition liefert.88 Inwieweit hat die Geschichtswissenschaft diese Ansätze aus der interdisziplinären Tourismusforschung aufgegriffen? Inwiefern wird das Reiseverhalten der Vergangenheit als eine touristische Inszenierung begriffen, die auf bestimmten performativen Akten der Reisenden beruht? Seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist eine Reihe von geschichtswissenschaftlichen Forschungen entstanden, die sich mit dem inszenatorischen, performativen Charakter vieler gesellschaftlicher Handlungen beschäftigen, wobei das 19. Jahrhundert als Untersuchungszeitraum im Rahmen des ‚performative turn‘ anfangs eher vernachlässigt wurde.89 Entsprechende Ansätze bieten mittlerweile Studien zu Ereignissen oder Einrichtungen, die touristisches Verhalten evozieren oder voraussetzen, wozu das Kaufhaus90 ebenso gehört wie Weltausstellungen und Gewerbe 85 Vgl. Maurice Halbwachs: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003 (französische Erstausgabe 1941). 86 Vgl. Judith Adler: Travel as Performed Art, in: The American Journal of Sociology, Bd. 95, Nr. 6, 1989, S. 1366–1391; James Buzard: The Beaten Track. European Tourism, Literature, and the Ways to Culture, 1800–1918, 2. Aufl., New York, NY 1993. 87 Adler, Travel as Performed Art, S. 1368. 88 Vgl. Pritchard/Jaworski, Introduction, S. 1–13. Vgl. auch Daniela Fleiß: Bourgeois Tourism as a Discourse of Inclusion and Exclusion. The Tourist Gaze in late 19th Century Germany, in: International Journal of Tourism Anthropology, Bd. 4, Nr. 3, 2015, S. 219–237. 89 Vgl. Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 1–31. 90 Vgl. Alarich Rooch: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823–1920), Oberhausen 2001.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

40

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

schauen,91 desgleichen die Ausstellung von Tieren und Menschen92 oder bestimmte inszenierte Landschaften wie das Rheintal oder die Alpen.93 Die Untersuchungen zur Ausstellung von Produkten – sei es im Kaufhaus, auf einer Weltausstellung oder einer Gewerbeschau – stellen vermehrt fest, dass die ausgestellten Produkte mit einer Wertdimension versehen wurden, „die diese aus der rein materiellen Bedürfnislage entheben und sie transzendieren.“94 Damit avancierte die Ausstellung vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Inszenierung einer eigenen Wirklichkeit, die (nur) mit bestimmten Sehpraktiken erschlossen werden konnte.95 91 Vgl. u.a. Angela Schwarz: Vom Maschinenpark zum Futurama. Popularisierung von Wissenschaft und Technik auf Weltausstellungen (1851–1940), in: Petra Boden/Dorit Müller (Hrsg.): Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850, Berlin 2009, S. 83–99; Thomas Großbölting: „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 (Ordnungssysteme, Bd. 21), München 2008; ders.: Die Ordnung der Wirtschaft. Kulturelle Repräsentation in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen des 19. Jahrhunderts, in: Hartmut Berghoff/Klaus Vogel (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main/New York, NY 2004, S. 377–403. 92 Vgl. u.a. Christina Wessely: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008, S. 12; Utz Anhalt: Tiere und Menschen als Exoten. Die Exotisierung des „Anderen“ in der Gründungs- und Entwicklungsphase der Zoos, Saarbrücken 2008; Alice von Plato: Zwischen Hochkultur und Folklore. Geschichte und Ethnologie auf den französischen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, in: Cordula Grewe (Hrsg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft (Transatlantische Historische Studien, Bd. 26), Stuttgart 2006, S. 45–68; Dreesbach, Gezähmte Wilde; Bogdan, Freak Show; Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Berlin 2011; Martin Wörner: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, Münster 1999; Angela Schwarz: „…absurd to make moan over the imagined humiliation and degradation.“ Exhibiting the Colonial Other at World’s Fairs and the Institutionalization of Cruelty, in: Trutz von Trotha/Jakob Rösel (Hrsg.): On Cruelty. Sur la Cruauté. Über Grausamkeit (Siegener Beiträge zur Soziologie, Bd. 11), Köln 2011, S. 538–556; dies.: The Regional and the Global. Folk Culture at World’s Fairs and the Reinvention of the Nation, in: Timothy Baycroft/David Hopkin (Hrsg.): Folklore and Nationalism in Europe During the Long Nineteenth Century (National Cultivation of Culture, Bd. 4), Leiden/Boston, MA 2012, S. 99–111. 93 Vgl. u.a. Joachim Eibach: Annäherung – Abgrenzung – Exotisierung. Typen der Wahrnehmung des ‚Anderen‘ in Europa am Beispiel der Türken, Chinas und der Schweiz (16. bis frühes 19. Jahrhundert), in: ders./Horst Carl (Hrsg.): Europäische Wahrnehmungen, 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse (The Formation of Europe/Historische Formationen Europas, Bd. 3), Hannover 2008, S. 13–73, hier S. 55–66; Wolfgang Hackl: Eingeborene im Paradies. Die literarische Wahrnehmung des alpinen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 100), Tübingen 2004; Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht. 94 Rooch, Zwischen Museum und Warenhaus, S. 162f. 95 Vgl. Großbölting, Die Ordnung der Wirtschaft, S. 379; Joachim Fiebach: Audiovisuelle Medien, Warenhäuser und Theateravantgarde, in: Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen/Basel 1995, S. 15–57, hier S. 39; Alarich Rooch: Waren-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

41

Die Neigung der Betrachtenden, den ursprünglichen Charakter eines Objekts auszublenden und stattdessen mit eigenen Vorstellungen aufzuladen, machte bereits Edward Said Ende der siebziger Jahre in seiner Darstellung zum Orient als einer europäischen Erfindung zum Thema.96 Der Soziologe machte eine Diskrepanz aus zwischen dem ‚realen‘ Orient des 18. und 19. Jahrhunderts und dem Orientalismus als einem „westliche[n] Stil, den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken, […] ja, sogar erst zu schaffen.“97 Diese Idee griff Urs Bitterli in Anspielung auf die zeitgenössische europäische Wahrnehmung in seinen Überlegungen über die ‚Wilden‘ auf, wie er die außereuropäischen Ethnien in seinen Studien zu bezeichnen pflegte.98 Bitterli stellte fest, dass die westlichen Betrachterinnen und Betrachter „die exotischen Erdenbürger in den imaginären Raum persönlicher Traumvorstellungen um[siedelten] und sie mit Wesenszügen und Tugenden aus[statteten], die ein unvoreingenommener Reisender nie an ihnen entdeckt haben würde.“99 Das zeigte sich ebenfalls bei der Ausstellung dieser Menschen oder Tiere.100 Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden nicht mehr nur systematisch Tierarten oder Vertreter exotischer Völker nebeneinander gestellt, sondern „imaginäre Welten“101 inszeniert. Der Zoo oder die Völkerschau dienten als ästhetische Konstruktion und als Alternative zur Alltagsrealität.102 Letztlich offenbart die Forschung über die Darstellung von als fremdartig empfundenen Tieren und Menschen, dass diese ebenso wie die Waren betrachtet wurden, „commodified, labeled, scripted, objectified, essentialized, decontextualized, aestheticized, and fe­tishized.“103 Die in Zoos und Völhäuser. Inszenierungsräume der Konsumkultur. Von der Jahrhundertwende bis 1930, in: Werner Plumpe/Jörg Lesczenski (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 17–30; ders., Zwischen Museum und Warenhaus. 96 Vgl. Edward Said: Orientalismus, Frankfurt am Main 2009 (englische Erstausgabe 1978), S. 9. 97 Ebd., S. 11f. 98 Vgl. Urs Bitterli: Der ‚Edle Wilde‘, in: Thomas Theye (Hrsg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek 1985, S. 271–287; ders.: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnungen, München 1976. 99 Bitterli, Der ‚Edle Wilde‘, S. 272. 100 Vgl. Corbey, Ethnographic Showcases, S. 338–369; Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten; Bogdan, Freak Show; Stammberger, Monster und Freaks; Wessely, Künstliche Tiere; Gabriele Dürbeck: Samoa als inszeniertes Paradies. Völkerausstellungen um 1900 und die Tradition der populären Südseeliteratur, in: Grewe, Die Schau des Fremden, S. 69–94; Dreesbach, Gezähmte Wilde; vgl. allgemein den von Hermann Pollig und Tilmann Osterwald herausgegebenen Sammelband: Hermann Pollig/Tilmann Osterwald (Hrsg.): Exotische Welten. Europäische Phantasien, Stuttgart/Bad Cannstatt 1987. 101 Von Plato, Zwischen Hochkultur und Folklore, S. 57. 102 Vgl. Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten, S. 1. 103 Corbey, Ethnographic Showcases, S. 363f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

42

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

kerschauen oder auf Weltausstellungen präsentierten Menschen und Tiere sollten nur die Sehnsüchte der Betrachterinnen und Betrachter befriedigen.104 Dabei war es jedoch, so wird betont, für die Betrachtenden essentiell, dass gleichzeitig das Wilde, das Andersartige, das Exotische als Zeichen einer vermeintlichen Echtheit hervorgehoben wurde. Aus dieser Dialektik resultierte die tiefere Faszination. Die scheinbare Authentizität entstand dadurch, dass die Aussteller die Menschen und Tiere den klischeehaften Vorstellungen der Europäer entsprechend darstellten.105 In Bezug auf die Betrachtung der Landschaft wurde vor allen Dingen das Pittoreske und das Erhabene als „a certain way of selecting, framing, and representing views“106 untersucht. Dieser Vorgang hatte zur Folge, dass die Landschaft von ihrer historischen Entwicklung mental abgekoppelt und nur noch auf eine Ursprünglichkeit der Natur projiziert wurde. Die Akte der Ästhetisierung bestimmten im 19. Jahrhundert die Lebenswelt insgesamt derart, dass diese sogar bisweilen als „kennzeichnende[s] Element der Moderne“107 verstanden wird. Sogar Parks, Museen, Theater und Kinos, selbst die Fassaden der modernen Stadt hatten die Merkmale „künstliche[r] Paradiese.“108 Demzufolge lässt sich annehmen, dass ebenfalls die Fabrik und die in ihr zu beobachtenden Vorgänge, Produkte und Menschen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen und mit einer neuen Bedeutung durch und für die Betrachterinnen und Betrachter versehen wurden.109 Welche Praktiken diesem Vorgang zugrunde lagen, ist jedoch von Historikerinnen und Historikern noch wenig konkretisiert worden. Lediglich Christina Wessely, Tho104 Vgl. Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten, S. 4. 105 Vgl. Schwarz, „…absurd to make moan“, S. 69; Dreesbach, Gezähmte Wilde, S. 49. Vgl. allgemein zum Authentizitätsdiskurs im Tourismus Robert Schäfer: Tourismus und Authentizität. Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichkeit, Bielefeld 2015. 106 Orvar Löfgren: On Holiday. A History of Vacationing, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1999, S. 19. Vgl. auch Dieter Groh/Ruth Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hrsg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 53–95; Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht. 107 Rooch, Warenhäuser, S. 19. 108 Florian Nelle: Künstliche Paradiese. Vom Barocktheater zum Filmpalast, Würzburg 2005. Vgl. auch Timothy Mitchell: The World as Exhibition, in: Comparative Studies in Society and History, Bd. 31, Nr. 2, 1989, S. 217–236, hier S. 221f.; Wessely, Künstliche Tiere, S. 12. 109 In diese Richtung weist bereits eine Studie über die Musealisierung von Technik zur Zeit der Gründung des Deutschen Museums Ende des 19. Jahrhunderts. Vgl. Ulrich Menzel: Die Musealisierung des Technischen. Die Gründung des ‚Deutschen Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik‘ in München, Diss. TU Braunschweig 2002, veröffentlicht auf der Homepage der Digitalen Bibliothek Braunschweig, URL: http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=00001324 (Stand: 01.09.2019). Musealisierung von Technik wird hier ebenfalls als Ästhetisierung der Technik gedeutet. Vgl. ebd., S. 19.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

43

mas Großbölting und Angela Schwarz beschäftigten sich bislang eingehender mit dieser Frage. Wessely legt anhand des Zoos dar, wie der Blick der Besucherinnen und Besucher mithilfe des räumlichen Aufbaus des Geländes und durch die Vorgaben in den Zooführern gelenkt wurde.110 Großbölting analysiert die dem Ausstellen und dem Besuch der Schau unterliegenden Praxis- und Handlungsformen, beispielsweise die Klassifikationssysteme, Formen der Visualisierung sowie die Verhaltensformen und Wahrnehmungsstrategien der Rezipientinnen und Rezipienten.111 Ähnliche Untersuchungen stellt auch Schwarz an, indem sie die Ausstellungs- und die damit unterstützten Sehund Erlebnispraktiken gleichermaßen für ‚exotische‘ oder ‚folkloristische‘ Menschen wie für Waren auf Weltausstellungen erforscht. Ebenso wie Wessely und Großbölting erkennt sie das gestaffelte Zusammenspiel von klassifizierenden räumlichen Anordnungen und deren reiner Betrachtung über die Lenkung der Wahrnehmung durch erläuternde Hinweise bis hin zur Teilhabe der Betrachterinnen und Betrachter an einer komplexen Aufführung.112 Auf die allgemeine Feststellung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, dass kollektive Identitäten auf Konstruktionen beruhen, hat auch die historische Forschung Bezug genommen.113 In diesem Sinne lassen sich die Ästhetisierungsbemühungen als ein Mittel zur Selbstdefinition einer Gesellschaftsgruppe oder eines Einzelnen interpretieren. So deutet Matthias Stremlow die Alpen als Projektionsraum der bürgerlichen Gesellschaft, der es erlaubte, sich selbst gegenüber der Moderne und Modernisierung zu positionieren.114 Die Präsentationen in Museen, Zoos oder Völkerschauen oder allgemeiner die Inszenierung von aus der Sicht der Zeitgenossen als unterlegen zu klassifizierenden Menschen und Spezies in jedem beliebigen Medium sowie ihre Rezeption wurden 110 Vgl. Wessely, Künstliche Tiere, S. 66–68. 111 Vgl. Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 36. 112 Schwarz, „…absurd to make moan“, S. 540–552; dies., Vom Maschinenpark zum Futurama; dies., The Regional and the Global, S. 104–107. Vgl. allgemein zur Ausstellung von Menschen als Teil einer national verklärten und rückwärtsgewandten Volkskultur Wörner, Vergnügen und Belehrung. 113 Als wichtigste Werke, die diese Feststellung zugrunde legen, seien genannt: Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class, Neudruck, London 1991 (englische Erstausgabe 1963); Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.): The Invention of Tradition, 8. Aufl., Cambridge 2006 (englische Erstausgabe 1983); Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 14. Aufl., London 2006 (englische Erstausgabe 1983). Nichtsdestoweniger wird das Konzept der Identitäten an sich in der Geschichtswissenschaft als problematisch angesehen, vgl. u.a. Alexander C.T. Geppert: Exponierte Identitäten? Imperiale Ausstellungen, ihre Besucher und das Problem der Wahrnehmung, 1870–1930, in: Ulrike von Hirschhausen/Jörn Leonhard (Hrsg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 181–203, hier S. 181, 200. 114 Vgl. Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht, S. 20.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

44

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

in dieser Hinsicht ebenfalls in vereinzelten Studien untersucht und als Akt der Identitätsfindung gerade für das Bürgertum verstanden.115 Darauf, dass dieser Mechanismus im Übrigen nicht nur in einem ‚exotischen‘ Kontext Geltung hatte, verwies Alexander Schmidt mit seiner Untersuchung des Amerika-Diskurses des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, indem er herausarbeitete, dass die Wahrnehmung der Gesellschaft und der Bürger der Vereinigten Staaten wesentlich von Stereotypen geprägt sei und letztlich mehr über die Betrachtenden als über das Betrachtete aussage. Die fremde Wirklichkeit könne „überhaupt nur erfahren werden [...], wenn sich darin bereits beim Beobachter existierende Wahrnehmungsmuster widerspiegeln.“116 Bei diesen Forschungsergebnissen geht es also darum, eine gewisse Fähigkeit, Landschaften, Waren, Tiere und sogar Menschen als touristische Sehenswürdigkeiten wahrzunehmen, zur Basis für die Kon­ struktion der eigenen Identität und für die Abgrenzung von Anderen zu machen. Dieser Ansatz geht über die konventionellere Überlegung hinaus, dass das bürgerliche Reisen im 19. Jahrhundert per se durch die ökonomischen Vorbedingungen als Mittel der Inklusion und Exklusion diente, da sich nur bestimmte Gesellschaftsschichten eine Reise leisten konnte. Vielmehr wird der Tourismus verstanden als Wahrnehmungsmodus, als Fähigkeit, touristische Sehenswürdigkeiten als solche zu erkennen und zu dekodieren. Diese Fähigkeit wird einerseits durch eine bestimmte Vorbildung hervorgerufen,117 andererseits zurückgeführt auf eine Mentalität, ein vortheoretisches Wissen, wodurch eine bestimmte Art des Wahrnehmens erst möglich wurde.118 Letztlich, so stellt Christina Wessely fest, war die inszenierte Sehenswürdigkeit, in diesem Fall der Zoo, sowohl ein Konstrukt erlernter bewusster, als auch unbewusster Wahrnehmungsmodi.119 Die bisherige historische Forschung, so lässt sich zusammenfassend feststellen, hat sich mit der Inszenierung von unbelebter Natur, Bauten und Waren, von Tieren und 115 Vgl. Rooch, Zwischen Museum und Warenhaus, S. 19; Wessely, Künstliche Tiere, S. 17; Erika Fischer-Lichte: Rite de passage im Spiel der Blicke, in: Kerstin Gernig (Hrsg.): Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, S. 296–315, hier S. 301; Christopher Kidd: Inventing the ‚Pygmy‘. Representing the ‚Other‘, Presenting the ‚Self‘, in: History and Anthropology, Bd. 20, Nr. 4, 2009, S. 395–418; Stephen P. Rice: Picturing Bodies in the Nineteenth Century, in: ders./Michael Sappol (Hrsg.): A Cultural History of the Human Body in the Age of Empire, Oxford 2010, S. 213–235, hier S. 214; Dürbeck, Samoa als inszeniertes Paradies, S. 71. 116 Schmidt, Reisen in die Moderne, S. 28. 117 Vgl. Groh/Groh, Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen, S. 95; Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht, S. 13–16. 118 Vgl. Rooch, Zwischen Museum und Warenhaus, S. 89; Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten, S. 23; Orvar Löfgren: Landscapes and Mindscapes, in: Folk. Journal of the Danish Ethnographic Society, Bd. 31, 1989, S. 183–208, hier S. 183f. 119 Vgl. Wessely, Künstliche Tiere, S. 76. Vgl. auch Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 33f.; Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht, S. 17.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

45

von in die Nähe der Tiere gerückten ‚exotischen‘ Menschen als touristische Objekte beschäftigt. Darüber hinaus existieren weitere Untersuchungen, die sich mit Menschen in touristischen Inszenierungen auseinandersetzen, die nicht als ‚Wilde‘ auftraten, sondern den Touristinnen und Touristen als Bewohnerinnen und Bewohner einer touristisierten Landschaft, einer betriebsamen Großstadt oder einer folkloristischen Inszenierung im Rahmen einer Weltausstellung begegneten.120 Während die bürgerlichen Betrachtenden die ‚Exoten‘ jedoch klar als das unterlegene ‚Andere‘ klassifizieren konnten, wurden beispielsweise die Bewohnerinnen und Bewohner der Alpen oder die letztlich nur als Kleiderpuppen dienenden Menschen in einer bäuerlich anmutenden Architektur auf einer Weltausstellung nur als Teil der Kulisse, nicht als Attraktion für sich wahrgenommen. Die Menschen waren hier nicht das Objekt des touristischen Interesses, sie unterstützten und belebten nur die bestehende Inszenierung.121 Die Fabrik im 19. Jahrhundert als touristische Attraktion zu begreifen und entsprechend zu analysieren, geht auf einen noch weiter in das Andere eingreifenden Definitionsprozess ein. Denn in der Fabrik suchte eine Gesellschaftsgruppe – das Bürgertum – zu belegen, dass es eine andere, in derselben Gesamtgesellschaft lebende Gruppe – die Arbeiterschaft –, zu einem Objekt der touristischen Neugier zu machen und dadurch zu deklassieren vermochte.

2.2.2. Forschungen zur Fabrik als touristische Attraktion

Die Fabrik als Ziel eines Besuches zu untersuchen, ist nicht neu. Als Motiv für einen solchen Besuch benannten Studien bislang jedoch zumeist kein genuin touristisches Anliegen, sondern entweder das Bedürfnis nach technischer Weiterbildung oder ein sozialreformerisches Engagement. Die Tatsache, dass sich schon seit dem späten 18. Jahrhundert deutsche Ingenieure, Mechaniker, Techniker und Unternehmer im Zuge der technischen Revolution bevorzugt nach England auf den Weg gemacht hatten, um sich über die neu heraufziehende Epoche mit ihren technischen Möglichkeiten zu informieren, thematisierten bereits Untersuchungen aus den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.122 Die englische Textilindustrie, die Hüttenwerke, 120 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags, S. 59–61; Wörner, Vergnügen und Belehrung; Schmidt, Reisen in die Moderne. 121 Vgl. Barthes, Mythen des Alltags, S. 59–61. 122 Vgl. Wolfhard Weber: Industriespionage als technologischer Transfer in der Frühindustrialisierung Deutschlands, in: Technikgeschichte, Bd. 42, H. 4, 1975, S. 287–305; Martin Schumacher: Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750–1851 unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland und Westfalen, Köln 1968.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

46

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

der Maschinenbau und die Eisenbahn waren demnach die Hauptanziehungspunkte. Um sie zu erleben, reisten deutsche Ingenieure in die Industriegebiete um Manchester, Sheffield, Liverpool und London. Die deutsche Begeisterung ging so weit, dass die Bereitschaft der ortsansässigen Fabrikbesitzer, ihre Fabriken Fremden zu öffnen, wegen der zunehmenden Industriespionage schließlich umschlug und dann Reaktionen bis zur völligen Abschirmung der Fabriken vor externen Besucherinnen und Besuchern provozierte. Das war keinesfalls unbegründet, wie die historische Forschung vor allem mit den prominenten Fällen von Eberhard Hoesch und Alfred Krupp präsentiert hat, die sich 1823 beziehungsweise 1838 in England aufhielten, um Ideen für konkrete Verbesserungen für ihre eigenen Anlagen in Deutschland zu erhalten.123 Ein anderer Grund, eine Fabrik oder ebenso eine Nervenheilanstalt, ein Gefängnis oder die Wohnbezirke der Arbeiterklasse zu besuchen, lag in dem Bestreben, die Verhältnisse dort zu erkunden und eventuell zu ihrer Verbesserung beizutragen.124 Die „Grenzgänge[] zwischen empirischer Sozialforschung, Sozialreportage und Selbstversuch“125 erforderten persönliche Kontakte zu Arbeiterinnen und Arbeitern, um in ihre Lebenswelt eintauchen und so ethnografisches Wissen für eine reformerische Praxis erheben zu können. Einem verwandten Motiv widmet sich seit längerem die Forschung zur Hygienebewegung, die insbesondere die Entwicklung hin zu der Vorstellung von sozialer Hygiene untersuchte, mit deren Hilfe soziale Außenseiter integriert und gesellschaftliche Verhältnisse gemäß bürgerlichen Vorstellungen reformiert werden sollten.126 123 Vgl. Klaus Herrmann: Ingenieure auf Reisen. Technologieerkundung, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 297–304, hier S. 303. 124 Vgl. Jens Wietschorke: Entdeckungsreisen in die Fabrik. Bürgerliche Feldforschungen 1890–1930, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 104, H. 1, 2008, S. 41–71; Poore, The Bonds of Labor; Harro Zimmermann: Irrenanstalten, Zuchthäuser und Gefängnisse, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 207–213. 125 Wietschorke, Entdeckungsreisen in die Fabrik, S. 42. 126 Vgl. Ute Frevert: „Fürsorgliche Belagerung“. Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 11, H. 4, 1985, S. 420–446, hier S. 421f.; Alfons Labisch: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt am Main/New York, NY 1992, S. 167–170. Gesundheit geriet „zum Synonym für Disziplin, Erfolg, ‚Sittlichkeit‘ und soziale Integration.“ Frevert, „Fürsorgliche Belagerung“, S. 422. Wie Gesundheit im weitesten Sinne auszusehen hatte, wurde von den bürgerlichen Erziehern vorgegeben. Dazu gehörten gesunde Ernährung, gesundes Wohnen, gesundheitsmäßige Kindererziehung, akkurate Körperpflege, aber darüber hinaus ging es auch um eine allgemeine Erziehung zu einem vollwertigen Gesellschaftsmitglied. Vgl. Klaus Vogel/Christoph Wingender: „…, deren Besuch sich daher unter allen Umständen lohnt“. Die I. Internationale Hygiene-Ausstellung 1911, in: Dresdner Hefte, Bd. 18, H. 3, 2000, S. 44–52, hier S. 45. Der Leiter der Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911, Karl August Lingner, ging davon aus, dass die soziale Lage sich nicht lediglich durch eine Veränderung der Verhältnisse, sondern durch eine Belehrung des Individuums verbessern lasse. Vgl. ebd., S. 46.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

47

Dass sich in solche Absichten außerdem die Neugier auf die Verhältnisse, ja sogar reine Sensationslust mischte, liegt auf der Hand. Damit entwickelte sich ein weitergehendes, ein touristisches Interesse, das vergleichbar ist mit der Schaulust bei der gerade ausgeführten Betrachtung von ‚exotischen‘ Menschen und Tieren. John Sears führt das Interesse an sozialreformerischer Reisetätigkeit in seiner Untersuchung von US-amerikanischen touristischen Attraktionen des 19. Jahrhunderts als Teil des Interesses an der Großstadt und ihren neuen Institutionen wie Gefängnissen oder Nervenheilanstalten an, die für die Überwindung von Dunkelheit, Ignoranz und Sünde standen und auf dieser Grundlage die Neugier von amerikanischen und ausländischen Touristengruppen erregten.127 Indirekt war es aber die Neugier auf die Insassinnen und Insassen selbst, die die Touristinnen und Touristen auf diese Spur führte und dafür sorgte, dass manche amerikanische Anstalten in den Jahren 1830 bis 1850 über 70.000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr ausweisen konnten.128 Ebenso begann die amerikanische Mittelklasse, den Besuch der Slums als Freizeitvergnügen zu deuten, das im Rahmen der Kommerzialisierung von Freizeit zwischen rassisch-ethnischer und sexueller Sensationslust entstand.129 Eine parallele Entwicklung stellt Angela Schwarz für den englischen Raum, insbesondere für London, fest, wo sich bis zur Wende zum 19. Jahrhundert „die Slums von ‚No go Areas‘ zu Touristenattraktionen in der eigenen Metropole“130 verwandelt hatten. Daneben etablierten sich in Paris geführte Besuche durch die Elendsviertel.131 Und auch in Deutschland, so stellt die Forschung fest, vermischte sich die Absicht der bürgerlichen Sozialreformer stark mit dem Motiv der Neugier, die fremde Welt der Armen und der Arbeiter zu erkunden, die „worlds of darkness underlying the supposedly secure foundations of their own society.“132 Statt in weit entfernte, vermeintlich unzivilisierte Gegenden wie etwa den ‚Orient‘ oder den ‚Urwald‘ zu reisen, tauchte man in den ‚sozialen Abgrund‘ der eigenen Gesellschaft ein, über den, wie die Sozialreformer in ihren Aufzeichnungen berichteten, sie weniger wussten als über die Iglos der Eskimos und die Wigwams der Indianer,133 dessen Erkundung folglich als besonderes Abenteuer

127 Vgl. John F. Sears: Sacred Places. American Tourist Attractions in the Nineteenth Century, 2. Aufl., Amherst, MA 1998, S. 87–91. 128 Vgl. ebd., S. 89. 129 Vgl. Chad Heap: Slumming. Sexual and Racial Encounters in American Nightlife, 1885–1940, Chicago, IL/London 2009. 130 Schwarz, „East-Enders“, S. 290. 131 Vgl. Kalifa, Das Gegenstück des Boulevards, S. 69–78. 132 Poore, Bonds of Labor, S. 21. 133 Vgl. Elisabeth Gnauck: Lieder einer freiwilligen Arbeiterin, in: Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe, Jg. 1, Nr. 3, 20.01.1895, S. 5. Hierbei handelt es sich um eine der Quellen, die von Poore ausführlich ausgewertet werden, vgl. Poore, Bonds of Labor, S. 42f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

48

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

gewertet wurde.134 „Die Reiseberichte aus den ‚dunklen‘ Bezirken der eigenen Gesellschaft“, so stellt Wietschorke fest, „geben also nicht nur Auskunft über die Lebenswelten der Unterschichten, sondern vor allem über das an spezifische Interessenlagen gebundene kulturelle Imaginäre bürgerlicher Beobachter.“135 Die Feldforschung war damit Teil einer bildungsbürgerlichen Identitätssuche, die mit bestimmten Interessen und Zielen verknüpft war.136 Indem den Sozialreformern erst die „bürgerliche[n] Beobachterinnen und Beobachter ohne sozialpolitische Agenda“137 und dann die Vertreter der Presse folgten, wurde ein touristisches Erlebnis konstruiert, und der ‚Slum‘ konnte um die Wende zum 20. Jahrhundert eine etablierte Touristenattraktion werden. Die Geschichtswissenschaft hat also zwar das touristische Moment der Handlung erkannt, Menschen der niederen Gesellschaftsschichten in ihrer Lebenswelt zu besuchen, eine weitere Untersuchung, ob die touristische Neugier sich jedoch auch auf deren Arbeitsverhältnisse ausdehnte und wie sich ein solches Interesse gegebenenfalls niederschlug, blieb bislang aber aus. Der bürgerliche ‚Tourist‘, der die ihm unterlegenen Gesellschaftsschichten ‚besichtigte‘, blieb für die bisherige Forschung ein ‚Städtetourist‘, allenfalls noch ein ‚Sozialtourist‘, er wurde jedoch nicht als ‚Industrietourist‘ begriffen. Erst seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat die Forschung überhaupt damit begonnen, sich dem dezidiert touristischen Interesse an Industrie und Technik und der in diesem Bereich arbeitenden Menschen zu widmen. Eine frühe Ausnahme bildet die Studie „The Tourist“ des Soziologen Dean MacCannell aus dem Jahr 1976, der darin seine Theorie der Identitätskonstruktion durch Tourismus unter anderem auf Arbeit und Produktion als Objekte der touristischen Neugier anwendete. Er deutete diese Betrachtung von Arbeit und Arbeitsbeziehungen als Musealisierung und als kulturelles Produkt, das durch die Suche des Mittelstandes nach Authentizität entstanden sei.138 In diesem Zuge könne die ganze Arbeitswelt in eine touristische Attraktion verwandelt werden.139 Als Basis seiner Untersuchung diente MacCannell das Angebot touristischer Unternehmungen in Reiseführern für das Paris um 1900, zu dem eine große Anzahl von Betrieben und Fabriken gehörte.140 Dieser Ansatz des amerikanischen Soziologen wurde jedoch vorerst – und vor allen Dingen von der historischen Forschung – nicht weiter aufgegriffen. 134 Vgl. ebd., S. 23. 135 Wietschorke, Entdeckungsreisen in die Fabrik, S. 44. 136 Vgl. ebd, S. 71. 137 Schwarz, „East-Enders“, S. 286. 138 Vgl. Dean MacCannell: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1999 (englische Erstausgabe 1976), S. 36. 139 Vgl. ebd., S. 54. 140 Vgl. ebd., S. 58.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der touristische Raum als Wissensraum in der Forschung

49

Soweit Industrietourismus überhaupt als solcher thematisiert wurde, erschien er als Teil eines Reiseinteresses, das seit dem frühen 19. Jahrhundert die verschiedenen sichtbaren Auswirkungen der Modernisierung in den Blick nahm. So deutete beispielsweise Wolfgang Kaschuba Reisen nach Großbritannien, die unter anderem die Besichtigung neuer Fabriken und Brücken, Maschinenanlagen und Kriegsschiffe zum Ziel hatten und diese mit Kunstwerken oder Kathedralen verglichen, als „Erkundung der Moderne“.141 Das Motiv der Briten selbst bei der Besichtigung ihrer Industrie und Technik konnte so umgekehrt als Ausdruck des Nationalstolzes gedeutet werden.142 Ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Nationalstolz und Tourismus machte die Forschung für den Beginn des 19. Jahrhunderts ebenso für die USA aus. Diejenigen Industrien, die prägnant das viel bewunderte wirtschaftliche Wachstum repräsentierten, standen im Fokus der Reisenden, wie John F. Sears anhand des Ortes Mauch Chunk nachweist. Die Kleinstadt im Osten Pennsylvanias war eine der bedeutendsten Plätze der Kohleförderung und -verarbeitung und hatte sich seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gleichzeitig zum nahezu bedeutendsten industrietouristischen Anziehungspunkt der USA entwickelt, was Sears auf die Tatsache zurückführt, dass er in den Augen der Besucherinnen und Besucher den sichtbaren Beweis für Fortschritt und Wohlstand in Nordamerika darstellte.143 Diese Wahrnehmung stand im Einklang mit der boomenden urbanen und industriellen Kultur in den USA des 19. Jahrhunderts. Eine Industrieregion zu besuchen, hieß also in dieser Interpretation gleichzeitig, sich der gesellschaftlichen und nationalen Weiterentwicklung zu versichern. Zusammengefasst legen diese Untersuchungen nahe, dass die touristischen Motive in der Faszination der Moderne allgemein und der Technik speziell lagen. Die Idee der Identitätskon­struktion durch Tourismus klingt in diesen Untersuchungen ansatzweise in einem nationalen Kontext an. In der Forschung aus und über Deutschland erregte der Industrietourismus dagegen lange gar keine Aufmerksamkeit. Vor einigen Jahren begründete eine Studie zum Tourismus im Bergischen Land im Westen Deutschlands dessen frühe Attraktion als Gewerbelandschaft für Touristen (und in geringerem Umfang wohl auch für Touristinnen) durch die Tatsache, dass in dieser Region ansonsten wenige als touristische Sehenswürdigkeiten zu konstruierende Orte zu finden waren.144 Ebensolche Überlegun141 Kaschuba, Erkundung der Moderne, S. 29–52. 142 Vgl. Katherine Haldane Grenier: Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914. Creating Caledonia, Aldershot 2005, insbes. S. 23. 143 Vgl. Sears, Sacred Places, insbes. S. 191; vgl. auch Donna Brown: Inventing New England. Regional Tourism in the Nineteenth Century, Washington, DC/London 1995, insbes. S. 3, 24, 27; Cindy S. Aron: Working at Play. A History of Vacations in the United States, Oxford 2001, insbes. S. 145. 144 Vgl. Jürgen Reulecke: Indolenz und Fortschritt. Konfessionalität im Bergischen Land in Reiseberichten um 1800, in: Joachim Bahlcke/Karen Lambrecht/Hans-Christian Maner (Hrsg.): Konfessio-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

50

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

gen existieren für das Berlin der Jahrhundertwende.145 Der Industrietourismus wurde hiernach nicht als Phänomen sozialer Abgrenzung erkannt, sondern als Ersatzhandlung einer Gesellschaft gedeutet, die es inzwischen gewohnt war, überall ein touristisches Erlebnis geboten zu bekommen. Mit Blick auf die Untersuchung von MacCannell, der Industrietourismus schon für das an klassischen Sehenswürdigkeiten reiche Paris erkannte, muss diese Feststellung jedoch relativiert werden. Insofern kann man festhalten, dass es die Touristinnen und Touristen auf der Suche nach einer Attraktion in an klassischen Sehenswürdigkeiten ärmeren Industrieregionen wohl hauptsächlich zur Besichtigung einer Fabrik gezogen haben wird, weil es kaum eine Alternative gab, dass aber in anderen Regionen die Standorte der Industrie nicht ausgeblendet wurden, nur weil man Schlösser, Burgen oder Museen besichtigen konnte beziehungsweise dass Industrieareale nicht per se als touristische Regionen ausgeschlossen wurden.146 Überlegungen zu Motiven für den Fabrikbesuch, die die Problematik der Identitätskonstruktion mit einbeziehen, sind im deutschen ebenso wie im angelsächsischen Sprachraum kaum vorhanden. Lediglich Daniel Kiecol bezieht sich in seiner Dissertation über das Selbstbild und Image der beiden europäischen Großstädte Paris und Berlin in einem Kapitel auf diese Art des Tourismus und setzt damit die Überlegungen MacCannells fort.147 Kiecol führt den Wunsch, die industriell geprägten Sehenswürdigkeiten einer Stadt zu besichtigen, auf das Anliegen zurück, sich von den Touristengruppen abzusetzen, die nur die klassischen Attraktionen besuchten. „Wonach verlangt wurde, war das ‚Paris der Arbeit‘. Erst dann galt der gewöhnliche Tourist als Kenner der Stadt, wenn er mit gutem Gewissen behaupten konnte, daß Paris im Grund ja gar keine Stadt des Vergnügens sei, sondern eine Stadt der Arbeit.“148 Durch diese Art des Tourismus, der vorgab, die ‚Wirklichkeit‘ und nicht ein vorgefertigtes Erlebnis zu sein, konnten die Touristinnen und Touristen sich von Anderen distanzieren.149 nelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Leipzig 2006, S. 649–660, hier S. 650. 145 Vgl. Daniel Kiecol: Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen. Paris und Berlin zwischen 1900 und 1930, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel/New York, NY/Oxford/Wien 2001, S. 214. 146 Vgl. für den letzten Aspekt unten Kapitel 4.3.1. 147 Vgl. Kiecol, Selbstbild und Image, insbes. S. 210–215. 148 Ebd., S. 215. 149 Eine vor einigen Jahren entstandene Dissertation, die sich ausschließlich mit dem Phänomen des Fabriktourismus beschäftigt, untersucht Fallstudien aus den Bereichen der Nahrungsmittel, der Dinge des täglichen Gebrauchs und der Herstellung am Fließband. Die Studie bewegt sich jedoch auf einer vorwiegend deskriptiven Ebene und kann daher keinen entscheidenden Beitrag zur Erforschung der grundlegenden Motive für den touristischen Fabrikbesuch leisten. Vgl. Allison C. Marsh: The Ultimate Vacation: Watching Other People Work. A History of Factory Tours in America, Diss. Universität Baltimore, MD 2008.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

51

2.3. Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

Wie die bisherigen Ausführungen dargelegt haben, konstruieren menschliche Handlungsweisen Bedeutung, sie zeugen von der mentalen Verfasstheit der kulturellen Formation, die die Verhaltensweisen hervorbringt. Diese symbolischen Praktiken lassen Rückschlüsse auf einen gemeinsamen Wissensraum zu. Alles, was Hinweise auf solche Handlungen, konkret auf den (Fabrik-)Tourismus als symbolische Praxis, enthält, kann daher ein Nachweis für die Mentalität innerhalb eines bestimmten Zeitraums und einer bestimmten Gruppe sein.150 Im Folgenden soll zuerst reflektiert werden, welche Quellen generell auf welche Weise Aufschluss über touristische Praktiken und mentale Raumkonstruktionen insbesondere mit Blick auf die Fabrik geben können, um dann konkrete Medien und Überreste zu benennen, die den Quellenkorpus der weiteren Untersuchung bilden.

2.3.1. Die Rekonstruktion von touristischen Wissensräumen

Bei der Rekonstruktion des touristischen Erlebnisses in der Fabrik stellt sich das Pro­ blem, dass gerade auf performativen Akten basierende Inszenierungen, die zur Kon­ struktion eines mentalen Wissensraumes beitragen, Phänomene sind, die nur aus In­dizien abgeleitet werden können.151 Bedeutung wird im Zusammenspiel aller Beteiligten im Augenblick des Äußerns, Aufführens oder Verhaltens hervorgebracht. Inszenierungen sind damit temporär begrenzte Erscheinungen, die nicht beliebig wiederholbar sind, sondern auf einem komplexen Zusammenspiel von dem Moment verhafteten sinnlichen Eindrücken beruhen. „Dem Auge, dem Ohr, der Nase des Historikers bleibt der entscheidende Akt dagegen entzogen.“152 Das Ausschlaggebende bei der Teilnahme an einer bürgerlichen Abendeinladung ebenso wie beim Besuch einer Ausstellung oder der Besichtigung von Fabriken spielt sich in der Imagination der Betrachterinnen und Betrachter ab. Das historische Material, das das Ereignis belegt, spiegelt dagegen nur ei-

150 Vgl. Raulff, Vorwort, S. 15; Schulze, Mentalitätsgeschichte, S. 255. Vgl. für die allgemeine Problematik bei der Rekonstruktion von Mentalitäten Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, S. XXII. 151 Entsprechende, das Problem kritisch reflektierende Versuche wurden bisher in der historischen Forschung kaum unternommen. Einen Ansatz liefert Christina Wessely mit ihrer Dissertation aus dem Jahr 2008. Vgl. Wessely, Künstliche Tiere. Ähnliche Überlegungen verfolgt der Anthropologe Utz Anhalt in seiner Dissertation aus demselben Jahr. Vgl. Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten. 152 Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 27.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

52

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

nen Bruchteil des Erlebnisses wider.153 Es sind hauptsächlich die Spuren, die der Prozess hinterlassen hat, Hilfsmittel, die während des Ereignisses zum Einsatz kamen oder das Ereignis vor- oder nachbereiteten.154 Reisereportagen und Reiseanleitungen belegen, welchen Eindruck von dem touristischen Erlebnis die Autorinnen und Autoren155 im Nachhinein vermitteln wollten – und wie sie sich selbst als Reisende inszenierten –, beziehungsweise, welche Vorstellungen potenzielle Reisende im Vorfeld erhielten und wodurch ihre Vorstellungen und Erwartungen geprägt werden konnten. Ebenso weisen die Texte auf Postkarten darauf hin, wie der Reisende sich selbst darstellen wollte, insbesondere gegenüber den Daheimgebliebenen, die nicht in den Genuss des Erlebnisses kamen. Die Bilder von Bildpostkarten offenbaren dagegen einerseits, wie der bereiste Ort (zumeist von den Ortsansässigen) als touristisches Ziel präsentiert wurde, machen andererseits aber wiederum deutlich, welche Bilder von diesem Ort reziepiert wurden. Gleiches gilt für andere touristische Werbemittel eines Raumes. Schließlich bieten Überreste des touristischen Besuchs Einblicke in die Vorgänge und Abläufe des Ereignisses. Von diesen Quellen ist jedoch nicht zu erwarten, dass das Erleben der Touristin und des Touristen der Historikerin oder dem Historiker unmittelbar zugänglich wird, dass sie direkte Hinweise auf das dem Tourismus als symbolische Praxis zugrundeliegende vortheoretische Wissen enthalten. Selbst der Versuch der Artikulation des Erlebten kann nur ein indirekter Hinweis sein, da der unbewusste Vorgang sich nur in Teilen im Gesagten niedergeschlagen hat. Wie lassen sich die dem Phänomen des Tourismus zugrundeliegenden Mentalitäten trotzdem für die Geschichtswissenschaft fassbar machen? Gerhard Huck wies bei seiner Annäherung an Reiseberichte als historische Quellen darauf hin, dass die ihnen zu entnehmende Erkenntnis (re-)konstruiert werden müsse.156 Was Huck für die damals neu entdeckte Quelle des Reiseberichts feststellte, gilt für jede Beschreibung einer subjektiv erlebten Inszenierung: Sie muss gegen den Strich gelesen werden, soll sie ihre verborgenen Inhalte preisgeben. Eine Anleitung dazu bietet die vom Ethnologen Clifford Geertz 153 Vgl. Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten, S. 32, 228. 154 Von vergleichbaren Annahmen geht die Diskurstheorie aus, die soziale Realitäten aus den diskursiven Praktiken einer Gesellschaft rekonstruiert und die Akte der Konstruktion dabei versucht zu enthüllen, vgl. Strüver, Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie, S. 62; Coupland/Jaworski, Discourse, S. 134. Für die historische Diskursanalyse bedeutet dies, die diskursiven Praktiken aus geeigneten Quellen herauszuarbeiten, vgl. Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main/New York, NY 2008, S. 102. 155 Zur Frage der Bedeutung von Autorinnen für die Zeitschriften- und Reiseliteratur vgl. Kapitel 3.3.2. 156 Vgl. Gerhard Huck: Der Reisebericht als historische Quelle, in: ders./Jürgen Reulecke (Hrsg.): … und reges Leben ist überall sichtbar! Reisen im Bergischen Land um 1800 (Bergische Forschungen. Quellen und Forschungen zur bergischen Geschichte, Kunst und Literatur, Bd. 15), Neustadt an der Aisch 1978, S. 27–44, hier S. 28.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

53

eingeführte, auf einem semiotischen Ansatz beruhende Methode der ‚dichten Beschreibung‘, deren Ziel es ist, die ineinandergreifenden Systeme auslegbarer Zeichen, die die jeweilige Kultur ausmachen, in Einzelbeispielen genauestens zu betrachten und aus der Sicht der Handelnden zu interpretieren.157 Es gilt, nicht mehr im Sinne einer traditionellen Hermeneutik hinter die Erscheinungen zu gelangen, um deren ‚eigentlichen‘ Kern freizulegen, sondern hermeneutische Verfahren zu nutzen, um dem Problem nachzugehen, welche Umstände dazu führten, bestimmte Erscheinungen als Wirklichkeit hervorzubringen.158 Hinter der unmittelbaren Aussage einer Quelle muss die Symbolik, müssen Verhaltenspraktiken und spezifische Techniken des Sehens erst entziffert werden.159 Für den Umgang mit wie auch immer gearteten Schilderungen eines touristischen Erlebnisses bedeutet dies, den verbalen Beschreibungen von Blickpraktiken nachzuspüren, die Vorgaben zu erkennen, wie sich der ‚Tourist‘ durch einen Raum zu bewegen hatte und zu identifzieren, was für ein Verhalten, Empfinden und Werten in dieser Rolle angebracht war. Christina Wessely spricht in ihrer Arbeit zu zoologischen Gärten als Orten der Moderne von „Erfahrungen und Praktiken des Umgangs mit und in spezifischen Umgebungen, Formen der Wahrnehmung, die mit spezifischen Techniken des Gehens und Sehens verbunden sind“,160 die aus den Quellen zu rekonstruieren seien. Dasselbe gilt für die Erkenntnisse aus Bildquellen. Für die Rekonstruktion eines bürgerlichen touristischen Wissensraumes interessieren in diesem Zusammenhang vorrangig die in Zeichnungen und Fotografien und ihren vielfältigen Publikations- und Erscheinungsformen enthaltenen Aussagen über eine bestimmte Wirklichkeitswahrnehmung, die sich beispielsweise durch die Analyse von Blickpraktiken herausarbeiten lässt. Davon ausgehend, dass eine realienkundliche Bildinterpretation, deren einziger Zugang zu einem Bild der ist, die dargestellten Gegenstände und ihren Verwendungszusammenhang als Beispiele der materiellen Kultur einer vergangenen Wirklichkeit aufzufassen, dieser Quellenart keinesfalls gerecht wird, hat sich in den vergangenen Jahren in der Geschichtswissenschaft ein Umgang mit Bildern entwickelt, der versucht, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit hinaus als Medien zu untersuchen, die einerseits als Konstruktionen und Repräsentationen zu begreifen sind, als solche andererseits Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen und so wiederum Wissen konstruieren.161 Eine solche Betrachtungsweise von Bildern stützt sich neben 157 Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung, insbes. S. 21f. 158 Vgl. Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 92. 159 Vgl. Raulff, Vorwort, S. 15; Schulze, Mentalitätsgeschichte, S. 255; Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn“, S. 27. 160 Wessely, Künstliche Tiere, S. 23. 161 Vgl. Peter Burke: Eyewitnessing: The Uses of Images as Historical Evidence, London 2001; Gerhard Paul: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.): Visual

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

54

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

den Impulsen aus der Annales-Schule,162 aus den Visual Culture Studies163 oder aus der Politik- und Kulturwissenschaft164 auf kunstgeschichtliche, erkenntnistheoretische und sprachwissenschaftliche Verfahren und bezieht diese auf die Bedürfnisse der Geschichtswissenschaft im Umgang mit ihren Quellen. Während die Kunstgeschichte beispielsweise mit den Verfahren der Ikonologie und der Funktionsanalyse immer die Frage nach der Gesellschaft um der Interpretation des Bildes Willen stellt, fragen Historikerinnen und Historiker nach dem Bild als Spiegel der Umstände. Und während die Philosophie und die Sprachwissenschaft Zeichensysteme, Repräsentationen und Diskurse in der Gegenwart auffächern, wird zumeist der Blick in die zeitliche Tiefe vernachlässigt. Bei der Analyse von Bildern als touristische Konstruktionen müssen daher 1) der Entstehungszusammenhang, 2) der Inhalt, 3) der historische Kontext, 4) das im Bild verborgene Wissen und 5) der Konstruktionscharakter des Bildes herausgearbeitet werden.165 Während die ersten Schritte noch wie die Teile einer klassischen hermeneutischen Textinterpretation scheinen, offenbart sich in den letzten beiden Schritten der Anspruch der Kulturgeschichte, nach Wahrnehmungs- und Erfahrungsmustern, nach unbewusstem Wissen, welches das Handeln steuert, zu suchen.166 Konkret bedeutet dies, mit einer Funktionsanalyse zu beginnen, die nach Produktions- und Distributionsbedingungen, formaler Gestaltung und Rezeptionskontext fragt und so das einzelne Bild in einen Zusammenhang bringt.167 Als nächstes muss History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006 S. 7–36; Heike Talkenberger: Von der Illustration zur Interpretation: Das Bild als historische Quelle. Methodische Überlegungen zur historischen Bildkunde, in: Zeitschrift für historische Forschung, Bd. 21, H. 3, 1994, S. 289–313. 162 Insbesondere aus der Annales-Schule stammt die Erkenntnis, dass Bilder kollektive mentale Ängste und Hoffnungen spiegeln, vgl. Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, S. 11. 163 In den Visual Culture Studies stehen nicht die visuellen Objekte im Vordergrund, sondern die Praktiken des Sehens und Wahrnehmens. Statt um die Interpretation von Bildern geht es vorrangig um visuelle Alltagspraktiken, vgl. ebd., S. 11f. 164 In der Politik- ebenso wie in der Kulturwissenschaft werden Fragen nach der visuellen Politik, nach Symbolsprache und Selbstinszenierung untersucht, vgl. ebd., S. 12. 165 Gerhard Paul fordert für die Visual History einen „pragmatische[n] Mix verschiedener methodischer Ansätze“, Paul, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, S. 21. Dieser soll im Folgenden angewendet werden. 166 Dieses Vorgehen ist ebenfalls bei der bereits thematisierten Interpretation von Texten und Sachquellen, die auf touristische Praktiken schließen lassen, angebracht und wurde mit dem Hinweis auf die Wahrnehmungsformen und Blickpraktiken, denen in diesen Quellen nachgespürt werden müsse, auch schon thematisiert. Dass an dieser Stelle das Vorgehen in Bezug auf die Bildquellen noch einmal ausführlicher skizziert wird, hängt mit der immer noch nicht ausreichenden Tradition solch einer Interpretationsweise von Bildquellen als Teil der Visual History zusammen. 167 Vgl. zur Funktionsanalyse z.B. Hans Belting: Das Werk im Kontext, in: ders./Heinrich Dilly/Wolfgang Kemp/Willibald Sauerländer/Martin Warnke (Hrsg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, 7. Aufl., Berlin 2008, S. 229–246.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

55

das Bild in Anlehnung an den ersten Schritt der dreiteiligen ikonographisch-ikonologischen Analyse Panofskys168 auf das Genaueste beschrieben werden, ohne bereits eine Deutung vorzunehmen. Eine solche erfolgt in Ansätzen in einem weiteren Schritt, in dem – angelehnt an die ikonographische Analyse – der visuelle Wissensbestand der Zeit betrachtet wird. Der nun wichtigste Punkt der Interpretation besteht darin – fußend auf den Theorien der Semiotik und der Repräsentation169 wie der ikonologischen Analyse – den ‚Code‘ des Bildes zu entschlüsseln und seinen Zeichencharakter zu deuten, das in dem Bild unbewusst verarbeitete und unbewusst bestehende Wissen herauszuarbeiten, es als Zeichen einer touristischen Praktik zu verstehen. Dann schließlich lässt sich der Konstruktionscharakter des Bildes erkennen,170 sowohl als Produkt bestehender Seh- und Wahrnehmungsmuster als auch als Produzent solcher Praktiken.171 Auf diese Weise kann zugleich die Blickpraktik des ‚Touristen‘ als Teil eines performativen Aktes aus einem Bild interpretiert werden, denn es ist davon auszugehen, dass die angehenden Reisenden zuvor schon zu ihren Reisezielen passende Bilder gesehen hatten, die ihre eigenen Vorstellungen dessen geprägt haben, was sie erwarten würde – und genau dieses erwartete Bild suchten sie in der touristischen Sehenswürdigkeit dann zu erkennen.172 Nach der Beschreibung der dargestellten Szene, etwa eines Produktionsprozesses in einer Fabrik, wird diese Szene in den Kontext eines Fabrikbesuches gesetzt, in dem sie den Blick einer Besucherin oder eines Besuchers wiedergibt. In der Interpretation lassen sich dann Fragen nach dem Verhältnis von Betrachtenden und 168 Vgl. Erwin Panofsky: Ikonographie und Ikonologie (1939/1955), in: Ekkehard Kaemmerling (Hrsg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme, Köln 1979, S. 207– 225. 169 Vgl. zur Theorie der Repräsentation beispielsweise Stuart Hall: The Work of Representation, in: ders.: Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 15–63, insbes. S. 15–30; vgl. zur praktischen Anwendung der Semiotik in der Bildanalyse Thomas Friedrich/Gerhard Schweppenhäuser: Bildsemiotik. Grundlagen und exemplarische Analysen visueller Kommunikation, Basel 2010. 170 Insbesondere Philipp Sarasin betont in seinem Kommentar zum Schwerpunktthema „Bilder von Körpern“ der Zeitschrift WerkstattGeschichte den Konstruktionscharakter von Bildern, vgl. Philipp Sarasin: Bilder und Texte. Ein Kommentar, in: WerkstattGeschichte, Bd. 47, 2007, S. 75–80. Vgl. auch Martina Heßler: Bilder zwischen Kunst und Wissenschaft. Neue Herausforderungen für die Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 31, H. 2, 2005, S. 266–292. Sie stellt heraus, dass Bilder nicht nur reine Repräsentationen sind, sondern Wissen konstruieren. 171 Vgl. hierzu auch die Ansätze der diskurstheoretisch ausgerichteten Bildanalyse von Miggelbrink und Schlottmann, vgl. Judith Miggelbrink/Antje Schlottmann: Diskurstheoretisch orientierte Analyse von Bildern, in: Glasze/Mattissek, Handbuch Diskurs und Raum, S. 181–198. 172 Cord Pagenstecher nimmt auf diesem Gebiet mit seiner Untersuchung des touristischen Blicks im Rahmen einer ‚Visual History‘ eine Vorreiterrolle ein, vgl. Cord Pagenstecher: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950–1990 (Schriftenreihe Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 34), Hamburg 2003, S. 68.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

56

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Betrachtetem, nach der durch Blicke transportierten Rollenzuweisung ebenso beantworten wie nach dem Grad der Ästhetisierung als Mittel der Inszenierung.173 Ebenso lassen sich aus den Überresten eines touristischen Ereignisses Rückschlüsse auf mentale Wissensräume ableiten. Dazu werden sie ebenfalls als Teil einer wohldurchdachten Inszenierung interpretiert. Während eine Speisekarte aus dem Kontext einer Fabrikbesichtigung natürlich Aufschluss darüber gibt, dass in solch einem Rahmen auch etwas zu Essen gereicht wurde, lassen die Qualität der Speisen, die Zahl der Gänge, die Auswahl an Getränken und nicht zuletzt die grafische Gestaltung eine Einordnung in einen bürgerlichen Kulturkreis zu, der sich über gesteigerte Ästhetisierung beispielsweise von Mahlzeiten konstituierte.174 Damit wurde der Fabrikbesuch ebenfalls als Teil eines bürgerlichen Kulturkreises erkennbar, wurden Praktiken aus dem privaten Umfeld in die Fabrik übertragen. Und während eine Liste von Stationen einer Führung durch die Fabrik einerseits Aufschluss über die besichtigten Maschinen und Prozesse gibt, kann sie, eingeordnet in das Bildungsstreben des Bürgertums, eben dieses entlarven helfen, indem die Unmöglichkeit herausgearbeitet wird, eine Vielzahl technischer Abläufe in einer Zeit von zwei Stunden von Grunde auf zu begreifen. In welchen Medien und an welchen Orten finden sich nun konkret Berichte über die Fabrik als touristisches Ziel, finden sich Bilder, die den touristischen Blick in die Fabrik thematisieren, oder Überreste, aus denen sich die Inszenierung rekonstruieren lässt?

2.3.2. Mediale Grundlagen der Rekonstruktion des Fabrikbesuchs: Reportagen und Industriebilder

Als gemeinsame Grundlage aller Medien, die Rückschlüsse auf die Fabrik als touristische Attraktion zulassen, lassen sich im Wesentlichen die Reportage und das Industriebild sowie eine multimodale Kombination aus beidem ausmachen. Die Reportage der Gegenwart wie der Vergangenheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie Erlebnisse in einer Erzählung inszeniert, die das Fremde dem Vertrauten gegenüberstellt.175 Die Reportage erschließt das Verborgene, das Ausgegrenzte wie ein fernes, exotisches Land und bringt es der Leserschaft durch präzise Beobachtungen und Schilderungen näher.176 Der Autor muss dem Fremden das Befremdliche nehmen, indem er 173 Anregend ist der reflektierte Umgang mit Bildern aus der Fabrik von Uhl, vgl. Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014, insbes. S. 36. 174 Vgl. zur Theorie der sozialen Distinktion nach Bourdieu Kapitel 2.1.1. 175 Vgl. Michael Haller: Die Reportage, 6. Aufl., Konstanz 2008, S. 17f. 176 Vgl. ebd., S. 35.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

57

Beobachtungen genau beschreibt und das Beschriebene erklärt und deutet. Dabei darf die Faszination des Fremden jedoch nicht verloren gehen, sondern muss „durch die Unmittelbarkeit der Sprache und die Sinnlichkeit der Schilderungen“177 gegenwärtig bleiben. Diese Merkmale, die Michael Haller sowohl aus den Reiseberichten Herodots als auch aus den modernen Reportagen beispielsweise von Heine und Fontane herausarbeitet,178 treffen umfänglich auf die Fabrikreportagen der illustrierten Zeitschriften zu, lassen sich jedoch mit Abstrichen ebenfalls in den Reiseführern des Baedeker oder in den Selbstdarstellungen der Fabriken finden. Im 19. Jahrhundert unternahm es die Reportage in Europa und Nordamerika zunehmend, extreme Arbeits- und Lebensbedingungen einer mittelständischen Leserschaft näherzubringen.179 Die Textform wurde ebenso von Sozialarbeitern genutzt, um die Lebensumstände der Arbeiterschaft eindrücklich zu schildern,180 wie von investigativen Journalistinnen und Journalisten wie den ‚Muckrakern‘, die die Zustände in der Wirtschaft und Politik der USA äußerst kritisch untersuchten,181 und natürlich von der zumeist illustrierten Presse, die beispielsweise die städtischen Unterschichten als Touristenattraktion inszenierte.182 Insbesondere bei der touristischen Inszenierung des Fremden verstand es die Reportage des 19. Jahrhunderts, „eine spezifische Art des neugierigen Blicks […] zu konstruieren und zu etablieren“,183 mit dem Menschen zu Schauobjekten umgedeutet wurden.184 Was Angela Schwarz für die Berichte der Londoner Presse über die Unterschichten und ihre Viertel konstatiert, lässt sich ohne weiteres auf die Reportagen aus deutschen Fabriken übertragen. Die Urheberschaft der Konstruktion dieser Blicke in die Fabrik ist indes nicht immer klar zu bestimmten, denn ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts versuchten die Unternehmen verstärkt, Einfluss auf die Berichterstattung der Presse zu nehmen, indem beispielsweise eigene Abteilungen für den Umgang mit der Öffentlichkeit eingerichtet wurden, die Informationen bereitstellten, Manuskripte externer Journalisten korrigierten oder gar selbst ganze Artikel schrieben und zur Verfügung stellten, Angebote, die die Presse gerne annahm.185 177 Ebd., S. 20. 178 Vgl. ebd., S. 18, 35. 179 Vgl. ebd., S. 35. 180 Vgl. Poore, The Bonds of Labour. 181 Vgl. u.a. David Mark Chalmers: The Social and Political Ideas of the Muckrakers, 2. Aufl., Freeport, NY 1970. 182 Vgl. Schwarz, „East-Enders“. 183 Haller, Die Reportage, S. 4f. 184 Vgl. ebd., S. 13. 185 Barbara Wolbring untersucht diese Verschränkung zwischen Unternehmen und Presse detailliert für die Firma Krupp und stellt vielfältige gegenseitige Entgegenkommen fest, neben den genannten

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

58

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Wie die Nachfrage nach Reportagen über die Lebenswelt der Unterschicht insgesamt sowohl bei der Gruppe von Leserinnen und Lesern stieg, die selbst bereits eine Reise in diese Welt unternommen hatte, als auch bei der größeren Gruppe derer, die die Reise lieber durch die Lektüre vom heimischen Sessel aus machen wollten, weitete sich ebenso – so die Vermutung – die Nachfrage nach Reportagen über die Arbeitswelt aus. Diese begegneten der Leserschaft dann insbesondere in illustrierten Zeitschriften, in einem geringeren Umfang auch in den Schriften der Unternehmen selbst, in Reiseführern und Reisehandbüchern. Speziell die beiden erstgenannten Medien verknüpften die Texte der Reportagen mit Illustrationen als Ergänzungen und Ausschmückungen, deren Bedeutung so weit ging, dass die Texte bisweilen ganz in den Hintergrund traten. Allein die Reisehandbücher nach dem Vorbild des Baedeker kamen ganz ohne Bebilderung aus, wohingegen auf Postkarten das Bild zum Leitmotiv wurde.186 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts spielte das Industriebild in verschiedenen Entstehungs- und Veröffentlichungszusammenhängen und in unterschiedlichen Gestaltungsformen eine zunehmende Rolle. Eine frühe Form bildeten Darstellungen von Fabrikanlagen in klassischen Gemälden, die zur Selbstinszenierung der Unternehmen unter anderem auch die Unterstützung bestimmter Zeitungen durch Abonnements, für die dann eine positive Berichterstattung erwartet wurde, vgl. Barbara Wolbring: Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Selbstdarstellung, öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Kommunikation (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 6), München 2000, S. 228–234. Vgl. insgesamt zum Verhältnis von Unternehmen und Öffentlichkeit Ende des 19. Jahrhunderts Kapitel 4.2.3. 186 Umso erstaunlicher ist es, dass die Illustrationen weit weniger von der Forschung beachtet wurden als die Texte der Zeitschriften. Ausnahmen in den Forschungen der letzen 20 Jahre bildeten die Untersuchung von Angela Schwarz, die sich mit Fragen nach dem Stellenwert von Abbildungen bei der Verbreitung von Wissen beschäftigt, sich allerdings nicht speziell auf illustrierte Zeitschriften, sondern auf populärwissenschaftliche Veröffentlichungen allgemein und auf das Beispiel Großbritannien bezieht, vgl. Angela Schwarz: Populärwissenschaftlich in Text und Bild? Zur Visualisierung in der britischen Populärwissenschaft des 19. Jahrhunderts: Das Beispiel der Literatur für Kinder und Jugendliche, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 56, 2002, S. 179–202, und Joachim Schöberl, der die Verknüpfung von Wort und Bild in illustrierten Familienzeitungen als Vorgänger der im Film Anwendung findenden Verknüpfungsmuster deutet, vgl. Joachim Schöberl: „Verzierende und erklärenden Abbildungen“. Wort und Bild in den illustrierten Familienzeitschriften des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel der Gartenlaube, in: Harro Segeberg (Hrsg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films, Bd. 1), München 1996, S. 209–233. Der Bedeutung der Verbindung von Text und Bild in Illustrierten Zeitschriften wurde dann schließlich jüngst in dem Sammelband von Natascha Igl und Julia Menzel Rechnung getragen, vgl. darin insbes. Hans-Jürgen Bucher: Mehr als Text mit Bild. Zur Multimodalität der Illustrierten Zeitungen und Zeitschriften im 19. Jahrhundert, in: Igl/Menzel, Illustrierte Zeitschriften um 1900, S. 25–73.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

59

dienten.187 Als die ersten Firmen um die Mitte des Jahrhunderts beispielsweise begannen, auf ihre wenn auch noch kurze Betriebsgeschichte zurückzublicken, diente ihnen die Abbildung der expandierten Fabrikanlagen als Zeichen des Erfolgs, wobei sie konventionellen Darstellungsformen weitgehend treu blieben und diese nur an das neue Sujet anpassten. Insbesondere Landschafts- und Architekturmaler waren daher als Werksmaler sehr beliebt.188 Das so entstehende Industriebild, das „diese modernen Stätten der Arbeit als äußere Erscheinung, gewissermaßen als modernstes Landschaftsbild mit und ohne Staffage wiedergibt“,189 wurde bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als besondere Kunstform erkannt und in Ausstellungen und wissenschaftlichen Publikationen thematisiert.190 Als spezielles Merkmal machte Paul Brandt bereits 1928 aus, dass nicht mehr der Mensch „Träger der künstlerischen Idee“ gewesen sei, sondern die „Ungeheuer[ ] der Technik“191 mit ihrem gigantischen Maßstab. Die Darstellung der Arbeitsvorgänge in diesen Fabrikhallen lässt sich zurückführen auf berühmte Vorläufer, unter anderem die Illustrationen zur Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, die von 1751 bis 1780 unter der Herausgeberschaft von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert erschien. Bis dahin hatte die Überzeugung vorgeherrscht, dass die freien und die mechanischen Künste separat zu betrachten seien. Dem setzten die Herausgeber der Encyclopédie nicht nur die gemeinsame Behandlung in einem umfassenden Werk entgegen, sondern gaben den Abbildungen von Arbeits- und Herstellungsprozessen, von den dabei notwendigen Werkzeugen und Maschinen und den hierdurch hergestellten Produkten in der Zahl den Vorzug gegenüber der Ideengeschichte.192 So hatte die Encyclopédie letztlich eher „a flavor of a distinctly industrial kind“193 als den bis dahin typischen Charakter einer Zusammenschau klassischer Bildungsinhalte. Bemerkenswert bei den Zeichnungen ist 187 Vgl. Klaus Herding: Industriebild und Moderne. Zur künstlerischen Bewältigung der Technik im Übergang zur Großmaschinerie (1830–1890), in: Helmut Pfeiffer/Hans Robert Jauß/Françoise Gaillard (Hrsg.): Art social und art industriell. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus, München 1987, S. 429. Vgl. zur repräsentativen bildlichen Darstellung des Äußeren von Fabrikanlagen auch Kapitel 4.2.3. und 4.3.3. 188 Ein Beispiel für derartige Auftragsarbeiten zum Firmenjubiläum bieten zwei Gemälde, die die Borsigsche Maschinenbauanstalt aus Berlin 1847 zum zehnjährigen Bestehen des Unternehmens in Auftrag gab, vgl. Dieter Vorsteher: Das Industriebild als Auftrag zwischen Vormärz und Gründerzeit, in: Sabine Beneke/Hans Ottomeyer (Hrsg.): Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Berlin/Wolfratshausen 2002, S. 66–79, hier S. 66. 189 Paul Brandt: Schaffende Arbeit und Bildende Kunst, Leipzig 1928, S. 331. 190 Vgl. ebd. 191 Ebd. 192 Vgl. Stephen Werner: Blueprint. A Study of Diderot and the Encyclopédie Plates, Birmingham, AL 1993, S. 32, 89. 193 Ebd., S. 21.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

60

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

die Prozesshaftigkeit der Darstellung, die nicht nur die nötigen Gerätschaften des Produktionsvorgangs, seine und Vor- und Zwischenprodukte umreißt, sondern insbesondere den Gang der Herstellung. Die Skizze beispielsweise zu „Cloutier d’Epingles“, zur Drahtgitterherstellung, zeigt vier Arbeiter, die nebeneinander an Werktischen stehen oder sitzen und von links nach rechts betrachtet verschiedene aufeinanderfolgende Produktionsschritte vollziehen.194 Die Zeichnung bildet damit nicht zwingend die Realität ab, sondern offenbart ein Schema, das sich durch exakte Darstellung und Beschriftung auszeichnet. Diese Abbildungskonvention wurde unter anderem in den illustrierten Zeitschriften des 19. Jahrhunderts zur Vorstellung von Arbeitsprozessen übernommen. Spätestens im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung und Demokratisierung erlangte der Mensch als handelndes Subjekt ebenfalls eine neue Bedeutung. Durch die Dignität der Arbeit, die vorwiegend in Gemälden aus der industriellen Welt vermittelt wurde, wuchs den Arbeitenden eine Rolle zu, die bisher mythischen Helden oder den Vertretern der gehobenen Stände vorbehalten gewesen war.195 Die Monumentalisierung hauptsächlich männlicher Arbeiter wies jedoch zugleich auf eine Paradoxie hin: Zwar wurden die Akteure und ihre Arbeit von der bürgerlichen Welt mit einer hohen Wertschätzung versehen, gleichzeitig aber die Härte ihrer Lebens- und Arbeitsumstände verharmlost.196 Herrschte in der Anfangszeit des Industriebildes noch das Gemälde oder die Zeichnung als Abbildungstechnik vor, entstand in der Folgezeit parallel dazu die Industriefotografie. Doch obschon die Fotografie als Produkt des Industriezeitalters häufig für ein besonders angemessenes Mittel der Industriedarstellung gehalten wird, standen beide Abbildungstechniken, insbesondere wenn es um die Vervielfältigung in gedruckter Form ging, selbst um die Wende zum 20. Jahrhundert noch gleichberechtigt nebenein­ ander. Erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts war es überhaupt gelungen, Fotografien für die Presse unmittelbar nutzbar zu machen, indem sie mithilfe der Autotypie in eine Druckvorlage überführt werden konnten. Danach trat die Fotografie jedoch noch keinen direkten Siegeszug in diesem Medium an. Selbst in den neunziger Jahren waren nach wie vor vorwiegend nach Holzstichen gefertigte Abbildungen statt Reproduktionen von Fotografien in den Zeitschriften zu finden. Aufgrund der 194 Vgl. z.B. Cloutier d’Epingles, in: Diderots Enzyklopädie. Die Bildtafeln 1762–1777, Erster Band, bearb. von Gerd Zill, Augsburg 1996, S. 616f. 195 Vgl. Hubertus Kohle: Das Industriebild als modernes Historienbild. Monumentalisierung und Heroisierung von Industrie und Arbeit in Belgien, in: Beneke/Ottomeyer, Die zweite Schöpfung, S. 80–85, hier S. 80–83. 196 Vgl. ebd., S. 84. Kohle verweist bei dieser Problematik auf Adorno, der hinter diesem künstlerischen Vorgehen eine bürgerliche Strategie vermutet, sich die Arbeiterschaft zu unterwerfen, vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, S. 341.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

61

Fertigkeiten und Erfahrung der Pressezeichner gegenüber den noch wenigen und oft mangelhaft ausgebildeten Fotografen und wegen noch bestehender technischer Schwierigkeiten, von der Kostenfrage einmal ganz abgesehen, erreichten die Abbildungen nach Holzstichen eine höhere Intensität und Aussagekraft.197 Bei der Abbildung von Maschinen, Arbeitsvorgängen und Arbeiterinnen und Arbeitern waren sie gegenüber Fotografien besser in der Lage, Details, Abläufe und menschliche Regungen einzufangen. Fotografien dagegen waren noch nicht in gleichem Maße fähig, industrielle Verfahren und Prozesse abzubilden.198 Sie konnten weder die Dynamik des Arbeitsprozesses noch seine Komplexität wiedergeben. Erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts ermöglichte es der Elektronenblitz, Arbeitsprozesse detailliert zu fotografieren.199 Nichtsdestoweniger setzten gerade die Unternehmen auf die Fotografie, um ihre Arbeitsvorgänge, Werkshallen und Maschinen abzubilden. Diese Fotografien versuchten unter anderem, die qualitativen Einschränkungen durch eine quantitative Erfassung zu ersetzen. So bildeten sie häufig eine Vielzahl von gleichförmigen Maschinen und Produkten ab und nutzten dafür die Tiefenfluchten der lang gezogenen Fabrikhallen.200 Qualitativ setzte die Industriefotografie auf besondere Präzision im Detail, die trotz beschränkter technischer Möglichkeiten umzusetzen war, beispielsweise durch die isolierte Wiedergabe von Maschinen vor neutralem, aufgehelltem Hintergrund, künstliche Hervorhebung einzelner Teile durch Transparenz anderer oder sogar einen Schnitt durch die Maschine, also jeweils synthetische Situationen, die nicht der Produktionsrealität entsprachen und den Gegenstand aus seinem Kontext herauslösten.201 „An industrial photographer learned to spend a great deal of time searching for the best angle to shoot from and in doing so did not hesitate to move objects, polish surfaces, or otherwise modify the surroundings“,202 stellt der Technikhistoriker David E. Nye fest. Eine wichtige Komponente bildete zudem die einfallsreiche Gestaltung des Lichts 197 Vgl. Hartwig Gebhardt: Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung, in: Buchhandelsgeschichte (Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel), Jg. 10, H. 2, 1983, S. 41–65, hier S. 52f.; Klaus Pohl: Die Welt für Jedermann. Reisephotographie in deutschen Illustrierten der zwanziger und dreißiger Jahre, in: ders. (Hrsg.): Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850-heute, Gießen 1983, S. 96–127, hier S. 96; Bucher, Mehr als Text mit Bild, S. 44; Klaus Herding: Die Industrie als ‚zweite Schöpfung‘, in: Beneke/Ottomeyer, Die zweite Schöpfung, S. 10–27, hier S. 13. Vgl. zum frühen Bildjournalismus allgemein Jens Jäger: Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main 2009, S. 120–124. 198 Vgl. Herding, Industriebild und Moderne, S. 434f. 199 Vgl. Uhl, Humane Rationalisierung, S. 39. 200 Vgl. Herding, Industriebild und Moderne, S. 458. 201 Vgl. ders., Die Industrie als ‚zweite Schöpfung‘, S. 14–19. 202 David E. Nye: Image Worlds. Corporate Identities at General Electric, 1890–1930, Cambridge, MA/London 1985, S. 40.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

62

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

ebenso wie die technische Notwendigkeit, Weitwinkelobjektive zu nutzen, um die Begrenzungen des Arbeitsraumes einzufangen. Dadurch erschien der Raum größer, als er war, verstärkte sich der Eindruck, die Fotografien zeigten sehr große und helle Werkshallen.203 Das, was als typischer Blick auf Maschinen und in Werkshallen eingeübt wurde, war also häufig der Abbildungstechnik geschuldet – was aber nicht heißt, dass dadurch nicht Blickkonventionen gefestigt oder überhaupt erst geschaffen wurden, die wiederum einen Effekt auf diejenigen hatten, die Industriefotografie in Auftrag gaben oder selbst erschufen. Die Industriefotografie, oder weiter gefasst, die Industrieabbildung, konnte in vielfältigen Entstehungszusammenhängen stehen, die jeweils Auswirkungen auf den Charakter und die Aussage der Bilder hatten. Sie konnte, wie schon beim frühen Indus­ triegemälde, entstanden sein als Auftragsarbeit für ein Unternehmen, das das Bild zur Selbstinszenierung als Hort der Modernität, Größe, Ordnung und Leistungsfähigkeit gegenüber potenzieller Kundschaft oder allgemeiner einer breiteren Öffentlichkeit nutzen wollte.204 Dazu richteten die Unternehmen in den führenden Industrienationen zum Ende des Jahrhunderts hin eigene Abteilungen zum Herstellen von Fotografien ein, die danach steitig vergrößert wurden.205 Diese Bilder strebten zwar eine exakte Objektwiedergabe an, gleichzeitig sollten sie jedoch ebenso den Fabrikanten und seine Produktionsstätte verherrlichen. Aus dieser Diskrepanz entstand das Besondere des Industriebildes, das Klaus Türk treffend als „impressionistische[n] Positivismus“206 beschreibt. Impressionistisch seien die Bilder aufgrund ihrer visuellen Repräsentation von Sinneseindrücken, positivistisch aufgrund der Vorannahme, dass diese Eindrücke bereits die Wirklichkeit seien.207 Es lässt sich hier also eine Korrelation zwischen den Notwendigkeiten der Industriefotografie und den Ansprüchen des Unternehmens erkennen.208 Auf diese Weise entstanden, so Türk, Modellbetriebe, die man sich in Ruhe 203 Vgl. Uhl, Humane Rationalisierung, S. 39; Nye, Image Worlds, S. 40. 204 Vgl. Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 113. 205 Vgl. für den amerikanischen Raum u.a. das Beispiel von General Electric, das David Nye detailliert untersucht, vgl. Nye, Image Worlds, S. 34–38, vgl. für Deutschland das Beispiel der Firma Krupp, vgl. Bodo von Dewitz: „Die Bilder sind nicht teuer und ich werde Quantitäten davon machen lassen!“. Zur Entstehungsgeschichte der Graphischen Anstalt, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 41–66. 206 Klaus Türk: Bilder der Arbeit. Eine ikonographische Anthologie, Wiesbaden 2000, S. 220. 207 Vgl. ebd. David Nye spricht in demselben Zusammenhang von einem „mundane realism“, Nye, Image Worlds, S. 49. 208 Ein gutes Beispiel bietet die Bebilderung der externen Firmenzeitschrift des Unternehmens AEG, in der die Produkte und Maschinen häufig gänzlich dekontextualisiert vor einem weißen Hintergrund und unter Zuhilfenahme von Lichtmanipulationen gezeigt wurden, so dass die Konturen überdeutlich hervortraten. Hierdurch sollte der objektive Charakter des Magazins unterstrichen werden, das

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

63

ansehen könne und bei deren Betrachtung man sich direkt in den Betrieb hineinversetzt fühle.209 Allein die Unternehmensleitung als Urheber eines Großteils der Industriebilder zu begreifen, mit dem ein bürgerliches Lesepublikum konfrontiert war, griffe jedoch zu kurz. Erstens konnte ein Industriebild ebenso von einem eigens von den Printmedien für die optische Gestaltung einer bestimmten Reportage in eine Fabrik entsandten Zeichner oder Fotografen oder zumindest von einem frei schaffenden Bildjournalisten gemacht worden sein, der andere Inszenierungsabsichten verfolgte als der Unternehmer selbst.210 Aus welcher Quelle die Bilder, die die Zeitschriften verwendeten, letztlich stammten, ob die Zeitschriften tatsächlich eigene Beobachter oder Fotografen schickten, ob sie auf unspezifisches Archivmaterial zurückgriffen oder ob die Redaktionen gar Werbematerialien der vorgestellten Firmen verwendeten, lässt sich allein anhand des Quellenmaterials häufig nicht nachvollziehen. Zweitens stand hinter einem Industriebild gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrheitlich ein arbeitsteiliger Prozess, der schon fast wie ein bürokratischer Vorgang anmutete und stark routiniert und standardisiert war.211 Die Beteiligten schufen durch wirtschaftliche, technische und soziale Vorbedingungen ein semiotisches System, einen Bilddiskurs, ohne sich dessen bewusst zu sein.212 In diesen Diskurs traten die Leserinnen und Leser von illustrierten Zeitschriften, Firmenveröffentlichungen oder Reiseführern, die Betrachterinnen und Betrachter von Postkarten und letztlich ebenso die Fabrikbesucherinnen und -besucher ein und deuteten ihn ihrerseits wieder (um). Die Besonderheit vieler Medien, die einen Einblick in die Fabrik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts boten, lag indes in der Kombination von Texten und Bildern, die durch das grafische ebenso wie durch das inhaltliche Verhältnis beider Darstellungsmodi zueinander weitergehende Bedeutungszusammenhänge erzeugte.213 aber letztlich allein dem Image des Unternehmens dienen sollte. Vgl. ebd., S. 66; vgl. z.B. Abbildung 36. 209 Vgl. Türk, Bilder der Arbeit, S. 227. Vgl. zur Industriefotografie auch Andreas Zeising: Dramatik und Distanz. Positionen der Industriefotografie im 20. Jahrhundert, in: Beneke/Ottomeyer, Die zweite Schöpfung, S. 114–119. 210 Vgl. Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 115f. 211 Vgl. Nye, Image Worlds, S. 48. Eine Ausnahme bildet die Firma Krupp, bei der die Erstellung von Werksfotografien zwar auch in den Händen einer eigenen Abteilung lag, die aber auch immer ‚Chefsache‘ blieb, vgl. von Dewitz, „Die Bilder sind nicht teuer“. 212 Vgl. Nye, Image Worlds, S. 153f. 213 Insbesondere die Textlinguistik widmet sich seit einiger Zeit diesem Thema, indem sie Bilder als „Textteile von verbal-visuellen Gesamttexten“ begreift und das Miteinander verschiedener Zeichensysteme untersucht, Harmut Stöckl: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild in massenmedialen Texten. Konzepte – Theorien – Analysemethoden

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

64

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Die Texte wurden in den modernen Kommunikationsformen grafisch so organisiert, dass sie ihre innere Struktur ebenso nach außen signalisierten. Sie wurden mit den Bildern und weiteren Darstellungsmodi wie Grafiken, Design, Layout oder Typografie zu einem Gesamtkommunikat kombiniert. Fragen nach Größenanteilen und räumlichen Konfigurationen von Sprache und Bild treten hier in den Vordergrund.214 Auf inhaltlicher Ebene spielten semantisch-syntaktische Bezüge zwischen sprachlichem und bildlichem Textteil in illustrierten Medien eine zunehmende Rolle.215 Dabei rücken Fragen nach der Verteilung von Informationen auf Sprache und Bild sowie nach dem generellen semantischen Verhältnis sprachlicher und visueller Botschaften zueinander ins Blickfeld.216 Bei einem Blick auf den Aufbau der Reportagen in den Familienzeitschriften unter diesen Aspekten offenbart sich beispielsweise die Neigung, im Text wie im Bild Vorgänge in Einzelszenen aufzulösen, die aneinandergereiht wurden und für die Leserschaft leicht überschaubar waren. Bilder und Texte wurden ebenso grafisch wie inhaltlich aufeinander bezogen, durch die Texte die Betrachtung der Bilder gelenkt und umgekehrt durch die Bilder das Verständnis des Textes vertieft.217

2.3.3. Medien des Fabrikbesuchs

Die Veröffentlichungen, die Fabriken in einen touristischen Zusammenhang stellten, waren wesentlich für die Wahrnehmung der Fabrik als Reiseziel. Denn ein solcher Eindruck entstand für die Besucherin oder den Besucher nicht erst in dem Moment, in dem man durch das Fabriktor trat, nicht einmal in dem Moment, in dem man sich auf den Weg dorthin machte. Die Reise begann schon früher, nämlich dort, wo man sich durch Lektüre oder Bildbetrachtungen einen Eindruck von der Fabrik verschaffte.218 Diese ‚Reise im Sessel‘ war eine Gelegenheit einerseits für diejenigen, die sich keine größere Reise zu entlegenen Orten leisten konnten, andererseits für Neugierige, die die (Linguistik – Impulse & Tendenzen, Bd. 3), Berlin/New York, NY 2004, S. 43. Vgl. jüngst auch Bucher, Mehr als Text mit Bild, S. 27–38. 214 Vgl. Stöckl, Die Sprache im Bild, S. 3, 249. 215 Auch hier stand die Enzyklopädie teilweise Pate, denn in ihr wurden, im Gegensatz zu älteren Lexika, Bilder erstmals nicht als reine Ergänzung zum Text verstanden, sondern als integrativer Teil eines größeren Ganzen, vgl. Werner, Blueprint, S. 106–109, 117. 216 Vgl. Stöckl, Die Sprache im Bild, S. 250f.; Bucher, Mehr als Text mit Bild, S. 29f. 217 Vgl. Schöberl, „Verzierende und erklärende Abbildungen“. 218 Kirshenblatt-Gimblett und Bruner benennen als wesentliche Merkmale einer touristischen Attraktion unter anderem die Reproduktion der Stätte beispielsweise durch Postkarten, Souvenirs oder die Bezeichnung als Attraktion in Berichten oder Reiseführern, vgl. Kirshenblatt-Gimblett/Bruner, Tourism, S. 302.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

65

Absicht hatten, eine solche Reise selbst zu unternehmen, und die sich vorab über alles Sehenswerte informieren wollten. In den lebhaften Schilderungen der Autorinnen und Autoren in populären Zeitschriften, unterstützt durch die Illustrationen, erhaschten die potenziellen Touristinnen und Touristen erste Blicke auf die fremde Welt der industriellen Produktion, wurden ihnen komplexe technische Abläufe verständlich, vollzogen sie mit dem Blick auf die Fabrik als Tourismusziel eine erste Annäherung. Mögliche Reiserouten konnten anhand von Reiseführern erarbeitet und im Geiste bereits nachvollzogen werden, bevor die Reise überhaupt begonnen hatte. Reisehandbücher und populäre Zeitschriften bieten daher ebenso wie Postkarten die Möglichkeit zu ergründen, wann und in welchem Zusammenhang das Potenzial der Fabrik als touristische Attraktion dargestellt und wie diese Sichtweise verbreitet wurde. Die Überreste aus den niedergelegten Vorgängen der Unternehmensführungen tun ein Übriges, den touristischen Besuch der Fabrik, seinen Ablauf und seine Ausformung, ebenso wie den Umfang der Touristenströme, zu dokumentieren.219 Reiseführer220 und hier vor allen Dingen die standardisierten und vermeintlich objektiven Reisehandbücher, von denen die Baedeker-Reihe die prominenteste war, besaßen aufgrund ihres Bekanntheits- und Verbreitungsgrades das größte Potenzial, Reisefantasien, -vorstellungen und bisweilen -vorurteile zu evozieren. Der Baedeker machte es selbst ohne große Vorkenntnisse möglich, die Bedeutung der einzelnen Sehenswürdigkeiten schnell zu erfassen.221 Ein System von Sternchen zeichnete besondere Attraktionen aus. Routenvorschläge erleichterten die Reiseplanung zusätzlich.222 Karl Baedeker erschuf so einen scheinbar gänzlich objektiven und damit absolut verlässlichen Führer, in dem jeder subjektiv anmutende Kommentar ausgeblendet war. Dazu bediente er sich einer speziellen Sprache, eines sparsamen Stiles, wie etwa der Aneinanderreihung von Halbsätzen. Auf diese Weise ermöglichte es der Autor223 der Leserschaft, so argumentiert Ulrike Pretzel, sich scheinbar durch das beschriebene Gelände zu bewegen, wobei sich diese Handlung aber nur in der Vorstellung des Autors abspielte, der diesen 219 Vgl. zu dieser Auswahl auch den Sammelband von Pritchard und Jaworski, der als multimodale Texte des touristischen Diskurses u.a. Postkarten, Broschüren, Poster, räumliche Arrangements und Artefakte behandelt, vgl. Pritchard/Jaworski, Discourse, Communication and Tourism. 220 Zur Geschichte des Reiseführers vgl. Uli Kutter: Der Reisende ist dem Philosophen, was der Arzt dem Apotheker. Über Apodemiken und Reisehandbücher, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 38–47; Ulrike Pretzel: Die Literaturform Reiseführer im 19. und 20. Jahrhundert. Untersuchung am Beispiel des Rheins, Frankfurt am Main 1995; Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die „Grand Tour“, 2. Aufl., Berlin 2001; Cornelius Neutsch/Harald Witthöft: Kaufleute zwischen Markt und Messe, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 75–82. 221 Vgl. Koshar, ‚What ought to be seen‘, S. 326. 222 Vgl. Pretzel, Die Literaturform Reiseführer, S. 59, 64. 223 Für Reiseführer-Serien wie den Baedeker ist eine vorwiegend männliche Autorenschaft anzunehmen.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

66

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Handlungsablauf lediglich konstruierte, um seinem Publikum das Nachvollziehen zu ermöglichen.224 Damit schuf der Reiseführer ein Idealbild des zu Betrachtenden, einer Stadt, einer Landschaft, eines Gebäudes. Der Nutzen des Reiseführers war so nicht nur ein praktischer als Gebrauchsanweisung, sondern vielmehr ein ideeller, indem er half, das „Nicht-Bekannte und Nicht-Vertraute“ zum „Gebrauch“225 herzurichten.226 Die Touristinnen und Touristen erhielten ein vorgefertigtes Erlebnis, bei dem sie nur noch die ihnen zugedachten und genau definierten Rollen ausfüllen mussten und bei dem es nicht um die subjektive Erfahrung ging.227 Der Baedeker als Synonym für die gesamte Gattung entwickelte sich auf diese Weise zum gesellschaftlichen Phänomen, er leitete die Blicke von Millionen von Reisenden im 19. Jahrhundert. Die „Baedekerization“228 nahm nicht nur teilweise recht groteske Ausmaße an, wenn etwa Touristinnen und Touristen bei einer Fahrt auf dem Rhein das Boot fast zum Kentern brachten, weil sie entsprechend den Empfehlungen von Sehenswürdigkeiten an beiden Flussufern in ihrem Reisehandbuch abwechselnd von einer Seite des Bootes zur anderen stürmten229 oder, 224 Vgl. Pretzel, Die Literaturform Reiseführer, S. 75. Ulrike Pretzel kommt nach einer ausführlichen Analyse der bei der Beschreibung der Rheinreisen verwendeten Sprache zu diesem Ergebnis. 225 Sabine Gorsemann: Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung. Produktion, Aufbau und Funktion von Reiseführern, Münster 1996, S. 85. 226 Vgl. auch Scherle, Nichts Fremdes ist mir fremd, S. 53–70; Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt am Main/New York, NY 2012. 227 Vgl. die Überlegungen bei Kiecol, Selbstbild und Image, S. 303; Catherine Cocks: Doing the Town. The Rise of Urban Tourism in the United States, 1850–1915, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 2001, S. 3; Pretzel, Die Literaturform Reiseführer, S. 78, 116; Ernst Wagner: Anmerkungen zu Romreiseführern, in: Reisebriefe. Schriften zur Tourismuskritik, Bd. 15/16, 1986, S. 16–32, hier S. 16; Hans-Werner Prahl: Soziologie der Freizeit, Paderborn 2002, S. 158; Peter Märker/Monika Wagner: Bildungsreise und Reisebild. Einführende Bemerkungen zum Verhältnis von Reisen und Sehen, in: Kunsthistorisches Institut der Universität Tübingen (Hrsg.): Mit dem Auge des Touristen. Zur Geschichte des Reisebildes, Tübingen 1981, S. 7–18, hier S. 10; Boris J. Krasnobaev: Russische Reiseführer des 18. Jahrhunderts, in: ders./Gert Robel/Herbert Zeman (Hrsg.): Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung, Berlin 1980, S. 83–99, hier S. 89; Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, S. 205–214. Vgl. grundlegend auch Boorstin, The Image, S. 104. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.1.3. 228 David Gilbert und Claire Hancock verwenden diesen Ausdruck in Zusammenhang mit der touristischen Aufbereitung der Stadt New York. Vgl. David Gilbert/Claire Hancock: New York City and the Transatlantic Imagination. French and English Tourism and the Spectacle of the Modern Metropolis, 1893–1939, in: Journal of Urban History, Bd. 33, Nr. 1, 2006, S. 77–107, hier S. 81. Sie beziehen sich dabei auf einen zeitgenössischen Kommentar des Reiseführerautors Muirhead, der das Erstaunen der Amerikaner über den Versuch „to Baedekerise their own country“ kommentierte. James Fullerton Muirhead: America the Land of Contrasts. A Briton’s View of His American Kin, London 1898, S. 220. 229 Vgl. Tümmers, Rheinromantik, S. 117.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

67

so beschreibt Edward Morgan Forster in seinem Roman A Room with a View von 1908, bei einer Stadtbesichtigung statt der Gebäude der Stadt nur ihre Beschreibung im Buch sahen.230 Über diese bizarr anmutenden Auswüchse hinaus hatte die ‚Baedekerization‘ noch ganz andere Dimensionen: Was eine Sehenswürdigkeit war, wie sie zu betrachten war und wie die Reise verlaufen sollte, stand im Baedeker. Indem das Reisehandbuch etwa in seinem gewohnt nüchternen Stil auch die Kanalisation, das Leichenschauhaus und den Schlachthof beispielsweise in Paris beschrieb und in die vorgeschlagenen Spazierrouten ebenso aufnahm wie Denkmäler, Museen oder Kirchen,231 ließ es die ‚düsteren‘ Stätten gleichfalls zu Sehenswürdigkeiten aufsteigen. Und wenn die Besichtigung einer Fabrik als Teil einer festgelegten touristischen Route vorgestellt wurde oder indem Reiserouten sogar durch ganze Industriegebiete führten, wurden diese ebenfalls zu touristischen Attraktionen. Neben der bereits genannten Baedeker-Reihe stellten im deutschsprachigen Raum Meyers Reisebücher oder die Reiseführer des Grieben-Verlags weitere bekannte Formate. Die Industrie als Reiseziel präsentierte allerdings nur der Baedeker ausführlicher, was neben seinem hohen Verbreitungsgrad das Hauptargument für die alleinige Untersuchung dieser Reihe darstellt. Sie unterteilte Deutschland in verschiedene geografische Regionen, über die dann in immer neuen, teils erweiterten Auflagen Reiseführer erschienen. Die Baedeker-Reiseführer, die sich Regionen widmen, in denen größere Industrieanlagen zu finden waren, lassen Rückschlüsse darauf zu, welchen Stellenwert der Baedeker der Industrie als touristischem Ziel einräumte. Vor allem die Reisehandbücher, die sich mit der Stadt Berlin und den Regionen Rheinland oder Westfalen beschäftigten, thematisierten die Industrie als Reiseziel.232 Eine noch größere Verbreitung als der Baedeker hatten illustrierte Zeitschriften als das populärste Medium des 19. Jahrhunderts. Sie erreichten ab der Mitte des Jahrhunderts eine Leserschaft, deren Zahl – geht man nicht nur von den abgesetzten Zeitschriften, sondern von einem Multiplikationseffekt aus233 – in die Millionen ging. Allein für Die Gartenlaube,234 eines der für den deutschsprachigen Raum 230 Vgl. Edward Morgan Forster: A Room with a View, London 1908, insbes. das mit „In Santa Croce with no Baedeker“ überschriebene zweite Kapitel. 231 Vgl. MacCannell, The Tourist, S. 61. 232 Für die Sichtung der verschiedenen Reiseführer der Verlage Baedeker, Grieben und Meyer wurde auf die Bestände des Historischen Archivs zum Tourismus an der TU Berlin zurückgegriffen, da sich hier die deutschlandweit umfangreichste Sammlung von Reisehandbüchern findet. Dabei wurden die jeweils in dem Zeitraum von 1890 bis 1914 erschienenen im Archiv vorhandenen Auflagen untersucht. Vgl. Historisches Archiv zum Tourismus (HAT) – Willy-Scharnow-Archiv, Technische Universität Berlin, Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG)/Center for Metropolitan Studies (CMS), URL: http://hist-soz.de/hat/archivtxt.html (Stand: 01.09.2019). 233 Vgl. Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland, S. 50. 234 Vollständiger Titel: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt; Erstverleger Ernst Keil. Zur Ver-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

68

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

bekanntesten Beispiele überhaupt, werden bereits für die Zeit um 1870 rund fünf Millionen Leserinnen und Leser angenommen,235 weit mehr, als eine politische Tageszeitung zu dieser Zeit vorweisen konnte.236 Die illustrierten Zeitschriften vereinigten Wesenszüge verschiedener Periodika im Kontext des wachsenden Bildungsbewusstseins und sich ausdifferenzierender Unterhaltungsbedürfnisse im 19. Jahrhundert.237 lagsgeschichte der Gartenlaube vgl. Dieter Barth: Das Familienblatt – ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts. Beispiele zur Gründungs- und Verlagsgeschichte, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 15, 1975, Sp. 121–316, hier Sp. 165–215. 235 Vgl. Hazel Rosenstrauch: Zum Beispiel die Gartenlaube, in: Annamaria Rucktäschel/Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Trivialliteratur, München 1976, S. 169–189, hier S. 175. 236 Vgl. zu den Auflagenzahlen der verschiedenen Familienblätter auch Dieter Barth: Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland, Münster 1974, Anlage „Auflagenentwicklung der Familienblätter“ und Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland, S. 46. 237 Vorläufer im eigenen Sprachraum waren beispielsweise die moralischen Wochenschriften oder die Kalenderblätter des 18. Jahrhunderts. Vgl. Barth, Das Familienblatt, S. 123f. Darüber hinaus dienten Zeitschriften aus dem angelsächsischen Raum als unmittelbares Vorbild. Vgl. Frank Bösch: Zwischen Populärkultur und Politik. Britische und deutsche Printmedien im 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 45, 2005, S. 549–584, hier S. 550. Vgl. für einen Überblick über die deutsche Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts und den Stellenwert illustrierter Zeitschriften darin Jörg Requate: Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft (Ateliers des Deutschen Historischen Institut Paris, Bd. 4), München 2009, S. 30–42. Von 2011 bis 2014 wurde an der Forschungsstelle transnationale Kulturgeschichte der Universität Siegen ein Forschungsprojekt mit dem Titel „‚Geschichte für alle‘ in europäischen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts“ durchgeführt, das die transnationalen Bezüge in der Popularisierung von Geschichte untersuchte und in diesem Zusammenhang auch weitere Erkenntnisse über die Interdependenzen der verschiedenen nationalen Presselandschaften erforschte. Vgl. für die Projektbeschreibung Universität Siegen (Hrsg.): Forschungsprojekt „Geschichte für alle“ in Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, URL: http://www.uni-siegen.de/phil/geschichte/geschichte_ fuer_alle/ (Stand: 01.09.2019). Erste Ergebnisse liefert der folgende Beitrag: Clara Frysztacka/Klaus Herborn/Martina Palli/Tobias Scheidt: Kolumbus transnational: Verflochtene Geschichtskulturen und europäische Medienlandschaften im Kontext des 400. Jubiläums der Entdeckung Amerikas 1892, in: Journal of Modern European History, Jg. 15, H. 3, 2017, S. 419–447 sowie die Dissertation von Clara Frysztacka: Zeit-Schriften. Die Konstruktion der historischen Zeit in der Moderne am Beispiel der polnischsprachigen Wochenpresse ‚für viele‘ am Ende des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts, phil. Diss. Universität Siegen 2018. Vgl. für eine Übersicht über die wichtigsten Zeitschriften des 19. Jahrhunderts Andreas Graf: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, in: Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd.1: Das Kaiserreich 1871–1918, Teil 2, Frankfurt am Main 2003, S. 409–447, 460–522, hier S. 427–441. Eine im Wortlaut leicht veränderte Fassung findet sich im World Wide Web: Andreas Graf (unter Mitarbeit von Susanne Graf ): Die Ursprünge der modernen Medienindus­trie: Fa­milien- und Unterhaltungszeitschriften der Kaiserzeit (1870–1918), in: KarlHeinz Remy (Hrsg.): ABLIT. Abenteuer-Literatur, URL: http://www.zeitschriften.ablit.de/graf/ g1.pdf (Stand: 01.09.2019), S. 21–28, 30–32.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

69

Den Vorläufer für diese Zeitschriften bildete das nach englischem Vorbild gestaltete Pfennig-Magazin,238 die tatsächliche Erfolgsgeschichte begann jedoch im deutschsprachigen Raum 1853 mit der Gründung der Zeitschrift Die Gartenlaube durch den Verleger Ernst Keil, der die Zeitschrift aus einem liberalen, erzieherischen Ideal heraus schuf.239 Der Herausgeber orientierte sich am Bildungsniveau des mittleren und niederen Bürgertums. Mit einer Verflechtung von Wort und Bild in Form von unterhaltend-belehrenden Texten und lebensnah wirkenden Illustrationen als unentbehrlichem Gestaltungsmittel traf er den Geschmack der Leserschaft.240 Vom Preis her war Die Gartenlaube im Gegensatz zur Tagespresse ebenfalls so gestaltet, dass sich die avisierte Bevölkerungsgruppe, die eben nicht zur oberen Einkommensgruppe zählte, ein Abonnement noch leisten konnte.241 Entgegen der älteren Praxis anderer Presseerzeugnisse, eine jährliche Verpflichtung mit entsprechender Vorauszahlung zu verlangen, konnte das Abonnement eines solchen Familienblattes242 zudem vierteljährlich abgeschlossen werden, was potenziellen Abnehmern gerade aus der unteren Mittelschicht entgegenkam.243 Die Spendenlisten der Verlage und die Briefkastennotizen in den Zeitschriften sprechen ihrerseits für eine bürgerliche Leserschaft. Obschon theoretisch jeder, der einigermaßen gebildet und aufgeschlossen war, zur Zielgruppe des Familienblattes gehörte, und die Verleger offiziell den liberalen Anspruch hatten, eine „Zeitschrift für alle“,244 für alle Schichten und Leserkreise zu bieten, blieb diese Versicherung bis zum Ersten Weltkrieg doch eine Floskel.245 Lediglich in Lesehallen und 238 Vgl. zum Pfennig-Magazin und seiner Vorlage, dem Penny Magazine, Hartwig Gebhardt: Die Pfennig-Magazine und ihre Bilder. Zur Geschichte und Funktion eines illustrierten Massenmediums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rolf Wilhelm Brednich/Andreas Hartmann (Hrsg.): Populäre Bildmedien, Göttingen 1989, S. 19–41; ders.: Stationen internationaler Kommunikation vom 17. bis 19. Jahrhundert, in: Lutz Erbring (Hrsg.): Kommunikationsraum Europa, Konstanz 1995, S. 291–302. 239 Vgl. Kirsten Belgum: Popularizing the Nation. Audience, Representation, and the Production of Identity in Die Gartenlaube, 1853–1900, London 1998, S. XV. 240 Vgl. Barth, Zeitschrift für alle, S. 191. 241 Barth stellt zu dieser Frage ausführliche Überlegungen aufgrund von Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten an. Vgl. ebd., S. 108f. Der günstigere Preis war unter anderem auf ein gegenüber den Folio-Formaten der Zeitungen kleineres Papiermaß zurückzuführen. Vgl. Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland, S. 43. 242 Das Familienblatt war eine spezielle Ausformung der illustrierten Zeitschrift, die durch ihre unpolitische, kaum aktualitätsbezogene Berichterstattung, das im Gegensatz zum Folio-Format der Zeitungen handlichere Format und den durch den geringeren Papierverbrauch geringeren Preis zu charakterisieren ist, vgl. Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts, S. 48. 243 Vgl. Barth, Zeitschrift für alle, S. 113. 244 So charakterisiert Dieter Barth die Familienzeitschriften, vgl. ebd. 245 Vgl. ebd., S. 112, 172.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

70

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Büchereien hatte die Unterschicht in größerem Umfang die Möglichkeit, Zeitschriften zu lesen. Obwohl die Arbeiterinnen und Arbeiter diese durchaus wahrnahmen, stellten sie doch nicht die ursprüngliche Zielgruppe dar. Die bürgerliche Presse wurde zwar grundsätzlich in der Arbeiterschicht rezipiert, war aber keine ausdrücklich für die Arbeiterschaft.246 Gerade die länder- und völkerkundlichen Erörterungen sowie die Berichte über Technik und Industrie dienten, so der Anspruch der Zeitschriften, als Aushängeschild. So versprach Die Gartenlaube in ihrer ersten Ausgabe, mit ihrem Lesepublikum hinauszuwandern „in die Werkstätten des menschlichen Wissens“247 und „in die freie Natur“.248 Dieses Versprechen schlug sich in den Folgejahren derart nieder, dass die Zeitschrift häufig mit dem Mittel der Reportage ihrem Lesepublikum Orte vorstellte, an denen neues Wissen geschaffen wurde, beispielsweise das Labor oder die technische Versuchsanstalt, Orte, an denen Wissen verständlich gemacht wurde, wie Ausstellungen jeder Art, und schließlich Orte, an denen das Wissen angewendet wurde, wie zum Beispiel die Fabrik. Ähnliche Ziele definierte die Zeitschrift Über Land und Meer.249 Ihrem Namen entsprechend forderte sie ihre Leserschaft im Eröffnungsprolog der ersten Ausgabe auf: „[Ü]ber Land und Meer soll der Leser mit uns wandern und segeln“,250 und das ganz, ohne dass er den Fuß über die Schwelle der eigenen Wohnung zu setzen brauchte. Nachrichten und Reportagen aus aller Welt, die durch die Telegrafenleitungen ‚über Land‘ oder durch die Tiefseekabel ‚über Meer‘ geleitet wurden, kamen mit der Zeitschrift ins heimische Wohn- oder Lesezimmer.251 Der Schwerpunkt der Zeitschrift lag damit ebenso in der Information über Ereignisse aus nah und fern, wie in der allgemeinen Einführung dieser nahen und fernen Orte, Regionen und Länder mit ihren natürlichen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen oder industriellen Besonderheiten. Der Herausgeber wollte „den Leser in die Welt des Palastes und des Salons, in die Warenhäuser des Großhändlers und in die Hütte des Arbeiters, […] auf die großen Weltstraßen und in die Stille der Natur“252 führen, so das inhaltliche Programm der Zeitschrift wörtlich. Einen ähnlichen Anspruch stellte die Illustrirte Welt253 heraus. 246 Vgl. Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland, S. 49. 247 Ferdin[and] Stolle/Ernst Keil: An unsere Freunde und Leser!, in: Die Gartenlaube, Nr. 1, 1853, S. 1. 248 Ebd. 249 Der vollständige Titel lautete Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung. Zur Verlagsgeschichte vgl. Barth, Das Familienblatt, S. 257–273. 250 Prospectus, in: Über Land und Meer, Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, 1858/1859, S. 2. 251 Vgl. ebd., S. 1. 252 Ebd., S. 2. 253 Der vollständige Titel lautete Illustrirte Welt. Blätter aus Natur und Leben, Wissenschaft und Kunst zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie. Zur Verlagsgeschichte vgl. Barth, Das Familienblatt, S. 257–273.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

71

Sie verkündete bereits 1861, dass die Zeitschrift die ganze Welt durchwandert und ihrem Publikum jeden Fleck der Erde und jeden Gegenstand des Wissens präsentiert habe.254 Um dieses Versprechen einzulösen, beschäftigten die Verlage zum einen Techniker, Naturforscher oder Forschungsreisende als Gastautoren, zum anderen gehörten Experten aus Wissenschaft und Praxis zu den ständigen Mitarbeitern der Redaktion.255 Die Zeitschriften dienten damit als „fortlaufende[ ] Enzyklopädie“,256 als „illustrierte[ ] Chronik der Zeit“.257 Sie waren wesentlicher Teil des in der Epoche des Aufstiegs von Naturwissenschaften und Technik außerordentlich weit verbreiteten Phänomens der Wissenschaftspopularisierung.258 Speziell in den beiden letzten Jahrzehnten nahmen die Beiträge, die technischen Fortschritt und (natur-)wissenschaftliche Entdeckungen thematisierten, einen zunehmend breiteren Raum in allen Zeitschriften ein.259 Dieser kurze Einblick in das Phänomen der illustrierten Zeitschriften in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweist darauf, dass sich diese aufgrund ihrer Leserschaft im Bürgertum und ihres Verbreitungsgrades in dieser Gesellschaftsschicht durchaus als Maßstab für einen gewissen Zeitgeist eignen. Sie erfüllten bürgerliche Bedürfnisse nach Information und belehrender Unterhaltung, sie bildeten einen Teil einer bürgerlichen Kultur, die sie mit erschufen und ausgestalteten. Sie waren nicht nur ein Produkt, das konsumiert wurde, sondern erschienen als Teil eines komplexen Prozesses, in dem Autoren, Herausgeber und Leserschaft versuchten, sich selbst und ihre Gesellschaft zu verstehen.260 Mit ihrem Sinndeutungsangebot nahmen sie für das Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts eine nahezu sakrale Stellung ein, wie die Formulierung des Schriftstellers Samuel Lublinski vermuten lässt, der die Zeit254 Vgl. Subscriptionseinladung, in: Illustrirte Welt, Beilage zu Jg. 10, 1861. 255 Vgl. die ausführliche Analyse zu den Autoren der Gartenlaube von Jae-Baek Ko: Wissenschaftspopularisierung und Frauenberuf. Diskurs um Gesundheit, hygienische Familie und Frauenrolle im Spiegel der Familienzeitschrift. Die Gartenlaube in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2008, S. 63–79. 256 Gustav Frank/Madleen Podewski/Stefan Scherer: Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als „kleine Archive“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 34, H. 2, 2009, S. 1–45, hier S. 18. 257 Ebd. 258 Vgl. zur Erscheinung der Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 153), Stuttgart 1999. 259 Vgl. Barth, Zeitschrift für alle, S. 241. Vgl. ausführlich zu dieser Thematik schon 1935 Josef Stummvoll: Tagespresse und Technik. Die technische Berichterstattung der deutschen Tageszeitung mit besonderer Berücksichtigung der technischen Beilagen, Dresden/Leipzig 1935. 260 Vgl. Margaret Beetham: Towards a Theory of the Periodical as a Publishing Genre, in: Laurel Brake (Hrsg.): Investigating Victorian Journalism, Basingstoke 1990, S. 19–31, hier S. 20f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

72

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

schrift Die Gartenlaube beispielsweise als ‚Evangelium‘ des Bürgertums bezeichnete.261 Dadurch lassen sie Rückschlüsse auf bürgerliche Mentalitäten und bürgerliche Wissensräume, durch die unterschiedliche Ausrichtung der Zeitschriften sogar differenziert nach verschiedenen Kreisen innerhalb des Bürgertums, zu.262 Die vermehrte Thematisierung von Reiseerlebnissen, exotischen Ländern, Tieren und Menschen sowie von Wissenschaft und Technik legt den Rückschluss nahe, dass vor allen Dingen in diesen Bereichen die Konstruktion von Wissensräumen erfolgte. Die Beschreibungen von Fabrikbesuchen, die Reportagen aus den Betrieben, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erkennbar zunahmen, weisen in diesem Sinne auf den touristischen Wissensraum Fabrik hin. Mit Blick auf die Reportageschwerpunkte der einzelnen Zeitschriften bietet sich im Kontext der Fabrikbesichtigung neben der Analyse des Vorbilds Die Gartenlaube vor allen Dingen die Untersuchung der Illustrirte[n] Zeitung263, der Illustrirte[n] Welt, von Über Land und Meer sowie von Das Buch für Alle264 und Westermann’s Monatshefte[n]265 an. Die Illustrirte Zeitung, erstmals 1843 erschienen, war durch ähnliche Presseprodukte in Großbritannien angeregt worden. Das direkte Vorbild war die überaus erfolgreiche Illustrated London News, die ab 1842 erschien. Sie orientierte sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild an dem von Zeitungen, indem sie das Folio-Format und den dreispaltigen Satz übernahm. Inhaltlich wiesen die Blätter ähnliche Anleihen auf, etwa in einem Bemühen um Aktualität, während etwa Belletristik oder Ratgeber weniger im Vordergrund standen als in den Familienblättern. Was jedoch Berichte und Reportagen anging, so waren die illustrierten Zeitschriften weitgehend miteinander vergleichbar. Der Preis lag allerdings gegenüber den Familienblättern – aus Materialgründen wie auch als Geschäftskonzept – 261 Vgl. Samuel Lublinski: Literatur und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 4, Berlin 1900, S. 48. 262 Das Postulat eines Zusammenhangs von Presseberichterstattung und Wirklichkeitswahrnehmung kann sich bisher nur auf wenige Studien aus dem Bereich der Mediengeschichte stützen. Vgl. z.B. Gebhardt, Kollektive Erlebnisse, S. 517–544, der davon ausgeht, dass Berichte und Bilder in Zeitschriften die Vorstellung und Einstellung vom und zum Fernen und Fremden prägten. Eine umfassende Rezeptionsgeschichte mit einer Analyse von Wahrnehmungen und Wissensbeständen, die über die Medien konstruiert wurden, bleibt dagegen ein Desiderat. Vgl. Bösch, Zwischen Populärkultur und Politik, S. 583. Untermauert wird die Annahme eines Wechselverhältnisses zwischen der Darstellung in populären Medien und der Wahrnehmung der Leserschaft jedoch durch das soziologische Konzept des touristischen Blicks, das breit in diversen Wissenschaftszweigen rezipiert wurde. 263 Insbesondere seit dem Erscheinen der sehr erfolgreichen Berliner Illustrirte[n] Zeitung 1891 wurde die Illustrirte Zeitung aufgrund ihres ursprünglichen Verlagsortes auch häufig als Leipziger Illustrirte Zeitung bezeichnet. Offiziell änderte die Zeitschrift ihren Titel jedoch nie. 264 Der vollständige Titel lautete Das Buch für Alle. Illustrirte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann. 265 Der vollständige Titel lautete Westermann’s illustrirte deutsche Monats-Hefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

73

so hoch, dass als Käuferschicht nur das gehobene Bürgertum in Betracht kam. Dementsprechend erreichte die Illustrirte Zeitung nie solch eine Präsenz wie etwa Die Gartenlaube, Ende des Jahrhunderts verkaufte sie pro Ausgabe rund 22.600 Exemplare.266 Die Illustrirte Welt erschien ab 1852, also ein Jahr vor der Zeitschrift Die Gartenlaube, und wies vielfältige Ähnlichkeiten mit dieser auf. Der Verleger Eduard Hallberger hatte im Rückgriff auf Anregungen aus England und Frankreich beschlossen, selbst eine illustrierte Zeitschrift größeren Stils herauszugeben. Ebenso wie Die Gartenlaube war sie im Quartformat und zweispaltig gehalten. Trotz zwischenzeitlich bis zu 150.000 verkauften Exemplaren pro wöchentlich erscheinender Ausgabe endete ihr selbstständiges Erscheinen im Jahr 1903, als sie in Das Buch für Alle aufging.267 Aufgrund des guten Erfolges der Illustrirte[n] Welt brachte Hallberger fünf Jahre später mit Über Land und Meer ein weiteres Blatt heraus, dessen Erfolg den der Illus­trirte[n] Welt noch übertraf. Der Grund war wohl das gegenüber den nun schon gängigen Zeitschriften etwas veränderte publizistische Konzept, welches das Folio-Format der Zeitungen – und teilweise ebenfalls deren Aktualität in der Berichterstattung – aufgriff und sich dabei preislich zwischen den etablierten preisgünstigen Familienblättern und den teureren Zeitungen bewegte. Das größere Format gab mehr Raum für reich bebilderte Abhandlungen, die das Gesicht der Zeitschrift prägten, weshalb sich hier besonders viele Reisereportagen und verwandte Berichte finden.268 Wer sich Über Land und Meer nicht leisten konnte, dem bot ab 1865 Das Buch für Alle eine Alternative, die in Aufmachung und Gestaltung der erstgenannten Zeitschrift nachempfunden, jedoch durch ein vierzehntägiges statt eines wöchentlichen Erscheinens preisgünstiger war.269 Auch inhaltlich lehnte sich Das Buch für Alle speziell zum Ende des Jahrhunderts hin mit seinen Ratgeberseiten und seichten Erzählungen sowie seinem oberflächlichen Humor stärker an die Bedürfnisse des Neuen beziehungsweise des Kleinbürgertums an. Alle genannten Zeitschriften sprachen also grundsätzlich die Gesellschaftsgruppe des Bürgertums an, richteten sich jedoch je nach Preis und Inhalt an verschiedene Untergruppierungen dieser Schicht. Durch eine Differenzierung der Herkunft von Fabrikreportagen aus verschiedenen Publikationsorganen lässt sich daher eine breitere Palette von Betrachtungsweisen der Arbeit und der Fabrik innerhalb des Bürgertums analysieren. Der Schwerpunkt der hier vorgenommenen Auswertung dieser Zeitschriften liegt auf den Jahren 1880 bis 1914, einer Zeit des beginnenden und sich dann ausweitenden 266 Vgl. Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts, S. 42; Ulla Wischermann: Frauenfrage und Presse. Frauenarbeit und Frauenbewegung in der illustrierten Presse des 19. Jahrhunderts (Studien zur Publizistik, Bremer Reihe, Bd. 24), München 1983, S. 31–36. 267 Vgl. Barth, Das Familienblatt, S. 259f. 268 Vgl. Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts, S. 43f. 269 Vgl. ebd., S. 45. Zur Verlagsgeschichte vgl. Barth, Das Familienblatt, S. 273f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

74

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

Krisenbewusstseins insbesondere für das Bürgertum,270 aber gleichfalls eines gesteigerten Technikinteresses.271 Beides wirkte sich auf die Inhalte der Zeitschriften insofern aus, dass unter anderem immer mehr Berichte und Reportagen von Industrie und Technik sowie aus der Arbeitswelt erschienen. In der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges trat eine Tendenz hervor, die gesamte Berichterstattung mehr und mehr mit einem nationalen Impetus zu versehen, so dass Fabrikreportagen ebenfalls unter diesem Vorzeichen standen. Mit Ausbruch des Krieges wurde der nationale Tenor schließlich zur einzigen Ausrichtung der Artikel der deutschen Presse. Daher erscheint es sinnvoll, die Analyse der illustrierten Zeitschriften mit dem Beginn des Krieges zu beenden. Diese systematische Auswertung der genannten deutschlandweit verbreiteten und äußerst populären Zeitschriften soll ergänzt werden durch einzelne Berichte und Reportagen aus Fachorganen oder weniger bekannten Zeitschriften, die in Aussage und Stil mit den Fabrikreportagen der genannten Journale vergleichbar sind. In einer gewissen Verwandschaft zu den Reisehandbüchern à la Baedeker und den Reisereportagen in illustrierten Zeitschriften stehen Selbstdarstellungen des Reiseziels Fabrik, mit denen die Unternehmensleitung die Öffentlichkeit einlud, sich ein Bild von ihrem Werk zu machen. Während die Unternehmen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ihre Werkstore vor Besucherinnen und Besuchern zumeist streng verschlossen, änderte sich die Einstellung vieler Firmen spätestens ab den achtziger Jahren.272 Schon mit der Präsenz auf den diversen, nicht nur auf ein Fachpublikum abzielenden Industrie- und Gewerbeschauen, den Landes- oder Weltausstellungen, hatten die Unternehmen einen wesentlichen Schritt in die Öffentlichkeit gemacht, dessen Fortsetzung in verstärkten Aktivitäten zur Verkaufsförderung und Imageverbesserung bestand. Zuvor hatten viele Unternehmen schon Werbemittel eingesetzt, um eine direkte Kundengewinnung und -bindung zu betreiben, die beispielsweise bei der Firma Krupp ab den späten fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts bereits Fabrikansichten, etwa auf Briefköpfen oder Visitenkarten, enthielten, die dazu dienten, die „Bedeutung und Reputation des Unternehmens auf einen Blick erfaßbar zu machen.“273 Neben einer Gesamtsicht auf die Fabrikanlage boten sie manchmal Einblicke in einzelne Fertigungsbereiche und Arbeitsprozesse sowie einen Überblick der hergestellten Produk-

270 Vgl. zum Krisenbewusstsein im Bürgertum Kapitel 3.1. 271 Vgl. zum Technikinteresse im Bürgertum Kapitel 4.2.2. 272 Für eine umfassendere Zusammenfassung der Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit deutscher Unternehmen vgl. Kapitel 4.2.3. 273 Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 130. Die genannte Firma hatte sicherlich eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Unternehmens-PR inne, viele kleinere Firmen folgten aber schnell mit ähnlichen Maßnahmen.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

75

te.274 Besonderen Kunden oder hochrangigen Personen des öffentlichen Lebens sendeten die Unternehmen bisweilen ganze Alben, die Fabrikansichten und Abbildungen von Produkten enthielten.275 Ebenfalls um die Mitte des Jahrhunderts entstanden bei der Firma Krupp Vorläufer von Produktprospekten, die genaue Beschreibungen bestimmter Produkte lieferten, wurden schlichte Preislisten weiterentwickelt durch erläuternde Zusätze, die Produkte und Produktionsprozesse erklärten.276 Insbesondere durch die Weiterentwicklung dieser Druckerzeugnisse für die Industrieschauen entstanden im Lauf der Zeit umfangreiche Broschüren, die nicht mehr nur die Produkte, sondern die Firma insgesamt vorstellten, womit sie entgültig selbst für den neugierigen Laien interessant wurden. Auf Indus­trieschauen wurden sie nicht nur dazu verwendet, bestehende Kundschaft im Vorfeld zu einem Besuch des Ausstellungsstandes einzuladen, sondern sie konnten ebenfalls den – zumeist nicht unbedingt fachkundigen – touristischen Gästen als Souvenir an die Hand gegeben werden.277 Diese für die Industrieausstellungen erstellten Werbemittel wurden dann so weiterentwickelt, dass sie zunehmend unabhängig von diesen Großereignissen im Alltag der Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens eingesetzt werden konnten.278 Ein gutes Beispiel liefert die von Krupp 1877 erstmals aufgelegte Broschüre Statistische Daten, die in den Folgejahren stetig ausgeweitet und mit einer Kombination von Text und Bild versehen wurde.279 Das Nachrichtenbüro der Firma Krupp, bei dem lange staatliche Großkunden im Fokus gestanden hatten, erfüllte ab der Jahrhundertwende vorwiegend die Aufgabe, die allgemeine Öffentlichkeit über das Unternehmen zu informieren, was primär über das Erstellen von Broschüren für ein breites Publikum geschah.280 Diese wurden unter anderem an Besucherinnen und Besucher der Fa­brik verteilt.281 Diese Selbstdarstellungen

274 Vgl. ebd. 275 Vgl. ebd., S. 131f. 276 Vgl. ebd., S. 127f. 277 Vgl. ebd., S. 99, 111, 118f., 127, 138. 278 Der Arnsberger Gymnasiallehrer und Reiseautor Franz Ignaz Pieler berichtete in seiner Reportage über seine Reise durch das Ruhrtal Anfang der achtzehnhundertachtziger Jahre, auf der er auch das Werksgelände der Firma Krupp besichtigte, ihm seien nach seinem Besuch dort noch zwei der Kruppschen Druckschriften über die Wohlfahrtseinrichtungen, veröffentlicht zur Internationalen Ausstellung für Gesundheitspflege und Rettungswesen in Brüssel 1878, und über die Fabrik, veröffentlicht zur Gewerbe- und Kunstausstellung in Düsseldorf 1880, zugegangen, vgl. Franz Ignaz Pieler: Das Ruhrthal. Reise auf der Ruhrthal-Eisenbahn mit Ausflügen in die Umgegend, 2. verb. u. vervollst. Aufl., Werl 1983 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1881). 279 Vgl. Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 138. 280 Vgl. ebd., S. 235. Vgl. auch das Beispiel von General Electric bei Nye, Image Worlds, S. 35f. 281 Vgl. die Dokumentation in den Akten des Besuchswesens der Firma Krupp, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1; vgl. [interne] AEG-Zeitung, Jg. 7, Nr. 1, 1905, S. 137.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

76

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

der Firmen, bisweilen von ihnen als ‚Führer durch die Fabrik‘ betitelt,282 sind von ihrer Konzeption und Wirkung her nach dem Gesagten an der Schnittstelle zwischen Reiseführer und Fabrikreportage anzusiedeln. Die Fa­brikführer bieten neben Informationen über die Firmengeschichte und den Daten zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einen durch Schilderungen und Abbildungen kre­ierten virtuellen Gang durch die Fabrik, der feste Wahrnehmungsmuster und An- beziehungsweise Aussichten vermittelte und daher an die festgelegten Sehenswürdigkeiten des Reiseführers erinnert. Die Ausführlichkeit der Schilderungen und die reichhaltigen Bilder verweisen jedoch eher auf die Praktiken der Fabrikreportagen. Die Fabrikführer lassen daher wie die Zeitschriftenberichte in der Verknüpfung von hermeneutischer und ikonologischer Analyse zeitspezifische Rezeptionen und Wahrnehmungsmuster erkennen, lassen Blickrichtungen und Ansichten nach einer Fabrikbesichtigung erneut entstehen oder vermitteln sie sogar ganz ohne einen tatsächlichen Besuch eines Werkes. Ein weiteres Medium der Öffentlichkeitsarbeit waren Firmenzeitschriften, die im deutschen Raum um die Jahrhundertwende,283 im anglo-amerikanischen Raum schon einige Jahre zuvor entstanden.284 Anfangs als Mittel konzipiert, die wachsende Kluft zwischen Management und Arbeitern zu überbrücken und eine interne Firmenidentität zu kreieren, entwickelten sie sich mit der Zeit zu einem Kommunikationsmittel mit der Öffentlichkeit.285 Diese Magazine gaben vor, der allgemeinen Information zu dienen, verfolgten aber letztlich das Ziel, neue Kundschaft zu gewinnen.286 Ebenfalls ein Bild von und aus der Fabrik vermittelten Bildpostkarten, die als visuelles Medium des späten 19. Jahrhunderts massenhaft Blicke und Ansichten prägten und verbreiteten und sie im Sammelalbum für Jahrzehnte im Bewusstsein der Betrachterinnen und Betrachter hielten.287 Seit private Verleger im Jahr 1885 erstmals im Deutschen Kaiserreich Bildpostkarten herausgeben durften, entwickelte sich eine Vielzahl von Themen für die Motive, die sich oft an schon vor der Postkarte in anderen 282 Vgl. z.B. Maschinenbauanstalt Humboldt (Hrsg.): Führer durch die Maschinenbau-Anstalt Humboldt. 60 Jahre technische Entwicklung 1856–1916, [Köln 1916]. 283 Vgl. Astrid Zipfel: Public Relations in der Elektroindustrie. Die Firmen Siemens und AEG 1847 bis 1939, Köln 1997, S. 156. 284 Vgl. Michael Heller: British Company Magazines, 1878–1939. The Origins and Functions of House Journals in Large-Scale Organisations, in: Media History, Bd. 15, Nr. 2, 2009, S. 143–166, insbes. S. 143. 285 Vgl. Nye, Image Worlds, S. 60, 64; Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie, S. 156; Heller, British Company Magazines, 1878–1939, S. 143. 286 Vgl. Nye, Image Worlds, S. 64. 287 Vgl. Gerhard Kaufmann: Die Postkarte im Spiegel der Kultur und Gesellschaft, in: ders./Robert Lebeck (Hrsg.): Viele Grüße… Eine Kulturgeschichte der Postkarte, Dortmund 1985, S. 399–437, hier S. 410, Albers/James, Travel Photography, S. 138.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

77

Zusammenhängen existierenden Sujets wie beispielsweise Briefköpfen oder Ansichtsgrafiken ausrichteten.288 Schnell begriffen Städte, Hotels, Restaurants und Firmen die Werbewirkung einer solchen Ansichtskarte.289 Die Bildpostkarten, die im Laufe einer Reise abgeschickt wurden, konstruierten die abgebildeten Motive als potenzielle touristische Ziele. Dies geschah einerseits, indem sie vorgaben, wie die Motive zu betrachten waren. Andererseits spiegelten sie populäre Wahrnehmungsgewohnheiten.290 Den Absendern ging es nicht nur darum, Grüße zu verschicken, sondern sich selbst als Reisende zu inszenieren, womit die bereisten Ziele zu touristischen Zielen wurden. Bildpostkarten aus den besuchten Städten wie von Landschaften oder Fabriken waren in diesem Zusammenhang das Resultat einer aktiven, sinnstiftenden Praxis, in der die Reisenden auswählten, welches Motiv sie als Nachweis ihrer Tour versenden wollten. Für die Daheimgebliebenen wurde das Bild der Postkarte zum Symbol für das Erlebnis und zu seinem Stellvertreter.291 Mit dem kurzen Grußtext, mit dem die Absenderinnen und Absender die Postkarten versahen, erläuterten sie ihre Motive etwa für den Besuch einer Fabrik oder einer Industrieregion und gaben eventuell noch Hinweise auf ihr Erlebnis in der Fabrik. Damit unterstrichen sie zusätzlich den Stellenwert der Industrie als touristisches Ziel. Diese kurzen Texte lieferten zwar keinen umfassenden Reisebericht, können in der Analyse jedoch ebenso als transkultureller Text gesehen werden wie die Reiseführer oder Reisereportagen, deren Schilderungen letztlich mehr über den Reisenden als über das Bereiste aussagten.292 Da sich vorrangig die Städte des Ruhrgebiets auf Ansichtskarten mit Industrieabbildungen als Besuchsziele darstellten, stammt ein Großteil der untersuchten Postkarten aus den Stadtarchiven dieser Region. Postkarten aus Archiven der Firmen, die über dieses Medium das Bild ihres Unternehmens präsentieren und popularisieren wollten, und aus privaten Sammlungen ergänzen den Quellenkorpus. Informationen über Fabriken als Orte touristischer Inszenierungen finden sich letztlich auch in den Dokumentationen des touristischen Besuchs der Unternehmensarchive. Die oft akribisch geführten Besuchslisten einiger Firmen geben Aufschluss über die Zahl der Fabrikbesucherinnen und -besucher in den einzelnen Jahren, über ih288 Kaufmann, Die Postkarte im Spiegel der Kultur und Gesellschaft, S. 405–408, 419. 289 Vgl. ebd., S. 426, 430. 290 Zur Blicklenkung und Konstruktion touristischer Sehenswürdigkeiten auf/durch Postkarten vgl. ausführlich Kapitel 2.1.3. und 2.3.3. 291 Vgl. Albers/James, Travel Photography, S. 136. 292 Auf dieser Überlegung fußen verschiedene Studien zum Reiseverhalten. Vgl. Kiecol, Selbstbild und Image; Angela Schwarz: Die Reise ins Dritte Reich. Britische Augenzeugen im nationalsozialistischen Deutschland (1933–39) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 31), Göttingen 1993; Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1991.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

78

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

ren Beruf – und damit zumindest teilweise über ihre soziale Zugehörigkeit – und bisweilen über die Motivation für ihre Reise. Die Beweggründe werden darüber hinaus vielfach in der Korrespondenz zwischen Unternehmen und Besuchenden im Vorfeld der Besichtigung ersichtlich. Informationen über die Organisation der Reise und über feststehende Muster und Regeln, nach denen die Besuche in der Fabrik durchgeführt wurden, lassen nicht nur beispielhaft den Ablauf einer Fabrikbesichtigung im 19. Jahrhundert erkennen, sondern geben zudem Aufschluss darüber, inwieweit sie als touristisches Ereignis gelten kann. Insbesondere die Bestimmungen der Fabriken, was den Besucherinnen und Besuchern in welcher Weise zu präsentieren sei, sowie die an die Gäste verteilten Informations- und Werbematerialien verdeutlichen den Rahmen des Fabrikbesuchs. Schließlich lässt sich an weiteren Quellen, die im Umfeld der Planung und Durchführung von Fabrikbesuchen in der Firma entstanden, der Kontext solcher Besuche ablesen. Einladungsvordrucke für die Besichtigungen, Menükarten zur sich anschließenden Essenseinladung oder interne Kostenaufstellungen für Materialien, die im Rahmen derartiger Ereignisse benötigt wurden, wie zum Beispiel die Dekoration der Empfangsräume, lassen Rückschlüsse auf das Gesamterlebnis in der Fabrik zu. Bei der Auswahl der untersuchten Firmen musste die Problematik berücksichtigt werden, dass nicht jede Firma in dieser Zeit ihr Besuchswesen bereits in geordnete Bahnen gelenkt hatte und dass eine durchgehende Dokumentation dieser, für die ökonomische Leistung des Unternehmens nachgeordneten Ereignisse, nicht immer erfolgte. Der vorgestellte Kreis an Firmen ist daher eher als exemplarische Auswahl zu verstehen. Nichtsdestoweniger sollen sie verschiedene Industrieregionen des Deutschen Reiches und unterschiedliche Branchen repräsentieren, um einseitige Rückschlüsse zu vermeiden. Aus diesen Prämissen ergibt sich ein Sample, das hauptsächlich die Firmen Krupp, Bayer, AEG und Stollwerck umfasst. Die Gussstahlfabrik vorm. Friedr. Krupp & Co., beziehungsweise ab 1903 Friedrich Krupp AG, gegründet 1811, heute ein Teil des ThyssenKrupp-Konzerns, hatte bereits 1887, als sie in den Besitz von Friedrich-Alfred Krupp überging, 20.000 Arbeiter und Angestellte. Diese Zahl verdoppelte sich in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg noch. Gut die Hälfte davon war auf dem weitläufigen Werksgelände westlich der Essener Altstadt im Ruhrgebiet beschäftigt.293 Durch gezielte PR-Maßnahmen war die Firma mit ihrem Kerngeschäft ins öffentliche Bewusstsein gerückt, insbesondere die Eisen- und Stahlherstellung standen im Mittelpunkt des Interesses und zogen daher zunehmend Besucherinnen und Besucher an.294 Die noch heute bestehende Bayer AG, zum Un293 Vgl. Lothar Gall: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000, insbes. S. 97–253; Harold James: Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen, München 2011. 294 Vgl. allgemein Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Vgl. für eine zusam-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Quellen zur Fabrik als touristische Attraktion

79

tersuchungszeitpunkt die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., entwickelte sich ebenfalls spätestens um die Jahrhundertwende zu einer Firma, die in einer breiteren Öffentlichkeit einen großen Bekanntheitsgrad hatte. 1863 im heutigen Wuppertal gegründet, übersiedelte das Chemieunternehmen ab 1895 unter der Leitung von Carl Duis­ berg schrittweise in eine weitläufige Produktionsstätte im heutigen Leverkusen. 1913 hatte das Unternehmen 10.600 Mitarbeiter, davon 7.900 im Leverkusener Werk.295 Während die AEG heute zwar nicht mehr als eigenständiger Konzern besteht, wird der Markenname bewusst fortgeführt, was auf die intensive Öffentlichkeitsarbeit des früheren Unternehmens, mit dem es einen Bekanntheitsgrad in ganz Deutschland erreichte, zurückzuführen ist. Ab 1887 bestand der Name Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, bereits 1883 war sie als Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität von Emil Rathenau gegründet worden. Während das Unternehmen als Edison-Gesellschaft vorrangig Forschungen zur Stromerzeugung und -übertragung anstellte, nutzte sie diese unter dem neuen Namen zur Herstellung sowohl von Strom selbst, als auch von Elektrogeräten für den Endverbraucher. Ab 1887 fand sich die erste Fabrikationsstätte dafür in Berlin in der Nähe des Stettiner Bahnhofs, danach entstanden rasch weitere Fabrikareale des Unternehmens oder seiner Tochterfirmen in der deutschen Hauptstadt.296 Der Süßwarenhersteller Stollwerck, 1839 als Familienunternehmen in Köln gegründet, wandelte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer weltweit operierenden Aktiengesellschaft. Bereits 1866 war aus dem kleinen Handwerksbetrieb eine Manufaktur entstanden, die sich durch den Einsatz von Dampfkraft schließlich zur Fabrik entwickelte. Das Vorderhaus der Fabrik diente als Verkaufsladen, von dem aus jedoch der Blick auf die Produktion möglich war. Das Unternehmen machte damit, entgegen bis dato vorherrschenden Trends vor allen Dingen in der Lebensmittelindustrie, kein Geheimnis mehr um Herstellungsprozess und Rezeptur, sondern ermöglichte den Konsumentinnen und Konsumenten, die durch die Maschinen verrichtete Arbeit öffentlich zu kontrollieren. Dieses frühe Beispiel eines Einblicks in die Fabrik (wenngleich noch nicht deren faktische Besichtigung) demonstriert den offenen Umgang des Unternehmens mit der Abnehmerschaft seiner Produkte. Bis Mitte der achtzehnhunmenfassende Darstellung der Institutionalisierung des Fabrikbesuchs bei der Firma Krupp Kapitel 5.1.1. 295 Vgl. Hans-Joachim Flechtner: Carl Duisberg. Eine Biographie, München 1984; Erik Verg: Meilensteine. 125 Jahre Bayer 1863–1988, Leverkusen 1988, S. 24–200; Anne Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich. J.M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., München 2003, S. 35–51. Vgl. für eine zusammenfassende Darstellung der Institutionalisierung des Fabrikbesuchs bei der Firma Bayer Kapitel 5.1.1. 296 Vgl. Manfred Pohl: Emil Rathenau und die AEG, Mainz 1988, S. 15–192; Peter Strunk: Die AEG. Aufstieg und Niedergang einer Industrielegende, Berlin 2002, S. 17–37.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

80

Touristische Räume als Wissensräume: Methoden, Forschungsstand, Quellenlage

dertachtziger Jahre hatte sich aus der ehemaligen Mürbeteigbäckerei eine der modern­ sten Schokoladenfabriken der Welt entwickelt, deren Produkte nahezu überall bekannt waren.297 Diesen Unternehmen war gemeinsam, dass sie von der Größe ihrer Produktionsstätten, wie von ihrem ökonomischen Erfolg ein gewisses Ausmaß erreicht hatten. Häufig kam die Bekanntheit der Produkte hinzu. Außerdem können sie auf eine längere Firmentradition zurückblicken, die de facto bis in die Gegenwart reicht, was sich auf frühere Organisationsstrukturen wie auf bis heute bestehende Archivierungs­traditionen auswirkt. Einzelne Dokumente von Firmen, bei denen ein direkter Andrang von Touristinnen und Touristen nicht dokumentiert ist, die jedoch Aufschluss über spezielle Blickpraktiken auf Produkte, Arbeiterinnen beziehungsweise Arbeiter oder Produktionsprozesse bieten, können diesen grundlegenden Bestand der vier Firmen ergänzen. Dazu zählen die Firmen Mercedes-Benz (Automobilindustrie, Württemberg) oder Paul Hartmann (Verbandstoffe, Württemberg), mit deren Betrachtung noch ein weiterer geografischer Raum und zugleich eine größere Bandbreite der produzierten Waren abgedeckt wird.

297 Vgl. Angelika Epple: Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt am Main 2010, S. 52–73; Tanja Junggeburth: Stollwerck 1839–1932. Unternehmerfamilie und Familienunternehmen (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 225), Stuttgart 2014, S. 45–58.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

81

3. Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert 3.1. Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

Tourismus im 19. Jahrhundert war, wie bisher schon verschiedentlich angeklungen, vor allem bürgerlicher Tourismus, was auf zwei unterschiedliche Gründe zurückzuführen ist. Erstens war es vor allem das Bürgertum, das die ökonomischen Grundlagen zum Reisen besaß. Es verfügte über die nötige Freizeit und über die finanziellen Mittel, um eine längere Reise anzutreten. Hierin lag ein zentraler Unterschied zur Arbeiterschaft, die bis ins 20. Jahrhundert weder genügend Zeit noch Geld erübrigen konnte.1 Zweitens, und darin findet sich der für die weiteren Ausführungen maßgeblichere Grund, war es streng genommen nur das bürgerliche Reisen, das im 19. Jahrhundert als Tourismus gewertet werden kann.2 Der Kern der bisweilen als Kritik formulierten Definition von Tourismus, nicht das Authentische, sondern das Künstliche zu suchen, trifft auf nahezu jedes bürgerliche Reisen zu. Denn wenn der Zweck einer Reise, so die Annahme, die Definition der eigenen Identität mit einschloss, stand nicht mehr das Erlebnis um seiner Authentizität willen im Vordergrund. Reisen wurde zur symbolischen Praktik, die eine Inszenierung des Bereisten durch spezielles Verhalten, bestimmte performative Akte beinhaltete. Warum war es gerade für das Bürgertum so entscheidend, sich seiner Identität mit Hilfe distinguierender Praktiken wie beispielsweise dem Reisen zu vergewissern? Um diese Frage zu beantworten, muss ein Blick auf die Entwicklung dieser Sozialformation im 19. Jahrhundert geworfen werden. Aus dem Stand des Stadtbürgertums hatte sich durch den Bedeutungszuwachs der Wirtschaft im Zuge der Industrialisierung und des systematischen Wissens durch das Wachstum der Bürokratie im absolutistischen Staat im Laufe des 18. Jahrhundertes eine neue Formation entwickelt, die aus der bestehenden Ständeordnung herauswuchs. Diese neue Gesellschaftsgruppe war alles andere als homogen. Sie bestand aus den Angehörigen verschiedener Berufs- und Statusgruppen mit ihren unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Lebenslagen, rechtlichen 1 2

Vgl. konkret unten Kapitel 3.2.1. Cord Pagenstecher geht sogar so weit, den Tourismus als speziell bürgerliches Phänomen zu klassifizieren, dessen Geschichte synchron zur Geschichte des Bürgertums zu lesen sei. Vgl. Cord Pagenstecher: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950–1990 (Schriftenreihe Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 34), Hamburg 2003, S. 34.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

82

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

und politischen Privilegierungen und Bildungsniveaus. Zum Bürgertum zählten Ärzte und Rechtsanwälte, Gymnasiallehrer, Professoren, Richter und höhere Verwaltungsbeamte ebenso wie Naturwissenschaftler und Ingenieure, Kaufleute, selbstständige Unternehmer, Fabrikanten, Bankiers, Privatiers mit Kapitalbesitz, Direktoren und im Verlauf der Industrialisierung ebenso die Angestellten mit ihren Angehörigen.3 Die Formation bildete daher, wie die Bürgertumsforschung in Anlehnung an den Ansatz von Max Weber hervorhebt, weder einen einheitlichen neuen Stand innerhalb der alten Ständegesellschaft noch eine Klasse in der neu entstehenden Klassengesellschaft, da sie sich weder durch eine besondere Rechtsstellung oder spezifische Form politischer Repräsentation von anderen Ständen unterschied, noch durch eine einheitliche Wirtschaftslage gekennzeichnet war.4 Stattdessen zeichneten sich die Mitglieder des Bürgertums, wie die beiden bedeutendsten Bürgertumsforscher der späten achtziger und frühen neunziger Jahre Jürgen Kocka und Lothar Gall übereinstimmend feststellten, durch ihre gemeinsame Kultur, ihre ‚Bürgerlichkeit‘ aus.5 Unter dieser Kategorie, die weit über den engen Kulturbegriff als Umgang mit bürgerlichen Bildungsgütern hinausgeht, lassen

3

4

5

Vgl. M. Rainer Lepsius: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 289; Jürgen Kocka: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63, hier S. 42; ders.: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: ders. (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, München 1988, S. 11–76, hier S. 11. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. überarb. Aufl., Tübingen 1976, S. 177–180; Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte, S. 42–48; Lepsius, Demokratie in Deutschland, S. 290; vgl. auch Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996, S. 18; Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 393; Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800, Stuttgart/Weimar 1998, S. 25. Vgl. Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte, S. 42–48; Lothar Gall: „…ich wünschte ein Bürger zu sein“. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 245, H. 3, 1987, S. 601–623, hier S. 619. Vgl. zusammenfassend zu den beiden bedeutendsten Zweigen der deutschen Bürgertumsforschung Lothar Gall (Hrsg.): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft (Stadt und Bürgertum, Bd. 4), München 1993 und Peter Lundgreen (Hrsg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 18), Göttingen 2000 sowie vergleichend Thomas Mergel: Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren. Für Hans-Ulrich Wehler zum 70. Geburtstag, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 41, 2001, S. 515–538.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

83

sich „Wertideen, ethische[ ] Normen“,6 „Bildungsinhalte und Überzeugungen“7 und zugleich „gemeinsame Lebens- und Verhaltensformen“,8 also unterschiedliche Aspekte subsummieren, die in verschiedenen Verhältnissen der Abhängigkeit zueinander stehen, unterschiedlichen Graden des ‚Bewusst-Seins‘ zuzuordnen sind und die soziale Identität, Selbstverständnis und Selbstbewusstsein konstituieren.9 Da ein derart geschaffenes Selbstbewusstsein jedoch fragiler war als ein solches, das sich auf geburtsständischer Zugehörigkeit oder Klassenlage gründete, kam der Distinktionsfähigkeit des Bürgertums schon in der Zeit seiner Entstehung und durch seine gesamte Entwicklung hindurch eine ganz besondere Bedeutung zu. Die Beobachtungen Bourdieus haben enthüllt, dass, je höher eine Gesellschaftsschicht steht, je undefinierter und neuer sie ist und je stärker sie bedrängt wird, das Bedürfnis nach Distinktion 6 Lepsius, Demokratie in Deutschland, S. 291. 7 Gall, „…ich wünschte ein Bürger zu sein“, S. 619. 8 Ebd. 9 Vgl. die unterschiedlichen Beschreibungen bei verschiedenen Autoren, u.a. Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 121–142, hier S. 121–123; Maurer, Die Biographie des Bürgers, S. 16–18, 31; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 393; Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1996, S. 23; Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 19; Manfred Hettling: Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Lundgreen, Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, S. 319–339, hier S. 319f. Verschiedene neuere Studien, die sich auf dem von der Forschung der späten achtziger und frühen neunziger Jahre vorgeschlagenen Pfad bewegen, beweisen in der Praxis, dass dieser Weg der Kulturgeschichte, Bürgerlichkeit als Merkmal in den Mittelpunkt zu stellen, sich nicht nur bewährt, sondern für spezielle Themenstellungen als der vielleicht einzig sinnvolle erweist. Als grundlegende Publikationen seien genannt: Ute Frevert: Die Gesellschaft der Ehrenmänner. Duelle im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1991; Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993; Maurer, Die Biographie des Bürgers; Linke, Sprachkultur und Bürgertum; Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; Christof Biggeleben: „Das Bollwerk des Bürgertums“. Die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920, München 2006. Das Konzept der Bürgerlichkeit ist mittlerweile so breit akzeptiert, dass selbst Handbücher dieses Konzept als Grundlage ihrer Ausführungen voraussetzen. Vgl. Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (Geschichte kompakt), Darmstadt 2009. Im Übrigen wird das Konzept, eine Gesellschaftsformation durch ihre spezifischen mentalen Dispositionen und deren Auswirkungen zu beschreiben, auch für die Gruppe des Adels verwendet, indem man ‚Adeligkeit‘ als entscheidendes Merkmal betrachtet. Vgl. Marcus Funck/Stephan Malinowski: Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie, Bd. 7, 1999, S. 236–270, hier S. 240–247; vgl. Eckart Conze/Monika Wienfort: Einleitung. Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2004, S. 1–16.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

84

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

umso größer ist.10 Insofern war die Distinktion vorwiegend eine Strategie der oberen und mittleren Schichten, also im späten 19. Jahrhundert prinzipiell ebenso des Adels, speziell aber des Bürgertums. Die Bestandteile von ‚Bürgerlichkeit‘ hatten sich seit der Frühen Neuzeit entwickelt. Klar zu greifen ist die Idee der bürgerlichen Gesellschaft.11 Der Anspruch und das Ziel, Staatsbürger zu sein, umfasste ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nahezu alle bewusst artikulierten Werte von Bürgerlichkeit und war das identitätsstiftende Moment schlechthin. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft entscheidend geprägt von dem Ideal einer rechtlich geordneten Gemeinschaft von ‚Bürgern‘, die als Freie und Gleiche miteinander verbunden sein sollten.12 In der Realität des politisch-gesellschaftlichen Strukturwandels zum Ende des 18. Jahrhunderts in großen Teilen Europas mit der Konzentration der Macht in der Hand eines absoluten Herrschers hieß das jedoch, dass sich die bürgerliche Gesellschaft als nicht mehr in Deckungsgleichheit mit dem Staat, sondern im Kontrast zu ihm verstand. Ihre Mitglieder setzten sich kritisch vom Adel ab und forderten eine Begrenzung der fürstlichen Regierungsgewalt, einen gründlichen Abbau der adeligen Vorrechte, nationale Einheit, bürgerliche Teilhabe an der Öffentlichkeit, die Maßgeblichkeit von Arbeit und Leistung, Besitz und Bildung in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.13 Es bestand jedoch die Überzeugung, dass die fortschreitende Aufklärung ebenso wie die wirtschaftliche Entwicklung die Ungerechtigkeit der bestehenden Ordnung auf evolutionärem Weg auflösen könne. Dadurch würde die Zahl derjenigen, die durch eine geistig wie materiell selbstständige Existenz Eingang in die bürgerliche Gesellschaft bekamen, stetig anwachsen, bis jeder ein ‚Bürger‘ wäre. Das Bürgertum würde dann

10 Vgl. Pierre Bourdieu: La Distinction. Critique Sociale du Jugement, Paris 1979, S. 61–65. Das Ergebnis Bourdieus, zu dem er anhand der Analyse der französischen Gesellschaft der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts kam, lässt sich auch auf das Bürgertum des 19. Jahrhunderts übertragen. 11 Zur detaillierten Begriffsgeschichte vgl. Utz Haltern: Bürgerliche Gesellschaft. Sozialtheoretische und sozialhistorische Aspekte, Darmstadt 1985. 12 Vgl. ebd., S. 7; Gall, „…ich wünschte ein Bürger zu sein“, S. 607; Hans-Ulrich Wehler: Wie „bürgerlich“ war das Deutsche Kaiserreich?, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 243–280, insbes. S. 253. 13 Vgl. für eine kurze Darstellung der Entstehungsphase des Bürgertums Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2001, S. 120; ders., Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 47; Gall, „…ich wünschte ein Bürger zu sein“. Beispielhaft demonstriert Lothar Gall die Entwicklung des Bürgertums von seinen Anfängen über den Höhepunkt in der ersten Hälfte und den langsamen Bedeutungsverlust in der zweiten Hälfte des 19. bis zu seinem Niedergang im frühen 20. Jahrhundert anhand der süddeutschen Kaufmannsfamilie Bassermann. Vgl. Lothar Gall: Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

85

zu jenem schon zitierten ‚allgemeinen Stand‘, als den es sich teilweise schon verstand.14 Bei dieser Vorstellung handelte es sich jedoch um eine „Zielutopie“,15 die für die Zukunft entworfen, aber nicht zwingend in der Gegenwart zu erreichen war. „Bürger zu sein bedeutete, Bürger zu werden“16 – eine sehr unscharfe Definition, ebenso wie die unscharfe Abgrenzung der Formation. Trotz der großen Unschärfe, die das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnete, war es jedoch genau diese utopische Qualität, die die Wirkungsmacht der Idee ausmachte. Auf einer tieferen Bewusstseinsebene angeordnet lag das, was das bewusst formulierte Konzept der bürgerlichen Gesellschaft mit bedingte, ein vortheoretisches Wissen, das der Einzelne unbewusst mit seiner Vergesellschaftung aufnahm und das seine Einstellungen, Werte und Normen formte. Diese artikulierten sich in einem bestimmten Verhalten, in Wertschätzung und Ablehnung, in bestimmten Sichtweisen auf die Wirklichkeit. Vornehmlich wird in diesem Zusammenhang ein Kanon greifbar, in dem Werte wie Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit das Zentrum bildeten.17 Diesen Kanon beschrieb der Soziologe Werner Sombart in seiner Studie Der Bourgeois von 1913 als „bürgerliche Tugenden“.18 Sombart verfolgte mit seiner Untersuchung das Ziel, den „Geist unserer Zeit“19 zu untersuchen. Und er sah diesen Geist repräsentiert durch ein Bündel von „Ansichten und Grundsätze[n] […], die einen guten Bürger und Hausvater, einen soliden und ‚besonnenen‘ Geschäftsmann ausmachen.“20 Nicht nur der ‚besonnene Geschäftsmann‘, also der wirtschaftlich agierende Mensch, sondern auch der ‚gute Hausvater‘ als Privatmann und der ‚gute Bürger‘ als Person in der Öffentlichkeit wurden durch den Tugendkanon von ‚Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit‘ definiert. Damit gingen diese an sich ökonomischen Tugenden über den wirtschaftlichen Bereich hinaus und entwarfen ein Lebensmodell, das umfassend war. Mehr noch als der wirtschaftliche Erfolg zählte die diesem zugrunde liegende Einstellung, die Bereitschaft zur Arbeit­ 14 Vgl. Lothar Gall: Liberalismus und „Bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift, Bd. 220, H. 2, 1975, S. 324–356, hier S. 345f. 15 Wehler, Wie „bürgerlich“ war das Deutsche Kaiserreich?, S. 253; vgl. auch ders.: Geschichte und Zielutopie der deutschen „bürgerlichen Gesellschaft“, in: ders. (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 241–255. 16 Manfred Hettling: Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland, in: ders. (Hrsg.): Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 7–37, hier S. 12. 17 Vgl. Paul Münch: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“, München 1984. 18 Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München/Leipzig 1913, S. 135. 19 Ebd., o.P. (Vorwort). 20 Ebd., S. 135.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

86

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

samkeit, „das unablässige Streben und Sich-Mühen.“21 Die Gestaltung des Lebens nach diesen Prinzipien wurde als Pflicht aufgefasst. Wer nicht bereit war, sich dieser Pflicht zu stellen, gefährdete nicht nur seine ökonomische Stellung, sondern verlor sein soziales Ansehen, wie beispielsweise die Untersuchungen von Johannes Burkhardt zum Verhaltensleitbild der Produktivität oder von Martina Kessel zur Arbeitsorientierung im 19. Jahrhundert darlegen.22 Der Mensch und seine Tätigkeit in der Welt waren determiniert durch Zeitökonomie und Arbeitsorientierung in jeder Lebenslage. ‚Gute Bürger‘ sahen aus derselben Einstellung heraus die Pflicht zum ehrenamtlichen oder politischen Engagement, wie bereits Wolfgang Köllmann im Detail in seiner Studie von 1960 für die Stadt Barmen nachwies.23 Der Pflicht, ein guter Hausvater zu sein, also im privaten Bereich die bürgerlichen Tugenden zu pflegen, kamen sie mit einem zwar dem eigenen ökonomischen Status angemessenen, jedoch maßvollen Auftreten, dem unermüdlichen Streben nach universeller Bildung und nicht zuletzt durch eine Freizeitgestaltung nach, die dem Leitbild der Produktivität nicht widersprach.24 Die nicht geburtsständisch ab21 Michael Maurer: Kulturgeschichte. Eine Einführung, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 247. 22 Vgl. Johannes Burkhardt: Das Verhaltensleitbild „Produktivität“ und seine historisch-anthropologische Voraussetzung, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Bd. 25, Nr. 2–3, 1974, S. 277–289; Martina Kessel: „Der Ehrgeiz setzte mir heute wieder zu…“. Geduld und Ungeduld im 19. Jahrhundert, in: Hettling/Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel, S. 129–148. 23 Vgl. Wolfgang Köllmann: Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert, Tübingen 1960. 24 Sucht man nach den Ursprüngen dieser von den Angehörigen dieser Schicht verinnerlichten, gleichermaßen jedoch unreflektierten Werte, so ist die bekannteste These die von Max Weber, die die für die bürgerliche Gesellschaft grundlegende Verbindung von Erwerbsstreben bei gleichzeitiger Konsum­askese auf die protestantische Ethik zurückführt. Diese wiederum erklärt er vornehmlich aus der Reaktion auf die calvinistische Prädestinationslehre, die dahingehend gedeutet wurde, dass sich die Frage, ob jemand zu den Auserwählten Gottes gehöre und damit zu einem Leben im Jenseits vorherbestimmt sei, durch diesseitigen Erfolg positiv beantworten lasse. Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920, hrsg. von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, 3. Aufl., Weinheim 2000, S. 53–156. Diese sehr rigoros formulierte These wird jedoch dadurch relativiert, dass sich das Vorhandensein der ‚bürgerlichen Tugenden‘ kaum konfessionell differenzieren lässt. Vgl. Münch, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, S. 33. Zu diesem Ergebnis führen beispielsweise auch die Studien von Hölscher und Köllmann. Vgl. Lucian Hölscher: Bürgerliche Religiosität im protestantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe des Arbeitskreises für modernen Sozialgeschichte, Bd. 54), Stuttgart 1993, S. 191–215, hier S. 192; Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen, S. 110. Der Historiker Paul Münch deutet die Hochschätzung der ökonomischen Tugenden stattdessen als eine eher allgemeine Entwicklung der Frühen Neuzeit, die dann vom Bürgertum aufgegriffen wurde, um die Grundprobleme der alltäglichen Existenz als gesellschaftliche Gruppe jenseits der sozialen Sicherheit der Ständegesellschaft zu meistern. Vgl. Münch, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, S. 24–33; vgl. auch Maurer, Kulturgeschichte, S. 247; Hans-Werner Prahl: Soziologie der Freizeit,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

87

gesicherte Existenz, die allein auf Leistung beruhte, erforderte gewissenhaftes Arbeiten, geregelte Zeiteinteilung sowie methodische Planung und Vorsorge, weshalb Bürgerlichkeit als Denk- und Verhaltensmuster stets „etwas Angestrengtes, Bemühtes“25 behalten habe, wie Rudolf Vierhaus urteilt. Die Tatsache, dass sich die ökonomischen Tugenden in sämtlichen Publikationen des Bürgertums – vom Roman über die Wochenschrift bis hin zu theoretischen Abhandlungen – niederschlugen, unterstützt dieses Urteil.26 Aus der Lage außerhalb der Ständegesellschaft ergab sich darüber hinaus die eifrige Betonung von persönlicher Unabhängigkeit und freier Selbstbestimmung. Als Fortsetzung dieser ökonomisch geprägten Grundwerte bildeten sich im Anschluss weitere aus, die die Akkumulation von Kapital über das Ökonomische hinaus erlaubten: Durch die Anhäufung von kulturellem Kapital sicherten der Einzelne wie die Gesellschaftsformation im Ganzen ihren Fortbestand.27 Das bedeutendste Charakteristikum in diesem Zusammenhang war die Affinität zu Bildung, verstanden als Oberbegriff nicht nur für den Erwerb von Fachwissen, sondern für den Umgang mit Kulturgütern, für Umgangsformen und verfeinertes Verhalten und Auftreten.28 Bildung stellte das vielleicht stärkste Mittel zur Identitätsstiftung und Integration dar.29 Der für die Aneignung des kulturellen Kapitals Bildung nötige Zeitaufwand wurde als demonstrativ genutzte Freizeit zelebriert.30 Das kulturelle, nicht so sehr das ökonomische Kapital spielte dann die entscheidende Rolle, wenn es darum ging, sich von anderen Gesellschaftsgruppen abzusetzen. Die bewusst formulierten Ideen und die eher unbewusst vorhandenen Werte mit ihrer erkennbaren Auswirkung auf das Verhalten erschufen eine bürgerliche Lebens-

25 26 27

28 29

30

Paderborn 2002, S. 97; Edmond Goblot: Klasse und Differenz. Soziologische Studie zur modernen französischen Bourgeoisie, Konstanz 1994 (französische Erstausgabe 1925), S. 34; Dieter Hein: Arbeit, Fleiß und Ordnung, in: Hans-Werner Hahn/ders. (Hrsg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 239–252, hier S. 239f.; Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland 1760–1860, Göttingen 1997, S. 91f. Rudolf Vierhaus: Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 66. Vgl. Münch, Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, S. 29–30; Frey, Der reinliche Bürger, S. 91. Vgl. die Theorie der verschiedenen Kapitalsorten bei Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198. Vgl. Linke, Sprachkultur und Bürgertum, S. 22; vgl. allgemein Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1994. Vgl. Dietrich Rüschemeyer: Bourgeoisie, Staat, und Bildungsbürgertum. Idealtypische Modelle für die vergleichende Erforschung von Bürgertum und Bürgerlichkeit, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 101–120. Vgl. Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, London 1953 (englische Erstausgabe 1899), S. 46f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

88

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

welt, deren Zusammenhalt sich in bürgerlichen Kommunikations-, Geselligkeits-, Heirats- und Mobilitätskreisen, bürgerlichen Vereinen, in der bürgerlichen Zusammensetzung und Prägung des höheren Bildungswesens sowie in typischen Formen der Freizeitgestaltung manifestierte, womit zugleich immer eine Abgrenzung von denjenigen, die keinen Zugang zu diesem Wissensraum hatten, verbunden war. Hierdurch sollte die Fragilität des Selbstbewusstseins der Sozialformation kompensiert werden, ein Vorgehen, das im 18. und frühen 19. Jahrhundert insofern Früchte trug, als das Bürgertum nicht nur zahlenmäßig anwuchs und eine Vorrangstellung in der Wirtschaft, der Bildung und Wissenschaft und in der staatlichen Verwaltung erlangte, sondern schließlich sogar die Deutungsmacht über die Vorstellungen von Politik und Gesellschaft erreichte. Die Erfolge dieser Deutungsmacht seit dem 18. Jahrhundert waren auf ökonomischer Seite die Entstehung der kapitalistischen, unternehmerisch geprägten Marktwirtschaft, die Entwicklung hin zur Garantie von individuellen Rechten, formaler Gleichheit und Berechenbarkeit im geschäftlichen Verkehr sowie in politischer Hinsicht die Verfassungs- und rechtsstaatliche Begrenzung der Regierungsmacht, die Gewährleistung individueller Freiheit und die parlamentarische Mitsprache der Bürger, die Entwicklung einer freien Öffentlichkeit und die Autonomie von Bildung, Wissenschaft und Kunst.31 Die größten Ambitionen des Bürgertums, vereint in den Forderungen nach ‚Einigkeit und Recht und Freiheit‘, scheiterten allerdings in der Revolution von 1848/49. Die Niederlage der Revolution war jedoch nur das sichtbarste Merkmal einer umfassenderen Problematik: Denn nach der Mitte des Jahrhunderts stand das Bürgertum einer zunehmenden Zahl von Hindernissen gegenüber, die sein Selbstbewusstsein mehr und mehr erschütterten. Nicht nur bestand das Problem, dass die grundlegenden Ziele der Einheit und der Freiheit mit der erfolglosen Revolution fehlgeschlagen waren. Hinzu kam die umfassendere Schwierigkeit, dass in Konfrontation mit der entstehenden industriellen Welt die Idee der bürgerlichen Gesellschaft und des Liberalismus Zug um Zug entscheidende Punkte ihres ursprünglichen Konzeptes preisgab und sich in diesem Prozess letztlich bis zur Unkenntlichkeit veränderte. Bildung für die Allgemeinheit, soziale Durchlässigkeit, Teilnahme und Teilhabe aller an der neuen bürgerlichen Kultur, das war ursprünglich das Ideal der bürgerlichen Gesellschaft gewesen. Doch diese Vorstellung blieb ein Ideal, nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Mitteleuropa. Das politisch-soziale Reformkonzept war auf wirtschaftliche, gesellschaftliche und damit zugleich politische Verhältnisse zugeschnitten, die mehr und mehr der Vergangenheit angehörten.32 Statt einer Bürgergesellschaft entstand mit der industri31 Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 47, 51. 32 Vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

89

ellen Entwicklung und speziell in Deutschland mit dem autoritären Staatsgefüge eine neue überständische Elite, wobei gerade Bildung und Erziehung als soziale Nadelöhre fungierten, ein Tribut an die aufkommende Dis­tanz zwischen dem Prozess der Verbürgerlichung der Gesamtgesellschaft und dem Bürgertum.33 „Es war, wenn man so will, die Stunde von Karl Marx, der statt von der ‚klassenlosen Bürgergesellschaft‘ von der vom Großbürgertum, von der Bourgeoisie beherrschten Klassenlage sprach“,34 urteilt Lothar Gall. Das Bürgertum, so argumentiert Kocka, empfand die Erweiterung der Trägergruppe der bürgerlichen Gesellschaft durch bessere Schulbildung und ein breiteres Wahlrecht als Bedrohung, auf die es mit verschärfter Ausgrenzung reagierte. An die Stelle des Zukunftsentwurfs, den die Idee der bürgerlichen Gesellschaft immer beinhaltet hatte, an die Stelle der Ausgangsdynamik war die Sicherung des Status quo in der Gegenwart getreten, womit aber gleichzeitig die utopische Kraft preisgegeben wurde.35 Damit war die Grundlage geschaffen für ein immanentes Krisenpotenzial des Selbstbewusstseins und des Selbstverständnisses. Zu der allgemeinen Krise des Liberalismus in ganz Europa im Zuge der Industrialisierung und der Entstehung der Klassengesellschaft kam speziell in Deutschland die Tatsache, dass sich die Bürger nach der gescheiterten Revolution damit abfinden mussten, dass die Hauptziele Einheit und Freiheit vorerst gescheitert waren, womit die gesamte liberale Idee einen Rückschlag erlitt. Der Staat hatte sich in den alten Formen der Herrschaft eingerichtet, der Staatsbürger blieb Untertan der Fürsten, die Höfe und der staatliche Apparat behaupteten die wirkliche Macht. Mit der nationalen Einigung unter preußischer Führung im Jahr 1871 wurde dann die bis dahin noch in bürgerlicher Deutungshoheit verbliebene Idee der Einheit vom Obrigkeitsstaat instrumentalisiert, womit die integrierende Funktion des Liberalismus als Vorhut und Hauptrepräsentant der nationalen Einigungsbewegung zu Grabe getragen werden konnte. Gleichzeitig verfestigte sich der Zustand der politischen Machtlosigkeit endgültig. Obwohl sich ein Teil der bürgerlichen Politiker erhoffte, zu einem späteren Zeitpunkt noch verfassungspolitische Korrekturen durchzusetzen, mit der Einheit gleichzeitig die Freiheit verwirklichen zu können, blieben doch die feudalen, bürokratischen Strukturen mit einer Sonderstellung des Militärs, dem konservativen Parlament und dem Dreiklassenwahlrecht in Preußen erhalten beziehungsweise sie verfestigten sich noch. Nominell war das Deutsche Kaiserreich zwar eine parlamentarisch-konstitutionelle Monarchie, Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991, S. 170. Vgl. auch Gall, Liberalismus und „Bürgerliche Gesellschaft“, S. 352. 33 Vgl. ders., „…ich wünschte ein Bürger zu sein“, S. 607–610. 34 Ders.: Selbständigkeit und Partizipation. Zwei Leitbegriffe der frühen bürgerlich-liberalen Bewegung in Deutschland, in: Hahn/Hein, Bürgerliche Werte um 1800, S. 291–302, hier S. 300. 35 Vgl. Kocka, Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft, S. 51.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

90

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

die politische Wirklichkeit sah aber so aus, dass der Reichstag keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung und den Kurs der Gesamtpolitik hatte, dagegen selbst ganz dem Wohl von Reichskanzler und Regierung ausgeliefert war.36 Die Folgen dieser Missachtung der politischen Ansprüche waren gravierend. Nach den Jahrzehnten des Wartens waren die politischen Ambitionen des Bürgertums gescheitert.37 Der Liberalismus wurde als Ergebnis der Reichsgründung von der inneren Machtausübung dauerhaft ferngehalten, wodurch er als politische Kraft ausschied. Damit blieben dem Bürgertum nur noch die Bereiche der Vereinskultur, des Bildungswesens, der Literatur und der Kunst, sowie der Wirtschaft, in denen es eine Führungsrolle einnehmen und sein Streben nach Gestaltungsmacht verwirklichen konnte.38 Doch die Position des Bürgertums in der Ökonomie geriet gleichfalls ins Wanken. Hatten bürgerliche Bankiers und Unternehmer in den fünfziger und sechziger Jahren den Gang der Wirtschaftspolitik bestimmt und einen großen, durch keine inneren Schranken mehr zerteilten Markt geschaffen, dessen Dynamik in der Gründerzeit beeindruckte, erschütterte die darauf folgende Gründerkrise – obschon es sich nach den Maßstäben der Ökonomen eigentlich nur um eine im Konjunkturzyklus notwendige Anpassungs- und Modernisierungsphase handelte – den Glauben an die Segnungen des freien Marktes enorm und diskreditierte die liberale Wirtschaftsführung. Die Liberalen erschienen als Sündenbock für die Misere,39 die konservativen Kräfte hingegen gingen aus der Gründerkrise gestärkt hervor.40 Hinzu kam die Problematik, dass – und hier war das Deutsche Reich keine Ausnahme, sondern spiegelte nur die allgemeine Entwicklung in Europa – der Liberalismus sich aufgrund des Eintritts der Massen in die Politik und damit verbunden des Vordringens der sozialistischen Kräfte sowie der Ausdifferenzierung der Gesellschaft mehr und mehr im Niedergang sah. Doch in Deutschland konnte der Liberalismus in 36 Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1990, S. 92–109; Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Frankfurt am Main 1997, S. 30, 37; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 1284. 37 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 107f. 38 Vgl. Willibald Steinmetz: Die schwierige Selbstbehauptung des deutschen Bürgertums. Begriffsgeschichtliche Bemerkungen in sozialhistorischer Absicht, in: Rainer Wimmer (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Jahrbuch 1990 des Instituts für deutsche Sprache, Berlin/New York, NY 1991, S. 12–40, hier S. 14. 39 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1287. 40 Vgl. Wolfgang E. Heinrichs: Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, Köln 2000, S. 19; Ullrich, Die nervöse Großmacht, S. 41f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

91

dieser Situation keine praktischen Erfolge vorweisen, die ihm Rückhalt hätten bieten können. Stattdessen war er einem doppelten Druck ausgesetzt: Von ‚oben‘ lastete das charismatische Kanzlerregime und die immer noch hervorragende Position des Adels, von ‚unten‘ die Fundamentalpolitisierung der Arbeiterbewegung gegen die Honoratiorenpolitik auf dem liberalen Bürgertum.41 Hatte der Adel als elitäre Statusgruppe in einer ständisch verfassten Gesellschaft zwar seit 1880 seine Sonderrechte und Privilegien zunehmend eingebüßt, so entwickelte er in der Folgezeit neue Strategien der Lebensführung und Machtsicherung im Kampf ums „Obenbleiben“,42 die die Rettung der verbliebenen ständischen Vorteile und eine innere Erneuerung durch Gesinnungsreform, intensivierte Standesorganisation und innerständische Sozialpolitik in den Vordergrund stellten.43 Die Fixierung auf Krone und Staat, ein ausgeprägtes Dienst­ ethos und die Hochschätzung des Militärischen, die Verankerung des eigenen Status im Landbesitz, die große Bedeutung eines freizeit­orientierten Lebensstils sowie die Dis­ tanz zu Utilitarismus und Funktionalismus und die Betonung von Etikette prägten das Selbstverständnis des Adels im Kaiserreich, der damit ungeachtet aller Rückschläge und Gewichtsverschiebungen erfolgreich blieb.44 In der Abgrenzung zum Bürgertum entwickelte der Adel sogar neues Selbstbewusstsein.45 Die vielfach diskutierte Feudalisierungsthese, nach der das Bürgertum auf diese Situation reagierte, indem es versuchte, sich dem Adel so weit wie möglich anzugleichen, ist mittlerweile von der Forschung zugunsten der Ansicht verworfen worden, dass ganz im Gegenteil das Bürgertum auf die Herausforderung seines Selbstbewusstseins und -verständnisses zumeist mit strenger Abgrenzung antwortete, wozu eine dezidierte Rückbesinnung auf die eigenen Werte 41 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2, S. 107f., 322, 331; Ullrich, Die nervöse Großmacht, S. 37; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1287. 42 Rudolf Braun verwendet diesen Begriff in Anlehnung an Werner Sombart. Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 87–95. 43 Vgl. ebd., S. 88; Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 29f.; Hartmut Harnisch: Adel und Großgrundbesitz im ostelbischen Preußen 1800–1914, Berlin 1993. 44 Vgl. Hartmut Berghoff: Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich. Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten, in: Reif, Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. 1, S. 261–265; Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben, S. 89; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 825. Nichtsdestoweniger gab es auch Ausnahmen von dieser Verhaltensweise, vgl. Volker Klemm: Die Agrarwissenschaften und die Modernisierung der Gutsbetriebe in Ost- und Mitteldeutschland, in: Heinz Reif (Hrsg.): Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise – junkerliche Interessenpolitik – Modernisierungsstrategien, Berlin 1994, S. 173–190, hier S. 181. 45 Vgl. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 33; Dieter Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994, S. 11–28, hier S. 11–13.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

92

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

diente.46 Neben dem Adel als überlegenem Konkurrenten zur bürgerlichen Gesellschaft übte zunehmend die aufsteigende Industriearbeiterschaft als bisher unterlegener gesellschaftlicher Konkurrent Druck aus. Während die Arbeiterschaft 1882 noch rund 23 Prozent der Erwerbstätigen ausmachte, waren es 1895 bereits knapp 30 und 1907 33,5 Prozent.47 In absoluten Zahlen bedeutete das eine Verdoppelung der Arbeitskräfte in der Industrie in fünfundzwanzig Jahren.48 Diese sahen sich ab den siebziger Jahren und mit noch größerer Intensität ab den neunziger Jahren als einheitliche Klasse mit eigenem, von der Bürgerwelt abgegrenztem Selbstbewusstsein. Dazu trugen beispielsweise die Streiks bei, die seit dem Großstreik im Ruhrgebiet 1889 mit einer Teilnehmerzahl von 90.000 Bergleuten stetig zunahmen und die die Arbeiterschaft unter anderem als politische Macht etablierten und gleichzeitig das Krisenbewusstsein des Bürgertums schärften.49 Obwohl es dem Großteil der Arbeiter im Grunde um die demokratische Ordnung ging, in der sie als politisch gleichberechtigte, sozial gesicherte Staatsbürger auftreten wollten, nahmen die bürgerliche Öffentlichkeit und die politische Führung des Reiches vielmehr die Aussagen der Arbeiterführer, die die nahe Revolution predigten, wahr. Entsprechend heftige Reaktionen folgten als ein Ausdruck tiefen Misstrauens, von denen das Sozialistengesetz nur eine Auswirkung darstellte. Dieses Misstrauen, gerade zwischen Angehörigen des Bürgertums und der Arbeiterschaft, vertiefte sich, je mehr sich die beiden Gruppen in ökonomischer und kultureller Hinsicht einander annäherten.50 Im Verlauf dieses Prozesses wurden die groben Unterschiede eingeebnet, während die feinen Unterschiede eine größere Bedeutung gewannen.51 Die Grenzen des Bürgertums, so schien es, begannen sich zusätzlich aufzulösen durch eine rasch anwachsende Zahl von neuen Mitgliedern mit heterogener sozialer Herkunft, vorwiegend aus dem so genannten ‚neuen Bürgertum‘, bestehend aus industriellen, kaufmännischen, städtischen und staatlichen Angestellten jenseits des höheren Beamtentums sowie Facharbeitern. Während es zu Beginn der achtziger Jahre im Deut46 Für den Forschungsstand zur Feudalisierungsthese und ihrer Negierung vgl. insbesondere Karin Kaudelka-Hanisch: The Titled Businessman. Prussian Commercial Councillors in the Rhineland and Westphalia during the Nineteenth Century, in: David Blackbourn/Richard J. Evans (Hrsg.): The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century, London/New York, NY 1993, S. 87–114, und Dolores L. Augustine: Arriving in the Upper Class. The Wealthy Business Elite of Wilhelmine Germany, in: Blackbourn/Evans, The German Bourgeoisie, S. 46–85. 47 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 291. 48 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 774. 49 Vgl. ebd., S. 788, 797; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 314f., 332. 50 Vgl. Gerhard Schildt: Die Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 36), München 1996, S. 17–24. 51 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 316.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

93

schen Reich nur eine halbe Million Angestellte gegeben hatte, war ihre Zahl 1895 bereits auf eine Million gestiegen, 1907 gab es dann schon knapp zwei Millionen.52 Diese nahmen, vielmehr noch als die bereits etablierten Bürgerlichen, den stetigen Kampf um die Zugehörigkeit zum Kreis des Bürgertums und um Distinktion gegenüber der Arbeiterschaft auf. Denn während sie zwar Kriterien wie die technische oder kaufmännische Ausbildung, die Bezahlung eines Gehalts statt eines Stundenlohnes, geregelte Arbeitszeiten, unter Umständen mit fester Urlaubszeit, und die Anerkennung als eigene Berufsgruppe durch ein eigenes Versicherungsgesetz von den Arbeitern abhoben,53 lag das Einkommen der Angestellten teilweise kaum über dem eines Vorarbeiters mit handwerklicher Ausbildung, so dass sie und ihre Familien oft eine beengte materielle Existenz führen mussten.54 Mit solchen ökonomischen Voraussetzungen konnte weder der Anschluss an das etablierte Bürgertum gelingen – zumal die Angestellten auf den Status der wirtschaftlichen Unabhängigkeit verzichten mussten –, noch bestand eine ganz klare Abgrenzung zur Arbeiterschaft. Umso mehr Wert legten die Betroffenen auf die Betonung und Übersteigerung der Unterschiede, umso stärker verfolgten sie das Modell bürgerlicher Lebensführung.55 Sie verteidigten den sozialen Status unter großem Aufwand und teilweise sogar unter Entbehrungen gegenüber den Arbeitern.56 Sichtbar wurde dies durch den im Vergleich zur Arbeiterfamilie höheren Aufwand für Kleidung, im anspruchsvolleren Konsum, an der besseren Wohnung in einer besseren Wohngegend, im Freizeitverhalten, im Sprachstil oder im Familienleben, „wenn auch manches nicht mehr als Prätention war.“57 Der Einwand Nipperdeys kann dahingehend gedeutet werden, dass die ökonomischen Mittel fehlten, um den bürgerlichen Lebensstil vollkommen zu verfolgen oder dass die eigentliche bürgerliche Mentalität nicht völlig den Handlungen des neuen Mittelstandes zugrunde lag. Stattdessen erscheint es, als sei der Wille, ‚bürgerlich‘ zu sein, sich von den Arbeitern abzugrenzen, selbst das eigentlich identitätsstiftende Moment gewesen. Es war daher der neue Mittelstand, der in der wilhelminischen Zeit einer besonderen gesellschaftlichen Dynamik 52 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 751–759; Lothar Gall: Walter Rathenau, Portrait einer Epoche, München 2009, S. 13; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 380. 53 Vgl. Gall, Walter Rathenau, S. 15–17; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 760; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 375. 54 Vgl. Gall, Walter Rathenau, S. 15; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 375. 55 Vgl. ebd., S. 376. 56 Vgl. Gall, Walter Rathenau, S. 17. 57 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 376. Vgl. für die Bedeutung von Umgangsformen und Tischsitten insbesondere für das Kleinbürgertum Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/ New York, NY 1994, S. 283.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

94

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

unterlag58 und seinerseits gesellschaftliche Dynamik verbreitete. Die andauernde Angst vor einem Verlust der ökonomischen Selbstständigkeit, die Bedrohung durch das Großkapital und das Proletariat führten dazu, dass gerade hier die Merkmale von Bürgerlichkeit betont wurden,59 ohne jedoch, so lässt sich vermuten, die völlige Sicherheit einer umfassenden bürgerlichen Mentalität vorweisen zu können. Es war aber gerade dieses Streben nach Bürgerlichkeit, das Zelebrieren des entsprechenden Lebensstils, das das ‚neue Bürgertum‘ einte, ihm eine gemeinsame Identität verlieh.60 Dieses Streben förderte umgekehrt die Ab- und Ausgrenzungstendenzen, so dass sich die feinsten Abstufungen sozialer Differenzierung im ‚neuen Bürgertum‘ fanden. Von einer allgemeinen Krise des Bürgertums, im weitesten Sinne verstanden als instabiler Zustand, als Prozess oder Verlauf, in dem sich ein Wandel vollzieht,61 kann man im vollen Maße ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ausgehen. Die bisher schon erläuterten Symptome des Niedergangs bürgerlicher Deutungsmacht und bürgerlicher Identität ab der Mitte des Jahrhunderts und verstärkt in der Zeit des Kaiserreichs kulminierten nicht nur in den neunziger Jahren, sondern korrelierten nun obendrein mit einem allgemeinen Krisenbewusstsein der wilhelminischen Zeit. Einstimmig urteilt die Forschung, dass es sich bei der Zeit zwischen 1890 und 1914 um eine Periode des relativen wirtschaftlichen Wohlstands, des technischen Fortschritts und der rechtlichen Sicherheit gehandelt habe und sucht einen Grund für den Druck, den die Zeitgenossen als enorm belastend wahrnahmen.62 Volker Ullrich führt diesen Umstand in Anlehnung an Ernst Bloch zurück auf die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“63 als Hauptcharakteristikum nicht nur der Moderne allgemein, sondern speziell der Jahrzehnte vor und nach 1900. Es herrschte ein „Neben- und Ineinander des scheinbar Unvereinbaren“,64 indem neben einer dynamisch wachsenden Industriewirtschaft die konservativen Strukturen der Agrargesellschaft und der monarchischen Hofkultur fortdauerten, neben den außergewöhnlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik die Vergötte58 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 751. 59 Vgl. Ullrich, Die nervöse Großmacht, S. 293; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 377. 60 Vgl. ähnliche Überlegungen bei Gall, Walter Rathenau, S. 23. 61 Vgl. Helga Scholten: Einführung in die Thematik. Wahrnehmung und Krise, in: dies. (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Wien/Köln/ Weimar 2007, S. 5–11, hier S. 8. 62 Vgl. Ullrich, Die nervöse Großmacht; Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998; Angela Schwarz: Allmacht oder Ohnmacht. Technikvorstellungen und Krisenwahrnehmung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, in: Scholten, Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen, S. 203–222. 63 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962 (Erstausgabe 1935). 64 Ullrich, Die nervöse Großmacht, S. 14.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Bürgertum und Bürgerlichkeit in Deutschland: Aufstieg und Krise

95

rung des Militarismus und der Uniformität, neben Tendenzen zur Parlamentarisierung und Demokratisierung Honoratioren- und Interessengruppenpolitik beziehungsweise ein autokratisches System, das auf eine Herrscherfigur zugeschnitten war, standen. Die Krise stellte sich also insgesamt eher als eine Frage des subjektiven Eindrucks als eine objektive Gegebenheit dar. Sie war ein Umstand der Wirklichkeitswahrnehmung des Bürgertums, was ihre Bedeutung jedoch keinesfalls verringerte. Die Zeitgenossen empfanden sich als „Übergangsmensch[en]“,65 die historische Forschung kennzeichnet sie bisweilen als „Nachgeborene des bürgerlichen Zeitalters.“66 Durch die raschen sozialen Umschichtungsprozesse wie beispielsweise das schon erwähnte Wachstum der Zahl der Mitglieder der Arbeiterschaft besonders ab 1890 veränderte sich die bisher fest gefügte bürgerliche Honoratiorengesellschaft. Durch das rasche Städtewachstum lösten sich die festen sozialen Gefüge der Wohnbezirke auf.67 Die Folge war ein Verlust der bürgerlichen Gruppenidentität und der „instinktive[n] Verhaltenssicherheit“:68 „Ewig muss man zweifeln“, so schildert Joachim Radkau die Situation des Bürgertums, „ob man den richtigen Beruf, den richtigen Partner und die richtige Lebensweise gewählt hat und die entsprechenden Anforderungen erfüllt.“69 Die Individualisierung schritt voran, die subjektiven Erfahrungsmöglichkeiten nahmen zu, feste Bezüge, Normen und Werte verloren zusehends an Kontur, die Eigenverantwortung wuchs.70 Die „Umbruchszeit der Moderne“,71 die Zeit ab 1890, stellte sich damit für das gesamte Bürgertum als eine Epoche dar, in der gesellschaftliche Strukturen aufbrachen, der soziale Status quo nur mit Mühe verteidigt werden konnte, in der die Angst vor gesellschaftlichem Abstieg umging, der mit immer größeren Anstrengungen verhindert werden sollte. „An die Stelle des ruhigen Selbstgefühls der Mitte des 19. Jahrhunderts“, so charakterisiert Thomas Nipperdey die Zeit, „traten Krisengefühl, Sorge und Abwehr.“72 Martin Doerry beschreibt die Wilhelminer als die schon zitierten ‚Übergangsmenschen‘, deren Identität durch den dramatischen Wandel der Lebenswelt fragwürdig geworden war, und Wolfgang Heinrichs attestiert als Ergebnis seiner Untersuchung des Judenbildes im Kaiserreich dieser Zeit den Charakter einer Dauerkrise, die die Struktur der Men65 Der Schriftsteller Hermann Conradi (1862–1890) bezeichnete sich und seine Zeitgenossen 1889 als eine „Generation der Übergangsmenschen“. Zit. nach Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim/München 1986, S. 9. 66 Hettling, Bürgerliche Kultur, S. 339. 67 Vgl. Hans Mommsen: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 288–315, hier S. 289. 68 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 23. 69 Ebd. 70 Vgl. Hettling, Bürgerliche Kultur, S. 338. 71 Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs, S. 19. 72 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, S. 394.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

96

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

talität veränderte.73 Die Auswirkungen schildert Joachim Radkau in seiner Studie zum „Zeitalter der Nervosität“ als eine nervöse Reizbarkeit, die er als spezifisches Merkmal der Mentalität der wilhelminischen Zeit aus den Selbstzeugnissen der Zeitgenossen wie beispielsweise Rudolf Diesel rekonstruiert.74 Doerry wertet den aggressiven Imperialismus der bürgerlichen Mittelschichten, also ihre Begeisterung für das wilhelminische Kolonial- und Flottenprogramm, mit dessen Hilfe die Regierung den Platz Deutschlands unter den Großmächten sichern wollte, als Ausdruck der Furcht vor dem eigenen gesellschaftlichen Rangverlust in Bezug auf die Arbeiterbewegung und der politischen Machtlosigkeit gegenüber der konservativen Führungsschicht des Reiches.75 Insbesondere mit dem zunehmenden Druck, den die Arbeiterschaft nicht nur mit ihren Forderungen nach Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft und an der politischen Macht, sondern durch ihre schiere Masse und ihr zunehmendes Selbstbewusstsein auf das Bürgertum ausübte, wuchs der Abwehrreflex des Bürgertums stetig.76 Es galt somit im Kaiserreich, die innere Einheit einer Gesellschaftsformation zu wahren, die immer stärkeren Turbulenzen ausgesetzt war. Diese Integration wurde mit „scharfen Außengrenzen und rigorosen Distanzierungspraktiken gegenüber Nichtbürgern erkauft“,77 für die die symbolische Praxis des bürgerlichen Tourismus – und speziell des Fabriktourismus – ein hervorragendes Beispiel ist.

3.2. Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“78

„Reisen als bürgerliche Welt-Erfahrung im buchstäblichen Sinn: Das scheint um die Wende ins 19. Jahrhundert wie ein Fieber, wie eine Epidemie – nicht nur in 73 74 75 76

Vgl. Heinrichs, Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs, S. 19. Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 9f., 13. Vgl. Doerry, Übergangsmenschen, S. 14. Vgl. Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (Enzy­ klopädie Deutscher Geschichte, Bd. 75), München 2005, S. 26. Ähnliche Überlegungen stellte auch der zeitgenössische Historiker Friedrich Meinecke kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs an: „Das akademisch gebildete Bürgertum, einst in der Offensive gegen die alten herrschenden Schichten, dann zu einer gewissen Mitherrschaft mit ihnen vereinigt und zum Teil verschmolzen, fühlt sich nunmehr in der Defensive gegenüber allen Schichten, die durch den Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat entstanden sind – den breiten Massen der Arbeiter und Angestellten.“ Friedrich Meinecke, zit. nach: Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, S. 300. 77 Ebd., S. 254. 78 Wolfgang Kaschuba: Erkundung der Moderne. Bürgerliches Reisen nach 1800, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 87, H. 1, 1991, S. 29–52, hier S. 29.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

97

Deutschland, doch hier in ganz besonderem Maße. Wer die damals breit einsetzende Flut der Reiseliteratur und der Reisehandbücher à la Baedeker betrachtet, wer in bürgerlichen Autobiographien jener Zeit davon liest, dem kommt es vor, als sei das Reisen damals gleichsam das Salz deutschen Bürgerlebens.“79 Wolfgang Kaschuba beschreibt hier treffend das Phänomen des bürgerlichen Reisens, das für die Gesellschaftsformation viel mehr bedeutete, als einen reinen geografischen Standortwechsel. Das jahrtausendealte Phänomen des Reisens hatte im 18. Jahrhundert eine revolutionäre Veränderung seines Zwecks erfahren. Die Menschen bewegten sich zunehmend nicht mehr aus ökonomischen Gründen oder anderen Zwängen heraus durch den geografischen Raum, sondern interpretierten damit die Realität in spezieller Weise und nahmen eine Standortbestimmung der eigenen gesellschaftlichen Position vor. Nicht das Betrachtete, sondern das Erleben der Betrachterinnen und Betrachter stand im Mittelpunkt. Der ‚Reisende‘ wurde zum ‚Touristen‘. Auf welche Weise dies vonstattenging und welche Auswirkungen dieser Umstand hatte, soll im Folgenden weiter erläutert werden.

3.2.1. Vom ‚Reisenden‘ zum ‚Touristen‘

Das Bürgertum hat das Reisen nicht erfunden. Lange bevor das Reisen im 18. Jahrhundert eine Domäne des Bürgertums zu werden schien, hatten sich bereits Millionen von Pilgern durch Europa bewegt80 und Gelehrte die Welt erkundet,81 waren Handwerker auf die Walz gegangen82 und junge adelige Kavaliere von Hof zu Hof gereist.83 Diese Reisen 79 Ebd. 80 Vgl. Klaus Herbers: Unterwegs zu heiligen Stätten. Pilgerfahrten, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 23–31. Im Mittelalter stellte die Pilgerreise die Hauptform der Reise für nicht-privilegierte Schichten dar, wovon zahlreiche spezielle Reiseführer zeugen. 81 Vgl. Winfried Siebers: Ungleiche Lehrfahrten. Kavaliere und Gelehrte, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 47–57; Thomas Freller: Adlige auf Tour. Die Erfindung der Bildungsreise, Ost­fildern 2007; Thomas Grosser: Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bürgerliche Bildungsreise, in: Michael Maurer (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 135–176, hier S. 139–150; vgl. für weitere, besonders ältere Literatur zum Thema ebd., Anm. 8., S. 139. 82 Vgl. Rainer Elkar: Auf der Walz. Handwerkerreisen, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 57–61. Mit seiner Mobilität übertraf das Handwerk sogar den Adel und war zumindest im 18. und 19. Jahrhundert deutlicher wahrnehmbar als die Pilgerströme. Erst mit der neuen Gewerbeordnung Mitte des 19. Jahrhunderts fand die traditionelle Gesellenwanderung ihr Ende. 83 Vgl. Grosser, Reisen und soziale Eliten.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

98

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

hatten gemeinsam, dass sie vorrangig einen ganz handfesten Zweck erfüllten: Der Pilger strebte zu den heiligen Stätten, um sein Seelenheil zu sichern; der Geselle erweiterte seine Fachkenntnisse, indem er die Arbeitsmethoden in anderen Regionen und Ländern erlernte, um so die Chance zu erhöhen, in seiner Heimatstadt als Meister anerkannt zu werden; der Gelehrte untersuchte die Natur und tauschte sich mit Kollegen in ganz Europa aus. Der Nachwuchs des europäischen Adels bereitete sich für den Fürstendienst vor, der neben gewissen humanistisch-gelehrten Kenntnissen insbesondere Kontakte zur internationalen Adelswelt sowie ein höfisch-weltläufiges Verhalten erforderte, was am besten durch Aufenthalte an verschiedenen Höfen erlangt werden konnte. Zunehmend beinhaltete die Reise junger Adeliger einen festen Kanon von Ländern und Regierungssitzen. Speziell in England entwickelte sich so im 17. Jahrhundert die adelige ‚Grand Tour‘, die genau bezeichnete Ziele in Frankreich und Italien, teilweise auch in Flandern, Deutschland und der Schweiz, vorgab. Neben Grundkenntnissen in der Diplomatie, in Fremdsprachen und im Umgang mit fremden Kulturen galt in Anlehnung an die Erziehungsideen John Lockes die allgemeine Persönlichkeitsentwicklung als Ziel, die dem Staat zugutekommen sollte. In England mit seiner gegenüber dem Kontinent offeneren Gesellschaftsstruktur entwickelte sich in diesem Zusammenhang eine ganz neue Führungsschicht, die ebenfalls nicht-adeligen Personen offenstehen konnte.84 Auf dem Kontinent hingegen, und hier gerade in den deutschen Territorien, setzte sich seit der Aufklärung, teils in Anlehnung an die Reisen des Adels, teils in Abgrenzung von ihnen, die bürgerlich geprägte Bildungsreise durch. Die vom Bürgertum umfassend rezipierte Italienreise Goethes kann als beispielhaftes Bindeglied zwischen der adeligen Grand Tour und der bürgerlichen Variante in Form der Bildungsreise gelten.85 Ein weiterer Vorläufer war die Gelehrtentour des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. So fanden sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bildungshungrige Bürgerliche unter den Reisenden, die das Ziel verfolgten, umfassendes Wissen und weltläufige Bildung zu erwerben. Das unterwegs Erworbene demonstrierten die Zurückgekehrten durch Reisetagebücher, die sie oft von vornherein zur Veröffentlichung zumindest im Familien- und Bekanntenkreis vorgesehen hatten.86 Indem das gerade neu entstehende Bürgertum das Reisen für sich entdeckte, änderte es den Charakter des Reisens. Bisher war das Reisen vorrangig einem konkreten ökonomischen, wissenschaftlichen oder 84 Vgl. Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die „Grand Tour“, 2. Aufl., Berlin 2001, S. 10–22. 85 Vgl. Barbara Wolbring: „Auch ich in Arkadien!“. Die bürgerliche Kunst- und Bildungsreise im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, München 1996, S. 82–101, hier S. 84. 86 Vgl. Hans-Wolf Jäger: Reisefacetten der Aufklärungszeit, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 261–281.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

99

religiösen Zweck entsprungen.87 Nun stand das demgegenüber diffus anmutende Ziel der Bildung im Raum.88 Nicht nur Kulturgüter der Antike, die vorwiegend in Italien gesucht wurden, nicht nur die Natur als malerische Aussicht standen auf dem Reiseprogramm, sondern auch politische und technische Innovationen, wie sie in Paris als Ort der politischen und England als Schauplatz der Industriellen Revolution betrachtet werden konnten.89 In der Phase der Hochindustrialisierung fand in Deutschland schließlich eine erhebliche Expansion des Fremdenverkehrs statt. Die Zahl von Reisenden verfünffachte sich zwischen 1870 und 1914, die Gruppe derjenigen, die reisten, erweiterte sich vom Bildungsbürgertum, das bisher vorwiegend seine Bildung in der Ferne zu vervollständigen gesucht hatte, nun sogar auf Wirtschaftsbürger und das ‚neue Bürgertum‘ der Angestellten. Neben der entsprechenden wirtschaftlichen Grundlage spielte vor allen Dingen die immer größere Freizeit dieser Gruppen eine wesentliche Rolle. Ab 1873 gab es beispielsweise eine Urlaubsregelung für Staatsbeamte, eine ähnliche Regelung trat bald für Angestellte in der Privatwirtschaft in Kraft. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten schließlich etwa zwei Drittel der Angestellten und fast alle Beamten einen jährlichen Urlaub von sieben bis vierzehn Tagen, höhere Beamte und leitende Angestellte erhielten noch wesentlich mehr.90 Welche Bedeutung hatten Freizeit allgemein und das Reisen in dieser Freizeit speziell für das Bürgertum des fortschreitenden 19. Jahrhunderts?91 War es, wie Kaschuba es in87 Vgl. Ursula A.J. Becher: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen – Wohnen – Freizeit – Reisen, München 1990, S. 198. 88 Vornehmlich das Wirtschaftsbürgertum, die Kaufleute und Unternehmer, reisten natürlich auch aus beruflichen Gründen. Hier ging es darum, Handelsbeziehungen zu knüpfen und sich über neue Technologien zu informieren. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts vertauschte sich der vorrangige Zweck, die fachlichen Kenntnisse zu erweitern, jedoch mit dem der allgemeinen Bildung. Vgl. Grosser, Reisen und soziale Eliten, S. 169. 89 Vgl. Helmut Peitsch: Das Schauspiel der Revolution. Deutsche Jakobiner in Paris, in: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 306–332; Johannes Weber: Wallfahrten nach Paris. Reiseberichte deutscher Revolutionstouristen von 1789 bis 1802, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 179–186; vgl. Klaus Herrmann: Ingenieure auf Reisen. Technologieerkundung, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 297–304. 90 Vgl. Hasso Spode: Der moderne Tourismus – Grundlinien seiner Entstehung und Entwicklung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Dietrich Storbeck (Hrsg.): Moderner Tourismus. Tendenzen und Aussichten (Materialien zur Fremdenverkehrsgeographie, Bd. 17), Trier 1988, S. 39–76, hier S. 59f.; Alexander Schmidt: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997, S. 63. 91 Die Frage nach der Bedeutung des Reisens im Übergang vom frühen zum späten 19. Jahrhundert ist allgemein von der Forschung wenig beleuchtet worden. Vgl. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 4, dort bes. Anm. 26.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

100

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

terpretiert, lediglich eine Möglichkeit, aus den „engen, ‚deutschen Zuständen‘“ auszubrechen und sich die „veränderte[ ]europäische[ ] Welt der politischen Revolution und der technischen Umwälzung“, mit den „weiten Horizonten ‚draußen‘“92 anzuschauen? Oder hatte das Freizeit- und speziell das Reiseverhalten des Bürgertums eine viel grundsätzlichere Bedeutung? Diesen Ansatz, der weiter oben bereits in Ansätzen skizziert wurde, verfolgt beispielsweise Barbara Wolbring, die die bürgerliche Bildungsreise des 19. Jahrhunderts „weniger [als] ein rein zerstreuendes Freizeitverhalten, [denn] als kulturelles Handeln“93 begreift. Dieses Handeln, so gleichfalls die Überlegung bei Philipp Prein, geschah äußerst zielgerichtet mit der Intention, den Inhalt von Bürgerlichkeit auszuhandeln und sich selbst in der Praxis als Bürger zu beweisen.94 Vordergründig betonte das Bürgertum, indem es die Freizeit entsprechend zelebrierte, seinen sozialen Rang in einer Zeit, in der Freizeit, insbesondere im größeren Umfang, für die Arbeiterschaft die Ausnahme darstellte. Es bestand jedoch nicht die Möglichkeit, einfach nur Elemente aus der höfischen Mußekultur zu übernehmen, da Bürgerlichkeit immer in einem gewissen Maße an den Leistungsgedanken gebunden war, mit dem das Bürgertum sich von der Feudalordnung emanzipiert hatte.95 Stattdessen, und hier lag das ursprüngliche Ziel des inszenierten touristischen Handelns, ging es darum, die bürgerliche Tugend der Bildung, verstanden als universal gefasster Lernakt zur Entfaltung aller natürlichen Anlagen, an den Tag zu legen.96 Zu reisen hieß damit mehr, als sich die Zeit zu vertreiben oder aus der als bedrückend empfundenen Alltagswelt zu fliehen.97 Stattdessen begriff der Bürger Reisen als Möglichkeit, durch die Durchmessung von Räumen den eigenen Horizont zu erweitern, und damit als „einen integralen Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons.“98 Bildung im umfassenden Sinne bedeutete für 92 93 94 95 96

Kaschuba, Erkundung der Moderne, S. 29. Wolbring, „Auch ich in Arkadien!“, S. 94. Vgl. Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 2. Vgl. Kapitel 3.1. Vgl. Grosser, Reisen und soziale Eliten, S. 169; Wolfgang Kaschuba: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, Kultur als symbolische Praxis, in: Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 92–127, hier S. 124. 97 Hans Magnus Enzensberger stellt die breit rezipierte Theorie auf, dass es sich beim modernen Tourismus um einen Reflex der industrialisierten Gesellschaft handle, der vorrangig dem Zweck diene, den charakteristischen Verhältnissen in dieser Gesellschaft zu entfliehen. Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Eine Theorie des Tourismus (1958), in: ders. (Hrsg.): Bewußtseins-Industrie, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1976, S. 179–206. 98 Wolbring, „Auch ich in Arkadien!“, S. 95; vgl. auch Becher, Geschichte des modernen Lebensstils, S. 199; Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800, S. 112–117; Rudolf Vierhaus: Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49, in: Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 66. Vgl. für entsprechende zeitgenössische Aussagen über den Bildungswert und -charakter des Reisens die Untersuchung von Grosser, Reisen und soziale Eliten, S. 169–171.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

101

das Bürgertum jedoch keinen Wert an sich, sondern durch demonstrative Freizeit erworbenes kulturelles Kapital in Fortsetzung der ökonomischen Tugenden.99 Mithilfe der demonstrativ genutzten Freizeit in Form der Reise zur Bildung bewies der Einzelne ebenso seine Bürgerlichkeit wie durch die Kenntnis von Literatur, Kunst und Musik, von Umgangsformen und Tischsitten.100 Damit erwies sich bürgerliches Reisen nicht nur als eine Möglichkeit, in Übereinstimmung mit den ökonomischen Tugenden, sozusagen als „Investitionen in die eigene Produktivität“101 seine Arbeitskraft zu regenerieren.102 Vielmehr avancierte es zur symbolischen Praxis par excellence, durch welche der Einzelne seine Mitgliedschaft in einer durch gemeinsame Rituale und Selbstbilder relativ klar umrissenen Gemeinschaft manifestierte und durch die diese Gemeinschaft sich von anderen unterschied.103 Das vordergründige Freisein von Nützlichkeit, das Ziel, das Fremde, die Natur und Kultur um ihrer selbst willen zu suchen, diente letztlich zur Identitätsausbildung des Einzelnen wie der ganzen gesellschaftlichen Gruppe und damit zur Inklusion und Distinktion.104 Zu diesem Zweck wurde alles Betrachtete, Besuchte und Besichtigte dem touristischen Bedürfnis nach Bildung im umfassenden Sinne untergeordnet. Jedes Erlebnis war mehr oder minder stark inszeniert – durch die 99 Vgl. Kapitel 2.1.2. Eine erste Analyse des Tourismus als zur Schau gestellter Konsum nahm HansJoachim Knebel vor, vgl. Hans-Joachim Knebel: Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, Stuttgart 1960, S. 4–6. 100 Vgl. Wolbring, „Auch ich in Arkadien!“, S. 83. 101 Ewald Hiebl: Badestube und Wandelbahn. Salzburger Bädertourismus vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Hanns Haas/Robert Hoffmann/Kurt Luber (Hrsg.): Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, Salzburg 1994, S. 82–90, hier S. 84. 102 Der Aspekt der zum Reisen genutzten Freizeit als Mittel, die Arbeitskraft durch Regeneration zu erhalten und mithin als sinnvoll investierte Zeit zu interpretieren, wird häufig in der Literatur über bürgerliches Reisen nicht nur für den deutschen Raum thematisiert. Vgl. Hasso Spode: Der Tourist, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York, NY 1999, S. 113–137, hier S. 123, ders., Der moderne Tourismus, S. 123; Augustine, Arriving in the Upper Class S. 51; Prein, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert, S. 101; Cindy S. Aron: Working at Play. A History of Vacations in the United States, Oxford 2001, S. 5–9, 101–126, 145. Vgl. für entsprechende Aussagen aus zeitgenössischen Reiseberichten Grosser, Reisen und soziale Eliten, S. 172. 103 Vgl. Joachim Studberg: Globetrotter aus dem Wuppertal. Eine Untersuchung großbürgerlicher Mentalität anhand autobiographischer Reiseaufzeichnungen aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs, Pfaffenweiler 1991. Bei seiner Untersuchung stellte Studberg fest, dass insbesondere der demonstrative Konsum auf Reisen und die Bildung, die man während des Reisens zur Schau stellte, in den Reiseberichten hervorgehoben wurden. Vgl. ebd., S. 156, 174–185. 104 Vgl. Leed, Die Erfahrung der Ferne, S. 278; Judith Adler: Travel as Performed Art, in: The American Journal of Sociology, Bd. 95, Nr. 6, 1989, S. 1368, Rudy Koshar: German Travel Cultures, Oxford/ New York, NY 2000, S. 7. Vgl. auch James Clifford: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, 2. Aufl., Cambridge, MA 1997, S. 17–46.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

102

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

Erwartungen, die Forschungs- und Reiseberichte oder Reiseführer evozierten, durch Veranstalter und Betrachtete und letztlich durch die Betrachtenden selbst.105 Die Fähigkeit, das ihnen vor Augen geführte Andere als Teil eines Bildungserlebnisses zu erkennen, unterschied die Betrachtenden von denjenigen, die zu einer solchen Leistung nicht fähig waren. Jemand, der nicht am bürgerlichen Wissensraum teilhatte, konnte bei einem Besuch eines aus bürgerlicher Sicht touristischen Ortes die Inszenierung nicht teilen und damit keinen entsprechenden Gewinn aus dem Besuch ziehen. Der nicht-bürgerliche Besuch konnte sich somit zwar in demselben geografischen Raum aufhalten, den mentalen touristischen Raum konnte er jedoch nicht betreten. Das Streben nach einem (Bildungs-)Erlebnis fächerte die Palette an touristischen Sehenswürdigkeiten im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter auf, so dass selbst das bisher als alltäglich, abschreckend oder uninteressant Klassifizierte schließlich das Potenzial hatte, als Attraktion zu gelten. Das geschäftige Treiben der (schmutzigen) Großstadt, die bisher als feindlich empfundene Natur etwa der Gebirge, historische Schauplätze, das Alltagsleben der Landbevölkerung und selbst Gefängnisse erfuhren eine Neubewertung als Objekte der touristischen Neugier. Umso naheliegender ist es, auch die Fabrik auf ihre Qualität als touristische Attraktion gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Wie ließ sich der Produktionsvorgang von den bürgerlichen Betrachterinnen und Betrachtern umdeuten in ein touristisches Ereignis, bei dem es nicht um die produzierte Ware ging, sondern um eine neue Möglichkeit des ,Selbst-Verständnisses‘ als Beobachtende eines unterhaltsamen Vorgangs, als Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer im bürgerlichen Verständnis ‚sinnvollen‘ Freizeitgestaltung? Um diese Frage zu beantworten, ist eine allgemeine Rekonstruktion bürgerlicher touristischer Inszenierungen und der ihnen zugrundeliegenden Mechanismen, insbesondere des touristischen Blicks, notwendig. Zuvor erscheint es jedoch sinnvoll, Überlegungen anzustellen, ob uniforme touristische Wahrnehmungen und Verhaltensweisen tatsächlich für das Bürgertum als einer homogenen Gruppe angenommen werden können, oder ob nicht zumindest entlang der Kategorie Geschlecht eine differenziertere Betrachtungsweise nötig ist.

105 Nur manchmal wurde die Inszenierung aufgebrochen, etwa dann, wenn der Bergführer den Wunsch des bürgerlichen Wanderers, Halt zu machen, um das Panorama zu genießen, nicht verstehen wollte, oder die Insassin einer Heilanstalt die Besucherin aufforderte, gerne mit ihr den Platz zu tauschen, wenn sie die Einrichtung doch so gelungen finde, was bei den Reisenden oft für Verwirrung sorgte. Vgl. Matthias Stremlow: Postkarten aus dem „Dachgarten Europas“. Skizzen einer Geschichte touristischer Alpenbilder, in: Tourismus-Journal. Zeitschrift für tourismuswissenschaftliche Forschung und Praxis, Jg. 3, H. 2, 1999, S. 255–274, hier S. 259; Sears, Sacred Places, S. 92.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

103

3.2.2. Bürgerliches Reisen und soziales Geschlecht

So bedeutsam das Reisen für das Bürgertum und sein Selbstbild auch war, so muss doch relativiert werden, dass nach der zeitgenössischen Sichtweise des 18. und 19. Jahrhunderts vorrangig der männliche Bürger zum Reisenden geschaffen schien. Mit dieser Einschätzung reihte sich das bürgerliche Reisen in eine lange Tradition des „gendering of travel“106 in der westlichen Kultur ein, die sich bis zur griechischen Antike zurückverfolgen lässt.107 Während die Frau bis ins 20. Jahrhundert hinein im überwiegenden Teil der Reiseerzählungen mit dem Heim identifiziert wurde und so symbolisch stand für das Zuhause, zu dem der männliche Reisende am Ende zurückkehrte und auf das er sich während seiner Reise immer wieder bezog, überwand der Mann in dieser Darstellung Grenzen und drang in neue Räume ein, die insbesondere in der englischsprachigen Literatur häufig als weiblich charakterisiert wurden.108 In der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts wurde diese Tradition noch dadurch gefördert, dass durch diskursive Aushandlungsprozesse spezielle männliche und weibliche Sphären definiert wurden.109 Die bürgerliche Gesellschaft verstand sich zwar von ihrem Konzept her als eine auf den Prinzipien persönlicher Freiheit und formaler Gleichheit beruhende Leistungsgesellschaft. Die dazu jedoch nach Kant unerlässliche Selbstständigkeit war in diesem Bild nur Männern möglich. „Frauen standen damit als Geschlechtswesen grundsätzlich und unveränderlich außerhalb des politisch-rechtlichen Zusammenhangs“,110 reflektiert Ute Frevert die Konzeption der bürgerlichen Gesellschaft. Die Vordenker dieses Gesellschaftskonzepts waren davon überzeugt, dass es eine naturgegebene Spaltung der Menschheit in zwei grundsätzlich verschiedene Charaktere gebe, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft in Form einer Trennung von Rechten, Pflichten und Tätigkeitsbereichen niederschlagen sollte.111 Die Sphäre, 106 Carl Thompson: Travel Writing, New York, NY 2011, S. 168. 107 Vgl. ebd. Thompson erläutert, dass die geschlechtlichen Rollenverteilungen in der Odyssee von Homer bereits denen des 19. Jahrhunderts entsprachen. 108 Karen R. Lawrence: Penelope Voyages. Women and Travel in the British Literary Tradition, Ithaca, NY/London 1994, S. 1f., 18. 109 Vgl. Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechter-Geschichte, Frankfurt am Main 2010, S. 16. Opitz-Belakhal bezieht sich auf die Arbeiten von Joan W. Scott, in deren Forschungsansatz die Dominanz der Sprache als Repräsentationssystem unübersehbar sei. 110 Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48, hier S. 22. 111 Vgl. hierzu detailliert ebd., S. 17–48, und Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: dies. (Hrsg.): Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49; vgl. auch Bärbel Kuhn:

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

104

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

in der der Bürger seine Aktivitäten entfaltete, war die der Öffentlichkeit, die Bürgerin hingegen sollte im Privaten wirken,112 eine Zuschreibung, die vorwiegend von Männern durch ihre Definitionsmacht vorgenommen wurde und der Festigung ihrer gesellschaftlichen Machtposition diente.113 Das Reisen spielte sich in der männlichen Sphäre des öffentlichen Raumes ab, zu der Frauen per Definition keinen Zugang haben sollten.114 Vielfach wurde das Reisen sogar als Herausforderung an die Männlichkeit verstanden. Die erste größere Reise diente als Initiationsritus in die maskuline bürgerliche Gesellschaft und im späteren Leben sollte der Bürger ebenfalls durch das Reisen sein männliches Selbst ausbilden.115 Frauen dagegen, so erklärten viele Reiseautoren des 19. Jahrhunderts in ihren einleitenden Absätzen, eigneten sich aufgrund ihres ‚weiblichen Charakters‘ nicht besonders zum Reisen und sollten, falls sie es doch unternahmen, einen speziell weiblichen Fokus beispielsweise auf die Ehe- und Haushaltsführung anderer Frauen in der Fremde richten.116 Diese Diskurse über geschlechtsspezifische Räume und Rollen prägten die subjektive Identität der Akteurinnen und Akteure.117 Nichtsdestoweniger waren für die lebensweltliche Realität nicht nur eine diskursive Die Familie in Norm, Ideal und Wirklichkeit. Der Wandel von Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen im Spiegel von Leben, Werk und Rezeption Wilhelm Heinrich Riehls, in: Werner Plumpe/Jörg Lesczenski (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 71–79; Angela Schwarz: „They cannot choose but to be women.“ Stereotypes of Femininity and Ideas of Womanliness in Late Victorian an Edwardian Britain, in: Ulrike Jordan/Wolfram Kaiser (Hrsg.): Political Reform in Britain, 1886–1996, Bochum 1997. 112 Vgl. Frevert, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis, S. 25; Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“, S. 24. 113 Vgl. dies.: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hrsg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Per­ spektiven, Göttingen 1998, S. 15–55, hier S. 51f. 114 Vgl. Gabriele Habinger: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Wien 2006, S. 53. 115 Vgl. Thompson, Travel Writing, S. 173f. 116 Vgl. Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 49; Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780–1850, Tübingen 1999, S. 22–33. 117 Vgl. Opitz-Belakhal, Geschlechter-Geschichte, S. 15; vgl. dazu insbesondere auch Joan W. Scott: Gender. Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hrsg.): Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, S. 27–75, hier S. 52–55. Ein konkretes Beispiel dafür, wie sich die gesellschaftlichen Diskurse auf das Selbstbild der bürgerlichen Frauen Ende des 19. Jahrhunderts auswirken, liefert Bärbel Kuhn mit einem Portrait der Sozialarbeiterin Alice Salomon, die zu den wenigen Frauen gehörte, die sich in dieser Zeit bewusst für einen Beruf entschieden. Nichtsdestoweniger hatte Salomon in ihrer Autobiografie das Bedürfnis, sich für ihre Ehelosigkeit und ihren beruflichen Erfolg zu rechtfertigen. Vgl. Bärbel Kuhn: Weiblich, ledig, erfolgreich. Ein Frauenporträt aus dem 19. Jahrhundert, in: Bärbel Miemietz (Hrsg.): Blickpunkt. Frauen- und Geschlechterstudien, St. Ingbert 2004, S. 135–149.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

105

Differenzierung der Geschlechter von Bedeutung, sondern ebenso alltägliche Interaktionen. Männliche und weibliche Mitglieder des Bürgertums konnten in bestimmten Situationen im Sinne eines ‚Doing Gender‘ auf ein geschlechtsspezifisches Repertoire von Verhaltensweisen zurückgreifen.118 Hierbei eröffneten sich Spielräume und Abweichungsmöglichkeiten, so dass sich die Frage stellt, ob die gesellschaftliche Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts tatsächlich durchgängig das Konzept der getrennten Sphären widerspiegelte, was von Autorinnen wie der Anthropologin Michelle Z. Rosaldo beispielsweise bereits Anfang der neunzehnhundertachtziger Jahre stark bezweifelt wurde.119 War es daher doch möglich, dass ebenso bürgerliche Frauen auf die Reise gingen? Zog es sie gar auch aus touristischen Gründen in die Fabrik als einen Ort der Arbeit? Diesen Fragen nachzugehen gestaltet sich insofern schwierig, als die Quellenlage geprägt ist von der beständigen Annahme, dass Reisende männlich seien. Obwohl Frauen seit dem Mittelalter ihre Reiseerlebnisse niedergeschrieben hatten, lag das Genre in der öffentlichen Wahrnehmung doch in der Hand männlicher Schriftsteller und war verknüpft mit männlichen Abenteuern, Erkundungen und Fluchten. Obwohl weit verbreitet, wurde die Bedeutung weiblicher Reiseberichte doch von den (männlichen) Zeitgenossen marginalisiert und aus der (männlichen) Geschichtsschreibung ausgeschlossen.120 Es waren also vorwiegend Männer, die über ihre Reiseeindrücke schrieben, beziehungsweise waren es die Reiseberichte von Männern, die vorwiegend wahrgenommen wurden, was sich auf den der Untersuchung der Fabrikreise zugrunde liegenden Quellenkorpus beispielsweise insofern auswirkte, als die Reporter, die in Zeitschriften über einen Fabrikbesuch berichteten, ausschließlich als Männer oder durch die Verwendung von Initialen als geschlechtsneutral gekennzeichnet waren.121 Ihre Reisebe118 Vgl. Opitz-Belakhal, Geschlechter-Geschichte, S. 27–30; Anke Strüver/Claudia Wucherpfennig: Performativität, in: Georg Glasze/Annika Mattissek (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld 2009, S. 107–127, hier S. 111–117. Alle Autorinnen beziehen sich auf die Theorien von Judith Butler. 119 Vgl. Michelle Z. Rosaldo: The Use and Abuse of Anthropology. Reflections on Feminism and Cross-Cultural Understanding, in: Signs, Bd. 5, Nr. 3, 1980, S. 392–416. 120 Vgl. Indira Ghose: Women Travellers in Colonial India: The Power of the Female Gaze, 2. Aufl., Oxford 1999, S. 1f., 14; Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 13; Mary Morris: Introduction, in: dies. (Hrsg.): The Virago Book of Women Travellers, London 1996, S. XV–XXII, hier S. XVI; Scheitler, Gattung und Geschlecht, S. 101. 121 In einigen Zeitschriften war es üblich, nur unter Angaben von Initialen oder ganz anonym zu publizieren. Ob es sich bei den männlichen Autorennamen oder den Initialen auch um Pseudonyme handeln konnte, hinter denen sich Autorinnen verbargen, muss an dieser Stelle offen bleiben. Viele Frauen scheuten den Schritt in die Öffentlichkeit, verwendeten daher ein Pseudonym, häufig auch ein männliches, um nicht den Konventionen zu widersprechen, vgl. Scheitler, Gattung und Geschlecht, S. 99, 101.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

106

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

richte richteten sich zudem vorwiegend an Männer, da die Autoren, wie das Bürgertum allgemein, die Möglichkeit unabhängigen weiblichen Reisens durch ihre geschlechtsspezifische Sichtweise ausklammerten.122 Daher finden sich in Reportagen über den Fabrikbesuch vorwiegend Bezüge zu männlichen Reisenden, es war zumeist der ‚Besucher‘, der in der Reportage ein Werk betrat, selten die ‚Besucherin‘. Diese Sichtweise, die die Quellen vermitteln, muss aufgebrochen, die Aufteilung der bürgerlichen Gesellschaft in verschiedene geschlechtliche Charaktere mit getrennten Wirkungsbereichen als ein Konzept erkannt werden, welches dem Bedürfnis der Zeit nach normativer Fixierung der Geschlechterverhältnisse entsprach, aber nicht unbedingt die gesellschaftliche Realität in ihrer Gesamtheit widerspiegelte und sich daher als Forschungskategorie nicht eignet.123 Dass Reisen männlich konnotiert sein sollte, war nur ein Konstrukt, das gesellschaftliche Strukturen abbildete und gleichzeitig förderte.124 Ein Grund für die Ablehnung weiblicher selbstständiger Reisetätigkeit lag in der Befürchtung, dass die Reisende, speziell die Alleinreisende, eine Gefahr für die bestehende Gesellschaftsordnung darstellte,125 weshalb ihre Bewegungsfreiheit durch die Gesetzgebung wie durch moralische Urteile eingeschränkt wurde.126 Die Möglichkeit, sich frei in einer fremden Welt zu bewegen, veränderte den als statisch und häuslich definierten weiblichen Charakter. „How a woman traveller moves between home and host culture or from region to region shifts, intentionally or unintentionally, the definition of what a woman is, sending that redefinition back to a society in predicated on stasis.“127 Die als stabilisierend gedachten Grundlagen der Gesellschaft liefen Gefahr, beschädigt zu werden. Nichtsdestoweniger existierte die Praxis weiblichen Reisens in vielen Facetten. Bereits im Mittelalter hatte der Anteil von Pilgerinnen 25 bis 50 Prozent ausgemacht128 und auch in der Frühen Neuzeit bewegten sich Frauen über den Globus, beispielsweise, 122 Vgl. Dunlaith Bird: Travelling in Different Skins. Gender Identity in European Women’s Oriental Travelogues, 1850–1950, Oxford 2012, S. 30. 123 Vgl. Opitz-Belakhal, Geschlechter-Geschichte, S. 98. 124 Vgl. Thompson, Travel Writing, S. 169. 125 Vgl. Bird, Travelling in Different Skins, S. 58. Dass die bürgerliche Gesellschaft die Individuen, die eine Lebensführung außerhalb der gesellschaftlich vorgegebenen Rollen an den Tag legten, als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung empfand, ist ein Phänomen, das nicht nur das Reisen betraf, sondern beispielsweise auch die Frage des Familienstandes. So hat Bärbel Kuhn in ihrer Habilitation nachgewiesen, dass nicht verheiratete bürgerliche Männer und Frauen, die sich so dem bürgerlichen Familienideal verweigerten, als Gefahr begriffen werden konnten. Vgl. Bärbel Kuhn: Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914) (L’homme: Schriften, Bd. 5), 2. Aufl., Wien/Köln/Weimar 2002. 126 Vgl. Bird, Travelling in Different Skins, S. 66. 127 Ebd., S. 67. 128 Vgl. Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 28–32.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

107

um in den europäischen Kolonien ein neues Leben zu beginnen.129 Inwieweit es sich allerdings um selbstständiges Reisen jenseits der Begleitung eines Mannes handelte, muss an dieser Stelle offen bleiben. Im 18. und 19. Jahrhundert begleiteten bürgerliche Frauen ihre Väter, Ehemänner und Brüder auf Reisen, was aber von der Gesellschaft nicht als weibliche Reisetätigkeit wahrgenommen wurde.130 Stattdessen blieben die Begleiterinnen in den Augen der Gesellschaft Tochter, Ehefrau und Schwester, die auf der Reise gleichfalls die ihnen zugedachten Aufgaben des Umsorgens und Hauswirtschaftens wahrnahmen. Inwiefern diese Rollen von den Frauen jedoch tatsächlich durchgängig aufgegriffen wurden, ist fraglich. Aus Reisetexten von weiblichen Reisenden lässt sich an Rollen, die die Frauen sich selbst auf der Reise zuschrieben, neben der von „‚Hausfrau‘, ‚Ehefrau‘ und ‚Mutter‘“131 außerdem die der „‚Amazone‘ und ‚Emanzipierte[n]‘“132 ablesen. Frauen, die ohne männliche Begleitung zur eigenen Weiterbildung und Freizeitgestaltung reisten, waren im 19. Jahrhundert zwar Ausnahmen, die sich gegen rechtliche, finanzielle und moralische Einschränkungen stellen mussten, ihre Zahl vergrößerte sich aber im Zuge der Weiterverbreitung des Reisens immer mehr, selbst wenn die bürgerliche Öffentlichkeit versuchte, von dieser Tatsache keine Notiz zu nehmen.133 Sophie von La Roche134 und Ida Pfeiffer135 waren herausragende Vertreterinnen einer Gruppe von Frauen, die im 18. und 19. Jahrhundert begannen, die Welt zu bereisen und darüber zu schreiben.136 Indem diese Frauen sich mit einer selbstständig unternommenen Reise in den öffentlichen Bereich begaben, überschritten sie geschlechtliche Rollenbilder und schufen so ein Stück weiblicher Autonomie.137 Das Reisen kann da129 Vgl. ebd., S. 33–36. Beispiele für weibliche Reisende aus Großbritannien und ihre Aufzeichnungen für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert liefert Catherine Barnes Stevenson in der Einleitung zu ihrer Anthologie, vgl. Catherine Barnes Stevenson: Victorian Women Travel Writers in Africa, Boston, MA 1982, S. 1. 130 Vgl. Thompson, Travel Writing, S. 169. 131 Ulla Siebert: Grenzlinien. Selbstrepräsentationen von Frauen in Reisetexten 1871 bis 1914, München/New York, NY/Berlin 1998, S. 82f. 132 Ebd., S. 84f. 133 Vgl. Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 39–43; Stevenson, Victorian Women Travel Writers in Africa, S. 2; Morris, Introduction, S. XVI. 134 Vgl. z.B. Erdmut Jost: Wege zur Glückseligkeit. Sophie von La Roches Reisejournale 1784 bis 1786, Thalhofen 2007. 135 Vgl. z.B. Gabriele Habinger: Ida Pfeiffer. Eine Forschungsreisende des Biedermeier (Feministische Theorie, Bd. 44), Wien 2004. 136 Verschiedene Anthologien und Lesebücher legen Zeugnis über die zahlreichen Frauen auf der Reise und ihre vielfältigen Erlebnisse und Berichte ab, vgl. Morris, The Virago Book of Women Travellers; Leo Hamalian (Hrsg.): Ladies on the Loose. Women Travellers of the 18th and 19th Centuries, New York, NY 1981; Stevenson, Victorian Women Travel Writers in Africa. 137 Vgl. Ghose, Women Travellers in Colonial India, S. 31.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

108

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

mit in eine umfassendere Bewegung von Frauen im letzten Drittel des 19. Jahrhundert eingeordnet werden, die ihnen gesellschaftlich zugestandenen Räume zu verlassen und neue zu erschließen, beispielsweise einer Berufstätigkeit nachzugehen.138 Wenn die Bedingungen, unter denen bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert reisten, sich ebenso wie ihre Lebenswelt allgemein von der der männlichen Bürger unterschied, liegt die Annahme nahe, dass Frauen und Männer auf Reisen ebenfalls ein abweichendes Verhalten an den Tag legten und den bereisten Raum sowie die Dinge und Ereignisse darin auf verschiedene Weisen wahrnahmen und darüber andersartig berichteten.139 Während der Bürger mit und auf seiner Reise und in den häufig dazu angefertigten Reisebeschreibungen dokumentieren wollte, dass er nicht nur zum Vergnügen reiste, sondern einen wertvollen Beitrag zu ökonomischen oder wissenschaftlichen Belangen leistete140 – und sei es nur, indem er sich selbst in diesen Belangen fortbildete –, ging es bei weiblichen Reisebeschreibungen dagegen nicht so sehr um objektive Erkenntnisse, als vielmehr um die Schilderung subjektiver Eindrücke. Die Stimulierung des Gefühls stand über der Anregung des Intellekts.141 Möglicherweise versuchten derartige Schilderungen aber nur, dem Zeitgeist zu entsprechen und spiegelten so die Wechselwirkung zwischen dem weiblichen Rollenbild der Gesellschaft und dem dadurch evozierten Selbstbild von weiblichen Reisenden. Andererseits geht die Forschung jedoch davon aus, dass das gesellschaftlich konstruierte Geschlecht tatsächlich die Art der Betrachtung und Beurteilung von fremden Landschaften, Umständen und Menschen beeinflusst: „The gender of the viewer affects the ideology of seeing as well as the tropes projected onto the foreign landscape.“142 Ein Grund mag in der ab dem 18. Jahrhundert zunehmenden Einschränkung des Gesichtsfeldes der Frau auf den Binnenraum der Familie liegen, die nicht ohne Folgen für die Schulung ihrer Wahrnehmung geblieben sein kann.143 Insofern ist eine speziell weibliche Erfassung von Situationen aufgrund der diskursiv bedingten kognitiven Prädisposition durchaus denkbar. 138 Vgl. Bärbel Kuhn: „Keinen Mann um jeden Preis“. Zur Herausbildung neuer weiblicher Lebensformen in der bürgerlichen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Siglinde Clementi/ Alessandra Spada (Hrsg.): Der ledige Un-Wille/Norma e contrarietà. Zur Geschichte lediger Frauen in der Neuzeit/Una Storia del Nubilato in Età Moderna e Contemporanea, Wien/Bozen 1998, S. 269–286. 139 Vgl. Thompson, Travel Writing, S. 172–174; Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 86; Morris, Introduction, S. XVII; Ghose, Women Travellers in Colonial India, S. 1. 140 Vgl. Thompson, Travel Writing, S. 175. 141 Vgl. ebd., S. 185; Stevenson, Victorian Women Travel Writers in Africa, S. 9. 142 Lawrence, Penelope Voyages, S. 17. 143 Vgl. Gisela Schneider/Klaus Laermann: Augenblicke. Über einige Vorurteile und Einschränkungen geschlechtsspezifischer Wahrnehmung, in: Kursbuch, Bd. 49, 1977, S. 36–59, hier S. 42.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

109

Ein weiteres Indiz für die Möglichkeit speziell weiblicher Sicht- und Verhaltensweisen liefert das Konzept der Intersektionalität: Diesem liegt die Annahme zugrunde, dass in einem Subjekt immer mehrere kulturell bedingte und diskursiv konstruierte machtgeladene Kategorisierungen aufeinandertreffen, dass die Kategorie Geschlecht nicht allein die Identität eines Individuums bestimmt, sondern dass sie verschränkt ist mit anderen, darunter Ethnizität, Klasse, Religion, Alter oder körperliche Verfasstheit. Die Identität eines Individuums entsteht nicht durch Aufaddieren dieser Kategorien, sondern durch konzeptionelle Verschränkungen, die je nach Konstellation und Situation verschiedene Effekte für die Identität, die Wahrnehmung und das Verhalten haben können.144 Ein Beispiel für Effekte der Intersektionalität auf die Betrachtung der Fremde durch weibliche Reisende liefern die Diskurse in Reiseaufzeichnungen von europäischen Frauen der Mittelklasse über Reisen in die Kolonialgebiete. Darin übernahmen Frauen die klischeehafte Sichtweise des bürgerlichen Touristen weniger einfach als Männer. Stattdessen nahmen sie vielmehr das jeweilige Individuum oder die individuelle Situation wahr.145 Dieser Umstand wurde in der Forschung zu kolonialen Blickpraktiken darauf zurückgeführt, dass Frauen durch ihr Geschlecht in der eigenen Gesellschaft die Rolle des ‚Anderen‘, des ‚Kolonialisierten‘ zukam, und sie daher häufig Sympathie für die Menschen in den Kolonien empfanden, die durch ihre Hautfarbe die Rolle des ‚Anderen‘ zugewiesen bekamen.146 Insofern lässt sich gleichfalls ein differenzierterer, sympathisierender Blick auf Menschen vermuten, die aufgrund ihrer unterlegenen sozialen Position als die ‚Anderen‘ klassifiziert wurden. Nichtsdestoweniger setzten weibliche Reisende ihre Überlegenheit aufgrund ihrer Hautfarbe und als Teil der Kolonialmacht voraus.147 Das soziale Geschlecht erweist sich damit nur als ein Faktor unter vielen, der die eigene Identität und damit die Wahrnehmung des Anderen determiniert. Mit Blick auf die Reise in die Fabrik lässt sich daher untersuchen, inwieweit die auf der sozial konstruierten Überlegenheit des Bürgertums gegenüber der Arbeiterschaft beruhende Identität in Dialog trat mit der ebenfalls konstruierten Unterlegenheit der weiblichen Besucherin gegenüber dem männlichen Objekt der touristischen Neugier. Überdies stellt sich die 144 Vgl. Gill Valentine: Theorizing and Researching Intersectionality. A Challenge for Feminist Geography, in: The Professional Geographer, Bd. 59, Nr. 1, 2007, S. 10–21; Strüver/Wucherpfennig, Performativität, S. 120. 145 Vgl. Sara Mills: Discourses of Difference. An Analysis of Women’s Travel Writing and Colonialism, London/New York, NY 1991, S. 3. Die Berichte weiblicher Reisender in die koloniale Welt, insbesondere die Kolonien Großbritanniens, sind in der englischsprachigen, genderorientierten Tourismusforschung bereits gut untersucht. Daher, und aufgrund der Verwandtschaft des Charakters der kolonialen und der Fabrikreise, können sie als Referenzrahmen für Überlegungen zu der Wahrnehmung der Fabrik durch Touristinnen dienen. 146 Vgl. Stevenson, Victorian Women Travel Writers in Africa, S. 11. 147 Vgl. ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

110

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

Frage, welche Normen stärker beim Blick auf die weibliche wie die männliche Arbeiterschaft in der Fabrik wogen, die Geschlechts- oder die Klassennormen, beziehungsweise, welche Verschränkungen es dabei gab.148 In jedem Fall, so stellt Karsten Uhl in seiner Untersuchung zur Geschlechterordnung in der Fabrik fest, wirkt die Reflexion über Frauenarbeit – und, so lässt sich sicherlich erweitern, über jede geschlechtsspezifisch orientierte Arbeit – als Katalysator für die Problematisierung und die Ausgestaltung der Machtbeziehungen in der Fabrik.149 Berücksichtigt werden muss jedoch zusätzlich, dass das, was reisende Frauen erleben konnten, durch den sozialgeschlechtlichen Horizont determiniert war. Da sie beispielsweise nicht politischen Ereignissen beiwohnen sollten, widmeten sie sich der Betrachtung der Landschaft.150 Hier lassen sich starke Parallelen zur Besichtigung der Fabrik ziehen, bei der Frauen nicht immer in alle Produktionsbereiche eingelassen wurden und stattdessen in einem ‚Damenprogramm‘ andere Teile des Werks gezeigt bekamen, beispielsweise die Sozialeinrichtungen.151 Die Frage nach dem speziell weiblichen touristischen Blick – der immer auch ein gesellschaftlich konstruierter war – lässt sich nicht nur für die aktiv reisende, sondern ebenso für die lesende Bürgerin stellen. Weibliche Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft galten der Zeit als besonders lesefreudig, da ihnen die Lektüre, ob es sich nun um Belletristik, populärwissenschaftliche Sachbücher oder Berichte über das Tagesgeschehen handelte, eine Möglichkeit bot, der ihnen gesellschaftlich verordneten Privatheit zu entfliehen und ihre Bildungslust zu befriedigen.152 Entsprechend ermöglichte das Lesen von Reisebüchern oder Reportagen in Zeitschriften den Frauen, die nicht selbst durch eine Reise aus ihrem privaten Wirkungskreis ausbrechen konnten, die ihnen gesellschaftlich zugestandene Sphäre zumindest mental zu verlassen.153 Bei dieser Annahme dürfen die gesellschaftlichen Vorgaben, die dieser ‚weiblichen‘ Leselust zugrunde lagen, indes nicht 148 Karin Hausen weist in ihren Überlegungen zu Arbeit und Geschlecht beispielsweise darauf hin, dass für die Arbeiterfrau „eine qualitativ andere Geschlechtsnorm als für den Arbeitermann, aber selbstverständlich auch eine andere als für die Großbürgerfrau“ regiere, dass aber in vielen Aspekten übergreifende normative Geschlechterordnungen prägend seien. Karin Hausen: Arbeit und Geschlecht, in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, S. 240. 149 Vgl. Karsten Uhl: Die Geschlechterordnung der Fabrik. Arbeitswissenschaftliche Entwürfe von Rationalisierung und Humanisierung 1900–1970, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Bd. 21, H. 1, 2010, S. 93–117, hier S. 95. 150 Vgl. Ghose, Women Travellers in Colonial India, S. 10. 151 Vgl. Kapitel 5.1.1. 152 Vgl. für die Möglichkeit für Frauen, durch Lesen den eigenen Lebenshorizont zu erweitern Bärbel Kuhn: Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt, in: Annette Keinhorst (Red.): Frauenrechte, Bildung, Forschung, Geschichte. 20 Jahre Frauenbibliothek und Genderdokumentation im Saarland, Saarbrücken 2010, S. 14–17. 153 Vgl. Habinger, Frauen reisen in die Fremde, S. 61–63.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Reisen als „das Salz deutschen Bürgerlebens“

111

als unhinterfragbare Norm angenommen werden. Nichtsdestoweniger liegt die Vermutung nahe, dass die Leserinnen bei diesem „Reisen in imaginären Räumen“154 ebenfalls einen touristischen Blick praktizierten, der sich von dem des Lesers unterschied. Andererseits wurden sie doch geleitet von den Schilderungen der überwiegend männlichen Autoren,155 die sie annehmen oder zu denen sie in Opposition treten konnten. Für die Untersuchung der Fabrik als touristische Attraktion stellt sich nach diesen Überlegungen die Frage, ob Frauen diesen Ort und die Vorgänge darin anders wahrnahmen als Männer. Waren Frauen generell daran interessiert, in ihrer Freizeit eine Fabrik zu besichtigen? Nahmen sie diese als touristischen Ort wahr? Welchen Blick hatten Frauen auf die Abläufe in der Fabrik, welchen auf die Arbeiter, die dort ihren Lebensunterhalt verdienten? Selbst wenn es aufgrund der Quellenlage sehr problematisch ist, einen speziell weiblichen Blick auf die Fabrik zu rekonstruieren, müssen diese und weitere Fragen immer wieder berücksichtigt werden, wenn es in späteren Kapiteln darum geht, die Fabrik als touristische Konstruktion in allen ihren Aspekten zu untersuchen. Gleichzeitig muss jedoch bedacht werden, dass der – ebenfalls auf sozialen Vorgaben basierende – ‚männliche‘ Blick in die Fabrik nicht als unhinterfragbare Norm angenommen werden darf, sondern dass männliches Verhalten ebenfalls als gesellschaftlich diskursiv ausgehandelte Konstruktion und Performance begriffen werden muss. Es gilt zu berücksichtigen, „daß Männer stets auch als Männer gehandelt haben, daß sie sich immer wieder mit Männlichkeitsvorstellungen auseinandergesetzt und ihre Definitionsmacht […] nicht zuletzt dazu genutzt haben, um Weiblichkeitszuschreibungen vorzunehmen und zu stabilisieren und sich mit allen verfügbaren Mitteln zu wehren, wo immer die gesellschaftliche Männlichkeitsposition bedroht erschien.“156 Insofern wäre es sicherlich sinnvoll zu hinterfragen, ob beim touristischen Blick auf den Arbeiter ähnliche Mechanismen der Machtausübung zur Anwendung kamen wie bei der Zuweisung von Weiblichkeitsidealen und -handlungsspielräumen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn in der Reiseliteratur die als zu durchquerenden Räume, mit deren Bezwingung der Reisende seine Männlichkeit bewies, als weiblich charakterisiert wurden, eröffnet sich die Möglichkeit, auch die Fabrik als touristische Attraktion als einen Ort zu deuten, in den der Reisende ungestraft eindringen konnte. 154 Ebd., S. 61. 155 Keine der Reportagen aus illustrierten Zeitschriften der Jahre 1890 bis 1914, die sich in Bezug auf die touristischen Blicke auf Tiere, Waren oder Menschen analysieren lassen, hat einen eindeutig als weiblich gekennzeichneten Autor. 156 Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung, S. 51f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

112

Bürgerlichkeit und bürgerlicher Tourismus im 19. Jahrhundert

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

113

4. Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung 4.1. Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

Welche soziokulturellen Voraussetzungen brachte ein potenzieller Fabrikbesucher mit, um die Fabrik als touristische Attraktion zu begreifen? In den bisherigen Kapiteln standen als Antwort auf diese Frage eher theoriebasierte Überlegungen im Mittelpunkt. Das Sehen wurde als gesellschaftliche Praktik analysiert, die ein Repertoire ritualisierter Blicke umfasste. Der Tourismus insgesamt trat als ein performativer Akt auf, in dem der ‚Tourist‘ ritualisierte Handlungen vollzog und so das Bereiste inszenierte, wodurch man sich sowohl gegenüber dem Objekt des Interesses als auch gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen abgrenzte. Demgegenüber soll nun konkret rekonstruiert werden, welche Blickpraktiken dem Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts1 bereits durch die Lektüre bestimmter Berichte, durch die Betrachtung von Darstellungen oder durch das Einüben in verschiedenen Situationen vertraut waren. Die Medien, die entsprechende Blickpraktiken vermittelten, waren vorwiegend Naturkundebücher, Bildbände mit exotischen Motiven, Reisehandbücher oder illustrierte Zeitschriften. Das reich bebilderte Naturkundebuch gehörte zur Jugend eines jeden bürgerlichen Zöglings genauso wie Reklamesammelbilder und Fotoalben mit Bildern aus exotischen Ländern mit ebenso exotischen Menschen und Tieren, die jedoch letztlich in ihrer Exotik erst durch Kulissen und Accessoires entsprechend zur Geltung kamen, und deren Abbilder im Fotostudio entstanden waren.2 Genaue Klassifizierungen 1

2

Bestimmte Blickpraktiken sind nicht allein auf das deutsche Bürgertum zu begrenzen, sondern stellen ein transatlantisches Phänomen der weißen Mittel- und Oberschicht dar. Jürgen Osterhammel hat vor wenigen Jahren in seiner Untersuchung über „Die Verwandlung der Welt“ darauf hingewiesen, dass man vorwiegend in Westeuropa und den europäisch geprägten Siedlungen der neuen Welt von einer „Universalität gesellschaftlicher Mittellagen“ ausgehen könne, bei denen sich Lebensstile und Mentalitäten insofern glichen, als es sich oftmals um neue und traditionslose Kräfte handelte, die ihre eigene soziale Identität eher durch ein Leistungs- und Wettbewerbsdenken als durch die Einpassung in gegebene Statushierarchien definierten, vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 6. Aufl., München 2011, S. 1088. Auf dieser Grundlage kann auch ein zumindest verwandter touristischer Blick vorausgesetzt werden, ein Blick, auf dessen distinguierende Wirkung jedoch gerade das Bürgertum in Deutschland angewiesen war. Vgl. hierzu besonders die Schilderungen zur Entstehung von Fotografien aus exotischen Ländern bei Thomas Theye: Optische Trophäen. Vom Holzschnitt zum Foto-Album: Eine Bildgeschichte der

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

114

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

fanden darin genauso Platz wie die Zuschreibung typischer Eigenschaften und Verhaltensweisen. Reisehandbücher gaben die fertigen Blicke auf die Sehenswürdigkeit vor, in sie war die Reisekultur der jeweiligen Gesellschaftsgruppe eingeschrieben und aus ihnen entnahm die einzelne Touristin und der einzelne Tourist die kollektive Vorstellung über das Betrachtete.3 Entscheidenden Anteil daran, wie touristische Inszenierungen im weitesten Sinne zu betrachten waren, hatte auch die Berichterstattung in den illustrierten Familienzeitschriften. Zum Teil vermittelten sie sogar explizit den Anspruch, neues Wissen angemessener zu verbreiten, als manche wissenschaftliche Veröffentlichung.4 Die kollektive Vorstellung über die Natur und das Leben fremder Völker eignete sich das Bürgertum also vorwiegend durch Lektüre an. Die tatsächliche Natur hatte sich dann danach zu richten.5 Außerdem ist zu untersuchen, inwieweit die Fabriktouristinnen und -touristen diese Blickpraktiken unbewusst einsetzten, ob die Fabrik als touristische Attraktion ebenfalls nach solchen Mustern inszeniert wurde, und welches symbolische Verhalten, welche performativen Akte bereits aus anderen Situationen bekannt waren, die in der Fabrik als touristisches Ziel ebenfalls Anwendung finden konnten. So waren Konzepte wie das der malerischen oder erhabenen Landschaft den Mitgliedern des Bürgertums vertraut, war es ihnen auf einer vortheoretischen Ebene bekannt, wie diese sowohl bei der Betrachtung verschiedener Medien zu erkennen, als auch bei Ausflügen zu kon­ struieren waren. Exkursionen in die Natur, in den Zoo oder in eine Warenausstellung liefen nach einem diskursiv vermittelten Muster ab, das bestimmte Fähigkeiten der Bewegung in dem jeweiligen Raum – das Stehen und Betrachten, das eher ziellose und gleichzeitig doch zur Aufnahme der Gesamtatmosphäre geeignete Flanieren, das Erwandern, Besteigen und Bezwingen – beinhaltete, um das zu Betrachtende ‚angemessen‘ in sich aufzunehmen. Ebenfalls soziokulturell eingeübt waren die Emotionen, die mit diesen Praktiken einhergehen sollten. Die Betrachtenden waren vorbereitet auf das (angemessene) Empfinden von Erschrecken oder Ausgleich, Abscheu oder Anziehung, das – so die Interpretation der Zeit – zu ihrer (Charakter-)Bildung dienen konnte. Wilden, in: ders. (Hrsg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek 1985, S. 18–95, hier S. 33f. 3 Vgl. u.a. Rudy Koshar: German Travel Cultures, Oxford/New York, NY 2000, S. 9. 4 Vgl. Seltene Wiederkäuer im Zoologischen Garten zu Berlin, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 94, Nr. 2434, 22.02.1890, S. 181, 184, hier S. 181. 5 Vgl. Christina Wessely: „Künstliche Tiere etc.“. Zoologische Schaulust um 1900, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, Bd. 16, Nr. 2, 2008, S. 153–182, hier S. 157, 164f.; Michael Maurer: Reisen interdisziplinär. Ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive, in: ders. (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 287–410, hier S. 301.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

115

Daher soll im Folgenden zuerst die Geschichte bürgerlicher Blickpraktiken seit der Aufklärung allgemein nachvollzogen werden. Hierfür spielen beispielsweise die Entwicklung der Zentralperspektive seit dem 15. Jahrhundert oder des Konzepts der malerischen oder erhabenen Landschaft ebenso eine Rolle wie die Spektakelisierung des Sehens, die im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Im Anschluss werden mit der Rekonstruktion der Inszenierung des Gebirges, von Waren und von exotischen Menschen und Tieren als touristische Ereignisse drei Beispiele für die Anwendung dieser Blickpraktiken und der damit verbundenen Performances präsentiert. Beim Blick auf das Gebirge ereignete sich auf kaum vergleichbare Weise die Romantisierung und damit touristische Vereinnahmung einer Landschaft, die jeder Gebirgsreisende immer neu erlebte. Indem er das tat, schulte er seine eigene Fähigkeit zu einem solchen Blick. Eine noch stärkere Vereinnahmung vollführten die Schauenden beim Blick auf für den Europäer und die Europäerin fremdartige Tiere und Menschen, die ebenfalls jenseits ihrer ursprünglichen Zusammenhänge als Teil eines imaginären exotisch-touristischen Raumes instrumentalisiert wurden. Die Art, wie sie als Objekte der Schaulust erschienen, stellte sie nahezu auf eine Ebene mit tatsächlichen Objekten – den Waren, die auf Industrie- und Gewerbeschauen oder im Kaufhaus ausgestellt und vom potenziellen Käufer oder der Käuferin betrachtet wurden. Die Rekonstruktion der soziokulturellen Praktiken, die vorgaben, wie alpine Kulissen wahrzunehmen, wie unbekannte Menschen oder Tiere zu bestaunen und Waren zu betrachten, wie technische Geräte und Einrichtungen zu beäugen waren, bietet die Möglichkeit, einen Rahmen für den Blick in die Fabrik und auf die Arbeiterinnen und Arbeiter zu schaffen.

4.1.1. Die Rationalisierung und Spektakelisierung des Sehens seit der Aufklärung

Mit der Aufklärung entwickelte sich das moderne Sehen, das bis heute geprägt ist von einem zentralen Antagonismus zwischen Rationalisierung und Spektakelisierung.6 Wesentlicher Vorläufer der voranschreitenden Rationalisierung des Blicks, die nicht zuletzt durch die Erfindung neuer optischer Geräte und neuer wissenschaftlicher Visualisierungsformen vorangetrieben wurde, war die Entwicklung der Zentralperspektive Mitte des 15. Jahrhunderts.7 Durch sie wurde es möglich, räumliche Phänomene auf einer zweidimensionalen Ebene und von einem fixierten Betrachterstandpunkt aus 6 7

Vgl. Sophia Prinz: Die Praxis des Sehens, Bielefeld 2014, S. 12. Vgl. ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

116

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

exakt abzubilden.8 Dadurch trat den Betrachtenden eine Welt vor Augen, die diese „aktiv ordnen, ‚überschauen‘ und prüfen“9 konnten. Auf den Seh-Erfahrungen mit dieser „bildlichen Präsentation zentralperspektivisch konstruierter, idealtypisch fingierter oder referentiell ‚wiedergegebener‘ Lebensraum-Abschnitte“10 basierte dann eine geänderte Realitätswahrnehmung, die sich dadurch auszeichnete, dass nicht nur im gemalten Bild, sondern auch in der realen Welt nach solchen Ausblicken gesucht und nicht nur das Gemälde nach der Realität, sondern zugleich die Realität nach dem Gemälde gestaltet wurde. So gehörte es zu den Grundsätzen der Ästhetik des Landschaftsgartens, seine Abschnitte regelrecht nach der Vorlage bekannter Gemälde zu entwerfen und diese mit Rahmungen aus Bepflanzung oder fingierter Bebauung zu versehen.11 Und ebenso wurden später zoologische Gärten derart entworfen, dass sie vermeintliche Natürlichkeit präsentierten, tatsächlich aber nur gerahmte Szenarien boten, zwischen denen die bürgerlichen Betrachterinnen und -betrachter flanierten.12 Selbst in der an sich nicht künstlich gestalteten Umwelt kam die ästhetische Routine des gerahmten Ausblicks ab etwa 1770 zum Einsatz, indem beispielsweise im Gebirge bewusst vorgegebene Aussichtspunkte angesteuert wurden.13 Aus diesem Grundsatz, die ungegliederte Natur „nach den Konstruktionsprinzipien des perspektivisch angelegten, zweidimensionalen Bildes wahrzunehmen“,14 fand im 18. Jahrhundert die Umdeutung der Natur zur Landschaft, zu einer historisch gebundenen, spezifischen sozialen und kulturellen Konstruktion statt, in der selbst die in dieser Umgebung lebenden Menschen

8

Vgl. Leonhard Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 2002, S. 13. 9 Ebd. 10 Ludwig Fischer: Das Erhabene und die ‚feinen Unterschiede‘. Zur Dialektik in den sozio-kulturellen Funktionen von ästhetischen Deutungen der Landschaft, in: Rolf Wilhelm Brednich/Annette Schneider/Ute Werner (Hrsg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, Münster 2001, S. 347–357, hier S. 347. 11 Vgl. ders: Perspektive und Rahmung. Zur Geschichte einer Konstruktion von ‚Natur‘, in: Harro Segeberg (Hrsg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films, Bd. 1), München 1996, S. 69–96, hier S. 71f.; Christian Geulen: „Center Parcs“. Zur bürgerlichen Einrichtung natürlicher Räume im 19. Jahrhundert, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 257–282, hier S. 273. Vgl. auch allgemein Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989. 12 Vgl. Geulen, Center Parcs, S. 272. 13 Vgl. Fischer, Perspektive und Rahmung, S. 72. Vgl. hierzu auch Monika Wagner: Das Gletscher­ erlebnis. Visuelle Naturaneignung im frühen Tourismus, in: Götz Großklaus/Ernst Oldemeyer (Hrsg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983, S. 235–264. 14 Fischer, Perspektive und Rahmung, S. 73.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

117

zu einem Teil der Landschaft wurden.15 Sie erschien als Feld bürgerlicher Praktiken, als Gestaltungsort bürgerlicher Lebensführung, Ordnungs- und Verhaltensideale.16 Nicht mehr die physische Ressource, sondern die Möglichkeit des visuellen Konsums stand hier im Vordergrund,17 eine Fähigkeit, die erst im Zuge der Sozialisation erlernt werden musste und insbesondere dem Touristen als vortheoretisches Wissen zu eigen war.18 Durch die normative Verallgemeinerung der perspektivischen Wahrnehmungs- und Abbildungsmodi bei gleichzeitiger Exklusivität ihrer Beherrschung durch die bürgerlichen Schichten wurde daher zugleich soziale Macht etabliert, wurden Distinktionsgewinne realisiert.19 Neben den Gemälden der Renaissance, die die Prinzipien des perspektivischen, gerahmten Blicks als erste angewendet hatten, erschufen im Laufe der Zeit immer weitere Bildmedien Ausblicke nach diesen Grundsätzen und arbeiteten gleichzeitig an der Verbreitung des ‚richtigen‘ Sehens. Insbesondere Postkarten, später ebenso die private Urlaubsfotografie, lieferten und liefern eine „Serienproduktion von Bildern“, die ‚Landschaft‘ „als preiswerten Gebrauchsartikel in handlichen Formaten“20 erzeugt,21 und auch Textmedien fiktionaler wie nicht-fiktionaler Art evozierten entsprechende Bilder. In der Konstruktion von Landschaft lassen sich zwei ästhetische Prinzipien erkennen, die sich mit den Begriffen ‚malerisch‘ und ‚erhaben‘ beschreiben lassen. Während sich beim Blick auf die ‚malerische‘, zur Landschaft gezähmte Natur „aus dem freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand spontan ein subjektives, aber gleichwohl allgemeines Wohlgefallen ergibt“, 22 ruft das ‚Erhabene‘ zuerst einen elementaren Schrecken angesichts der Unendlichkeit und Übermacht der Natur hervor, dem dann aber die Erkenntnis der Mächtigkeit des Subjekts folgt, diese Natur ebenfalls zur Landschaft zu zähmen, wodurch ein Gefühl von Macht und Lust ob der so erzeugten Selbstsicher15 Vgl. John Urry: Consuming Places, New York, NY 1995, S. 175. 16 Vgl. Geulen, Center Parcs, S. 258. 17 Vgl. John Urry: The ‚Consuming‘ of Place, in: Adam Jaworski/Annette Pritchard (Hrsg.): Discourse, Communication and Tourism, Clevedon 2005, S. 19–27, hier S. 19f. 18 Vgl. Urry, Consuming Places, S. 196. Urry spricht von kulturellem Kapital. 19 Vgl. Fischer, Perspektive und Rahmung, S. 87; vgl. ders., Das Erhabene und die ‚feinen Unterschiede‘, S. 343–353. 20 Anton Holzer: Die Bewaffnung des Auges. Die Drei Zinnen oder eine kleine Geschichte vom Blick auf das Gebirge, Wien 1996, S. 18. 21 An dieser Stelle sei auch verwiesen auf die Analyse des Einflusses, den das Erlebnis des Blicks durch das Fenster des Eisenbahnabteils auf die optische Wahrnehmung hatte, vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München/Wien 1977, bes. S. 58–60. 22 Christine Pries: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 1–32, hier S. 8.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

118

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

heit entsteht.23 Gerade die Ästhetik des Erhabenen war es also, die dem Bürgertum besondere Selbstvergewisserung bescherte. Beide Prinzipien lassen sich im Übrigen von der Konstruktion der Landschaft übertragen auf die Konstruktion exotischer Menschen und Tiere, die ebenfalls als ‚malerisch‘ oder ‚erhaben‘, als ‚lieblich‘ oder ‚wild‘ wahrgenommen werden konnten, wie die folgenden Kapitel nachweisen sollen. Von besonderer Bedeutung ist im Anschluss daran die Überlegung, inwieweit sich derart soziokulturell eingeübte Blicke, die einen festen Standort des Betrachters sowie einen definierten Bildausschnitt vorgeben und die mit Konzepten des ‚Malerischen‘ und des ‚Erhabenen‘ eine bestimmte Interpretation der Realität konstruieren, gleichfalls bei dem Besuch der Fabrik als touristische Attraktion finden, beziehungsweise, ob und wie die Fabrik als touristische Attraktion erst durch diese Blicke entstand. Erste Überlegungen hierzu stellte vor mehr als zwei Jahrzehnten David E. Nye an, indem er die Übertragung des Erhabenheitsdiskurses von der Landschaft auf die Industriekulisse in den USA ab dem 19. Jahrhundert untersuchte. Nye ging davon aus, dass in den USA die Erhabenheit von Menschenwerk und die Erhabenheit der Natur nach denselben ästhetischen Grundprinzipien miteinander gleichgesetzt wurden und gleichermaßen zur Selbstdefinition der noch jungen Nation dienten.24 Beim direkten Blick auf den Produktionsprozess entdeckte Nye in der Beschreibung der Zeitgenossen – die allerdings nur höchst ansatzweise untersucht wird – dasselbe Vokabular, das auf die Beschreibung der erhabenen Natur angewendet wurde und das das typische Erleben erschreckender und gleichzeitig unter menschliche Kontrolle erbrachter und damit beglückender Kräfte kennzeichnete.25 Dieser Ansatz, der in der Forschung bisher nicht weiterverfolgt worden ist, lässt sich in Teilen auf die Situation des deutschen Bürgertums übertragen, das ebenfalls nach Selbstdefinition suchte und möglicherweise in den ästhetischen Ergebnissen von unternehmerischem Erfolg und bürgerlicher Ingenieurskunst fand. Zu der bisher dargestellten Rationalisierung des Blicks gab es in der Moderne indes stets „affektiv-spektakuläre[ ] Gegentendenzen“, die sich durch „chaotische[ ] Reizüber-

23 Beide Konzepte werden vom englischen Schriftsteller Edmund Burke in seiner Abhandlung „Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful“ (1756) analysiert und später von Immanuel Kant in seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“ (1790) aufgegriffen. Vgl. für eine Zusammenfassung u.a. David E. Nye: American Technological Sublime, Cambridge, MA/ London 1994, S. 4–6; Hartmut Böhme: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des „Menschenfremdesten“, in: Pries, Das Erhabene, S. 119–141, hier S. 122–126; Fischer, Das Erhabene und die ‚feinen Unterschiede‘, S. 35f. Insbesondere das Konzept der malerischen Landschaft spiegelte sich ab dem frühen 19. Jahrhundert in der Romantisierung des Lake District in England, vgl. u.a. Urry, Consuming Places, S. 200. 24 Vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 23f., 36. 25 Vgl. ebd., S. 131f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

119

flutungen“26 auszeichneten. Die Schaulust, deren Prinzipien in vorherigen Kapiteln bereits angerissen wurden,27 war das Symptom einer visuellen Kultur, die sich in der westlichen Welt ab der Mitte des 19. Jahrhunderts herauszubilden begann und gekennzeichnet war durch eine wahre Bilderflut durch die populäre Nutzung neuer optischer Geräte wie beispielsweise des Fernrohrs, Abbildungen in der illustrierten Presse, auf Plakaten oder in der ganz neuen visuellen Unterhaltungsform des Panoramas und später des Kinos.28 Von den Zeitgenossen wurden die dem Phänomen zugrunde liegenden Mechanismen durchaus kritisch beschrieben als reine Lust am oberflächlichen, überbordenden Spektakel: „Das Schauen ist eine Krankheit geworden und den gierigen Blicken der Menge können nicht genug neue Feste, täglich seltsamere Darstellungen geboten werden – nur die Sehnerven des Auges schauen noch, verlangen nach Befriedigung; weniger wollen die Gefühle des Herzens, Sehnsucht und Phantasie sich im klaren Strom dichterischer Schöpfung selbst beschauen, widerspiegeln und wiederfinden.“29 Während der Schriftsteller Karl Gutzkow 1857 vordergründig einen Vorgang bedauerte, der auf der Ablösung der Schrift durch das Bild gründete, lässt sich bei näherer Analyse als wesentliches Merkmal des ‚Schauens‘ indes die skizzierte ‚Gier‘ des Blicks ausmachen, der das Betrachtete zur Unterhaltung konsumierte. Selbst wenn die Seh-Mechanismen andere waren, offenbarte sich hier doch eine Parallelität zur Wahrnehmung der Natur als Landschaft durch Perspektive und Rahmung, da bei beidem die zweckgebundene Konstruktion im Vordergrund steht. Bei dem Phänomen der Spektakelisierung des Blicks lässt sich ebenfalls eine Rückkopplung zwischen den medial zierkulierenden Bildern und der Konstruktion der Realität in Anlehnung an sie erkennen. Die Schaulust ließ mit Vergnügungsparks, Welt­ausstellungen, Passagen und Kaufhäu26 Prinz, Die Praxis des Sehens, S. 16. 27 Vgl. Kapitel 2.1.3. 28 Vgl. Prinz, die Praxis des Sehens, S. 17f.; Nic Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899), Bielefeld 2007, S. 74. Vgl. zur Nutzung des Fernrohrs durch bürgerliche Schichten Daniela Mysliwietz-Fleiß: Topografien des Blicks. Das Fernrohr als Instrument der bürgerlichen Welteroberung im 19. Jahrhundert, in: Joseph Imorde/Andreas Zeising (Hrsg.): Runde Formationen. Mediale Aspekte des Zirkulären (Bild- und Kunstwissenschaften, Bd. 10), Siegen 2019, S. 131–146; vgl. zum Panorama und zur Fotografie ausführlich Heinz Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970. 29 Karl Gutzkow: Die Bühne der Gegenwart, in: ders. (Hrsg.): Unterhaltungen am häuslichen Herd. Neue Folge, Zweiter Band, Leipzig 1857, S. 446–447, hier S. 446; vgl. dazu auch Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie, S. 21.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

120

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

sern künstliche Welten entstehen,30 die genau diese Anforderungen nach vorwiegend optischer Unterhaltung und visuellem Konsum erfüllten. Die Konstruktion und Rezeption solcher durch Schaulust definierter Räume kann als Vorlage für die touristische Wahrnehmung der Fabrik und der Ereignisse in ihr dienen.

4.1.2. Die Reise ins Gebirge

Während die Berge in West- und Mitteleuropa, allen voran die Alpen, noch im 17. Jahrhundert als bedrohlich und lebensfeindlich, im besten Falle noch als störendes Hindernis auf dem Weg ins paradiesische Italien angesehen worden waren, änderte sich das mit der Idealisierung der Landschaft in der Kunst und Literatur ab dem 18. Jahrhundert. Aus einem Hindernis wurde ein Reiseziel. Die Motivation ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Gipfel um ihrer selbst willen zu bezwingen, deutete auf ein verändertes Bewusstsein in der Wahrnehmung der Alpen, dessen Träger allen voran das wohlhabendere Bürgertum war. Natur wurde zur Landschaft ästhetisiert, wozu nur derjenige in der Lage war, der kein unmittelbar lebensweltliches Verhältnis zur Natur hatte. Wer in und von der Natur lebte, achtete nicht auf deren Schönheit.31 Dieses geänderte Bewusstsein schlug sich in verschiedenen Medien und Institutionen nieder und wurde von diesen vermittelt, damit Natur überhaupt als Landschaft wahrgenommen werden konnte.32 Vor allen Dingen Postkarten, Reisebeschreibungen oder die Panoramamalerei wirkten an der Verbreitung dieser Sichtweise mit.33 Die Inszenierung reichte sogar so weit, dass auf Weltausstellungen Gebäudeensembles errichtet wurden, die typische Bauernhäuser, unter anderem aus alpinen Regionen, beinhalteten, so erstmals auf der Exposition 1867 in Paris das ‚Österreichische Dorf‘ oder beispielsweise 1900 ebenfalls in der französischen Hauptstadt ein ‚Schweizer Dorf‘, in dessen historisierenden Bauten verkleidete Menschen Szenen eines idyllischen Lebens nachspielten.34 Die 30 Vgl. Prinz, Die Praxis des Sehens, S. 18. 31 Vgl. Dieter Groh/Ruth Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hrsg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 53–95, hier S. 93. 32 Vgl. ebd., S. 95. 33 Vgl. Matthias Stremlow: Postkarten aus dem „Dachgarten Europas“. Skizzen einer Geschichte touristischer Alpenbilder, in: Tourismus-Journal. Zeitschrift für tourismuswissenschaftliche Forschung und Praxis, Jg. 3, H. 2, 1999, S. 255–274; Wolfgang Hackl: Eingeborene im Paradies. Die literarische Wahrnehmung des alpinen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 100), Tübingen 2004, S. 35. 34 Vgl. Alice von Plato: Zwischen Hochkultur und Folklore. Geschichte und Ethnologie auf den französischen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, in: Cordula Grewe (Hrsg.): Die Schau des Fremden.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

121

Alpenvereine, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren in verschiedenen Ländern gegründet hatten, waren das institutionelle Pendant zu diesen Medien. Der Deutsche Alpenverein, 1869 in München vorwiegend von Bildungsbürgern initiiert, strebte vordergründig danach, das Bereisen der Alpen zu erleichtern und Kenntnisse über ihre Schönheit weiterzuvermitteln.35 Das Bild dieses Naturraums als ländlich-idyllischer Raum, in dem die Bergbevölkerung in Einklang mit der Natur lebt, wurde in diesen Medien und Institutionen kulturell vermittelt und öffentlich eingeübt.36 Das Gebirge allgemein und die Alpen speziell wurden zu einer Gegenwelt zur Beschränktheit des ‚modernen‘, städtischen bürgerlichen Alltags idealisiert. Ein festgelegter Kanon von An- und Aussichten schrieb in diesem Zuge eine bestimmte Sichtweise vor, die darauf ausgelegt war, ein Gefühl der Erhabenheit, der Naturverbundenheit zu schaffen. Die illustrierten Zeitschriften verbreiteten ebenfalls mit ihren Artikeln bestimmte Sichtweisen auf die Landschaft, die ein Bürgerlicher entweder als Vorbereitung für eine tatsächliche Bereisung der Alpen oder als Ersatz einer solchen Reise rezipieren und ein­üben konnte. Die Illustrirte Zeitung besaß sogar bis zum Ende des Jahrhunderts eine eigene Rubrik ‚Alpines‘, die sich speziell auf Neuigkeiten aus den Alpenvereinen und auf neue alpine Rekorde und Leistungen bezog. Mit der regelmäßigen Lektüre der Zeitschriften bekam die Leserschaft einen vollständigen Überblick über jeden Teil der Deutschen, Österreichischen und Schweizer Alpen, der einen Reiseführer über diese Regionen37 gut ersetzen konnte: Die Berichte lieferten oft genaue Informationen, wie die Anreise zu organisieren sei,38 wo sich die beste Unterkunft – beispielsweise beim Dorfgeist­

35 36

37

38

Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft (Transatlantische Historische Studien, Bd. 26), Stuttgart 2006, S. 45–68, hier S. 63; Angela Schwarz: The Regional and the Global. Folk Culture at World’s Fairs and the Reinvention of the Nation, in: Timothy Baycroft/David Hopkin (Hrsg.): Folklore and Nationalism in Europe During the Long Nineteenth Century (National Cultivation of Culture, Bd. 4), Leiden/Boston, MA 2012, S. 99–111, hier S. 104–107; Martin Wörner: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, Münster 1999, S. 92–96, 164. Vgl. zum Thema Folklore auf Weltausstellungen auch Kapitel 3.3.3. Vgl. Hackl, Eingeborene im Paradies, S. 38. Vgl. insbesondere Stremlow, Postkarten aus dem „Dachgarten Europas“, S. 255–274; ders.: Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheißung der nahen Fremde zur Sportarena. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700, Bern/Stuttgart/Wien 1998. Vgl. beispielsweise Karl Baedeker: Südbayern. Südbayern, Tirol, Salzburg, Ober- und Nieder-Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain, 24. Aufl., Leipzig 1890; 29. Aufl., Leipzig 1900 und 34. Aufl., Leipzig 1910. Insgesamt erschienen zwischen 1855 und 1914 36 Ausgaben des Baedekers für die Alpenregion. Vgl. Die Gaisbergbahn bei Salzburg, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 4, 1890, S. 99f., hier S. 99; St. Cyprian im Tierser Thal, in: ebd., Jg. 35, H. 2, 1900, S. 60, 62, hier S. 60; Die Edmundsklamm in der Böhmischen Schweiz, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 94, Nr. 2447, 24.05.1890, S. 538f.; Aus den Zillertaler Alpen. Die Plauener Hütte im Kuchelmooskar, in: ebd., Bd. 114, Nr. 2973, 21.06. 1900, S. 912f., hier S. 913.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

122

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

lichen39 – und das schmackhafteste Essen fänden und wie die bürgerlichen Reisenden zu guten Bergführern kommen konnten.40 Für die Ersteigung der Berge erhielt die Leserschaft erst Hinweise zur nötigen Ausrüstung und weitere Verhaltensregeln für die Wanderung41 und konnte sich dann auf die genaue Beschreibung der möglichen Wanderrouten verlassen,42 deren Benennung bisweilen frappierend an den Stil der Betitelung im Baedeker erinnert.43 Auf dem derart geleiteten Weg durch die Bergwelt wurde dem Rezipienten – Hochgebirgstouristinnen waren noch eine Ausnahme und daher zählten Frauen nicht zur primären Zielgruppe solcher Reportagen – die Umgebung zwar detailliert, aber nur in Form von fertigen Blicken vermittelt: Die Leserschaft betrat ein „Hochalpenthal, das dem Wanderer eine Reihe von prächtigen Bildern bietet.“44 Der Gebirgsreisende sollte sich nicht die Umgebung, die er durchmaß, durch eine differenzierte eigene Wahrnehmung zu einem individuellen Erlebnis zusammensetzen, sondern nur vorgeprägte Ensembles erblicken. Um dieses Effektes willen war der Weg, den die Augen nehmen sollten, das, was sprichwörtlich eines Blickes würdig sein sollte, genau festgesetzt und bis ins Kleinste beschrieben: „Wir übersehen von dort oben die Alpen in fast endlosen Zügen, von den firnreichen Oetzthalern bis zu den zerrissenen und zerklüfteten Karawanken, von den zinnen- und zackenreichen südlichen Dolomiten, von der eisgepanzerten Marmolada bis zum Dachstein, und wird uns zu viel des Großen und Gewaltigen, dann lassen wir unsern Blick ausruhen auf den dunkelgrünen Waldhügeln, auf den blauschimmernden Seen, die Villach umschlingen.“45 39 Vgl. Das Ramoljoch, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 1, 1890, S. 17, 23, hier S. 23. Vgl. beispielsweise auch Aus den Zillertaler Alpen. Die Plauener Hütte im Kuchelmooskar, S. 912f: In diesem Artikel wird die neue Schutzhütte als Übernachtungsmöglichkeit vorgestellt; vgl. Th[eodor] Christomannos: Zum Großglockner. Wanderungen rund um den Glockner, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 115, Nr. 2982, 23.08.1900, S. 265–286: Der Artikel macht genaue Angaben über Übernachtungsmöglichkeiten und weitere touristische Infrastruktur. 40 Vgl. St. Cyprian im Tierser Thal, S. 60. 41 Vgl. Das Ramoljoch, S. 23. 42 Vgl. ebd.; Von Reutte nach dem Plansee, in: Das Buch für Alle, Jg. 35, H. 7, 1900, S. 160, 163, hier S. 163; Aus den tiroler Bergen. Die Besteigung des Langkofels, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 94, Nr. 2438, 22.03.1890, S. 285f., hier S. 286; Die Edmundsklamm in der Böhmischen Schweiz, S. 538f. 43 Vgl. Von Reutte nach dem Plansee, S. 163; Von Erstfeld nach Eugelberg, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 8, 1890, S. 188, 191, hier S. 191. 44 Das Lechthal, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 10, 1890, S. 236, 239, hier S. 239. 45 Aus den karnischen Alpen. Der Dobratsch, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 94, Nr. 2439, 29.03.1890, S. 318–320, hier S. 320. Vgl. auch Von Erstfeld nach Eugelberg, S. 191: „Diesen Weg, der uns von Erstfeld im Kanton Uri über den Surenenpaß nach Engelberg im Kanton Unterwalden führt und

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

123

Dem Lesepublikum trat mit dieser Schilderung die Landschaft als Aneinanderreihung verschiedener Cluster entgegen. Jeder durch eine spezielle Charakterisierung beschriebene Gebirgszug sollte bei der Betrachtung eine Einheit für sich bilden und auch der Teil der Landschaft, der mit Wald und Hügeln bedeckt war, beziehungsweise die Seen, bildeten einen als Ganzes und in Abgrenzung zu den anderen Aspekten stehenden Teil. Eng mit diesen ritualisierten Ausblicken war das jeweilige Empfinden verknüpft. Während die Bergketten das Gemüt aufwühlen sollten, wurde den malerischen Wäldern, Hügeln und Seen ein beruhigender Effekt zugeschrieben. Noch klarer zu Tage trat die Tatsache, dass es sich nicht um natürlich sich ergebende Bilder, sondern um konstruierte Blicke handelte, dann, wenn Hilfsmittel wie etwa das Fernglas zum Einsatz kamen oder der Blick durch das Fenster eines Zugabteils oder einer Kutsche begrenzt wurde und so ein Bild erst entstehen konnte.46 Dass sich die Leserschaft dieses Umstands gewahr wurde, muss allerdings bezweifelt werden, war sie es doch gewohnt, bestimmte, außergewöhnlich ‚lohnenswerte‘ Ausblicke der Alpen nicht nur durch die doppelte Entfremdung von Fernglas und Zeitschriftenartikel vor das Auge geführt zu bekommen, sondern ihnen auch im Alltag zu begegnen, etwa als Schmuckmotiv „auf Lampenschirmen und Fensterrouleaux“.47 Um der Leserschaft die (Aus-)Blicke so nahe wie möglich zu bringen, verwendeten die Autoren eine möglichst bildhafte Sprache, reich an kreativen Wortschöpfungen und klassifizierenden Adjektiven. Bei einer Postkutschenfahrt durch das Ortlergebiet trat laut der Illustrirte[n] Zeitung „ein überraschend großartiger, wahrhaft bezaubernder Anblick […] wie mit einem Schlage vor das entzückte Auge des Reisenden. Die ganze großartige, firnbekleidete Kette der Ortler-Alpen baut sich im Hintergrunde in gewaltigen und doch übereine Reihe der herrlichsten Gebirgsansichten bietet, wollen wir an der Hand unseres Bildes auf Seite 188 mit unseren Lesern machen.“ Vgl. auch Die Tabarettawand im Ortlergebiet, in: Das Buch für Alle, Jg. 35, H. 1, 1900, 12, 15, hier S. 12: „Mit Bewunderung haftet der Blick an der stolzesten, schneeweißen Pyramide der Königsspitze […] und schweift dann zum Ortlergipfel und zu dem von diesem nach Norden streichenden Grat hinüber […].“ Vgl. auch Aus der Italienischen Schweiz. Die Zahnradbahn auf den Monte Generoso, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2470, 01.11.1890, S. 472–474, hier S. 472: Hier erhält die Leserschaft eine genaue Schilderung, was gesehen werden kann: Die Ebene der Lombardei mit hunderten von Ortschaften und Städten, u.a. auch Mailand, dessen Dom aus Marmor klar zu erkennen ist, sofern man ein Fernglas benutzt, auf der anderen Seite eine Vielzahl von Alpenspitzen und -seen. 46 Vgl. Aus der Italienischen Schweiz, S. 472; Die höchste Brücke in den Alpen, in: Das Buch für Alle, Jg. 35, H. 28, 1900, S. 663f., hier S. 663; E.P.: Aus den tiroler Alpen. Die Weißwandspitze in den Stubaier Alpen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2956, 22.02.1900, S. 275f., hier S. 275. 47 Christomannos, Zum Großglockner, S. 272.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

124

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

aus harmonischen Formen auf, ihre kühnen, stolzen Firngipfel bis hoch hinauf und scharf in das blaue Himmelszelt einschneidend.“48 „Großartig“, „kühn“, „stolz“, „gewaltig“, das waren die Adjektive, die die Berge charakterisierten. Durch das Bild der Bergspitze, die in den Himmel einschnitt, bekam der Ausblick zusätzlich einen transzendenten Charakter.49 Eine andere Möglichkeit, die Leserschaft Ehrfurcht vor der Kulisse der Berge empfinden zu lassen, bestand in der Schilderung ihrer Unwirtlichkeit. „Hat der Tourist bis zu diesem Augenblick die drohenden, sich fast erdrückend über ihn hereinwölbenden Dolomitwände mit ihren eiserfüllten, schwindelnd steil ins oberste Gschnitzthal abschießenden Schluchten unmittelbar vor sich gehabt, so eröffnet sich in der nächsten Minute, während er durch ein schmales Thor zerborstener Felssäulen tritt, ein überraschender Tiefblick ins grüne Pflerschthal, wo graublaue, zerschrundete Gletscherzungen in die öden obersten Thalmulden herabhängen.“50 Der Leser oder die Leserin konnte die beängstigende Atmosphäre in der Bergscharte ebenso nachempfinden wie das Gefühl der Erlösung beim Ausgang aus der Felsenschlucht. Mit der Lektüre ging man im heimischen Sessel auf eine mental-emotionale Reise, auf der man die bedrohlichen Berge bezwang. Wiederkehrende Darstellungsmuster in den die Artikel und Reportagen begleitenden Bildern – zumeist Zeichnungen – unterstützten dieses Interpretationsmodell des Gebirges als malerisch oder als erhaben. Oft vermittelten die Bilder einen Eindruck der Transzendenz oder des Kampfes des Menschen mit den Elementen.51 Häufig erschie48 Julius Meurer: Streifzüge durch das Ortlergebiet, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2460, 23.08.1890, S. 192–194, hier S. 192. 49 Vgl. dazu auch Das Höllenthal und die Zugspitze, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 115, Nr. 2978, 26.07.1900, S. 132–134, hier S. 132: „In grünen und blauen Tönen leuchtet der Gletscherabbruch wie ein erstarrter Wasserfall als versöhnendes Element in diese Steinwüste hinein, deren geheimnisvolles Schweigen mehr als alle Worte von den einsamen Wundern der großen Natur erzählt.“ 50 P., Aus den tiroler Alpen, S. 275; vgl. auch Das Höllenthal und die Zugspitze, S. 132: „Aus Runsen und Schutthalden steigen hier schroff und steil in urzeitlichen Kolossen die grauen Kalkstellen auf, wilde Scenerien von großartigem Zug und düsterer Pracht enthüllend.“ 51 Neben diesen Aspekten stand in Das Buch für Alle immer wieder klar das touristische Vergnügen im Vordergrund, sowohl auf den Bildern, als auch im Text, der stark zum touristischen Besuch aufforderte. Dieser Umstand ist nicht zuletzt durch die Zielgruppe der Zeitschrift zu begründen, vgl. Kapitel 2.3.3. Nicht nur die gewissenhaften, zur persönlichen Bildung die Berge erklimmenden Mitglieder des Bürgertums standen im Fokus, sondern ebenso die Touristenmassen, die zum Vergnügen reisten. Vgl. beispielsweise Das Ramoljoch, S. 17, 23; Die Seißer Alp, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 11, 1890, S. 263, 265.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

125

Abb. 1: „Der Plansee mit dem Gasthof zur Forelle und der österreichischen Zollstation“ (1890): Eine typische Gebirgsansicht

nen sie derart aufgebaut, dass der Blick der Betrachterin oder des Betrachters durch perspektivische Hilfsmittel auf den in der Ferne leicht vom Nebel entrückten Berggipfel geleitet wurde. Eine Szene aus den Tiroler Alpen, wie sie die Illustrirte Zeitung im Jahr 1890 präsentierte, kann stellvertretend für dutzende ähnliche Abbildungen näher betrachtet werden (vgl. Abbildung 1): Der Vordergrund des Bildes zeigt die malerische Beschaulichkeit und Sicherheit eines breiten Tales. Ein spiegelglatter See verheißt Abkühlung und Ruhe. Ein paar Schritte weiter bietet ein Gasthaus Raum zum Schutz, Speisen zur Stärkung und Getränke zur Erfrischung. Doch der Verlauf der Straße entlang des Sees vorbei am Gasthaus hin in die Tiefe des Tales ebenso wie der Lauf des Sees, der sich zum Bildhintergrund verjüngt, fordern die Betrachtenden auf, aus der Sicherheit hinaus auf die Höhen des sonnenbeschienenen Gipfels im Hintergrund des Bildes zu steigen. Mit den zwei Wanderern, die sich vom Gasthaus aus auf den Weg tiefer in das Tal machen, möchten die Betrachtenden aufsteigen in die luftigen und lichtdurchfluteten Sphären der Berggipfel. Das Bild lässt durch die Tiefenwirkung die Länge der Strecke, durch die Klüfte der Bergwände die Mühe des Aufstiegs, aber durch den Sonnenschein auf dem Berggipfel zugleich den Lohn für diese Mühe erahnen. Durch eine derartige nahezu epiphanische Darstellung, in der der Weg auf den Berg mit dem Aufstieg in höhere geistige und seelische Sphären assoziiert wurde, erwachte die Sehnsucht der Betrachtenden nach dieser Bergspitze, gleichzeitig erfuhr ihr Blick immer wieder eine Unterweisung in der ‚richtigen‘ Art des Sehens – und des Emp-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

126

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

findens.52 Diese Sehnsucht zu befriedigen, setzte oft den Kampf des Wanderers gegen die Natur voraus. Die Erhabenheit der Bergwelt resultierte aus einer Schroffheit, einer Lebensfeindlichkeit, die der Mensch bezwingen musste. Ein weiteres Motiv aus den Tiroler Alpen, das die Illustrirte Zeitung im Jahr 1900 abdruckte, enthüllt genau dieses Ringen (vgl. Abbildung 2): Drei Wanderer mühen sich durch ein steil abfallendes, bisher von Menschen unberührtes, Schneefeld. Ihre Füße hinterlassen tiefe Spuren in der weißen Fläche, die Gefahr des Absturzes schwingt, so macht die Dynamik der Bildkomposition deutlich, bei jedem Schritt mit. Während die beiden hinteren Alpinisten den Blick auf den Berg richten und den Betrachtenden den Rücken zukehren, weist der an der Spitze der Gruppe schreitende Gipfelstürmer mit der Hand den weiteren Weg hinauf zum Kamm des Berges. Obwohl der Fels nur den Hintergrund des Bildes ausmacht, beherrscht er doch die Szenerie vollkommen. An seiner Seite brechen sich dunkle Wolken, Nebel zieht um seine Spitze auf und droht, die Wanderer zu verschlucken. Die Bergsteiger sind der Gewalt des Felsens ausgesetzt. Keine Vegetation unterbricht die Kargheit des Berges, die einzigen anderen Lebewesen sind zwei Vögel, die den Fels umkreisen. Die Wanderer erscheinen vor diesem Panorama klein und schutzlos. Ihre Bemühungen mussten den Betrachtenden dadurch jedoch nur umso heroischer erscheinen, der Wert der Bergbesteigung umso höher. Die Natur diente in dieser Darstellungsweise als Kulisse, vor der die Wanderer – und durch sie die Betrachtenden – eine Charakterbildung erfuhren. Die Berge standen nicht für sich selbst, sondern waren landschaftlicher Hintergrund für ein Erlebnis, das die eigene bürgerliche Identität stärkte. Aufgrund der Rückenansicht boten die Wanderer ein starkes Identifikationspotenzial für die Betrachtenden, die sich selbst an ihre Stelle denken und so das charakterbildende Erlebnis nachvollziehen konnten. Bei beiden Arten der Darstellung ging es darum, Ehrfurcht in der Leserschaft zu wecken, wodurch diese bei der Lektüre der Schilderung aus dem Alltag austreten, ihre Sinne – allen voran natürlich das Sehen – schulen, sich insgesamt durch das geradezu läuternde Erlebnis, wenngleich nur aus zweiter Hand, als Mensch weiterentwickeln sollte. Der Ausblick auf die Berge, ob nun im leibhaftigen Erlebnis oder in der Lektüre, wurde damit zur Persönlichkeitsbildung instrumentalisiert. Zu diesem Zweck wurden sogar die Empfindungen, die sich bei der Betrachtung der Ausblicke einstellen sollten, im Text vorgegeben. Sandsteinformationen sollten einen „wildromantische[n]“53 Ein52 Vgl. über die genannte Abbildung hinaus: Aus den tiroler Bergen. Die Besteigung des Langkofels, S. 285; M. Koch v. Berneck: Aus den Bairischen Alpen. Der Walchensee, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2459, 16.08.1890, S. 176; St. Cyprian im Tierser Thal, S. 62; Meurer, Streifzüge durch das Ortlergebiet, S. 208; Aus den tiroler Alpen. Der Sorapiß, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2467, 11.10.1890, S. 398. 53 Die Edmundsklamm in der Böhmischen Schweiz, S. 539.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

Abb. 2: „Die Weißwandspitze im Schnitz“ (1900): Der Mensch vor erhabener Kulisse

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

127

128

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

druck evozieren, schroffe Felswände und dunkle Seen das Gefühl der Ernsthaftigkeit hervorrufen,54 Schneefelder die Betrachtenden zum Staunen bringen.55 Die Instrumentalisierung der Alpen machte im Übrigen nicht vor den Bewohnerinnen und Bewohnern der Region halt. Der stereotype touristische Blick auf die Menschen wurde ebenfalls durch die Medien der Zeit verbreitet. Die Autoren stellten sie bevorzugt als kulturell unterlegen vor: Sie sprachen bisweilen einen unbekannten Dialekt,56 ließen sich in ihrem nahezu kindlichen Gemüt leicht von technischen Neuerungen beeindrucken57 und waren mit ihrem schlichten geistigen Horizont selbst nur zu Erfindungen in der Lage, die dem gebildeten Reisenden allenfalls ein Lächeln entlockten.58 Ihr ganzes Dasein spielte nur eine Rolle in ihrem touristischen Zusammenhang: Sie fungierten als Dienstleister, beispielsweise als Bergführer,59 als „tüchtige“ Wirte,60 Hersteller von Andenken61 oder aber als szenischer Hintergrund: Der Besuch bestimmter Alpen zur Rast wurde zur Zeit der Heuernte empfohlen, da dann „das rührigste und interessanteste Leben herrscht“,62 der zu beschreitende Weg führte „an malerischen Mühlen und Einzelgehöften vorüber.“63 Die Lebensgrundlage der Bewohnerinnen und Bewohner verkam damit zur touristischen Attraktion, ihre tatsächlichen Lebensumstände blieben ausgeblendet. Sie selbst dienten als reine Staffage in der touristisierten Landschaft, im Gegensatz zu den indigenen Menschen, die auf Weltausstellungen oder in Völkerschauen ausgestellt wurden, waren sie selbst jedoch nicht das Ziel der touristischen Betrachtung an sich.64 Dass es sich um ein künstliches Erlebnis handelte, dass das, was es zu erleben galt, schon vorstrukturiert war, wurde in verschiedenen Artikeln zwar rekapituliert, jedoch nicht kritisch reflektiert. So verwies eine Reportage beispielsweise auf den Umstand, dass es „namentlich gegen den Spätsommer hin“ von Sommergästen nur so wimmele, „die entweder in den kühlen Thalgebieten und auf den luftigen Vorhöhen […] Aufenthalt nehmen oder 54 55 56 57

Vgl. Aus den tiroler Alpen. Der Plansee und Umgebung, S. 679. Vgl. Aus den Zillertaler Alpen. Die Plauener Hütte im Kuchelmooskar, S. 913. Vgl. Die Seißer Alp, S. 263. Vgl. M. Koch v. Berneck: Die Reise ins Passionsdorf, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2968, 17.05.1900, S. 719–723, hier S. 723. 58 Vgl. Eine Reiseerinnerung aus den Tiroler Alpen, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 21, 1890, S. 500, 503: In diesem Artikel wird die Erfindung eines Apparates geschildert, der eine Kinderwiege in Bewegung hält, eine, so macht der Autor deutlich, zwar gewitzte, aber letztlich schlichte Erfindung. 59 Vgl. Christomannos, Zum Großglockner, S. 265. 60 Ebd., S. 271. 61 Vgl. Die Seißer Alp, S. 263. 62 Ebd. 63 St. Cyprian im Tierser Thal, S. 60. 64 Vgl. zur Betrachtung der ländlichen Bevölkerung als Objekt des touristischen Interesses auch Kapitel 3.3.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

129

einen oder mehrere der Dolomitenhochgipfeln bezwingen wollen.“65 Eine Kritik hieran jedoch erfolgte allenfalls ansatzweise, indem der Kontrast zwischen der Lebenswelt der Touristinnen und Touristen, „die den Weg […] aus bloßem Vergnügen schaarenweise machen“66 und der der tatsächlichen Bergbewohnerin beziehungsweise des Bergbewohners thematisiert wurde, welche „gewiß verwundert den Kopf schüttel[n] ob des […] unverständlichen Gebahrens der heutigen Alpentouristen.“67 Das verweist darauf, dass es den Autoren – und wohl zugleich der Leserschaft – zumindest indirekt bewusst war, dass es sich beim Alpentourismus um eine Performance handelte, eine Art des Verhaltens in der Landschaft, die jenseits des Alltagslebens der Bewohnerinnen und Bewohner der Region stattfand. Ein Problembewusstsein diesbezüglich bestand jedoch selten.68 Die bürgerliche Öffentlichkeit war damit in der richtigen Art des Schauens geschult und konnte folglich die Inszenierung der Alpen lesen und fortschreiben. So wurden die Alpen, das schottische Hochland69 ebenso wie weitere Landschaften wie beispielsweise das Rheintal als Kulisse für die eigene Befindlichkeit wahrgenommen, als malerisch oder als erhaben klassifiziert, nicht jedoch als Lebensraum, dem die Bewohnerinnen und Bewohner die tägliche Nahrung abringen mussten, den sie durchquerten, um ihre Waren zu verkaufen und dessen Witterungsbedingungen sie ausgeliefert waren.70 Die Landschaft des Reiseführers führte eine unbewohnte Welt vor, in der das reale Leben hinter den Denkmälern verschwand beziehungsweise allenfalls als Dekoration 65 St. Cyprian im Tierser Thal, S. 60. 66 Von Erstfeld nach Eugelberg, S. 191. 67 Ebd. 68 Eine Ausnahme bilden die Aussagen des Artikels Streifzüge durch das Ortlergebiet, vgl. Meurer, Streifzüge durch das Ortlergebiet, S. 208. Der Autor bedauert die Veränderungen, die der Massentourismus in den Alpen mit sich gebracht habe. Er kontrastiert die „gemüthliche Familientafel“, an der der Wanderer früherer Zeiten Platz nahm, mit der „Table d’hote“ neuer Hotels, die „Lodenjoppe“ des Bergsteigers mit den „aufgeputzen Sommertoiletten“, die Wanderschuhe, die „Genagelten“ mit den „Lackschuhen“. Letztlich kritisiert der Autor jedoch nicht die Konstruktion der Alpen als touristischen Raum per se, sondern nur die massenhafte Übernahme (groß-)bürgerlicher Ideale durch das ‚neue‘ beziehungsweise Kleinbürgertum. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, diesen Artikel in der Illustrirte[n] Zeitung und nicht in Das Buch für Alle zu finden. Dagegen wird nicht reflektiert, dass der Bergsteiger aus dem gehobenen Bürgertum, der als „tapferer Pionnier“ dargestellt wird, einen Raum betrat und für seine Zwecke instrumentalisierte, der bereits für die Ursprungsbevölkerung einen völlig eigenen Zweck als Lebensgrundlage besaß. 69 Der Gebirgstourismus setzte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch in den USA, insbesondere in den Rocky Mountains, ein, allerdings unter etwas anderen gesellschaftlichen Vorzeichen als in Europa. Vgl. Duane A. Smith: Rocky Mountain Heartland. Colorado, Montana, and Wyoming in the Twentieth Century, Tucson, AZ 2008, S. 112–116. 70 Vgl. Stremlow, Postkarten aus dem „Dachgarten Europas, S. 257–260; vgl. für das schottische Hochland auch Katherine Haldane Grenier: Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914. Creating Caledonia, Aldershot 2005, S. 49.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

130

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

diente.71 Obschon nicht alle Leserinnen und Leser letztlich tatsächlich die in den populären Medien angezeigten Blicke selbst erleben konnten, so konnte ihnen eigentlich die Lektüre der Bergreportagen genügen,72 um am Wissensraum der Alpen als touristischer Inszenierung teilzuhaben. Allein die Fähigkeit zum touristischen Erleben der Alpen charakterisierte sie als Mitglieder eines distinkten Kreises.73 Ein Mitglied der Arbeiterschaft dagegen konnte, sofern es überhaupt dazu kam, in seiner karg bemessenen Freizeit in einer öffentlichen Lesehalle eine Reportage aus einer illustrierten Zeitschrift zu lesen, an dem touristischen Raum der Alpen kaum teilhaben, da es ihm äußerst schwergefallen sein dürfte, den charakterbildenden und freizeitorientierten Wert einer strapaziösen Durchwanderung des Gebirges zu erkennen.74

4.1.3. Die Reise zum „Fetisch Ware“75

Nicht nur die Natur erschien im 19. Jahrhundert durch den touristischen Blick als Erlebnisraum. Dieselbe Art des Schauens konnte ebenso Orte des Warenkonsums als 71 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1970 (französische Erstausgabe 1957), S. 59–61. 72 Ein besonders einleuchtendes Beispiel für diesen Umstand, dass die Lektüre der Reisereportagen in den illustrierten Zeitschriften die Wirkung der tatsächlichen Reise vorwegzunehmen und sogar zu ersetzen vermochte, liefert der Artikel von Christomannos, Zum Großglockner, S. 265–286. 73 Christoph Hennig charakterisiert das touristische Ziel der Alpen als „Schlachtfeld sozialer Distinktion“. Christoph Hennig: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt am Main 1997, S. 18. Dabei bezieht er sich jedoch lediglich auf die finanziellen Möglichkeiten zum alpinen Tourismus und das Verhalten vor Ort, nicht aber auf die grundlegenden Blickpraktiken und den ihnen zugrundeliegenden Wissensraum. 74 Der Arbeiterwanderverein ‚Die Naturfreunde‘, 1895 in Wien ins Leben gerufen und ab 1905 weltweit aktiv, verfolgte zwar auch das erzieherische Motiv, den Charakter des Arbeiters durch Naturgenuss und Naturerkenntnis zu formen, vorwiegend ging es dabei jedoch darum, erstens das Klassenbewusstsein durch gemeinsame zielgerichtete Unternehmungen zu fördern und zweitens, die Freizeit jenseits des Wirtshauses sinnvoll zu gestalten. Dazu führte er kostengünstige und wenig zeitintensive Ausflüge in die jeweilige nähere Umgebung durch. Das Streben, als gleichberechtigter Alpenverein neben den bürgerlichen Vereinigungen dieser Richtung zu stehen, das sich unter anderem in der verstärkten Berichterstattung über den Hochalpinismus in der Vereinszeitung ausdrückte, kann auf die (verbürgerlichte) Vereinsleitung zurückgeführt werden und spiegelt nicht unbedingt die Motive der rund 30.000 Mitglieder vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich. Vgl. allgemein Dagmar Günther: Wandern und Sozialismus. Zur Geschichte des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, Bd. 30), Hamburg 2003, insbes. S. 3–34. 75 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. V/1: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1982, S. 50.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

131

vergleichbare Erlebnisräume erstehen lassen. Die Waren im Kaufhaus,76 im Schaufenster oder in einer Ausstellung wurden von der Kundschaft vorrangig betrachtet und erst in zweiter Linie eventuell erworben. Die Kundinnen und Kunden gerieten zu Schaulustigen.77 Die Art der Präsentation in Kaufhäusern und Gewerbeausstellungen förderte dieses Verhalten und ließ den Besuch zu einem touristischen Erlebnis werden.78 Die Gewerbeschauen stellten seit der Industrieausstellung 1798 in Paris und erst recht seit der ‚Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations‘ in London 1851 die visuelle Präsentation und Rezeption von Objekten in den Mittelpunkt ihres Daseins,79 um, wie der Titel der ersten Weltausstellung schon formulierte, die Erzeugnisse des Gewerbefleißes aller Nationen einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und so die großartigen Leistungen der Menschheit, allen voran natürlich des eigenen Landes, auf diesem Gebiet ins rechte Licht zu rücken. Damit lehnte sich diese Art der Gewerbeschau an eine längere Tradition seit der Frühindustrialisierung an, handwerklich-gewerbliche Produkte auszustellen. Die Londoner Exposition eröffnete jedoch nicht nur mit ihrem universalen Anspruch, sondern auch mit den neuen Präsentationstechniken der Waren eine neue Ära des Ausstellungswesens.80 Die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts galten als „Katalysatoren des Zeitgeistes“,81 die, je weiter es auf die Jahrhundertwende zuging, ihren Charakter von den Gewerbe- und Industrieausstellungen am Anfang des Jahrhunderts, auf denen es allein um das technische Erzeugnis 76 Die Begriffe ‚Warenhaus‘ und ‚Kaufhaus‘ werden hier synonym verwendet, obwohl es sich de facto insofern um zwei verschiedene Einrichtungen handelte, als das Warenhaus gegenüber dem Kaufhaus ein größeres Warenangebot bereitstellte und eine spezielle Warenhaussteuer entrichten musste. Vgl. Gudrun M. König: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 94. 77 Vgl. ebd., S. 100. 78 Vgl. ebd., S. 92; Werner Hofmann: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., München 1974, S. 86. 79 Vgl. Joachim Fiebach: Audiovisuelle Medien, Warenhäuser und Theateravantgarde, in: Erika FischerLichte (Hrsg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen/Basel 1995, S. 15–57, hier S. 39. 80 Aus der Fülle der Literatur zur herausragenden Bedeutung der Londoner Ausstellung von 1851, die den Begriff der ‚Weltausstellung‘ überhaupt erst schuf, sei nur verwiesen auf die immer noch als Standardwerk für den deutschen Sprachraum anzusehende Monografie von Utz Haltern: Die Londoner Weltausstellung von 1851. Ein Beitrag zur Geschichte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Neue münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 13), Münster 1971, sowie die jüngeren Untersuchung von John R. Davis: The Great Exhibition, Stroud 1999 und Jeffrey A. Auerbach/Peter H. Hoffenberg (Hrsg.): Britain, the Empire, and the World at the Great Exhibition of 1851, Aldershot/Burlington, VT 2008. 81 Helmut Gold: Wege zur Weltausstellung, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 320–326, hier S. 320.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

132

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

gegangen war, hin zu „kulturellen Demonstrations- und Repräsentationsveranstaltungen“82 wandelten.83 Wie alle diskursiv konstruierten Räume waren die Industrie- und Gewerbeschauen geschlechtlich konnotiert. Da die Ausstellungen von Männern ausgerichtet wurden, ist davon auszugehen, dass sie wesentlich den männlichen Standpunkt repräsentierten. Selbst wenn mit dem Aufstieg der Frauenbewegung in den USA und Europa viele größere Ausstellungen Repräsentationen von Weiblichkeit und Attraktionen, die speziell Frauen ansprechen sollten, mit einschlossen und so Frauen die Möglichkeit gaben, im öffentlichen Raum aufzutreten und Diskurse über die herrschenden Geschlechtscharaktere zu initiieren, wurde dadurch jedoch insgesamt nicht die hegemoniale männliche Vision dieser Ereignisse herausgefordert.84 Der Verbreitungsgrad des Erlebnisses Weltausstellung im 19. Jahrhundert war enorm: Während die Exposition in London Mitte des Jahrhunderts mit sechs Millionen Besucherinnen und Besuchern schon einen unerwarteten Rekord aufstellte, steigerten sich die Besuchszahlen bis zur Ausstellung von Paris 1900 auf rund 50 Millionen, eine Quantität, die danach erst wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht werden sollte.85 Zwar fand in den deutschen Staaten beziehungsweise im Deutschen Reich im langen 19. Jahrhundert keine Exposition statt, die den Anspruch erhob, eine internationale, eine ‚Welt‘-Ausstellung zu sein, trotzdem gewannen regionale Gewerbeausstellungen, getragen von örtlichen Gewerbevereinen, ab der Jahrhundertmitte an Bedeutung. Während die Berliner Gewerbeausstellung als die erste Exposition, die gemeinsam von den Zollvereinstaaten getragen wurde und überregionale Bedeutung erlangte, von geschätzten 260.000 Gästen besucht worden war, erreichten die Besuchszahlen von Ausstellungen nach der Reichsgründung bald die Millionengrenze. Die Ticketverkäufe fanden ihren Höhepunkt auf der Berliner Ausstellung 1896 mit einer Zahl von über sieben Millionen.86 Parallel zu den Welt- und Gewerbeausstellungen entstanden in Europa und Nordamerika die ersten Kaufhäuser. Nachdem in Frankreich bereits 1838 mit dem Le Bon Marché das erste Kaufhaus überhaupt eröffnet hatte, nahmen die Warenhäuser Wert82 Thomas Großbölting: „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 (Ordnungssysteme, Bd. 21), München 2008, S. 27. 83 Vgl. Kapitel 4.1.3. 84 Vgl. Mary Pepchinski: Feminist Space. Exhibitions and Discourses between Philadelphia and Berlin 1865–1912, Weimar 2007, S. 27, 218. 85 Vgl. Winfried Kretschmer: Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt am Main/New York, NY 1999, S. 288–302. 86 Vgl. ebd., S. 178f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

133

heim (1897), Tietz (1900) und das KaDeWe (1907) diesen Trend auch in Deutschland auf. Ihr Konzept zielte in Anlehnung an die Warenausstellungen nicht nur auf ein breites Sortiment unter einem Dach, sondern auf ein bestimmtes Raumkonzept, das den Konsum anregen sollte. Nicht mehr allein der Erwerb der Produkte stand im Vordergrund, sondern ein umfassendes Abenteuer, das von vielen Kleinigkeiten – ästhetisch wirkender Architektur, Ruheräumen zum persönlichen Rückzug oder Restaurants – gefördert wurde.87 Das Erlebnis bestand nicht nur darin, an den endlosen Auslagen von Waren ohne Kaufzwang entlang zu flanieren, sondern es war teilweise ebenfalls möglich, sich im Rahmen einer Besichtigungstour durch die Verkaufshallen führen zu lassen oder sich in einer Broschüre über das Warenhaus zu informieren. Kinder bekamen kostenlos Bildersammelkärtchen oder Luftballons geschenkt.88 Warenhäuser wurden wie die großen Vorbilder der Weltausstellungen zum Ausflugsziel.89 Während die Industrie- und Gewerbeschauen anfangs wohl eher auf ein männliches Publikum ausgerichtet waren und sich erst im Laufe der Zeit bewusst an Besucherinnen wendeten, ist zu vermuten, dass das Kaufhaus von Beginn an Besucherinnen und Käuferinnen ebenso – vielleicht sogar stärker – ansprechen wollte, wie ein männliches Publikum.90 Nichtsdestoweniger lässt sich dahinter ein männlich dominierter Diskurs erkennten, der davon ausging, dass bürgerliche Frauen von solchen Waren eher angezogen würden als bürgerliche Männer. 87 Vgl. insbesondere Alarich Rooch: Warenhäuser. Inszenierungsräume der Konsumkultur. Von der Jahrhundertwende bis 1930, in: Werner Plumpe/Jörg Lesczenski (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 17–30; vgl. auch Uwe Spiekermann: Das Warenhaus, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hrsg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York, NY 2005, S. 207–217. 88 Vgl. Michael B. Miller: The Bon Marché. Bourgeois Culture and the Department Store, 1869–1920, Princeton, NJ 1981, S. 173. Diese und ähnliche Praktiken skizziert Émile Zola in seinem Roman Au Bonheur des Dames von 1884, in dem er das Wachstum, die Struktur und die Geschäftspraktiken eines fiktiven Pariser Kaufhauses schildert. Die Fiktion ist indes eng an reale Vorlagen angelehnt, die Zola im Vorfeld genau soziologisch und betriebswirtschaftlich untersucht hatte. 89 Die Analogie zwischen Warenausstellungen und Weltausstellungen ist in der Forschung verschiedentlich bezüglich der Ähnlichkeit des inszenatorischen Charakters und der speziellen Präsentationstechniken betont worden. Vgl. Russel Lewis: Everything under One Roof. World’s Fairs and Department Stores in Paris and Chicago, in: Chicago History, Jg. 12, Nr. 3, 1983, S. 28–47. Die Ähnlichkeit ging sogar so weit, dass auf den Ausstellungen selbst Waren verkauft wurden, vgl. Angela Schwarz: „Come to the Fair“. Transgressing Boundaries in World’s Fairs Tourism, in: Eric G.E. Zuelow (Hrsg.): Touring Beyond the Nation. A Transnational Approach to European Tourism History, Farnham 2011, S. 79–100, hier S. 85. 90 Gudrun König geht beispielsweise ganz selbstverständlich davon aus, dass die Hauptklientel des Kaufhauses weiblich war, dabei stützt sie sich unter anderem auf die zeitgenössischen Beobachtungen von Paul Göhre (Das Warenhaus, 1907) und Emile Zola (Au bonheur des dames, 1883), vgl. König, Konsumkultur, S. 100f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

134

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Die Mittel, mit denen die Waren für die Besucherinnen und Besucher inszeniert wurden, wandelten sich von einer eher auf Quantität und genaue Klassifizierung ausgelegten Präsentation hin zu einer Einbettung des Exponats in einen größeren Kontext.91 Zuerst bestand die Auffassung, dass die reine Anschauung der Waren ihren Wert und Charakter vermitteln sollte, dass durch Klassifikationssysteme wie im Tierreich die Natur der Sache erklärt werden könnte.92 Die erste Weltausstellung 1851 setzte noch auf ein starres Ordnungsschema, in dem das Objekt allein wirken sollte. Große Mengen zu einer Kategorie gehöriger Waren wurden zu diesem Zweck gemeinsam ausgestellt, ganze Ausstellungsvitrinen oder Schaufenster mit nur einer Artikelsorte ausgestattet,93 erläuternde Broschüren oder Tableaus vermittelten wenn nötig die zugehörigen Informationen. Die Anhäufung von gleichen Gegenständen, die in ihrer Massenhaftigkeit monumental wirkten, war das grundlegende Prinzip der Ausstellung von Waren.94 Diese Präsentationsform, bei der die Waren in ihrer Größe, Menge und Vielfalt im Vordergrund standen, wurde auf Weltausstellungen und im Kaufhaus genutzt. Wie ähnlich der Blick war, den die Besucherinnen und Besucher eines Kaufhauses oder einer Warenausstellung auf die Konsumgüter werfen konnten, legt der Vergleich verschiedener Fotografien von Schaufenstern und Ausstellungsvitrinen dar. Durch die Präsentation in Ausstellungsvitrinen, hier beispielsweise auf der Brüsseler Weltausstellung 1910 (vgl. Abbildung 3), begegneten die Waren der Betrachterin und dem Betrachter vertikal und horizontal aufgereiht. Einerseits standen in den Vitrinen die gleichen Produkte mehrmals neben- und aufeinander, was den Eindruck vermittelte, dass diese Ware in großer Zahl und dauerhaft verfügbar sei. Auf den Umstand, dass die reine gleichförmige Masse als ästhetisches Erlebnis beeindruckte, hinter der das Einzelne in seinem ursprünglichen Charakter und Sinnzusammenhang zurückstand, 91 Vgl. Angela Schwarz: Vom Maschinenpark zum Futurama. Popularisierung von Wissenschaft und Technik auf Weltausstellungen (1851–1940), in: Petra Boden/Dorit Müller (Hrsg.): Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850, Berlin 2009, S. 84. Schwarz systematisiert erstmals die Präsentationsformen der Exponate auf Weltausstellungen. Als Merkmale der einzelnen Stufen nennt sie die Ausdifferenzierung der Visualisierung, darauf folgend die Dynamisierung der Exponate sowie der Besucherinnen und Besucher und schließlich die Dramatisierung der Präsentation. 92 Vgl. Christina Wessely: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008, S. 103–108; Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 196–206; Angela Schwarz: Transfer Transatlantici tra le Esposizioni Universali, 1851–1940, in: Alexander C.T. Geppert/Massimo Baioni (Hrsg.): Esposizioni in Europa tra Otto e Novecento. Spazi, Organizzazione, Rappresentazioni (Monographisches Sonderheft von Memoria e Ricerca: Rivista di Storia Contemporanea, Bd. 17), Mailand 2004, S. 61–93, hier S. 75, 91. 93 Die Diskussion in zeitgenössischen Fachzeitschriften bezüglich der neuesten Ausstellungsmethoden, insbesondere für Schaufenster, ließ eine Entwicklung von einer Anhäufung von Waren aller Art hin zu ‚Spezialfenstern‘ erkennen, die nur eine Artikelsorte zeigten. Vgl. König, Konsumkultur, S. 125. 94 Vgl. Alfons Paquet: Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft, Jena 1908, S. 50.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

135

Abb. 3: „Schaustellung der Verkaufsgegenstände der Hannoverschen Cakesfabrik H. Bahlsen in Hannover“ (1910): Ausstellungsvitrine auf der Brüsseler Weltausstellung

wies bereits 1927 Siegfried Kracauer in seiner Analyse des „Ornament[s] der Masse“95 hin. Dieses Phänomen, das Kracauer kulturkritisch als charakteristisch für seine Zeit betrachtete, spiegelte sich auch in dieser Art der Warenpräsentation. Andererseits trat durch das Neben- und Übereinander unterschiedlicher Produkte, die zu einer Produktgruppe gehörten, ihre Verwandtschaft nachdrücklich vor Augen. Zu diesem klassifizierenden Effekt trug zudem der Charakter der Vitrine als Raum bei, der durch seine Verglasung gleichzeitig offen und doch abgeschlossen war. Das Publikum sah die einzelnen Waren als Teil einer unauflöslichen Gruppe. Es konnte die Waren betrachten, aber nicht aus der Anordnung herauslösen. Das Schaufenster eines Breslauer Geschäftes, das die Illustrirte Zeitung 1903 abdruckte (vgl. Abbildung 4), spiegelte diese Inszenierung insofern wider, als es in seinem Aufbau an ein Nebeneinander mehrerer Vitrinen erinnert. Durch die Etagendecken des Kaufhauses, mehrere Stützpfeiler und den Eingang des Hauses war die verglaste Fassade in insgesamt zehn Schaukästen un95 Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse (1927), in: ders. (Hrsg.): Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1977, S. 50–63.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

136

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 4: „Geschäftshaus der Firma Ernst Vogdt, Juwelier, Breslau“ (1903): Warenausstellung im Schaufenster

terteilt, die zumeist jeweils eine andere Warengruppe aus dem Sortiment des Gold- und Silberwaren-Verkäufers ausstellten. Den Rezipientinnen und Rezipienten wurde daher durch die Ausstellungsvitrine, die nicht nur auf Weltausstellungen, sondern gleichfalls im Kaufhaus zu finden war, und durch das Schaufenster vermittelt, dass diese Vielfalt durch genaue Klassifizierung nicht chaotisch, sondern geordnet daherkam, das einzelne Produkt in seinem Wert und Charakter durch die Ordnung, in die es eingefügt war, ohne Probleme zu erkennen und daher ebenso ohne Probleme anzueignen war. Ähnlich war der Innenraum vieler Kaufhäuser organisiert: „Die hauptsächlichen Abteilungen sind die der Lederwaaren und Bijouterien, der Uhren […] und Bronzen, der Majoliken und Tayencen, der Terracotten und Glaswaaren. Daran schließen sich Japan- und Chinawaaren in allen Arten und Preislagen, Parfums und Seifen, […] Handschuhe, Cravatten und Stöcke, auch Tabak, Cigaretten und Cigarren nebst den davon unzertrennlichen Rauchutensilien, endlich Chocoladen, Cacaos, Vanille und echt chinesische Thees.“96

96 G.R.: Mey & Edlich, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 97, Nr. 2517, 26.09.1891, S. 340–342, hier S. 342.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

137

Es gab nach dieser Schilderung der Illustrirte[n] Zeitung verschiedene Abteilungen, innerhalb welcher einerseits verschiedene Modelle und Ausfertigungen eines Produktes zum Kauf angeboten wurden, andererseits eine große Zahl der gleichen Ware vorhanden war, so dass mehrere Kundinnen oder Kunden sofort zugreifen konnten. Dieses Schema musste jedoch bei den folgenden Expositionen stetig erweitert werden. Der Grund lag nicht nur in der zunehmenden Produktvielfalt, sondern darin, dass die Aussteller immer vielfältigere Präsentationsformen nutzten, um die Blicke der Zuschauerinnen und Zuschauer auf ihre Exponate zu lenken. Das Verhältnis zwischen Unterhaltung und Belehrung sollte, wie schon bei den bisher vorgestellten touristischen Aktivitäten, ebenso bei dem Besuch einer Gewerbeausstellung nach dem bürgerlichen Bildungsstreben zugunsten der Belehrung verschoben sein. Um dieses Verhältnis trotz der Einbettung in ein vergnügliches Gesamterlebnis entsprechend zu wahren, war es das erklärte Ziel der Ausstellungen – und wurde von der Berichterstattung gleichfalls als solches kommuniziert –, „belehrend und bildend auch auf Nicht-Fachleute zu wirken.“97 Um dieses Ziel zu erreichen, musste die Inszenierung über die gerade besprochene Präsentation der Waren an sich jedoch hinausreichen. Sie mussten in eine Narration eingebettet, Objekte so arrangiert werden, dass sie den Betrachtenden eine Botschaft vermittelten, die über das einzelne Objekt hinausging.98 Bis zu einem bestimmten Grad konnte die Architektur die Einbettung des Einzelstücks in den Zusammenhang der Ausstellung gewährleisten. Lichtdurchflutete Glashallen mit Balkonen und Aufgänge über mehrere Stockwerke korrespondierten mit den endlosen Auslagen.99 Die Architektur lieferte sozusagen die Hintergrundgeschichte für die Waren.100 Indem die Ausstellungshallen von Kaufhäusern oder Gewerbeausstellungen durch ihre Monumentalarchitektur sakral überhöht wurden, machten sie ein ästhetisches Raumerlebnis möglich, das sich auf die Wahrnehmung der Waren übertrug.101 Gerade dieses Raumerlebnis wurde immer wieder auf Bildern thematisiert, die den Betrachtenden durch Aufzüge und Emporen den Blick von einer erhöhten Position in den Ausstellungsraum ermöglichten, sei es ein Kaufhaus, sei es eine Gewerbeausstellung. Das Bild eines Blicks in die Strumpfabteilung des Warenhauses 97 Ernst Keil: Die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung in Bremen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2463, 13.09.1890, S. 280–282, hier S. 280. 98 Vgl. Schwarz, Vom Maschinenpark zum Futurama, S. 87–89. 99 Vgl. Stefanie Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt am Main/New York, NY 2005, S. 26. 100 Rooch spricht in diesem Zusammenhang von einer narrativen Struktur der Architektur. Vgl. Alarich Rooch: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozial-kommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823–1920), Oberhausen 2001, S. 80. 101 Vgl. zu derartigen Überlegungen zum Warenhaus ebd., S. 151.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

138

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 5: Blick in den Lichthof des Warenhauses Wertheim: Waren, eingebettet in ein ästhetisches Raumerlebnis

Wertheim, mit dem das Geschäft sich möglichen Käufern vorstellte, dokumentiert beispielsweise ein solches Raumerlebnis (vgl. Abbildung 5). Im Bild zu sehen ist ein Lichthof, der in etlichen Metern Höhe von einer Glaskuppel überspannt und von mehreren Etagen des Kaufhauses umschlossen wird. In ihm reihen sich die Waren aneinander. Die verschiedenen Etagen lassen weitere Produktgruppen vermuten. Von der ersten Etage einer Empore richtet sich das Auge einerseits hinab zu der Fülle von Gütern, andererseits entlang dreier Emporen hinauf zur hell scheinenden Glaskuppel. Die Etagenstruktur sortierte das Angebot, der Blick auf die Ausstellungsfläche des Lichthofes verdeutlichte die Verfügbarkeit. Ein symmetrischer Aufbau des Bildes mit den durch die Linse der Kamera verorteten Betrachtenden in der Mitte der auf halber Höhe gelegenen Empore vermittelt zusätzlich einen ästhetischen Eindruck, der über den bloßen Konsum hinausreicht. Eine weitere Möglichkeit, die Verkaufsprodukte in eine Narration einzubetten und ihnen so eine Bedeutung zu geben, die über ihren tatsächlichen Gebrauchswert hin-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

139

ausging, bestand darin, sie in ihrem Entstehungs- und Verwendungskontext zu präsentieren. Häufig fügten Aussteller einzelne Maschinen zu einem Produktionsprozess zusammen oder zeigten durch Materialien in verschiedenen Verarbeitungsstadien den Entstehungsprozess einer Ware.102 Nichtsdestoweniger stand nicht das genaue technische Verstehen der Betrachterinnen und Betrachter, sondern vielmehr ihr umfassendes Erlebnis im Vordergrund.103 Die Grenzen zwischen der Ware an sich und der Narration, die sie begleitete, verschwammen. Ein herausragendes Beispiel für diesen Umstand stellte die Präsentation der Produktionsgeschichte der Baumwolle auf der Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung in Bremen 1890 dar, die die Illustrirte Zeitung in ihrer Berichterstattung aufgriff (vgl. Abbildung 6). Zwar erschien in der Ausstellung der konkrete Ausstellungsgegenstand – der Baumwollstoff – als materielles, greifbares Objekt, gleichzeitig stand er aber in einem durch eine Inszenierung hervorgerufenen Zusammenhang. Die Fiktion, also die vereinfachte und verzerrte Realitätswiedergabe, bestand zum einen in der Zusammenschau des Produktes mit ähnlichen Produkten oder Produktionsvorstufen – der Baumwollkapsel am Strauch –, zum anderen in einer Ausdehnung in eine räumlich oder zeitlich entfernte Welt, woran bestimmte Dekorationsmaterialien und Hintergrundbilder den größten Anteil hatten. Im Falle der Baumwolle ging das in der Ausstellung durch einige Pflanzen angedeutete Baumwollfeld, das die Besucherin und der Besucher nicht nur betrachten, sondern obendrein anfassen konnten, über in ein Wandgemälde, das ein Baumwollfeld in der Neuen Welt abbildete und auf dem sich mit einem Dampfer auf einem Fluss, einer Palme und vermutlich afro­amerikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern vermeintlich typische Attribute dieser Landschaft fanden.104 102 Hier zeigen sich die weiteren Prinzipien der Präsentation, die Paquet anführt, das Prinzip der Zerlegung, eine nachgestellte Entfaltung technisch zusammengesetzter Waren, und das Prinzip der Funktionsdemonstration. Vgl. Paquet, Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft, S. 50. Vgl. auch Schwarz, Transfer Transatlantici, S. 91; Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 207; Graeme Davison: Exhibitions, in: Australian Cultural History, Nr. 2, 1982/83, S. 5–21. 103 Vgl. Schwarz, Vom Maschinenpark zum Futurama, S. 92. 104 Vgl. Keil, Die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung in Bremen, S. 280. Weitere Beispiele finden sich in großer Zahl in den Berichten der illustrierten Zeitschriften, was auf die Popularität dieser Ausstellungsform hinweist. Vgl. beispielhaft Aus den fremdländischen Abteilungen der Weltausstellung Brüssel 1910, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 135, Nr. 3498, 14.07.1910, S. 83f.: Der Artikel skizziert die Präsentation Brasilianischen Kautschuks, Kaffees und der Viehzucht u.a. mithilfe von Dioramen; Körner: Von der Pariser Weltausstellung. Sonneberg – Tunis in: ebd., Bd. 115, Nr. 2979, 02.08.1900, S. 165f.: Die Ausstellung von Spielwaren der Marke Sonneberg erfolgt hier in einer Gesamtinszenierung, die nicht nur die Produkte zeigt, sondern diese einbettet in eine weihnachtliche Märchenwelt. Auch in der Forschung werden derartige Inszenierungen kurz angeschnitten. Vgl. Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 27, 30: Der Autor thematisiert die Produktpräsentation des Schokoladenherstellers Sprengel in Form eines Buches und die Vorstellung der

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

140

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 6: „Aus der Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung“ (1890): Inszenierung der Baumwolle als Ware

Produkte eines Verbandsmittelherstellers nicht mehr in Form eines Verbandskastens, sondern an einem Verwundeten, der mit den Produkten versorgt wird. Das bekannteste Beispiel für die Einbettung eines Produktes in einen narrativen Zusammenhang ist die Ausstellung einer Kanone, die auf einer Lafette und unter einem preußischen Militärzelt von Brustharnischen flankiert von der Firma Krupp auf der ersten Weltausstellung in London 1851 präsentiert wurde. Diese Taktik zahlte sich für Krupp mittel- und langfristig aus, der Name wurde über den Kreis der Fachleute hinaus einer breiten

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

141

Die Berichterstattung der Zeitschrift rühmte die gelungene Narration wegen ihres Schauwertes. „Die Vorführung zeigt uns Landschaft, Pflanzenbildung und Ernte und wirkt außerordentlich belehrend. Wir sehen die Baumwollflocken zu unsern [sic!] Füßen liegen, und um uns über die weitere Verarbeitung des Rohproduktes zu unterrichten, umstehen uns riesige Ballen, Reinigungsmaschinen in Modellen und verschiedene Spinnereiprodukte, welche die allmähliche Entstehung eines Baumwollfadens veranschaulichen.“105 Nicht mehr nur das tatsächliche Produkt wurde ausgestellt, sondern eine ganze Geschichte inszeniert.106 Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Inszenierungspraktik auf Weltausstellungen, indem tatsächlich wie in einer Fabrik Güter produziert wurden, die dann zum Teil sogar käuflich erworben werden konnten.107 Ebenso griff das Kaufhaus den fortschreitenden Trend auf, Waren nicht nur durch ihre geschmackvolle Präsentation und Klassifikation in Vitrinen in einem Gebäude, das an sich schon eine Besichtigungstour wert war, für die Besucherinnen und Besucher attraktiv zu machen. Ein Beispiel aus den illustrierten Familienblättern betonte die zunehmende Bedeutung von Modenschauen oder Modellen als lebende Schaufensterpuppen für die Präsentation von Kleidungsstücken, bei denen die Kleidung, indem sie an einem lebenden Menschen präsentiert, in einen lebensweltlichen Zusammenhang gestellt wurde.108 Dieser Bezug zur Lebenswelt war aber wiederum nur Fiktion, da die Kleidung in dem Moment der Präsentation nicht den ursprünglichen Zweck erfüllte, den Menschen zu bekleiden, ihn zu wärmen und zu schützen, sondern als ästhetisiertes Produkt den Betrachtenden noch drastischer ins Auge fallen sollte. Damit wurde im Übrigen eine Entwicklung angestoßen, die dahin führen konnte, Modelle ebenfalls ihrer tatsächlichen Bedeutung zu entheben, zu ästhetisieren und zum Schauobjekt zu machen. Wie schon mit der Berichterstattung der Familienzeitschriften über die Alpen und über ‚exotische‘ Tiere und Menschen, setzten die Berichte die Leserschaft hier ebenfalls Allgemeinheit bekannt. Vgl. Barbara Wolbring: Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Selbstdarstellung, öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Kommunikation (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 6), München 2000, S. 96, 98. 105 Keil, Die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung in Bremen, S. 282. 106 Diesen Umstand erkennt auch Großbölting auf deutschen Gewerbeschauen. Vgl. Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 227–230. 107 Vgl. zum Produktionsprozess auf Weltausstellungen, insbesondere als Vorläufer der Touristisierung der Fabrik, Kapitel 4.2.3. 108 Vgl. Das lebende Modell im Schaufenster, in: Das Buch für Alle, Jg. 49, H. 14, 1914, S. 304, 307.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

142

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

einer doppelten Lenkung des Blicks aus, da erstens die Blickkonstruktion vor Ort übermittelt, diese aber zweitens noch einmal durch den Blick des Reporters gefiltert wurde. Was die Leserinnen und Leser zu Hause im Sessel erfuhren, war nur das, was der Berichterstatter kommunizierte. Was sie vorrangig vorgeführt bekamen, war das passende Verhalten als Ausstellungs- und Kaufhausbesucherin oder -besucher, das Flanieren zwischen den Produkten,109 das Betrachten und vielleicht sogar Kaufen der Artikel,110 das völlige Einlassen auf die Ausstellungsinszenierung. Schließlich ging auf den Warenausstellungen die Konstruktion der Fiktion so weit, dass die Besucherinnen und Besucher selbst für andere Gäste inszeniert wurden, indem sie beispielsweise durch hydraulische Fahrstühle, Transportbänder oder Riesenräder künstlich in Bewegung gesetzt wurden111 und derart die Ausstellungsgegenstände nur noch in einem panoramatischen Blick112 wahrnahmen, was sie einerseits über die ausgestellten Waren erhob, ihnen andererseits aber die Einsicht in den Charakter der Waren verstellte.113 Wirkliche Erfahrung, beispielsweise der Zugewinn an Expertise bezüglich der Qualität bestimmter Waren, blieb im Kaufhaus und auf der Weltausstellung daher zumeist eine Illusion, an ihre Stelle trat die touristische Erfahrung.

109 Vgl. die Darstellung von Besuchern auf einem ‚Tunesischen Basar‘ auf der Pariser Weltausstellung 1900: Körner, Von der Pariser Weltausstellung, S. 167. Vgl. auch die Zeichnung des Blicks in die Handelsausstellung, in der speziell die im Raum flanierenden Menschen die Hauptrolle spielten, vgl. Die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung zu Bremen, S. 123. 110 Vgl. Berliner Bilder: In einem modernen Waarenhaus, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 117, Nr. 3046, 14.11.1901, S. 722f.: Die doppelseitige Zeichnung zeigt einen hell erleuchteten eleganten Hauptverkaufsraum, der gefüllt ist mit modisch gekleideten Damen des Bürgertums, die in lebhafter Bewegung die Produkte des Kaufhauses betrachten, erwerben oder sich anschicken, bereits erworbene und verpackte Gegenstände nach Hause zu tragen. Besonders ein schwer beladener Paketträger im Vordergrund des Bildes und der klar erkennbare Bezahlvorgang an der am linken Bildrand angeordneten Kasse stehen stellvertretend für den Warenaustausch, womit der Konsum der Mittelschicht in den Mittelpunkt der Bildaussage rückt. Vgl. auch die Darstellung der Betrachterinnen und Betrachter vor dem Ausstellungsensemble in den Zeichnungen zu den Berichten über die Ausstellung der Baumwolle und von Sonneberg-Spielzeugen, vgl. Körner, Von der Pariser Weltausstellung, S. 166; Keil, Die Nordwestdeutsche Gewerbe- und Industrieausstellung in Bremen, S. 280. 111 Vgl. Schwarz, Transfer Transatlantici, S. 89f. Vgl. z.B. die Darstellung der Besucherinnen und Besucher der Weltausstellungen auf der Rollbahn, vgl. Erich Körner: Von der Pariser Weltausstellung. Die Rollbahn. Die französischen Kolonien, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2967, 10.05.1900, S. 686–689, hier S. 686. 112 Vgl. zum panoramatischen Blick Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt am Main 1980. 113 Vgl. hierzu auch Schwarz, Vom Maschinenpark zum Futurama, S. 97f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

143

4.1.4. Die ‚exotische‘ Reise

Die Präsentation und Betrachtung von als fremd empfundenen Tieren und sogar Menschen, wie sie in Zoos und Völkerschauen, auf den Vergnügungsmeilen der Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts oder in Nervenheilanstalten und Gefängnissen möglich waren, standen für eine übergreifende ‚Exotismus‘-Welle der Zeit, einer Kategorie ästhetischer Wahrnehmung, die alles, was außerhalb der durch die westliche Moderne geprägten eigenen Lebenswelt stand, als Kuriosum empfand, dessen Fremdheit, die das Bürgertum zu Bildungszwecken betrachten und gegen die es das ‚Eigene‘ abgrenzen konnte, das hervorstechende Merkmal war.114 Hierzu gehörten Tiere, die nicht zur Alltagsrealität der westeuropäischen Welt beziehungsweise speziell Deutschlands zählten, ebenso wie Menschen, die vom Bürgertum als unzivilisiert oder als jenseits und damit unterhalb der eigenen Gesellschaft stehend galten. Durch diese ‚Exotisierung‘ als Sichtweise, die allein das Merkmal der Fremdheit betonte, sei es im Positiven oder Negativen, erfuhren die Menschen und Tiere eine Deklassierung zum Objekt der Schaulust, die ihr tatsächliches Sein ins Abseits drängte.115 Seit der ehemals königliche Jardin des Plantes in Paris im Zuge der Revolution 1792 für die Öffentlichkeit seine Pforten geöffnet hatte,116 entstanden unter bürgerlicher Führung in nahezu allen größeren Städten Europas zoologische Gärten. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges besaß Großbritannien sieben Zoos, Frankreich fünf, Belgien und die Niederlande gemeinsam ebenfalls sieben. Nahezu jedes andere europäische Land konnte zumindest mit einem Tierpark in der Hauptstadt aufwarten. Die größte Verbreitung fanden die Zoos gleichwohl in Deutschland, wo zwischen 1844 und 1910

114 Vgl. etwa die Strömung des Orientalismus. Vgl. hierzu insbes. Edward Said: Orientalismus, Frankfurt am Main 2009 (englische Erstausgabe 1978). 115 Vgl. Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten, S. 5, 15, 20. Ähnlich begreift Edward Said auch den Orientalismus, durch den eine Vorstellung vom Orient als kulturelles Gegenüber des Westens geschaffen wurde, die kaum mit den Umständen des geografischen Raumes des Orients übereinstimmte. Vgl. Said, Orientalismus, S. 9–13. In diesem Sinne definiert Robert Bogdan im Übrigen auch die Ausstellung von ‚Freaks‘, anatomisch abweichend geformten Menschen als Performance, in der weniger die tatsächliche Körperlichkeit der Ausgestellten, sondern vielmehr ihre Inszenierung im Vordergrund standen. Vgl. Robert Bogdan: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago, IL/London 1990, S. 3, 95. Vgl. auch Birgit Stammberger: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 15–18, 41–64. Zur Geschichte und Bedeutung des Begriffs Exotismus vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Exotismus, in: Friedrich Jaeger: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 3: Dynastie – Freundschaftslinien, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 682–687. 116 Vgl. hierzu ausführlich Eric Baratay/Elisabeth Hardouin-Fugier: Zoo. A History of Zoological Gardens in the West, London 2004, S. 73–79.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

144

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

achtzehn solcher Einrichtungen gegründet wurden.117 Damit waren auf breiter Front „Statussymbole eines selbstbewussten städtischen Bürgertums“118 entstanden, Institutionen, in denen diese Gesellschaftsgruppe ihre sozialen, politischen und kulturellen Vorstellungen einer breiten Öffentlichkeit vermittelte.119 Dies geschah, indem die zoologischen Gärten – jeweils in Anlehnung an den Jardin des Plantes – ein doppeltes Ziel verfolgten: Zum einen bemühten sie sich, naturwissenschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen, indem sie bisher unbekannte Tiere zum Studium für die Wissenschaft bereitstellten, zum anderen boten sie diese Wissenschaft und ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit „in a refined, light and pleasurable way“120 dar. Die Tiere erschienen eingeordnet in einen inszenierten Kontext, was einerseits durch populärwissenschaftliche Erläuterungen geschah, wozu andererseits die spezielle architektonische Gestaltung des Zoos das probateste Mittel bildete. Dieser Kontext vermittelte auf einer oberflächlichen Ebene ein eindimensionales Wissen über geografische und zoologische Herkunft und über hervorstechende Charakter- und Gattungsmerkmale. Eine Möglichkeit dazu lieferte die „lehrreiche Klassifikation“121 der Tiere durch ein Nebeneinander von Käfigen, die sie allein schon optisch in einen zoologisch-klassifikatorischen Zusammenhang stellten.122 Naturkundliche Beschreibungen an den Käfigen oder in Zooführern, die sich des Sprachduktus der Wissenschaft bedienten, aber letztlich nur verkürzte Informationen geben konnten, unterstützten diese Inszenierung ebenso wie die Gestaltung der Käfige, die zu den Charakteren und der Herkunft der Tiere den vermeintlich passenden Rahmen liefern sollten, letztlich aber nur einem diffusen Bild von Exotik entsprachen. Raubtierpavillons im maurischen Stil123 waren ein typisches Beispiel für 117 Vgl. für die Zeit bis 1869 ausführlich Annelore Rieke-Müller/Lothar Dittrich: Der Löwe brüllt nebenan. Die Gründung Zoologischer Gärten im deutschsprachigen Raum 1833–1869, Wien/Köln/ Weimar 1998; vgl. für die gesamte Zeitspanne Baratay/Hardouin-Fugier, Zoo, S. 80–93. 118 Wessely, Künstliche Tiere, S. 10. 119 Vgl. für diese These ebd., S. 10f., 17f. 120 Baratay/Hardouin-Fugier, Zoo, S. 99. 121 Eric Ames: Wilde Tiere. Carl Hagenbecks Inszenierung des Fremden, in: Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen (Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Beiheft, Bd. 2), Bern/Berlin/Brüssel/Frankfurt am Main/New York, NY/Oxford/Wien 1999, S. 123–148, hier S. 127. 122 Auf ähnliche Weise wurden im Übrigen auch die Waren im Schaufenster des Kaufhauses präsentiert. Wessely weist durch einen Vergleich der Grundrisse von Kaufhäusern und Raubtiergalerien nachdrücklich darauf hin, dass im Zoo Kulturen des Konsums mit wissenschaftlich begründeten Ausstellungspraktiken in Beziehung standen und dass der in den Konsumwelten des urbanen Raumes geschulte Blick der Besucherinnen und Besucher mit den Wahrnehmungsvorgaben im Zoo korrespondierte. Vgl. Wessely, Künstliche Tiere, S. 103–106. Vgl. hierzu auch die Analyse der Darstellung der Waren im Kaufhaus, Kapitel 4.1.3. 123 Vgl. Beat Wyss: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889, Berlin 2010,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

145

diese Pauschalisierung.124 Der Gipfel der Inszenierung von ‚wilden‘ Tieren war mit einer Diorama-Anordnung125 erreicht, die Carl Hagenbeck 1896 auf der Berliner Gewerbeausstellung erstmals vorstellte und im Folgenden dauerhaft in seinem Hamburger Tierpark installierte. Durch eine geschickte Anordnung von Gräben und Kulissen begegneten die Tiere der Betrachterin und dem Betrachter von einem bestimmten Standpunkt aus ohne trennende Gitter scheinbar frei in ihrem vermeintlich natürlichen Lebensraum. Der Aufbau ähnelte in seiner geometrischen Ausrichtung und der Vermischung von Malerei und Pappmaché einer Theaterbühne, was von Hagenbeck mit Blick auf die Dramatisierung seiner Ausstellung durchaus gewünscht war.126 Der Erfolg seiner neuen ‚Erfindung‘ zeigte Hagenbeck, dass er das Ziel der nahezu perfekten Inszenierung erreicht hatte. Den Zusammenhang zwischen den einzelnen Tierinszenierungen, ob nun in einer Reihe von Käfigen oder im Freigehege, stellte die Wegeführung oder die Leitung durch gedruckte Zooführer her, die die Bewegungen durch den Tierpark choreografierten. Auf festen Pfaden wurden die Gäste von einer ‚Welt‘ in die nächste geführt und erlebten so den Zoo als performativen Raum mit festgesetzten Blickpraktiken, in welchem ihr Erlebnis vorgegeben war.127 Der Raum des Zoos gewann damit eine Bedeutung über seine physikalische Komponente hinaus als etwas nicht geografisch Definiertes, sondern als Konstrukt erlernter bewusster und unbewusster Wahrnehmungsmodi. Die Tiere erschienen auf diese Weise so, wie die Menschen sie erwarteten, exotisch, fremd, aber trotzdem vertraut. Durch die Exotik enthoben die Tiere die Betrachtenden ihrer Alltagswelt und gaben ihnen das Gefühl, Teil zu haben an einer fremden Welt. Die Vertrautheit der Präsentation half dagegen, sich das Tier in der eigenen Vorstellung greifbar zu machen, es in den persönlichen Wissensbestand zu übernehmen und es sich letztlich durch vermeintliche Kenntnis von Merkmalen und Charakter zu unterwerfen. Der Vorgang wurde noch verstärkt, indem die populären Medien, insbesondere die Familienzeitschriften mit ihrer großen Reichweite und ihrem bleibenden Eindruck, diese Inszenierungspraktiken mit ihrer Berichterstattung erläuterten und verbreiteten. S. 209. Das von Wyss genannte Beispiel fand sich auf dieser Weltausstellung, entsprach aber gängigen Inszenierungen in den zeitgenössischen Zoos. 124 Diese Vermengung von allgemein als ‚exotisch‘ oder ‚orientalisch‘ empfundenen Elementen geschah noch viel verstärkter bei der Ausstellung von Menschen speziell auf Weltausstellungen. Vgl. ebd., S. 205–209. 125 Vgl. allgemein zum Panorama als Maschine, in der die Herrschaft des bürgerlichen Blicks gelernt und zugleich verherrlicht werde, Oettermann, Das Panorama, S. 9–11. Diese Blickmechanismen lassen sich auch für die Unterform des Panoramas, das Diorama, feststellen. 126 Vgl. Ames, Wilde Tiere, S. 126–131. Vgl. für die Analyse der Architektur des Kaufhauses, die den Hintergrund für die Waren bildete, Kapitel 4.1.3. 127 Vgl. Wessely, Künstliche Tiere, S. 68, 76.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

146

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Sie gaben einen Überblick über die typischen Verhaltensweisen, die die Besucherinnen und Besucher von den Tieren erwarten konnten, und zeigten gleichzeitig auf, wie die Gruppe der Beobachtenden auf solche Verhaltensweisen reagieren sollte. Im Plauderton bekam die Leserschaft mitgeteilt, wie die Affen im Berliner Zoo zutraulich zu den Gitterstäben kämen und die Betrachterinnen und Betrachter mit ihren Kunststücken erfreuten,128 wie die Krabben im Leipziger Aquarium „wie Ringkämpfer in imponierender Stellung“129 mit aufgerichtetem Vorderteil und geöffneten Scheren an der Glasscheibe ständen130 oder wie Löwenjunge, „die kleinen Thierchen […] wie Katzen miteinander [spielen], [sie] miauen auch anfangs wie solche, erst später wird ihre Stimme stärker und voller.“131 In einer solchen Beschreibung reduzierte der Berichterstatter die Tiere auf wenige Merkmale, deutete ihre tierischen Eigenschaften um und verniedlichte oder vermenschlichte sie in diesem Zuge. Doch die Reportagen gingen oft noch darüber hinaus und gaben dem Leser und der Leserin gleich vor, was sie bei der Betrachtung empfinden sollten. Je nach ausgestelltem Tier und dessen vorgegebenen Eigenschaften schwankten die Reaktionen zwischen wohligem Schaudern und entzückter Zuwendung, bisweilen konnte ein und dasselbe Tier sogar bei unterschiedlichen Betrachtenden mit verschiedener Konstitution anders­artige Reaktionen hervorrufen, abhängig davon, ob es als ‚niedlich‘ oder als ‚gefährlich‘ eingeschätzt wurde. Das Buch für Alle vereinte solch unterschiedliche Reaktionen in einem einzigen Bild, auf dem eine Zahl bürgerlicher Zoobesucherinnen und -besucher mit je anders geartetem Verhalten auf den gerade schon genannten Wurf Löwenjunge reagierten und so Möglichkeiten anboten, sich nach eigenem Temperament mit einer der Handlungsweisen zu identifizieren (vgl. Abbildung 7). Die Zeichnung stellt drei Gruppen dar, die in unterschiedlicher Entfernung zum offenen Löwenkäfig stehen. Alle Zuschauerinnen und Zuschauer sind durch ihre Kleidung, insbesondere ihre Kopfbedeckungen – der Zylinder beim Mann, die mit Blumen und anderem Schmuck verzierten Hüte bei den Frauen und sorgfältig gearbeitete Strohhüte für die Jungen und Mädchen – als Mitglieder des Bürgertums zu identifizieren. Aus dem offenen Raubtierkäfig schauen, durch den Zoowärter – zu erkennen an seiner Aufseherkappe – in Schach gehalten, vier Löwenjunge. Eine Gruppe sucht hinter den Pfeilern des Raubtierhauses Schutz, lugt jedoch dicht gedrängt neugierig hinter diesen hervor. Sie spürt zwar eine gewisse Angst, will sich das Spektakel der jungen Raubtiere jedoch nicht entgehen lassen. Die 128 Vgl. Spinnen- oder Klammeraffen im berliner Zoologischen Garten, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2464, 20.09.1890, S. 308f., hier S. 309. 129 A. Marx: Das neue Aquarium in Leipzig, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 135, Nr. 3506, 08.09.1910, S. 405f., hier S. 405. 130 Vgl. ebd. 131 Löwenjunge, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 7, 1890, S. 180f., hier S. 180.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

Abb. 7: „Löwenjunge“ (1890): Inszenierung von ‚wilden‘ Tieren und bürgerlichen Betrachtenden

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

147

148

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

zweite Gruppe hält ebenfalls Dis­tanz, steht aber offen vor dem Käfig. Obwohl einige Kinder in dieser Gruppe noch nach der Hand der Mutter tasten, spricht aus allen Gesichtern und Gesten ansonsten doch das große Interesse ob der Nähe der fremden Tiere, die zwar als Spezies allgemein gefährlich sind, als Jungtiere jedoch spontane Zuneigung auslösen. Zwei weitere Kinder bilden die dritte Gruppe. Eines steht wegen der besseren Sicht auf den Käfig von der zweiten Gruppe entfernt und näher an den Tieren, das zweite wagt es sogar, auf dem Arm des Zoowärters das Löwenjunge zu streicheln. Die Zeichnung enthüllt mit dieser Bildkomposition unterschiedliche Stadien der Annäherung von wohligem Schaudern über ein gesteigertes Bildungsinteresse bis zur völligen Vereinnahmung des Fremden durch Liebkosen. Durch eine derartige Vorstellung der Zootiere und des dazugehörigen adäquaten Verhaltens und Empfindens wurden die Tiere endgültig domestiziert, ihre Anziehungskraft, ihre Exotik verloren sie dadurch jedoch nicht. Der Vorgang des Zähmens und der Unterwerfung hatte seinen Platz – ganz in Anlehnung an die Präsentation von Tieren im Zoo – noch klarer in der Ausstellung von Menschen, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als Phänomen immer häufiger wurde. Die Vorführung andersartiger Menschen in der eigenen Kultur ist einer der Effekte eines jeden Kulturkontaktes und damit so alt wie die Menschheitsentwicklung. Gerade das Zeitalter der Entdeckungen war daher reich an solchen Vorführungen. Mit dem 19. Jahrhundert bekam die Präsentation jedoch in vielerlei Hinsicht eine andere Qualität. Während bis zu dieser Zeit die Fremden als vereinzeltes Kuriosum in verschiedenen gesellschaftlichen Situationen einem eher ausgesuchten Publikum vorgeführt worden waren, setzte spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts eine gewinnorientierte Vermarktung an ein Massenpublikum ein. Damit verband sich eine neue Blickpraktik, bei der die Reaktion schon vorgegeben war. Im großen Stil nutzte der Aussteller Hagenbeck in den siebziger Jahren die Zurschaustellung von ‚exotischen‘ Menschen. Die Nähe zwischen der Ausstellung von Tieren und Menschen zeigte sich augenfällig in seiner Person132 und lässt schon vermuten, dass ähnliche Präsentations- und Rezeptionsmodi bestanden. In den Jahren 1874 und 1875 kampierten sechs Lappländer mit Rentieren im winterlichen Hamburg und Berlin.133 Bis 1890 waren Nubier, Patagonier, Feuerländer, Inder und Kalmücken, Singhalesen, ‚Hottentotten‘, Somali und Massai in deutschen Zoos und Großstädten ausgestellt worden.134 132 Der Hamburger Carl Hagenbeck bezog seine Menschen und Tiere teilweise aus denselben Quellen und nutzte seine Erfahrungen, die er mit der Exposition der einen Spezies machte, bei der Vorführung der anderen. Vgl. Stefan Goldmann: Wilde in Europa. Aspekte und Orte ihrer Zurschaustellung, in: Theye, Wir und die Wilden, S. 243–269, hier S. 254–256. 133 Vgl. ebd., S. 256. 134 Vgl. ebd., S. 257.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

149

Als Plattform für die Inszenierung exotischer Menschen boten sich neben den Wanderausstellungen durch die Zoos insbesondere die Weltausstellungen an. Sie steigerten im Laufe ihrer Geschichte ihre Attraktivität zunehmend mit künstlichen ethnografischen Erlebnissen jenseits der ‚seriöseren‘ Ausstellung von Kunst- und Industrieprodukten in den Haupthallen, bei denen nicht nur die Zeugnisse der materiellen Kultur einer Ethnie, sondern die Menschen selbst zur Schau gestellt wurden. Nahezu jede Welt­ausstellung versuchte, ihre Vorgängerin auf allen Gebieten zu überflügeln. Das betraf auch den Reiz des Exotischen und die Ausstellung indigener Menschen. Zuerst war der Raum, in dem man koloniale Andere antreffen konnte, genau definiert. Von den offiziellen Sektionen wanderte der Exotismus dann jedoch in andere Bereiche, hauptsächlich die Amüsierzonen, die ökonomisch wichtige und beim Publikum beliebte Angebote darstellten. Hier stand nicht vorwiegend die Belehrung, der Schauwert, sondern die Schaulust im Vordergrund:135 „Here the search for scientific objectivity transformed into the expectation of entertainment within an exotic ambience.“136 Nachdem bereits seit der Exposition 1867 in Paris einzelne ethnische Cafés und Restaurants, die mit der Anziehungskraft des Fremden lockten, zum Programm gehört hatten, präsentierten Aussteller 1878 ebenfalls in Paris erstmals lebendes ‚exotisches‘ Anschauungsmaterial, entweder in nachgebildeten Kolonialdörfern oder als Teil der offiziellen anthropologischen Sektion.137 Insgesamt bevölkerten 400 Menschen aus französischen Kolonien in Afrika und Indochina das Ausstellungsgelände. Diese Zahlen steigerten die Organisatoren der folgenden Expositionen durchgängig.138 Den Höhepunkt erreichte diese Ausstellungsmode mit der ‚Midway Plaisance‘ auf der Weltausstellung in Chicago 1893, die ein Synonym für die Vergnügungsmeile späterer Ausstellungen wurde, auf der sich ethnische Dörfer und Straßen oder typische Gebäude mischten mit Freak-Shows, Amüsement-Neuheiten und 135 Christopher Balme nutzt das Konzept des Schauwerts, der über die reine Schaulust hinaus, die nur das Sensationsbedürfnis der Massen befriedigte, auch Belehrung versprach und so dem bürgerlichen Bildungsgedanken entgegenkam. Vgl. Christoper B. Balme: Schaulust und Schauwert. Zur Umwertung von Visualität und Fremdheit um 1900, in: Hans-Peter Bayerdörfer/Bettina Dietz/ Frank Heidemann/Paul Hempel (Hrsg.): Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 63–78; vgl. auch Anhalt, Tiere und Menschen als Exoten, S. 220. 136 Angela Schwarz: „…absurd to make moan over the imagined humiliation and degradation.“ Exhibiting the Colonial Other at World’s Fairs and the Institutionalization of Cruelty, in: Trutz von Trotha/Jakob Rösel (Hrsg.): On Cruelty. Sur la Cruauté. Über Grausamkeit (Siegener Beiträge zur Soziologie, Bd. 11), Köln 2011, S. 539. 137 Vgl. Schwarz, Transfer Transatlantici, S. 83; dies., „…absurd to make moan“, S. 539, 543. 138 Vgl. von Plato, Zwischen Hochkultur und Folklore, S. 55; Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 130: Während der Weltausstellung 1889 in Paris lebten insgesamt rund 100 Soldaten der französischen Kolonialtruppen und etwa 550 Nichteuropäer auf dem Gelände.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

150

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Essensbuden.139 Die größte Zahl ausgestellter ‚exotischer‘ Menschen vor dem Ersten Weltkrieg war 1904 in St. Louis zu sehen, dort wurden mehrere Tausend Angehörige indigener Völker vorgeführt.140 Das deutsche Bürgertum konnte im eigenen Land auf der Berliner Gewerbeausstellung 1896 einen Blick auf die exotischen Menschen der deutschen Kolonien erhaschen, deren Bewohnerinnen und Bewohner in einer Nachahmung ihrer jeweiligen natürlichen und kulturellen Kulisse zur Schau gestellt wurden.141 Hinzu kamen die nahezu unzähligen reisenden Gruppen von indigenen Menschen, die auf Volksfesten und in Zoos Station machten. Das Münchener Oktoberfest beispielsweise war ab Beginn der achtziger Jahre ein bei Ausstellern von Exotik äußerst beliebtes Pflaster. Zwischen 1890 und 1911 fanden sich mit Ausnahme des Jahres 1893 mindestens eine Menschengruppe, meistens jedoch zwei oder drei derartige Ausstellungen auf der Theresienwiese.142 Nicht nur die Zahl der ausgestellten indigenen Menschen stieg von Ausstellung zu Ausstellung an, im Wettbewerb der Nationen und Aussteller entwickelten sich immer wieder neue Präsentationswege, die große Analogien zu denen bei der Ausstellung von Waren aufwiesen.143 Während die Menschen erst nur möglichst bewegungslos vor ihren Hütten stehen oder sitzen sollten, damit sie in Ruhe betrachtet werden konnten, drängten die Veranstalter sie bald dazu, ein vermeintlich ‚typisches‘ Verhalten an den Tag zu legen: „In fact, visitors soon demanded to be offered a lively spectacle.“144 Die Art und Weise, wie die ‚wilden‘ den ‚zivilisierten‘ Menschen präsentiert wurden, kam ihren realen Lebensumständen jedoch nicht im Entferntesten nahe, stattdessen ließ sich eine Vermischung verschiedener kultureller Elemente erleben, die eine ‚gefühlte Exotik‘ oder einen ‚gefühlten Orient‘ erschufen. Wenn es anfangs nur darum ging, statische Szenerien zu betrachten, stand die materielle Kultur, die die vermeintlich ‚wilden‘ Menschen umgab, für Echtheit. Sie stellte „die Attribute bereit, mit denen die Ausgestellten eindeutig als Nicht-Europäer zu identifizieren waren.“145 Diese Attribute mussten jedoch mehr den Erwartungen 139 Vgl. ebd., S. 91; Schwarz, Transfer Transatlantici, S. 86. 140 Dies., „…absurd to make moan“, S. 544. 141 Vgl. Raymond Corbey: Ethnographic Showcases 1880–1930, in: Cultural Anthropology, Bd. 8, Nr. 3, 1993, S. 343. 142 Vgl. Anne Dreesbach: „Neu! Grösste Sehenswürdigkeit! Neu! Zum ersten Male in München!“. Exotisches auf dem Münchner Oktoberfest zwischen 1890 und 1911, in: dies./Helmut Zedelmaier (Hrsg.): „Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen“. Exotik in München um 1900, München/Hamburg 2003, S. 9–34, hier S. 22–28. 143 Vgl. Kapitel 4.1.3. 144 Schwarz, „…absurd to make moan“, S. 543. 145 Nils Müller-Scheessel: To See Is to Know. Materielle Kultur als Garant von Authentizität auf Welt­ ausstellungen des 19. Jahrhunderts, in: Stefanie Samida (Hrsg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Po-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

151

des Publikums entsprechen als der Realität. Der Hintergrund der Szenerie war oft nur gemalt oder bestand aus Attrappen fremdländischer Architektur, die sich an den Sehgewohnheiten des Publikums ausrichteten, das Bilder, ähnlich denen aus den veröffentlichten Reportagen über das Leben der ‚Wilden‘ erwartete.146 Diese Bilder hatten einen klaren Aufbau, der erstens die einzeln oder als Gruppe posierenden Menschen umfasste, zweitens Beispiele ihrer materiellen Kultur vorstellte und drittens einen entsprechenden Hintergrund auswies. Diese Prinzipien finden sich beispielsweise in einer Fotografie der Illustrirte[n] Zeitung aus dem Jahr 1900, die Menschen aus dem heutigen Papua-Neuguinea abbildete (vgl. Abbildung 8). Im Mittelpunkt des Bildarrangements steht eine Gruppe von neun indigenen Frauen und Männern jeden Alters. Aus ihrer Zahl sowie aus der Verteilung auf die Altersstufen und Geschlechter lässt sich schließen, dass es sich vermutlich um Mitglieder einer größeren Familie handelt. Ihre Kleidung besteht lediglich aus Naturfasern oder Stofffetzen, die die Genitalien bedecken. Der Oberkörper, auch der der Frauen, ist unbedeckt. Die Nacktheit der Menschen macht nicht nur ihre für die europäischen Betrachterinnen und Betrachter ungewohnte dunkle Haut sichtbar, sondern ist als Tatsache an sich das sichtbare Zeichen für ihre Fremdheit, die Neugier erregt, die aber gleichermaßen abstößt. Obwohl die Menschen auf den ersten Blick eine entspannte Haltung an den Tag legen, so ist doch ersichtlich, dass es sich um eine vor der Kamera arrangierte Gruppe handelt, da es keinen anderen Grund für die Zusammenkunft gibt, außer den, sich dem Fotografen zu präsentieren. Eingerahmt werden die ‚exotischen‘ Menschen durch Teile ihrer materiellen Kultur: Im Vordergrund des Bildes sind mit einem Baumstamm zum Sitzen und einer wahrscheinlich zum Schutz vor Tieren an einem Pfahl aufgehängten, aus Naturfasern geflochtenen Vorratstasche Gegenstände des Dorflebens zu erkennen. Hinter der Gruppe stehen zwei Hütten vorwiegend aus Palmwedeln, die äußerst primitiv anmuten konnten, da ihnen nicht nur fast jede Einrichtung, sondern sogar ein Teil der Wände fehlten. Den Rahmen beziehungsweise Hintergrund der Fotografie bildet ein dichter tropischer Wald, der für das Auge der Betrachtenden undurchdringlich ist und so trotz der Szene unter freiem Himmel ein Gefühl der Enge hervorruft. Auf das durch derartige Abbildungsschemata geschulte Auge der Betrachtenden gingen die Ausstellungsarchitekten von Weltausstellungen oder anderen Vorführungen indigener Menschen ein, wobei sie sogar, um den Erwartungen der Besucherinnen und Besucher nach so viel ‚Exotik‘ wie möglich weitestgehend nachzukommen, verschiedene Baustile oder sogar konkrete Details verschiedener Gebäude oder Ensembles pularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 157–176, hier S. 168f. 146 Vgl. Goldmann, Wilde in Europa, S. 254–257.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

152

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 8: „Palmstrohhütte und Eingeborene der Nordküste von Neupommern“ (1900): Inszenierung ‚wilder‘ Menschen

vermischten und so die Wirklichkeit künstlich überhöhten.147 Die Berücksichtigung bestimmter vorgeprägter Vorstellungen des Publikums war schlicht konstitutiv für den 147 Vgl. Wyss, Bilder von der Globalisierung, S. 89.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

153

(ökonomischen) Erfolg einer Ausstellung. Wenn die Zurschaustellung keine Anschlussmöglichkeit für die Imagination des Publikums bot, wurde sie schnell zu einem (finanziellen) Misserfolg.148 Um die Erwartungen des Publikums nach noch größerer Authentizität zu erfüllen, gingen spätere Expositionen sogar dazu über, die lebenden Exponate ihren vermeintlichen Alltag in einer „narrative[n] Szenenabfolge“149 vorspielen zu lassen, häufig nach einem festen, sich regelmäßig wiederholenden Zeitplan.150 Die ‚Exotik‘ sollte ganz den Erwartungen der Zuschauerinnen und Zuschauer entsprechen, wozu die Handlungen auf vermeintlich typische Akte reduziert und diese als ästhetischer Eindruck konsumiert wurden. Vorbild dafür waren beispielsweise die bereits genannten Schauen von Carl Hagenbeck, der schon in den siebziger Jahren seine ‚Lappländer‘ beim Stillen der Säuglinge oder Melken der Rentiere präsentiert hatte.151 Im Kabylendorf der Weltausstellung 1889 konnte die Öffentlichkeit sogar bei einer Geburt dabei sein.152 Auf der Ausstellung in St. Louis im Jahr 1904, auf der mehrere Tausend ‚exotische‘ Menschen vorgeführt wurden, war die wöchentliche Schlachtung eines Hundes durch Mitglieder des auf den Philippinen beheimateten Volkes der Igorot, den sie dann zerlegten, zubereiteten und verspeisten, eines der beliebtesten Ereignisse der Exposition.153 Auf regionalen Events in Deutschland, wie beispielsweise dem Münchener Oktoberfest, durfte eine narrative Inszenierung der ‚Exoten‘ ebenfalls nicht fehlen. Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts präsentierten die Schausteller dort etwa eine Gruppe ‚Feuerländer‘ in einer Holzbaracke, die in ihrem Inneren ringsum mit zwei erhöhten Zuschauerreihen umgeben war und in deren Mitte sich eine Hütte und eine Feuerstelle befanden, um die sich die Ausgestellten zu versammeln hatten. Während dieser Ausstellungsaufbau an sich stark an ein lebendes Bild erinnerte und eher einen musealen Charakter hatte, erweckten die Performances von typischen Alltagshandlungen, zu denen die vorgeführten Menschen angehalten waren – unter anderem stellten die Feuerländer Gegenstände her, die dann als Souvenirs verkauft wurden oder nahmen nach einem festen Zeitplan ihre Mahlzeiten ein und übten sich im Bogenschießen –, 148 Vgl. Helmut Zedelmaier: Die ungeheure Neugierde der Zivilisierten. Zehn Feuerländer in München 1881/1882, in: ders./Dreesbach, „Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen“, S. 53–77, hier S. 60. 149 Gabriele Dürbeck: Samoa als inszeniertes Paradies. Völkerausstellungen um 1900 und die Tradition der populären Südseeliteratur, in: Grewe, Die Schau des Fremden, S. 69–94, hier S. 69. 150 Vgl. Schwarz, „…absurd to make moan“, S. 544; Goldmann, Wilde in Europa, S. 257; vgl. von Plato, Zwischen Hochkultur und Folklore, S. 55; Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 130. 151 Vgl. Goldmann, Wilde in Europa, S. 256. 152 Vgl. Wyss, Bilder von der Globalisierung, S. 84. 153 Vgl. Schwarz, „…absurd to make moan“, S. 557.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

154

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

den Anschein eines Theaterstücks, das aber von den Besucherinnen und Besuchern als Realität aufgefasst wurde.154 Die Attraktivität dieser Inszenierungen, ob nun auf Weltausstellungen oder auf Volksfesten und in Zoos, stieg dadurch noch an, dass die Imagination des Publikums in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. Was die Zuschauerinnen und Zuschauer bei ihren Beobachtungen sahen beziehungsweise sehen sollten, veranschaulichten ihnen nochmals die Instruktionen in begleitenden Programmheften, Werbekampagnen oder Presseartikeln.155 Als „mediale[s] Gesamtarrangement[ ]“156 mit den schon geschilderten Kulissen und Requisiten entstand ein inszenatorischer Zusammenhang, der das Publikum auf das Äußerste faszinierte. Trotz dieses offensichtlich inszenatorischen Charakters wurde die Präsentation häufig als authentisch begriffen.157 Die Gäste nahmen die Darstellung, die ihrem klischeehaften Bild entsprach, trotz – oder gerade wegen – ihres Bildungshungers als echt wahr und versuchten, der Szene so nahe wie möglich zu kommen, und das nicht nur im übertragenen, sondern auch im konkreten Sinne: Die Betrachterinnen und Betrachter drängten sich, wenn möglich, sogar direkt zwischen die ausgestellten Menschen, so dass bisweilen eine extrem klaustrophobische Atmosphäre entstand.158 Wem die Betrachtung exotischer Menschen nicht ausreichte, konnte sich ebenfalls in forschender Absicht mit den ethnologischen Phänomenen in der eigenen Gesellschaft, im eigenen Land beschäftigen. Die ‚ethnologische Reise‘, also das touristische Interesse an der Lebensweise des unbekannten, in seiner gesellschaftlichen Entwicklung als rückständig empfundenen Menschen, machte das Leben derjenigen zum Objekt touristischer Neugier, die als der eigenen sozialen Gruppe unterlegen eingestuft wurden. Es galt, das „Ferne in der Nähe“159,den „next-door exoticism“,160 zu entdecken.161 Während sich das folkloristisch verklärte frühere Leben und die zeitgenössische Le154 Vgl. Zedelmaier, Die ungeheure Neugierde der Zivilisierten, S. 62. 155 Vgl. ebd., S. 63; Dürbeck, Samoa als inszeniertes Paradies, S. 93. 156 Ebd. 157 Vgl. von Plato, Zwischen Hochkultur und Folklore, S. 55. 158 Vgl. Schwarz, „…absurd to make moan“, S. 557; Goldmann, Wilde in Europa, S. 85. 159 Malte Steinbrink/Andreas Pott: Global Slumming. Zur Genese und Globalisierung des Armuts­ tourismus, in: Karlheinz Wöhler/Andreas Pott/Vera Denzer (Hrsg.): Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens, Bielefeld 2010, S. 247–270, hier S. 254. 160 Schwarz, The Regional and the Global, S. 101. 161 Vgl. allgemein zu der Verwandtschaft der Thematiken Alice von Plato: Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/ New York, NY 2001. Die Autorin untersucht die Analogien zwischen der Darstellung ‚exotischer‘ Menschen und vermeintlich historischer Szenerien aus dem eigenen Land und fragt damit neben der Anziehungskraft der Ferne nach Formen der Exotik.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

155

benswelt der Bauern vornehmlich in den ethnologisch-folkloristischen Abteilungen der Weltausstellungen oder in Freilichtmuseen niederschlug, konnte das unbekannte Leben der Arbeiter, der Armen oder sogar der Kriminellen jenseits jeder Ausstellung besichtigt werden. Die Strömung der ‚Volkskultur‘ zwischen 1850 und 1900 hatte das Ziel, eine eigene (nationale) Vergangenheit zu dokumentieren, auf die die Bevölkerung sich im Zuge nationaler Diskurse beziehen konnte, die jedoch durch die Auswirkungen der Indus­ trialisierung zu verschwinden drohte. Die Orientierung an diesem Ziel hatte allerdings einen ähnlichen Effekt, wie er der Ausstellung kolonisierter Völker anhaftete: Die realen Existenzbedingungen traten zugunsten malerischer Szenarien in den Hintergrund, so dass die jeweils ausgestellten Trachten oder Objekte nicht das tatsächliche vergangene oder noch zeitgenössische Bauernleben abbildeten, sondern vielmehr einen Idealzustand inszenierten. Gerade diese Inszenierung übte aber auf die gleiche Weise wie die Darstellung exotischer Szenarien auf die Besucherinnen und Besucher eine starke Anziehungskraft aus.162 Die Faszination „speiste sich aus dem Spannungsverhältnis des ‚Fremden im Eigenen‘, visualisierten die dort ausgestellten bunten Trachten, die kunstvoll verzierten Gegenstände des Hausgewerbes oder die archaischen Bauernhäuser doch ein pittoreskes Fremdbild des Vertrauten.“163 Den Ausgangspunkt der Volkskultur auf Weltausstellungen in Form von ethnografischen Dörfern und historischen Ensembles bildete der ‚Parc étranger‘ in Paris 1867, in dem verschiedene Nationen zu ihrer Selbstcharakterisierung auf idealisierte ethnografische Besonderheiten in Gebäude- oder Kleidungsform zurückgriffen. Ab der Weltausstellung in Wien gehörte die Präsentation von ‚Musterhäusern‘ und später von ganzen Dörfern sowie die Ausstellung von Trachten offiziell zum Programm, zumeist als Teil ethnologischer Abteilungen.164 Seit dieser Zeit waren diese Gebäude, vorwiegend stilisierte Bauernhäuser, mit Menschen versehen, die vorgaben, diese Häuser zu bewohnen. Als vermeintlich typische Landbevölkerung der Region, der das Gebäude zugeordnet war, sollten sie die Echtheit des Ensembles garantieren. Ihre Performances gehorchten indes denselben inszenatorischen Praktiken wie die der ‚exotischen‘ Menschen: Sie trugen als original gekennzeichnete Trachten, simulierten Feste und Tanzveranstaltungen 162 Vgl. Wyss, Bilder von der Globalisierung, S. 212–215; von Plato, Zwischen Hochkultur und Folklore, S. 51; Schwarz, The Regional and the Global, S. 100f.; Wörner, Vergnügung und Belehrung, S. 3–6. 163 Ebd., S. 6. 164 Vgl. ebd., S. 50–57, 73, 150; Schwarz, The Regional and the Global, S. 103–106. Vgl. auch dies.: Destination Past. Showcasing History and Historical Time as an Attraction at World Exhibitions, in: Flippo Carlà-Uhink/Florian Freitag/Sabrina Mittermeier/Ariane Schwarz (Hrsg.): Time and Temporality in Theme Parks (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 4), Hannover 2017, S. 43–62, hier S. 50f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

156

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

und demonstrierten Fertigkeiten bei der Herstellung von Waren der Hausindustrie. Den Höhepunkt folkloristischer Inszenierungen bildete das ‚Schweizer Dorf‘ auf der Welt­ ausstellung 1900 in Paris. Es wurde von mehr als 300 Schweizerinnen und Schweizern in Tracht bewohnt, die ein stark idealisiertes Bild vom Leben der Alpenbevölkerung vermittelten. Unter anderem fanden mehrmals täglich Viehabtriebe statt, die ‚Bewohnerinnen‘ und ‚Bewohner‘ feierten Frühlings- und Erntefeste, es gab Jodelvorführungen und Kirchprozessionen, Dorftänze, Volksgesänge, Alphornkonzerte und Winzerfeste.165 Vergleicht man die Rolle, die indigene Völker und die als typische ländliche Bevölkerung gekennzeichneten Gruppen auf Weltausstellungen spielten, so lässt sich feststellen, dass das Publikum die Menschen mit demselben ästhetisierenden touristischen Blick betrachtete, der diese auf eine bestimmte Rolle festlegte und sie als Individuum nicht wahrnahm. Selbst wenn die Darstellerinnen und Darsteller der folkloristischen Szenerie vielleicht nicht als der eigenen Gesellschaftsgruppe derart unterlegen galten, wie die andersfarbigen Menschen aus den Kolonien, sondern als romantisierter Teil der eigenen nationalen Kultur, so schienen sie doch fremd genug, um durch die Betrachtung zum touristischen Objekt gemacht zu werden. Gleiches galt für weitere Landsleute, die das Bürgertum aufgrund sozialer oder gesundheitlicher Unterschiede der eigenen Kultur gegenüber als sehr fremd empfand. So wurden die Wohnviertel der Arbeiterklasse ebenso wie Nervenheilanstalten, Krankenhäuser und Gefängnisse zu touristischen Anziehungspunkten, zu deren Besichtigung es teilweise nur eines ‚kleinen Spaziergangs‘ in ein benachbartes Stadtviertel bedurfte. Was als „Erkunden von Wirklichkeit zum Zweck ihrer Humanisierung“166 Ende des 18. Jahrhunderts unter der Führung aufgeklärter Reformer begann, entwickelte sich schließlich zum massenhaften Besuch einer touristischen Sehenswürdigkeit, die auf keinem Tour-Plan für Paris, London oder New York mehr fehlen durfte. Den Sozialreformerinnen und -reformern folgten bald die ‚sozialen Entdeckerinnen und Entdecker‘, die keine reformerischen Absichten mehr verfolgten, sondern aus einer Mischung aus Schaulust und Bildungshunger die ‚dunkle Welt‘ erkunden wollten, die gleich neben ihrer eigenen vermeintlich sicheren Lebenswelt lag.167 In Großbritannien besichtigten die Londoner das Innere der Docks, wo sie mit in Massen zur Arbeit strebenden Menschen aus verschiedenen Ländern, „the large and motley crowd of labourers“ mit ihren „dusky visages and foreign costumes“ als „curious and picturesque“168 konfrontiert 165 Vgl. Wörner, Vergnügung und Belehrung, S. 79f., 164. 166 Harro Zimmermann: Irrenanstalten, Zuchthäuser und Gefängnisse, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 207–213, hier S. 213. 167 Vgl. Carol Poore: The Bonds of Labor. German Journeys to the Working World. 1890–1990, De­ troit, MI 2000, S. 21. 168 Routledge’s Jubilee Guide to London and its Suburbs, London 1887, S. 166.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Touristische Inszenierungen und Blickpraktiken des deutschen Bürgertums

157

wurden. In den USA besuchten die New Yorker die „Sordid Underworld“169 von Chinatown, in Frankreich zog es bürgerliche Touristinnen und Touristen in die wenigen nach der Haussmannisierung verbliebenen Elendsviertel von Paris170 und in Deutschland durchstreiften die Berliner Bürgerlichen den Stadtteil Wedding, um den Schauplatz spektakulärer Morde zu besichtigen.171 Um die Jahrhundertwende hatte sich das ‚Slumming‘172 bereits als touristische Praktik mit festen Elementen etabliert, hatten sich „die Slums von ‚No go Areas‘ zu Touristenattraktionen in der eigenen Metropole“173 entwickelt. Sie wurden häufig verbal und inszenatorisch gleichgesetzt mit Reisen in ‚exotische‘, weit entfernte Länder, indem dieselben Diskurse von Fremdheit, Unzivilisiertheit und Eroberung eine Kolonialisierung der Lebenswelt der Arbeiterschaft, der ‚Fremden in der eigenen Gesellschaft‘, bewirkten.174 Vermittelt wurden diese Diskurse insbesondere durch Zeitungen, illustrierte Zeitschriften oder Reiseberichte, die nicht selten dramatische Schilderungen und eindrucksvolle Bilder lieferten.175 Die endgültige Touristisierung, also die Umwandlung der Wohngegend in eine interessante Sehenswürdigkeit, setzte dann mit dem internationalen Städtetourismus, insbesondere nach New York, ein. Hierfür boten sich speziell die Einwandererviertel an, womit eine „Ethnisierung des Slumming“176 stattfand. Ähnlich wie die ethnischen Dörfer auf den Weltausstellungen oder Völkerschauen wurden Harlem und die Bronx zur exotischen 169 William Brown Meloney: Slumming in New York’s Chinatown. A Glimpse into the Sordid Underworld of the Mott Street Quarter, where Elsie Sigel Formed Her Fatal Associations, in: Munsey’s Magazine, Bd. 41, Nr. 6, 1909, S. 818–830. 170 Dominique Kalifa: Das Gegenstück des Boulevards: La tournée des grands-ducs und der Elendstourismus, in: Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hrsg.): Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung (edition lendemains, Bd. 25), Tübingen 2012, S. 67–80. 171 Vgl. Rolf Bäker: Bürgertum und Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert. Analysen zu sozialpolitischen Zeitschriftenbeiträgen in der Phase der Hochindustrialisierung Deutschlands, Frankfurt am Main/ Bern/New York, NY/Paris 1990, S. 228. 172 Vgl. zu diesem Begriff u.a. Seth Koven: Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton/Oxford 2006; Allan Mayne: The Imagined Slum. Newspaper Representation in Three Cities, Leicester/London/New York, NY 1993, S. 127f. Vgl. zum Forschungsstand Kapitel 2.2.2. 173 Angela Schwarz: „East-Enders“. Zur Konstruktion des neugierigen Blicks auf die städtischen Unterschichten in der Illustrated London News, in: Natascha Igl/Julia Menzel (Hrsg.): Illustrierte Zeitschriften um 1900. Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016, S. 281–307. 174 Vgl. Poore, The Bonds of Labor, S. 21–23; Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, S. 522–524. 175 Vgl. Bäker, Bürgertum und Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert, S. 228; Schwarz, „East-Enders“, S. 285. Ein eindrucksvolles Beispiel einer Abbildung aus der Zeitschrift „Punch“ aus dem Jahr 1884, die zeigt, wie Mitglieder der Londoner Mittelschicht die Bewohnerinnen und Bewohner der Londoner ‚Slums‘ bestaunen, analysiert Angela Schwarz in ihrer Untersuchung des Londoner East-Ends als Touristenattraktion, vgl. ebd., S. 290f. 176 Steinbrink/Pott, Global Slumming, S. 261.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

158

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Attraktion.177 Die Slumming-Tour fand sich in den Reiseführern bisweilen sogar so angelegt, als schlenderten die Touristengruppen die Midway einer Welt­ausstellung entlang. In New York empfahlen sie erst den Besuch der italienischen Bezirke, dann folgten ‚Chinatown‘, ‚The Bowery‘, das ‚Russische Viertel‘ und schließlich ‚Kleinjudäa‘ in schneller Folge hintereinander.178 Zwischen 1890 und 1930 wuchs der Anteil der Empfehlungen für Besuche verschiedener ethnischer oder klassenspezifischer Viertel in den Reiseführern für die USA stetig.179 Mehr und mehr wohlsituierte Mittelklasseangehörige, vorwiegend aus Europa, besuchten Ende des Jahrhunderts diese Bereiche, die zur Mitte des Jahrhunderts noch gemieden worden waren. Die Verhältnisse, die sie dort antrafen, interpretierten sie als farbenfrohe Attraktion, von der zwar keine soziale Gefahr ausging, die aber gerne ein gewisses Schockiertsein bewirken durfte. Diese Sicht existierte unabhängig von der Tatsache, dass es sich für die Bevölkerung der Stadtteile schlicht um ihre realen Lebensbedingungen handelte. Wo das, was von den Touristinnen und Touristen für typisch gehalten wurde, Gefahr lief, Veränderungen zu unterliegen, wurde es konserviert und künstlich wiederhergestellt.180 Diese Touristisierung des Slums zeigte sich außerdem in der Tatsache, dass, während zur Jahrhundertmitte noch zynische Journalisten oder Polizisten die Tourismusgruppen durch die Slums geführt hatten, es um die Jahrhundertwende mehrere Firmen in den Städten gab, die solche Touren kommerziell anboten.181 Darüber hinaus erregten speziell in den europäischen Großstädten und überall in den USA die im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts gegründeten Taubstummen- und Blindenheime, Nervenheilanstalten und Gefängnisse das Interesse in- und ausländischer Tourismusgruppen.182 Reiseführer und die Berichte in anderen Medien beschrieben die neuen Gefängnisse und Institutionen, vermittelten ein bestimmtes Bild von dem, was zu sehen war, und wiesen die Touristinnen und Touristen an, diese Sehenswürdigkeiten 177 Vgl. ebd.; Catherine Cocks: Doing the Town. The Rise of Urban Tourism in the United States, 1850–1915, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 2001, S. 189–191. 178 Vgl. ebd., S. 191. 179 Vgl. David Gilbert/Claire Hancock: New York City and the Transatlantic Imagination. French and English Tourism and the Spectacle of the Modern Metropolis, 1893–1939, in: Journal of Urban History, Bd. 33, Nr. 1, 2000, S. 77–107, hier S. 96. Das ethnologische Sightseeing begann teilweise schon auf der Atlantiküberfahrt, auf der die Passagiere der ersten und zweiten Klasse gerne die dritte Klasse und ihre Passagiere besichtigten, und setzte sich an Land direkt mit der Beobachtung der Einwanderungsprozeduren auf Ellis Island fort. Vgl. ebd., S. 94f. 180 Vgl. ebd., S. 99. 181 Vgl. ebd. 182 Vgl. Zimmermann, Irrenanstalten, Zuchthäuser und Gefängnisse, S. 203–207; John F. Sears: Sacred Places, American Tourist Attractions in the Nineteenth Century, 2. Aufl., Amherst, MA 1998, S. 87f.; Alex Potts: Picturing the Modern Metropolis. Images of London in the Nineteenth Century, in: History Workshop, Bd. 26, Nr. 1, 1988, S. 28–56, hier S. 37.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

159

zu besuchen.183 Die Reportagen in populären Zeitschriften führten die Leserschaft in Volksbrausebäder,184 zentrale Großküchen,185 Kinderverwahreinrichtungen186 oder Gefängnisse.187 Diejenigen Bewohnerinnen und Bewohner der Großstadt, die unter prekären familiären, beruflichen und räumlichen Bedingungen lebten, sollten, so schilderten es die Reportagen, durch die vorgestellten Einrichtungen zur sozialen und hygienischen Besserung nicht nur versorgt, sondern darüber hinaus erzogen werden. Die Belehrung in den Reportagen degradierte die (potenziellen) Nutzerinnen und Nutzer oder Insassinnen und Insassen der Einrichtungen und schloss sie aufgrund ihres Unverstandes aus der bürgerlichen Gesellschaft aus – zumindest so lange, bis sie die Ermahnungen umsetzten und das von ihnen erwartete soziale Verhalten an den Tag legten. Solange dies nicht der Fall war, konnten die Besucherinnen und Besucher sie ohne weiteres mit einem Blick betrachten, der sie nicht als ebenbürtiges Individuum wahrnahm, sondern als Objekt der touristischen Neugier, aus dessen Erforschung die Schauenden Lehren ziehen und mit dessen Betrachtung sie den eigenen Horizont erweitern konnten.188 Der touristische Blick, gleichgültig, ob er nun auf Tiere, außereuropäische Menschen oder unterprivilegierte Angehörige einer west- und mitteleuropäischen Nation fiel, blieb immer derselbe. Die Betrachtenden suchten das Andere, über dessen Schauwert sie sich dann selbst definieren konnten, sei es die Fremdheit des ‚wilden‘ Tieres oder Menschen oder das Fremde in der eigenen Gesellschaft, wozu eben auch die Arbeiterschaft in der Fabrik gehörte.

4.2. Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

Von ihrem Entstehen Anfang des 19. Jahrhunderts an hatte die Fabrik auf Außenstehende vor allen Dingen fremd und bedrohlich gewirkt und war, sofern man mit ihr 183 Insbesondere Reiseführer für Nordamerika wiesen schon seit den achtzehnhundertdreißiger Jahren auf diese Attraktionen hin. So kamen manche Einrichtungen in den USA auf fünfstellige Besucherzahlen pro Jahr. Vgl. Sears, Sacred Places, S. 89. 184 Vgl. Polytechnische Mitteilungen. Volksbrausebäder in Großstädten, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 194, Nr. 2428, 11.01.1890, S. 47. 185 Vgl. A. O[skar] Klaußmann: Die Berliner Centralküche, in: ebd., Bd. 114, Nr. 2960, 22.03.1900, S. 417f. 186 Vgl. ders.: Berliner Bilder. In der Kinderkrippe, in: ebd., Nr. 2964, 19.04.1900, S. 568–570. 187 Vgl. Georg Stemmer: Unser modernes Gefängniswesen, in: ebd., Bd. 135, Nr. 3504, 25.08.1910, S. 327–329. 188 Darüber hinaus ging nur noch die Betrachtung von Menschen, die aufgrund abnormer körperlicher Eigenschaften als Kuriositäten, als ‚Freaks‘, bezeichnet und ausgestellt wurden. Vgl. Bogdan, Freak Show; Stammberger, Monster und Freaks.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

160

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

kein wirtschaftliches Interesse verband, so weit wie möglich gemieden worden. Das änderte sich erst mit der im letzten Jahrhundertdrittel aufkommenden Technikbegeisterung, die unter anderem die Fabrik zu einem zentralen Ort des bürgerlichen Erkenntnisinteresses werden ließ. Zeitgleich entwickelte sich auf Seiten der Firmen ein Interesse daran, als Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit Besuchern und bisweilen auch Besucherinnen die Fabriktore zu öffnen und auf diese Weise ihr Unternehmen positiv zu präsentieren. So wurde der Weg geebnet, Fabriken als Ausflugsziele und schließlich als touristische Sehenswürdigkeiten zu begreifen.

4.2.1. Die frühe Wahrnehmung der Fabrik: Ein bedrohlicher Ort hinter hohen Mauern

Die Fabrik war der zentrale Ort der Industrialisierung. Die Fabrikproduktion – die Fertigung von Waren an einem Platz, an dem Arbeiterschaft und Maschinen versammelt waren – war eines der hervorstechenden Merkmale dieser neuen Epoche.189 Entscheidend gegenüber protoindustriellen arbeitsteiligen Produktionsformen wie der Manufaktur war der Einsatz von Maschinen.190 Während um 1840 große Fabriken eher 30 bis 50 Arbeiter hatten, existierten um 1910 Werke mit Tausenden von Beschäftigten. Diese Massenbetriebe erschienen „als eine übermächtige arbeitsteilige Maschine“,191 in der es nicht auf die Arbeit des Einzelnen ankam, sondern nur auf die Technik, die er bediente und der er diente. Entsprechend war die ganze Fabrikanlage auf die Bedürfnisse der Technik, nicht auf die des Menschen ausgerichtet. Die Architektur spiegelte den Aufbau und die Anordnung der Maschinen im arbeitsteiligen Produktionsprozess wider,192 bauliche Zugeständnisse an die Bedürfnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter wie ausreichende Beleuchtung und Belüftung, sanitäre Einrichtungen und Maßnahmen zum Arbeitsschutz fehlten vorerst weitestgehend. Strenge Fabrikordnungen sorgten ohne Rücksicht auf die davon betroffenen Menschen dafür, dass der Produktionsablauf reibungslos funktionierte.193 189 Vgl. Toni Pierenkemper: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 29), 2. Aufl., München 2007, S. 18; Axel Kuhn: Die industrielle Revolution, in: Armin Hermann/Wilhelm Dettmering (Hrsg.): Technik und Kultur, Bd. 10: Technik und Gesellschaft, Düsseldorf 1993, S. 135–149, hier S. 135. 190 Vgl. Pierenkemper, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, S. 21. 191 Wolfgang Ruppert: Die Fabrik. Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, München 1983, S. 19f. 192 Vgl. ebd., S. 61. 193 Vgl. Axel Kuhn: Unternehmer und Arbeiter. Die gesellschaftliche Realität im 19. Jahrhundert, in: Hermann/Dettmering, Technik und Kultur, Bd. 10, S. 178–204, hier S. 184–186.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

161

Die tatsächlichen Vorgänge hinter hohen Mauern verbergend gab die Fabrik nur ihre Neben- und Abfallprodukte in Form von Lärm, Dreck und Gestank preis und wurde anhand dieser Emissionen von ihrer Umwelt be- beziehungsweise verurteilt. Die Bewohnerinnen und Bewohner reagierten mit Ablehnung und Angst auf die neuen, unbekannten ‚Nachbarn‘, die sich mit Beginn der Industrialisierung mitten in den Städten ansiedelten. Mit der Gewerbefreiheit wurde es möglich, Fabriken innerhalb der bestehenden Bebauung neu zu errichten oder vorhandene Werkstätten zu erweitern. Das Bild der Städte änderte sich dadurch zum Teil gravierend. An die Stelle von Gärten und Höfen traten rauchende Schornsteine und häufig in den Augen der zeitgenössischen Betrachterinnen und Betrachter wenig ansehnliche Fabrikgebäude.194 Obschon es sich hierbei selbst in den späteren Zentren der Industrialisierung hauptsächlich noch um eher kleinere Fabriken handelte, die dem traditionellen Handwerk nahestanden, war die Veränderung in der Wahrnehmung der Nachbarn doch enorm. Die Anlieger bemängelten die Hässlichkeit der Anlagen, die den für sie gewohnten Blick verschandelten,195 beklagten die Geräuschkulisse, die nicht nur den Werktag, sondern ebenso die Nacht und den Sonntag ruinierte, monierten die Geruchsbelästigung und den Dreck, vor denen sie nicht einmal im Innern des eigenen Hauses sicher waren.196 Schließlich machte das Bürgertum auf die Gefahr aufmerksam, die von den Fabriken in ihrer Nachbarschaft einerseits durch die Wahrscheinlichkeit einer Explosion oder zumindest eines Brandes,197 andererseits durch die ungesunden Dämpfe ausginge.198 Die heftigen ablehnenden Reaktionen ließen sich vorwiegend darauf zurückführen, dass die neuen, plötzlich hereinbrechenden Eindrücke, die die industrielle Produktion in Fabriken mit sich brachte, noch nicht von bestehenden Erfahrungen erfasst werden

194 Vgl. Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 62. 195 Vgl. z.B. Magdeburgische Zeitung, 09.10.1890, zit. nach: Franz-Josef Brüggemeier/Michael Toyka-Seid (Hrsg.): Industrie-Natur. Lesebuch zur Geschichte der Umwelt im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York, NY 1995, S. 79f. 196 Vgl. z.B. Beschwerden über eine chemische Fabrik, Schreiben vom 12. August 1828, BLHA, Bestand: Rep. 30 – Polizeidirektorium/-präsidium Potsdam – Akten (1790–1945), Signatur: Rep. 30, Bln C Nr. 2073, Blätter 27–33; Gesuch Ulmer Bürger, Oktober 1862, HStAS, Bestand: E 146 III, Signatur: E 146 III Bn 6772. Vgl. auch Heiner Stahl: Lärm machen. Geräuschkulissen, (Hör-) Erfahrungen und soziale Akustik in Essen, Erfurt und Birmingham (1910–1960), Habilitationsschrift, Siegen 2019, Kap. 3.1 Geräuschkulissen der Stadt: Fabrik. 197 Vgl. Helmut Lackner/Gerhard A. Stadler: Fabriken in der Stadt. Eine Industriegeschichte der Stadt Linz, Linz 1990, S. 464. 198 Vgl. z.B. Beschwerden über eine chemische Fabrik, Schreiben vom 12. August 1828, BLHA, Bestand: Rep. 30 – Polizeidirektorium/-präsidium Potsdam – Akten (1790–1945), Signatur: Rep. 30, Bln C Nr. 2073, Blätter 27–33.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

162

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

konnten.199 Verunsicherung und Verärgerung waren die instinktiven Reaktionen auf die Bedingungen der Industrialisierung mit ihrer Lautstärke, ihrem Gestank und ihrer Geschwindigkeit im direkten Wohn- und Lebensumfeld der Betroffenen. Der Alltag in der Nähe von Fabriken bestand aus dauerhafter Alarmbereitschaft.200 Hinzu kam das Gefühl einer existentiellen Bedrohung, ausgelöst durch die mangelnde Transparenz der Industrieproduktion.201 Daraus erwuchs mitunter massive Empörung gegen die Ursache für diese Ängste. Die Spuren der Auseinandersetzungen, die um die Etablierung von Fabrikanlagen inmitten bewohnter Stadtbezirke ausgetragen wurden, ziehen sich durch die Akten des 19. Jahrhunderts.202 Erfolg erzielten Klagen jedoch nur dann, wenn eine klare ökonomische Schädigung des Klägers vorlag, also eine Fabrik den Wert oder Nutzen von Eigentum minderte, indem beispielsweise eine Wohnung durch Rußniederschlag unbewohnbar wurde. Klagen, die darauf fußten, dass das Wohlergehen allgemein beeinträchtigt wurde, hatten dagegen kaum Aussichten, im Sinne des Klägers beschieden zu werden.203 Die Lösung bestand zumeist nur in einer Flucht aus der direkten Nachbarschaft der Fabrik. Die wohlhabenderen Bürgerfamilien zogen zunehmend an den Stadtrand, um den Auswirkungen der Produktion zu entfliehen.204 Selbst die Fabrikanten siedelten sich nach und nach abseits ihrer Fabriken und deren Emissionen an. So ließ beispielsweise die Familie Krupp noch 1860 ein repräsentatives Wohnhaus auf dem Werksgelände bauen, aus dem sie aber schon nach drei Jahren aufgrund des Lärms und Qualms des Werkes floh.205 Bisweilen zogen auch die Fabriken aus den Städten in weniger dicht besiedelte Gebiete.206 In jedem Fall trat eine räumliche Trennung zwischen dem Bürgertum und der Fabrik ein, die die Konflikte zwar in einem gewissen Maße löste, ein Verständnis für die Vorgänge in der Fabrik jedoch nicht förderte. 199 Vgl. Gerd Spelsberg: Rauchplage. Hundert Jahre saurer Regen, Köln 1984, S. 19. 200 Ulrike Gilhaus: „Schmerzenskinder der Industrie“. Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen 1845–1914 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 52), Paderborn 1995, S. 481f. 201 Ebd., S. 450. 202 Vgl. Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 62; Franz-Josef Brüggemeier/Thomas Rommelspacher: Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840–1990, Essen 1992, S. 20–22; Spelsberg, Rauchplage, S. 55–65. Spelsberg stellt die ausgedehnten bürgerlichen Proteste gegen den Ausbau des Gewerbes zu Fabriken anhand des Ortes Stolberg vor. In der Stadt, die Teil eines der ältesten deutschen Industriegebiete war, begannen Mitte des 19. Jahrhunderts großangelegte, hier zumeist sogar erfolgreiche Proteste gegen die immer stärkere Industrialisierung der Stadt. 203 Gilhaus, „Schmerzenskinder der Industrie“, S. 170. 204 Vgl. Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 63; Spelsberg, Rauchplage, S. 46. 205 Vgl. ebd. 206 Vgl. Brüggemeier/Rommelspacher, Blauer Himmel über der Ruhr, S. 20; Sieferle, Fortschrittsfeinde?, S. 63.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

163

Doch nicht nur auf direkte städtische Nachbarn machte die wachsende Zahl von Fabriken einen negativen, weil ihre Lebensqualität mindernden Eindruck. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Umweltbeeinträchtigung durch die Industriewerkstätten derart zu, dass sie über die direkte Nachbarschaft hinausging. Ganze Städte begriffen die Reisenden nun als unansehnliche Fabriksiedlungen. Ihr Kennzeichen, das nicht nur den Einwohnerinnen und Einwohnern, sondern speziell den Vorbeireisenden auffiel, bestand in einer Rauchglocke, die über der Bebauung und der umliegenden Landschaft lag. Orte, die ansonsten in den Augen fremder Betrachterinnen und Betrachter ein freundliches Bild hätten bieten können, erschienen doch für einen schönen Ausblick zu sehr „von Kohlenstaub geschwärzt, von Hochöfen überqualmt.“207 Das ansonsten „freundliche Essen“ mit den „neuen, geschmackvollen Häuser[n] vor der Stadt“ fiel dem Fußwanderer insofern auf, als „die schwarzgefärbten Straßen […] an die Nähe der Kohlenwerke [erinnern], deren Betrieb sich in den zahlreichen, ihren schwarzen Qualm ausschnaufenden Rauchfängen ringsum verkündet.“208 Zu der ständigen Gegenwart des Rußes kam die Geruchsbelästigung. Von beidem konnten sich die Vorbeireisenden ebenso wie die bürgerlichen Einwohnerinnen und Einwohner der Industriestädte nicht mehr fernhalten, da sich die Emissionen weit über den Nahbereich des Betriebes ausbreiteten. Hatten die Bürgerfamilien noch durch eine Flucht aus den Industriebezirken der Stadt versucht, sich den Einflüssen der Fabrik zu entziehen, mussten sie nun feststellen, dass das Fernhalten nichts mehr half. Gestank und Rauch machten nicht an der Grenze zur Wohngegend halt.209 Insbesondere durch den Schwefelausstoß der Metallhütten, die schwefelhaltige Erze verarbeiteten, verwelkten die Bäume und Hecken um die Fabrik und starben ab.210 Als besonders frappierend sahen die Vorbeireisenden den Gegensatz zwischen der von der Industrie noch unberührten Natur und der durch sie zerstörten Landschaft. Seinen Eintritt ins Industriegebiet an der Ruhr schilderte der Arnsberger Gymnasiallehrer Franz Ignaz Pieler als Schritt von einer als „freundlich“ empfundenen Natur, bestehend aus „waldigen Höhen“, „Wiesengründen“ und „heitern ländlichen Ortschaften“, in eine Ebene voller „Rauchschlünde“,211 durch deren Dampfwolken der Wanderer kaum die Kirchtürme

207 Levin Schücking: Von Minden nach Köln. Schilderungen und Geschichten (Brockhaus’ Reise-Bibliothek für Eisenbahnen und Dampfschiffe), Leipzig 1856, S. 147. 208 Gerhard Löbker: Wanderungen durch das Ruhrthal, Münster 1852, S. 9. 209 Vgl. Spelsberg, Rauchplage, S. 46. 210 Vgl. Gilhaus, „Schmerzenskinder der Industrie“, S. 170. 211 Franz Ignaz Pieler: Reisen auf der Cöln-Mindener Eisenbahn und zur Seite derselben. Ein Beitrag zur Vaterlandskunde, in: F.X. Hoeg (Hrsg.): Jahresbericht über das königl. Laurentianum zu Arnsberg, Arnsberg 1856, S. 17–48, hier S. 37.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

164

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

und Häuser der Stadt erkennen könne.212 Vergleiche wurden ebenfalls mit der Vergangenheit angestellt: „Noch vor hundert Jahren“, so berichtete Pieler seinen Lesern, „sah es hier ganz anders aus; keine Schornsteine, nur Kirchthürme, eine stattliche Burg und mehrere Ritterhäuser überragten die Dächer der Stadt.“213 Durch die Geschwindigkeit des Wandels, so wird in dieser Passage ersichtlich, wurden die Veränderungen durch die Fabriken als noch gravierender empfunden. Der Wanderer erkannte jedoch nicht nur die ästhetischen Auswirkungen der verbreiteten Rauchplage, sondern auch gesundheitliche Schäden bei den Menschen der direkten Umgebung: „Die Leute sind freundlich, aber von bleicher Gesichtsfarbe.“214 Einher damit ging in den Augen der Reiseautoren die soziale Degeneration der Industriearbeiterschaft, die in der zerstörten Umwelt „in öder Gleichförmigkeit ohne den gepflegten Garten und den schattenden Baum, der die Hütte des Landmannes verschönert“,215 leben musste. Die Reaktion der betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner bestand nun in einer Flucht aus der unmittelbaren Umgebung der Fabrik, ebenso wie aus dem weiteren Bereich der Industriesiedlung. Die Natur wurde als Gegenpol zum Leben in der Industriestadt erkannt und die wohlhabendere Bevölkerung strebte danach, sich entweder dauerhaft in ihr anzusiedeln oder zumindest einen Großteil der Freizeit dort zu verbringen. Wenn es von der Entfernung her vertretbar war, bezogen bürgerliche Familien Villen vor der Stadt. War das aus organisatorischen oder finanziellen Gründen nicht möglich, so verließen die Einwohnerinnen und Einwohner die Stadt zumindest in den Sommermonaten und siedelten in eine ländliche Umgebung um. Durch die auf dem Land meist niedrigen Mieten und den Umstand, dass das Familienoberhaupt unter der Woche in der Stadt zurückblieb, um seinem Beruf nachzukommen, war diese ‚Sommerfrische‘ für einen Großteil des Bürgertums möglich. Wer keine finanziellen Einschränkungen beachten musste und sich mehrere Wochen von seinem Arbeitsplatz entfernen konnte, machte stattdessen Urlaub in einem Kurort. Schließlich blieb noch der sonntägliche Familienspaziergang in die nähere Umgebung, die noch von der Industrie unberührt geblieben war. Der kommerzielle Naturtourismus, ob in der Nähe oder in der Ferne, nahm unter anderem durch die Stadtflucht des Bürgertums Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Ausgang.216 Die begüterte Oberschicht erkaufte und erschuf sich eine idealisierte Natur. Die Natur wurde zur Ware, weil die Stadt immer unwirtlicher wurde.217 212 Vgl. ebd. 213 Ebd., S. 38. 214 Löbker, Wanderungen durch das Ruhrthal, S. 20. 215 Pieler, Reisen auf der Cöln-Mindener Eisenbahn, S. 38. 216 Vgl. Spelsberg, Rauchplage, S. 47–49; Gilhaus, „Schmerzenskinder der Industrie“, S. 487–492. 217 Vgl. Spelsberg, Rauchplage, S. 49.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

165

Mit dem Wachstum der Fabriken und Industriebezirke und der dadurch verursachten Flucht des Bürgertums wurde der räumliche und geistige Abstand zwischen Bürger und Fabrik noch größer. Auf welche Weise und aus welchen Gründen fanden Bürgerinnen und Bürger in späteren Jahrzehnten nun doch wieder einen Bezug zu den Anlagen der Industrie? Hatte sich ihre Einstellung gegenüber den Industrieanlagen geändert?

4.2.2. Die Technikbegeisterung des späten 19. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf das Erkenntnisinteresse des Bürgertums

Mit Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhundert wandelte sich mit dem Fortschreiten der Mechanisierung bei der Fertigung und der zunehmenden Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Produktion die Industrie im Gegensatz zu den bisherigen Entwicklungen noch einmal ganz wesentlich. In der „Zweiten Industriellen Revolution“218 gelangte die Massenproduktion zur Vervollkommnung, neue Leitsektoren, wie die chemische Industrie und die Elektrotechnik, entstanden. Die Veränderungen gegenüber der ersten Phase der Industrialisierung, die vorwiegend durch die Erfindung der Dampfmaschine möglich geworden war, stellten sich als so gravierend dar, dass die Zeit um die Jahrhundertwende im Rückblick als „Schnittstelle zwischen dem ‚dampfenden‘ und dem ‚elektrischen‘ Jahrhundert“219 erscheint. Für die Wahrnehmung der bürgerlichen Beobachterinnen und Beobachter bedeutete dies einerseits, dass sich die Industrie für sie nicht mehr unbedingt als derart schmutzig, laut und gefahrvoll darstellte, wie in der Phase der Hochindustrialisierung, und dass zweitens die Technik selbst immer stärker Einzug in den Alltag des Bürgertums hielt, sei es durch die Nutzung im elektrifizierten Haushalt, durch zunehmende technische Ausbildung oder durch die Popularisierung von technischem Wissen.220 218 Den Begriff der ‚Zweiten Industriellen Revolution‘ prägte der französische Soziologe Georges Friedmann 1946, vgl. Georges Friedmann: Problèmes Humaines du Machinisme Industriel, Paris 1946. 219 Michael Salewski: Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: ders./Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77–91, hier S. 82. 220 Es entstünde jedoch ein zu einseitiges Bild, beschriebe man die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts allein als Zeit der Technikeuphorie. Das Verhältnis zur Technik blieb für die Menschen immer ein ambivalentes. Die Ablehnung der Technik aus der Zeit der Früh- und Hochindustrialisierung, die auf der Angst einerseits vor den unbekannten Vorgängen in den Industrieanlagen und andererseits vor dem schnellen Wandel der Lebenswelt und vor gesellschaftlichen Umwälzungen beruht hatte, setzte sich selbst in der Zeit der Zweiten Industriellen Revolution fort. Insbesondere die Vorstellungen von der Technik als destruktiver Kraft standen im Deutschen Kaiserreich im Raum. Größere Unglücksfälle wie beispielsweise Zugunfälle führten den Menschen vor Augen, dass sie bisweilen nur

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

166

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Während Technikoptimisten in der Zeit um die Jahrhundertwende gigantische Pläne entwickelten, teilweise als Zukunftsvisionen, wie die Idee eines Kanaltunnels nach England oder die der Unterquerung der Alpen, teilweise als tatsächlich realisierte Projekte, wie die transkontinentalen Untersee-Kabel für Telegrafie, der Panama- und der Suez­ kanal sowie die Schmalspur- und Zahnradbahnen durch und über die europäischen Hochgebirge,221 geschah parallel eine regelrechte Umgestaltung des Alltags durch Technik. Mittels massenhaft produzierter Waren verbesserte sich nicht nur die materielle Versorgung, sondern generell das Konsumverhalten.222 Die Elektrizität hielt in Form der Glühbirne und erster elektrisch betriebener Geräte Einzug in den Haushalt.223 Die Telegrafie und das Telefon veränderten die Kommunikation ebenso wie die nun zum Masoberflächlich zu beherrschen war. Die immer weiter voranschreitende Waffenentwicklung löste eine Diskussion um die Gefahren in einem möglichen neuerlichen Krieg aus, die von der Vorstellung, die technische Überlegenheit könnte einen Krieg verhindern, bis zu der Furcht vor einer völligen Zerstörung des Landes in einem technisierten Krieg reichten. Vgl. Angela Schwarz: Allmacht oder Ohnmacht. Technikvorstellungen und Krisenwahrnehmung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, in: Helga Scholten (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 203–222; Joachim Radkau: Technik im Temporausch der Jahrhundertwende, in: Salewski/Stölken-Fitschen, Moderne Zeiten, S. 61–76, hier S. 62; Hermann Glaser: Das deutsche Bürgertum. Zwischen Technikphobie und Technikeuphorie, in: Salewski/Stölken-Fitschen, Moderne Zeiten, S. 25–41, hier S. 35; Johan Hendrik Jacob van der Pot: Die Bewertung des technischen Fortschritts. Eine systematische Übersicht der Theorien, Bd. 1, Assen 1985, S. 176f., 227–239, 254–256, 258–267, 386–390, 412–415. Literarisch verarbeitete beispielsweise Theodor Fontane die Furcht vor der Technik in der Ballade Die Brücke am Tay (1879), die das Zugunglück beim Einsturz der Brücke über den Firth of Tay in Schottland am 28. Dezember 1879 thematisiert, bei dem fünfundsiebzig Menschen starben. 221 Wolfgang Weber: Technikentwicklung und Technikkonsum – ein gesellschaftlicher Grundkonsens, in: Wolfgang König (Hrsg.): Propyläen Technikgeschichte, Bd. 1840–1914: Netzwerke. Stahl und Strom, Berlin 1990, S. 536–552, hier S. 540. Weitere gigantisch anmutende Projekte, die die neue technische Machbarkeit förderte, waren beispielsweise der Eiffelturm der Pariser Weltausstellung von 1889 und das Riesenrad der Weltausstellung in Chicago 1893 oder die prachtvollen Atlantikdampfer der Zeit, vgl. Glaser, Das deutsche Bürgertum, S. 40; vgl. auch Jan Pasternak: Schnelligkeit und Luxus. Personenbeförderung auf der Nordatlantikroute vom Untergang der Titanic bis zum Brand auf der Normandie (1912–1942), Magisterarbeit, Universität Duisburg-Essen 2004. 222 Vgl. Hartmut Berghoff: „Dem Ziele der Menschheit entgegen“. Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hrsg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 47–78, hier S. 50. 223 Vgl. Sabine Oetzel: „…auf einzelne Bequemlichkeiten Bedacht genommen.“ Die Entwicklung der Haushaltselektrifizierung in Recklinghausen, in: Peter Döring (Hrsg.): 100 Jahre Strom für Recklinghausen 1905–2005, Essen 2005, S. 99–116. Der Prozess der Elektrifizierung des Haushaltes, den die Autorin detailliert für die Stadt Recklinghausen nachvollzieht, ereignete sich in den größeren Städten des Deutschen Reiches entsprechend früher, so dass die für die Kleinstadt beschriebenen Erfahrungen der Bevölkerung mit Elektrizität und elektrischen Geräten für die Metropolen und hier insbesondere für das Bürgertum wesentlich früher angenommen werden können.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

167

senmedium aufgestiegene Fotografie und die neue visuelle Sensation des Kinos.224 „Die Selbstverständlichkeit, mit der die Bevölkerung technische Neuerungen aufnahm und nutzte“, so urteilt Wolfgang Weber, könnte „als Indiz für Technikakzeptanz gelten.“225 Teilweise entstand sogar ein wissenschafts- und technikbasierter Zukunftsoptimismus, der das Potenzial von Technik als angewandter Wissenschaft beschwor, den privaten und staatlichen Wohlstand zu mehren und gesellschaftlichen Aufschwung zu bringen. Die Technik galt den Optimisten als Allheilmittel, sei es als Lösung der sozialen Frage,226 als Antwort auf die Frage nach der richtigen Regierungsform – die Lösung lautete hier Technokratie –,227 oder als Mittel, das Streben nach einer Weltmachtposition Deutschlands voranzutreiben.228 Die Optimisten gingen sogar so weit, den Fortschritt der Technik als Motor für die kulturelle Weiterentwicklung schlechthin zu bezeichnen, was der Technik die Respektabilität verlieh, die bisher nur die klassischen Kulturgüter genossen hatten.229 Diese Stimmung führte dazu, dass sie die ästhetische Wahrnehmung wandelte und den Gebilden der modernen Technik eine ganz eigene Schönheit zusprach.230 Die Auswirkungen auf die Lebenswelt des Bürgertums gingen also über den reinen Konsum der neuen Güter und ihrer Annehmlichkeiten hinaus, sie beeinflussten seine Wahrnehmungsweise, erweiterten den Wissenshorizont und -durst. Neben die ‚klassische Bildung‘ trat die (populär-)technische Bildung. Die deutschen Einzelstaaten und nach der Reichsgründung noch umfassender das Deutsche Kaiserreich begriffen naturwissenschaftlich-technische Fachbildung zunehmend als ökonomischen Faktor und ihre Förderung als Teil der staatlichen Gewerbeförderung im Konkurrenzkampf mit anderen Industrieländern, weshalb die technische Bildung ab dem frühen 19. Jahrhundert durch die Einrichtung von staatlichen Real- und Fachschulen sowie polytechnischen Hochschulen die humanistische, praxisferne Bildung der Gymnasien und Universitäten ergänzen sollte.231 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts rückte die Frage der technischen 224 Vgl. Berghoff, „Dem Ziele der Menschheit entgegen“, S. 50. 225 Vgl. Weber, Technikentwicklung und Technikkonsum, S. 547. 226 Vgl. Berghoff, „Dem Ziele der Menschheit entgegen“, S. 58–62. 227 Vgl. ebd., S. 51–53. 228 Vgl. ebd., S. 53–58. 229 Vgl. ebd., S. 48, 62–66; van der Pot, Die Bewertung des technischen Fortschritts, S. 158. Vgl. für einen Überblick über die zeitgenössischen positiven Bewertungen der Folgen des technischen Fortschritts für die Kultur ebd., S. 158–162. 230 Vgl. Katja Schwiglewski: Erzählte Technik. Die literarische Selbstdarstellung des Ingenieurs seit dem 19. Jahrhundert (Kölner Germanistische Studien, Bd. 36), Wien/Köln/Weimar 1995, S. 93. Vgl. z.B. auch die zeitgenössische Reisebeschreibung von Bernhard Luther, die Industriestätten mit einem Vokabular beschreibt, dass aus dem Kontext malerischer oder erhabener Natureindrücke stammt, vgl. Bernhard Luther: Wanderungen durch den Rheinisch-westfälischen Industriebezirk, Berlin 1913. 231 Die Diskussion der Frage, welcher Stellenwert den Naturwissenschaften im Bildungssystem zukom-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

168

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Bildung aufgrund des hohen Bedarfs an qualifizierten Arbeitskräften dann nochmals verstärkt ins öffentliche und politische Bewusstsein, was den Ausbau der Technischen Hochschulen und ihre Gleichstellung mit den Universitäten durch das Promotionsrecht zur Folge hatte.232 Das bedeutendste Mittel zur Fortbildung außerhalb dieser institutionellen Bildungseinrichtungen waren populäre Medien im weitesten Sinne, die das Thema aufgriffen, um einer breiteren, wissenschafts- oder technikfernen Öffentlichkeit den Ablauf wissenschaftlicher Verfahren und die Funktionsweise technischer Artefakte verständlich zu machen, und es dem Einzelnen zu erleichtern, sich den Veränderungen anzupassen und so die Herausforderung des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses hin zur „modernen, d.h. ‚technisierten‘, rationalistischen Massengesellschaft“233 zu bewältigen. Hierzu gehörten gedruckte Publikationen – populärwissenschaftliche Sachbücher, Berichte in Zeitschriften oder Technik thematisierende Romane –, bildliche Darstellungen, entweder zur Illustration in Publikationen oder als Medium an sich, sowie die Demonstration technischer Modelle und Maschinen auf Gewerbe-, Industrie- und Weltausstellungen, in den Ende des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Technikmuseen oder schlicht als Spielzeug für den Knaben aus bürgerlichem Hause in Form von Miniatureisenbahnen oder Chemiebaukästen.234 Beeindruckende technische Leistungen wurden so als Gegenstand der Allgemeinbildung etabliert. Die Industrie- und Gewerbeausstellungen nahmen im Ensemble der Wissenschaftsund Technikpopularisierung eine besondere Stellung ein. Ungebrochener Fortschrittsmen sollte, zeichnen Angela Schwarz und Andreas Daum ausführlich nach. Vgl. Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 153), Stuttgart 1999, S. 139–143; Andreas Daum: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, 2. Aufl., München 2002, S. 51–64. 232 Vgl. Christian Kleinschmidt: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 79), München 2007, S. 99–101; Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt, S. 139–145. 233 Ebd., S. 103. Vgl. zu den Zielen und der Bedeutung der Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert auch dies.: Bilden, überzeugen, unterhalten. Wissenschaftspopularisierung und Wissenskultur im 19. Jahrhundert, in: Carsten Kretschmann (Hrsg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 4), Berlin 2003, S. 221–234. 234 Vgl. Marcus Popplow: Popularisierung. Technik, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9: Naturhaushalt – Physiokratie, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 200–204, hier Sp. 201; Kleinschmidt, Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, S. 102. Über die populären Medien hinaus spielte außerdem das Vereinswesen, sowohl als Zusammenschluss von Wissenschaftlern, als auch von Amateur-Forschern, eine große Rolle bei der Verbreitung von technischem und naturwissenschaftlichem Wissen. Vgl. hierzu ausführlich Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 85–167.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

169

glaube, Aufbruchsstimmung und Vertrauen in die Möglichkeiten von Technik und Industrie kamen an einem Ort zusammen, an dem „Technik als öffentliches Ereignis“235 zelebriert wurde. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Popularität der Weltausstellungen stetig an, was nicht zuletzt an einer zunehmenden Kultur des Wandels, des beginnenden Massenkonsums und der Suche nach neuem populärem Wissen lag.236 In den immer gigantischeren Maschinenhallen als dem „Herzen der Industrieschauen“237 konnte sich der Laie in einer unterhaltsamen Atmosphäre hautnah mit den Wundern der modernen Welt vertraut machen, die er bisher nur aus Beschreibungen und von Bildern kannte und die so bislang nur Fachleuten zugänglich gewesen waren.238 Trotz der Eigentümlichkeit der Ausstellung, durch die visuelle Anordnung der Gegenstände Sinn zu transportieren, die noch durch Hilfsmittel wie Ausstellungskataloge und -führer verstärkt wurde, stand nicht das detaillierte Verständnis der technischen Abläufe, sondern ein umfassendes, gleichzeitig jedoch bezüglich der Bildungsintensität oberflächliches Gesamterlebnis im Vordergrund,239 bei dem es um die Zurschaustellung einer positiven Haltung gegenüber der Technik ging.240 Das Interesse an populärer Technikvermittlung und -präsentation über die temporären Industrie- und Gewerbeschauen hinaus stillten am Ende des 19. Jahrhunderts die neuen Technikmuseen und die Unterhaltungsbranche. Das bis heute bedeutendste Beispiel für ein Technikmuseum im deutschen Raum ist das 1903 von dem Elek­ troingenieur Oskar von Miller nach langwierigen Vorbereitungen gegründete Deutsche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und der Technik in München. Dem Haus gelang es, den klassisch-humanistischen Kulturbegriff des Museums auf das Gebiet der Naturwissenschaften und Technik zu projizieren und so dazu beizutragen, die angewandten Wissenschaften und die Technik weiter im klassischen Werte- und Repräsentationssystem der traditionellen Eliten des Kaiserreichs zu verankern.241 Anhand von historischen Museumsobjekten, Erklärungsmodellen, die z.B. Schnitte durch die Maschinen zeigten, und Maschinen in Bewegung, sowie durch Zeichnungen und Ab235 Radkau, Technik im Temporausch der Jahrhundertwende, S. 148. 236 Vgl. zur Entwicklung und zum Charakter von Weltausstellungen auch Kapitel 4.1.3. 237 Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 65. 238 Vgl. ebd., S. 76; Lars Bluma: Progress by Technology? The Utopian Linkage of Telegraphy and the World Fairs, 1851–1880, in: M. Michaela Hampf/Simone Müller-Pohl (Hrsg.): Global Communication Electric. Business, News and Politics in the World of Telegraphy, Frankfurt am Main/New York, NY 2013, S. 146–169, hier S. 148. 239 Vgl. Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 40–44. 240 Vgl. Bluma, Progress by Technology?, S. 149. 241 Vgl. Olaf Hartung: Museen des Industrialismus. Formen bürgerlicher Geschichtskultur am Beispiel des Bayerischen Verkehrsmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 53–55.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

170

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

bildungen vermittelte die Ausstellung auf anschauliche Art die Entwicklung, Funktionsweise und die Leistungsfähigkeit der Maschinen. Zusätzlich konnten die Besucherin und der Besucher durch Drücken von Knöpfen oder ähnlichem selbst aktiv werden.242 Dass dieses Konzept des Museums aufging, bewiesen die Besuchszahlen, die eindeutig über denen der klassischen deutschen Museen lagen,243 sowie die lobenden Äußerungen über die didaktischen Elemente in der Presse und in privaten Berichten.244 Während die Museumsleitung betonte, dass es den Besucherinnen und Besuchern beim Genuss dieser Ausstellungselemente nicht nur um Unterhaltung, sondern um tatsächliches Lernen gegangen sei,245 besteht ebenso die Möglichkeit, dass viele von ihnen doch von der präsentierten Technik überfordert waren und sich einfach von der Betrachtung der Bewegung faszinieren ließen, ohne das dahinterstehende Konzept tatsächlich ganz zu begreifen.246 Letztlich, so stellt Ulrich Menzel in seiner grundlegenden Untersuchung des Deutschen Museums fest, war es wohl – ebenso wie bei den Industrie- und Gewerbeausstellungen, so lässt sich ergänzen – eine Kombination von Vergnügen und Belehrung, die die Besucher und möglicherweise auch Besucherinnen in die technische Ausstellung zog.247 Den Jahrmärkten und Vergnügungsparks ging es bei ihrer Präsentation von neuesten technischen Entwicklungen dagegen weniger um die populärwissenschaftliche Weiterbildung des Publikums, als vielmehr um den eigenen Profit. Nichtsdestoweniger kam an diesen Orten gerade das Kleinbürgertum in Berührung mit neuen Erfindungen als Attraktionen, lange bevor diese allgemein verbreitet waren, und machte sich, wenngleich nicht mit den Grundprinzipien, dann doch mit der Handhabung der neuen Technik vertraut, indem es Fotoautomaten bediente, Telefonkioske nutzte und mit elektrischen Zahnradbahnen fuhr.248 Die häufig in einem solchen Umfeld verorteten Panoramen popularisierten ebenfalls Technik, indem sie diese erstens zu einem Thema der Rundbilder machten, wie beispielsweise den Bau der transsibirischen Eisenbahn, und zweitens das statische Schauen erweiterten durch technische Ergänzungen wie bei242 Vgl. Ulrich Menzel: Die Musealisierung des Technischen. Die Gründung des ‚Deutschen Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik‘ in München, Braunschweig 2002, S. 110f., 173, 177. 243 Von seiner Öffnung für das Publikum im Jahr 1907 bis zum Jahr 1910 hatte das Museum jährlich rund 200.000 Besucherinnen und Besucher, in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl sogar auf 300.000 Gäste jährlich. Vgl. ebd., S. 218, 229. 244 Vgl. ebd., S. 230–233. 245 Vgl. ebd., S. 237. 246 Vgl. ebd., S. 241. 247 Vgl. ebd., S. 243f. 248 Vgl. Heike Weber: Vergnügliche Technikaneignung um 1900, in: Gudrun Wolfschmidt (Hrsg.): Popularisierung der Naturwissenschaften, Hamburg 2000, S. 326–330, hier S. 326.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

171

spielsweise hydraulische Mechanismen, die bewegte Szenen zuließen, oder Apparate, die automatisch akustische Signale hervorbrachten oder Gerüchte verströmten.249 Von hier, so scheint es, fehlte nur noch ein kleiner weiterer Schritt zum tatsächlichen Erlebnis der (technisierten) Wirklichkeit in der Fabrik. Ein weiteres, zunehmend auch im Kleinbürgertum verbreitetes Mittel der Popularisierung von Wissenschaft und Technik war Kinderspielzeug, das vorwiegend den männlichen Nachwuchs mit Maschinen und wissenschaftlichen Vorgängen vertraut machen sollte. Wie der kindliche Eigenbereich erst im gehobenen Bürgertum anwuchs, dann aber zunehmend ebenso Kindern aus kleinbürgerlichen Familien zugestanden wurde, wuchs ebenfalls, unterstützt durch fortschreitende Massenproduktionsverfahren, der Spielzeugmarkt. Hierbei schien die Nachfrage nach solchem Spielzeug besonders hoch, das das Interesse an Technik und Forschung anregte. „Durch Stabil zum Ingenieur!“250 lautete der Werbespruch eines Metallbaukastenherstellers um die Jahrhundertwende. Begann eine technische Neuerung sich im Alltag durchzusetzen, produzierte man schon das Pendant für das Kinderzimmer. Fast jeder Junge aus dem Bürgertum kam auf diese Weise in seiner Kindheit mit einer Modelleisenbahn, einer Miniatur-Dampfmaschine oder einem Chemie- oder Metallbaukasten und damit mit dem Gestalten von und mit Technik in Berührung. Und selbst die Mädchen erlernten den Umgang mit technischen Gerätschaften, wenn diese auch beispielsweise in Form eines elektrischen Herdes für die Puppenstube in die für sie projizierte Lebenswelt des Haushalts eingebettet waren.251 In die Nähe der Kategorie Spielzeug sind gleichfalls Reklamesammelbilder zu rücken, die ab den achtzehnhundertvierziger Jahren von verschiedenen Konsumwarenherstellern zumeist in Form thematischer Serien kostenlos zu ihren Produkten verteilt und von den Konsumentinnen und Konsumenten bezie249 Vgl. Marie-Louise von Plessen: Der gebannte Augenblick. Die Abbildung von Realität im Panorama des 19. Jahrhunderts, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, S. 11–19, hier S. 17. Vgl. ausführlich zum Panorama Kapitel 4.1.1., Anm. 25. 250 Vgl. Walther & Co: Stabil-Vorlagenheft 49–52, Berlin 1957, zit. nach Werner Sticht: Spiel mit Stabil, in: Stefan Poser/Joseph Hoppe/Bernd Lüke (Hrsg.): Spiel mit Technik. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Technikmuseum Berlin, Berlin 2006, S. 68–70, hier S. 68. Wann der Slogan das erste Mal auftritt, ist nicht genau geklärt, der Name ‚Stabil‘ für den Metallbaukasten der Firma Walther ist spätestens für das Jahr 1911 verbürgt, der Werbeslogan eng an das Auftreten dieses Markennamens gebunden. Vgl. ebd., S. 69f. 251 Vgl. Weber, Vergnügliche Technikaneignung um 1900, S. 327f.; Sticht, Spiel mit Stabil, S. 68–70; Beate Hobein: Rauchende Fabrikschlote und unbegrenzte Möglichkeiten. Dampfspielzeug, in: dies. (Hrsg.): Traumland Technik. Technisches Spielzeug zwischen Industrialisierung und Gesellschaft, Essen 1991, S. 23–15; Dietmar Freiesleben: Kleine Welt und große Technik. Spielzeugeisenbahnen, in: Hobein, Traumland Technik, S. 26–29; Beate Hobein: Kleine Jungen, große Ingenieure. Baukästen, in: dies., Traumland Technik, S. 30–32.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

172

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

hungsweise häufig deren Kindern gesammelt, getauscht und schließlich in die eigens zu diesem Zweck ebenfalls von den Herausgebern der Serien verteilten Alben eingeklebt und immer wieder angeschaut wurden.252 Die Reklamesammelbilder popularisierten Wissen aus vielfältigen Themenbereichen, so ebenfalls aus dem Bereich Wissenschaft und Technik:253 Der bedeutendste Herausgeber von Reklamesammelbildern des 19. Jahr­hunderts, die Firma Liebig, veröffentlichte beispielsweise Serien zur Gewinnung verschiedener Bodenschätze,254 zu Werken der Ingenieurskunst,255 zu technischen Errungenschaften wie der Elektrizität oder der Dampfkraft256 und zum Herstellungsprozess diverser Produkte.257 Ende des 19. Jahrhunderts nahm neben der Popularisierung durch Ausstellungen im weitesten Sinne die Bedeutung des gedruckten Mediums immer stärker zu. Schließlich stieg es im Zuge steigender Alphabetisierung und technischer Verbesserungen im Druck zum wichtigsten Instrument der Popularisierung auf.258 Gegenüber der Ausstellung, die eher die Technik als umfassendes Erlebnis inszenierte, boten die populärwissenschaftlichen Schriften die Möglichkeit zu einer größeren inhaltlichen Vertiefung. Im 252 Vgl. Erhard Ciolina/Evamaria Ciolina: Garantirt aecht: Das Reklame-Sammelbild als Spiegel der Zeit, München 1987; dies.: Reklamebilder, München 2000; Erich Wasern: Sammeln von Serienbildchen. Entwicklung und Bedeutung eines beliebten Mediums der Reklame und der Alltagskultur, Landshut 1981; Schwarz, Inszenierung und Vermarktung, S. 83–102. 253 Insgesamt beschäftigen sich 55 von 1138 Serien der Firma Liebig im weiteren Sinne mit Wissenschaft und Technik, vgl. Bernhard Jussen (Hrsg.): Liebig’s Sammelbilder. Vollständige Edition aller 1138 Serien (Atlas des Historischen Bildwissens, Bd. 1), 2 CD-Roms, Berlin 2002. 254 Vgl. Das Eisen [Seriennummer 424]; Das Gold [Seriennummer 466]; Schätze der Erde [Seriennummer 471]; Das Gas und seine Geschichte [Seriennummer 901]; Kupfer und Bronze [Seriennummer 994]; Steinkohlen-Bergwerk [Seriennummer 1029]; Die weisse Kohle [Seriennummer 1041]; Das Erdöl [Seriennummer 1056], in: Jussen, Liebig’s Sammelbilder. 255 Vgl. Hervorragende Brückenbauten [Seriennummer 430]; Kanalbauten [Seriennummer 564]; Simplon-Tunnel [Seriennummer 694]; Bilder vom Panamakanal [Seriennummer 913]; Großtaten neuzeitlicher Technik [Seriennummer 1064], in: Jussen, Liebig’s Sammelbilder. 256 Zur Geschichte der Telegraphie [Seriennummer 386]; Die Entwicklung der Beleuchtungs-Arten [Seriennummer 425]; Die Elektrizität [Seriennummer 726]; Zur Geschichte der Dampfmaschine [Seriennummer 761], in: Jussen, Liebig’s Sammelbilder. 257 Vgl. Liebig’s Fleisch-Extract Fabrik [Seriennummer 1]; Die Glasindustrie [Seriennummer 464]; Die Zuckerfabrikation [Seriennummer 480]; Wie ein Liebig-Bild entsteht [Seriennummer 696]; Automobile [Seriennummer 723]; Zur Geschichte der Goldschmiedekunst [Seriennummer 893]; Zur Geschichte des Bieres [Seriennummer 894]; Zur Geschichte des Eisens [Seriennummer 895]; Zur Geschichte des Papieres [Seriennummer 896]; Die Schokolade [Seriennummer 985]; Der Käse [Seriennummer 989]; Bau eines Überseedampfers [Seriennummer 1019]; Das Papier [Seriennummer 1031]; Streichholzherstellung [Seriennummer 1055]; Wie eine Illustrierte Zeitschrift entsteht [Seriennummer 1061]; In einem deutschen Stahlwerk [Seriennummer 1119], in: Jussen, Liebig’s Sammelbilder. 258 Vgl. Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt, S. 90f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

173

Vergleich zum momentanen Eindruck der Ausstellung erlaubten sie, etwas immer wieder nachzulesen, gegenüber der Gebundenheit einer Ausstellung an einen bestimmten Ort und eventuell an einen bestimmten Zeitraum stand die Zugänglichkeit der Lektüre immer und überall.259 Indem sie häufig von Technik auf Ausstellungen berichteten, forcierten sie außerdem eine Popularisierung der Popularisierung. Die Bandbreite der populärwissenschaftlichen Literatur erstreckte sich von speziellen Periodika, die sich nur mit Wissenschaft und Technik beschäftigten und jenseits der Professionalisierung die Bevölkerung zur Weiterbildung und zum Forschen anregen sollten, über Zeitungen und Zeitschriften, die den naturwissenschaftlich-technischen Themen immer mehr Raum in eigenständigen Rubriken und regelmäßigen Beilagen einräumten, bis zum naturwissenschaftlichen Sachbuch und zum Science-Fiction-Roman. Naturwissenschaftliche Zeitschriften, die sich im Gegensatz zu den polytechnischen Schriften an ein breites Publikum ohne spezifisch fachliche Vorbildung wandten, entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil der Publizistik und zu einem typischen Medium der naturkundlichen Popularisierung.260 In einer Welle neuer derartiger Zeitschriften nach der Reichsgründung fächerte sich ihr Themen- und Gestaltungsspektrum auf, wobei sie sich auf die Zunahme allgemeiner naturwissenschaftlich-technischer Bildung in der Bevölkerung stützen konnten.261 Um 1900 erschienen immer höhere Auflagen. Das herausragende Beispiel war die Zeitschrift „Kosmos“, die sogar auf eine Auflage von 100.000 Exemplaren kam.262 Zur Jahrhundertwende präsentierte sich die populärwissenschaftliche Zeitschrift als naturkundliches Magazin, dessen Merkmale ein handliches Format, eine übersichtliche grafische Gestaltung, ein großer Anteil von Illustrationen und Fotos sowie eine revueartige Mischung verschiedener Themen waren.263 Daneben bedienten sich jedoch immer mehr auf allgemeine Themen ausgelegte Zeitungen und Zeitschriften der technisch-wissenschaftlichen Berichterstattung, um sich im immer schärferen Konkurrenzkampf des Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes zu behaupten.264 Sie führten ständige Rubriken für Naturwissenschaft und Technik oder zumindest regelmäßige Beilagen ein, in denen diese Inhalte im Vordergrund standen.265 Eine Reihe fester Mitarbeiter 259 Vgl. ebd., S. 106. 260 Vgl. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 337, 340. 261 Vgl. ebd., S. 359–369. 262 Vgl. ebd., S. 372. Damit stellte die Zeitschrift allerdings eine große Ausnahme dar, üblich waren eher Auflagen von maximal 5.000 Exemplaren. 263 Vgl. ebd., S. 370–376. 264 Vgl. ebd., S. 338; Jens Krüger/Stephan Ruß-Mohl: Popularisierung der Technik durch Massenmedien, in: Boehm/Schönbeck, Technik und Kultur, Bd. 5, S. 387–415, hier S. 393. 265 Vgl. ebd., S. 393.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

174

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

betreute diese neue Sparte, wobei sie von wissenschaftlichen oder technischen Fachleuten oder beliebten populärwissenschaftlichen Autoren unterstützt wurden.266 Im Fokus der technischen Berichterstattung stand vor allem das Verkehrswesen mit seinen neuen Bahn- und Fahrstrecken über vormals unwegsame Alpenpässe und tiefe Schluchten, mit den prächtigen und gleichzeitig schnellen Ozeandampfern oder neuen Luftschiffen, die sich daran machten, das Reisen zu revolutionieren.267 Dieses Engagement im Bereich der Wissenschaftspopularisierung wurde bis zum Ersten Weltkrieg ständig verstärkt268 und trug vorwiegend durch die illustrierten Familienzeitschriften mit ihren hohen Auflagenzahlen erheblich dazu bei, den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt in die deutschen Wohnzimmer zu bringen.269 Im Gegensatz zu den Darstellungen in Zeitschriften boten populärwissenschaftliche Monografien einen viel größeren Raum für inhaltliche Tiefe. Außerdem war es hier eher möglich, Details zu einem späteren Zeitpunkt erneut nachzuschlagen, denn selbst wenn viele Zeitschriften von den Abonnenten aufbewahrt und zum Teil sogar gebunden wurden, eigneten sie sich doch nicht unbedingt zur repetierenden Lektüre. Die Darstellungsformen innerhalb der übergeordneten Klassifikation als populärwissenschaftliche Monografie reichten von formellen Abhandlungen bestimmter Erkenntnisse im Stil von Schul- und Lehrbüchern bis zur naturwissenschaftlichen Plauderei im feuilletonistischen Stil, die im Dialog zwischen fiktiven Personen und eingebettet in eine Rahmenhandlung eine Beziehung zwischen Autor und Leserschaft herstellte.270 Als Mittel, um die Erkenntnis der Rezipientinnen und Rezipienten zu fördern, dienten unter anderem die Beschreibung von Experimenten und die Abbildung der einzelnen Phasen der Experimente, die Verwendung von Analogien und Vergleichen, die Personalisierung bestimmter Entwicklungen und Entdeckungen, indem die jeweiligen Forscher in ihrer Biografie in den Vordergrund gestellt wurden, oder die Erläuterung eines komplexen Themas anhand eines Beispiels aus dem Alltag.271 Kurz vor der Jahrhun266 Vgl. ebd., S. 391. In der Zeitschrift Die Gartenlaube erschienen beispielsweise regelmäßig Artikel von Alfred Brehm. Vgl. Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert, S. 339. 267 Vgl. Krüger/Ruß-Mohl, Popularisierung der Technik durch Massenmedien, S. 397. 268 Vgl. ebd., S. 394. 269 Vgl. ebd., S. 395. Vgl. zur Wissenschafts- und Technikpopularisierung in illustrierten Zeitschriften Dieter Barth: Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland, Münster 1974, S. 241; Christiane Todrowski: Bürgerliche Technik-„Utopisten“. Ein Beitrag zur Funktion von Fortschrittsoptimismus und Technikeuphorie im bürgerlichen Denken des 19. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel der Publikationen Max Eyths und Max Maria von Webers, Münster 1996, S. 331–341, 424. 270 Vgl. Schwarz, Der Schlüssel zur modernen Welt, S. 241. 271 Vgl. ebd. Die Autorin stellt hier eine vollständige Liste von Stilmitteln über die oben genannten hinaus vor.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

175

dertwende stieg die Zahl der veröffentlichten Monografien mit populärwissenschaftlichen Themen in Deutschland eindeutig an.272 Ausgesucht erfolgreich unter der Populärliteratur mit technischen Inhalten Ende des 19. Jahrhunderts erschien darüber hinaus die fiktionale Unterhaltungsliteratur, da sie es vermochte, technische Details zu vermitteln, ohne belehrend zu wirken.273 In diesen Bereich gehörten die Science-Fiction, die als eigenständiges Genre gerade erst entstanden war, und der Erlebnisroman, der den Ingenieur in den Mittelpunkt stellte. Die Science-Fiction arbeitete die Technikbegeisterung in technischen Abenteuer- und Zukunftsromanen auf und erreichte damit ein Massenpublikum.274 Das beste Beispiel bieten die Romane von Jules Verne, der seine Schilderungen „mit einem Flair des technisch Seriösen [versah], ohne auf den Reiz des Utopischen zu verzichten“,275 indem er neueste technische Entwicklungen aufgriff und dann ihre Weiterentwicklung in die Zukunft projizierte. Die bestehenden technischen Möglichkeiten, die der Projektion in die Zukunft zugrunde lagen, bedurften einer genauen Erklärung, die Verne in Form von Diskursen in seine Erzählungen einband und so einen großen Beitrag zu ihrer Popularisierung leistete.276 Romane, die auf dem Leben und Wirken eines Ingenieurs basierten, von denen die in ‚Ich‘-Form geschriebenen Werke des selbst als Ingenieur tätigen Max Eyth die bekanntesten waren, zogen die Leserschaft in die Welt des Pro­ tagonisten und machten so nicht nur die Lebenseinstellung und das Selbstverständnis eines Ingenieurs als dem technikaffinen Bürger schlechthin populär, sondern ebenso sein technisches Wissen, auf dessen Anwendung ein Großteil der Handlung beruhte.277 Indem die bürgerliche Öffentlichkeit sich mit Technik in popularisierter Darstellung auseinandersetzte, erhielt sie nicht nur ein Verständnis für technische Zusammenhänge, sondern sammelte gleichzeitig Erfahrungen in der Wahrnehmung von Technik als Objekt einer Betrachtung, bei der es nicht vorrangig darum ging, die ursprüngliche Natur einer Sache zu erkennen, sondern um das Erlebnis der Betrachtung an sich. Die Popularisierung von Technik generierte damit einen Blick auf die Technik, der dem touristischen Blick durchaus verwandt war. Die Begeisterung für die Technik schlug sich außerdem in den Destinationen der bürgerlichen Bildungsreise nieder. In dem Selbstbild, „Informanten, ja Dolmetscher einer noch unbekannten neuen Epoche zu sein“,278 hatten ab dem 18. Jahrhundert ein272 Vgl. ebd., S. 115. 273 Vgl. Schwiglewski, Erzählte Technik, S. 9, 115. 274 Vgl. Weber, Technikentwicklung und Technikkonsum, S. 546. 275 Ebd. 276 Vgl. ebd. 277 Vgl. Schwiglewski, Erzählte Technik, S. 8f. 278 Jürgen Reulecke: Das Abbild einer neuen Zeit. Das Bergische Land um 1800 in Reiseberichten, in:

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

176

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

zelne bürgerliche Technikoptimisten Reisen in die Industriebezirke Großbritanniens, der USA oder auch in die zentralen Gebiete der Industriellen Revolution in Deutschland, wie beispielsweise das Bergische Land279 oder das Ruhrgebiet,280 unternommen. Zu den Dingen, die die Reisenden vorwiegend faszinierten, zählten neuartige Produkte, neue Herstellungsverfahren und -techniken oder innerbetriebliche Organisationsstrukturen.281 Damit stand unverkennbar das technische Interesse im Vordergrund, wobei es jedoch entgegen dem Zweck der beruflich motivierten Reise nicht darum ging, bestimmte Techniken selbst anzuwenden, sondern den allgemeinen technischen Horizont des gesamten Bürgertums zu erweitern, was durch Schilderungen der Erlebnisse in Reiseberichten und ähnlichen Veröffentlichungsformen erfolgte. Die neue Form der Reise zur Industrie brachte so Zukunfts- und Fortschrittsoptimismus zum Ausdruck. Für eine breitere Masse von Reisenden bot sich insbesondere die ‚moderne‘ Großstadt als Ziel an, an dem sich die Besichtigung klassischer Sehenswürdigkeiten mit der von technischen Neuerungen kombinieren ließ. Der Prozess der Technisierung hatte neben der Fabrik in der Großstadt seinen zentralen Ort, da er einen grundlegenden Beitrag zu ihrer Entstehung leistete.282 Für viele Touristen – und sicherlich auch einige Touristinnen – stellte sich daher vor allen Dingen die ‚moderne‘ Metropole als der Ort dar, „an dem sich alle Entwicklungen moderner Technik am anschaulichsten verdichteten, und deshalb für den Reisenden unmittelbar erfahrbar wurden.“283 Brücken, Hafenanladers./Gerhard Huck (Hrsg.): … und reges Leben ist überall sichtbar! Reisen im Bergischen Land um 1800 (Bergische Forschungen. Quellen und Forschungen zur bergischen Geschichte, Kunst und Literatur, Bd. 15), Neustadt an der Aisch 1978, S. 7–25, hier S. 12. 279 Vgl. hierzu die Untersuchung von Reiseberichten über das Bergische Land durch Jürgen Reulecke, ebd., S. 7–25. 280 Vgl. beispielsweise die positiven Schilderungen verschiedener neuer Werksanlagen und aufblühender Industriestädte in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem Reiseführer für Bahn- und Schiffsreisende, vgl. Schücking, Von Minden nach Köln, S. 145, 149. Speziell an Jugendliche richtete sich das Buch von Luther, Wanderungen durch den Rheinisch-westfälischen Industriebezirk, das die junge Leserschaft über die Technk der Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie informieren wollte, und dazu eine „Ferienreise“, ebd., S. 11, durch das Ruhrgebiet vorschlug. Vgl. als weitere zeitgenössische Reiseliteratur über das Ruhrgebiet u.a. Ad[olf ] Zimmermann: Von Haspe nach Duisburg, Berlin 1912; Gustav Koepper: In Plutos Reich. Wanderungen durch Schacht und Hütte im Rheinisch-Westfälischen Industriebezirk, Berlin 1899. 281 Vgl. Reulecke, Das Abbild einer neuen Zeit, S. 21. 282 Vgl. Monika Holzer-Kernbichler/Martina Nußbaumer/Antje Senarclens de Grancy/Elisabeth Stadler/Monika Stromberger/Heidemarie Uhl/Peter Wilding: Stadt(leit)bilder. Imaginationen und Konzepte der modernen Stadt um 1900, in: Moritz Csáky (Hrsg.): Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne (Gedächtnis – Erinnerung – Identität, Bd. 4), Innsbruck/Wien 2004, S. 129–163, hier S. 129f. 283 Daniel Kiecol: Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen. Paris und Berlin zwischen 1900 und 1930, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel/New York, NY/Oxford/Wien 2001, S. 212.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

177

gen und Bahnhöfe, Abwasserkanäle und Markthallen als ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens in der Großstadt etablierten sich daher als wichtige Programmpunkte eines jeden Metropolenbesuchs.284 Insbesondere die durch ‚moderne‘ Technik unterstützten Maßnahmen der Großstädte zur kommunalen Versorgung und Verkehrsplanung sowie zum Städtebau fanden ihren Widerhall in Reiseführern285 oder in der illustrierten Presse. In verschiedenen Zeitschriften betonten die Autoren beispielsweise immer wieder, dass die Mittel zur Verkehrsregelung – die durch Ingenieurskunst erschaffene breite Ausfallstraße, Hoch-, Tief- und Straßenbahnen – die Großstädte erst funktionsfähig hielten.286 Ebensolche Bedeutung hatten ‚moderne‘ Einrichtungen zur Erzeugung von Elektrizität und sauberem Wasser, zur hygienischen Entwässerung oder schnellen Kommunikation. Nicht nur ihre Funktion stand im Vordergrund des Interesses, ihre Fähigkeiten, den Energiebedarf der ‚modernen‘ Großstadt zu befriedigen, sondern ebenso ihr Wert für die interessierten Besucherinnen und Besucher.287 Diesen Aspekt betonte beispielsweise eine Zeichnung aus dem städtischen Elektrizitätswerk in Paris, die nicht nur einen Blick in die gerade erweiterte Maschinenhalle der Werke an sich freigab, sondern diese voll mit wissbegierigen Besichtigungsteilnehmern abbildete (vgl. Abbildung 9). Damit wurde die Großstadt in ihrer Modernität zu einem touristischen Erlebnis, das sogar, so die Bewertung des Reporters der Illustrirte[n] Zeitung auf der World’s Columbian Exposition 1893 in Chicago, die Attraktion der Welt­ausstellungen überstrahlte: „Das interessanteste Object [der Weltausstellung] ist die Riesenstadt am Michigansee mit ihren gewaltigen Gebäuden, ihrem Geschäftsleben, ihrer Industrie und den städtischen

284 Vgl. ebd., S. 141, 212. 285 Vgl. ebd., S. 248. Kiecol nennt verschiedene Beispiele aus Reiseführern, die die Organisationsstruktur der Stadt mit ihren verschiedenen Einrichtungen als Sehenswürdigkeit der modernen Großstadt an sich ausweisen. 286 Mehrfach berichteten die illustrierten Zeitschriften zwischen 1899 und 1908 ausführlich über den Bau der Hoch- und Untergrundbahn in Berlin. Vgl. exemplarisch aus der Illustrirte[n] Zeitung und Das Buch für Alle Die elektrische Hochbahn in Berlin, in: Das Buch für Alle, Jg. 34, H. 23, 1899, S. 666, 669; A.W.: Die berliner Hoch- und Untergrundbahn. I. Die Unterpflasterstrecken, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 115, Nr. 2998, 13.12.1900, S. 923f.; Die neue Untergrundbahnlinie in Berlin, in: ebd., Bd. 131, Nr. 3403, 17.09.1908, S. 482f.; Vom Bau der berliner Untergrundbahn, in: Das Buch für Alle, Jg. 43, H. 4, 1908, o.P.; Der Untergrundbahnhof „Leipziger Platz“ in Berlin, in: ebd., H. 12, 1908, S. 267, 270f. Auch der Bau der Pariser Stadtbahn wurde häufig thematisiert. Vgl. exemplarisch Erich Körner: Von der Pariser Stadtbahn, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3132, 09.07.1903, S. 53–57; Pariser Bilder. Neues von der elektrischen Stadtbahn, in: ebd., Bd. 127, Nr. 3298, 13.09.1906, S. 415–417; Die Anlage der Pariser Stadtbahn unter der Place de l’Opera, in: Das Buch für Alle, Jg. 46, H. 14, 1911, S. 311–313. 287 Vgl. Die Berliner Elektrizitätswerke, in: Illustrirte Zeitung, Bd 94, Nr. 2432, 08.02.1890, S. 142, 144; Die Berliner Elektrizitätswerke, in: Das Buch für alle, Jg. 30, H. 5, 1895, S. 128, 130.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

178

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 9: „Die Maschinenhalle der städtischen Elektrizitätswerke zu Paris in der geplanten Vergrößerung“ (1890): Inszenierung technischer Einrichtungen als touristische Attraktion

Einrichtungen.“288 Die en­thusiastische Einschätzung des Reporters unterstreicht die Bedeutung, die der Besuch der ‚modernen‘ Großstadt als Schritt hin zur touristischen Wahrnehmung der Fabrik hatte. Das Bürgertum lernte, mit der Betrachtung neuer technischer Einrichtungen umzugehen, was nicht nur das Verständnis von Technik beinhaltete, sondern die Fähigkeit, sie überhaupt jenseits ihrer tatsächlichen Funktion als Sehenswürdigkeiten zu verstehen. Die Reise in die ‚moderne‘ Metropole war damit ein weiterer Schritt auf dem Weg voller Sensationslust, die den ‚Touristen‘ schon auf die Weltausstellungen, in Zoos und Völkerschauen, in die Gefängnisse, Nervenheilanstalten und Slums geführt hatte. Gleichzeitig bot diese Reise mit ihren bisher kaum als Sehenswürdigkeiten wahrgenommenen Anziehungspunkten die Möglichkeit, sich selbst als besonders aufgeschlossenen Reisenden darzustellen, nicht als ‚Tourist‘, der sich auf ausgetretenen Pfaden bewegte. Wenn aber das Moderne an der Großstadt jemanden schon im Selbstbild als außergewöhnlich bildungshungrigen Reisenden klassifizierte, musste es ein Besuch der Fabrik erst recht. 288 E[rnst] v[on] Hesse-Wartegg: Feuer in Chicago, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 101, Nr. 2613, 29.07.1893, S. 136f., hier S. 136.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

179

4.2.3. Ein neuer Umgang der Unternehmen mit der Öffentlichkeit: Die Fabrik wird zugänglich

Dass bei technikbegeisterten, bildungshungrigen und an touristischen Erlebnissen interessierten Bürgerinnen und Bürgern ein Verlangen danach wuchs, nicht nur von der Technik zu lesen oder sie als Ausstellungsobjekt zu betrachten, sondern diese Technik lebendig werden zu sehen, bildete nur einen Aspekt, der den Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis konstruierte. Gleichermaßen war es für eine Konstituierung der Fabrik als entsprechende Attraktion nötig, dass die Unternehmen diesem neu erwachenden Interesse entgegenkamen. Ursprünglich hatten die Unternehmen kaum das Verlangen gehabt, Gäste willkommen zu heißen, um sich vor Industriespionage zu schützen, was häufig dem Ansinnen der vorwiegend männlichen Besucher entsprach, die bis zum späten 19. Jahrhundert zu den Fabriken gereist waren.289 Außerdem fürchtete man, dass die Besuchergruppen die Produktionsabläufe stören beziehungsweise dass Führungen durch das Werk einen zu großen Aufwand bedeuten könnten.290 Mit der neu aufkommenden Öffentlichkeitsarbeit der Unternehmen zur Jahrhundertwende änderte sich dies und die Fabriken öffneten ihre Tore, um sich ein positives Image zu geben. Ein wichtiger Bestandteil in der Gestaltung des Verhältnisses eines Unternehmens zur Öffentlichkeit, der ‚Public Relations‘,291 ist die Verbesserung des Bildes der Firma oder eines ihrer Produkte bei der 289 Schon seit dem späten 18. Jahrhundert hatten sich deutsche Ingenieure, Mechaniker, Techniker und Unternehmer bevorzugt nach England auf den Weg gemacht, um sich über die neu heraufziehende Epoche zu informieren, vgl. Klaus Herrmann: Ingenieure auf Reisen. Technologieerkundung, in: Bausinger/Beyrer/Korff, Reisekultur, S. 297. Die englische Eisenbahn, die englischen Hüttenwerke, der Maschinenbau und die Textilindustrie waren die Hauptanziehungspunkte, um sie zu erleben reisten deutsche Ingenieure in die Industriegebiete um Leicester, Manchester, Sheffield, Liverpool, Birmingham und London. Vgl. auch Wolfhard Weber: Industriespionage als technologischer Transfer in der Frühindustrialisierung Deutschlands, in: Technikgeschichte, Bd. 42, H. 4, 1975, S. 287–305; Martin Schumacher: Auslandsreisen deutscher Unternehmer 1750–1851 unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland und Westfalen, Köln 1968. 290 Allein die Anwesenheit von Menschen, die keine Aufgabe im Produktionsprozess erfüllten, führte manchmal zu Problemen bei den Abläufen in der Fabrik, auch war es schwierig, ihre Sicherheit zu garantieren beziehungsweise es waren umfangreichere Aufräumarbeiten nötig, um die Sicherheit der Gäste zu gewährleisten und die Fabrikanlage so präsentabel wie möglich herzurichten, was, wie die Firma Bayer monierte, mit hohen Kosten verbunden war. Vgl. Unkosten Fremdenbesuch Leverkusen 1904, 24.05.1905, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 291 Selbst wenn das Phänomen, dass Unternehmen versuchten, ihren Absatz durch gezielte Maßnahmen der Meinungsbeeinflussung zu fördern, generell eher in den USA in der öffentlichen Diskussion thematisiert wurde und in der Forschung Beachtung fand, haben mittlerweile die Untersuchungen zu deutschen Unternehmen die Bedeutung des Phänomens auch für deren Praxis attestiert. Vgl. vor allem die Studien von Wolbring und Zipfel, Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

180

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Allgemeinheit. Dahinter steht letztlich immer das Ziel, durch ein besseres Image auf direktem oder indirektem Wege den Absatz zu steigern.292 Selbst wenn das Bestreben, durch gezielte Kommunikation die Meinung und das Verhalten anderer zu beeinflussen, bis zum Beginn der Zivilisation zurückverfolgt werden kann, blühte es doch hauptsächlich im 19. Jahrhundert auf, einer Zeit, in der der kommerzielle Wert der Information der Öffentlichkeit beispielsweise beim Verkauf von Büchern und medizinischen Mixturen erkannt und voller Erfindungsreichtum angewendet wurde.293 Entscheidend in diesem Zusammenhang war jedoch eine soziokulturelle Entwicklung, die die Maßnahmen der ‚Public Relations‘ zuließ beziehungsweise sogar erst nötig machte und die Alan Trachtenberg in seiner gleichnamigen Studie für die USA als Vorgang der „Incorporation of America“ fasst.294 Darunter versteht er eine allgemeine Veränderung der Gesellschaft im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung, in deren Lauf neue Konzepte von Gesellschaft entstanden seien und sich die Wahrnehmung von Institutionen und Unternehmen gewandelt habe.295 Speziell das Wachstum von Umfang und Macht großer Firmen in so massivem und schnellem Maß wie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte die amerikanische Gesellschaft und Kultur in der Weise, dass ein neues charakteristisches amerikanisches Angstgefühl entstand: Die Angst, dass zweifelhafte ethische Standards, exzessive Profitgier und fortschreitende Ungleichheit die nationalen Werte gefährden könnten.296 Diese Befürchtungen, die in den USA die Reformbewegung des Progressivismus anstießen, waren mit den Ressentiments des deutschen Bürgertums gegenüber den Veränderungen durch die Industrialisierung vergleichbar. Daher orientierten sich im Deutschen Reich die größeren Firmen ebenfalls an dem Ziel, sich der Gesellschaft in einem positiven Licht zu präsentieren. Die bekanntesten und am besten erforschten Beispiele für den deutschsprachigen Raum sind die Firmen AEG und Siemens aus der aufstrebenden Elektroindustrie sowie der Großkonzern Krupp.297 Bei dem Vorgang ging es im Grunde darum, das Unternehmen der Öffentlichkeit näherzubringen, die großen, undurchsichtigen 19. Jahrhundert; Astrid Zipfel: Public Relations in der Elektroindustrie. Die Firmen Siemens und AEG 1847 bis 1939, Köln 1997. Vgl. für die USA Richard S. Tedlow: Keeping the Corporate Image, Greenwich, CT 1979, S. 14–16; Allan R. Raucher: Public Relations and Business 1900–1929, Baltimore, MD 1968, S. VII. 292 Vgl. Tedlow, Keeping the Corporate Image, S. 18. 293 Vgl. Scott M. Cutlip: Public Relations History. From the 17th to the 20th Century. The Antecedents, Hillsdale, NJ/Hove 1995, S. 170. 294 Vgl. Alan Trachtenberg: The Incorporation of America. Culture and Society in the Gilded Age, Jubiläums-Sonderausgabe, New York, NY 2007. 295 Vgl. ebd., S. 3–7. 296 Vgl. Oliver Zunz: Making America Corporate, Chicago, IL/London 1990, S. 1. 297 Vgl. Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit; Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

181

Konzerne mit Produktionsstätten, die teilweise hinter hohen Mauern verborgen lagen, teilweise durch ein Produkt repräsentiert, das die Allgemeinheit nur schwer (be-)greifen konnte, für die Öffentlichkeit erfahrbar zu machen. Vor allem Produzenten von Stahl, Maschinen, Chemikalien oder Elektronik bemühten sich, persönlichen Kontakt mit einem Massenpublikum aufzubauen.298 Bei den PR-Maßnahmen ging es also um mehr als um bloße Werbeaktionen für Produkte, vielmehr lief es darauf hinaus, ein positives gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem das Unternehmen seine Absatzziele besser verfolgen konnte. Daher standen nicht nur primär die direkten Käuferschichten im Fokus, sondern eine bürgerliche Gesamtöffentlichkeit. Gemäß der Intention des amerikanischen PR-Pioniers Ivy Lee hatte man das Ziel, so viel wie möglich für die Öffentlichkeit zu tun, weil die Öffentlichkeit es dem Unternehmen durch ihre Protektion lohnen würde.299 Die Untersuchungen zu Deutschland belegen unter den Pionieren der Öffentlichkeitsarbeit wie Alfred Krupp oder Emil Rathenau ebenfalls die Einstellung, die Öffentlichkeit als Instrument zu sehen, um den Kundenkreis des Unternehmens zu erweitern, selbst wenn, wie im Falle der Firma Krupp, ein Großteil dieser Öffentlichkeit gar keine potenzielle Kundschaft war, sondern man vielmehr das Ziel verfolgte, gegen ein schlechtes allgemeines Ansehen anzukämpfen, dass sich dann negativ auf die Kaufentscheidung der tatsächlichen Kundschaft auswirkte.300 Die Motivation zur PR-Arbeit des Unternehmers in der Elektroindustrie beruhte dagegen auf der Erkenntnis, dass man sich seinen Markt erst selbst schaffen müsse.301 Diese und viele weitere Firmen gingen daher dazu über, umfassende Aktionsprogramme zu erstellen, um den Zuspruch von Verbrauchern, Angestellten, Teilhabern – mit einem Wort, der Öffentlichkeit an sich – zu gewinnen.302 In diesem Klima entstand 1890 das Nachrichtenbüro der Firma 298 Vgl. Raucher, Public Relations and Business, S. VII; Roland Marchand: Creating the Corporate Soul. The Rise of Public Relations and Corporate Imagery in American Big Business, Berkeley, CA/ London 2000, S. 14. Als Beispiele aus den USA gelten Firmen aus der Elektro- und der chemischen Industrie wie General Electric, Westinghouse, Kodak, AT&T, aus der Fahrzeugfertigung wie General Motors und Firestone sowie verschiedene Versicherungen. Vgl. Schwarz, Vom Maschinenpark zum Futurama, S. 96f. Dazu kamen diejenigen Firmen, die aufgrund ihrer Größe mit Argwohn betrachtet wurden, wie Standard Oil, oder die großen Eisenbahngesellschaften. Vgl. Tedlow, Keeping the Corporate Image, S. 9. In diese Aufzählung lassen sich die deutschen Firmen AEG, Siemens und Krupp nahtlos einfügen. 299 Vgl. ebd., S. 9. 300 Vgl. Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 13f. Alfred Krupp musste gegen Ende des Jahrhunderts gegen ein schlechtes Image seines Unternehmens kämpfen. Nachdem die Firma unter der Leitung seines Vaters stellvertretend für den industriellen Aufstieg Deutschlands gestanden hatte, wurde sie Ende des Jahrhunderts häufig mit den negativen Seiten der Hochindus­ trialisierung identifiziert. Vgl. ebd., S. 14. 301 Vgl. Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie, S. 143. 302 Vgl. Raucher, Public Relations and Business, S. 66. Der Erfolg dieser Strategie zeigte sich besonders

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

182

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Krupp, dessen Aufgabe über das Sammeln von Informationen über das Unternehmen in Zeitungen und Zeitschriften und das Weiterleiten an die betroffenen Abteilungen hinaus bald ebenso die Informationssteuerung wurde.303 Ähnliche Bemühungen unternahmen die Firmen Siemens und AEG, die jeweils im Jahr 1899 einen Pressereferenten einstellten304 beziehungsweise ein literarisches Büro gründeten, dass das Unternehmen in der Öffentlichkeit präsentieren sollte.305 Als Ergebnisse entstanden beispielsweise die bereits skizzierten Werksfotografien306 oder Selbstdarstellungen der Fabrik.307 Die Maßnahmen, die die Firmen ergriffen, zielten jeweils darauf ab, ein positives, greifbares Bild zu kreieren. Hierzu gab es verschiedene Möglichkeiten, die häufig von den Unternehmen kombiniert wurden. Zunächst einmal lag es nahe, die Person des Firmengründers als Personifizierung des Gesamtunternehmens in den Vordergrund zu stellen. Die Mystifizierung der Firmenpatriarchen wie Alfred Krupp,308 August Thyssen,309 Hugo Stinnes,310 oder in den USA Thomas Alva Edison,311 deren Lebenswandel und Persönlichkeit für die Qualität ihres Unternehmens standen, war das gängigste Mittel, der Firma ein Gesicht zu geben. Während diese Möglichkeit bereits das gesamte 19. Jahrhundert über genutzt worden war, bekam die Öffentlichkeit im letzten Drittel des Jahrhunderts weitere Aus- und Einsichten geboten. So wurde dem Bild des Firmeninhabers das seiner Werksanlagen zur Seite gestellt. Die dritte Möglichkeit, einem ansonsten ‚seelenlosen‘ Unternehmen ein ‚Herz‘ zu geben,312 bestand in der Identifizierung über das in seiner Größe, Neuartigkeit oder Qualität herausragende Produkt, wozu insbesondere die Industrie- und Gewerbeschauen genutzt wurden. Hier gingen bei den großen Kaufhäusern, die in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine klare Identität und ein positives Image vorweisen konnten und von der Allgemeinheit als öffentliches Gut betrachtet wurden. Vgl. Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 11. 303 Vgl. Ralf Stremmel: Friedrich Alfred Krupp. Handeln und Selbstverständnis eines Unternehmers, in: ders./Michael Epkenhans (Hrsg.): Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010, S. 27–75, hier S. 65. 304 Vgl. Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie, S. 36. 305 Vgl. ebd., S. 144. 306 Vgl. Kapitel 2.3.2. 307 Vgl. Kapitel 2.3.3. 308 Vgl. Lothar Gall: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000, insbes. S. 202–224. 309 Vgl. Jörg Lesczenski: August Thyssen 1842–1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen 2008. 310 Vgl. Gerald D. Feldman: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen, 1870–1924, München 1998. 311 Vgl. Randall Stross: The Wizard of Menlo Park. How Thomas Alva Edison Invented the Modern World, New York, NY 2007; Martin V. Melosi: Thomas A. Edison and the Modernization of America, 2. Aufl., New York, NY 2008. 312 Vgl. John Kimberly Mumford: This Land of Opportunity. The Heart of a „Soulless Corporation“, in: Harper’s Weekly. A Journal of Civilization, Nr. 11, 1908, S. 22–24 und Nr. 18, 1908, S. 22–24.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

183

die Aussteller dann sogar vereinzelt so weit, nicht nur die Produkte zu präsentieren, sondern ebenfalls den dahinter stehenden Produktionsprozess in Form von Informationsbroschüren zu erläutern oder gar selbst beispielhaft auszustellen. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, das soziale Handeln des Unternehmens durch ein firmeneigenes Wohlfahrtsprogramm zu kommunizieren, womit nach dem Firmenpatriarchen, dem Fabrikgebäude, den dort hergestellten Produkten und schließlich der Produktionsanlage selbst nunmehr die umsorgte Arbeiterschaft das Unternehmen symbolisierte. Nahezu jede Firma versuchte, sich durch ihre Produktionsstätten den Geschäftspartnern, dem Kundenkreis und letztlich der breiten Öffentlichkeit einzuprägen.313 Dies geschah, indem sie das Äußere der Fabrik medial inszenierte oder sogar besondere bauliche Maßnahmen traf, um dem Fabrikgebäude ein Aussehen zu verleihen, das das Unternehmen in einem positiven Licht erscheinen ließ. Die Hinwendung zu einer medialen Inszenierung des Fabrikgebäudes für die Öffentlichkeit lässt sich beispielsweise an der Gestaltung von Firmenbriefköpfen, die im 19. Jahrhundert zunehmend die Fabrikanlage als Aushängeschild für die Firma verwendeten, nachvollziehen. Zwar hatte es schon vor dieser Zeit grafische Ausschmückungen auf geschäftlicher Korrespondenz gegeben, diese erlebte aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine ganz eigene Entwicklung. Während bis etwa 1845 kleinformatige Schmuckzeichen, die traditionelle kaufmännische Symbole zeigten, die Firma repräsentierten, setzte sich danach die Darstellung des Unternehmens durch die Abbildung seiner baulichen Ausdehnung durch, die nicht mehr nur einen dekorativen Zusatz auf der Firmenkorrespondenz darstellte, sondern ein Repräsentationszeichen war, das gleichermaßen die Firma wie den technischen Fortschritt rühmte.314 Diese Fabrikansicht war keine naturgetreue Abbildung, sondern versuchte entgegen den tatsächlichen Umständen so ästhetisch und prosperierend wie möglich zu erscheinen. Dazu wählte die Unternehmensleitung die eindrucksvollste Seite der Fabrik zur Abbildung, veränderte Fluchtlinien und Größenverhältnisse, ließ Störendes weg oder fügte rauchende Schornsteine und Eisenbahnen hinzu. Die gewählte Ansicht war häufig die Hochperspektive, die vermeintlich Objektivität versprach, tatsächlich aber auf einen möglichst repräsentativen Überblick abzielte.315 Der Rechnungskopf einer Textilfabrik aus Emsdetten aus dem Jahr 1896 (vgl. Abbildung 10) verdeutlicht, welche Mechanismen ein derart idealisiertes Gesamtbild ermöglichten. Die gewählte schräge Hochperspektive der Zeichnung sorgt dafür, dass die Fabrik in ihrer ganzen Ausdehnung wahrgenommen werden konnte, ein Anblick, der in der 313 Vgl. allgemein Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 28–31. 314 Vgl. Claus Apel: Gestalt- und Aussagewandlungen des illustrierten Firmenbriefkopfes im 19. Jahrhundert, in: Bernhard Korzus (Hrsg.): Fabrik im Ornament. Ansichten auf Firmenbriefköpfen des 19. Jahrhunderts, Münster 1980, S. 84–98, hier S. 84–89. 315 Vgl. ebd., S. 89–93.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

184

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 10: Rechnung der Spinnerei und Weberei J. Schilgen (1896): Das Fabrikgebäude als Repräsentant für das Unternehmen

Realität kaum möglich war. Die Perspektive ist leicht verzerrt, um eine Vorderansicht des Gebäudes ebenso wie die Ausdehnung des Ensembles im Bild erfassen zu können. Die Ausmaße des Bildes sind genau durch die Ausdehnung der Fabrik bestimmt, die Maße, in denen die Fabrik abgebildet wird, richten sich nach dem Seitenverhältnis des Bildes: Die Höhe der Schornsteine entspricht exakt der vertikalen Ausdehnung der Abbildung, die Diagonale des schräg im Bildausschnitt liegenden Fabrikgebäudes kommt der horizontalen Ausdehnung des Bildes gleich. Zu dem Eindruck maximaler Ausdehnung der Fabrik, der auf diese Weise evoziert wird, trägt außerdem die Einbettung des Gebäudeensembles in eine idyllische, aber ansonsten leere Landschaft bei, die die Fabrik optisch beherrscht und damit ihren Ausdehnungs- und Geltungsanspruch über ihre eigene Größe hinaus noch unterstreicht. Die betriebliche Leistungsfähigkeit der Fabrik, die geschäftigen Vorgänge in ihrem Innern, symbolisieren die hoch aufragenden Schornsteine und der durch sie austretende Rauch. Zeugnis von der Prosperität des Unternehmens gibt außerdem der Verkehr auf der Straße vor dem Haupteingang. Dieselbe Aufgabe, ein Bild der Firma in die Öffentlichkeit zu tragen, hatten die Erzeugnisse der frühen Werksfotografie. Wie in vielen Bereichen der Öffentlichkeitsarbeit kann die Firma Krupp hier als Vorreiterin in Deutschland gelten. Ab Anfang der achtzehnhundertsechziger Jahre ließ Alfred Krupp von seiner ‚Graphischen Anstalt‘ großformatige Überblicksfotografien seiner Werke erstellen, die in den Büros des

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

185

Unternehmens die Wände schmückten, das Werk auf Weltausstellungen vorstellten und in Form von Faltkarten wichtigen Kunden übergeben wurden.316 Die riesenhafte Größe seiner Gussstahlfabrik, so urteilt die einstige Leiterin der fotografischen Sammlung des Essener Ruhrmuseums Sigrid Schneider, sei fester Bestandteil der Selbstdarstellung der Firma Krupp gewesen und habe sich „wie ein stählernes Band durch die Motive und Mythen der Firmengeschichte“317 gezogen. Die fotografischen Aufnahmen, allen voran die 360-Grad Panoramaansichten des Werkes, boten dazu eine neue, einzigartige Möglichkeit. Es ging jedoch um mehr als die reine Wiedergabe der Realität. In einem Schreiben aus dem Jahr 1867 wies Alfred Krupp bezüglich der Herstellung neuer Panoramabilder seines Werkes an, er wünsche „Ansichten mit Staffage und Leben auf den Plätzen, Höfen und Eisenbahnen.“ Die Aufnahmen sollten allerdings an einem Sonntag erfolgen, „weil die Werktage zu viel Rauch, Dampf und Unruhe mit sich führen […].“ Daher musste das gewünschte ‚Leben‘ durch 500 bis 1.000 Arbeiter, die als Statisten Betriebsamkeit symbolisierten, hervorgebracht werden. Der in Mengen unerwünschte Dampf übernahm ebenfalls eine Statistenrolle, da Alfred Krupp es als „hübsch“ erachtete, „wenn an möglichst vielen Stellen etwas weniger Dampf ausströmt.“318 Die Bilder belegen damit, wie der Firmeninhaber, und hier ist Alfred Krupp nur das herausragende Beispiel, seine Welt der Öffentlichkeit vorstellen wollte, als, so Bodo von Dewitz, „pulsierende Welt der industriellen Arbeit, in deren Mikrokosmos Ordnung und Harmonie vorherrscht.“319 Diese inszenierten Fabrikansichten, ob als Zeichnungen oder als Fotografien, wurden jedoch nicht nur zur Repräsentation des Unternehmens in der Korrespondenz mit Geschäftspartnern oder gegenüber direkter Kundschaft verwendet, sondern in eine breite bürgerliche Öffentlichkeit getragen. Fabrikporträts in populären Zeitschriften griffen – neben den Abbildungen der wichtigsten Produkte – ebenfalls auf das inszenierte Außenbild der Fabrik zurück, das stellvertretend für das Unternehmen als Ganzes stand. Sie verwendeten dieselben Mechanismen der Inszenierung für die Abbildung wie bei den Fabrikansichten auf Briefköpfen und positionierten diese ganz oben auf 316 Vgl. Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 111. 317 Ulrich Borsdorf/Sigrid Schneider: Ein gewaltiger Betrieb. Fabrik und Stadt auf den Kruppschen Fotografien, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 123–158, hier S. 123. 318 Schreiben Alfred Krupps an die Firma vom 12. Januar 1867 aus Nizza, in: Alfred Krupps Briefe und Niederschriften 1826–1887, Bd. 9, [Essen] 1867, HAK, Bestand: FAH 2 – Friedrich Alfred Krupp (1854–1902) und seine Frau Margarethe, geb. Freiin von Ende (1854–1931), Signatur: FAH 2, M 78.9. 319 Bodo von Dewitz: „Die Bilder sind nicht teuer und ich werde Quantitäten davon machen lassen!“. Zur Entstehungsgeschichte der Graphischen Anstalt, in: Tenfelde, Bilder von Krupp, S. 41–66, hier S. 59.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

186

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

der Zeitschriftenseite, auf der der Bericht begann, also an derselben Stelle, an der sich das Bild im Briefkopf befand. Damit wurden die Abbildungs- und Sehgewohnheiten des Fabrikgebäudes in ein neues Medium übergeleitet. Diese Firmen- oder Fabrikporträts können daher als Schnittstelle zwischen der Selbstdarstellung der Fabrik und der Betrachtung außenstehender Berichterstatter gelten und legen dar, wie wichtig das Fabrikäußere für die Repräsentation des Unternehmens war.320 Selbst wenn die übergroße Ähnlichkeit der Fabrikansichten darauf schließen lässt, dass die Materialien für derartige Fabrikporträts den Zeitschriften von den Firmen zur Verfügung gestellt wurden und daher die Zeitschriften nur den von den Firmen konstruierten Blick auf die Fertigungsstätte wiedergaben, ist es doch bemerkenswert, dass die Printmedien überhaupt auf diese Darstellungsweise zurückgriffen.321 In einigen Fällen gingen die Firmen sogar so weit, nicht nur ein speziell inszeniertes Bild ihrer Produktionsstätte zu verbreiten, sondern tatsächlich das Äußere baulich zu verändern. Die „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft“ kann hier als ‚Trendsetter‘ in Deutschland gelten, die, wie gerade schon kurz thematisiert, 1907 den Architekten und Mitbegründer des deutschen Werkbundes Peter Behrens vielfach damit beauftragte, neue Werkshallen für das Unternehmen zu entwerfen. Damit sollte die traditionelle gründerzeitliche Architektur, die weder den modernen Fabrikationsmethoden noch den von den Unternehmen produzierten neuartigen Waren oder dem allgemeinen Zeitgeist entsprach, überwunden werden. Stattdessen bekam die Fabrik ein ‚modernes‘ Gesicht, das stellvertretend für die dort hergestellten innovativen Geräte warb und gleichzeitig für bessere 320 Vgl. exemplarisch einige Firmenportraits in der Illustrirte[n] Zeitung mit vergleichbaren Firmenabbildungen, etwa Maschinenfabrik Oerlikon, Oerlikon bei Zürich, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 132, Nr. 3433, 15.04.1909, S. 52 (gesonderte Paginierung); Heinrich Lanz – Mannheim. Maschinenfabrik, Kesselschmiede und Eisengießerei, in: ebd., Bd. 130, Nr. 3391, 25.06.1908, S. 1271; Weber & Co., Maschinenfabrik und Gießerei, Aster, in: ebd., Bd. 132, Nr. 3433, 15.04.1909, S. 56 (gesonderte Paginierung); Die Gothaer Waggonbau-Industrie, in: ebd., Bd. 134, Nr. 3478, 24.02.1910, S. 30–33 (gesonderte Paginierung); O. Sch.: Aus der deutschen Schmuckwaren-Industrie u. -Technik. Kollmar & Jourdan A.-G., Pforzheim, in: ebd., Bd. 135, Nr. 3509, 29.09.1910, S. 43f. (gesonderte Paginierung); Oskar Meyer-Elbing: Portland-Cement-Fabrik Dyckerhoff & Söhne G.m.b.H. in Amöneburg bei Biebrich a.Rh., in: ebd., Bd. 138, Nr. 3586, 21.03.1912, S. 49–52, hier S. 52 (gesonderte Paginierung). Auch die Fabrikreportagen, die keinen Anzeigencharakter hatten, operierten mit vergleichbaren Fabrikansichten zur Bebilderung insbesondere des Auftakts der Artikel. Vgl. exemplarisch Deutschlands große Industrie-Werkstätten. Die Fabrikation der Buchdruckerschwärze, in: Die Gartenlaube, Nr. 26, 1885, S. 425–426, hier S. 425; Bürgerliches Bräuhaus in Pilsen, in: Über Land und Meer, Jg. 35, Bd. 69, Nr. 2, 1892/1893, S. 44f., hier S. 44; Ein Besuch in der Fabrik Lochmann’scher Musikwerke A.G., Leipzig-Gohlis, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 99, Nr. 2573, 02.10.1892, S. 471–476, hier S. 471; Hannover’sche Cakesfabrik, H. Bahlsen, Hannover, in: ebd., Bd. 113, Nr. 2940, 02.11.1899, S. 618f., hier S. 618. 321 Zur häufig ungeklärten Urheberschaft der Industriefotografien vgl. Kapitel 2.3.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

187

Arbeitsbedingungen stand. Die Fabrik, im Bewusstsein der Öffentlichkeit vertreten durch ihr modernes Gebäude, konnte so interpretiert werden als Wegbereiter für eine bessere Zukunft für Arbeiter- und Konsumentenschaft.322 Dementsprechend betonte die mediale Selbstdarstellung der AEG immer die Modernität ihrer Fabrikgebäude, für die der Name des Architekten bürgte. In den verschiedenen Fabrikführern nahmen die Fotografien der Gebäude von Behrens einen besonderen Platz ein (vgl. Abbildung 11).323 Der Darstellungsmodus war hier ähnlich wie bei den Abbildungen der Fabrik auf Briefköpfen: Das perspektivisch langgezogene Gebäude scheint kein Ende zu nehmen, die Menschen davor wirken wie Statisten. Durch die Froschperspektive auf die Ecke des Gebäudes scheint die Kopfseite im Vordergrund in den Himmel zu wachsen, während die Längsseite auf einen Fluchtpunkt in der rechten unteren Ecke der Fotografie zuläuft, was den Eindruck unendlicher Längenausdehnung vermittelt. Dieser Effekt des in die Höhe Wachsens wird noch unterstützt durch drei vertikal verlaufende Fensterfronten auf der Stirnseite der Halle, während die Fensterfronten auf der Längsseite die Tiefenwirkung verstärken. Die Arbeitssituation in diesen Hallen wurde ausführlich beschrieben: „Im Innern findet man ein wahres Lichtermeer. Denn überall flutet das Licht durch ungeheure gläserne Wände über die Maschinen. Es quillt vom Dach hernieder, dessen Stützwerk so überaus zierlich aussieht, obgleich die Nutzkonstruktion nirgends verkleidet ist, es bricht von allen Seiten herein und macht die Menschen, die in dieser Halle arbeiten, lustiger zum Werk.“324 Die Architektur des Gebäudes erschien der Leserschaft dieser Beschreibung als Wohltäterin, die die Arbeitsbedingungen so weit verbesserte, dass es geradezu Vergnügen bereiten musste, in dieser Werkshalle seine Zeit zu verbringen. Die Sehenswürdigkeit der neu gestalteten Fabrikhallen wurde so erfolgreich propagiert, dass sogar der Baedeker sie als besonderen Punkt auf seinen Besichtigungstouren durch die deutsche Hauptstadt aufgriff. Im Gegensatz zu anderen Fabriken, die der Reiseführer entweder gar nicht namentlich nannte, sondern nur durch die Art der hergestellten Produkte und ihre Lage auswies oder gegenüber solchen Fabriken, die zwar mit Firmennamen erwähnt, aber ebenfalls nur über ihre hergestellten Produkte ausgewiesen wurden, nahm die AEG mit der Erwähnung der Architektur ihrer Werkshallen eine Sonderstellung 322 Vgl. Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Berlin 1998, S. 91. 323 Vgl. etwa die Abbildungen im Führer der AEG durch die Fabriken Brunnenstrasse und das Hygienemuseum: AEG (Hrsg.): Fabriken Brunnenstrasse, Hygienemuseum, Berlin [1914]: Große Montagehalle, nach S. 6, Fabrik für Bahnmaterial, nach S. 10, Kleinmotorenfabrik, nach S. 10, SDTB, Bestand: AEG, Signatur So 06904. 324 AEG (Hrsg.): Turbinenfabrik, Berlin o.J., S. 22, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 4268.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

188

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 11: „Große Montagehalle“ der AEG (ca. 1914): Öffentlichkeitswirksame Inszenierung eines Fabrikgebäudes

ein.325 Die Fabrikansicht wurde so über die Funktion als Gebäude hinaus zu einem inszenierten Symbol für das Unternehmen, sie stand für Macht, Größe, Dynamik und Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig verstrahlte sie Modernität und Individualität. Damit verlieh sie dem Unternehmen ein Stück greifbare Persönlichkeit. Eine weitere Möglichkeit, sich der Öffentlichkeit positiv zu präsentieren, war die besondere Vorstellung des hergestellten Produktes, womit mehr bezweckt wurde als die reine Bewerbung dieses einzelnen Fabrikats, das pars pro toto für das ganze Unternehmen stand. Die Industrie- und Gewerbeausstellungen, die in dieser Arbeit schon häufiger thematisiert wurden, waren in diesem Zusammenhang für die Firmen von herausragender Bedeutung. Während in der bisherigen Analyse der Warenschauen die Wahrnehmung der Inszenierung der Produkte durch die Besucherinnen und Besucher im Fokus stand,326 sollen an dieser Stelle die Hoffnungen und Ziele der ausstellenden 325 Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende, 18. Aufl., Leipzig 1914, S. 167, 169. 326 Vgl. Kapitel 4.1.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

189

Firmen ausgeführt werden. Die Gewerbetreibenden legten erstens großen Wert auf die auf den Ausstellungen vergebenen Auszeichnungen, Preise und Medaillen, da diese für die Güte ihrer Produkte standen und daher ein wirksames Werbemittel gegenüber direkten Abnehmern bedeuteten.327 Zweitens ging es den Unternehmern aber um die Wahrnehmung in der allgemeinen Öffentlichkeit. Ratschläge zur vorteilhaften Produktpräsentation, um dieser Öffentlichkeit positiv aufzufallen, bezogen sich in der zweiten Jahrhunderthälfte vor allen Dingen auf die ästhetisch ansprechende Auslage der Produkte. Genaue Beschreibungen – zum Teil sogar in Form mathematischer Formeln – vermittelten den Ausstellern das Wissen über die Gestaltungskraft geometrischer Formen, über die optimale Grundfläche von Ständen, und über den günstigsten Lichteinfall.328 Damit einher ging oft das Prinzip der Masse:329 eine große Vielfalt an Waren oder selbst nur eine große Anzahl derselben Ware, stand für die Leistungsfähigkeit des Unternehmens.330 Ein anderes Mittel, auf das Potenzial der Firma über das Ausstellen von Waren aufmerksam zu machen, bestand in der Darbietung von Werkstücken, die durch ihre schiere Größe beeindruckten. Insbesondere sehr große Maschinenteile, vor denen sich die Besucherinnen und Besucher winzig vorkommen mussten, waren beliebte Ausstellungsstücke der Hersteller. 1890 vermochte auf der Nordwestdeutschen Gewerbe- und Indus­trieausstellung in Bremen eine Schiffsschraube des Norddeutschen Lloyd von 40.000 kg und sieben Metern Durchmesser allein durch ihre Präsenz zu beeindrucken (vgl. Abbildung 12). Die Illustrirte Zeitung bildete sie auf eine Weise ab, in der die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung, die sie neugierig umstanden, als bloße Statisten zur Dokumentation der Größe der Schraube dienten, die sie um mehr als das Doppelte überragte. In der Zeichnung füllt das Werkstück das Bild nahezu zur Gänze, die äußeren Enden der vier Schraubenblätter reichen fast bis an die Ecken des Bildausschnittes heran. Die Schraube ragt aus dem Nichts heraus vor einem neutralen Hintergrund auf. Ihre Größe wäre nicht auszumachen, würden nicht Menschen mit abgebildet sein. Eine Frau und zwei Männer, durch ihre Kleidung als Mitglieder des Bürgertums gekennzeichnet, stehen direkt neben einem Flügel der Schiffsschraube, einer der Männer berührt ihn sogar, wie um seinen Durchmesser zu ertasten. Eine solche Darstellungweise vermittelte den Betrachterinnen und Betrachtern der Zeichnung, die sich mit den dargestellten Menschen identifizieren konnten, Ehrfurcht vor dem Werkstück und Hochachtung vor der dahinterstehenden Produktionsleistung. Im Aufstellen immer neuer Rekorde 327 Vgl. Kleinschmidt, Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, S. 113. 328 Vgl. Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 225f. 329 Vgl. ebd., S. 227. 330 Vgl. zur Inszenierung von Waren Kapitel 4.1.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

190

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 12: „Schraubenwelle & Schraube vom Schnelldampfer“ (1890): Ein übergroßes Werkstück als Anziehungspunkt

war Alfred Krupp indes der unangefochtene Meister. Die Stahlblöcke und die Geschütze, die die Firma auf den Weltausstellungen präsentierte, übertrafen immer wieder den jeweiligen Vorgänger und zogen schon auf ihrem Weg an den Ausstellungsort die Schaulustigen an.331 Die technische Perfektion der überdimensionierten Produkte war zwar nur von den Fachleuten zu erkennen, doch durch die schiere Größe war das Besondere dieses Werkstücks selbst für Laien ersichtlich. Die übergroßen Erzeugnisse, die eigentlich keinen wirtschaftlich verwertbaren Nutzen hatten, repräsentierten nicht nur die besonderen fachlichen Fähigkeiten der Firma, sondern setzten bewusst auf eine gewisse Ehrfurcht, die die Betrachtenden empfinden und dann auf das Unternehmen übertragen sollten. Siemens setzte ebenso auf die Präsentation von außerordentlich publikumswirksamen Ausstellungsstücken, so erregte 1879 auf der Berliner Gewerbeausstellung die erste elektrische Eisenbahn großes Aufsehen. In den vier Monaten der Laufzeit transportierte sie knapp 90.000 Gäste. Ein Jahr später wurde auf der Mannheimer Industrieausstellung 1880 der erste elektrische Fahrstuhl dazu eingesetzt, 8.000 Besucherinnen und Besucher auf einen Aussichtsturm zu transportieren.332 Von sol331 Vgl. Polytechnische Mitteilungen: Die Verladung des Krupp’schen Riesengeschützes für Chicago im hamburger Hafen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 100, Nr. 2598, 15.04.1893, S. 409f. 332 Vgl. Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie, S. 46. Weitere elektrische Bahnen, die für Aufsehen sorgten, waren bei der Internationalen Pariser Elektrizitätsausstellung 1881 die Bahn zwischen der Place de la Concorde und dem Industriepalast und 1883 bei der Weltausstellung in Wien die Praterbahn, vgl. ebd. Vgl. auch Schwarz, Transfer Transatlantici, S. 89; vgl. auch Kapitel 4.1.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

191

chen Produkten konnte die Industrie nicht erwarten, dass sie einen direkten Absatz beim Benutzer finden würden, vielmehr ging es um eine allgemeine Akzeptanz in der Bevölkerung, die dann unter Umständen die Kaufentscheidung von Großkunden von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Seite fördern würde. Im Übrigen regten die Gewerbeschauen dazu an, die Zurschaustellung von Produkten zu verstetigen, beispielsweise Ausstellungsensembles in oder in der Nähe der Fabrik wiederaufzubauen oder sogar firmeninterne Dauerausstellungen und Vorführungsräume einzurichten. Gerade bei der letztgenannten Maßnahme taten sich wiederum die Firmen der Elektroindustrie hervor, die versuchten, der anfangs skeptischen Öffentlichkeit die Funktionsfähigkeit und die Vorzüge elektrischer Geräte zu demons­ trieren. Bereits 1886 eröffnete die AEG ihre permanente Ausstellung, in der elektrische Apparate, zum Teil in Form einer Wohnungseinrichtung arrangiert, im Betrieb zu sehen waren, um die Verwendungsmöglichkeiten zu veranschaulichen.333 Im Zuge der Weiterentwicklung möglicher Ausstellungsformen auf Industrie- und Gewerbeschauen traten neben die gerade vorgestellte klassische Produktpräsentation immer aufwändigere Gesamtarrangements, die nicht mehr das Produkt, sondern eine inszenierte Geschichte in den Vordergrund stellten.334 Diese Tatsache deutet darauf hin, dass Unternehmen nicht mehr allein durch ihre Außenansichten und ihre Produkte für eine immer stärker informationsbedürftige Öffentlichkeit ausreichend zu repräsentieren waren. Der Produktionsprozess selbst rückte in diesem Zuge in den Mittelpunkt des Interesses. Ein erster Schritt der Firmen, sich nicht nur über die Waren, sondern darüber hinaus über den Prozess ihrer Herstellung zu präsentieren, bestand darin, zu den auf den Gewerbeschauen ausgestellten Artikeln Erläuterungen zu geben, die über die aktuelle Ausstellungssituation hinausreichten, indem sie beispielsweise von den Produktionsanlagen berichteten oder die Sozialleistungen des Unternehmens thematisierten.335 Dieses Informationsmaterial war eine Vorstufe zu den Fabrikführern, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts von Unternehmen an die Besucherinnen und Besucher ihrer Fabrik verteilt wurden.336 So wurde die Fabrik und die in ihr stattfindende Produktion ein Teil der Ausstellung. Doch die Maßnahmen, die Fabrik in 333 Vgl. Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie, S. 152. Die Firma Siemens erkannte ebenfalls den Nutzen von hauseigenen Produktschauen und zeigte zu besonderen Anlässen Sonderausstellungen im Verwaltungsgebäude oder in einzelnen Werken. Vgl. ebd., S. 50. Über die Ausstellung im geschlossenen privaten Raum hinaus boten die Unternehmen ihre Produkte auch im öffentlichen Raum dar, indem sie, ähnlich wie auf dem Gelände der Industrie- und Gewerbeausstellungen, auf eigene Kosten auffallende Beleuchtungsanlagen oder Teststrecken für elektrische Bahnen in den Großstädten installierten. Vgl. ebd., S. 148f. 334 Die ausführliche Analyse solcher Inszenierungen findet sich in Kapitel 4.1.3. 335 Vgl. Wolbring, Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 111. 336 Vgl. Kapitel 2.3.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

192

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

die Ausstellung zu holen,337 gingen noch weiter. Auf den Weltausstellungen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts führten die Aussteller zunehmend einzelne Maschinen zu einem Produktionsprozess zusammen, die häufig sogar in Bewegung gesetzt wurden und Schuhe, Zigarren, sogar Glaserzeugnisse und schließlich selbst Autos produzierten. Die Maschine avancierte „zur Bühne für die Präsentation der mit ihr gefertigten Produkte.“338 Bereits auf der ersten Weltausstellung in London 1851 war es durch die zentrale Kraftversorgung möglich, die Maschinen des Gastgeberlandes in Bewegung zu zeigen, was schon ausreichte, um bei den Besucherinnen und Besuchern das Gefühl aufkommen zu lassen, sich in einer Fabrik zu befinden. Darüber hinaus wurden jedoch bereits kleinere Waren produziert, beispielsweise Annoncen durch Dampfpressen gedruckt, Gedenkmünzen zur Weltausstellung durch Münzpressen geprägt, Stecknadeln in einer Zahl von 150 Stück in der Minute gefertigt.339 Während hier noch eher Andenken hergestellt wurden, gab es 1855 in Paris bereits Maschinen zu besichtigen, die 100 Schuhe pro Tag fertigten. In Wien setzte 1873 der Trend ein, dass verschiedene Zeitungen auf der Weltausstellung selbst ihre Sonderbeilagen zu diesem Spektakel produzierten, was danach ein Standard auf allen weiteren Weltausstellungen war. Auf den folgenden Ausstellungen gingen immer mehr Firmen dazu über, Teile ihres Produktionsprozesses zur Schau zu stellen, was schließlich solche Ausmaße annahm, dass sich die Hunderttausende von Gästen pro Tag nur noch von Brücken, die in einigen Metern Höhe durch die Ausstellungshalle bewegt wurden, einen Überblick verschaffen konnten.340 Diese Entwicklungen führten dazu, dass zunehmend die Maschinenhallen 337 Unter dem Titel „Taking the Factory to the Fair“ interpretierte Allison Marsh in ihrem Vortrag auf dem World’s Fair Symposium der Special Collections Library der California State University (30. März bis 01. April 2005) den Besuch von Weltausstellungen mit ganzen Produktionsanlagen als Werbeplattform für die Firmen. Vgl. Allison C. Marsh: Taking the Factory to the Fair, unveröffentlichtes Konferenzpapier, Vortrag auf dem World’s Fair Symposium der Special Collections Library der California State University (30. März bis 01. April 2005), Konferenz „World’s Fair Symposium“, in: HSozKult. Termine, 12.11.2004, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ termine/id=3347 (Stand: 01.09.2019). 338 Großbölting, „Im Reich der Arbeit“, S. 210. 339 Vgl. Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 42. 340 Vgl. ebd., S. 91, 104, 127. Wer seinen Produktionsprozess nicht auf der Ausstellung selbst vorführen konnte, bediente sich mit dem Aufkommen des Mediums Film recht bald dieser Möglichkeit, um die Arbeit in den Fabriken im Detail vorzustellen. Roland Marchand hebt das Beispiel der United States Steel Corporation hervor, die auf der Panama-Pacific-Ausstellung 1915 in San Francisco die Stahlherstellung in einem über sechsstündiger Film erläuterte, der die Besucherinnen und Besucher durch alle Fabriken des Unternehmens führte und jedes Detail der Produktionsphasen zeigte. Vgl. Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 264. Auch die Firma Heinz experimentierte ab 1915 mit Werbefilmen, die dann in den folgenden Jahrzehnten immer verstärkter als Lehrfilme an Schulen und Bildungsorganisationen verteilt wurden. Vgl. Marsh, Taking the Factory to the Fair, S. 9.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

193

der Expositionen nicht mehr als „Ausstellungslocal“,341 sondern als „Werkstatt“342 begriffen wurden. Der Höhepunkt des Prozesses, die Fabrik zur Ausstellung zu bringen, war dann im Jahr 1915 erreicht, als der amerikanische Automobil-Hersteller Ford auf der Panama-Pacific-Ausstellung 1915 in San Francisco ein ganzes Fließband aufbaute, auf dem bis zu 25 T-Modelle pro Tag produziert wurden. Von diesem Vorgang war das Publikum derart begeistert, dass es mit seinem Andrang die Anlagen gefährdete.343 Die Besucherinnen und Besucher sollten nicht jeden Schritt des Produktionsprozesses verstehen, sondern die Komplexität erkennen und so das umfassende Wunder der Produktion erleben. Aus dieser Erfahrung heraus, so hoffte das Unternehmen, würde ein positives Image erwachsen. Weniger das konkrete Verständnis der Betrachtenden, sondern vielmehr das Erlebnis an sich stand damit im Vordergrund.344 Ein Erlebnis bot der Öffentlichkeit auch die Inszenierung der betrieblichen Sozialfürsorge als letztes Mittel der Öffentlichkeitsarbeit. Wohlfahrtsprogramme beschäftigten sich natürlich in erster Linie mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft, womit das Unternehmen auch die Stabilisierung der gesellschaftlichen Lage anstrebte.345 Gleichzeitig ging es aber um das Phänomen des „Buying Soul through Welfare Capitalism“,346 also das Erkaufen eines positiven Images durch freiwillige soziale Leistungen, die das Unternehmen natürlich entsprechend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen musste. Die Sozialmaßnahmen der Firmen bildeten oft ein weit verzweigtes Netz, das von der preisgünstigen Beschaffung von Wohnraum und Nahrungsmitteln über Unterstützungsleistungen bei Krankheit, Invalidität oder Alter bis hin zu einem umfassenden Angebot zur Persönlichkeitsentfaltung und Lebensplanung reichte.347 Dazu spendeten Unternehmer wie Friedrich Alfred Krupp oder später In Deutschland arbeitete seit 1911 die Firma Siemens mit technischen Lehrfilmen für Vereine und Schülergruppen, die diesen zur Verfügung gestellt oder im Verwaltungsgebäude im eigenen Kinosaal vorgeführt wurden. Vgl. Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie, S. 68. 341 Rudi Elcho: Die Centennial-Ausstellung, in: Deutsche Rundschau, Bd. 8, 1876, S. 283–298, hier S. 287. 342 Ebd. 343 Vgl. Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 264; Schwarz, Transfer Transatlantici, S. 91. 344 Vgl. Schwarz, Vom Maschinenpark zum Futurama, S. 84, 91–93; Marsh, Taking the Factory to the Fair, S. 5f. 345 Vgl. Stremmel, Friedrich Alfred Krupp, S. 49, 54f. 346 Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 15. 347 Vgl. für eine Aufführung der Sozialleistungen der Firma Krupp Stremmel, Friedrich Alfred Krupp, S. 48; für die Firma Siemens Zipfel, Public Relations in der Elektroindustrie, S. 123–128; für die Firma AEG ebd., S. 182–191; für die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Anne Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich, München 2003, S. 128–225. Für weitere Beispiele zu firmeninternen Wohlfahrtsprogrammen größerer Unternehmen vgl. Jeffrey Allan Johnson: Zweiter Teil. Die Macht der Synthese (1900–1925), in: Werner Abelshauser (Hrsg.): Die BASF. Eine Unternehmensge-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

194

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

seine Witwe Margarethe Krupp große Summen aus ihrem Privatvermögen.348 Hinter solchem großen Engagement vermutet Ralf Stremmel, Herausgeber der jüngsten Biografie Friedrich Alfred Krupps, eine Kombination aus persönlichen, innerbetrieblichen und gesellschaftlichen Motiven.349 Die Kommunikation dieses Engagements in die Öffentlichkeit konnte darüber hinaus helfen, dem Unternehmen öffentliches Ansehen zu verschaffen. Mit seinem Wohlfahrtsprogramm war Krupp weltweit führend, gefolgt von Firmen aus den USA und Frankreich.350 In Deutschland stach daneben das soziale Engagement von Siemens und der AEG hervor. Aber selbst weniger große Firmen als diese entwickelten ein öffentlichkeitswirksames innerbetriebliches Sozialprogramm.351 Die Kommunikation der Wohlfahrtsprogramme der Firmen in die Öffentlichkeit erfolgte zumeist durch den Einsatz der Fotografie. Wenn auch die Firmen ihre sozialen Einrichtungen bisweilen fotografisch inszeniert hatten, so gingen ausdrücklich die Großunternehmen spätestens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dazu über, umfassende fotografische Bestandsaufnahmen der betrieblichen Sozialleistungen anzufertigen. Nach Abschluss dieser Maßnahme brachte beispielsweise die Firma Krupp zahlreiche „Führer durch die Wohlfahrtseinrichtungen“352 als selbstständige Publikationen heraus. Die Bilder inszenierten die Bewohnerinnen und Bewohner als Dekoration zu den abgebildeten Einrichtungen, zum Feierabend auf den Treppenstufen der werkseigenen Häuser, beim Einkauf in der zum Unternehmen gehörigen Konsumanstalt schichte, München 2002, S. 117–220, hier S. 119; Michael Kunczik: Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 211f. für die Firma Maggi, S. 245f. für die Firma Bosch, 250f. für die Firma Henkel. Vgl. für die Untersuchung der betrieblichen Sozialpolitik und ihrer Bedeutung allgemein Bruce E. Kaufman: Managing the Human Factor. The Early Years of Human Resource Management in American Industry, Ithaca, NY 2008; Susanne Hilger: Sozialpolitik und Organisation (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft, Bd. 94), Stuttgart 1996, S. 108–276. 348 Vgl. Stremmel, Friedrich Alfred Krupp, S. 48f.; Angelika Schaser: Margarethe Krupp. Entwurf eines Lebens im Zentrum der Krupp-Saga, in: Epkenhans/Stremmel, Friedrich Alfred Krupp, S. 179–249, hier S. 200. 349 Vgl. Stremmel, Friedrich Alfred Krupp, S. 49. 350 Vgl. Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 16. Interessanterweise waren mit dem Bon Marché an zweiter und der Colorado Fuel and Iron Company an dritter Stelle zwei Unternehmen im Umfang ihrer Sozialleistungen fast gleichauf mit Krupp, die besonders auf das Wohlwollen der Öffentlichkeit angewiesen waren. 351 Ein Beispiel für weniger institutionalisierte, als vielmehr paternalistisch anmutende Wohlfahrtspolitik liefert die Unternehmerfamilie Scheidt aus Kettwig, die zu verschiedenen eigentlich familiären Anlässen die Arbeiterschaft der Firma mit einbezog und dabei die enge Beziehung zwischen der Unternehmer- und den Arbeiterfamilien hervorhob, vgl. Ulrich S. Soénius: Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Familie Scheidt in Kettwig 1848–1925, Köln 2000, S. 412f. 352 Vgl. z.B. Buchdruckerei der Gußstahlfabrik Fried. Krupp A.G. (Hrsg.): Führer durch die Wohlfahrts­ einrichtungen der Gußstahlfabrik, Essen 1908.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik auf dem Weg zur touristischen Attraktion

195

oder bei der Lektüre im Lesesaal der Bücherei.353 Die Unternehmenskommunikation schlug sich darüber hinaus in der freien Presse nieder. So gab es nahezu keine ausführlichere Fabrikreportage, die nicht auf das Wohlfahrtsprogramm der Firma verwies und es einerseits als generöses Entgegenkommen des Unternehmens, andererseits aber ebenso als unverzichtbare Grundlage für die Erziehung eines zuverlässigen Arbeiterstammes und damit für die Qualität der Produkte herausstellte.354 Durch die Darstellung der Sozialleistungen des Unternehmens sollte nicht nur die direkte Kundschaft auf die vorbildliche Behandlung und die daraus resultierende dem Unternehmen positiv gegenüberstehende Belegschaft als Produktionspotenzial – als Garant gleichbleibender Qualität und Terminzuverlässigkeit – aufmerksam werden. Vielmehr sollte gleichzeitig die Öffentlichkeit erkennen, dass die Unternehmen ihrer Arbeiterschaft die Möglichkeit einräumte, sich „als Folge einer weitgehenden Entlastung von Lebensrisiken und eines gestuften Angebots an vielfältigen sozialen und kulturellen Lebenschancen“355 zu vollwertigen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln.356 Messbar war der Erfolg der Sozialmaßnahmen als Instrument der Imagebildung dort, wo die Vergabe des beliebten Wirtschaftstitels ‚Kommerzienrat‘ häufig nicht nur an dem ökonomischen Erfolg des von dem Kandidaten geführten Unternehmens festgemacht wurde, sondern teilweise sogar eine direkte Auswirkung der – natürlich angemessen in die Öffentlichkeit kommunizierten – Wohlfahrtspolitik war.357 Die Fabrik hatte sich der Öffentlichkeit auf vielfältige Weise vorgestellt: durch den imposanten äußeren Eindruck der Produktionsanlage, durch ihre qualitativ hochwertigen Produkte, durch die exemplarische Präsentation des Herstellungsprozesses in belehrenden Broschüren oder gar auf Ausstellungen und durch die Maßnahmen der Sozialfürsorge, die stellvertretend für die ‚Seele‘ des an sich ‚seelenlosen Unternehmens‘358 standen. Nun blieb nur noch eine Steigerung unter den Maßnahmen, das Unterneh353 Vgl. Kapitel 6.2.1. 354 Vgl. ebd. 355 Heinz Reif: „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“. Das Werksleben jenseits der Fabrik in der Fotografie bei Krupp, in: Tenfelde, Bilder von Krupp, S. 105–122, hier S. 115. 356 Wie schon ausgeführt, war es zwar Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr das Ziel des Bürgertums, dass jeder sich zu einem ebenbürtigen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln konnte, theoretisch handelte es sich aber immer noch um ein Leitideal, dessen Verfolgung höchstes Ansehen versprach. Vgl. Kapitel 3.1. 357 Vgl. Karin Kaudelka-Hanisch: The Titled Businessman. Prussian Commercial Councillors in the Rhineland and Westphalia during the Nineteenth Century, in: David Blackbourn/Richard J. Evans (Hrsg.): The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the late Eighteenth to the early Twentieth Century, London/New York, NY 1993, S. 87–114, hier S. 94. 358 Vgl. Mumford, This Land of Opportunity.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

196

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

men der Öffentlichkeit näherzubringen: „The Best Way to Show Off“ sei, so Roland Marchand, die „Factory Tour.“359 Die Fabrik musste ihre so lange verschlossenen Tore öffnen. In den USA war die H.J. Heinz Company eine Vorreiterin. Sie hatte bereits 1900 jährlich 20.000 Besucher. Sieben Jahre später wies die Shredded Wheat Company bereits 100.000 Besucher pro Jahr auf. Ihnen folgten Unternehmen wie General Electric oder National Cash Register, die ebenfalls regelmäßige Fabrikrundgänge initiierten.360 Wie stellte sich die Situation im Deutschen Kaiserreich dar?

4.3. Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

Obwohl die Fabriken in Deutschland schon seit ihrer Entstehung sporadisch Führungen für Investoren, Ehrengäste aus der Politik, Großkunden oder vereinzelte Indus­triereisende angeboten hatten, war es eine Neuerung des späten 19. Jahrhunderts, im Rahmen institutionalisierter Besichtigungstouren die allgemeine interessierte Öffentlichkeit in die Fabrik einzulassen. Die greifbarsten Indizien für diese Öffnung der Fabrik sind sicherlich die erhöhten Besuchszahlen, die einige Unternehmen ausführlich dokumentierten, sowie die Firmenunterlagen, die institutionalisierte Massenführungen nachweisen, wie beispielsweise Formulare für den Ablauf von Führungen größerer Gruppen.361 Die wichtigsten Beweise liefern jedoch die Vorstellungen der Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien. Sie spiegelten sehr offensichtlich die Lebenswelt der Leserschaft wider und erweiterten gleichzeitig den bürgerlichen Wissensraum. Die Reise im Sessel, die die bürgerlichen Leserinnen und Leser bei der Lektüre eines Reiseführers oder einer Reisereportage in einer Zeitschrift über unbekannte Gegenden der Welt ebenso wie bei der Betrachtung einer Postkarte antraten, konnte sie auch in die Fabrik führen.

4.3.1. „Eintrittskarten im Hof, erste Tür links“:362 Die Fabrik im Reisehandbuch

Wie ein Blick auf die Gattungsmerkmale des Reiseführers im 19. Jahrhundert, speziell des Baedekers, bestätigt hat,363 hatte den Status einer Sehenswürdigkeit, was im Reise359 Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 255. 360 Vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 127. 361 Diese Quellen sollen in Kapitel 5.1. und Kapitel 5.2. im Detail untersucht werden, um Aufschluss über die Besucherströme, ihre soziale Zusammensetzung und ihre Motive sowie über den konkreten Ablauf zu geben. 362 Baedeker, Berlin und Umgebung, 18. Aufl., S. 40. 363 Vgl. Kapitel 2.3.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

197

führer aufgelistet war. Die Reisenden konnten so scheinbar unauffällige oder alltägliche Gebäude, Einrichtungen und Ausblicke mühelos als Objekt von touristischem Interesse ausmachen und waren aufgrund ihrer Rolle als Touristin oder Tourist in der Lage, dieses Objekt entsprechend zu betrachten und bei diesem Vorgang ein touristisches Erlebnis zu verspüren. Die Tatsache, dass sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Reisezielen, mit denen sich der Baedeker auseinandersetzte, nicht mehr nur liebliche Landschaften, sondern ebenfalls reine Industrieregionen befanden – das Ruhrgebiet ist hier das hervorstechendste Beispiel –, oder in den Großstädten neben historischen Monumenten oder Regierungssitzen ebenso die industriell geprägten Stadtteile und konkret einzelne Fabriken zur Besichtigung vorgeschlagen wurden,364 lässt erkennen, dass die Industrie zu einer Sehenswürdigkeit geworden war, die vom Bürgertum (an-)erkannt wurde.365 Suchten die Touristinnen und Touristen vor einer Reise nach Berlin „Allgemeines über die Stadt“ zu erfahren, so erläuterte die entsprechende Rubrik im Baedeker von 1914 nicht nur die geschichtliche Entwicklung oder den Stellenwert der Kultureinrichtungen im engeren Sinne, sondern ebenso die Bedeutung der Industrie für die Stadt: „Die Gewerbetätigkeit steigt von Jahr zu Jahr. Hervorragend sind die Eisengießerei, der Bau von Maschinen, Lokomotiven, Eisenbahnmaterial, Wagen, die Fabrikation von Waffen, die gewaltig aufstrebende Elektrizitäts- und Beleuchtungsindustrie, die Fabrikation von Haushalts- und Wirtschaftsgegenständen, Schmiedewaren, die chemische Industrie, die Feinmechanik, die Kunsttischlerei, die Textilindustrie, die Porzellanfabrikation, die Herstellung von Teppichen, Wachstuch, Linoleum, Leinenwaren, Modeartikeln […].“366 364 Die Tatsache an sich ist in der Forschung schon benannt worden. Vgl. Koshar, German Travel Cultures, S. 48–50. Allerdings fehlt bisher noch eine kohärente Analyse, wie und warum diese Objekte in den Rang von Sehenswürdigkeiten erhoben wurden, die über die Feststellung, das Bürgertum habe sich nicht nur für Kunst und Geschichte, sondern ebenso für Technologie und materiellen Fortschritt interessiert, hinausgeht. 365 Dass nicht nur standardisierte Reisehandbücher wie der Baedeker die Industrie als touristisches Ziel präsentierten, sondern auch individuelle Reiseführer, zeigen beispielsweise die publizierten Berichte des Gymnasiallehrers und Reiseautors Franz Ignaz Pieler über seine Reisen durch das Ruhrgebiet, vgl. Franz Ignaz Pieler: Das Ruhrthal. Reise auf der Ruhrthal-Eisenbahn mit Ausflügen in die Umgegend, Werl 1983 (unveränderter Nachdruck der Ausgaben von 1881), ders., Reisen auf der Cöln-Mindener Eisenbahn. Auch ein Reiseführer für Bahn- und Schiffsreisende berücksichtigt das Ruhrgebiet, vgl. Schücking, Von Minden nach Köln, S. 145, 149. Vgl. auch Zimmermann, Von Haspe nach Duisburg; Koepper, In Plutos Reich; Luther, Wanderungen durch den Rheinisch-westfälischen Industriebezirk. 366 Baedeker, Berlin und Umgebung, 18. Aufl., S. 45.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

198

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

In dieser detaillierten Aufzählung blieb die Vorstellung von Industrie und Gewerbe nicht diffus, sondern richtete sich auf substanzielle Wirtschaftszweige. Damit waren (be-)greifbare mögliche Attraktionen benannt, die die Stadt mit charakterisierten und daher die touristische Neugier der Städtereisenden erregten.367 Als konkrete Besichtigungsziele schlug der Berlin-Baedeker des Jahres 1898 neben der Besichtigung der diversen Museen, Zoos und nationalen Monumente außerdem den Besuch von Fa­briken, Schlachthäusern und technischen städtischen Einrichtungen wie beispielsweise einem Wasserwerk vor. In der Rubrik „Besuchsordnung. Praktische Vorbemerkungen“ lieferte der Reiseführer kurze, zielführende Informationen, wie diese Besichtigung organisatorisch anzugehen sei. „Bei der Station Tiergarten, Wegelystraße, Mo.–Fr. 10–12 U.; Trinkg.“,368 lauteten die Hinweise, die den Besuch der königlichen Porzellanfabrik umrissen. Ähnlich knapp, aber gleichzeitig informativ, gestalteten sich die Bemerkungen zu den Berliner Vieh- und Schlachthäusern: „Mi. Sa. vorm. Hauptverkehr, Besichtigung des Viehhofs frei, der Schlachthäuser gegen Karten, die man im Verwaltungsgebäude erhält“,369 und zu den Wasserwerken: „Wochent. im Sommer 12–6, im Winter 12–4 U.; Eintrittskarten im Verwaltungsbureau Klosterstr. 68.“370 Leserinnen und Leser, die anhand des Baedekers ihre Reise nach und durch Berlin planten, schätzten nach dieser Lektüre die genannten Einrichtungen als vollwertige touristische Ziele ein. Wie es für den Baedeker typisch war, schilderte ebenfalls das Reisehandbuch für Berlin nicht nur einzelne konkrete Sehenswürdigkeiten, sondern daneben verschiedene (Tages-)Routen und gezielte Ausflüge, die in Berlin eigens in die Stadtteile jenseits des direkten Zentrums führten. Daneben empfahl das Buch jedoch auch den Besuch der industriell geprägten Stadtteile Moabit und Spandau, als deren größte Attraktionen es die Werkstätten der AEG sowie der Unternehmen Siemens und Borsig vorstellte. Um der Leserschaft wie gewohnt Hintergrundwissen zu dem zu bestaunenden Objekt zu liefern, das die Komplexität der Realität so weit reduzierte, dass sie für die Touristin und den Touristen handhabbar wurde, zog der Berlin-Baedeker neben den Namen der Firmengründer und den größten Erfindungen der Unternehmen besonders die Höhe des Aktienkapitals, die Zahl der Arbeiterinnen beziehungsweise Arbeiter und Angestellten371 und die Grundfläche der Fabrikgebäude 367 Nicht nur vom Baedeker, sondern auch von Ansichtspostkarten und Berichten in Zeitschriften, auf deren Bedeutung als Vermittler der Industrie als touristische Attraktion später in diesem Kapitel noch einzugehen sein wird, wurde die Industrie als Teil der für den Tourismus interessanten Stadt begriffen. Vgl. Kapitel 4.3.2 und Kapitel 4.3.3. 368 Karl Baedeker: Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende, 10. Aufl., Leipzig 1898, S. 38. 369 Ebd., S. 42. 370 Ebd. 371 Der Baedeker differenzierte nicht zwischen den Geschlechtern.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

199

heran.372 Damit war für die Touristin und den Touristen vorerst alles beschrieben, was sie auf ihrem kleinen Ausflug wissen mussten, um sich dem Baedeker nach ein angemessenes Bild von der Fabrik machen zu können. Wenn es, wie bei der Firma Borsig, möglich war, empfahl das Reisehandbuch darüber hinaus den Eintritt in die Fabrik, dessen Organisation das Handbuch detailliert ausarbeitete: „Besichtigung mit schriftlich eingeholter Erlaubnis Mo. bis Fr. 9–12 und 2–5 Uhr, Führung durch einen Ingenieur.“373 Während in Berlin die Industrie als ein Aspekt der modernen Stadt erschien, als gleichberechtigte Sehenswürdigkeit neben den etablierten Monumenten, konnte es bei der Reise durch verschiedene Landstriche Deutschlands geschehen, dass die Industrie hier das einzige hervorstechende Merkmal war. Diese Gebiete, das beste Beispiel ist das „rheinisch-westfälische Steinkohlenbecken“,374 wurden nicht etwa ausgelassen oder unkommentiert auf der Durchreise zwischen zwei anderen Reisezielen überwunden, sondern in der klassischen Sprache des Baedekers ausführlich geschildert: „Die rheinisch-westfälische Kohlen- und Eisenindustrie ist die bedeutendste Deutschlands. Die Kohlenindustrie hat hier mit einer Förderung von (1910) 86 864 504 Tonnen (zu 1000 kg oder 20 Zentner) diejenige der beiden Hauptgebiete Englands […] beträchtlich überflügelt und steht jetzt nur hinter derjenigen Pennsylvaniens in Nordamerika zurück.“375 Neben dieser detaillierten Auflistung von Fördermengen, die für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Region und damit der gesamten Nation standen und so ihre Bedeutung dokumentierten, schilderte der Baedeker auf den folgenden Seiten neueste Abbaumethoden der Steinkohle, die Auswirkungen aktueller Gesetze auf die Wirtschaft und die Infrastruktur der Region sowie den Umfang und die Entwicklung der mit der Kohleförderung eng verknüpften Eisen- und Stahlindustrie. Bei der Schilderung der Verlagerung des Bergbaus von den ursprünglichen Abbaustätten in Richtung Norden, die durch die Lage der Kohleflöze nötig und durch den Einsatz der Dampfkraft möglich wurde, vermittelte der Baedeker in der dem Reisehandbuch eigenen Kürze des Textes eine Vielzahl von Informationen geografischer, geologischer und technischer Natur. Er verwendete beispielsweise Fachbegriffe zu Gesteinssorten oder zu Vorgängen des Bergbaus („Abteufen“), ohne diese näher zu erläutern, und setzte eine Vorstellung des geologischen Schemas, wie Gesteinssorten unterirdisch angeordnet sind, voraus. 372 Vgl. Baedeker, Berlin und Umgebung, 18. Aufl., S. 167, 169, 207f. 373 Ebd., S. 208. 374 Karl Baedeker: Nordwest-Deutschland. Handbuch für Reisende, 30. Aufl., Leipzig 1911, S. 120. 375 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

200

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Dies legt die Vermutung nahe, dass das Reisehandbuch einen fortgeschrittenen Wissensstand in diesen Bereichen annahm, wie ihn nur ein wissenschafts- und technikaffines Lesepublikum vorweisen konnte. Ebenfalls sehr ausführlich für diese Textsorte erfolgte die Vorstellung der Bedeutung der Elektrizität, was wiederum das Wissen um und Interesse für diese recht junge Technik voraussetzte. Und sogar aus dem Bereich der Chemie wurde zumindest ein gewisses Grundwissen angenommen, wenn es um die Erläuterung der Qualität der Ruhrgebietskohlen und ihrer Weiterverarbeitungsmöglichkeiten ging. Die Ausrichtung des Textes verweist damit nachdrücklich darauf, dass er sich nicht an ein allein humanistisch interessiertes Publikum richtete, dem der Verfasser die technischen und wissenschaftlichen Zusammenhänge erst haarklein auseinandersetzen musste oder über die am besten ganz hinwegzugehen war, sondern an eine Gemeinschaft von Technikreisenden, die nach Fach­informationen verlangten, um ihr touristisches Erlebnis zu komplettieren.376 Diese Touristinnen und Touristen hatten zudem Interesse an den ökonomischen Zusammenhängen, worauf der Baedeker einging, indem er die wirtschaftlichen Beziehungen und Entwicklungen vorstellte. Die verbesserte Infrastruktur erschien in Form von Zahlen zum Wachstum des Streckennetzes der Eisenbahn und von abtransportierten Kohlemengen, die Entwicklung des Bergbaus und der Eisen- und Stahlindustrie durch Absatzmengen und Beschäftigtenzahlen.377 Es ist naheliegend, dass der Baedeker bei einem solchen angenommenen Lesepublikum nicht versuchte, die Industriestädte nach einem Muster zu beschreiben, das nach kulturellen Leistungen im engeren Sinne suchte, sondern bei der Charakterisierung ihrer Industrie blieb. Frappierend ist die Darstellung der Stadt Essen, die Ende des 19. Jahrhunderts auf eine tausendjährige Geschichte als freie Stadt an der bedeutenden Handelsroute des Hellwegs zurückblicken konnte, deren Bedeutung im Reisehandbuch jedoch reduziert wurde auf ihre „Lage inmitten des Ruhrkohlenreviers (S. 120). […] Essen ist Sitz des Vereins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamt Dortmund und des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats. Außer der Kruppschen Fabrik (Pl. B C 2,3; S. 127) sind u.a. mehrere Maschinenbauanstalten, Hüttenwerke, [126] Dampfkesselfabriken, die chemische Fabrik Th. Goldschmidt hervorzuheben, ferner die Arenberg’sche A.-G. für Bergbau und Hüttenbetrieb, die A.-G. Essener Steinkohlenbergwerke u.a.“378 376 Vgl. ebd., S. 121. 377 Vgl. ebd., S. 122f. 378 Ebd., S. 125. Die genannten Beispiele bilden nur eine kleine Auswahl ab. Vgl. für weitere Beschreibungen von Industriestädten Karl Baedeker: Nordwest-Deutschland. Handbuch für Reisende, 27. Aufl., Leipzig 1902, S. 105–122; ders., Nordwest-Deutschland, 30. Aufl., S. 111–141, 382–389;

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

201

Der (potenzielle) Besuch wurde durch solche Beschreibungen sofort auf die Fa­brik(en) als erste – und bisweilen einzige – Attraktion verwiesen, der sich sodann ein Großteil des weiteren Textes widmete. „Das größte Gußstahlwerk der Erde“,379 die Firma Krupp in Essen, identifizierte das Reisehandbuch über die genaue Größe der Produktionsfläche, die detaillierte Aufzählung einzelner Werksteile, die Vorstellung der Produktpalette, die Zahl der Arbeiter380 und die Ausgestaltung der Wohlfahrtseinrichtungen. „Ein[ ] Bessemer-, fünf Martinwerke[ ], zwei Stahlformgießereien, ein[ ] Schmelzbau für Tiegelstahl, ein[ ] Elektrostahlwerk, eine[ ] Geschoßgießerei, elf Kanonenwerkstätten, drei Elektrizitätswerke[ ], ein[ ] Gaswerk“ auf einer Gesamtfläche von 450ha, die Produktion von „Geschütze[n], Geschosse[n], Panzerplatten, Eisenbahn- und Schiffsbaumaterial, Stahl- und Eisenbleche[n], Schmiedestücke[n] für Maschinen, Stahlformgüsse[n], Werkzeugstahl“, die von 37.800 Arbeitern bewerkstelligt wurde, und die „besonders hübsch angelegt[e]“ Kolonie Altenhof für invalide und pensionierte Arbeiterinnen und Arbeiter gaben der Fabrik ein Gesicht,381 und zwar entsprechend den verschiedenen Dimensionen, über die sich die Fabrik der Öffentlichkeit vorzustellen versuchte.382 Welch großer Anteil der Reiseführer der Industrie als Teil des touristischen Erlebnisses zusprach, veranschaulicht zudem der geografische Raum der Industriebezirke, die der Baedeker auf seinen Überblickskarten der Industriestädte abbildete (vgl. Abbildungen 13 und 14). Die Stadtkarte von Essen umfasste neben dem alten Stadtkern (mit durchgehender Linie markiert), der etwa ein Viertel der abgebildeten Fläche einnahm, das gesamte Gebiet der Fabrikanlagen der Firma Krupp, das, neben dem alten Stadtkern gelegen, seine Ausdehnung bei weitem übertraf. Hinzu kam die Fläche verschiedener Zechen und Arbeitersiedlungen beziehungsweise weiterer Wohnsiedlungen, die ebenfalls in der Stadtkarte dieses Baedekers benannt wurden (mit gestrichelter Linie markiert). Der Baedeker zeichnete auf diese Weise ein Bild von Essen als einer aus­ufernd wachsenden Großstadt mit diversen Wohnarealen und Industriegebieten. Dieser Darstellung standen mannigfache Stadtkarten in anderen Reisehandbüchern des Verlages entgegen, die allein den Stadtkern, allenfalls noch die umgebende Landschaft, abbildeten383 und damit gleichfalls nur einen Besuch davon empfahlen. Stattdessen vgl. auch ders.: Die Rheinlande. Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, 32. Aufl., Leipzig 1912, S. 286–309. 379 Baedeker, Nordwest-Deutschland, 30. Aufl., S. 127. 380 Dabei differenzierte der Baedeker nicht zwischen den Geschlechtern. 381 Baedeker, Nordwest-Deutschland, 30. Aufl., S. 127; vgl. auch Baedeker, Die Rheinlande, 32. Aufl., S. 305. 382 Vgl. Kapitel 4.2.3. 383 Vgl. beispielhaft aus dem zeitgenössischen Baedeker für Süddeutschland u.a. die Karten der Stadt Frankfurt am Main, in: Karl Baedeker: Süddeutschland. Oberrhein, Baden, Württemberg, Bayern und die angrenzenden Teile von Österreich, 27. Aufl., Leipzig 1901, nach S. 2; die Karte von Darmstadt,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

202

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 13: Stadtkarte von Essen im Baedeker (1909, Original farbig): Der alte Stadtkern in Relation zu den umliegenden Industrieanlagen

bezog der durch das Ruhrgebiet geleitende Baedeker die Industrie als Attraktion sogar optisch mit ein und verortete die Attraktionen der Stadt neben dem Stadtkern in den Fabriken und den Wohnsiedlungen der rasch wachsenden Großstadt. Eine vergleichbare Aussage vermittelte die Karte von Duisburg und Ruhrort. Die alten Stadtkerne der beiden Orte, die sich im Jahr 1905 aufgrund der Verflechtung ihrer Hafenanlain: ebd., nach S. 8; die Karte von Heidelberg, in: ebd., nach S. 10; die Karte von Mannheim, in: ebd., nach S. 14; die Karte von Karlsruhe, in: ebd., S. 16; die Karte von Baden, in: ebd., nach S. 16; die Karte von Speyer, in: ebd., nach S. 30; die Karte von Straßburg, in: ebd., nach S. 32; die Karte von Konstanz, in: ebd., nach S. 72; die Karte von Stuttgart, in: ebd., nach S. 90; die Karte von Heilbron, in: ebd., nach S. 96; die Karte von München, in: ebd., nach S. 146; die Karte von Insbruck, in: ebd., nach S. 244; die Karte von Salzburg, in: ebd., nach S. 256; die Karte von Aschaffenburg, in: ebd., nach S. 272; die Karte von Würzburg, in: ebd., vor S. 273; die Karte von Rothenburg ob der Tauber, in: ebd., nach S. 278; die Karte von Fürth, in: ebd., nach S. 286; die Karte von Nürnberg, in: ebd., nach S. 300; die Karte von Bamberg, in: ebd., vor S. 317; die Karte von Kissingen, in: ebd., nach S. 326; die Karte von Bayreuth, in: ebd., vor S. 333; die Karte von Regensburg, in: ebd., vor S. 345; die Karte von Passau, in: ebd., vor S. 357.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

203

Abb. 14: Stadtkarte von Duisburg und Ruhrort im Baedeker (1909, Original farbig): Verflechtung von Stadt und Hafenanlagen

gen und ihrer Industrie zu einer Stadt zusammenschlossen, erschienen auf dieser Karte (mit durchgehender Linie markiert) umlagert von existierenden und geplanten Hafenanlagen (mit gestrichelter Linie markiert), Bahnwegen und neuen Wohnsiedlungen. Ebenso wäre hier eine andere optische Präsentation durch den Baedeker möglich gewesen, beispielsweise in Form der Abbildung beider Stadtkerne ohne die umliegenden Gebiete in Gegenüberstellung auf einer Doppelseite des Reisehandbuchs. Stattdessen lieferte das Reisehandbuch mit der Karte eine Anleitung, sich eher in den Häfen denn im alten Stadtkern zurechtzufinden und illustrierte, wie überlegen die Bedeutung und damit die Attraktivität der Industrie des Hafens für Besucherinnen und Besucher gegenüber dem alten Stadtkern war. Bei ihrer mentalen Reisevorbereitung konnten sich die potenziellen Fabriktouristinnen und -touristen daher schon bewusst auf ein Erlebnis der Industrie als touristischen Anziehungspunkt einstellen.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

204

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

4.3.2. „Zu Besuch bei Gebrüder Stollwerck in Köln“:384 Die Fabrik in den Reportagen populärer Zeitschriften

Reisehandbücher wie der Baedeker nahmen zwar eine klare Bestimmung vor, die die Fabrik als potenzielles touristisches Ziel kennzeichnete und animierten so, unterstützt durch praktische Hinweise zur Organisation eines Besuches, zu einer Besichtigung dieser Attraktion. Sie gaben darüber hinaus einige Hinweise, die ein erstes Bild entstehen ließen, machten die Fabrik für den Reisenden anhand von Zahlen und kurzen Fakten begreifbar. Entsprechend den Charakteristika dieser Gattungsart, über möglichst Vieles in möglichst knapper Form zu berichten, setzte der Baedeker jedoch darauf, dass, sobald etwas als Attraktion gekennzeichnet war, keine weiteren Worte mehr nötig waren. Für eine genauere Vorstellung, was einen bei der neuartigen Reise zur Industrie und in die Fabrik erwartete, wie das Innere angemessen wahrzunehmen war, mussten die Touristin und der Tourist auf weitere Quellen zurückgreifen. Hier schufen vornehmlich die Reportagen von Fabrikbesichtigungen, die die populären illustrierten Zeitschriften verstärkt im letzten Viertel des Jahrhunderts veröffentlichten,385 Anhaltspunkte, indem sie die Leserschaft im übertragenen Sinne ‚an die Hand nahmen‘, durch die Fabrik führten und dabei genau vorgaben, was die Leserinnen und Leser erleben und wie sie es bewerten sollten. Eine allgemeine Einführung in die Geschichte und wirtschaftliche Bedeutung des Unternehmens, durch die dieses kurz vorgestellt wurde, die zwar ausführlicher als im Baedeker ausfiel, in ihrer Aussage aber vergleichbar war, eröffnete die Reportage häufig. Darauf folgten zumeist – wieder ähnlich wie im Reisehandbuch – praktische Hinweise, die einen Eindruck vermittelten, auf welchem Wege die Besucherinnen und Besucher Einlass in die Fabrik bekommen konnten, ob „durch Lösung einer Einlaßkarte, deren Verkaufsertrag für Arbeiterwohlfahrtszwecke verwendet wird“,386 oder durch persön384 W. Wanna: Die Geschichte von der braunen Schokolade und dem weißen Zucker oder zu Besuch bei Gebrüder Stollwerck in Köln, in: Über Land und Meer, Jg. 33, Bd. 65, Nr. 12, 1890/1891, S. 280f., hier S. 280. 385 Zwar tauchten schon zuvor Fabrikansichten in illustrierten Zeitschriften auf, das wahrscheinlich früheste Beispiel liefert das britische Penny Magazine mit einer mit „The Collieries“ betitelten Außenansicht von Fabriken in einer Bergwerksgegend, vgl. The Penny Magazine, Bd. 192, 28.02.– 31.03.1835, S. 121, es wurden jedoch noch keine Einsichten in die Fabrik gedruckt. Das vermutlich erste Beispiel für eine Fabrikreportage, die auch Einblicke in die Werkshallen lieferte, ist der Bericht der Illustrierten Zeitung über die Firma Borsig: A. Borsig’s Eisengießerei und Maschinenbauanstalt in Berlin, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 10, Nr. 242, 19.02.1848, S. 116f; Bd. 10, Nr. 244, 04.03.1848, S. 148–150. 386 G. Hoffmann: Die Kaiserliche Werft in Kiel, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2962, 05.04.1900, S. 478–485, hier S. 478; vgl. dazu eine sehr ähnliche Schilderung im Artikel von Gotthard Winter:

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

205

liche Vorsprache bei der Firmenleitung.387 Ebenso schilderten die Reportagen mögliche Hindernisse: „Nicht ganz leicht war es gewesen, Zutritt zu der Fabrik zu erhalten; fürchtet man doch nicht mit Unrecht die Neugierde der Konkurrenz!“388 Waren diese Hindernisse überwunden, so erfuhr die Leserschaft bei der Lektüre, würde der Besucher und von Fall zu Fall ebenso die Besucherin von einem „freundliche[n] Führer“,389 der entweder zur Werkspolizei gehörte390 oder ein Arbeiter in leitender Position war,391 oder gar vom Direktor der Firma selbst392 an die Hand genommen und durch den fremden, wundersamen Raum der Fabrik „geleitet“.393 Die bisher Außenstehenden wurden auf diese Weise vermeintlich zu Teilhabern an den Prozessen in der Fabrik. An dieser Stelle, an der der Reporter die praktische Umsetzung des Fabrikbesuchs besprach, offenbarte er häufig gleichzeitig seine Erwartungen, die ihn in die Fabrik geführt hatten,394 und gab so Anhaltspunkte zu ihrem touristischen Wert, der im Baedeker durch die alleinige Erwähnung der Fabrik festgesetzt war. Neben den allgemeinen Merkmalen der Fabrik und den organisatorischen Aspekten ihres Besuchs stand in den Reportagen eine Vielzahl von detaillierten Informationen im Vordergrund, die sich grob in Auskünfte über die zum Einsatz kommenden Maschinen, über die Arbeiterschaft und – als Resultat des Zusammenwirkens dieser beiden Faktoren – über den Produktionsprozess gliedern lassen.395 Die Reportage betonte die Attraktivität der Fabrik als Ausflugsziel, indem sie auf die Technikbegeisterung der Zeit einging und den Wissensdurst des Bürgertums berücksichtigte.396 Dadurch schuf sie einen neuen mentalen touristischen Raum. Dass die Schilderung der Maschinen und Produktionsabläufe in der Fabrik, die die Reportage darbot, weit über das hinausging, was die Gäste ohne vorherige Erläuterungen vor Ort wahrnehmen und verarbeiten konnten, förderte die Inszenierung des Erlebnisses, die es zu einem touristischen Ereignis werden ließ. Vom Meißener Porzellan, in: Über Land und Meer, Jg. 32, Bd. 64, Nr. 50, 1889/1890, S. 1007– 1010, hier S. 1009: „Wir melden uns unter Erlegung eines Eintrittsgeldes […] zum Besuch der Arbeitsräume an […].“ 387 Vgl. Ein Besuch in der Fabrik Lochmann’scher Musikwerke, S. 472. 388 W. Hunnius/W. Herminghaus: Im Reiche des Weberschiffchens, in: Über Land und Meer, Jg. 49, Bd. 98, Nr. 40, 1906/1907, S. 1003–1006, hier S. 1003. 389 Wanna, Die Geschichte von der braunen Schokolade, S. 280. 390 Vgl. Hoffmann, Die Kaiserliche Werft in Kiel, S. 478. 391 Vgl. Ein Steinkohlenbergwerk in Westfalen, in: Illustrirte Welt, Jg. 40, Nr. 19, 1892, S. 455–457, hier S. 455. 392 Vgl. Ein Besuch in der Fabrik Lochmann’scher Musikwerke, S. 471–476. 393 Wanna, Die Geschichte von der braunen Schokolade, S. 280. 394 Vgl. für diesen Aufbau z.B. Winter, Vom Meißener Porzellan, S. 1009; Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1003. Zu den Motiven selbst vgl. Kapitel 5.1.2. 395 Zur Frage, was die Fabrikbesucherinnen und -besucher wahrnahmen, vgl. Kapitel 6.1. 396 Vgl. Ein Besuch in der Fabrik Lochmann’scher Musikwerke, S. 473.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

206

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Im Gegensatz zu anderen Gattungen wie dem Reisehandbuch oder dem populärwissenschaftlichen Bericht vermittelte die Reportage kein als objektiv deklariertes Wissen, sondern ließ die Rezipientinnen und Rezipienten durch die Augen des Reporters erleben, der entweder als Ich-Erzähler auftrat397 oder aber in der Formel des ‚wir‘ die Leserin und den Leser in seine Beobachtungen und Empfindungen einschloss.398 Der Berichterstatter nahm verbal denjenigen ‚an die Hand‘, der die Vorgänge in einer Fabrik „ad oculos demonstrirt haben will.“399 Dieser solle „einmal einen Gang mit uns thun; wir wollen ihn zum geeignetsten Punkte der Stadt, zu einem Riesenetablissement führen.“400 Indem „der geneigte Leser“401 diese ‚Einladung‘ annahm, startete er zu einer ‚Besichtigung‘ des Kölner Schokoladenherstellers Stollwerck, die die Erlebnisse einer möglichen Reise vorwegnahm. Der Reporter öffnete dem Publikum sogar diejenigen Etablissements, die für die Öffentlichkeit eigentlich nicht zugänglich waren, womit die Fabrikreportage die tatsächliche Reise vollständig ersetzte und den „Gang durch die hauptsächlichsten Theile des ungeheuren Werkes“402 – gemeint ist die Firma Krupp in Essen, deren Besichtigung strengen Auflagen unterlag – zu einem vollständig virtuellen Erlebnis machte. Dieses ‚an die Hand nehmen‘ zog sich durch die ganze Schilderung der Fabrik, womit es bei der Lektüre nicht möglich war, aus der virtuellen Führung herauszutreten. Schon mit dem Eintritt in das Werk drängte der Reporter dem Rezipientenkreis seine Eindrücke auf. Das „sich mehr und mehr steigernde Geräusch, das Hämmern, Dröhnen, Klingen und Tosen eines gewaltigen Betriebes, läßt uns merken, wo wir uns befinden.“403 Diese Bezugnahme auf den Reporter als Führer und die damit verbundene Lenkung der Wahrnehmung setzte sich während der gesamten Reportage fort. Entweder aus einem Dialog zwischen dem Reporter und dem Fachmann aus der Fabrik, der ihn durch die Betriebsstätte führte,404 oder allein aus der Deutungsmacht des Erzählers405 ergaben sich die Einblicke in die verschiedenen Teile der Fabrik und den Produktionsprozess. Dem Reporter gebührte auch das letzte Wort in der Reportage: „[…] als wir uns mit herzlichem Dank verabschiedeten und die Fabrik verließen, 397 Vgl. ebd. 398 Vgl. Wanna, Die Geschichte von der braunen Schokolade, S. 280. 399 Ebd. 400 Ebd. 401 Ebd. 402 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 493. 403 Ebd. 404 Vgl. Ein Besuch, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3147, 22.10.1903, S. 618; Ein Steinkohlenbergwerk in Westfalen, S. 455. 405 Vgl. Wanna, Die Geschichte von der braunen Schokolade, S. 280; Oskar Meyer-Elbing: Wie eine Zigarre entsteht. Ein Besuch bei Rinn & Cloos in Heuchelheim b. Gießen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 138, Nr. 3586, 21.03.1912, S. 61–64, hier S. 62 (gesonderte Paginierung).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

207

da geleitete uns noch lange das Rasseln der hastenden Maschinen, und es klang uns wie ein Lied, wie das Siegeslied der Arbeit und des nie rastenden Menschengeistes.“406 Es lag demgemäß in der Natur der Fabrikreportage festzulegen, welche Eindrücke das besuchte Etablissement vermittelte, und damit eine entsprechende Erwartungshaltung bei der Leserschaft gegenüber dieser neuen Attraktion hervorzurufen. Neben der verbalen Beschreibung operierte die Reportage außerdem mit Zeichnungen oder Fotos, die bestimmte Ansichten aus der Fabrik verbreiteten und damit gewisse Blicke einüben ließen. Damit ähnelten sie in ihrer Intention und Wirkung den Ansichtspostkarten mit Motiven von der Fabrik, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend Verbreitung fanden.407

4.3.3. „So heiß, wie die Kohle beim glühenden Guß/Ereile dich heute mein Essener Gruss“:408 Die Fabrik im Medium der Ansichtskarte

Die Tatsache, dass Fabriken zu einem Motiv auf Postkarten wurden, reflektiert ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit als eine Attraktion, die es wert war, als touristisches Symbol einer Stadt oder Region zu gelten. Die Postkarten vermittelten damit gleichzeitig ein ästhetisiertes Bild von der Fabrik und entwarfen einen touristischen Wissensraum, der die Fabrik mit einschloss. Betrachtet man Ansichtspostkarten aus Industriestädten aus der Zeit der Jahrhundertwende, so erscheint, ebenso wie im Baedeker, das Phänomen, dass die Industrie als Teil des touristischen Potenzials der Stadt begriffen wurde, was sich insbesondere in der Kombination ‚klassischer‘ touristischer Objekte wie Kirchen, Theater oder Parkanlagen mit der Fabrik auf einer Postkarte niederschlug. Auf einer Ansichtskarte, die die Stadt Essen vorstellte, finden sich dementsprechend nebeneinander eine Totalansicht der Krupp-Werke und ein Denkmal für den Firmeninhaber Alfred Krupp in Verknüpfung mit den beiden Hauptkirchen der Stadt sowie ihrem neu angelegten Stadtpark (vgl. Abbildung 15). Die Postkarte zeigt eine Collage von Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Den Hintergrund bildet eine Skizze einer Panoramaansicht des Krupp-Werkes aus der 406 Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1006. 407 Da die Bilder von ihrer Gestaltung her äußerst ähnlich waren – zum Teil handelte es sich um dasselbe Ausgangsmaterial an Zeichnungen oder Fotos – und eine vergleichbare Aussage hatten – die Postkarten können hier von ihrem Aussagewert noch als Steigerung der Bebilderung der Fabrikreportagen gesehen werden –, müssen sie an dieser Stelle nicht einzeln in ihrer Funktion untersucht, sondern können in Anlehnung an die im nächsten Kapitel zu untersuchenden Postkarten gesehen werden. 408 Gruss aus der Kanonenstadt Essen, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HDEG, Bestand: 951 – Postkartensammlung, Signatur: 951/34.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

208

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Abb. 15: Bildpostkarte „Gruss aus Essen“ (1896): Das Krupp-Werk steht stellvertretend für die Stadt

Vogelperspektive, auf der insbesondere die unzähligen Schornsteine ins Auge fallen. Einerseits erfüllte die Postkarte damit die Erwartung der Empfänger, eine Übersicht über die Örtlichkeit zu bekommen, aus der sie einen Gruß erhielten, andererseits wurde diese Erwartung gebrochen, da es sich nicht um einen Überblick über die Stadt handelte, sondern über das Werksgelände eines Industrieunternehmens. Statt der für eine Stadt zu dieser Zeit prägnanten Kirchtürme ragen die Industrieschornsteine auf. Vor diesem Hintergrundbild präsentiert die Postkarte wie aufplakatiert beziehungsweise wie als ein Gemälde im Rahmen davor gehängt die genannten vier Ansichten, wobei zwei davon dann doch die erwarteten (Kirch-)Türme abbilden, aber eines eben gleichfalls mit dem Krupp-Denkmal ein weiteres Lob auf die Industrie der Stadt ausspricht. Verbunden werden die Elemente durch einen als Banner gestalteten Schriftzug. Mit dem Text „Gruss aus Essen“ wird die Industrielandschaft gleichgesetzt mit der Stadt, dieses Phänomen wird auf der Karte noch dadurch verstärkt, dass die Zeichnung eines Metallarbeiters, zu erkennen an seiner Schutzkleidung und seinen Arbeitswerkzeugen, dieses ‚Banner‘ zu halten scheint. Eine andere Ansicht inszeniert den Wert der Industrie, speziell von Krupp, als Attraktion noch plastischer, indem die Bilder etablierter Sehenswürdigkeiten als symbolische

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

209

Abb. 16: Bildpostkarte „Gruss aus der Kanonenstadt Essen“ (Original farbig): Die Leistung der Industrie als touristische Attraktion

Kanonenkugeln aus einem von der Firma Krupp, dem international größten Hersteller von Kanonen, hergestellten Geschütz über die Panoramaansicht des Werkes ‚geschossen‘ werden (vgl. Abbildung 16). Auch diese Postkarte bietet als Hintergrundbild, diesmal als kolorierte Zeichnung, das Krupp-Werk aus der Vogelperspektive, erneut mit dem hervorstechenden Merkmal der Schornsteine. Die Zeichnung des Werkes füllt den Hintergrund jedoch nur im unteren Drittel, der Rest wird von einem rot leuchtenden Himmel eingenommen, der von einem Sonnenuntergang oder aber vom Schein eines Schmiedefeuers stammen mag. Dieser bietet den Hintergrund für die ‚Kugeln‘, die aus der skizzierten Kanone ‚schießen‘ und auf deren Oberfläche bauliche Attraktionen der Stadt abgebildet sind. Die Geschwindigkeit, mit der diese aus der ‚Kanone‘ ‚geschossen‘ werden, ist durch dynamische rote und gelbe Striche und Rauchentwicklung gekennzeichnet. Zwischen den ‚Kanonenkugeln‘ drängen sich die Worte „Gruss aus der Kanonenstadt Essen“, wobei das Wort „Essen“ im Gegensatz zu den übrigen Worten rot geschrieben und so positioniert ist, dass es sich auf das im unteren Drittel abgebildete Werk zu beziehen scheint, als würde nicht das Werk im Panorama gezeigt, sondern die Gebäude und Straßen der Stadt. Aus der Kanone ‚schießen‘ indes bei genauerer Betrachtung nicht die Abbildungen traditioneller Sehenswürdigkeiten der Stadt, sondern ebenfalls mit der Firma Krupp

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

210

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

verbundene Bauwerke, beispielsweise der repräsentative Wohnsitz der Familie, die Villa Hügel. Auf dieser Bildpostkarte erschien das Werk als mit der Stadt Essen gleichgesetzt. Auf dem noch freien Teil des rot schimmernden Himmels des Hintergrundgemäldes ist ein Gedicht in Form eines von einem Blumenkranz umkränzten Schildes abgebildet. Als weiteren ‚Schmuck‘ trägt das Schild noch die drei ineinander verschlungenen Eisenbahnradreifen, die das Logo von Krupp bildeten. Der Reim greift die Sprache der Collage auf, indem er auf den Feuerglanz des Werkes und die Geschwindigkeit der Geschosse rekurriert. Statt großstädtischer kultureller Leistungen lobte der Reim die Erzeugnisse der ortsansässigen Industrie und die Reize des Produktionsvorgangs. Andere Postkarten setzten die nächtlichen Impressionen, die von einem Stahlwerk ausgingen, in Szene und schilderten sie in kurzen Begleittexten als den interessantesten Anblick der Stadt.409 Der Empfänger einer solchen Postkarte erhielt und verinnerlichte die Botschaft, das einzig Bemerkenswerte an der „Kanonenstadt Essen“,410 aus der der Gruß versendet wurde, sei die Fabrik der Firma Krupp.411 Auch auf einer Ansicht des Industrieortes Sterkrade im Norden des Ruhrgebiets standen die verschiedenen Fabriken pars pro toto für die ganze Stadt (vgl. Abbildung 17). Die Postkarte lebt aus der Spannung zwischen der Erwartung, eine Stadt und ihre klassischen Sehenswürdigkeiten präsentiert zu bekommen, die geschürt wurde durch den Spruch „Gruss aus Sterkrade“, der mit seiner schwungvollen, von Blumenranken umrahmten Schrift an Werke des Jugendstils erinnerte, und der Tatsache, dass die fünf Teilbilder allein Industrieanlagen zeigen. Diese Postkarte ist ebenso im Stil einer Collage gehalten, die Teilbilder, die über einen weißen Hintergrund verteilt sind, der zudem Platz für den individuellen Text der Absenderinnen und Absender bot, sind zum Teil mit einem stilisierten Rahmen umgeben, zum Teil sind sie – wie schon in einigen anderen Beispielen – wie ein Plakat auf einer Plakatwand, das sich an einer Seite wieder aufrollt, gestaltet. Wie die Bildunterzeilen ausführen, handelt es sich um eine Gießerei, eine Kesselschmiede mit Büro und Sägewerk, eine Abteilung für Maschinenbau, für Brückenbau sowie eine Stahlformgießerei. Die gezeichneten farbigen 409 Vgl. Kruppwerke Portier III, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/13, 36. 410 Ebd. 411 Diesen Umstand, dass auf den von der Stadt Essen um die Jahrhundertwende herausgegebenen Postkarten vorwiegend das Krupp-Werk abgebildet wurde, interpretiert Andreas Zolper in seiner Analyse des ‚Ideals Krupp‘ zur Ausstellung ‚200 Jahre Krupp‘ dahingehend, dass sich die Stadt identifizierte mit dem Konzern, der den Stolz einer ganzen Nation widerspiegelte. Insgesamt zeigte die Ausstellung 61 Postkarten, die entweder nur die Firma Krupp oder die Verbindung von der Firma Krupp und der Stadt Essen thematisieren, davon sind 15 im Ausstellungskatalog abgebildet. Vgl. Andreas Zolper: Ideal Krupp, in: Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.): 200 Jahre Krupp. Ein Mythos wird besichtigt, Essen 2012, S. 30–33.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

211

Abb. 17: Bildpostkarte „Gruss aus Sterkrade“ (1898, Original farbig): Fabriken statt kommunaler Wahrzeichen

Bilder sind eher stilisierte Abbildungen, denn naturgetreue Wiedergaben einer konkreten Fabrik. Sie zeigen alle denselben blauen Himmel mit weißen Schäfchenwolken; alle abgebildeten Gebäude sind in rotbraunen Farben gehalten, was zwar durchaus der Realität entsprochen haben mag, in der Fabrikgebäude der Zeit häufig aus rotbraunen Ziegelsteinbauten bestanden, aber eine gewisse Gleichförmigkeit fördert. Gleichförmig erscheint ebenfalls der Wind auf allen Bildern zu wehen, da der Rauch der Schornsteine immer in dieselbe Richtung zieht. Die fünf Bilder der Collage stehen stellvertretend für die verschiedenen Industriezweige der Stadt, die der Postkarte nach als vollständig durch die Industrie repräsentiert gelten konnte. Andere ‚klassische‘ Sehenswürdigkeiten schienen in der Darstellung von Sterkrade keine Rolle zu spielen. Dies mag einerseits darauf zurückzuführen sein, dass der Ort, der erst 1913 Stadtrechte erhielt, seine Bedeutung und sein Wachstum allein der Industrie, vorrangig den Betrieben der Gutehoffnungshütte, zu verdanken hatte, und demnach die Industriewerkstätten tatsächlich die augenfälligsten Attraktionen der Stadt darstellten. Andererseits ist es aber ebenso denkbar, dass der Herausgeber der Postkarten – ob nun die Stadtverwaltung oder ein ortsansässiger Drucker – den Fabrik­teilen eher einen touristischen Wert zusprach, als den Zeugen kommunaler Konsolidierung, wie beispielsweise dem Rathaus, das 1888 für die damalige Bürgermeisterei Sterkrade erbaut worden war.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

212

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Die Nähe der Fabrik zur Stadt, die kein Reisender übersehen konnte, führten über die genannten collageartigen Motive hinaus solche Bilder vor, die, häufig in Form von Fotografien, den baulich-räumlichen Zusammenhang von Fabrik und Stadt thematisierten. Motive wie „Essen – Krupp’s Fabrik, Limbeckertor am Mittag“412 oder „Essen (Ruhr) – Eingang zu Krupps Werk“413 markieren den Übergang von der Stadt in die Fabrik: Die städtische Architektur in Gestalt von kleinen einstöckigen, zum Teil mit Stuck verzierten Häusern wird abgelöst von einer schmucklosen, gleichförmigen Fabrik­ fassade. Hinter den pittoresken Privathäusern ragen die rauchenden Schornsteine der Fabrik auf. Die Träger von dunkler Arbeitskleidung nehmen, je weiter der Blick in die Fabrikstraße reicht, gegenüber den in heller Alltagskleidung gewandeten Menschen zu. Andere Motive enthüllen den Übergang vom Alltag zur Arbeit in Person von Frauen, die ihren Männern das Mittagessen in die Fabrik bringen.414 Letztlich, so belegen die Motive auf Bildpostkarten, war es die Fabrik selbst, die faszinierte, die die Besucherinnen und Besucher anzog. Diesen Umstand machten sich die Fabriken wiederum zu Werbezwecken selbst zunutze, indem sie versuchten, den schnell expandierenden Kreis der Postkartenliebhaberinnen und -liebhaber mit dem Bild ihrer Fabriken auf dem beliebten Medium zu erreichen. Die Ansichten, auf deren Rückseite Reisende einen kurzen Gruß in die Heimat sendeten und die die Reise dokumentieren und symbolisieren sollten, gewährten in Form von Zeichnungen und Fotografien einen Blick auf das betriebsame Werksgelände (vgl. Abbildung 18).415 Auf einem unüberschaubaren Terrain reihen sich die Fabrikationshallen dicht an dicht. Das Areal ist überlagert vom Qualm der Schornsteine und wird von Schienensträngen durchkreuzt. Hier wurde erneut ein Blick von schräg oben über das Gelände gewählt. Dadurch entstand das Bild eines prosperierenden, niemals ruhenden Industriewerkes. Diese Bilder griffen Touristinnen und Touristen dann begeistert auf und schickten sie in die Welt. Indem Besucherinnen und Besucher der Fabrik, oder weiter gefasst, der jeweiligen Stadt, eine derartige Postkarte versendeten, verbreiteten sie nicht nur einen Eindruck, wie es in einer Fabrik aussah, sondern zeigten darüber hinaus, und hierin liegt die tiefere Bedeutung, dass sie eine Fabrik als touristische Attraktion einstuften. Die Adap­ 412 Essen – Krupp’s Fabrik, Limbeckertor am Mittag, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/13, 7. 413 Essen (Ruhr) – Eingang zu Krupps Werk, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HAK, ebd., Signatur: S 6/13, 19. 414 Vgl. Essen – Krupp’s Fabrik, Limbeckertor am Mittag, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HAK, ebd., Signatur: S 6/13, 7. 415 Für weitere Fabrikansichten der Firma Krupp auf Postkarten vgl. Ansichtspostkarten aus den Werken von Fried. Krupp Aktiengesellschaft Essen/Ruhr, Bildpostkarten, [1912], HAK, ebd., Signatur: S 6/11.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Fabrik als touristische Attraktion in populären Medien

213

Abb. 18: Bildpostkarte „Essen-Ruhr – Blick auf die Krupp’schen Werke“ (Original farbig): Die Industrieunternehmen machten sich das Medium Postkarte zu Eigen

tion der Fabrik als touristische Attraktion ging sogar so weit, dass der Fabrikbesuch als Bildungserlebnis für die Daheimgebliebenen in dem Text auf der Rückseite der Postkarte propagiert wurde: „Lieber Hugo! Um Dir einen Begriff von der Ausdehnung der Krupp’schen Werke zu geben, sende ich Dir obige Abbildung. Lerne recht fleißig, damit Du auch mal die Welt sehen kannst. Herzl. Gruß v. Deinem Dich liebenden Onkel Gustav.“416 Die Fabrik war damit Teil des Zirkelschlusses von Bildung, Bürgerlichkeit und Reisen. Sie war jenseits ihrer Bedeutung als Produktionsstätte, als Merkmal und Teil eines Wirtschaftssystems, zu etwas geworden, dessen Abbildung das Potenzial hatte, stellvertretend für eine gelungene Reise zu stehen. Der Besuch wurde als bereichernd empfunden und konnte sogar dazu dienen, die Liebsten zu Hause zu beeindrucken.417 Nirgendwo trat die Tatsache, dass die Fabrik zu einer touristischen 416 Gruss aus Essen, Bildpostkarte, versendet am 07.05.1896, HDEG, Bestand: 951 – Postkartensammlung, Signatur 951/26. 417 Vgl. beispielsweise Essen (Ruhr) – Eingang zu Krupps Werk, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/13, 19: „Besten Dank für Deine liebe Karte. Ich hatte die ganze Woche auf ein Zeichen von Dir gewartet. Mit den herzl. Grüßen und Küssen bin ich Dein Adolf“. Auf der Vorderseite der Postkarte mit dieser Botschaft findet sich die bereits beschriebene Abbildung eines Werkseingangs, die den Übergang von Stadt und Fabrik thematisiert.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

214

Die Fabrik als Objekt des touristischen Interesses: eine Annäherung

Attraktion geworden war, plastischer hervor als in den Ansichtspostkarten, die ihr Bild durch die Welt trugen. Durch die Abbildung auf Ansichtspostkarten ebenso wie durch die Beschreibung im Reisehandbuch und in Fabrikreportagen entstand eine touristische Erwartungshaltung. Sie dienten als „scripts for actors on the tourists’ stages“418 und entwarfen mit der Fa­ brik als konstruierter Sehenswürdigkeit, deren ursprüngliche Bedeutung von der neuen Qualität als touristisches Ziel überlagert wurde, ein Pseudo-Event419 par excellence. Das Phänomen des Industrietourismus war geboren. Wie sah solch ein touristischer Besuch der Fabrik aber ganz konkret aus? Wer waren die Fabriktouristinnen und -touristen und zu welchen Zielen zog es sie genau? Wie sahen die Besichtigungspraktiken vor Ort aus?

418 Daniel J. Boorstin: The Image. A Guide to Pseudo-Events in America, New York, NY 1977, S. 104. 419 Vgl. Kapitel 2.2.1.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

215

5. Die Fabrik als touristische Konstruktion 5.1. Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

„Der Firma Fr. Krupp beehre ich mich, zugleich im Namen der Direktoren der übrigen höheren Knabenschulen Essens, die ergebenste Bitte zu unterbreiten, den Mitgliedern der Lehrerkollegien eine Besichtigung der Fabrik hochgeneigtest gestatten zu wollen.“1 Diese Anfrage, die die Firma Krupp am 24. Juni 1897 vom Direktor der Oberrealschule Essen erhielt, ist typisch für die Besichtigungsgesuche, die die Fabriken Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bekamen. Sie enthüllen, welche Teile der Bevölkerung sich für eine Fabrikbesichtigung interessierten, geben Aufschluss darüber, welche Fabriken den Touristinnen und Touristen als attraktives Ziel erschienen und lassen Rückschlüsse auf die Motive der Gäste zu. Wie setzte sich die Gruppe der Besucherinnen und Besucher zusammen, die die Fabrik nicht als technische Spezialisten, als soziale Reformer oder als berufliche Experten betraten, sondern als Privatpersonen? Waren es gleichermaßen Männer wie Frauen oder hatte eines dieser beiden Geschlechter einen erleichterten Zugang zu oder ein größeres Interesse an der Fabrik? Reiste man eher einzeln oder zu zweit in die Fabrik oder gestaltete man bevorzugt einen Ausflug in der Gruppe? Gab es eine Veränderung der Besuchszahlen in dem knappen Vierteljahrhundert, in dem sich die Fabrik als touristisches Ziel etablierte? Außerdem stehen die Motive für das Interesse im Blickpunkt. War die Technik­ begeisterung der Zeit ein Antrieb, bestimmte Fabriken für eine Besichtigung auszuwählen? War es die Neugier auf die Herstellung bestimmter Produkte, auf den industriellen Produktionsprozess generell, die die Gäste in die Fabrik führte? Oder waren es eher weniger unverkennbar zu artikulierende Bestrebungen, wie beispielsweise die Neugier auf das Unbekannte hinter den Fabrikmauern? Ist von einer gewissen Gruppendynamik auszugehen, die die Besucherinnen und Besucher in die Fabrik zog? Stand eher der Schauwert, also das Bildungserlebnis, im Vordergrund oder war es genauso die Schaulust, die die Touristinnen und Touristen antrieb, also ihr Unterhaltungsbedürfnis? Überdies stellt sich die Frage, welche Fabriken besonders interessant erschienen und welchen Grund es dafür gab. Wandten sich Einzelne gezielt an eine bestimmte 1

Schreiben Welter/Oberrealschule Essen an Krupp vom 24.06.1897, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2009, 95, 96.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

216

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Fabrik, die ihre Tore für sie öffnen sollte? Oder erfolgte eine Fabrikbesichtigung vielmehr in einem übergeordneten Zusammenhang, wobei die Auswahl der Fabrik eher beliebig war?

5.1.1. Private Besucherinnen und Besucher in der Fabrik als Massenphänomen

Dass die Fabrik zur touristischen Attraktion wurde, lässt sich nicht nur daran erkennen, dass sie von Reisehandbüchern, Reisereportagen und Postkarten in den Kanon der touristischen Sehenswürdigkeiten aufgenommen wurde. Das Phänomen lässt sich außerdem an den zunehmenden Besuchszahlen in den Fabriken ablesen. Besucherbücher, die die Firmen führten, Protokolle von Führungen zur internen Dokumentation sowie Anfragen für Führungen und Danksagungen von Gästen dokumentieren über die bloße Zahl hinaus, mit welchem beruflichen Hintergrund und welchem Bildungshorizont die Besucherinnen und Besucher ausgestattet waren und in welchen Konstellationen und Massen sie in die Fabrik kamen.2 Die tatsächliche Zahl der Personen zu bemessen, die aus persönlichen Motiven in die Fabrik strömten, gestaltet sich jedoch einerseits aufgrund der Quellenlage, andererseits aufgrund der Überschneidung von Motiven für den Besuch schwierig. Die Dokumentation von Besuchen begann überhaupt erst im späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert, viele Fabriken gingen sogar erst nach dem Ersten Weltkrieg dazu über, die Besichtigung ihrer Anlagen zu belegen. Die Nachweise blieben außerdem anfangs bruchstückhaft, erst mit der Institutionalisierung des Besuchswesens erfuhren die Aufzeichnungen zunehmend eine Systematisierung. Die Institutionalisierung des Besuchswesens, die sich in eben dieser verstärkten systematischen Dokumentation von Materialien niederschlug, ist gleichzeitig der erste Nachweis, dass die Zahlen von Besucherinnen und Besuchern, die einen Blick in die jeweilige Fabrik werfen wollten, ein kritisches Maß erreichten, dass kanalisiert werden musste, um betriebliche Abläufe nicht zu stören und Ressourcen zu schonen. Parallel bauten die Firmen ihr Führungsangebot bewusst aus und professionalisierten 2

Einen anderen Weg, touristische Besuche in der Fabrik nachzuweisen und auszuwerten, beschreitet Burkhart Lauterbach in seiner Studie über die Angestelltenkultur in deutschen Industrieunternehmen, in der er auch die Besichtigung von Betrieben als Teil des selbst verordneten Bildungsprogramms thematisiert. Mit seiner exemplarischen Untersuchung der ‚Beamtenvereine‘ der Nürnberger Firma Schuckert und der Berliner Firma Siemens gibt er so in einem gewissen Maß Einblick in die Bedeutung dieser Freizeitaktivität und in die Motive einer bestimmten Gesellschaftsgruppe. Vgl. Burkhart Lauterbach: Angestelltenkultur. „Beamten“-Vereine in deutschen Industrieunternehmen vor 1933, Münster/New York, NY/München/Berlin 1998.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

217

es, um das Unternehmen im Zuge der zunehmenden Imagepolitik positiv zu präsentieren.3 Als drei der ersten Firmen begannen die Unternehmen Stollwerck, Bayer und Krupp ab etwa 1890, ihr Besuchswesen zu strukturieren, zu professionalisieren und zu dokumentieren.4 Beginnend mit dem 29.10.1891 führte der Süßwarenhersteller Stollwerck ein „Fremdenbuch“, das den Namen, den Beruf oder Stand und den Wohnort eines jeden Besuchers und einer jeden Besucherin aufnahm.5 Umfangreicher gestaltete sich die Dokumentation bei der Firma Krupp. Vom Jahr 1882 an ist der Briefverkehr überliefert, der sich auf Anfragen, Zusagen und Danksagungen für Führungen bezieht. Es handelte sich vorerst nur um einzelne Dokumente, die wahrscheinlich anfangs nicht regelmäßig archiviert wurden. Ab 1897 liegen durchgängig Schreiben bezüglich Fabrikbesichtigungen vor, für die Jahre nach 1900 kann man von wirklichen Besucherströmen sprechen.6 Mit dem Jahr 1907 begann dann die Dokumentation eines durchorganisierten Besuchswesens, das vorgefertigte Bögen archivierte, die den Gang der Besichtigung von Gruppen wiedergaben (vgl. Abbildung 19).7 Der Vordruck, hier das Beispiel einer Führung für Lehrer und Schüler des „Gymnasiums Essen“,8 enthielt Rubriken, in die das Datum, die zu führende Gruppe, die benötigten Transportmittel, ausgeteilte Drucksachen sowie der verantwortliche Führer eingetragen werden konnten. Für die Dokumentation mussten diese Felder nur noch in aller Kürze ausgefüllt werden. Außerdem liefert er eine detaillierte Übersicht über alle Teile des Werkes, die potenziell besichtigt werden konnten, so dass nur noch anzumerken war, was tatsächlich besucht wurde, statt jedes Mal alle Stationen neu aufzuschreiben. Der Vordruck 3 4

Vgl. Kapitel 4.2.3. Die Auswahl dieser drei Firmen ergibt sich aufgrund der Besucherpräferenzen und der Archivlage. Schwerpunkte beim Interesse der (potenziellen) Besucherinnen und Besucher lassen sich erstens aus den Bereichen der Herstellung alltäglicher Ge- und Verbrauchsgegenstände, zweitens der Schwer­ industrie und drittens der neuen Industrien der Zweiten Industriellen Revolution feststellen. Vgl. für die Herausarbeitung dieser Präferenzen Kapitel 5.1.2. Für diese drei Bereiche stellen die drei genannten Firmen jeweils eine verhältnismäßig umfassende Dokumentation ihrer Besucherströme zur Verfügung. Vgl. allgemein zur Auswahl der Firmen Kapitel 2.3.3. 5 Vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3. 6 Vgl. HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 1995; HAK, ebd., Signatur: WA 4 1996; HAK, ebd., Signatur: WA 4 1998; HAK, ebd., Signatur: WA 4 2009; HAK, ebd., Signatur: WA 4 2010; HAK, ebd., Signatur: WA 4 2011; HAK, ebd., Signatur: WA 4 2012; HAK, ebd., Signatur: WA 4 2013; HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014; HAK, ebd., Signatur: WA 4 2015. Die Tatsache, dass diese Dokumente im Bereich der normalen Geschäftsakten abgeheftet wurden, spricht dafür, dass das Besuchswesen zu diesem Zeitpunkt noch nicht als eigener Bereich angesehen wurde. 7 Vgl. HAK, Bestand WA 48 – Besuchswesen, Teil 1. 8 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

218

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Abb. 19: Standardisierte Vorlage für Protokolle von Fremdenführungen bei der Firma Krupp

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

219

war damit für jede Art von Besuch zu verwenden, ob es sich nun um Einzelpersonen oder Gruppen handelte, ob um eher touristisch oder beruflich motivierte Besuche. Zudem ließ sich der Bogen sehr schnell ausfüllen, der Zeitaufwand für die Dokumentation war durch diese Standardisierung minimiert. Der Eintrag fand allerdings nicht handschriftlich, sondern mit der Schreibmaschine statt, geschah also nicht unmittelbar nach der Führung vor Ort, sondern wurde zu einem bürokratisierten Akt, worauf überdies der auszufüllende Verweis in dem Führungsprotokoll über die Archivierung der Korrespondenz zu dem jeweiligen Besuch hindeutet. Insgesamt verweist dieses standardisierte Besuchsprotokoll darauf, dass die Fabrikbesichtigung für das Unternehmen zum Verwaltungsakt wurde, den es in seine übrige Verwaltungsarbeit integrierte. Von 1912 an schließlich erfasste die Firma ihre Besucherinnen und Besucher tabellarisch in „Monatliche[n] Übersichten des Besuchswesens“. Darin enthalten war die Zahl der Gäste je Besuch, ihr Geschlecht sowie eine Charakterisierung über den Beruf und Herkunftsort. Die letztgenannten Informationen konnten ersetzt werden durch die Angabe des Besuchsgrundes, z.B. wenn die Besichtigung im Rahmen einer Tagung einer privaten oder beruflichen Vereinigung in der Umgebung stattfand. Selbst die Art der Kontaktaufnahme, zum Beispiel ein persönliches Gesuch oder eine Empfehlung eines Mitgliedes der Firmenleitung, wurde in der tabellarischen Übersicht als weitere Charakterisierung des Besuchs berücksichtigt. Natürlich enthielt der Vordruck ferner die Stationen der Besichtigung und das Datum der Führung. Mit weiterwachsenden Besucherströmen vereinfachte die Firma Krupp nochmals die Dokumentation, hielt sie jedoch weiterhin sehr effizient für das Unternehmen. Auch die tabellarische Übersicht der Gäste ab dem Jahr 1912 enthielt alle für das Unternehmen relevanten Informationen, um einen Überblick über die Besucherströme zu behalten. Hier kann sogar erstmals von einer vollständigen Auflistung aller Gäste eines Jahres ausgegangen werden.9 Während die erste Datierung einer Führung durch die Bayer-Werke für Pfingsten 1888 möglich ist,10 lässt sich mit dem Jahr 1901 von einer systematischeren Doku­ mentation der Besuche in den Werken in Elberfeld und Leverkusen sprechen. Informationsblätter über die Firma sind ab dem Besuch des Verbandes der deutschen Färber von Pfingsten 1901 erhalten.11 1902 begann die Ausgestaltung der „Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer-Werke“,12 in denen unter anderem Schemata 9

Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2. 10 Vgl. Duisberg, Besuchsbestätigung Victor Meyer, Pfingsten 1888, BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). 11 Vgl. BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 12 BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

220

Die Fabrik als touristische Konstruktion

für Führungen, Zugangsbestimmungen, Hinweise zur Organisation von Besuchen und zu den zugelassenen Führern festgehalten wurden. Ein standardisierter Erlaubnisschein, adressiert an den „aufsichtsführenden Chemiker oder Ingenieur“, in den der Name und Wohnort des Besuchers oder der Besucherin und das Datum der Führung einzutragen war, half, die Besuche zu dokumentieren.13 Die strukturelle Vereinheitlichung der Besuche wurde unterstützt durch eine personelle Konstante, indem die Koordinierung des Bereichs der „Fremdenführung“14 von 1903 einer Person zufiel.15 Ab dieser Zeit liegt ebenfalls eine Sammlung der Gesuchsschreiben für Führungen vor.16 Versucht man, die konkreten Zahlen derjenigen, die die Fabrik nicht mit beruflichen Motiven besichtigten, für die Jahre um die Jahrhundertwende näher zu bestimmen, lassen sich zumindest gewisse Tendenzen feststellen. Am kontinuierlichsten listete die Firma Stollwerck in den Jahren 1891 bis 1914 ihre Besucherinnen und Besucher auf, weswegen ihre Aufzeichnungen am ehesten Aussagen über Veränderungen in den Besucherströmen zulassen. Die Analyse verweist auf eine klare Zunahme der Besichtigungen, die aufgrund des angegebenen Berufs kein geschäftliches Motiv erkennen lassen und daher als Freizeitgestaltung einzustufen sind, in den Jahren vor der Jahrhundertwende. Während 1891 noch 40 solcher Gäste die Fabrik besuchten, waren es im nächsten Jahr schon doppelt so viele. Bis Mitte des Jahrzehnts hatte sich die Zahl nochmals verdoppelt.17 In den kommenden Jahren schwankten die dokumentierten Zahlen – auch aufgrund von zum Teil nicht akribisch genug geführten Aufzeichnun13 Vgl. Formular über Genehmigung einer Führung, [1902], BA, ebd. 14 Direktion, Rundschreiben, Dezember 1903, BA, Bestand: 221-2 – Sozialabteilung Leverkusen. 15 Vgl. ebd. Dort findet sich der Hinweis, dass „Herr Major a.D. Mandel von jetzt an die Fremdenführung […] übernommen hat.“ 16 Vgl. BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). Andere Firmen gingen mit dem Besuchsandrang so um, dass sie spezielle Schauräume einrichteten, wie etwa die AEG, die seit dem Jahr 1908 ein Besucherbuch ihrer Schauräume führte. Das Besucherbuch, das das Besichtigungsdatum und die Dauer sowie den Namen und Wohnort der Gäste dokumentierte, umfasst allein bis zum Jahr 1914 48 Seiten, wobei es sich hier aufgrund fehlender Berufs- oder sonstiger Angaben schwierig gestaltet, die Motive für den Besuch zu rekonstruieren. Vgl. Besucherbuch für den Ausstellungsraum der AEG vom 25.02.1908 bis 05.11.1925, [Berlin] 1925, SDTB, Bestand: I.2.060 A 06.08 – FA AEG-Telefunken, Technisch-Literarische Abteilung, Verschiedenes, Signatur: I.2.060 A – 06293. Der Verbandshersteller Hartmann dagegen steht beispielhaft für viele Firmen, die erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts begannen, die Besuche in ihrer Fabrik zu dokumentieren. Neben Besucherinnen und Besuchern, die eine Affinität zu den von Hartmann hergestellten Produkten hatten, etwa Schwestern, Ärzten oder Vertretern, verzeichnet das Besucherbuch der Firma auch Privatleute, zumeist Ehepaare, sowie Besuchergruppen, beispielsweise Lehrerinnen, kirchliche Vereine, Studenten oder Bedienstete staatlicher Einrichtungen. Vgl. Fabrikbesichtigungen 1926–1948, WABW, Bestand: B 46 – Paul Hartmann AG, Signatur: B 46, 1647. 17 Vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136–3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

221

gen18 –, sie lagen jedoch so gut wie immer zwischen 90 und 150 Freizeitgästen. Ab 1911 verringerten sich die Zahlen, was an der starken Abnahme von Gruppenbesuchen lag.19 Eine Beschränkung des Besuchs von Großgruppen führten in dieser Zeit ebenfalls andere Firmen ein, da die Großgruppen, bisweilen an die hundert Personen stark, drohten, die Betriebsabläufe zu behindern.20 Dagegen sind die Privatinteressenten, die es in die Krupp-Werke zog, erst ab Mitte des Jahres 1912 statistisch korrekt erfasst. Zuvor sind die Angaben über Besuchermengen nur aus archivierten Briefwechseln und Ablaufplänen für die Führungen zu rekonstruieren, wobei davon auszugehen ist, dass hier nicht alle Anfragen und Führungen Eingang in die Akten fanden. 1897 findet sich die erste dokumentierte Gruppenführung für die Lehrerkollegien Essener Schulen, an denen insgesamt 60 Herren teilnahmen.21 Für die im gleichen Jahr stattfindende Besichtigung einer Gruppe deutscher Naturforscher sind ähnliche Dimensionen zu vermuten.22 In den Folgejahren kam es immer wieder zu Besuchen von Großgruppen, sowohl aus der näheren Umgebung als auch aus entfernteren Regionen im Zuge von Tagungen und Kongressen, die in der Region stattfanden.23 Für jedes Jahr ab 1907, dem Beginn der Dokumentation der Führungsabläufe, sind zwischen einer und dreizehn Gruppenführungen nachgewiesen. Die Teilnehmerzahlen pro Gruppe schwankten zwischen zehn und hundert Personen.24 Aus diesen Angaben lässt sich keine genau zu bemessende Menge in den Werken der Firma Krupp rekonstruieren und erst recht keine genaue Entwicklung der Besucherzahlen ablesen. Was sich aber herausstellen lässt, ist die Tatsache, dass die Essener Fa­ brik von der Jahrhundertwende an als beliebtes Besichtigungsziel galt und das trotz des von der Fabrik propagierten und in Reportagen oder Reisehandbüchern thematisierten

18 Es fehlen beispielsweise die Eintragungen von September 1903 bis Juli 1904. Vgl. ebd. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Kapitel 5.1.2. In Großbetrieben der USA konnten die Besuchermassen dagegen ganz andere Dimensionen annehmen, wie der Bericht der Illustrierten Welt über „die größte Brauerei der Welt“ konstatiert: „Das in dem Hauptcomptoir ausliegende Fremdenbuch weist durchschnittlich dreihundert Eintragungen pro Tag auf, daher ist’s nötig, daß die Firma drei Leute zum Herumführen der Besucher hält.“ Christian Benkard: Die Größte Brauerei der Welt. Eine Bierstudie, in: Illustrirte Welt, Jg. 44, Nr. 16, 1896, S. 390f., hier S. 391. 21 Vgl. Welter/Oberrealschule Essen an Krupp, 24.06.1897, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2009, 95, 96. 22 Vgl. Mooren an Krupp, Anfrage Besichtigung deutsche Naturforscher, 15.10.1897, HAK, Bestand: FAH 2 – Friedrich Alfred Krupp (1854–1902) und seine Frau Margarethe, geb. Freiin von Ende (1854–1931), Signatur: FAH 2, 3 B 259, 13. 23 Vgl. Kapitel 5.1.2. 24 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signaturen WA 48, 3.1/157; WA 48, 3.1/169; WA 48, 3.1/162; WA 48, 3.1/158; WA 48, 3.1/152.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

222

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Zutrittsverbots.25 Diese Aussage wird gestützt von der Tatsache, dass von September 1912 bis Juli 1914, der Zeit der genauen statistischen Erfassung der Besucherströme, über 500 Gäste in Gruppen das Werk besichtigten.26 Hinzu kamen in diesen zwei Jahren ca. 160 Einzelbesuche ohne beruflichen Hintergrund.27 Trotz geringerer Dichte der Besucherdokumentation bei der Firma Bayer lässt sich diese Aussage, dass nach der Jahrhundertwende das Unternehmen zu einer beliebten Attraktion wurde, ebenfalls auf die chemischen Werke in Elberfeld und Leverkusen übertragen. Schulen, Vereine oder Kongressteilnehmer stellten hier gleichfalls die Mehrheit der Besucherinnen und Besucher.28 Welchen Umfang die Werksbesichtigungen annahmen, lässt sich für dieses Unternehmen zwar nicht in genauen Zahlen erfassen – interne „Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen“ aus dem Jahr 1909 gingen von jährlich bis zu 1.450 Besucherinnen und Besuchern insgesamt aus –,29 25 Vgl. Karl Baedeker: Nordwest-Deutschland. Handbuch für Reisende, 30. Aufl., Leipzig 1911, S. 127, 388; Gerd von Bassewitz: Aus den kruppschen Werken, in: Die Gartenlaube, Nr. 14, 1909, S. 294–298; Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2471, 08.11.1890, S. 493–510. 26 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2. 27 Vgl. ebd. Einzelbesuche für die Zeit vor 1912 sind nur in einzelnen Jahren sehr bruchstückhaft durch Schriftwechsel dokumentiert. Vgl. Direktion an Rötger, Zusage Besichtigung, 30.11.1903, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 1995, 36; Homann an Klöpfer, Besichtigungsanfrage Hofkapellmeister Felix Weingartner, 11.11.1904, HAK, ebd., Sig­ natur: WA 4 1995, 102; Schreiben Tänzler, Anfrage Besichtigung, 24.05.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 1996, 268; Anfrage Fabrikbesichtigung, 20.05.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 1996, 126; Fischer an Preußing, Besuchsanfrage, 21.03.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 1996, 122. 28 Vgl. Naturwissenschaftlicher Verein Krefeld/Pahdo an Goldschmidt, Bitte um Empfehlungsschreiben für die Besichtigung der Leverkusener Fabrik, 15.01.1903, BA, Bestand 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958); Ablaufplan zur Besichtigung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Werk Leverkusen durch den Deutschen Verein für den Schutz des gewerblichen Eigentums, 07.09.1907, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Notiz Besichtigung der Elberfelder Farbenfabriken in Leverkusen durch den Preußischen Medizinalbeamtenverein, 27.04.1907, BA, ebd.; Duisberg an Hintzmann, Zusage Führung Oberprimaner Oberrealschule Elberfeld, 25.10.1907, BA, ebd.; Stier an Duisberg, Anfrage Besichtigung Realgymnasium Elberfeld, April 1907, BA, ebd.; Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elberfeld am Dienstag, den 30. Juni 1908, nachmittags durch die Herren des Landgerichts Elberfeld, 30.06.1908, BA, ebd.; Bericht über die Besichtigung der Leverkusener Fabriken durch Studenten der Universität Bonn, 10.02.1908, BA, ebd.; Hartmann an Duisberg, Anfrage Werksbesichtigung des Kongresses für Heizung und Lüftung, Leverkusen, 15.03.1913, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958); Piers­torff an Duisberg, Anfrage Besichtigung Leverkusen, Mitglieder des Staatswissenschaftlichen Seminars Jena, 08.05.1914, BA, ebd. 29 Vgl. Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen, [1909], BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

223

die Berichterstattung in der lokalen Presse gibt jedoch einen Eindruck davon, um was für ein Massenphänomen es sich zunehmend handelte: „Welchen Rufes sich die Einrichtungen der Farbenfabriken erfreuen, zeigen die häufigen Besuche von Privatpersonen, Beamten, Vereinen und sonstigen Körperschaften in Leverkusen und Wiesdorf. Auch in diesem Monat stehen mehrere derartige Besuche bevor. Für morgen wird der Verein für Säuglingsfürsorge unter Führung von Frl. Dr. Marie Baum erwartet, am 18. September ca. 200 der bekanntesten Aerzte und Naturforscher von dem zu der Zeit in Köln tagenden Aerzte- und Naturforscherkongreß.“30 Der Ansturm von Gästen auf die Bayer-Werke nahm schließlich solche Dimensionen an, dass die Besucherströme drohten, die Betriebsabläufe signifikant zu beeinträchtigen, weshalb die Geschäftsleitung immer häufiger Besuchsanfragen gerade von Großgruppen negativ beschied, die in den Jahren zuvor noch ohne weiteres empfangen worden waren. Ein staatswissenschaftlicher Fortbildungskurs beispielsweise, der regelmäßig die Werke besucht hatte, wurde ab 1910 mit der Begründung abgewiesen, das Werk sei so überlaufen, dass gerade noch die Führungswünsche der Kunden, nicht jedoch von Privatpersonen berücksichtigt werden könnten.31 Dieses Problem stellte sich zeitgleich bei anderen Firmen ein. Aus herstellungsspezifischen Gründen – eine größere Besuchergruppe durch ein Stahlwerk zu führen bedeutete immer einen beträchtlichen Aufwand –, hatte es bei Krupp, wie schon kurz angesprochen, schon immer Besuchsrestriktionen gegeben. In dem Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende gingen jedoch ebenfalls Firmen aus anderen Branchen dazu über, die Besuche einzuschränken.32 An dieser Tatsache 30 Bericht der Gemeindezeitung Wiesdorf-Leverkusen, 04.09.1908, von der Nachrichtenabteilung der Bayer-Werke archiviert, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). Mit Dr. Marie Baum, promovierter Chemikerin und Sozialpolitikerin, u.a. seit 1902 Gewerbein­spektorin im Großherzogtum Baden, seit 1907 Geschäftsführerin des Vereins für Säuglingsfürsorge in Düsseldorf, vgl. Marie Baum: Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950, besuchte keine Touristin, sondern eine Pionierin der Sozialarbeit die Fabrik, allerdings lässt sich vermuten, dass die von ihr geführte Gruppe durchaus auch von touristischer Neugier getrieben wurde, wie es bei vielen vordergründig durch sozialreformerische Absichten motivierten Besuchen der Fall war, vgl. Kapitel 2.2.2., 4.1.4. 31 Vgl. Direktion an Hanneley, Negativbescheid Anfrage Führung Leverkusen, 12.11.1913, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). Vgl. auch Duisberg an Bückart, Negativbescheid Anfrage Führung Leverkusen, 20.11.1913, BA, ebd.; Böttinger/Direction an Duisberg, 27.10.1902, BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). 32 Aus der internen AEG-Zeitung geht hervor, dass sich die Firma AEG gezwungen sah, die Besuche auf bestimmte Zeiten zu beschränken, damit der Betrieb nicht zu stark beeinträchtigt wurde. Vgl. [interne] AEG-Zeitung, Jg. 7, Nr. 1, 1905, S. 137.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

224

Die Fabrik als touristische Konstruktion

lässt sich ablesen, dass sich die Fabrikbesichtigung als Teil der Freizeitgestaltung ab dieser Zeit, also etwa ab 1910, etabliert hatte. Die Fabrik als Ausflugsziel blieb danach eine feste Größe, was sich in der Wahrnehmung verschiedener Akteure in den folgenden Jahrzehnten immer stärker niederschlug, wie ein Spottlied der Belegschaft der Firma Bayer zu Beginn der Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts beweist: „Verspürt jemand Langeweile im Busen / Und ist zufällig nahe bei Leverkusen, / So schreib’ er nur dreist an die Direktion: / ‚Zeigt mir doch mal Eure Fabrikation!‘“33 Die Fabrik wurde in der Darstellung des Spottliedes zu einem beliebigen Ausflugsziel, mit deren Besuch sich nahezu jeder, der sich gerade in der Nähe aufhielt, die Zeit vertreiben konnte. Es schien, als ob es eine Selbstverständlichkeit war, Einlass zu erhalten, so als ob ein Anspruch darauf bestand. Von solchen Zuständen war das Ende des 19. Jahrhunderts natürlich noch weit entfernt, gleichwohl lagen hier die Wurzeln eines Massenphänomens des 20. Jahrhunderts.34 Wie setzten sich diese zunehmend größeren Zahlen von Gästen zusammen? Welchen Berufs- oder Interessengruppen gehörten sie an? Handelte es sich bei den ‚Fabriktouristen‘ vorwiegend um Männer oder besuchten ebenso Frauen die Fabriken? Die Ströme der Besucherinnen und Besucher,35 die kein strikt berufliches Motiv für einen Besuch erkennen lassen, sind nach den Unterlagen der Unternehmen grob zu unterteilen in höhere Staatsbedienstete, Akademiker, die in der freien Wirtschaft tätig waren, sowie in Geistliche und Künstler. Eine Studie über die Angestelltenkultur des späten Kaiserreichs belegt außerdem, dass ebenfalls Angestellte ohne akademische Titel im Rahmen ihrer Freizeitgestaltung insbesondere in Vereins-Gruppenfahrten Fabriken als touristische Ziele entdeckten.36 33 „Die Besichtigung“, Spottgedicht auf Fabrikbesucher zum ‚Kaminabend‘, [1951], BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). Das Lied besteht aus insgesamt acht Strophen, die den Ablauf und den Sinn der Führung karikieren. 34 Diese quantitative Entwicklung des Fabriktourismus wird von der bereits genannten Studie von Lauterbach insofern bestätigt, als er den Beginn der Besichtigungsfahrten in Industriebetriebe bei der exemplarisch untersuchten Gruppe der ‚Beamtenvereine‘ der Nürnberger Firma Schuckert und der Berliner Firma Siemens für die Zeit der achtzehnhundertneunziger Jahre mit einer deutlichen Steigerung seit der Zeit um 1900 feststellt. Von da an findet der Autor unter den Programmpunkten der beiden Vereine jeweils durchschnittlich zwei Besichtigungen von Fabriken pro Jahr. Vgl. Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 103, 112f. 35 Frauen, die in die Fabrik reisten, waren entweder Teil einer größeren Gruppe, die nicht über ihren Beruf beschrieben wurde, oder kamen als Begleitung ihres Ehemannes oder Vaters und wurden daher nicht mit einem eigenen Beruf aufgeführt. Hinzu kommt schlicht der Umstand, dass Frauen im 19. Jahrhundert selten einen Beruf ausübten, über den man sie charakterisieren konnte. Daher können die folgenden Ausführungen nur mit Bezug auf die Besucher, nicht auf Besucherinnen, gemacht werden. 36 Vgl. Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 103, 112f. Die Angestellten verschiedener Industrie-Unternehmen gründeten Ende des 19. Jahrhunderts Freizeitvereine, um ihre Allgemeinbildung zu verbes-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

225

In den knapp zwei Jahren von September 1912 bis Juli 1914, der Zeit von Beginn der systematischen, tabellarischen Besuchererfassung bei der Firma Krupp und dem Beginn des Ersten Weltkrieges, besichtigten als Einzelpersonen oder in Zweiergruppen aus dem Kreis der Staatsbediensteten, sofern sie bestimmten Berufsgruppen zugeordnet werden können, vor allen Dingen im Finanzwesen, in der Justiz und als Gymnasial- beziehungsweise Oberlehrer tätige Besucher die Essener Fabrik. Häufig klassifizierten die Besucherlisten sie jedoch lediglich nach ihrem Status als ‚Assessor‘ oder ‚Rat‘ als höhere Beamte in Ministerien, Regierungen, im Schul-, Finanz- und Justizwesen oder pauschal als Verwaltungsmitglieder.37 Für die Firma Stollwerck stellt sich die Besucherlage, betrachtet man exemplarisch die Jahre 1892 und 1893, ähnlich dar.38 Ein Blick auf die Daten über die Besuchergruppen der Firmen Krupp und Bayer in den Jahren 1890 bis 1914 lässt erkennen, dass es sich bei einem Großteil von ihnen um berufsständische Interessengruppen handelte, innerhalb derer wiederum die akademisch gebildeten Staatsbeamten überwogen. So besichtigten Richtervereine, die Staatsanwaltschaften einer Stadt, höhere Postbeamte, Lehrerkollegien oder politische Ausschüsse die Fabrik.39 Unter den nicht im Staatsdienst stehenden Akademikern, die die Fabrik der Firma Krupp im genannten Zeitraum als Einzelpersonen besuchten, waren vorwiegend Bankdirektoren und weitere Bankmitarbeiter, Ärzte und schließlich noch Rechtsanwälte und sern und sich so an akademisch besser ausgebildete Kreise anzunähern und stärker von den Arbeitern abzusetzen. Zum Vereinsprogramm gehörten Vorträge und Besichtigungen, die sich mit Themen aus den Bereichen Naturwissenschaft und Technik, Tourismus, (Kultur-)Geschichte und Wirtschaft beschäftigten. Vgl. ebd., S. 16, 103. 37 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2. 38 Vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136–3. 39 Vgl. Besucherliste Postbeamte, 22.01.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 24; Verzeichnis der Teilnehmer an der Besichtigung der Gußstahlfabrik durch höhere Beamte des Land- und Amtsgerichts Essen, 02.05.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 321; Welter/Oberrealschule Essen an Krupp, 24.06.1897, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2009, 95, 96; Altof [?] an Krupp, Anfrage Besichtigung Lehrerkollegium Privatschule, 10.03.1905, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2011, 33; Verzeichnis der Teilnehmer an dem Tagesausflug nach Rheinhausen der Cölner Vereinigung für rechts- und staatswissenschaftliche Fortbildung, 07.11.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2013, 355, 356, 357; HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 3.1/162; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/157; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/169; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2; Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elberfeld am Dienstag, den 30. Juni 1908, nachmittags durch die Herren des Landgerichts Elberfeld, 30.06.1908, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Notiz Besichtigung der Elberfelder Farbenfabriken in Leverkusen durch den Preußischen Medizinalbeamtenverein, 27.04.1907, BA, ebd. Im Gegensatz zu den Firmen Krupp und Bayer scheint es bei Stollwerck kaum Gruppenbesuche gegeben zu haben, weswegen hier kein Vergleich möglich ist.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

226

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Architekten.40 Die Analyse der Besucherlisten der Firma Stollwerck bestätigt diesen Befund.41 Die Besuche ganzer Gruppen spiegeln diese Verteilung beispielsweise mit dem ‚Hauptverein deutscher Banken‘, dem ‚Ärzteverband‘, und dem ‚Verein für rechtsund staatswissenschaftliche Fortbildung‘ wider.42 Vereine, die keine berufsständischen Zusammenschlüsse darstellten, sondern auf gemeinsamen Interessen beruhten, wie beispielsweise der Kyffhäuserverband, der das Werk in Essen 1906 besichtigte, hatten ebenfalls vorwiegend freiberufliche Akademiker in ihren Reihen.43 Schließlich erwies sich die Fabrik sogar für Geistliche als attraktives Besuchsziel, das sie entweder allein44 oder als Teil einer Gruppe wie dem genannten Kyffhäuserverband45 aufsuchten. Vereinzelt befanden sich überdies Künstler wie Schriftsteller oder Maler unter den Besuchern.46 Hinzu kamen bei den Firmen Bayer und Krupp unzählige Gruppen von Schülern aus den benachbarten höheren Schulen.47 Für diese Kerngruppe des Bürgertums waren die Arbeiterinnen und Arbeiter tatsächlich unbekannte Wesen, war das Innere einer Fabrik so fremd wie ein weit entferntes Land, möglicherweise sogar noch fremder. Selbst wenn die Besucherinnen und Besucher aus der näheren Umgebung der Fabriken kamen, konnten sie doch den „nextdoor exoticism“48 des Fremden in der eigenen Nachbarschaft genießen. Was bei der Untersuchung der Besucher der Firmen Krupp, Bayer und Stollwerck nicht so klar hervortritt, aber beispielsweise durch die Studie von Burkhart Lauterbach herausgearbeitet wird, ist der Zuspruch, den die Fabriken als touristische Ziele durch 40 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2. 41 Vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Verzeichnis der Teilnehmer an der Besichtigung der Gußstahlfabrik durch ehemalige Mitglieder des Kyffhäuserverbandes der Vereine Deutscher Studenten, 08.03.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 84, 85. 44 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2. 45 Vgl. Verzeichnis der Teilnehmer an der Besichtigung der Gußstahlfabrik durch ehemalige Mitglieder des Kyffhäuserverbandes der Vereine Deutscher Studenten, 08.03.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 84, 85. 46 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2; vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3. 47 Vgl. hierzu Kapitel 5.1.2. 48 Angela Schwarz: The Regional and the Global. Folk Culture at World’s Fairs and the Reinvention of the Nation, in: Timothy Baycroft/David Hopkin (Hrsg.): Folklore and Nationalism in Europe during the Long Nineteenth Century (National Cultivation of Culture, Bd. 4), Leiden/Boston, MA 2012, S. 99–111, hier S. 101.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

227

die Gruppe der kaufmännischen Angestellten erfuhren. Diese Formation stellte den am schlechtesten ausgebildeten Teil der Gesellschaftsgruppe der Angestellten dar, was sie durch die häufige Annahme von Bildungsangeboten, zu denen eben auch die Besichtigung von Industriebetrieben zählte, zu kompensieren suchte.49 Außerdem handelte es sich bei ihnen um den Teil des Bürgertums, der am stärksten unter Druck stand, sich von der Arbeiterschaft abzugrenzen, da sie sich in Bildungsstand wie Einkommen kaum von dieser unterschieden.50 Indem die Angestellten, insbesondere die kaufmännischen unter ihnen, die Arbeiterschaft und ihren Tätigkeitsbereich besichtigten, grenzten sie sich von ihnen noch markanter ab, als es der Ausschluss aus den Beamten-Vereinen oder unterschiedliche Sozialversicherungen vermochte. Was die geschlechtsspezifische Differenzierung der Besucherinnen und Besucher betrifft, muss man unterscheiden zwischen solchen Firmen, die generell keine Frauen in ihren Fabrikanlagen zuließen, und Fabriken, die Frauen den Zutritt gestatteten. Dem generellen Verbot von Fabriktouristinnen in den Werkstätten, so lässt sich vermuten, lag die Befürchtung zugrunde, dass Frauen im Werk, ob nun die Frauen der Arbeiter oder bürgerliche Besucherinnen, die Abläufe empfindlich stören könnten, sei es durch die Verletzungsgefahr durch weite Kleidung oder aber dadurch, dass sie die männliche Belegschaft durch ihr Erscheinen von der Arbeit abhielten. „Wir bedauern jedoch, diese Erlaubnis [für eine Besichtigung der Fabrikanlagen] nicht auch auf Ihre Frau Gemahlin ausdehnen zu können, da Damen der Zutritt zur Fabrik nicht gestattet werden kann“,51 hieß es daher bei Krupp auf die Anfragen von Ehepaaren nach einer gemeinsamen Fabrikbesichtigung. Gleiches galt für die Anfragen gemischtgeschlechtlicher Gruppen.52 Stattdessen boten die Firmen den Besucherinnen die Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen und fabrikeigenen Wohnsiedlungen an, womit sie sowohl eine alternative Beschäftigung für die Zeit, in der der Gatte die Fabrik erforschte, präsentieren konnten, als auch ein Programm lieferten, was dem ‚weiblichen Wesen‘ vermeintlich eher entsprach.53 „Der Besichtigung unserer Wohlfahrtseinrichtungen durch 49 Vgl. Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 129, 137f. 50 Vgl. Kapitel 3.1. 51 Direktion an Rötger, Zusage Besichtigung, 30.11.1903, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 1995, 36. 52 Vgl. ebd.; Antwort Anfrage Besichtigung Lehrerkollegium Privatschule, 17.03.1905, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2011, 34. 53 An Einzelbesucherinnen in den Wohlfahrtseinrichtungen und Kolonien der Firma Krupp finden sich in der Zeit von Mitte 1912 bis Mitte 1914 die Ehefrauen eines Geheimrates aus Berlin, eines Kommerzienrates aus Mannheim, des Präsidenten der Bürgerschaft Lübeck, eine Frau Dr. Petersen aus Düsseldorf sowie Frau und Fräulein Aldendorff aus Köln. Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/2. An Damengruppen zog es Besucherinnen des Sauerländischen Gebirgsvereins Essen und Schülerinnen der Städtischen Frauenschule in die Wohl-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

228

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Ihre Frau Gemahlin steht dagegen nichts entgegen“,54 teilte Krupp auf die Anfrage des genannten Ehepaares mit. Durften Frauen die Fabrik betreten, so muss unterschieden werden zwischen Branchen, die dem Interesse der Besucherinnen vermeintlich eher entgegenkamen, und solchen, von denen vermutet werden kann, dass sie größtenteils ein männliches Publikum ansprachen. Bei den letztgenannten Unternehmen lehnten sich die Firmenleitungen bei der Gestaltung ihrer Führungen wohl an bestehende Rollenklischees an, nach denen die Bürgerin weniger wissenschaftliche und technische, als vielmehr pflegerisch-häusliche, allenfalls musische oder kulturelle Bildung anstrebte.55 So jedenfalls lässt sich die Tatsache interpretieren, dass das „Damenprogramm“,56 das die Firma Bayer für den weiblichen Teil gemischter größerer Besuchsgruppen bereithielt, nur die Besichtigung kleinerer Werkstätten vorsah, wohingegen der Besuch der Wohlfahrtseinrichtungen den größten Teil der Zeit einnahm. Die „Damen-Abteilung I“ als Teil einer Besuchsgruppe von Apothekern und deren Gattinnen besichtigte an direkten Werkstätten lediglich die Holzbearbeitungswerkstätte, die Haupt-Werkstätte, die Alizarin-Fabrik, das AlizarinLaboratorium sowie die Eisfabrik. Stattdessen verbrachte sie die wesentliche Zeit des Besuchs in den Stätten der sozialen Fürsorge der Firma Bayer, die Damen besichtigten das Gesellschaftshaus, das Wöchnerinnenheim, die Haushaltsschule, die Knabenhandarbeitsschule, das Medizinallager, die Speiseanstalt, die Poliklinik sowie die Bücherei.57 Demgegenüber verbrachten die Herren desselben Vereins ihre Zeit in der Salzsäure-, der Salpetersäure-, der SO3-, der Salicylsäure-, der Azo- und der Eisfabrik. Außerdem besuchten sie das Labor, die Farbenverpackung, die Farbstoffmühle, die Holzbearbeitungs- und die Zentral-Werkstätten. An Fürsorgeeinrichtungen besuchten sie lediglich die Bücherei, die Poliklinik sowie die Speiseanstalt und den Erfrischungsraum.58 Die

54 55 56

57 58

fahrtseinrichtungen und Kolonien. Vgl. HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/1; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/2. Auch gemischten Gruppen wurde nur der Besuch der außerfabriklichen Einrichtungen gestattet, hierunter fielen die Teilnehmer des evangelisch-sozialen Kongresses und des deutschen Ski-Verbandes in Essen, Teilnehmer und Teilnehmerinnen an einem Kursus für Säuglingsfürsorge in Düsseldorf sowie Schüler und Schülerinnen der höheren Handelsschule Hagen. Vgl. HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/158; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/1. Direktion an Rötger, Zusage Besichtigung, 30.11.1903, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 1995, 36. Vgl. Kapitel 3.3.2. Gedruckter Führungsplan für den Verein Deutscher Apotheker, Damen-Abteilung I, 1906, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Gedruckter Führungsplan für den Verein Deutscher Apotheker, Damen-Abteilung II, 1906, ebd. Vgl. ebd. Vgl. Verein Deutscher Apotheker, Herren-Abteilung I, 1906, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

229

Schnittmenge dessen, was beide Gruppen von der Fabrik zu sehen bekamen, war also gering. Beim Süßwarenhersteller Stollwerck hingegen gehörten Besucherinnen zum Fabrik­ alltag. In den Jahren 1892 und 1893 war mindestens ein Sechstel der Freizeitgäste des Kölner Werkes weiblich,59 ein Anteil, der über dem Durchschnitt weiblicher Reisender allgemein lag.60 Hinzu kommt, dass der Teil der allein oder mit einer Begleiterin reisenden Frauen erstaunlicherweise doppelt so hoch war wie der von Frauen, die ‚nur‘ ihren Ehemann begleiteten,61 was darauf hindeutet, dass Frauen ein genuin eigenes Interesse hatten, diese Produktionsstätten zu besichtigen. Die Differenzierung der Besucherschaft nach Geschlecht offenbart, dass die Fabrik ebenso auf Frauen wie auf Männer des Bürgertums eine Faszination ausüben konnte, dass der Einblick, den man gewährt bekam, teilweise – und je nach Branche – doch ein geschlechtsspezifischer war. Hierzu ließe sich fragen, ob diese Tatsache dem selbstbestimmten Wunsch der Bürgerinnen entsprang oder ob sie lediglich als Begleitung ihres Ehemannes diesem bei seinen Freizeitaktivitäten ohne Eigeninteresse folgten. Die Antwort kann letztlich nur eine hypothetische sein: Einerseits bestimmten Ehefrauen nicht über die Bildungs- und Freizeitgestaltung ihres Mannes, wie sich etwa an dem Umstand zeigt, dass die Angestelltenvereine keine Frauen als reguläre Vereinsmitglieder zuließen, sondern sie lediglich als Gäste von Veranstaltungen in den Bereichen Bildung, Geselligkeit, Musik und Sport duldeten.62 Sie waren hier nicht „selbständig und freiwillig handelnde[ ] Subjekte“,63 die das Vereinsprogramm ausgestalteten. Andererseits schlossen Frauen Fabriken als Reiseziel nicht aus und selbst dann, wenn sie keinen Zutritt zu den Innenräumen der Fabrik erhielten, nutzten sie doch die verwandten Angebote, um sich einen Eindruck vom Arbeiterleben zu verschaffen. Bei Unternehmen wie Stollwerck, die Produkte herstellten, die der Lebenswelt von Frauen vorgeblich besonders nahestanden, lag das Interesse, wie das bereits zitierte ‚Fremdenbuch‘ der Firma belegte, sogar im Verhältnis zur Gesamtzahl weiblicher Reisender höher als das von Männern. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es sich um ein bildungsbürgerliches Publikum handelte, bei dem aufgrund der allgemeinen Wissenschaftsbegeisterung Ende des 59 Vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3. Von den 225 im Fremdenbuch für die Jahre 1892 und 1893 verzeichneten Gästen sind 34 als weiblich zu identifizieren, bei einigen weiteren bleibt das Geschlecht offen. 60 Vgl. für die Konventionen des Bürgertums, die das Reisen als genuin männliche Tätigkeit betrachteten und die Frauen weitestgehend davon ausschlossen, Kapitel 3.3.2. 61 Vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 136-3. Von den vierunddreißig verzeichneten Frauen waren elf in Begleitung ihres Ehemannes oder Vaters, dreiundzwanzig hingegen kamen allein oder in einer kleinen Gruppe von Frauen. 62 Vgl. Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 186. 63 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

230

Die Fabrik als touristische Konstruktion

19. Jahrhunderts ein gewisses Vorwissen um naturwissenschaftliche Prozesse, technische Funktionen und ökonomische Zusammenhänge vorausgesetzt werden durfte, auf das sich die Unternehmen bei der Gestaltung ihrer Fabrikführungen beziehen konnten. Das Vorwissen, welches der (Bildungs-)Bürger mitbrachte, hatte jedoch noch eine weiterreichende Dimension: Es stand nicht nur auf einer breiten, humanistisch geprägten Basis, zu der etwa eine literarische Grundbildung gehörte, auf die Reportagen aus der Fabrik oder Führer durch die Werke Bezug nehmen konnten, indem sie etwa Zeilen allgemein bekannter Gedichte rezitierten,64 sondern es erstreckte sich in einen vortheoretischen, unbewussten Bereich, der das Bürgertum erst fähig machte, die Fabrik mit einem bestimmten Blick zu betrachten.

5.1.2. Motive für einen privaten Fabrikbesuch

Bei der Fülle von Schreiben, mit denen die Industrietouristinnen und -touristen entweder um eine Besuchserlaubnis ersuchten oder für einen gewährten Besuch Dank abstatteten, ist es auf den ersten Blick verwunderlich, wie selten die Verfasser konkrete Motive für das private Interesse an einer Fabrikbesichtigung benannten. Die Quellen über die Firma Krupp können hier erneut exemplarisch herangezogen werden. Als konkrete Gründe für ihr Interesse an einer Besichtigung der Krupp’schen Werkstätten formulierten die Touristen hauptsächlich, ihr technisches Verständnis durch die Anschauung vor Ort erweitern zu wollen und eine Stätte zu besuchen, die den im späten 19. Jahrhundert immer stärker hervortretenden Nationalstolz rechtfertigen konnte. So wollten sich die Lehrer einer Fortbildungsschule selbst ein Bild der Krupp-Werke machen, um das dadurch erweiterte technische Wissen im Unterricht einsetzen zu können,65 und Juristen aus Essen hegten den Wunsch, „die industrielle Tätigkeit unserer Gegend, mit der uns unser Beruf fast täglich in Berührung bringt, durch eigene An-

64 Ein Bericht aus dem Hause Baedeker, der die Geschichte und Ausgestaltung der Firma Krupp thematisierte, brachte beispielsweise seiner Leserschaft die Welt in der Fabrik näher, indem er ein Zitat aus einem Gedicht Schillers sprechen ließ. Während Schiller in dem Gedicht „Der Taucher“ Wellen, die gegen eine Klippe branden, beschreibt, dienten die Worte Diedrich Baedeker als adäquate Schilderung der Eindrücke aus der Fabrik. Die Transferleistung, die er damit der Leserschaft aufbürdete, ist insofern noch eine größere, als Schiller zwar als Autor der Zeilen genannt wurde, jedoch fehlt eine genaue Quellenangabe des Zitats, etwa mit dem Namen des Gedichtes, aus dem es stammt. Vgl. Diedrich Baedeker: Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen. Nach authentischen Quellen dargestellt von Diedrich Baedeker, Essen 1889, S. 360. 65 Vgl. Thomaßen an Direktorium, Anfrage Besichtigung Lehrer Fortbildungsschule, 01.12.1902, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2010, 75.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

231

schauung näher kennen zu lernen.“66 Ein ähnliches Motiv leitete einen Vater, der für seinen Sohn, einen angehenden Medizinstudenten, eigentlich eine Besuchserlaubnis für die Wohlfahrtseinrichtungen erbat, jedoch betonte, er wünschte, „daß er auch etwas von der Technik sieht.“67 Diese Aussagen belegen den Stellenwert, den technische Bildung für das Bürgertum Ende des 19. Jahrhunderts bereits besaß und kombinieren ihn mit dem touristischen Motiv. Das nationale Interesse spiegelte sich beispielsweise in der Aussage eines Mitglieds des Kyffhäuserverbandes, man habe „Interesse für diese hervorragendste Stätte deutschen Gewerbefleißes“68 und wolle die Werkstätten kennenlernen, „die mit unserer nationalen Verteidigung in so enger Beziehung stehen.“69 In einer solchen Darlegung spiegelt sich der Charakter der wilhelminischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende als militarisierte Gesellschaft, an der die Rüstungskonzerne der Schwerindustrie wesentlichen Anteil hatten.70 Besucher, die mit einer solchen Intention an ein entsprechendes Unternehmen herantraten, kamen dem Selbstbild der Firma weitestgehend entgegen und erfüllten die Erwartungen, die diese mit der Öffnung ihrer Fabrik bezweckte. Darüber hinaus bestanden umfassende Motive, die auf eine weitläufige Persönlichkeitsbildung abzielten. Die Urheber der Schreiben gaben beispielsweise an, „die Welt sehen“71 zu wollen, wozu ebenfalls „die weltberühmten Fried. Kruppschen Werksanlagen, die Stätte hochbedeutsamen menschlichen Schaffens“72 gehörten. Die Fabrik wurde damit erhoben über eine Stätte spezifischer technischer Bildung zu einem Teil eines allgemeinen Bildungsprogramms, dem sich das Bürgertum unterzog. Die Motive der Besucher kreuzten sich hier mit den Darstellungen von Reisehandbüchern wie dem Baedeker, der Fabriken ebenso als touristische Attraktionen kennzeichnete wie Museen, Denkmäler, Kirchen oder andere Orte ‚klassischer‘ Bildung. In 66 Sieckmann an Direktorium, Anfrage Besichtigung Beamte Land- und Amtsgericht Essen, 25.04.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 315. 67 Fischer an Preußing, Besuchsanfrage, 21.03.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 1996, 122. 68 Teuwsen an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Kyffhäuserverband, 20.02.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 81. 69 Ebd. 70 Das Motiv des Nationalstolzes als Auslöser für das Interesse an Fabrikbesichtigungen führt gleichfalls Cindy S. Aron in ihrer Studie über den Beginn des Mittelklasse-Tourismus in den USA an, vgl. Cindy S. Aron: Working at Play. A History of Vacations in the United States, Oxford 2001, S. 145. Das Beispiel aus den USA zeigt, dass Stolz auf Industrieanlagen als Symbole nationalen Fortschritts ebenfalls ohne die Hinwendung zum Militarismus möglich war, es sich also letztlich um ein vom deutschen Fall unabhängiges Phänomen handelte. 71 Gruss aus Essen, Bildpostkarte, versendet am 07.05.1896, HDEG, Bestand: 951 – Postkartensammlung, Signatur 951/26. 72 Bauer an Direktorium, Anfrage Besichtigung Teilnehmer Tarifkonferenz des Westdeutsch-Sächsischen Eisenbahnverbandes in Essen, 23.06.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 470, 471.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

232

Die Fabrik als touristische Konstruktion

solchen Aussagen scheint überdies das Phänomen des touristischen Blicks auf, der die ganze Welt zur Bühne der Schaulust machte. Diese tiefer liegenden Motive wurden natürlich in den Schreiben nicht direkt artikultiert, da sie den Handelnden vermutlich selbst nicht bewusst waren, weshalb sie gar nicht dazu in der Lage waren, sie konkret zu formulieren. Die Beweggründe müssen daher aus dem Handeln heraus interpretiert werden, wozu die Wahl der als interessant empfundenen Fabrik wie die Umstände des Fabrikbesuchs Anhaltspunkte liefern können. Die Auswahl der Fabriken Die Reportagen aus illustrierten Zeitschriften als Anhaltspunkt für die Attraktivität bestimmter Fabriken heranzuziehen, bietet den Vorteil, sich nicht allein von bekannten Firmennamen leiten zu lassen, was dazu führen würde, dass man feststellen müsste, dass diejenigen Firmen mit der am weitesten reichenden Marketingstrategie und dem höchsten Absatz die größte Zahl von privaten Besucherinnen und Besuchern anzogen.73 Der Blick in diese Reportagen offenbart, dass das fertige Produkt und der Produktionsprozess selbst das Interesse des Bürgertums an einer Fabrikbesichtigung weckten. Gerade die Produktion von dem, was jemandem alltäglich begegnete, weckte die Neugier des Reporters. Darüber hinaus interessierten er und seine Leserschaft sich vorwiegend für Produkte, die durch ihre Größe beeindruckten und deren Produktionsvorgang etwas von dieser Größe widerspiegelte. Außerdem stellten die Reportagen häufig neue Produkte vor, die in ihrer Funktion und Herstellung für technischen Fortschritt standen.74 Insbesondere die Fertigung von Nahrungsmitteln als Waren des täglichen Verbrauchs stellte ein lebensnahes Thema dar. Die Zeitschriften und ihre Leserschaft inter73 Nach einer solchen Argumentation wären in den USA vor allem die Nahrungsmittelindustrie – die Firma Heinz hatte 1900 ca. 20.000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr, die Fleischfabriken insgesamt nahezu 200.000 Besucherinnen und Besucher – sowie seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Automobilindustrie als touristische Schwerpunkte zu nennen. Vgl. Roland Marchand: Creating the Corporate Soul. The Rise of Public Relations and Corporate Imagery in American Big Business, Berkeley, CA/London 2000, S. 256, 260. Für Deutschland wären dann die Firma Krupp und die AEG und damit die Schwer- und die Elektroindustrie besonders von touristischem Interesse, allerdings nicht wegen des von der Besichtigung erhofften Erlebnisses, das in der vorliegenden Untersuchung von hauptsächlichem Interesse ist. 74 Allison Marsh, die die bisher einzige, wenngleich vorwiegend deskriptive Studie über das Phänomen der Fabrikbesichtigung als Freizeitgestaltung lieferte, nimmt eine vergleichbare Untergliederung der von ihr untersuchten amerikanischen Fabriken vor. Sie setzt Schwerpunkte in der Nahrungsmittelindustrie, bei Dingen des täglichen Gebrauchs und in der Fließbandproduktion insbesondere von Automobilen. Vgl. Allison C. Marsh: The Ultimate Vacation: Watching Other People Work. A History of Factory Tours in America, Diss., University of Baltimore 2008.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

233

essierten sich für Grundnahrungs- wie für Genussmittel,75 sofern sie irgendwie geartete fortschrittliche Merkmale besaßen, ihre Qualität oder Quantität durch neue Herstellungsverfahren gesteigert worden war oder es sich um neue Produkte handelte. Daher waren speziell die Herstellung von Konserven76 oder des für das späte 19. Jahrhundert so intensiv beworbenen Fleischextrakts77 beliebte Themen für Fabrikreportagen, die einen Einblick in die Fertigung von als zeitgemäß bewerteten, da nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen kreierten, Lebensmitteln lieferten. Ebenso legten die Reportagen dar, dass eigentlich herkömmliche Konsumgüter wie beispielsweise Bonbons in der Fabrik mit modernen Methoden hergestellt wurden: „Solch ein Bonbon ist oft eine Art technischen Kunstwerks. […] Feuer und Kälte, Physik und Chemie […] alles ist hierbei in Mitwirkung gezogen.“78 Wo heutzutage Nahrungsmittelproduzenten in Anlehnung an den Wunsch der Konsumentenschaft, qualitativ Hochwertiges zu verspeisen, versuchen, das Bild von sorgsamer, möglichst ursprünglicher und nicht industrialisierter Herstellung zu verbreiten, war es Ende des 19. Jahrhunderts gerade die Modernität der Erzeugung, das Einbeziehen neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Mittel, was für die Qualität der Waren stand und gerade bei verderblichen Lebensmitteln wie Milch79 oder Fleisch80 eine große Rolle spielte. Demgemäß 75 Grundnahrungsmittel, die thematisiert wurden, waren insbesondere Brot, Milch, Fleisch und Bier, vgl. ebd. Bei den Genussmitteln standen insbesondere Champagner und Süßigkeiten im Fokus der Fabrikreportagen. Vgl. Die Champagnerfabrikation in Reims, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 14, 1890, S. 340–343; Die Hochheimer Champagner-Kellerei Bachem & Fanter in Hochheim a.M., in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2476, 13.12.1890, S. 687; A. Theinert: Im Hauptquartier des Champagners, in: Über Land und Meer, Jg. 40, Bd. 79, Nr. 7, 1897/1898, S. 118f.; Ein Besuch, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3147, 22.10.1903, S. 618f.; Hannover’sche Cakesfabrik, H. Bahlsen, Hannover, in: ebd., Bd. 113, Nr. 2940, 02.11.1899, S. 618f.; W. Wanna: Die Geschichte von der braunen Schokolade und dem weißen Zucker oder zu Besuch bei Gebrüder Stollwerck in Köln, in: Über Land und Meer, Jg. 33, Bd. 65, Nr. 12, 1890/1891, S. 280f. 76 Vgl. Karl Doménigg: In einer Bozener Konservenfabrik, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, Nr. 25, 1900, S. 599–601; Richard Gollmer: Deutsche Konservenindustrie, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 131, Nr. 3408, 22.10.1908, S. 735f., 738f.; Die Fleischconserven-Fabrikation in Oesterreich, in: ebd., Bd. 103, Nr. 2666, 04.08.1894, S. 145. 77 Vgl. Das Reich der Suppe und seine Hochburg, in: ebd., Bd. 118, Nr. 3057, 30.01.1902, S. 178f.; Vom Fleischextrakt und seiner Ursprungsstätte, in: Über Land und Meer, Jg. 44, Bd. 88, Nr. 38, 1901/1902, S. 767f. 78 Wanna, Die Geschichte von der braunen Schokolade, S. 280. 79 Vgl. Die Wiener Molkerei, in: Das Buch für Alle, Jg. 38, H. 19, 1903, S. 419, 423; Eine städtische Mustermolkerei, in: Über Land und Meer, Jg. 33, Bd. 66, Nr. 37, 1890/1891, S. 780; Ludwig Sommer: Eine Mustermolkerei, in: ebd., Jg. 46, Bd. 92, Nr. 46, 1908/1909, S. 1064f. 80 Vgl. Die Verladung von gefrorenem Fleisch in einem Londoner Dock, in: Das Buch für Alle, Jg. 47, H. 4, 1912, S. 92f.; Bilder vom Leipziger Schlachtviehhof, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2458, 09.08.1890, S. 148–152; A.O.K.: Vom Berliner Schlachtviehhof, in: ebd., Bd. 125, Nr.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

234

Die Fabrik als touristische Konstruktion

wurde eben dieser moderne Charakter der Fabrik und ihrer Produktion vom Besucher oder von der Besucherin in Augenschein genommen. Bei der industriellen Herstellung von Fleischextrakt garantierte ein hohes Maß an Arbeitsteilung und Mechanisierung beziehungsweise Automatisierung Effizienz und Sauberkeit: „In der Halle empfängt der durch den Stich in den Nacken blitzschnell getötete und auf einem Karren rasch dorthin gebrachte Ochse noch den Bruststich, blutet aus und wird mit erstaunlicher Geschwindigkeit enthäutet und zerlegt. […] Wenn der ‚Desnucador‘, der den Genickstich versetzt, und die ‚Desolladores‘, die für Enthäutung und Zerlegung sorgen, ihre Arbeit beendet haben, was in der fast unglaublich kurzen Zeit von 15–20 Minuten geschehen ist, hängt das Fleisch in Stücken an Haken, um von Knochen und Sehnen befreit zu werden. […] Hier schneiden Burschen die Zungen aus, die als Delikatesse besondere Verwendung finden. Andre Leute laden die Eingeweide auf bereitstehende Rollkarren. Spüljungen beseitigen sofort jedes Fleckchen und Restchen, das sich etwa in dem mit schottischen Fliesen ausgelegten Schlachthause bemerkbar machen sollte, mittels des überall reichlich fließenden Wassers, das durch ein weitverzweigtes Abflußröhrensystem in den Strom geführt wird.“81 Das ‚Ausgangsprodukt‘ für den Fleischextrakt, das Rind, wurde, wie der Ausschnitt aus der Zeitschrift Über Land und Meer aus dem Jahr 1902 skizziert, in einem streng genormten und in einzelne Arbeitsstationen unterteilten Prozess schließlich zu „Mus“82 verarbeitet, aus dem dann der Extrakt ausgekocht wurde. Die Arbeitsschritte waren aufeinander abgestimmt und griffen so reibungslos ineinander. Dazu mussten die Menschen an den einzelnen Stationen der Verarbeitung des Rindes zeitliche Vorgaben ge3254, 09.11.1905, S. 698; Bilder vom Berliner Zentralviehhof, in: Über Land und Meer, Jg. 40, Bd. 79, Nr. 7, 1897/1898, S. 115–118; Heinz Krieger: Der neue Berliner Magerviehhof in Friedrichsfelde, in: Die Gartenlaube, Halbheft 6, 1904, S. 159–162; F. Bock: Die Fleischindus­trie Amerikas, in: ebd., Nr. 6, 1910, S. 124–127; A. Oskar Klaußmann: Moderne Fleischpackerei, in: Illustrirte Welt, Jg. 50, Nr. 12, 1902, S. 284–286. Die Zeitschrift Die Gartenlaube erschien während des Untersuchungszeitraums dieser Studie in drei verschiedenen Ausgabemodellen: Wochennummern, Monatsheften und zweiwöchentlichen Halbheften, vgl. Andreas Graf/Susanne Pellatz: Familienund Unterhaltungszeitschriften, in: Georg Jäger (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Das Kaiserreich 1871–1918. Teil 2, Frankfurt am Main 2003, S. 409–522, hier S. 412. Die Ausgaben unterschieden sich teilweise in Umfang und Inhalt. Das Quellenmaterial dieser Studie stammt – je nach Verfügbarkeit – zum Großteil aus den Wochennummern, teilweise aus den Halbheften. Anhand der Nachweise ist ersichtlich, welche konkrete Ausgabe für die Analyse genutzt wurde. 81 Vom Fleischextrakt und seiner Ursprungsstätte, S. 767f. 82 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

235

nau einhalten und ihre jeweilige Aufgabe exakt ausführen. Das automatisch fließende Wasser, das die letzten Anzeichen der arbeitsteiligen Schlachtung hinwegwusch, steht symbolisch für den Fluss des Arbeitsprozesses. Eine große Faszination übten außerdem solche Lebensmittelhersteller aus, die aufgrund ihrer Mechanisierung und Arbeitsteilung große Mengen erzeugen konnten, worauf bereits die Attribute „groß“83 oder „riesig“84 in den Überschriften der Berichte über diese Betriebe hinwiesen. Sie sangen vorwiegend das Loblied auf eine neue Zeit, die durch Rationalisierung und Technik zur Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beitrug. Fast ebensolch einen Reiz wie Lebensmittel übten den Fabrikreportagen nach zu urteilen die übrigen Dinge des täglichen Ge- und Verbrauchs aus, für deren Faszination vergleichbare Gründe existierten. Einerseits interessierte die Herstellung ganz neu erdachter Produkte wie etwa des Mundwassers,85 andererseits standen altbekannte Dinge wie Textilien,86 Geschirr,87 Papier,88 Bleistifte89 oder Streich-

83 Vgl. z.B. Die Wiener Wurstwaaren-Fabrikation im Großen, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 21, 1890, S. 511f., hier S. 511; New Yorks größte Brotbäckerei, in: ebd., Jg. 38, H. 15, 1903, S. 331, 335. 84 Vgl. z.B. Eine amerikanische Riesenbrauerei, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 122, Nr. 3177, 19.05.1904, S. 737. 85 Vgl. Das größte Etablissement der Erde für Herstellung von Mundwasser, in: ebd., Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. 543–545. 86 Vgl. Eine moderne Wollspinnerei, in: Das Buch für Alle, Jg. 49, H. 6, 1914, S. 130, 133; W. Hunnius/W. Herminghaus: Im Reiche des Weberschiffchens, in: Über Land und Meer, Jg. 49, Bd. 98, Nr. 40, 1906/1907, S. 1003–1006. 87 Vgl. Die Majolika-Fabrikation, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 24, 1890, S. 583f.; P.T. Keßler: Westerwälder Steinzeug, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 136, Nr. 3530, 23.02.1911, S. 339–341; Gotthard Winter: Vom Meißener Porzellan, in: Über Land und Meer, Jg. 32, Bd. 64, Nr. 50, 1889/1890, S. 1007–1009; Hans Ostwald: Wie unser Emaillegeschirr entsteht, in: ebd., Jg. 46, Bd. 91, Nr. 9, 1903/1904, S. 200f.; Fritz Stahl: Die königliche Porzellan-Manufaktur in Berlin, in: Westermann’s illustrierte Monatshefte, Jg. 42, Bd. 83, 1897, S. 88–113; F. Luthmer: In der Porzellanfabrik, in: Die Gartenlaube, Nr. 44, 1898, S. 744–749; Das Porzellan und seine Herstellung, in: ebd., Nr. 31, 1912, S. 660–664. 88 Nicht nur über die Herstellung von Papier an sich, sondern auch über die Weiterverarbeitung zu Briefmarken oder Geldscheinen wurde berichtet. Vgl. Die Papierfabrikation, in: Das Buch für Alle, Jg. 27, H. 14, 1892, S. 335, 337; Theodor Mügge: Eine moderne Papiermühle, in: Über Land und Meer, Jg. 53, Bd. 106, Nr. 46, 1910/1911, S. 1198–1201; Die Herstellung der Postwertzeichen, in: Das Buch für Alle, Jg. 44, H. 3, 1909, S. 60, 64f.; F. Kalckhoff: Wie werden unsere Briefmarken hergestellt?, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, Nr. 14, 1900, S. 338f.; Die Herstellung der Briefmarke, in: Die Gartenlaube, Nr. 15, 1898, S. 254; Fritz Kerns: Die Millionendruckerei, in: Über Land und Meer, Jg. 54, Bd. 108, Nr. 52, 1911/1912, S. 724f. 89 Vgl. Die deutsche Bleistiftfabrikation, in: ebd., Jg. 37, Bd. 73, Nr. 18, 1894/1895, S. 400, 402; Franz M. Feldhaus: Der Bleistift, seine Geschichte und seine Fabrikation, in: Die Gartenlaube, Nr. 42, 1910, S. 892–895.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

236

Die Fabrik als touristische Konstruktion

hölzer90 im Mittelpunkt des Interesses, die durch ihre industrielle Fertigung als Garant für hohe Qualität und große Mengen Anlass gaben, über ihre Fabrikation zu berichten.91 Die Leserschaft begab sich beispielsweise ins „Reich des Weberschiffchens“,92 um die Herstellung der Alltagstextilien zu sehen, die jedoch gegenüber früheren Produktionsmethoden durch hunderte sich regender Hände und in einer ins Hundertfache potenzierten Geschwindigkeit beschleunigt worden war.93 Diejenigen Produkte, die aus dem Alltag bekannt waren, entweder als neue, fortschrittliche Entwicklungen oder als schon lange verwendete, aber nun mit modernen Produktionsmethoden qualitativ hochwertiger oder preislich günstiger erzeugte Waren, machten also neugierig, einen Blick auf den Herstellungsprozess in der Fabrik zu werfen, der den Fortschritt und die Modernität, die hinter den Alltagsprodukten stand, sichtbar machte. Eine solche Reise zur Fabrik präsentierte sich dann als Teil der schon geschilderten ‚Reise in die Moderne‘.94 Während die Verbraucherinnen und Verbraucher beziehungsweise Nutzerinnen und Nutzer vielen Dingen des täglichen Gebrauchs die industrielle Herstellung jedoch nicht auf den ersten Blick ansahen, gestaltete sich dies bei den Erzeugnissen der Schwer­ industrie ganz anders. Diese waren zumeist klar als von der Großindustrie gefertigte Produkte zu erkennen. Die Bevölkerung begegnete diesen Erzeugnissen allenthalben. 90 Vgl. Georg Schade: Der Werdegang eines Streichholzes, in: ebd., Nr. 46, 1909, S. 972–975, hier S. 972. 91 Vgl. Eine moderne Wollspinnerei, S. 130: „Ein Gang durch eine moderne Spinnerei […] muß auch den treuesten Verteidiger des Alten davon überzeugen, dass die einfache Handfertigkeit niemals imstande sein kann, so gute Spinnprodukte zu erzielen wie alle die vielgestaltigen, klug ersonnenen und im praktischen Gebrauch immer mehr vervollkommneten maschinellen Einrichtungen, die dort in mannigfacher Weise Verwendung finden und allein eine Massenfabrikation ermöglichen, wie sie eben heute unerlässlich ist.“ Vgl. auch Luthmer, In der Porzellanfabrik, S. 744. 92 Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1003–1006. 93 Zum Teil wurden die Vorgänge in den Fabriken dem Besuch immer wieder an älteren Maschinen gesondert gezeigt, weil sie mit dem bloßen Auge an den modernen Maschinen nicht mehr nachzuvollziehen waren. Vgl. ebd. 94 Interessanterweise gab es in einem Bereich eine gegenteilige Entwicklung, nämlich beim Spielzeug, dessen Herstellung die Artikel der Zeitschriften ebenfalls sehr häufig aufgriffen. Gerade in den Ausgaben in der Weihnachtszeit durfte ein Bericht über die Produktion von traditionellem Spielzeug nicht fehlen. Aber auch über den Rest des Jahres verwiesen die illustrierten Zeitschriften immer wieder auf die Spielzeugherstellung, insbesondere in malerischen Gegenden wie dem Erzgebirge, und animierten dazu, diese Orte sowohl ob ihrer landschaftlichen Reize, als auch wegen ihrer pittoresken Werkstätten zu besuchen. Mit diesen Reportagen wurde zwar ein arbeitsteiliger Prozess vorgestellt, es ging aber letztlich darum, eine vorindustrielle ‚Märchenwelt‘ zu verherrlichen. Vgl. exemplarisch die Berichte aus Das Buch für Alle: Unsere Puppenindustrie, in: Das Buch für Alle, Jg. 27, H. 113, 1892, S. 326f.; Die Krippenindustrie in Türkheim, in: ebd., Jg. 28, H. 12, 1893, 1893, S. 284, 287; Die Puppenmöbelfabrikation zu Waltershausen in Thüringen, in: ebd., Jg. 33, ohne Heftnummer, 1898, S. 242, 244.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

237

Die verschiedenen Folgeprodukte des Eisens ‚trugen‘ das 19. Jahrhundert ab dem Beginn der Industrialisierungsprozesse, und das im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Seit der Industriellen Revolution war die Verbindung von Kohleförderung, Eisenherstellung und Maschinenbau der wichtigste Faktor für ökonomische Wertschöpfungsprozesse, wirtschaftliches Wachstum und industrielle Weiterentwicklung. Die Maschinenhallen stellten das Herzstück einer jeden Industrie- und Gewerbeschau dar. Und nach der Zeit des Historismus, in der die Eisenkonstruktionen, die die imposanten Bauwerke im Innern zusammenhielten, als unschön empfunden und hinter einer vermeintlich ansprechenderen Fassade versteckt worden waren, traten die schlanken, funktionellen Stahlträger als Grundlage von Brücken, von Hallenkonstruktionen für Bahnhöfe, von Warenhäusern oder Maschinen- und Fabrikhallen zu Tage,95 die die zeitgenössischen Betrachterinnen und Betrachter in ihrer Größe, Helligkeit und Fragilität als ein „Gitterwerk von wunderbarer Anmut der Linien“96 und gleichzeitig „einer unerhörten Festigkeit“97 empfanden. Die Stahlträger wurden sogar schließlich um ihrer selbst willen zu einem an sich nutzlosen Ensemble wie dem Eiffelturm zusammengefügt, das freilich gerade aufgrund seiner Zweckfreiheit einen ungeheuren Mythos entwickelte.98 Der Eiffelturm trug dazu bei, das Interesse an den dort verbauten Werkstücken und an ihrer Herstellung zu schärfen. Es liegt nahe, dass sich die Zeitgenossen fragten, ob sich die Herstellung dieser Erzeugnisse als ebenso beeindruckend wie ihre Erscheinung selbst herausstellen würde. Folgt man den Reportern und ihren Berichten, so ist dem in jedem Fall zuzustimmen. Sowohl von der Zahl der Artikel als auch von ihrer jeweiligen Länge stellen die Berichte über die Förderung von Kohle, über die Eisen- und Stahlherstellung und den Maschinenbau die größte Gruppe von Fabrikreportagen. Ebenso lässt sich an der zum Teil mythisch überhöhten Schilderung der als extrem empfundenen Erlebnisse erkennen, dass die Schwerindustrie einen bleibenden Eindruck auf den Reporter und durch seine Augen auf die Leserin und den Leser als potenziellen Besuch machte.99 Der Steinkohlebergbau stellte sich als der Teil der Herstellungskette in der Schwerindustrie dar, der wohl als am geheimnisvollsten angesehen wurde, fanden seine betrieblichen Abläufe doch hunderte von Metern unter der Erde unter Beteiligung von ganz 95 Vgl. Jean-Kyeong Hong: Die Folgen der Industriellen Revolution für die Baukunst. Der Entwicklungsprozess der neuen Bautypen zwischen Coalbrookdalebrücke 1779 und Eiffelturm 1889, Köln 1994. 96 von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 297. 97 Ebd. Mit diesen Worten beschreibt der Autor seine Wahrnehmung der kruppschen Werkshallen. 98 Vgl. Roland Barthes: Der Eiffelturm, München 2000 (französische Erstausgabe 1964), S. 28–38. 99 Vgl. auch Kapitel 5.1.2. Die darin besprochenen Beispiele für die Schilderung extremer Sinneseindrücke sind zumeist den Reportagen aus der Schwerindustrie entnommen.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

238

Die Fabrik als touristische Konstruktion

mit Staub bedeckten und damit fremdartig anmutenden Menschen statt. Bereits im 18. Jahrhundert hatten bürgerliche Dichter und Literaten das Bergwerk als Inspirationsort entdeckt. Goethe, Novalis, Joseph von Eichendorff oder Heinrich Heine verklärten den Bergbau naturromantisch als Weg ins Innere des Selbst und thematisierten die in ihm erfahrbaren geheimnisvollen Naturkräfte. Die literarischen Vorlagen regten die Sehnsucht des bürgerlichen Publikums nach der Welt unter Tage an, die bisweilen sogar in Bildungsreisen zum Bergbau mündeten. „Etwas seltsam ist dem Neuling doch zumute, der zum erstenmal ‚einfährt‘“100 beschrieb der Reporter der Zeitschrift Die Gartenlaube den Moment, in dem er sich dem Förderkorb zur Seilfahrt anvertraute. Dieses seltsame Gefühl hatte ihn nicht getäuscht, denn der Abstieg in die Unterwelt war mit verschiedenen Sinnen erfahrbar. Der Druck in den Ohren und auf der Lunge und das Verschwinden des Tageslichts gaben dem Besucher das Gefühl, unter Wasser zu sein oder in tiefer Nacht herumzuirren.101 Die Empfindung, in die Unterwelt geraten zu sein, verstärkte sich dann vor Ort, laute, undefinierbare Geräusche stürzten auf den Besucher ein102 und allenthalben sah er „beim Schein der Grubenlichter dunkle Gestalten dicht zusammengedrängt stehen oder hocken“,103 wobei die Bergleute mit ihren rußigen Gesichtern anmuteten „wie eine Schar aus ihrem Bergverlies ausgebrochener Dämonen der Tiefe.“104 Für einen zusätzlichen ‚Gruseleffekt‘ sorgten die Schilderungen von speziellen Gefahren wie dem ‚Schlagwetter‘105 oder Unfällen bei der Seilfahrt.106 Entsprechend froh zeigte sich der Bürger – Bergwerke waren für Frauen nicht zugänglich – am Ende, das Sonnenlicht wieder begrüßen zu können und „der finsteren Unterwelt entronnen zu sein.“107 Das Erlebnis bewertete er aber nicht negativ, sondern verklärte es mystisch als „von einer eigenartigen Poesie“108 und behaftet mit einem „geheimnisvollen Reiz.“109 Neben all der Schwärmerei waren die Beobachterinnen und Beobachter sich jedoch bewusst, dass hinter diesen Eindrücken ein industrielles Großunternehmen stand, das mithilfe eines 100 Paul Grabein: Im Reiche Plutos. Eindrücke im Kohlenbergwerk, in: Die Gartenlaube, Nr. 34, 1909, S. 716–719, hier S. 716. 101 Vgl. ebd., S. 717; vgl. auch Becker: Unter Tage. Bilder aus einem westfälischen Steinkohlenbergwerk, in: Über Land und Meer, Jg. 46, Bd. 91, Nr. 6, 1903/1904, S. 128–133, hier S. 130. 102 Vgl. ebd., S. 132. 103 Grabein, Im Reiche Plutos, S. 716f. 104 Ebd., S. 717; vgl. auch Becker, Unter Tage, S. 133. 105 Vgl. Grabein, Im Reiche Plutos, S. 718f.; Becker, Unter Tage, S. 132f. 106 Vgl. ebd., S. 129. 107 Ebd., S. 133. 108 Ein Steinkohlenbergwerk in Westfalen, in: Illustrirte Welt, Jg. 40, Nr. 19, 1892, S. 455–457, hier S. 456. 109 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

239

hohen technischen Aufwands, zum Beispiel bei der Wasserhaltung oder der Förderung der Kohlen ans Tageslicht, ein Wirtschaftsgut nutzbar machte.110 Daraus, und nicht nur aus der Mystifizierung der schweren Arbeit beim Schlagen der Kohle aus dem Flöz, erklärt sich das „allgemeine[ ] Interesse, das allgemein dem Steinkohlenbergbau zugewendet wird“,111 und daher kam der Wunsch der Leserschaft, „die Einrichtung eines solchen Bergwerks und seinen Betrieb durch Bild und Wort kennenzulernen.“112 Dieses Kennenlernen bezog sich nicht nur auf die Reise unter Tage, sondern richtete sich ebenso auf die stark rationalisierten Werksanlagen über Tage, zu denen eine Vielzahl großer Maschinen zur Sortierung und Weiterverarbeitung der Kohle gehörten. Beeindruckender noch gestaltete sich der Besuch eines Eisen- und Stahlwerkes. Die faszinierende Größe der Produkte korrelierte hier mit der Größe der zu ihrer Herstellung nötigen Maschinen und Arbeiterzahlen: „Wenn man bedenkt, was für gewaltige Maschinen zur Bearbeitung solcher kolossalen Metallmassen erforderlich sind, dann versteht man den Ausspruch eines für seinen Beruf begeisterten Fachmanns: ‚Wollen wir die Technik in ihrer titanenhaften Größe sehen, so müssen wir ein Panzerplattenwalzwerk aufsuchen.‘“113 Ob in einem Panzerplattenwalzwerk oder in anderen Werken der Eisen- und Stahlindustrie, die Größe der Produkte und der Maschinen sowie die damit verbundene Kraft im Produktionsvorgang war das Kuriosum. Tausende Liter flüssigen Metalls wurden von hunderten Arbeitern in Tiegeln aufgefangen und weiterverarbeitet,114 gigantische Eisenblöcke115 von riesigen Kränen ohne größere ersichtliche Anstrengung durch die Fertigungshallen bewegt116 und von gewaltigen Maschinen bearbeitet, für die das harte Metall keine größere Herausforderung als Holz für eine Bohrer darstellte.117 Die Empfindung der Mächtigkeit der Produkte und Maschinen wurde bestätigt durch die Eindrücke bei der Betrachtung der Produktionsschritte, die die Zeitschriften ihren Leserinnen und Lesern weitergaben. Wenn die ungeheuren Maschinen auf die kolossalen Werkstücke trafen und ihre Kraft übertrugen, entstand ein lautes Getöse, zum Teil war sogar eine Erschütterung spürbar: „Ein donnernder Schlag macht das ganze Gebäude bis in seine Fundamente hinein erzittern.“118 Traf heißes 110 Vgl. Becker, Unter Tage, S. 132; Kohlenwäsche, in: Das Buch für Alle, Jg. 42, H. 13, 1907, S. 295f.; Die Verarbeitung der Kohlen im Ruhrgebiet, in: Die Gartenlaube, Nr. 52, 1892, S. 864–869. 111 Ein Steinkohlenbergwerk in Westfalen, S. 455. 112 Ebd. 113 Das Gießen der Schiffspanzerplatten, in: Das Buch für Alle, Jg. 38, H. 21, 1903, S. 463, 468, hier S. 463. 114 Vgl. von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 295. 115 Vgl. ebd., S. 297; Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 506. 116 Von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 295. 117 Vgl. ebd., S. 297. 118 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 499.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

240

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Abb. 20: „Auflegen eines großen Blocks auf die Straße des Walzwerks“ (1911): Die Faszination übergroßer Maschinen und Werkstücke beim Blick in die Fabrik

Metall beim Gußvorgang auf kühles Wasser, gab es ein lautes Zischen und enorme Dampfentwicklung und bei der Stahlherstellung entstanden aufsehenerregende Effekte von Licht und Hitze.119 Mit der Abbildung des Vorgangs „Auflegen eines großen Blocks auf die Straße des Walzwerks“120 der Firma Krupp stellte die Illustrirte Zeitung die wegen ihrer Größe und Gewaltigkeit ganz besonders faszinierenden Elemente auf einen Blick vor: Das gigantische Werkstück wurde von überdimensionalen Maschinen wie dem Kran und der hydraulischen Presse bewegt und weiterverarbeitet, wobei noch eine Vielzahl von Arbeitern nötig war, um den Metallblock zu bändigen (vgl. Abbildung 20). Der Gussstahlblock dominiert in der Fotografie die große Fabrikhalle. Das Licht, das durch die Oberfenster der Werkshalle fällt, spiegelt sich auf ihm, wodurch der Blick der Betrachterinnen und Betrachter auf das überdimensionierte Werkstück gelenkt wurde. Durch die glatte, spiegelnde Oberflächte, die klaren Kanten und die rechteckige Form waren sein Gewicht und seine Unbeweglichkeit für die Betrachtenden fast greifbar. Neben 119 Vgl. ebd., S. 498. 120 Fried. Krupp, Aktiengesellschaft, Essen-Ruhr, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 137, Nr. 3566, 02.11.1911, S. 43–50, hier S. 44 (gesonderte Paginierung).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

241

dem Block fallen zwei weitere Elemente ins Auge: ein Kran mit Greifarm, der von der Decke hängt und das gusseiserne Werkstück umklammert und kurz über dem Boden in der Schwebe hält, und eine mit Walzen versehene Presse, die auf den Gussstahl­block wartet. Der Kran und die Presse weisen dieselben Dimensionen wie das Werkstück auf, zusammen ergaben sie für die Betrachtenden ein Ensemble wie aus einer Welt der Riesen. Die Menschen in der Werkshalle, die mit ihrer ganzen Kraft an Ketten ziehen, um den Stahlblock in dem Greifarm in die richtige Richtung zu dirigieren, wirkten dagegen klein und in ihrer Dynamik gegen die Schwere und relative Unbeweglichkeit des Blockes nahezu deplatziert. Trotzdem wurde ihre Arbeit vom Fotografen mit dargestellt. Statt nur die übergroßen Maschinen und Produkte abzubilden, thematisierte er gleichfalls die auf den ersten Blick unbedeutend wirkende menschliche Arbeit, womit er darlegen konnte, dass der Mensch diese als „von elementarer Kraft getrieben“121 empfundenen Vorgänge beherrschte. Mit der Größe der Produkte und der Maschinen korrespondierte in der Schwerindustrie die Macht der Unternehmen, die sich nicht nur als wirtschaftliche Leistungsstärke manifestierte, sondern gleichfalls als ein Mythos, der darauf rekurrierte, wie aus kleinen Anfängen ein Großunternehmen werden konnte.122 Das Interesse an den Vorgängen im Innern der schwerindustriellen Fabrik wurde zusätzlich noch potenziert durch die Tatsache, dass die Werke den Besuch aufgrund des großen Andrangs reglementierten, was in vielen Reportagen eigens herausgestellt wurde.123 Selbst der Baedeker erklärte, dass der Besuch der Krupp-Werke in Essen nicht gestattet sei.124 Dem war, wie die Besucherakten ebenso wie Zeitzeugenberichte offenlegen, keineswegs so,125 aber die Firmenleitung versuchte, die Besuche einzuschränken. Dadurch stieg natürlich wiederum das Interesse an einer Besichtigung dieser Fabriken. 121 Von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 295. 122 Vgl. I. Kollmann: Die Stumm’schen Eisenwerke in Neunkirchen und Ueckingen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. II–XX, hier S. II (gesonderte Paginierung); Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 509: Abbildung Das Krupp’sche Stammhaus. Vgl. zur Mythenbildung in der Schwerindustrie Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.): 200 Jahre Krupp. Ein Mythos wird besichtigt, Essen 2012. 123 Vgl. Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 493; von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 295. 124 Vgl. Baedeker, Nordwest-Deutschland, 30. Aufl., S. 127, 388; ders.: Die Rheinlande. Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, 32. Aufl., Leipzig 1912, S. 305. 125 Vgl. Kapitel 5.1.2.; vgl. den Reisebericht von Pieler, der zwar auch darlegt, dass der Zutritt zu den einzelnen Werkstätten eigentlich nicht gestattet sei, er aber „geführt von einem ortskundigen Freunde, die langen Straßen zwischen denselben ungehindert durchwandert“ habe, Franz Ignaz Pieler: Das Ruhrthal. Reise auf der Ruhrthal-Eisenbahn mit Ausflügen in die Umgegend, Werl 1983 [unveränderter Nachdruck der Ausgaben von 1881], S. 302, und Blicke in die offenen Fabrikhallen geworfen habe (vgl. ebd.), was in der Praxis auf keine besonders rigide Abschirmung des Werkes schließen lässt.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

242

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Ähnliches kann man über die Weiterverarbeitungsbetriebe für die Erzeugnisse der Schwerindustrie sagen. Insbesondere der Eisenbahn- und der Schiffsbau wurden dem Interesse der Leserschaft gemäß in den Zeitschriften vorgestellt, worin sich wiederum offenbart, dass ein Blick auf die Produktion außergewöhnlich großer Maschinen das Publikum faszinierte.126 Je mehr Deutschland sich für eine mögliche internationale Auseinandersetzung rüstete, umso mehr verknüpfte die Berichterstattung die Riesenhaftigkeit der Produkte der Schwerindustrie mit nationaler Stärke127 und thematisierte eigens die Herstellung von Geschützen128 und die Feuerkraft dieser Geschütze,129 beziehungsweise ging gemäß der nationalen Begeisterung für die deutsche Kriegsflotte auf den Bau von Panzerschiffen ein.130 Schließlich gingen die Zeitschriften sogar dazu über, Sonderausgaben mit teil126 Vgl. für die Reportage aus Schiffswerften: Die Herstellung der Schiffsschrauben, in: Das Buch für Alle, Jg. 30, H. 2, 1895, S. 43f.; Die Fabrikanlagen des „Vulkan“ in Bredow bei Stettin, in: ebd., Jg. 40, ohne Heftnummer, 1905, S. 532, 533; G. Hoffmann: Die Kaiserliche Werft in Kiel, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2962, 05.04.1900, S. 478–495; Alex Kircher: Das größte Schwimmdock der Neuzeit, in: ebd., Bd. 123, Nr. 3192, 01.09.1904, S. 304f.; Das neue eiserne Schwimmdock in Rotterdam, in: ebd., Nr. 3203, 17.11.1904, S. 724f., 727; Vulcan-Werke Hamburg-Stettin, in: ebd., Bd. 137, Nr. 3566, 02.11.1911, S. 51–54 (gesonderte Paginierung); Blohm & Voß Schiffswerk und Maschinenfabrik Hamburg-Steinwärder, in: ebd., S. 59–61 (gesonderte Paginierung); Actien-Gesellschaft „Weser“ Bremen, in: ebd., S. 70–73 (gesonderte Paginierung); Joh. C. Tecklenborg A.-G. Schiffswerk und Maschinenfabrik Bremerhaven-Geestemünde, in: ebd., S. 74f. (gesonderte Paginierung); Norddeutscher Lloyd, Bremen, in: ebd., S. 80 (gesonderte Paginierung); Die Gothaer Waggonbau-Industrie, in: ebd., Bd. 134, Nr. 3478, 24.02.1910, S. 30–33 (gesonderte Paginierung); Max Krause: Die Firma A. Borsig in Berlin, in: ebd., Bd. 139, Nr. 3610, 05.09.1912, S. 413f. 127 In der nationalistisch aufgeladenen Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts, der sich die Berichte der Zeitschriften nicht entziehen konnten und wollten, wurde auch die Bedeutung anderer Produkte und Produktionsprozesse in einen nationalen Kontext gestellt, wurden etwa die Güte deutschen Sektes und deutschen Parfüms gegenüber den französischen Konkurrenten als Grund für eine Fabrikbesichtigung genannt. Vgl. Ein Besuch, in: ebd., Bd. 121, Nr. 3147, 22.10.1903, S. 618f., hier S. 618.; Gustav Schubert: Die Fabrik feiner Parfümerien und Toilette-Seifen Gustaf Lohse in Berlin, in: ebd., Bd. 111, Nr. 2889, 10.11.1898, S. 633f., hier S. 633. Ferner wurde etwa der Produktionsprozess für eine Uniform vorgestellt. Vgl. Oscar Meyer-Elbing: Zweierlei Tuch. Der Werdegang der deutschen Uniformtuche, in: ebd., Bd. 140, Nr. 3641, 10.04.1913, S. 61–68 (gesonderte Paginierung); Wie ein Militärhemd entsteht, in: ebd., S. 75 (gesonderte Paginierung). Die Erzeugnisse der Schwerindustrie spielten aber für die nationale Kriegsbereitschaft die wichtigste Rolle und standen daher im Fokus der Fabrik­reportagen mit nationalem Impetus. 128 Vgl. N.E. Merow: Panzerplatte und Kanonenrohr, in: Über Land und Meer, Jg. 46, Bd. 92, Nr. 33, 1903/1904, S. 750f. 129 Vgl. Die neuesten Krupp’schen Schießversuche mit Feldgeschützen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 119, Nr. 3094, 16.10.1902, S. 573f. 130 Vgl. Das Gießen der Schiffspanzerplatten, S. 463, 468; Hermann Albrecht: Neues Verfahren bei der Herstellung von Panzerplatten, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3142, 17.09.1903, S. 429f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

243

weise über hundert Seiten zu veröffentlichen, die allein den Stellenwert verschiedener deutscher Industrien und Unternehmen – vorwiegend wieder der Schwerindustrie – für die Kriegsbereitschaft der Nation herausstellten und in diesem Rahmen ebenfalls über die Prozesse in den Fabriken berichteten.131 Je absehbarer ein Krieg und je größer die nationale Begeisterung wurde, umso größer wurde gleichfalls das Interesse für die Vorgänge in den Werken der Schwerindustrie. Mit der Schwerindustrie besichtigten die Besucherinnen und Besucher einen Sektor, der schon in der ersten Phase der Industrialisierung bestimmend gewesen war. Ihre Neugier galt aber ebenso den neuen Führungssektoren der Zweiten Industriellen Revolution, die sich dadurch auszeichneten, dass vorrangig keine greifbaren Werkstücke produziert wurden, sondern Wandlungsvorgänge auf chemisch-technischem Wege stattfanden. Verschiedene Energieformen gingen ineinander über, chemische Verbindungen veränderten sich. Der herausragende Industriezweig des späten 19. Jahrhunderts war die Elektroindustrie, deren Bedeutung sich anfangs aus der Möglichkeit ergab, auf unkomplizierte Weise das Haus und die Stadt zu beleuchten, und die damit dem Leuchtgas den Rang ablief.132 Bald ging ihr Einfluss auf die Industrie und die Privathaushalte jedoch über die reine Beleuchtung hinaus und eine allgemeine Elektrifizierung der Wirtschaft und des Alltags setzte ein. In diesem Zuge stieg die Elektrizität, häufig als allegorische Figur symbolisiert und gefördert durch entsprechende Marketingstrategien, schnell in den Rang einer Heilsbringerin für eine neue Zeit auf.133 Sie erschien den neuen Nutzerinnen und Nutzern als unerklärliches Phänomen, das unweigerlich anzog, und dem sie auf die Spur kommen wollten. Abhilfe schufen Besichtigungen der Elektrizitätswerke. Hier sprangen dem Laien, wie eine Abbildung von einer „Wanderung durch die Berliner Elektrizitätswerke“ in der Zeitschrift Das Buch für Alle enthüllt, vorwiegend die beeindruckenden glänzenden Maschinen zur Erzeugung von Strom ins Auge (vgl. Abbildung 21). Die Zeichnung skizziert die Situation in einem Elektrizitätswerk: In einer zweigeschossigen Halle, die zum Teil durch eine Empore unterteilt ist, führen Arbeiter verschiedene, nicht genauer zu entschlüsselnde Tätigkeiten an sehr großen, nach außen weitgehend abgeschlossenen Maschinen aus. Diese werden durch die Bildunterzeile als Dynamomaschinen ausgewiesen und beherrschen durch die Art des Bildaufbaus die 131 Vgl. exemplarisch den Themenschwerpunkt zum deutschen Heer in der Illustrirte[n] Zeitung aus dem Jahr 1913: ebd., Bd. 140, Nr. 3641, 10.04.1913, S. 1–144 (gesonderte Paginierung). 132 Die Elektrizität übernahm die Stellung, die das Glühgas bis dahin innehatte. Vgl. In der Gasfabrik, in: Das Buch für Alle, Jg. 29, H. 27, 1894, S. 647, 649; vgl. Franz Bendt: Die Fabrikation der Auerschen Gasglühlampe, in: Über Land und Meer, Jg. 40, Bd. 80, Nr. 24, 1897/1898, S. 387–389; vgl. auch die Berichte in der ‚Gas-Jahrhundert-Nummer‘ der Illustrirte[n] Zeitung, Bd. 138, 1912. 133 Vgl. Roman Sandgruber: Strom der Zeit. Das Jahrhundert der Elektrizität, Linz 1992.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

244

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Abb. 21: „Bei den Dynamomaschinen“ (1893): Maschinen als touristische Attraktion

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

245

Szenerie. Der Fluchtpunkt der Zeichnung liegt nicht, wie bei den Bildern aus der Fabrik sonst häufig, mittig in der oberen Hälfte des Bildes, sondern befindet sich hinter den seitlich angeordneten Dynamomaschinen. Diese werden nicht in der Hochperspektive, sondern aus der Untersicht betrachtet, was zu dem optischen Eindruck führt, die Maschinen würden, obwohl auf dem Hallenboden stehend, in die Höhe emporsteigen. Damit korrespondiert der Lichteinfall von schräg oben, auf den die Maschinen zuzustreben scheinen und der sich in ihrer glatten Oberfläche bricht. Die erste der vier Maschinen ist für die Betrachtenden des Bildes im Detail zu erkennen, sie hat auf der ansonsten weitestgehend glatten Oberfläche Kabel, Griffe, Schalter und Knöpfe, die aber keine Erkenntnis über die Funktion liefern. Der Vorgang im Innern dieser als imposant dargestellten Maschinen blieb den Betrachtenden verborgen. Der einzig sichtbare Arbeitsvorgang rund um die Anlagen zur Stromerzeugung ist die Befüllung mit Brennstoff durch mehrere Menschen, die im Verhältnis klein und kraftlos wirken. Gleich sechs Personen sind nötig, um den Brennstoff mit einer langen Schaufel in die Dynamomaschine einzufüllen. Im Gegensatz zu den geraden, glatten und spiegelnden Flächen des Dynamos sind die Arbeiter undeutlich und verwischt abgebildet. Alle weiteren Abläufe bei der Stromerzeugung mussten für die Beobachtenden im Dunkeln bleiben, das Äußere der Maschine stand stellvertretend für das Potenzial der gesamten Apparatur und wurde insofern überhöht dargestellt. Aufschluss über die Prozesse zur Stromerzeugung konnten nur zusätzliche Erläuterungen in Textform oder durch einen kundigen Führer liefern, worauf viele Zeitschriftenreportagen ihr Hauptaugenmerk richteten.134 Ein besseres Verständnis der Elektrizität entstand, wenn die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer sie mit dem eigenen Alltag in Verbindung bringen konnten. Dementsprechend konnte eine Besichtigung des Fertigungsprozesses von mit Strom betriebenen Geräten eine genauere Vorstellung liefern, was sich hinter dem Mysterium verbarg.135 Der Besuch einer Kabelfabrik erläuterte beispielsweise, wie der Vermittler zwischen Stromherstellung und den Geräten zu Hause aufgebaut war und hergestellt wurde.136 Elektrischer Strom war jedoch nur eine der ‚Wundertechniken‘, die Ende des 19. Jahrhunderts aufkamen und auf unsichtbarer Übertragung oder Umwandlungs134 Vgl. Gustav Schubert: Die Berliner Elektricitätswerke, in: Die Gartenlaube, Nr. 23, 1890, S. 379– 381; Eine Wanderung durch die Berliner Elektrizitätswerke, in: Das Buch für Alle, Jg. 28, H. 12, 1893, S. 300, 302. 135 Das Argument, durch die Beobachtung der Herstellung eines mit der entsprechenden Energie zu betreibenden Gerätes Einsicht in das Wesen der jeweiligen Energie erlangen zu können, wurde zwar in Zusammenhang mit dem Glühgas und der Gasglühlampe angebracht, ist aber auf die Elektrizität übertragbar. Vgl. Bendt, Die Fabrikation der Auerschen Gasglühlampe, S. 387–389. 136 Vgl. Kabel, in: Über Land und Meer, Jg. 46, Bd. 92, Nr. 50, 1903/1904, S. 1118–1120; In den elektronischen Werkstätten von Siemens & Halske in Berlin, in: Das Buch für Alle, Jg. 26, H. 8, 1891, S. 196, 198.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

246

Die Fabrik als touristische Konstruktion

vorgängen beruhten.137 Dementsprechend waren für die Fabriktouristinnen und -touristen chemische Fabriken,138 aber auch solche, die mit Kältemaschinen139 oder Druckluftübertragung140 arbeiteten, beliebte Ziele. Im weiteren Sinne gehörten dazu außerdem Fernsprechämter, die die Verwendung der neuen Technik zur verbalen Verständigung über hunderte von Kilometern demonstrierten.141 Kann man nach dieser Zusammenschau aber davon ausgehen, dass Interessierte gezielt die Fabriken aufsuchten, die Produkte herstellten, die sie aufgrund ihrer Größe oder ‚Modernität‘ als ausnehmend interessant bewerteten oder deren Produktionsprozess als außerordentlich durchtechnisiert gelten konnte? Oder kann vielmehr gelten, dass – wie Allison Marsh als ein Fazit ihrer Untersuchung über die Fabrikbesichtigungen in den USA feststellte – es keinerlei Beschränkungen gab, welche Fabriken letztlich besichtigt wurden?142 Vieles deutet darauf hin, dass es zwar aufgrund der genannten Interessenschwerpunkte Präferenzen gab, wofür sich das Bürgertum in seiner Freizeit hauptsächlich interessierte, dass aber letztlich jede Fabrik das Potenzial zum Ausflugsziel hatte, die sich gerade aufgrund ihrer geografischen Lage und einer gewissen Größe der Produktionsstätten für einen Besuch anbot. Beispielsweise nannte der Baedeker prinzipiell eine jede solche Fabrik als Teil eines gesamttouristischen Erlebnisses in seinen Routen.143 Selbst die auffällig vielen Reportagen über städtische Einrichtungen wie Schlachthöfe, Molkereien, Elektrizitätswerke, Klär- oder Müllverbrennungsanlagen, also Fabriken im erweiterten Sinn, offenbaren, dass diese eine Rolle in der touristischen Rezeption der modernen Großstadt spielten.144 Regionale Sondernummern in Zeitschriften, die verschiedene Aspekte eines be137 Die Rubriken „Polytechnische Mitteilungen“ und „Aus Industrie und Technik“ der Illustrirte[n] Zeitung, die Teil fast jeder Ausgabe waren, griffen häufig diese Themen auf. 138 Die chemische Industrie wurde in den untersuchten Zeitschriften erstaunlicherweise nicht thematisiert. Dagegen spielte sie auf einigen Baedeker-Routen eine entscheidende Rolle. Vgl. Karl Baedeker: Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende, 10. Aufl., Leipzig 1898, S. 43, 45, 125, 141, 286. 139 Vgl. Robert Fürstenau: Zweihundert Grad Kälte, in: Die Gartenlaube, Nr. 27, 1907, S. 574–577. 140 Vgl. Franz Bendt: Kraftübertragung durch Druckluft, in: Über Land und Meer, Jg. 34, Bd. 68, Nr. 43, 1891/1892, S. 899f. 141 Vgl. Volkmar Müller: Fernsprechbetrieb im Hauptpostamt zu Leipzig, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 103, Nr. 2687, 29.12.1894, S. 766–768. 142 Vgl. Marsh, The Ultimate Vacation, S. 163. Wie bereits angedeutet (vgl. Kapitel 2.3., Anm. 149), weist die Studie von Marsh diverse argumentative und strukturelle Schwächen auf. Überdies muss offenbleiben, inwieweit sich ihre Ergebnisse auf den deutschen Fall übertragen lassen. Das Forschungsergebnis, dass Touristen – aus welchen Motiven auch immer – nicht zwischen den Fabriken verschiedener Branchen oder der Fabrikation verschiedener Produkte differenzierten, wenn es um einen Fabrikbesuch ging, kann jedoch als eine übergeordnete Konstante betrachtet werden. 143 Vgl. Baedeker, Berlin und Umgebung, 10. Aufl., S. 42, 170, 173, 177, 195. 144 Vgl. Die städtischen Elektrizitätswerke in Paris, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 15, 1890,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

247

stimmten Teils Deutschlands vorstellten, bezogen immer die Industrie dieser Gegend mit ein, indem sie Reportagen aus den ansässigen Fabriken veröffentlichten. Es spielte allerdings keine Rolle, ob die Publikationsorgane über Hessen,145 das Oldenburger Land,146 Dresden,147 Braunschweig148 oder Württemberg149 berichteten, denn es existierten, so wird in den regionalen Sondernummern ersichtlich, in jedem Landstrich Werke, die als touristische Attraktion wahrgenommen werden konnten. Die Untersuchung der Fabrikbesichtigungen durch die Angestellten-Vereine der Firmen Siemens und Schuckert belegt ebenfalls, dass es zwar einen Schwerpunkt beim Besuch kleiner und mittelständischer Unternehmen, sowie bei neu eröffneten Betrieben und Einrichtungen gab, und dass die besichtigten Firmen das eigene Berufsfeld nicht unmittelbar tangierten, dass aber wohl ansonsten eher Erreichbarkeit und Zugänglichkeit der Unternehmen eine Rolle bei der Auswahl gespielt haben mögen. So besuchten die Angestellten und ihre Ehepartnerinnen so unterschiedliche Ziele wie Maschinenfabriken, Brauereien, Bleistiftfabriken, Verhüttungsbetriebe, Gaswerke, elektronische Ausstellungen, Telegrafiestationen, Brauereien und Meiereien sowie Wohnsiedlungen,150 womit sie einen ähnlichen Querschnitt durch die Branchen abdeckten wie die Reportagen in illustrierten Zeitschriften.

S. 369, 371f.; Eine Wanderung durch die Berliner Elektrizitätswerke, S. 300, 302; Die neue centrale Sandfiltrationsanlage zur Wasserversorgung Hamburgs, in: Das Buch für Alle, Jg. 28, H. 22, 1893, S. 527, 529; Der neue Müllschmelzofen in Berlin, in: ebd., Jg. 35, H. 13, 1900, S. 307, 312; Die Wiener Molkerei, S. 419, 423; Die Berliner Elektrizitätswerke, S. 142, 144; Bilder vom Leipziger Schlachtviehhof, S. 148–152; Berliner Bilder: In der Reichsbank, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3020, 16.05.1901, S. 759–761; Das Fernheiz- und Elektrizitätswerk zu Dresden, in: ebd., Bd. 118, Nr. 3059, 13.02.1902, S. 245f.; Heinz Krieger: Das größte Elektrizitätswerk der Welt mit Wasserkraftbetrieb, in: ebd., Nr. 3078, 26.06.1902, S. 991–993; Die Berliner Ferndruckerzentrale, in: ebd., Bd. 121, Nr. 3144, 01.10.1903, S. 505; K., Vom Berliner Schlachtviehhof, S. 698; Das Chemnitzer Krematorium, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 128, Nr. 3316, 17.01.1907, S. 106; Willy Doenges: Der neue Dresdener Schlachthof, in: ebd., Bd. 135, Nr. 3506, 08.09.1910, S. 413; Eine städtische Mustermolkerei, S. 780; Franz Bendt: Die Tegeler Wasserwerke, in: Über Land und Meer, Jg. 33, Bd. 65, Nr. 10, 1890/1891, S. 217; Franz Bendt: Die Berliner Elektrizitätswerke, in: ebd., Jg. 35, Bd. 70, Nr. 28, 1891/1892, S. 575; Ewald Thiel: Die Wasserversorgung und Kanalisation Berlins, in: ebd., Jg. 36, Bd. 71, Nr. 8, 1893/1894, S. 168f.; Bilder vom Berliner Zentralviehhof, S. 115–118; Krieger, Der neue Berliner Magerviehhof in Friedrichsfelde, S. 159–162. 145 Vgl. Illustrirte Zeitung, Bd. 138, 1912 (ohne Nummer, undatiert). 146 Vgl. ebd., Bd. 139, Nr. 3620, 14.11.1912. 147 Vgl. ebd., Bd. 140, 1912 (ohne Nummer, undatiert). 148 Vgl. ebd., Bd. 141, 27.11.1913. 149 Vgl. Über Land und Meer, Jg. 54, Bd. 108, Nr. 27, 1911/1912, S. 32–34. 150 Vgl. Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 103, 127.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

248

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Der organisatorische Rahmen des Fabrikbesuchs Wenngleich die tieferliegenden Motive, eine Fabrik zu besichtigen, nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind, so lassen sich doch verschiedene Zwecke ausmachen, die die Besuche in unterschiedlichen Kontexten erfüllten. Die Werksbesichtigungen wurden, wie die Aufzeichnungen über die Besucherinnen und Besucher in etlichen Fabriken enthüllen, größtenteils entweder von der Bevölkerung der Region im Rahmen eines Tagesausflugs unternommen oder von Gästen durchgeführt, die sich aufgrund anderer Umstände wie beispielsweise Tagungen in einer Region aufhielten und dann als Begleitprogramm die gerade verfügbaren Fabriken besichtigten. Konkret lassen sich aus den Quellen folgende drei Zwecke eines Fabrikbesuchs herausarbeiten: Erstens unternahmen Verbände, Vereine und Kollegien als Gruppe einen Betriebsausflug oder eine Exkursion, also Bildungsausflüge im weiteren Sinne, in die Fabrik, zweitens besuchten Schüler, Studenten oder Referendare im Rahmen eines Schulausflugs oder einer Studienreise Produktionsstätten und drittens diente der Besuch eines Werkes als ideales Begleitprogramm für Tagungen verschiedener Interessengruppen. Die Verbände, die es in die Fabrik zog, kennzeichnete eine berufliche Interessenlage. Um eine Fabrik als Besuchsziel auszuwählen, musste sich der Beruf jedoch nicht genuin auf technische oder ökonomische Zusammenhänge in dem zu besichtigenden Unternehmen beziehen. Unabhängig davon, ob es sich um Ärzte-, Juristen- oder Lehrerverbände handelte,151 ihnen allen waren Fabriken einen Besuch wert. Vereine als Zusammenschlüsse privater Interessen unternahmen ebenfalls als Teil ihres Vereinslebens Fabrikbesichtigungen, bei denen sich auf Anhieb kein Bezug zu ihren Vereinsinteressen erkennen lässt. In den Besucherdokumentationen der Firmen Krupp und Bayer als den Unternehmen mit der ausführlichsten Erfassung von Besuchsdaten erscheinen ganz unterschiedliche Vereine, von der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft bis zum Sauerländischen Gebirgsverein.152 Sie alle sahen die Besichtigung als Teil eines allge151 Konkret besuchten die Firma Krupp in den Jahren von 1906 bis Mitte 1914 nachweislich die ‚Vereinigung der Lungenheilanstaltsärzte‘, vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 3.1/162; der ‚Verein der Bahn- und Kassenärzte für den Eisenbahndirektionsbezirk Erfurt‘, vgl. HAK, ebd., Signatur: WA 48, 1.2/1; die ‚Süddeutsche Gesellschaft für staatswissenschaftliche Fortbildung‘, vgl. HAK, ebd.; die ‚Bezirksvereinigung Bochum des Preußischen Richtervereins‘, vgl. HAK, ebd.; die ‚Essener Richtervereinigung‘, vgl. HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/157; die ‚Vereinigung für rechts- und staatswissenschaftliche Fortbildung, vgl. HAK, ebd. Die Bayer-Werke wurden vom ‚Preußischen Medizinalbeamtenverein‘ aufgesucht, vgl. Notiz Besichtigung der Elberfelder Farbenfabriken in Leverkusen durch den Preußischen Medizinalbeamtenverein, 27.04.1907, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 152 Konkret besuchten die Firma Krupp in den Jahren von 1906 bis Mitte 1914 nachweislich die ‚Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft Posen‘, vgl. Daniels an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft Posen, 14.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 –

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

249

meinen Exkursionsprogramms, das das Vereinsleben bereichern und den Horizont der Teilnehmer erweitern sollte und dessen ganz spezifische inhaltliche Ausgestaltung eher beliebig erschien.153 Kriterien für die Auswahl einer Fabrik für einen privaten Besuch waren persönliche Kontakte oder eine geografisch günstige Lage. Wie entscheidend die persönliche Verbindung sein konnte, beweist eine Werksbesichtigung, die der Direktor der Bayer-Werke Carl Duisberg ursprünglich für seinen Kegelverein organisiert hatte,154 die er aber auf immer weitere Kreise der Elberfelder Honoratioren und seiner Bekannten ausdehnte.155 Diese wiederum berichteten ihren Bekannten davon, die gerne ebenfalls an dieser Führung teilnehmen wollten. Schließlich fanden sich etwa 60 Personen zu dem umfangreichen Führungs- und Begleitprogramm ein.156 Bei der Planung einer Studienreise kam es darauf an, dass die Reisegruppe auf kurzen Wegen von einem Werk zum nächsten gelangen konnte, um so mit minimalem organisatorischen, zeitlichen und finanziellen Aufwand das quantitativ maximale Erlebnis zu erreichen. Die eingangs schon genannte Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft aus Posen beispielsweise achtete bei der Planung ihrer Studienreise ins Rheinland und nach Westfalen darauf, neben Krupp in Essen sowohl die Bodelschwinghschen Anstalten und die Leinenindustrie in Bielefeld als auch das Stahlwerk Hösch, die Kronenbrauerei, die Zeche Minister Achenbach und das Schiffshebewerk Henrichenburg in Dortmund sowie die Hafenanlagen in Duisburg-Ruhrort zu besichtigen.157 Bei dieser Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 421, 422; der ‚Kyffhäuserverband‘, vgl. Teuwsen an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Kyffhäuserverband, 20.02.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 81; Damen des ‚Sauerländischen Gebirgsvereins Essen‘, vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1. Die Bayer-Werke wurden vom ‚Naturwissenschaftlichen Verein Krefeld‘ aufgesucht, vgl. Naturwissenschaftlicher Verein Krefeld/Pahdo an Goldschmidt, Bitte um Empfehlungsschreiben für die Besichtigung der Leverkusener Fabrik, 15.01.1903, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 153 Zu dieser Feststellung kommt auch Lauterbach in seiner Studie über die ‚Beamten-Vereine‘ des späten Kaiserreichs, vgl. Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 16, 102f. 154 Vgl. Duisberg/Bayer, Vorlage Einladung Kegelbrüder, März 1904, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Elberfeld am Sonnabend, den 26. März 1904, März 1904, BA, ebd. 155 Vgl. Bayer/Duisberg an Lindgens, Einladung Werksbesichtigung, 09.03.1904, BA, ebd.; Bayer/ Duisberg an Mayer, Einladung Werksbesichtigung, 9.03.1904, BA, ebd.; Bayer/Duisberg, Vorlage Einladung für Bekanntenkreis, März 1904, BA, ebd. 156 Vgl. Meyer an Duisberg, Zusage Einladung Werksbesichtigung Leverkusen, 21.03.1904, BA, ebd. 157 Vgl. Daniels an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft Posen, 14.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 421, 422.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

250

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Auflistung wird erkennbar, dass es keine augenscheinlichen Gemeinsamkeiten dieser Industrieanlagen jenseits ihrer geografischen Nähe zueinander gab. Eingeschränkt gilt das auch für eine Studienreise der Budgetkommission des Reichstages, die neben den Bayer-Werken die Firma Krupp, die Elberfelder Farbenwerke, das Eisenwerk Hoesch in Dortmund, den Ruhrorter Hafen und die Zeche Deutscher Kaiser in Duisburg besuchte.158 Hier lag zwar ein Schwerpunkt auf der chemischen und der Montanindustrie, doch mochte wohl auch in diesem Fall die Nähe der Anlagen zueinander den Ausschlag gegeben haben. Das Phänomen, dass gerade die Exkursionen von Kollegien – Lehrern einer Schule, Beamten einer Verwaltungseinheit – in die Fa­briken der näheren Umgebung führten, bestätigt den Trend, das zu besichtigende Werk nach seiner geografischen Erreichbarkeit auszuwählen.159 Hinzu kam sicher eine allgemeine Neugier auf eine bisher zwar von außen bekannte, in ihrem Innern aber unbekannte Attraktion.160 Für die Gestaltung von Ausflügen mit ganzen Schulklassen nutzten die Schulen ebenfalls in der direkten Umgebung vorhandene Sehenswürdigkeiten, zu denen, soweit vorhanden, auch Industrieanlagen zählten. An der Regelmäßigkeit, mit der solche Besichtigungen durch Schulklassen stattfanden, lässt sich ablesen, dass die Fabrik als etablierte touristische Sehenswürdigkeit genutzt wurde.161 Worin jedoch 158 Vgl. Eine parlamentarische Studienreise, in: National-Zeitung, Nr. 200, 30.04.1900, o.P. 159 Die Firma Krupp wurde von den Kollegien der Oberrealschule, der königlichen Baugewerkschule sowie des königlichen Gymnasiums, jeweils aus Essen, besucht. Vgl. Welter/Oberrealschule Essen an Krupp, 24.06.1897, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2009, 95, 96; vgl. Monatliche Übersichten des Besuchswesens – Bd. 1: Sept. 1912–Dez. 1913, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1. Aus den verschiedenen staatlichen (Verwaltungs-)Einrichtungen besuchten Herren der königlichen Staatsanwaltschaft sowie richterliche Beamte des Landesgerichts und des Amtsgerichts im Rahmen einer gemeinsamen Exkursion die Krupp-Werke. Vgl. HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/157. Hinzu kamen Besuche aus dem weiteren regionalen Umfeld von Mitgliedern der Staatsanwaltschaft Duisburg und von höheren Gerichtsbeamten aus Hamm und Dortmund. Vgl. HAK, ebd. Auch die Referendare des Essener Landgerichts besuchten regelmäßig die Fabrik der Firma Krupp, vgl. HAK, ebd. 160 Vgl. Sieckmann an Direktorium, Anfrage Besichtigung Beamte Land- und Amtsgericht Essen, 25.04.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 315. 161 Für das Beispiel Essen lassen sich regelmäßige Besuche der verschiedenen höheren Schulen der Stadt bei der Firma Krupp nachweisen. Vgl. Welter/Oberrealschule Essen an Firma Krupp, Anfrage Besuch Oberrealschule, 18.03.1905, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2011, 28; Schreiben an Homann, Hinweise zur Führung am 11.09.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2013, 249, 250; HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 3.1/169: Besuch von Schülern des könig­lichen Gymnasiums Essen am 29.10.1908; Besuch von Schülern des königlichen Gymnasiums Essen am 05.12.1910; Besuch von Schülern des Realgymnasiums Essen am 22. März 1912; Besuch von Schülern der Humboldt Oberrealschule Essen am 25.10.1912. Auch dass die Werke der Firma Bayer Schulen als regelmäßig aufgesuchtes Ausflugsziel dienten, lässt sich belegen, selbst wenn hier die Nachweise

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

251

ihre spezifische Attraktivität gegenüber anderen Ausflugszielen bestand oder ob bestimmte Branchen von Besucherinnen und Besuchern bevorzugt wurden, lässt sich hieraus nicht ablesen. Vielmehr ist zu vermuten, dass es sich bei dem Besuch einer Fabrik um einen Teil einer allgemein auf persönliche Weiterbildung durch ein touristisches Erlebnis ausgerichtete Freizeitgestaltung handelte, deren konkrete inhaltliche Ausgestaltung letztlich beliebig war. Das belegen zudem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von beruflichen oder privaten Tagungen, die eine Fabrikbesichtigung als Teil des Begleitprogramms erleben konnten. Entscheidend bei der Untersuchung der Gründe für einen solchen Besuch ist die Feststellung, dass die Tagungen, ob sie nun berufliche Fachtagungen oder überregionale Zusammenkünfte privater Interessengruppen waren, häufig keinerlei oder nur geringen konkreten Bezug zu den Produkten oder den Produktionsverfahren der Firma hatten.162 An berufsspezifischen Tagungen besuchten die Firma Krupp um die Jahrhundertwende die Teilnehmer der Tarifkonferenz des Westdeutsch-Sächsischen Eisenbahnverbandes,163 der Hauptversammlung des Vereins Deutscher Banken164 sowie der Tarifbeamtenausschuss für den deutsch-belgischen und deutsch-österreichisch-ungarischen Eisenbahnverband.165 Der Ort für diese Tagungen war jeweils Essen oder die nähere Umgebung. Der in Köln stattfindende Kongress für Heizung und Lüftung sowie die Teilnehmer des Kongresses zum Patentrecht in Düsseldorf166 besuchten das jeweils rund 20 Kilometer entfernte Bayer-Werk in Leverkusen.167 Die Besichtigungsbruchstückhaft sind. Vgl. Duisberg an Hintzmann, Zusage Führung Oberprimaner Oberrealschule Elberfeld, 25.10.1907, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Stier an Duisberg, Anfrage Besichtigung des Realgymnasiums Elberfeld, April 1907, BA, ebd. 162 Hiervon ausgenommen sind natürlich Fachtagungen, die bewusst in der Nähe von für die jeweilige Disziplin bedeutenden Unternehmen abgehalten wurden, um dem theoretischen Tagungsprogramm einen praktischen Programmteil an die Seite zu stellen, wie beispielsweise der deutsche Färbertag aus dem Jahr 1901, der in Elberfeld und damit in unmittelbarer Nähe des alten Bayer-Werkes stattfand. Vgl. Einladung zur Besichtigung der Farbenfabriken für Teilnehmer des Deutschen Färbertags 1901, 28.05.1901, BA, ebd.; Deutscher Färbertag Elberfeld-Barmen, Programm für Dienstag, den 28. Mai 1901, Mai 1901, BA, ebd. 163 Vgl. Bauer an Direktorium, Anfrage Besichtigung Teilnehmer Tarifkonferenz des Westdeutsch-Sächsischen Eisenbahnverbandes in Essen, 23.06.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 470, 471. 164 Vgl. Schmidt an Zapp, Einladung Fabrikbesichtigung, 14.05.1898, HAK, ebd., Signatur: WA 4 1998, 12. 165 Vgl. Monatliche Übersichten des Besuchswesens – Bd. 1: Sept. 1912-Dez. 1913, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1. 166 Besichtigung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Werk Leverkusen durch den Deutschen Verein für den Schutz des gewerblichen Eigentums, 07.09.1907, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 167 Vgl. Hartmann an Duisberg, Anfrage Werksbesichtigung Leverkusen, 15.03.1913, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

252

Die Fabrik als touristische Konstruktion

anfragen der Organisatoren von durch private Interessen motivierten Tagungen waren noch zahlreicher. Vom bereits genannten Kyffhäuserverband168 über die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands169 bis zu den Teilnehmerinnen des Rheinischen Philologentages170 besuchten von 1906 bis 1914 als Begleitprogramm zu einer in oder in der Nähe von Essen stattfindenden Tagung neun Großgruppen die Krupp-Fabriken.171 Die Gründe, die die Organisatoren der Tagungen in den Anfragen für eine Besuchserlaubnis angaben, bezogen sich häufig nicht auf berufsspezifische Motive, sondern griffen nur Allgemeinplätze auf.172 Einzig die Anfrage der Lehrer der Rheinischen Provinzialversammlung nannten als Motiv, ausdrücklich die Fabrik der Firma Krupp besichtigen zu wollen, die Tatsache, dass „wir Lehrer im geographischen und auch im Geschichts-Unterrichte Gelegenheit nehmen, auf die Bedeutung der Krupp’schen Gußstahlfabrik hinzuweisen“ und sie daher das Unternehmen „aus eigener Anschauung“ kennenlernen wollten.173 Es wird also offenbar, dass es keine Korrelation gab zwischen der Art der Gruppe oder dem Anlass, aus dem sie einen Ausflug unternahm und dem Motiv, eine bestimmte Fabrik dafür auszuwählen. Vielmehr ging es darum, überhaupt eine beliebige 168 Vgl. Teuwsen an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Kyffhäuserverband, 20.02.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 81. 169 Vgl. Laarmann an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Mitglieder Lokalkomitee zur Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, 04.08.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2013, 162. 170 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 3.1/152. 171 Die Fabrik der Firma Krupp besuchten nachweislich der Kyffhäuser-Verband, die Teilnehmer an der 7. Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Köln, Mitglieder des Lokalkomitees zur Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, Teilnehmerinnen des Rheinischen Philologentages, Teilnehmer am Frühjahrsfest des Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein; Teilnehmer am Düsseldorfer Kongreß für gewerblichen Rechtsschutz, Teilnehmer am Evangelisch-sozialen Kongress, Teilnehmer an der Provinzial-Versammlung des Hauptvereins der evang. Gustav-Adolf-Stiftung in der Rheinprovinz; Mitglieder des 25. deutschen evangelischen Kirchengesangsvereinstags. Vgl. Teuwsen an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Kyffhäuserverband, 20.02.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 81; Laarmann an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Mitglieder Lokalkomitee zur Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, 04.08.1906, HAK, ebd., Sig­natur: WA 4 2013; Mooren an Krupp, Anfrage Besichtigung deutsche Naturforscher, 15.10.1897, HAK, Bestand: FAH 2 – Friedrich Alfred Krupp (1854–1902) und seine Frau Margarethe, geb. Freiin von Ende (1854–1931), Signatur: FAH 2, 3 B 259; Monatliche Übersichten des Besuchswesens – Bd. 2: Jan. 1914–Dez. 1915, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/2; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/152; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/157; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/158. 172 Vgl. Daniels an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft Posen, 14.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 421f. 173 Surmann an Direktion, Anfrage Besichtigung Rheinische Provinzial-Lehrerversammlung, 06.02.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 274, 275.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der ‚Industrietourist‘ und sein Ziel

253

Fabrik von innen zu sehen, man suchte also nicht ein spezifisches, sondern ein eher allgemeines Bildungserlebnis, bei dem die Bildung letztlich hinter dem Erlebnis zurückstehen musste. Gleiches lässt sich bei der Betrachtung der Besuche von Einzelpersonen feststellen. Solch ein Fabrikbesuch erfolgte entweder auf Einladung, also in einer ähnlichen Situation wie der schon ausführlicher geschilderte Besuch der Kegelbrüder Duisbergs,174 oder aber einfach, weil sich die Person gerade in der Nähe aufhielt. Der angeblich so lange gehegte Wunsch, eine bestimmte Fabrik zu besichtigen, musste so lange ein Wunsch bleiben, bis sich aufgrund anderweitiger Gründe für einen Aufenthalt in der Region, in der das Werk lag, die passende Gelegenheit bot.175 Wie die Analysen sichtbar machen, lässt sich aus der Auswahl der Fabriken, die die Zeitschriftenredaktionen für ihre Leserschaft oder die Besucherinnen und Besucher selbst trafen, ein bewusst formuliertes, konkretes Ziel, das man mit dem Besuch verband, nur schwer erkennen. Wenn jede Fabrik zur touristischen Attraktion werden konnte, welche Gründe gab es dann dafür? Das Erlebnis, das die Touristin und der Tourist sich dort erhoffte, musste die objektgebundene Ebene eines reinen Produkt- oder Technikinteresses überschreiten. Insgesamt erwecken die Fabrikbesuche der verschiedenen Gruppen oder Einzelpersonen in der Beliebigkeit, mit der Indus­ trieunternehmen als Ausflugsziele ausgewählt wurden, den Eindruck, dass es allein die touristische Qualität der Fabrik war, die die Besucherinnen und Besucher anzog, nicht das speziell dort hergestellte Produkt oder die besondere Produktionstechnik. Diese Qualität korrespondierte mit einem Bedürfnis der bürgerlichen Besuchergruppen, sich als Touristin oder Tourist zu präsentieren, touristisch zu handeln. Die Besichtigungstouren reihten sich, so stellt Lauterbach ebenfalls in seiner Studie über die Angestelltenkultur heraus, in einen Kanon von Ausflügen und Reisen in die Natur oder zu anderen touristischen Attraktionen ein und waren begleitet von geselligen Zusammen­künften.176 Hierbei handelte es sich um auf der Mentalität des Bürgertums fußende Beweggründe, die nicht explizit kommuniziert wurden, deren Vorhandensein sich aber re174 Duisberg lud beispielsweise den Stadtschulrat von Elberfeld und den Landgerichtspräsidenten ein, an der für die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte organisierten Führung teilzunehmen. Vgl. Duisberg an Schirlitz, Einladung zum Besuch der Leverkusener Werke, 27.12.1907, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Duisberg an Heimsoeth, Einladung zur Besichtigung des Leverkusener Werkes, 27.12.1907, ebd. 175 So lautete das Argument eines Interessenten bei seiner Besuchsanfrage an die Firma Krupp. Vgl. Schreiben Tänzler, Anfrage Besichtigung, 24.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 1996, 268. Für ein ähnliches Argument vgl. Fischer an Preußing, Besuchsanfrage, 21.03.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 1996, 122. 176 Vgl. Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 104, 128. Vgl. zum geselligen Rahmenprogramm von Gruppenausflügen in die Fabrik Kapitel 5.2.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

254

Die Fabrik als touristische Konstruktion

konstruieren lässt aus der Tatsache, dass jede Fabrik, die gerade in der Reichweite eines Tagesausflugs lag, unabhängig von weiteren Faktoren als Attraktion begriffen wurde, die man nicht auslassen durfte und dass im Laufe der Zeit nahezu jede Industrieanlage eine Reportage wert war.

5.2. Der Ablauf des Fabrikbesuchs

Die Fabrik lässt sich definieren als zentraler Ort, an dem Arbeiter, Angestellte und Unternehmensleitung zusammenkommen, um in einem arbeitsteiligen Ablauf unter dem systematischen Einsatz von Maschinen Waren zu produzieren.177 Ein scharf durch Werkstore und Gebäudemauern abgegrenzter, zweckmäßig gestalteter Raum, Menschen bei der Arbeit, Maschinen, die Produktion von Waren – das sind die Eckpfeiler, die die Fabrik als solche ausmachen. Sie ist ein Teil des wirtschaftlichen Wertschöpfungsprozesses. Wenn sie für das reise- und bildungshungrige Bürgertum jedoch die Position einer touristischen Attraktion einnahm, was, wie die bisherigen Ausführungen dargelegt haben, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend der Fall war, trat dieser ursprüngliche Zweck in den Hintergrund, und zwar zugunsten eines völlig neuen Sinns. Die Besucherinnen und Besucher füllten den geografischen Raum für sich mit einer anderen Bedeutung. Sie erschufen einen touristischen Raum. Daraus ergaben sich zwei Anforderungen an eine Fabrikbesichtigung. Erstens forderten die Touristinnen und Touristen zur Erfüllung ihres Bildungsbedürfnisses, das für sie – wie schon mehrfach thematisiert178 – auf einer vordergründigen Ebene das zentrale Element der Fabrikbesichtigung ausmachte, eine Erklärung für die Vorgänge, die sie beobachten konnten. Eine solche Erklärung zu geben, lag ganz im Interesse des Unternehmens, das sich davon ein positives Image erhoffte.179 Die Besichtigung musste also so strukturiert sein, dass sie ein gewisses Verständnis für die Produktion erzeugte und dort, wo die reine Anschauung nicht ausreichte, erläuternde Materialien bereitstellte. Daraus ergab sich aber zweitens die Auseinandersetzung mit dem Problem, dass sich in einem geografisch begrenzten Bereich zwei Räume überlagerten – der reale Raum der industriellen Produktion und der mentale touristische Raum. Die Personengruppen, die diese mentalen Räume konstruierten, indem sie sich durch den geografischen Raum bewegten, galt es dazu anzuleiten, weder die Produktion noch sich 177 Vgl. Toni Pierenkemper: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 29), 2. Aufl., München 2007, S. 21; Wolfgang Ruppert: Die Fabrik. Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, München 1983, S. 19. 178 Vgl. Kapitel 3.1. 179 Vgl. Kapitel 4.2.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

255

selbst zu gefährden. In der Fabrik, in der das Funktionieren einer Koexistenz zwischen Betrachtetem und Betrachtendem im Zweifelsfalle eine Frage von Leben und Tod oder zumindest von hohen wirtschaftlichen Einbußen war, stand dieser Aspekt bei einer Führung an zentraler Stelle.180 Restriktionen beim Einlass und ein strenger Ablaufplan für die Führungen – der sich dann letztlich entgegen dem Ziel der Wissensvermittlung an den Möglichkeiten der Fabrik und nicht so sehr am Verständnis des Besuchers oder der Besucherin orientierte –, darin bestanden die Reaktionen der Unternehmensleitung.

5.2.1. „Man muß erst die Scylla des Portiers und die Charybdis des Meldezettels passieren“:181 Der Eintritt in die Fabrik

Der Eintritt in die Fabrik gestaltete sich nicht ganz einfach. Das erklärten immer wieder Zeitschriftenreportagen, die gleichermaßen die Eindrücke des Reporters schilderten und den Leser und gegebenenfalls ebenso die Leserin auf einen eigenen Besuch vorbereiten sollten. Reiseführer verfuhren sehr ähnlich. „Ein Gang, wie er in Wirklichkeit nur wenigen Bevorzugten gestattet wird“,182 sei der Besuch der Fabrik und das Unterfangen, eine Erlaubnis zu erlangen, „nicht ganz leicht […] gewesen“,183 wussten die Illustrirte Zeitung und Über Land und Meer zu berichten. Am rigidesten stellte der Baedeker die Situation dar: „Der Zutritt zur Fabrik ist nicht gestattet“,184 stellte der Reiseführer nach einer ausführlichen Schilderung des Unternehmens Krupp fest. Auf diese Tatsache wies ebenfalls ein Schild beim Portier des Hauptwerkstores hin, indem es darum bat, dass man nicht um Einlass in das Werk ersuchen sollte.185 Letztlich waren von diesem Besuchsverbot nicht nur bei Krupp, sondern bei den meisten anderen 180 Hiermit ist ein dem (Massen-)Tourismus inhärentes Problem angesprochen: Die von den Touristinnen und Touristen durch bestimmte Betrachtungs- und Handlungsweisen touristisierten Objekte werden durch das Erscheinen der Reisenden in ihrer Existenz beeinträchtigt, selbst wenn sich diese Beeinträchtigung letztlich wirtschaftlich positiv nutzen lässt. Während sich alpine Bergbauern der wanderfreudigen Touristenscharen jedoch nicht erwehren konnten und nur die Möglichkeit hatten, durch den Verkauf von Getränken und Brotzeiten den Nachteil, dass ihre Weidegründe zertreten wurden, wieder auszugleichen, war es den Inhabern einer Fabrik möglich, den Besuch nach ihrem eigenen Gutdünken zu gestalten. 181 Ein Besuch bei Benz in Mannheim, in: Allgemeine Automobil-Zeitung (Wiener Ausgabe), Jg. 10, Bd. 1, Nr. 14, 04.04.1909, S. 11–21, hier S. 11. 182 Von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 295. Vgl. die fast identische Aussage in Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 493. 183 Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1003. 184 Baedeker, Nordwest-Deutschland, 30. Aufl., S. 388; vgl. auch ebd., S. 127. 185 Vgl. Baedeker, Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen, S. 359.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

256

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Fabriken großzügige Ausnahmen möglich, was ebenfalls in die Öffentlichkeit kommuniziert wurde.186 Mit der strengen Vorgabe sicherten sich die Unternehmen jedoch erst einmal gegen ‚Laufkundschaft‘ ab und konnten so die Touristenströme kanalisieren und die einzelnen Besucherinnen und Besucher im Vorfeld einschätzen.187 Je nach ihrem potenziellen Nutzen als Multiplikatoren eines positives Unternehmensimages wurde ihnen der Zutritt ge- oder verwehrt, die Zeit, die sie in der Fabrik verbringen durften, bemessen und der Aufwand kalkuliert, den das Unternehmen auf ihre Betreuung und Versorgung verwendete. Gegen einen Andrang der Massen mussten sich die Fabriken allein schon deshalb schützen, um ihre Betriebsabläufe nicht zu behindern.188 Sobald eine solche Behinderung durch die zunehmenden Besucherströme drohte, stellten die Unternehmen das Wohl der Produktion über den Vorteil der Imageförderung und schränkten die Besuchszahlen ein.189 Als eine Gefahr für die Abläufe in der Fabrik schätzten einige Unternehmen, insbesondere die der Schwerindustrie, generell Besucherinnen ein. Ihr striktes Verbot von Frauen in den Werkstätten des Unternehmens galt ebenfalls für bürgerliche Touristinnen. Um dieser Bezugsgruppe jedoch zumindest ansatzweise gerecht zu werden, um Ehefrauen einen Zeitvertreib für die Zeit des Fabrikbesuchs ihres Mannes zu bieten oder um größere Gruppen von Damen oder gemischtgeschlechtliche Gruppen nicht abweisen zu müssen, boten diese Unternehmen als Ausweichprogramm eine Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen der Firma an. Damit nutzten sie die Möglichkeit, den Damen eine Seite des Unternehmens vorzustellen, die diese vermeintlich besonders interessierte und ihr Wohlwollen für die Firma zu wecken vermochte.190 Ein weiteres Mittel, die Abläufe im Werk nicht übermäßig zu stören, bestand darin, die Termine für einen Besuch auf bestimmte Zeiten zu begrenzen.191 Die Fa­ briken der AEG durften wegen der Störungen der Betriebsabläufe „durch die vielen 186 Vgl. ebd. 187 Dass es durchaus möglich war, ohne vorherige Ankündigung auf das Werksgelände eines Unternehmens zu gelangen und so spontan die Neugier auf die Geschehnisse in dem Industriebetrieb zu befriedigen, zeigt beispielsweise der Arnsberger Gymnasiallehrer und Reiseautor Franz Ignaz Pieler in seiner Reportage über seine Reise durch das Ruhrtal Anfang der achtzehnhundertachtziger Jahre, bei der er das Gelände der Krupp-Fabrik ungehindert durchschritt und zumindest einen Blick in die Werkshallen werfen konnte, was genügte, um „die Feuer der 60 bis 70 Essen“ zu sehen und „das Sausen und Brausen der Räder und Walzen und den Donner von hundert größern und kleinern Hämmern“ zu hören und so die touristische Neugier zumindest etwas zu befriedigen, Pieler, Das Ruhrthal, S. 302. 188 Vgl. Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 493. 189 Vgl. zu der Thematik der Einschränkung der Besuche auch Kapitel 5.1.1. 190 Vgl. Kapitel 5.1.1. 191 Zu der Taktik, den Besuch insgesamt so kurz wie möglich zu halten, vgl. Kapitel 5.2.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

257

Besuche“192 nur jeweils vormittags oder nachmittags für zwei Stunden von 9 bis 11 oder von 14 bis 16 Uhr besichtigt werden.193 Ähnlich verfuhren viele andere Unternehmen.194 Bei der Frage, wer ein Werk besichtigen durfte, wog die Firmenleitung sehr genau ab, wie groß der eigene Nutzen war beziehungsweise wie gering die Gefahr für das Unternehmen, die von den Besucherinnen und Besuchern ausging. Solchen Gästen, von denen sich die Firmen aufgrund ihrer Meinungsführerschaft oder ihrer Multi­ plikatorenwirkung den größten Gewinn für das Image des Unternehmens versprach, wurde der Zugang nahezu jederzeit und unter allen Umständen ermöglicht, wohingegen Anfragen von Personengruppen, von deren Besuch ein im Verhältnis zu den Unannehmlichkeiten für das Werk zu geringer Imagegewinn zu erwarten war, negativ beschieden wurden.195 Außerdem musste das Unternehmen immer wieder versuchen, zwischen touristischen Besuchen und solchen zur Werkspionage zu differenzieren. Wie schwierig sich das gestaltete, macht das Beispiel der Firma Bayer nachvollziehbar, die verschiedenfarbige Anmeldekarten für die Besucherinnen und Besucher bereit hielt, die diese in Abstufungen von gänzlich unbedenklich bis hin zu möglichen Spionen klassifizierten.196 Um den Unternehmen die Möglichkeit zu solchen Maßnahmen einzuräumen und so überhaupt die Genehmigung für eine Werksbesichtigung zu erhalten, mussten Interessenten vorab Angaben zu ihrer Person und zu ihren Motiven offenlegen. Eine Möglichkeit, die eigenen Absichten zu erklären, war es, ein Gesuchsschreiben einzureichen. Dass es sich hierbei um ein gängiges Vorgehen im Vorfeld einer Fabrikbesichtigung handelte, macht die nicht weiter kommentierte Aufforderung zu einer solchen Handlung im Baedeker klar. Um die Firma Borsig zu besichtigen, sei schriftlich eine Erlaubnis einzuholen.197 Die Reportagen in Zeitschriften verwiesen ebenso auf diese Praxis.198 Die Schreiben, die sich daraus in den Unterlagen der Firma Krupp angesammelt haben,

192 Besuch der Fabriken, in: [interne] AEG-Zeitung, Jg. 7, Nr. 1, 1905, S. 137. 193 Vgl. ebd. 194 Vgl. für ähnliche zeitliche Einschränkungen für Besuche bei weiteren Firmen Karl Baedeker: Berlin und Umgebung, 18. Aufl., Leipzig 1914, S. 40, 208; ders., Berlin und Umgebung, 10. Aufl., S. 38. 195 Vgl. zu der Thematik der Einschränkung der Besuche auch Kapitel 5.1.1. 196 Vgl. Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen, [1909], BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). Diese Problematik der Werkspionage, die den Zutritt für ‚unbescholtene‘ Gäste erschwerte, wurde auch in verschiedenen Reportagen über Fabriken thematisiert. Vgl. Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1003. 197 Vgl. Baedeker, Berlin und Umgebung, 18. Aufl., S. 208. 198 Becker, Unter Tage, S. 128.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

258

Die Fabrik als touristische Konstruktion

gehen in die Hunderte.199 Da es sich, wie die Analyse der in den Gesuchsschreiben artikulierten Motive dargelegt hat,200 eher um Allgemeinplätze handelte, ist davon auszugehen, dass es dem Unternehmen wohl eher darum ging, sich durch das Schreiben einen Gesamteindruck von der Person zu verschaffen, um den Nutzen für das Unternehmen zu bewerten und um sicherzugehen, dass es sich nicht um Spione der Konkurrenz handelte, statt klar formulierte Ziele des Besuchs abzufragen. Gerade bei kleineren Unternehmen war es darüber hinaus üblich, beim Inhaber oder Geschäftsführer persönlich vorzusprechen.201 Einige wenige Fabriken, zumeist staatliche Unternehmen, gingen schließlich dazu über, statt der Methode des individuellen Gesuchs und seiner Zusage Eintrittskarten zu verkaufen, wobei davon auszugehen ist, dass es sich hierbei ebenfalls über den Preis um eine Reglementierungsmaßnahme handelte, um die Besucherinnen und Besucher nach ihrem Status zu sortieren. Die königliche Porzellan-Manufaktur konnte man für einen Preis von einer Mark besichtigen, der Kauf von Eintrittskarten erfolgte sofort vor Ort.202 Häufig war das Eintrittsgeld laut Aussage des Unternehmens als Sozialleistung für die Arbeiterschaft der Firma bestimmt, womit es über die Reglementierung des Besuchs hinaus noch den zusätzlichen Zweck erfüllte, die Firma als sozial engagiert erscheinen zu lassen.203 Doch damit hatten die Gäste noch nicht alle Hürden auf dem Weg in die Fabrik genommen: War der Besuch nicht schon vorher von der Firma dokumentiert worden, musste sich die Fabriktouristin ebenso wie der Fabriktourist in ein Besucherbuch eintragen, welches das Datum des Besuchs, den Namen, Beruf und Wohnort verzeichnete.204 Damit war bisweilen zusätzlich eine Verzichtserklärung auf Regressansprüche gegenüber dem Werk verbunden, sollte man während des Besuches Schaden nehmen. „Falls mir oder meiner Begleitung während unseres Besuches des Fabriketablissements der Firma Gebr. Stollwerck zu Köln irgend ein Unfall zustoßen sollte“, so musste 199 Vgl. HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4; HAK, Bestand: FAH 2 – Friedrich Alfred Krupp (1854–1902) und seine Frau Margarethe, geb. Freiin von Ende (1854–1931), Signatur: FAH 2, 3 B 259 (Besuche Kruppscher Werke allgemein 1897–1909). 200 Vgl. Kapitel 5.1.2. 201 Vgl. Ein Besuch in der Fabrik Lochmann’scher Musikwerke A.G., Leipzig-Gohlis, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 99, Nr. 2573, 02.10.1892, S. 471–476, hier S. 472. 202 Vgl. Baedeker, Berlin und Umgebung, 18. Aufl., S. 40. Weitere Berliner Fabriken, für die man Eintrittskarten erwerben konnte, waren die Schlachthäuser und die Wasserwerke. Vgl. ders., Berlin und Umgebung, 10. Aufl., S. 42. Ebenfalls gegen ein Eintrittsgeld waren laut verschiedener Zeitschriftenreportagen die Kaiserliche Werft in Kiel und eine Porzellanfabrik in Meißen zu besichtigen. Vgl. Hoffmann, Die Kaiserliche Werft in Kiel, S. 478; Winter, Vom Meißener Porzellan, S. 1009. 203 Vgl. Hoffmann, Die Kaiserliche Werft in Kiel, S. 478; Winter, Vom Meißener Porzellan, S. 1009. 204 Vgl. Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3; vgl. auch Benkard, Die größte Brauerei der Welt, S. 391.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

259

jeder Besucher und jede Besucherin der Firma Stollwerck unterschreiben, „so verzichte ich für mich und meine Begleitung schon hiermit auf alle uns auf Grund der bezüglichen gesetzlichen Bestimmungen gegen die genannte Firma etwa zustehende Ansprüche.“205 Diese Unterschrift war für den Touristen und bisweilen ebenso für die Touristin der Schlüssel zu einer fremden Welt, die gleichermaßen spannend und gefährlich zu sein schien. Hatte man erst in der etwas überspitzten Formulierung des Autors der Allgemeine[n] Automobil-Zeitung „die Scylla des Portiers und die Charybdis des Meldezettels passier[t]“,206 und damit eine Leistung ähnlich der des sagenhaften Odysseus erbracht, erfuhr man eine Initiation, die den Alltag hinter sich zu lassen half. Mit dem Verweis auf die griechische Sagenwelt rekurrierte die Reportage auf den bürgerlichen Bildungsanspruch und -horizont und verknüpfte so das (Bildungs-)Erlebnis in der Fabrik mit bekannten etablierten Bildungsinhalten. Zu der Initiation gehörte bei einigen Besichtigungen außerdem das Wechseln der Kleider. Bei einer Grubenfahrt beispielsweise legte der Besucher in der Kaue der Berg­ arbeiter einen speziellen Grubenanzug, wollene Unterkleidung und Stiefel an, womit das Gefühl entstand, in die Lebenswelt der Bergleute einzutauchen – was natürlich weder möglich, noch das hintergründige Ziel des Besuches war, sondern vielmehr zum Selbstverständnis des reisenden Bürgers gehörte, letztlich jedoch nur eine künstliche touristische Handlung darstellte.207 Der Topos, sich ganz auf das Leben des Bergmanns einzulassen, zieht sich durchgängig durch diese Reportage. Der Tourist eignete sich die Bräuche und Verhaltensweisen des Bergmanns für die Besichtigung an, was einen Großteil des Erlebnisses ausmachte. Fast wie in einem Rollenspiel, in dem er die Position des einfachen, ungeschlachten Arbeiters übernahm, erlebte der Besucher alltägliche Handlungen wie die Einnahme einer Mahlzeit: „Wacker sprechen wir dem mitgebrachten Butterbrot zu. Daß sich unsre schwarzen Finger darauf in gleicher Färbung abdrücken, stört uns weiter nicht.“208 Die Unbekümmertheit des Besuchers bei dieser Handlung rührte indes daher, dass er die Gewissheit hatte, diese Welt in Kürze wieder für immer verlassen zu können. Einen ähnlichen Initiationsritus des Ablegens der Alltags- und Anlegens einer besonderen Schutzkleidung durchliefen alle Gäste, die Arbeitsstätten betraten, in denen Schmutz und Gefahren des Produktionsprozesses allgegenwärtig waren.209 205 Fremdenbuch der Firma Stollwerck, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 136-3. 206 Ein Besuch bei Benz in Mannheim, S. 11. 207 Vgl. Becker, Unter Tage, S. 128. 208 Ebd., S. 132. 209 Vgl. beispielhaft auch Arthur G. Albrecht: Der Tunnel unter dem Hudsonfluß, in: Über Land und Meer, Jg. 49, Bd. 97, Nr. 14, 1907, S. 361–363, hier S. 362.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

260

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Ein weiteres halb gefürchtetes, halb ersehntes Initiationserlebnis war in manchen Betrieben der Weg zur Produktionsstätte: „Etwas seltsam ist dem Neuling doch zumute, der zum erstenmal ‚einfährt‘, berichtete der Reporter der Zeitschrift Die Gartenlaube von seiner Besichtigung eines Bergwerks. „Und wenn er […] dann hinauf zum Schachtgerüst, zur ‚Hängebank‘ schreitet, um sich dem Förderkorbe zur Seilfahrt anzuvertrauen, so mögen ihn doch wohl, wenigstens für Augenblicke, ernste Gedanken befallen […].“210 Insbesondere im Bergbau oder anderen unterirdisch ausgeführten Arbeiten vermittelte dieser Weg ein einschneidendes Erlebnis, das verschiedene Sinne ansprach: Die Schnelligkeit der Fahrt mit dem Förderkorb verwirrte das Gleichgewicht, die zunehmende Tiefe ließ Druck in den Ohren entstehen, das schwindende Licht gaukelte den Augen plötzliche Blindheit vor. Die körperlichen Eindrücke waren so tiefgehend, dass viele Berichterstatter sie nur in Form von Metaphern schildern konnten. Man habe den Eindruck, als wäre man plötzlich unter Wasser geraten oder sei in tiefe Nacht gefallen, berichteten sie ihrer Leserschaft. Aber selbst dort, wo der Eintritt in die Fabrik recht unmittelbar erfolgte, musste der Besucher häufig den Übergang von der Welt vor den Fabriktoren zum Inneren der Produktionsstätte meistern, indem er die plötzlich auftretenden Sinneseindrücke von Lautstärke, Helligkeit und Hitze sowie die Gegenwart von bisweilen hunderten von Arbeitern verarbeitete. Das „sich mehr und mehr steigernde Geräusch, das Hämmern, Dröhnen, Klingen und Tosen eines gewaltigen Betriebes, läßt uns merken, wo wir uns befinden“,211 schilderte der Reporter der Illustrirte[n] Zeitung seinen Eintritt in das Krupp-Werk. Mit diesen Eindrücken musste der Besucher erst einmal lernen umzugehen. Die Mengen an fremd, bisweilen sogar düster wirkenden Arbeitern hinterließen ebenfalls einen Eindruck, der verstörend wirkte, bis man sich in die neue Welt der touristischen Attraktion eingefunden hatte.212

5.2.2. „An der Hand eines kundigen Führers“:213 Der Gang durch die Fabrik

Hatten der Tourist und möglicherweise auch die Touristin einmal den Schritt in die Fabrik getan, unterlagen sie einer strengen Kontrolle der Werksleitung, die sich in dem Führer manifestierte, der nicht von der Seite der Gäste wich.214 Dieser Führer 210 Grabein, Im Reiche Plutos, S. 716. 211 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 493. Vgl. die Schilderung eines ähnlich beängstigenden Eindrucks bei Pieler, Das Ruhrthal, S. 293. 212 Vgl. Hoffmann, Die Kaiserliche Werft in Kiel, S. 479. 213 Luthmer, In der Porzellanfabrik, S. 745. 214 Vgl. Hoffmann, Die Kaiserliche Werft in Kiel, S. 478; Bestimmungen für den Fremdenbesuch in

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

261

empfing die ‚Fremden‘ am Werkstor, geleitete sie nach strengen Zeitvorgaben auf einem festgelegten Weg durch das Werk und entließ sie schließlich wieder aus den Fabrikräumen. Die Zeitvorgaben sahen übereinstimmend bei verschiedenen Werken vor, dass „für eine allgemeine Besichtigung der Fabrik und Wohlfahrts-Einrichtungen […] etwa 2 1/2 bis 3 Stunden zu rechnen“215 seien. Diese Einschränkung diente dazu, die Zeit, in der die Besucherströme die Abläufe im Werk beeinträchtigen konnten, zu minimieren.216 Auf die Gestaltung der Führung hatte das zwei Auswirkungen. Bei diesem sehr knappen Zeitplan konnten die Gäste allenfalls einen oberflächlichen Eindruck gewinnen. Den Plänen für Führungen durch das Krupp-Werk kann man entnehmen, dass die Besucher acht Stationen in 120 Minuten bewältigen mussten, was bedeutete, dass sich die Zeit für jede Station inklusive der Fußwege zwischen den Stationen auf durchschnittlich 15 Minuten belief. Die Pläne offenbaren jedoch, dass häufig nur 10 Minuten zwischen den Abteilungen lagen,217 was jedes tiefergehende Verständnis schon aus Zeitgründen ausschloss. Dasselbe Bild vermitteln die Dokumente über die Besichtigungen der Bayer-Werke. Auch hier waren zumeist nur zehn bis fünfzehn Minuten pro Station vorgesehen.218 Lediglich bei Gruppen von Leverkusen, [1909], BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). 215 Ebd. Vgl. auch die Ablaufpläne der Firma Krupp, die ähnliche zeitliche Vorgaben machten: Homann an Brachvogel, Programm für Besichtigung Kyffhäuserverband, 06.03.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 88; Programm für die Besichtigung der Gußstahlfabrik Essen durch höhere Beamte des Land und Amtsgerichts Essen, 02.05.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 322, 324. Vgl. für die Mehrheit der Führungen bei der Firma Bayer exemplarisch Duisberg an Recht, Zusage Führung Oberprimaner Realgymnasium Elberfeld, 07.06.1906, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908): für diese Führung waren rund drei Stunden inklusive einer Pause vorgesehen. 216 Vgl. Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen, [Sept. 1909], BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). 217 Vgl. Programm der Besichtigung der Gußstahlfabrik Essen durch die Kolonialgesellschaft, 16.06.1905, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2012, 19: „Kanonenwerkstatt V, Schmelzbau, Mechanische Werkstatt IV, Museum, Hammerwerk II und Hammer Fritz, Schienenwalzwerk, Bessemerwerk, Pressbau“; Homann an Brachvogel, Programm für Besichtigung Kyffhäuserverband, 06.03.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 88: „Kanonenwerkstatt VI & VII; Lafettenwerkstatt III; Museum; Tiegelguß – Schmelzbau; Mechanische Werkstatt IV; Kanonenwerkstatt V; Hammer ‚Fritz‘; Bessemerwerk; Mechanische Werkstatt VIII; Martinwerk V“; Programm für die Besichtigung der Gußstahlfabrik Essen durch höhere Beamte des Land und Amtsgerichts Essen, 02.05.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 322: „Mechanische Werkstatt II und III; Kanonenwerkstatt V; Kanonenwerkstatt II; Schmelzbau; Mechanische Werkstatt IV; Bandagenwalzwerk; Satzachsendreherei; Lafettenwerkstatt III; Museum; Hammerwerk II; Hammer Fritz; Blechwalzwerk; Bessemerwerk“. 218 Vgl. Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Fried. Bayer & Co., Elberfeld durch den Aufsichtsrat, 6. Juli 1897, Juli 1897, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

262

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Fachleuten dauerte eine Werksbesichtigung zwei volle Tage und nahm alle Stationen des Werkes gründlich in den Blick.219 Der Bildungs­aspekt, der den Besuch zunächst einmal in die Fabrik geführt hatte, musste also hinter den Notwendigkeiten der Produktion zurückstehen.220 Hinzu kam, dass der Aufbau des Rundgangs ebenfalls an zeitökonomischen Überlegungen ausgerichtet war, und nicht am Gang des Fertigungsprozesses. Die chronologischen Ablaufpläne für Führungen durch die Anlagen der Firma Krupp verweisen darauf, dass häufig zuerst die Werkstätten besucht wurden, die die Ausgangsprodukte weiterverarbeiteten, und dann erst diejenigen, die das Ausgangsprodukt erzeugten.221 Dass diese Chronologie der Fabrikbesichtigung nicht der Logik des Fertigungsgangs entsprach, belegen die verschiedenen Publikationen, die von der Produktion in den Werken der Firma Krupp berichten. Exemplarisch sei nur auf einen repräsentativen Bildband über die Firma aus dem Jahr 1896 verwiesen, der auf einem virtuellen Rundgang durch die Fabrik eine ganz andere Chronologie wählte, als die, die bei den realen Führungen eingeschlagen wurde.222 Die Firma Bayer berücksichtigte insbesondere bei Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908): Der detaillierte Zeitplan zeigt, dass zumeist alle 10 oder 15 Minuten die nächste Abteilung des Werkes auf dem Programm stand. Vgl. Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elberfeld am Dienstag, den 30. Juni 1908, nachmittags durch die Herren des Landgerichts Elberfeld, Juni 1908, BA, ebd.: In einer Zeit von 5 Stunden wurden 27 Stationen des Werkes abgegangen. 219 Vgl. Programm für die Besichtigung der Leverkusener Fabrik der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Elberfeld durch die Mitglieder der Interessengemeinschaft am Freitag, den 16. und Sonnabend, den 17. Dezember 1904, Dezember 1904, BA, ebd.; Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Elberfeld am Freitag, den 22. Juli 1904, Juli 1904, BA, ebd. 220 Zu dieser Erkenntnis kam auch der Reiseautor Pieler, der in seinem Bericht über seine Tour entlang der Ruhr beim Besuch der Industriestandorte feststellte: „Alles, was wir sehen und hören, erregt unsere Bewunderung, aber uns eine auch nur einigermaßen zusammenhängende Vorstellung von dem Ganzen des Werkes zu machen, darauf müssen wir verzichten.“ Pieler, Das Ruhrthal, S. 302f. 221 Vgl. exemplarisch Programm der Besichtigung der Gußstahlfabrik Essen durch die Kolonialgesellschaft, 16.06.1905, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2012, 19; Homann an Brachvogel, Programm für Besichtigung Kyffhäuserverband, 06.03.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 88; Programm für die Besichtigung der Gußstahlfabrik Essen durch höhere Beamte des Land und Amtsgerichts Essen, 02.05.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 322; Programm für den Besuch der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft in Posen, HAK, ebd., 438; Programm Besichtigung Konferenz Leiter der katholischen Jugendvereine des Dekanats Essen, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2015, 104. 222 Vgl. Friedrich C.G. Müller: Krupp’s Gussstahlfabrik, Düsseldorf 1896. Hier wurden in nachstehender Reihenfolge folgende Stationen in längeren Exkursen vorgestellt: „Eintritt in die Fabrik“; „Eisen und Stahl nach ihrer chemischen Zusammensetzung“; „Eisen- und Stahlpuddeln“; „Der Schmelzbau“; „Der Siemens-Martin-Proceß“; „Der Bessemer-Proceß“; „Die Hammerwerke“; „Die Walzwerke“; „Das Plattenwalzwerk und der Preßbau“; „Einige große Nebenbetriebe“; „Die Leitung

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

263

größeren Gruppen gleichfalls nicht primär, welcher Gang durch die Anlagen das Verständnis am besten fördern würde, sondern was die Organisation der Führung erleichtern könnte. Größere Besuchergruppen wurden in zwei oder drei kleinere Gruppen aufgeteilt, die die einzelnen Stationen in entgegengesetzter Reihenfolge besichtigten. So wurde gewährleistet, dass der Betrieb nicht durch eine übergroße Gruppe gefährdet wurde. Die Reihenfolge, in denen die Werksteile besichtigt wurden, musste einigen Gruppen dadurch jedoch merkwürdig anmuten.223 Hätten die Gäste die Möglichkeit gehabt, dem Produkt in seinen verschiedenen Fertigungsstadien zu folgen, wäre ein Verstehen des Herstellungsprozesses zumindest in Ansätzen möglich gewesen. So aber mussten sie jede Station aus ihrem Kontext gerissen betrachten, was nur einen oberflächlichen Eindruck möglich machte. Die Zeitschriften, die aus den verschiedenen Fabriken berichteten, hatten den Nachteil einer Schilderung, die sich an der realen Führungssituation und entgegen dem Verlauf des Produktionsprozesses orientierten, offensichtlich erkannt, denn sie stellten immer wieder heraus, dass bei einem Gang durch das Werk der Entstehungsprozess des Produktes im Vordergrund stehen sollte. Die Reportage bewegte sich durch die Fabrik dem „Grundsatze huldigen[d], die Entwicklung der Dinge vom Anfang her zu verfolgen“224 und „dem Laufe der so bearbeiteten Werkstücke folgend.“225 Der Weg der Kohle vom Transport ans Tageslicht über die Sortierung, die so genannte ‚Wäsche‘ bis hin zur Lagerung vor dem Verkauf wurde der Leserschaft erläutert,226 die Herstellung von Porzellan oder von Teppichen von den Ausgangsstoffen bis zum verkaufsfertigen

der Fabrik“; „Die mechanischen Werkstätten“; „Die Krupp’sche Kanone“; „Geschoß und Ladung“; „Der Krupp’sche Schießplatz bei Meppen“; „Die Wohlfahrtseinrichtungen der Krupp’schen Gußstahlfabrik“. Vgl. auch [Fabrik] Fried. Krupp (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1902, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1902. Hier wurden in nachstehender Reihenfolge folgende Produktionsstationen bildlich repräsentiert: „Tiegelstahlschmelzbau“; „Martinwerk IV“; „Hammer ‚Fritz‘“; „Hydraulische 5000t Schmiedepresse“; „Panzerplatten-Walzwerk“; „Satzachsendreherei“; „VIII. mech. Werkstatt“; „Kanonen-Werkstatt V“. Hinzu kamen die Bilder verschiedener in diesen Werkstätten hergestellter Produkte. 223 Vgl. Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Elberfeld am Mittwoch, den 18. Mai 1904, Mai 1904, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elberfeld am Dienstag, den 30. Juni 1908, nachmittags durch die Herren des Landgerichts Elberfeld, Juni 1908, BA, ebd. 224 B. Rauchenegger: Die königliche Erzgießerei in München, in: Über Land und Meer, Jg. 38, Bd. 75, Nr. 17, 1895/1896, S. 276f., hier S. 276. 225 Freiherr von Beaulieu-Marconnay: Das Heizwerk in Jena, in: Westermann’s illustrierte deutsche Monatshefte, Jg. 47, Bd. 92, 1902, S. 759. 226 Vgl. Die Verarbeitung der Kohlen im Ruhrgebiet, S. 864–869.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

264

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Produkt dargestellt,227 oder gezeigt, „wie aus der rohen Stahlstange gewissermaßen das Wunderwerk Automobil entsteht.“228 Diesem Manko versuchten die Fabriken entgegenzutreten, indem sie dem Besucher und der Besucherin, sofern sie im Werk zugelassen war, einen kundigen Führer und erläuternde Materialien an die Hand gaben. Der Führer nahm damit nicht nur die bereits geschilderte Kontrollaufgabe der Besuchergruppen war, sondern diente als Interpretationshilfe des Gesehenen. In vielen Fabriken übernahmen Fachleute wie Ingenieure,229 Chemiker230 oder Steiger231 die Führungen, die den ‚Fremden‘ mit technischem Fachwissen zur Seite stehen konnten. Diese Führer wurden häufig beliebig aus dem Kreis der höherrangigen Beschäftigten ausgewählt. Manche Fabriken gingen aber daneben dazu über, Mitarbeiter speziell für diese Aufgabe zu schulen. Diese stammten dann zumeist nicht mehr aus dem Kreis der Fachleute, sondern der Betriebsverwaltung.232 Die von dieser Personengruppe vermittelten Inhalte waren standardisiert und zielten auf das Verständnis des technischen Laien. Sie umfassten Informationen wie die Lage der einzelnen Fabrikteile, einen Abriss der Werks- oder Unternehmensgeschichte, einen Hinweis auf die Arbeiter- und Produktionszahlen sowie auf die Größe der verschiedenen Werksteile. Hinzu kamen je nach Verlauf der Führung detaillierte Informationen zu den verschiedenen Abteilungen des Werkes.233 Dieselbe Aufgabe übernahmen die von einigen Unternehmen ebenfalls als ‚Führer‘ bezeichneten Informationsbroschüren, die im Rahmen der Fabrikbesichtigung an die Besucherinnen und Besucher ausgeteilt wurden.234 Zu Beginn des Massenphänomens Fabriktourismus enthielten sie vor227 Vgl. Luthmer, In der Porzellanfabrik, S. 745; Der Schmiedeberger handgeknüpfte Smyrna-Teppich und seine Herstellung, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3149, 05.11.1903, S. 692f. 228 Ein Besuch bei Benz in Mannheim, S. 12. 229 Vgl. Baedeker, Berlin und Umgebung, 18. Aufl., S. 208. 230 Vgl. Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen, [1909], BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). 231 Vgl. Becker, Unter Tage, S. 128. 232 Vgl. Bestimmungen für den Fremdenbesuch in Leverkusen, [1909], BA, Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966). 233 Vgl. Materialien für Erläuterungen bei Fabrikbesichtigungen, [1925], BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). Die ausführliche, neunzehnseitige Schrift präsentierte Materialien, die je nach Besuchergruppe kombiniert und unterschiedlich genutzt werden konnten. Ihre weitreichenden Inhalte lassen vermuten, dass schon in der Vorkriegszeit viele der Maßnahmen bereits fester Bestandteil des Besuchswesens des Unternehmens waren. 234 Die Firma Krupp verzeichnete in ihren standardisierten Plänen, mit deren Hilfe seit 1906 alle Führungen dokumentiert wurden, welche Materialien an den Besuch ausgegeben worden waren, worunter ebenfalls die als ‚Statistische Angaben‘ bezeichneten hauseigenen Informationsbroschüren fielen. Vgl. HAK, Bestand WA 48 – Besuchswesen, Teil 1. Auch von der AEG existierten solche Führer, die in den Empfangsund Warteräumen der Fabriken auslagen. Vgl. [interne] AEG-Zeitung, Jg. 7, Nr. 1, 1905, S. 137.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

265

wiegend „Statistische Angaben“235 – so der Name dieser Informationshefte der Firma Krupp, die diese Bezeichnung selbst noch trugen, als sie längst mehr als nur reines Zahlenwissen beinhalteten –, von denen das Unternehmen glaubte, dass sie die Bedeutung und Größe am besten vor Augen führen könnten: „Wir teilen nachstehend die wichtigsten Zahlen aus der Geschichte der AEG und ihren Betrieben mit. Wir haben uns damit begnügt, diese Ziffern aneinander zu reihen, glauben aber, dennoch mehr als nur trockene Tabellen zu bieten. Wer die stumme, aber eindringliche Sprache der Zahlen versteht, der wird beim Ueberfliegen der folgenden Seiten die Entwicklung der AEG verfolgen können, die in kurzer Zeit auf die Höhe ungezählter Millionen führt. Eindringlicher und deutlicher als jede lange Auseinandersetzung werden, so glauben wir, diese Tabellen sprechen, die die Besucher unserer technischen Betriebe zugleich über die Verwaltungseinrichtungen der AEG unterrichten sollen.“236 Nach einer Geschichtstafel, die wichtige Betriebserweiterungen und die Einführung von wichtigen neuen Produkten aufzählte, nannte die Broschüre die Geschäftszahlen, die Gesamthöhe der ausgezahlten Löhne, die Kosten der eingekauften Rohstoffe und die Menge der hergestellten Produkte. Abgeschlossen wurden die Angaben durch Hinweise zu der Größe der Grundstücks- und Werkstattflächen sowie zur Anzahl größerer Maschinen.237 Das Konzept der Unternehmensleitung, dass die Zahlen für sich sprechen würden, ist gleichwohl mit Blick auf ein breiteres touristisches Publikum fragwürdig. Selbst wenn man beim Bürgertum eine gewisse ökonomisch-technische Grundbildung voraussetzt, ist doch davon auszugehen, dass beispielsweise Angaben zu den Geschäftszahlen oder zu den Zahlungsströmen nur von Fachleuten aus der Wirtschaft gewürdigt werden konnten. Diese Art der Selbstdarstellung der AEG spiegelt daher sehr nachdrücklich die Zahlengläubigkeit des verwissenschaftlichten, technisierten Zeitalters, in dem man sich befand. Die Aussagefähigkeit der Zahlen wurde sprachlich überhöht, man verstand sie als eigene, eindrucksvolle Sprache, zu deren Verständnis zwar besondere Fähigkeiten nötig waren, die jedoch bei der Leserschaft vorausgesetzt 235 Vgl. Buchdruckerei des Krupp’schen Etablissements (Hrsg): Statistische Daten über die Gussstahlfabrik nebst den zugehörigen Berg- und Hüttenwerken, Essen 1877, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1877; dies. (Hrsg.): Statistische Daten über die Gussstahlfabrik nebst den zugehörigen Berg- und Hüttenwerken, Essen 1883, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1883. 236 AEG (Hrsg.): Zur Besichtigung der AEG-Fabriken, Berlin [1910], S. 5, DTBM, Bestand: AEG, Signatur: I.2.060 P 07014. 237 Vgl. ebd., S. 6–15.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

266

Die Fabrik als touristische Konstruktion

wurden. Ähnlich erschienen die frühen Broschüren über die Firma Krupp. Auf nur drei Seiten wurde das Gussstahlwerk als Teil des Gesamtunternehmens anhand seiner Geschichte – die in vier Zeilen abgehandelt wurde –, der Zahl der Arbeiter, der überdachten und nicht überdachten Fläche des Werkes, der Art und Zahl der Maschinen, der Art und Menge der produzierten Gegenstände sowie der Menge der Ausgangsprodukte vorgestellt.238 Der Bezug auf die Aussagekraft der Zahlen offenbart einerseits das Selbstbewusstsein der Fabriken, dass ihre rationale Art, ihre Leistungen und Erfolge durch die reinen Zahlen zu kommunizieren, von allen Interessenten verstanden werden müsste. Andererseits ist zu vermuten, dass das Verständnis dieser Sprache als Prestigeleistung galt, so dass die Leserschaft bereitwillig vorgab, das Gelesene interpretieren zu können, selbst wenn sie von einer solchen Darstellung vielleicht überfordert war. Hieraus lassen sich Rückschlüsse auf die allgemeine Bereitschaft der Industrietouristinnen und -touristen ziehen, sich auf die Vorgaben der Fabrik einzulassen und das von ihr vermittelte Weltbild, in dem die rationalisierte Produktion im Vordergrund stand, sogar als touristisch interessante Komponente zu begreifen. Die Einstellung, dass die reinen Zahlen aussagekräftiger als eine „lange Auseinandersetzung“239 seien, änderte sich jedoch bald, bei Krupp noch eher als bei der AEG. Ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts kamen bei den Kruppschen Veröffentlichungen zu den reinen Statistiken Bilder der Produktionsstätten oder einzelner Maschinen240 und schließlich ausformulierte Texte, die die einzelnen Abteilungen der Werke genau beschrieben.241 Während in der Broschüre von 1877 noch knapp drei 238 Vgl. Buchdruckerei des Krupp’schen Etablissements, Statistische Daten, 1877, o.P. 239 AEG, Zur Besichtigung der AEG-Fabriken, o.P. 240 Vgl. Buchdruckerei des Krupp’schen Etablissements (Hrsg): Statistische Daten über die Gussstahlfabrik nebst den zugehörigen Berg- und Hüttenwerken, Essen 1892, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur 3-1-1892. 241 Vgl. [Fabrik] Fried. Krupp (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1896, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1896; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1900, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1900; dies., Statistische Angaben, 1902; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1905, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1905; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1906, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1906; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1909, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1909; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1911, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1911; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1913, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1913; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1914, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1914. Mit der Ausgabe von 1913 nahm der Umfang der ‚Statistischen Angaben‘ wesentlich zu, was erstens auf die fortschreitende Foto- und Grafiktechnik, zweitens auf die Ausweitung der Werke und Besitztümer der Firma Krupp, aber drittens auch auf steigende Besucherströme und eine verbesserte Wahrnehmung der Bedeutung des Besuchs zurückzuführen war. Bereits 1896 hatte es eine umfangreiche Buchveröffentlichung gegeben, die auf 170 Seiten und mit rund 80 Zeichnungen das Unternehmen in allen seinen Teilen ausführlich vorstellte. Vgl. Müller, Krupp’s Gussstahlfabrik.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

267

Seiten ausgereicht hatten, um die Gussstahlfabrik vorzustellen, nahmen die ausführlichen Beschreibungen von Produktionsvorgängen in den „Statistischen Angaben“ von 1902 sechszehn Seiten ein.242 Hinzu kamen Bilder, die den Tiegelstahlschmelzbau, das Martinwerk, den Hammer „Fritz“, die hydraulische Schmiedepresse, das Panzerplatten-Walzwerk, die Satzachsendreherei, die mechanische Werkstatt und die Kanonenwerkstatt sowie verschiedene fertige Produkte präsentierten. Eingebettet war die Vorstellung der Gussstahlfabrik in die Geschichte und die Schilderung der übrigen Zweige des Gesamtunternehmens sowie der Wohlfahrtseinrichtungen. Die AEG legte ebenso bald ausführlichere ‚Führer‘ vor, die jedes ihrer Werke einzeln thematisierten. Diese Werkspublikationen stellten der Leserin und dem Leser die Apparate-Fabrik,243 die Fabriken an der Brunnenstraße,244 nochmals unterteilt in die Maschinen- und die Turbinenfabrik245 sowie das Kabelwerk Oberspree246 und die verschiedenen Kraftstationen247 vor. Zahlenangaben spielten in diesen Fabrikführern zwar ebenfalls noch eine Rolle, waren aber eher der Ansatzpunkt für detailliertere Schilderungen über die Vorgänge in der Fabrik. Ebenso wie bei der Fabrikreportage oder in einem Reiseführer benutzte der Fabrikführer dazu Stilmittel, die eine bestimmte Erkenntnis vorgaben: „Einzelne Mädchen sehen wir mit der Prüfung fertiger Silberfaden-Sicherungen beschäftigt“,248 informierte die Broschüre der AEG über die Vorgänge im Montageraum für Sicherungen der Apparate-Fabrik.249 Indem der Arbeitsgang als einzelne Handlung, die ein bestimmter Mensch ausführte, gekennzeichnet wurde, individualisierte der Fabrikführer den Vorgang und machte ihn so besser begreiflich. In der Turbinenfabrik konnten der Besucher und die Besucherin, ebenfalls eingeschlossen in das „wir“ des Führers, sehen „wie die rechts und links neben uns sich türmenden Maschinen langsam immer mehr ihrer Fertigstellung sich nähern.“250 Indem der gedruckte Werksführer der Leserschaft 242 Vgl. Krupp, Statistische Angaben, 1902. 243 Vgl. AEG (Hrsg.): Apparate-Fabrik, Berlin o.J., SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 702. 244 Vgl. dies. (Hrsg.): Fabriken Brunnenstrasse, Hygienemuseum, Berlin [1914], SDTB, ebd., Signatur: So 06904. 245 Vgl. dies. (Hrsg.): Maschinenfabrik, Berlin [1914], SDTB, ebd., Signatur: I.2.060 P 07015; dies. (Hrsg.): Turbinenfabrik, Berlin o.J., SDTB, ebd., Signatur: So 4268. 246 Vgl. dies. (Hrsg.): Kabelwerk Oberspree, Berlin 1913, SDTB, ebd., Signatur: I.2.060 P 7019. 247 Vgl. dies. (Hrsg.): Kraftstationen Moabit und Rummelsburg, Berlin 1913, SDTB, ebd., Signatur: I.2.060 P 07021. 248 Dies., Apparate-Fabrik. 249 In ihrer Funktion kaum erkennbare Handarbeiten wurden häufig genau erläutert. Vgl. auch dies., Maschinenfabrik, S. 12: „Der Weg über die Galerie führt uns nun in einen besonderen Raum, in dem eine grosse Anzahl von Mädchen damit beschäftigt ist, mit Hilfe von Spezialmaschinen Baumwollband höchst sorgfältig um Drahtspulen zu wickeln.“ 250 Dies., Turbinenfabrik, S. 12.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

268

Die Fabrik als touristische Konstruktion

genau mitteilte, was sie wo erleben konnte, wurde ein an sich für den Laien vielleicht unverständlicher Teil des Produktionsprozesses mit Sinn gefüllt, was durch die Zugabe von technischem Hintergrundwissen noch verstärkt wurde.251 Hinzu kam, dass die Fabrikführer – wieder ähnlich den Fabrikreportagen – sogar das Empfinden, das die Besichtigung im Besucher beziehungsweise in der Besucherin auslösen sollte, ansatzweise vorgaben, indem sie sich einer pathetischen Sprache bedienten. „Durch das monumentale Tor in der Brunnenstraße, von dem die Buchstaben AEG weithin leuchten, betreten wir nicht eine Fabrik, sondern eine Fabrikstadt“,252 teilte der Fabrikführer für die Werke an der Brunnenstraße dem Publikum mit und evozierte damit bei der Leserschaft das Gefühl, etwas Erhabenes, Großartiges, Außeralltägliches vor sich zu haben. Die gedruckten Führer konnten in dieser Ausführlichkeit, ebenso wie die Reportagen, den Fabrikbesuch mitunter sogar ersetzen,253 zumindest aber ihn angemessen vor- und nachbereiten. Schließlich machten sie mit ihren Erklärungen, was genau zu sehen war und was für eine Bedeutung für den Produktionsprozess dieses hatte, das von der Fabriktouristin und dem -touristen angestrebte Bildungserlebnis zusammen mit den Erläuterungen des menschlichen Führers erst möglich. Weitere Wege, den Gästen die Welt der Fabrik und die in ihr hergestellten Produkte näherzubringen, waren erläuternde Materialien wie Schautafeln, beispielhafte Vorführungen und die Ausstellung fertiger Produkte. Insbesondere die Elektroindustrie, die Geräte herstellte, die in ihrem technischen Aufbau ebenso wie in ihrem Nutzen für die Betrachtenden auf den ersten Blick zu komplex oder zu unbekannt und damit nahezu völlig unverständlich erschienen, griff auf diese Mittel zurück.254 251 Vgl. dies., Apparate-Fabrik, S. 14–18: Auf diesen Seiten erfuhr die Leserschaft beispielsweise genau, wie eine Bogenlampenarmatur aufgebaut war und funktionierte. Vgl. dies., Maschinenfabrik, S. 16–18: Hier erläuterte die Broschüre genau die Funktionen der in der Fabrik für Hochspannungsmaterial hergestellten Produkte sowie die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Verarbeitung. 252 Ebd., S. 3. 253 Darauf deutet die Tatsache hin, dass die ‚Statistischen Angaben‘ und die ‚Führer durch die Fabrik‘ auch unabhängig von Führungen, beispielsweise auf Weltausstellungen, verteilt wurden. 254 In der Apparatefabrik der AEG bekam der Besuch zunächst die in der Fabrik hergestellten Produkte präsentiert und anhand von Schautafeln den Produktionsvorgang erläutert. Vgl. [externe] AEG-Zeitung, Jg. 13, Nr. 9, 1910, S. 7. Vgl. für eine Analyse der Inszenierungspraktiken in der AEG-Ausstellung Daniela Fleiß: Die Fabrik als Wissensraum. Bürgerliche Raum- und Wirklichkeitskonstruktionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Dorit Müller/Sebastian Scholz (Hrsg.): Raum. Wissen. Medien. Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs, Bielefeld 2012, S. 59–83, hier S. 72–74. Zielgruppenspezifische Vorführungen ergänzten bei der AEG die Führungen. Vgl. Astrid Zipfel: Public Relations in der Elektroindustrie. Die Firmen Siemens und AEG 1847 bis 1939, Köln 1997, S. 153. Auch die Firma Siemens bemühte sich, durch Probeanlagen, Vorführungen und Sonderausstellungen in einzelnen Werken und schließlich ab dem Jahr 1922

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

269

Das Ziel der Bildung beim Fabrikbesuch stand so vordergründig immer Pate für die Handlungen und Ansprüche der Fabriktouristinnen und -touristen und wurde auch in den Angeboten der Fabriken, in Informationsbroschüren und von Fabrikführern aufgegriffen. Auch andere Medien verfolgten den Zweck, möglichst gut zu rezipierende Informationen zu vermitteln. Letztlich standen für die Firmen aber ihre Betriebsabläufe und Fabrikationsziele, nicht die Ansprüche der Besucherinnen und Besucher im Vordergrund. Wo diese in Widerspruch traten, musste das Bildungsbedürfnis der Gäste hintenanstehen. Es lässt sich aber vermuten, dass dieser Umstand vom Bürgertum unhinterfragt in Kauf genommen wurde, sofern sie insgesamt ein angemessenes Erlebnis geboten bekamen.

5.2.3. „In rein frohem Sang konnte der inhaltsreiche Tag so ausklingen“:255 Der Fabrikbesuch als bürgerlich-touristisches Ereignis

Neben den Mitteln, die die Erkenntnis über das Gesehene fördern und so das Bildungserlebnis unterstützen sollten, stellten die Unternehmen ferner solche Materialien zur Verfügung, bei denen es nicht um tiefere Erkenntnis oder Belehrung ging, sondern die eine klare touristische Dimension hatten. Sie unterstreichen, dass das Bildungserlebnis für das Bürgertum zwar das vordergründige Motiv, dass der Fabrikbesuch jedoch letztlich ein touristisches Gesamterlebnis war, das zusätzlich nach solchen Dingen wie Souvenirs verlangte. Das universelle Souvenir schlechthin stellte die Ansichtspostkarte dar, die von fast jedem Unternehmen herausgegeben und zu verschiedenen Gelegenheiten, insbesondere natürlich im Rahmen der Führung, verteilt wurde. Sogar Unternehmen, von denen ansonsten kaum Werbe- oder Begleitmaterial zu Fabrikführungen überliefert ist, haben Postkarten mit Abbildungen ihrer Produkte, ihrer Werksanlagen oder ihrer Arbeiterschaft verbreitet.256 Die Firma Krupp verteilte ab 1907 – höchstwahrscheinlich sogar schon eher – an nahezu alle ‚Fremden‘, unabhängig von deren Besuchszweck oder dem positiven Imagegewinn, den sich die Firma von dem Besuch erhoffen konnte, durch eine Dauerausstellung im Hauptverwaltungsgebäude der anfangs skeptischen Öffentlichkeit die Funktionsfähigkeit und Vorzüge elektrischer Geräte zu demonstrieren. Vgl. ebd., S. 43–50. 255 Schumacher an Duisberg. Dank für Führung der Bonner Jura-Studenten, 09.02.1908, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 256 Vgl. beispielsweise die vom Gussstahlwerk Witten herausgegebenen Postkarten Gußstahl-Werk Witten. Verwaltungsgebäude, Bildpostkarte, ungelaufen, [1910], WWA, Bestand: F 81 – Gussstahlwerk Witten AG; Signatur: F 81, aus Nr. 500; Gußstahl-Werk Witten. Werkstatt II, Südseite. Seitenschiff, Bildpostkarte, ungelaufen, [1910], WWA, ebd.; Gußstahl-Werk Witten. Stahlwerk II, Bildpostkarte, ungelaufen, [1910], WWA, ebd. Diese Postkarten sind die einzigen nachweislichen Werbematerialien dieses Unternehmens im betrachteten Zeitraum, die einen Blick auf und in die Fabrik zulassen.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

270

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Serien von Ansichtspostkarten,257 die das Werk von außen wie von innen zeigten und in einer kleinen Pappmappe mit dem aufgedruckten Firmenlogo übergeben wurden.258 Eine Ausnahme davon machten die Unternehmensleitungen nur bei sehr großen Gruppen aus der näheren Umgebung, bei denen der finanzielle Aufwand den Nutzen überstiegen hätte.259 Hinzu kamen Postkartenserien zu den verschiedenen Werkssiedlungen, falls diese ebenfalls Teil der Besichtigung waren.260 Bis 1911 zirkulierte die Serie Ansichtspostkarten vom Werk,261 ab 1912 verwendete das Unternehmen dann mehrere neue Postkartenserien, die mit verschiedenen Buchstaben gekennzeichnet waren.262 Außerdem gab die Firma zu ihrem hundertjährigen Jubiläum eine Postkartenserie mit Abbildungen heraus, die Gemälde des bekannten Industriemalers Otto Bollhagen abbildeten.263 Bollhagen hatte von Krupp den Großauftrag für fünfundzwanzig Großgemälde zum Jubiläumsjahr 1912 erhalten,264 von denen vierundzwanzig in der Festschrift265 und als Postkartenserie farbig reproduziert wurden.266 Der Künstler war dafür bekannt, dass er ganz den Wünschen seiner Auftraggeber, der Fabrikinhaber, entsprach, die sich eine detailgetreue Abbildung ihrer Werke als Ölgemälde auf der Leinwand erhofften.267 Die Besucherinnen und Besucher, die eine Postkarte mit der Abbildung eines Gemäl257 Vgl. HAK, Bestand WA 48 – Besuchswesen, Teil 1. 258 Vgl. Ansichtspostkarten aus den Werken von Fried. Krupp Aktiengesellschaft Essen/Ruhr, Bildpostkarten, [1912], HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/11. 259 Vgl. Führung Lehrer, Schulamtskandidaten und Oberprimaner des königl. Gymnasiums Essen, HAK, WA 48 – Besuchswesen, Teil 1. 260 Vgl. Führung Cölner Vereinigung für rechts- und staatswissenschaftliche Fortbildung, 07.12.1909, HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/157; Führung Teilnehmer an der Provinzialversammlung des Hauptvereins der evangelischen Gustav-Adolf-Stiftung in der Rheinprovinz, 19.07.1911, HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/158. 261 Diese Serie findet sich nicht mehr vollständig im Archiv der Firma Krupp, sondern kann nur über die Dokumentation des Besuchswesens nachgewiesen werden. Vgl. HAK, Bestand WA 48 – Besuchswesen, Teil 1. 262 Es werden die Buchstaben K, L, N, O und E genannt, allerdings ist nicht zu rekonstruieren, wofür diese standen. Auch diese Serien sind nicht erhalten. 263 Vgl. Ansichtspostkarten aus den Werken von Fried. Krupp Aktiengesellschaft Essen/Ruhr, Bildpostkarten, [1912], HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/11. Die Verteilung dieser Postkartenserie bei Führungen dokumentiert der Bericht über die Führung von 60 Teilnehmern an der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Münster, 19.09.1912, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 1.2/1. 264 Vgl. Klaus Türk: Bilder der Arbeit. Eine ikonographische Anthologie, Wiesbaden 2000, S. 226. 265 Vgl. ebd., S. 224. 266 Vgl. HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/11. 267 Vgl. Otto Krätz: Das ideale Bild der Fabrik. Die Werke des Industriemalers Otto Bollhagen (1861–1924), in: Kultur & Technik, Jg. 17, H. 4, 1993, S. 26–33, hier S. 29. Vgl. zum Industriebild als Auftragsarbeit Kapitel 2.3.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

271

Abb. 22: Bildpostkarte „Gußstahlfabrik Essen – Panzerbearbeitungswerkstatt“ (Original farbig): Komplexe Abläufe in der Fabrik, eingefangen vom Künstler Otto Bollhagen

des von Bollhagen in den Händen hielten, besaßen damit ein Modell der Fabrik oder einzelner Werkstätten, das sie in Ruhe betrachten und mit dem sie ihre Erkenntnisse vertiefen konnten.268 Gleichzeitig hatten sie nicht eine einfache fotografische Wiedergabe der Realität vor Augen, sondern ein Abbild eines vermeintlich höherwertigen, repräsentativen Kunstwerks. Ein Bild aus dieser Postkartenserie präsentierte mit der Panzerbearbeitungswerkstatt der Firma Krupp ein besonders komplexes Gemälde (vgl. Abbildung 22). Das Bild, im Original in Farbe gestaltet, liefert einen Blick in eine große Werkshalle mit verschiedenen Fertigungsstellen und -stationen sowie einer Vielzahl von Arbeitern, die an den unterschiedlichen Werkstücken beziehungsweise Fertigungsstufen wirken. Die Arbeitsvorgänge sind nicht genau zu erkennen, nur im Vordergrund ist ein Teil eines Geschützes auszumachen, an dem Arbeiter weitere Teile montieren. Der Bildaufbau trägt ebenfalls zu dem Eindruck der Komplexität der Arbeitsgänge bei, die nicht 268 Vgl. Türk, Bilder der Arbeit, S. 227. Das Phänomen der künstlerischen Abbildung von Fabrikansichten und -inneräumen erreichte dann im 20. Jahrhundert beispielsweise mit den Frescen von Diego Rivera im Detroit Instiute of Art ganz neue Dimensionen. Der Künstler bildete hier in einem expressionistischen Stil diverse Produktionsvorgänge aus der Detroiter Industrie ab. Vgl. Diego Rivera: Detroit Industry Murals, Südwand, Fresko, Detroit Institute of Art, Rivera Court, Detroit, MI 1932–33.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

272

Die Fabrik als touristische Konstruktion

genau zu durchschauen sind. Das Gemälde lehnte sich eng an fotografische Aufnahmen an, die die beeindruckende Größe der Werkshallen als Zeichen für das wirtschaftliche und technische Potenzial des Unternehmens dokumentieren sollten. Die lange Perspektive, die durch den Fluchtpunkt im Zentrum des Bildes und die Metallpfeiler, die in regelmäßige Abständen auf ihn zulaufen, erzeugt wird, gibt der Halle eine enorme Tiefenwirkung, die gekrönt wird durch hellen Feuerschein an ihrem Ende. Hinzu kommt der Standort des Betrachters beziehungsweise des Malers, der aus einer leicht erhöhten Position auf das Geschehen blickte und so den Eindruck von Höhe und Weite noch verstärkt. Durch diese Kunstgriffe rekurrierte das Gemälde auf die Blickpraxis des Erhabenen, wie sie beispielsweise bei der Abbildung von Aussichten im Gebirge Anwendung fand und die auf die Industriemalerei übertragen worden war.269 Das Ölgemälde, das auf der Postkarte abgedruckt wurde, war damit kein Lehrbild, das Arbeitsvorgänge en détail sichtbar machte und so zu ihrem Verständnis beitrug. Stattdessen weckte es ein Bewusstsein für die Komplexität der Fertigung in der Schwerindustrie. Gleichzeitig vermittelte die Postkarte den Touristinnen und Touristen den Eindruck, dass die ganze Weite einer gigantischen Fabrikhalle von ihnen in einer Hand gehalten und betrachtet werden konnte, was die Fabrik viel ‚begreifbarer‘ im wörtlichen Sinn machte, als es die Skizzierung einzelner Arbeitsvorgänge vermochte. Andere Firmen orientierten sich mit der Gestaltung ihrer Ansichtskarten ganz an den gängigen Mustern für Bildpostkarten um die Jahrhundertwende, indem sie etwa die Mode aufgriffen, verschiedene Ansichten des Objekts des touristischen Interesses – der Stadt, der Fabrik – wie eine Collage auf der Vorderseite der Postkarte anzuordnen. Die Firma Bayer beispielsweise stellte ihr Werk in der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor, indem sie vier Fotografien, die jeweils einen Blick in einen anderen Teil des Werkes lieferten, versetzt anordnete, so dass sie den Fabriknamen in der Mitte der Postkarte umrahmten (vgl. Abbildung 23). Jedes dieser Fotos ist betitelt mit dem Namen der dargestellten Werkseinheit. Zu sehen sind zweimal das „Medizinallager“, einmal die „Zentralwerkstätte“ und einmal das „Farbenlager“. Diese Fotos sind ebenfalls typische Beispiele für die Abbildung von Fabrikinnenräumen: Sie offenbaren hohe Werkshallen, in die das Licht von oben oder hinten fällt, und die sehr stark durch das Mittel der Perspektive als Gestaltungselement geprägt sind. Das „Medizinallager“ weist eine große Zahl in weiße Schürzen gekleidete Arbeiterinnen in Reih und Glied auf, die aber als Individuen aufgrund der geringen Größe der einzelnen Collage-Teile kaum auszumachen sind. Ob sich in den anderen Werkshallen weitere Personen aufhalten – oder was sich überhaupt in den Werkshallen genau befindet –, bleibt ebenfalls aufgrund der Größenverhältnisse unklar. Im Wesentlichen konnte es den einzelnen Bildern in 269 Vgl. Kapitel 4.1.1., 4.1.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

273

Abb. 23: Bildpostkarte „Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Leverkusen a. Rh.“: Touristische Abbildungskonventionen auf die Fabrik übertragen

der Collage also nicht darum gehen, konkrete Details aus dem Werk zu vermitteln, sondern lediglich einen Eindruck des ‚Dort-Gewesen-Seins‘. Die um den Fa­briknamen gruppierten Bilder werden zusätzlich durch zwei stilisierte Linien umrandet und damit zu einer Einheit zusammengefasst. Damit entspricht die Postkarte weitestgehend dem Muster, nach dem Ansichtskarten von touristischen Städten und Regionen ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts häufig gestaltet wurden. Während die Städte die einzelnen Bilder gerne mit einem in kunstvoller Schrift gehaltenen „Gruß aus…“270 verbanden, nutzten die Unternehmen den Schriftzug, um den Namen der Firma zu betonen. Und wo die Städte die Stadtansichten durch eine kleine Überschrift oder eine Unterzeile genau betitelten, verkündeten die Postkarten der Unternehmen, welche Werkstätten abgebildet waren. Im Fall der Firma Bayer, die auch Chemikalien zur Herstellung von Fotografien produzierte, konnte die Leistung der Firma zusätzlich durch den Hinweis, dass die Abbildungen mit firmeneigenen Chemikalien, mit „EdinolBayer“ und auf „Rotobromid-Bayer“ entwickelt worden seien, beworben werden. 270 Vgl. Martin Willoughby: Die Geschichte der Postkarte. Ein illustrierter Bericht von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart, Erlangen 1993, S. 10. Für ein Beispiel einer Postkarte mit dem Schriftzug „Gruß aus…“ vgl. Kapitel 4.3.3., Abbildungen 15, 16, 17.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

274

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Bisweilen stellten Fabriken sogar individualisierte Postkarten her, indem den festgelegten Motiven des Werkes eigens der Anlass, zu dem sie ausgeteilt werden sollten, aufgedruckt wurde. Insbesondere die Bayer-Werke operierten mit solchen persönlicheren Ansichtskarten. Die Motive, die die Fabrik so vermittelte, waren die der Fabrikhallen, der Laboratorien und Werkstätten sowie von weiteren Werkseinrichtungen, wie des Fabrikbahnhofs, des Elektrizitätswerkes, der Werksfeuerwehr oder des Beamtenkasinos,271 um eine umfassende Dokumentation des Besuches zu ermöglichen. Während der Name des Unternehmens, die Bezeichnung des abgebildeten Motivs sowie der Satz­anfang „Zur Erinnerung an den…“ feste Bestandteile des Kartenvordrucks waren, konnte der Erinnerungszweck jeweils individuell nachträglich aufgedruckt werden, so dass jeder größeren, länger angemeldeten Gruppe die Gunst zuteil werden konnte, speziell auf sie zugeschnittene Karten ausgeteilt zu bekommen. Die Bildsprache zeigte auch bei dieser Postkartenserie die für die Darstellung von Fabrikhallen typischen Merkmale (vgl. Abbildung 24). Das Beispiel der Mechanischen Werkstätte macht den Blick von erhöhter Position in eine hohe, durch den starken Lichteinfall luftig und die gewählte Per­ spektive langgezogen wirkende Halle sichtbar. Auf der linken Seite der Halle befinden sich Maschinen, die durch Transmissionsriemen angetrieben werden, allerdings deutet nichts darauf hin, dass sie in Betrieb wären. Dieser Umstand mag den Möglichkeiten der Fotografie der Zeit geschuldet gewesen sein, die durch die erforderlichen langen Belichtungszeiten noch nicht in der Lage war, schnelle Bewegungen einzufangen, man kann die Reglosigkeit der Maschinen aber ebenso dahingehend interpretieren, dass das Unternehmen weniger den Produktionsvorgang, als vielmehr die Wirkung der Werkshalle selbst als Imageträger nutzen wollte. Damit korrespondiert die Tatsache, dass die weiteren Gegenstände, mit denen die Halle auf dem Bild gefüllt ist, in ihrer Funktion nicht zu erkennen sind, es könnte sich ebensogut um Rohstoffe oder Zwischenprodukte handeln, wie um Arbeitsstationen zur manuellen Fertigung, wobei auch keine Arbeiter auf der Postkarte abgebildet sind. Für diejenigen, die eine solche Postkarte als Erinnerungsstück überreicht bekamen, war mit der Betrachtung eigentlich kein Erkenntnisgewinn über die Vorgänge in der Fabrik verbunden, stattdessen ging es um die reine Dokumentation des ‚Dort-Gewesen-Seins‘. Aus der Sicht des Unternehmens war, so lässt sich vermuten, durch personalisierte Postkarten eine noch stärkere Bindung der Besucherinnen und Besucher an die Fabrik oder das Produkt möglich. Für die Gäste hatte der Nachweis, tatsächlich eine Fabrik besucht zu haben, eine noch größere Authentizität, als beispielsweise der mündliche Bericht von der Reise allein. Mit einer personalisierten Postkarte konnten die von der Reise Heimgekehrten im Freundeskreis noch nachdrücklicher von dem Erlebnis berichten, die eigene Erinnerung blieb länger 271 Vgl. BA, Bestand: 111-6.1 – Farbstoffe, Allgemeines 1887–1909.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

275

Abb. 24: Bildpostkarte „Zur Erinnerung an den Deutschen Färbertag Pfingsten 1901“: Ein individualisierbares Souvenir

wach. Außerdem stieg mit ihr die Individualität des Erlebnisses, was es erleichterte, sich als Reisende und nicht als Touristinnen und Touristen zu inszenieren. Persönlicher noch als diese individualisierten Ansichtspostkarten waren Gemeinschaftsfotos der Besuchergruppen, die diesen nach dem Ereignis zugesandt wurden. Die Gruppen, die die Bayer-Werke besichtigten, hier durch das Beispiel einer Apotheker-Vereinigung illustriert (vgl. Abbildung 25), stellten sich für das Foto in lockerer Formation vor dem Hintergrund des gerade durchwanderten Werkes auf. Die Besu­ cher­gruppe war um einen Teil einer Werksbahn herum drappiert, ein Teil der Personen stand zur besseren Komposition des Gruppenbildes sogar erhöht im offenen Führerhaus. Während die legere Haltung der Abgebildeten darauf hinweist, dass sie an einer amüsanten Freizeitaktivität teilnahmen, wird der bürgerliche Status jedoch durch die korrekte Kleidung mit weißem Kragen, Krawatte, Hut und Spazierstock, auf die selbst in der Freizeit Wert gelegt wurde, dokumentiert. Vom Werk selbst ist außer einem Gebäude im Hintergrund, das aber kaum wie eine Werkshalle wirkt, nichts zu sehen. Es lässt sich vermuten, dass es sich bei dem für das Gruppenfoto gewählten Ort und der Art, wie die Personen aufgestellt sind, um eine standardisierte Szene handelte, die die

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

276

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Abb. 25: Ein Gruppenfoto der Bergischen Apotheker beim Besuch von Leverkusen (1905) als Referenz des Fabrikbesuchs

Fotografen des Werkes häufiger für die Ablichtung von Besuchergruppen inszenierten. Mit der Fotografie schuf die Fabrik ein Andenken, das, sorgfältig verwahrt und von Zeit zu Zeit wieder betrachtet, half, wie der Vertreter der Bergischen Apotheker in seiner Danksagung an das Unternehmen betonte, „an die hochinteressanten Stunden, die wir Dank Ihrer liebenswürdigen Führung […] verleben durften“,272 bleibend zu erinnern. Die Fotografie offenbart indes nichts, was auf die Vorgänge der Produktion schließen lässt, die die Apotheker wahrscheinlich bei ihrer Besichtigung studiert hatten. Daraus lässt sich ableiten, dass der Wert des Andenkens im Vordergrund stand, statt der Zweck als Gedächtnisstütze für die technische Erkenntnis, die vielleicht durch die Führung vermittelt worden war. Noch stärker als die personalisierten Postkarten lieferte dieses Foto dem Besucher und gegebenenfalls der Besucherin den Beweis, tatsächlich dort gewesen zu sein. Die Reisenden konnten damit ihr erfolgreiches Bestreben, ihre Freizeit sinnvoll zur Weiterbildung zu nutzen, dokumentieren. Das Foto der Besucher272 Halbach an Duisberg, Danksagung Zusendung Foto Besichtigung Apotheker, 07.05.1905, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

277

gruppe aus der Fabrik diente so als Legitimation gegenüber der eigenen Gesellschaftsgruppe und als Distinktionsmittel gegenüber anderen. Doch nicht nur die Tatsache, dass der Fabrikbesuch mit touristischem Begleitmaterial angereichert wurde, kennzeichnete ihn als ein künstliches Ereignis, dessen Aufgabe darin bestand, bestimmte Bedürfnisse der bürgerlichen Akteure zu befriedigen. Eine ebenso eindeutige Sprache sprechen die Begleitumstände, die anzeigen, dass die Besucherinnen und Besucher, so sehr sie auch bereit waren, um des Bildungserlebnisses willen in die Welt der Fabrik einzutauchen, doch nie ihre Bürgerlichkeit ablegten und daher höchst bürgerliche Ansprüche an das Begleitprogramm der Besichtigung stellten, auf die das Unternehmen aus Image-Gründen gerne ungefragt einging: Dies begann bereits bei der Anreise, die bei ausnehmend gern gesehenen Gästen, wie etwa den Kegelbrüdern des Werksdirektors der Firma Bayer, vom Unternehmen organisiert wurde und im Salonwagen erster Klasse stattzufinden hatte.273 Weniger privilegierten Besuchern, wie etwa Schülergruppen, mutete die Firma dagegen bei ihrer Anreise zur Werksbesichtigung schon einmal einen fünfundvierzigminütigen Fußmarsch zu.274 Nachdem sich die Gäste auf die Welt der Arbeit eingelassen, den ersten Schock des Eintritts in die Fabrik überwunden und die mehr oder minder lehrreiche Führung hinter sich gebracht hatten, erfolgte häufig ein Vorgang, der die anfängliche Initiation umkehrte und dem vorwiegend männlichen bürgerlichen Besucher half, die Welt der Arbeit wieder abzustreifen. Er entstieg der Arbeitsstätte, froh, das Tageslicht wiederzusehen. Bisweilen gestaltete das Unternehmen die Führung sogar gezielt so, dass sie auf den Zinnen der Fabrik endete und der Besucher seine Besichtigung mit einem weiten Blick in die Natur abschloss und sich aus der Tiefe der Werkstätte befreit fühlte.275 Dieser Ausgang aus der Fabrik wurde nahezu als Apotheose empfunden, wie der Reporter der Zeitschrift Über Land und Meer nach seinem Weg aus einem Bergwerk schilderte: „Mit heller Freude begrüßen wir das goldige Sonnenlicht, froh, der finsteren Unterwelt entronnen zu sein.“276 Mochte der Eindruck der Vorgänge in der Fabrik noch so interessant, lehrreich und überwältigend gewesen sein, am Ende der Führung kehrte der 273 Vgl. Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Elberfeld am Sonnabend, den 26. März 1904, März 1904, BA, ebd.; Duisberg an Königliche Eisenbahn-Direktion Elberfeld: Antrag auf Sonderwagen und Platzreservierungen für die Teilnehmer der Werksbesichtigung in Leverkusen am 26.03.1904, 22.03.1904, BA, ebd. Die Kosten, die bei einigen Besuchen allein für „Automobil- und Wagenfahrten“ anfielen, erreichten den vierstelligen Bereich. Vgl. Unkosten Fremdenbesuch Leverkusen 1904, 24.05.1905, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 274 Vgl. Duisberg an Recht, Zusage Führung Oberprimaner Realgymnasium Elberfeld, 07.06.1906, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 275 Vgl. AEG, Maschinenfabrik, S. 26f. 276 Becker, Unter Tage, S. 133.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

278

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Bürger gerne in seine eigene Welt zurück. Gegebenenfalls entledigte er sich noch der Schutzkleidung und wusch den Schmutz der Fabrik ab.277 Doch die Annehmlichkeiten gingen über das Gefühl der Rückkehr aus der Unterwelt der Arbeit noch hinaus. Mit einer Zigarre,278 einem Glas Branntwein279 oder ähnlichen Annehmlichkeiten wurde der Fabriktourist zurück in seiner Sphäre begrüßt. Während die Arbeiterschaft in ihrer Lebenssituation gefangen war, entstieg der Bürger den Werkstätten wieder unberührt von Lärm, Hitze und Dreck, vielmehr noch, er richtete sich auf den ‚geselligen‘ Teil der Unternehmung ein. Hierzu gehörte ein ausgedehntes Mahl mit angemessener Unterhaltung, mit dem er sich seines eigenen Status, der dem des gerade besichtigten Arbeiters diametral entgegenstand, rückversicherte. Wie das gastgebende Unternehmen diesen Teil des Fabrikbesuchs jenseits der Führung an sich durch die Produktionsstätten ausgestaltete, hing davon ab, welche Bedeutung die Gäste für das Unternehmen und welchen gesellschaftlichen Status sie innehatten, orientierte sich aber immer an den bürgerlichen Regeln der Gastfreundschaft, am bürgerlichen Lebensstil.280 Selbst schlichtere Menüs bestanden mindestens aus zwei warmen Gerichten. Bei einem einfach zu haltenden Frühstück, so die Anweisung der Direktion, wurden „Fleisch und Braten, Butter und Käse, Kaffee, Zigarren, Wein und Bier“281 serviert. Selbst Schülergruppen wurden mit Erfrischungen und belegten Broten zum Abschluss einer Führung versorgt.282 Ein Frühstück für Besucherinnen und Besucher aus dem gehobenen Bürgertum, deren positiver Eindruck einen größeren Imagegewinn für das Unternehmen bedeuten konnte, bestand dagegen sogar aus sechs Gängen, darunter Kaviar, Schildkrötensuppe, Rehrücken, Hummer, Hühnchen, Spargel, Käse und Erdbeeren.283 Han277 Vgl. ebd. 278 Vgl. Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1006. 279 Vgl. Becker, Unter Tage, S. 133. 280 Vgl. für die bürgerliche Speisekultur Ursula A.J. Becher: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen – Wohnen – Freizeit – Reisen, München 1990, S. 84–93; Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/ New York, NY 1994, S. 119–132. Vgl. allgemein zur Symbolik des Essens, seiner Bedeutung als soziales Distinktionsmittel und seinem Inszenierungscharakter Claudia Schirrmeister: Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur, Bielefeld 2010, S. 105–142. 281 Homann an Friedrich-Alfred-Hütte: Hinweise zur Vorbereitung des Besuchs der Kölner Vereinigung für rechts- und staatswissenschaftliche Fortbildung, 03.11.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2013, 358, 359. 282 Vgl. Duisberg an Schoeler: Einladung Führung Realgymnasium, 27.10.1906, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Duisberg an Recht: Zusage Führung Oberprimaner Realgymnasium Elberfeld, 07.06.1906, BA, ebd. 283 Vgl. Menüfolge für das Frühstück des Vereins deutscher Banken, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 1998, 26.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

279

delte es sich um ein Abendessen für solche Kreise, so gehörte zu jedem Gang noch der passende erlesene Portwein, Sherry, Wein oder Champagner.284 Einen Eindruck von der Pracht dieser Speisen vermitteln die teils handgeschriebenen, teils aufwändig gedruckten Menükarten (vgl. Abbildung 26).285 Die Menükarten dienten zu mehr, als bloß die Art und Reihenfolge der Speisen anzugeben. Mit ihren Verzierungen oder den kunstvollen Handschriften bedeuteten sie den Gästen, dass das Unternehmen keinen Aufwand gescheut hatte, dem Ereignis einen stilvollen, angemessenen Rahmen zu verleihen. Gleichzeitig wurde auch auf diese Weise ein ‚Austrittsritus‘ aus der zuvor besichtigten Lebenswelt der Arbeiterschaft zurück in die bürgerliche Welt zelebriert. Dieser Eindruck setzte sich bei den Speisen selbst fort. Die Kosten für ein solch üppiges Mahl beliefen sich auf etwa 4 Mark pro Person,286 hinzu kam der Aufwand für die Getränke, der häufig noch über dem für das Essen lag.287 Damit gaben die Firmen für die Verköstigung der wichtigeren Gäste pro Kopf eine Summe aus, von der eine sechsköpfige Arbeiterfamilie die Kosten für die Lebensmittel für mehrere Tage bestreiten musste.288 Bei Gruppen von durchschnittlich dreißig bis sechzig Gästen289 bedeutete das einen nicht geringen finanziellen Aufwand für die reine 284 Vgl. Speisenfolge, März 1905, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888– 1908): Der erste Gang bestand aus einer russischen Platte, dazu reichte man Portwein und Sherry. Darauf folgten Schinken in Burgunder mit Sauerkraut, dazu gehörte als Wein ein Wawerner Herrenberger von 1899. Der dritte Gang bestand aus einer jungen Ente mit Salat und Kompott, dazu servierte man einen Schloss Johannisberger von 1893. Zur Gänseleberpastete trank der Besuch Chambertin Nuits und zum Käse-Dessert gehörten Pommery & Greno Sec. Vgl. auch Abb. 26. 285 Vgl. Menüfolge für das Frühstück des Vereins deutscher Banken, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 1998, 26; Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Speisenfolge, [1904], BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 286 Vgl. Menüfolge für Besuch Regierungsangehörige, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 366; Unkosten Fremdenbesuch Leverkusen 1904, 24.05.1905, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 287 Eine Übersicht über die Unkosten des Fremdenbesuchs einer Ministergruppe bei Bayer gibt die Kosten für Wein mit knapp 1.800 Mark an, wobei leider nicht ersichtlich ist, wie groß die Gruppe war. Vgl. ‚Unkosten Fremdenbesuch Leverkusen 1904‘, 24.05.1905, BA, ebd. 288 Vgl. Gerhard A. Ritter: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 507. Ritter geht von einem Jahreseinkommen von knapp 2.000 Mark für eine Arbeiterfamilie mit fünf bis sieben Personen aus, wovon die Hälfte für die Nahrung investiert werden musste. Damit gab eine solche Familie rund 2,70 Mark pro Tag für Lebensmittel aus. 289 Vgl. für die Größe der Besuchergruppen bei der Firma Krupp Welter/Oberrealschule Essen an Firma Krupp, Anfrage Besuch Oberrealschule, 18.03.1905, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2011; Teuwsen an Firma Krupp, Anfrage Besichtigung Kyffhäuserverband, 20.02.1906, ebd., Signatur: WA 4 2014, 81; Daniels an Firma Krupp, Teilnehmerliste für die Besichtigung der Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft in Posen, 21.05.1906, ebd., Signatur: WA 4 2014, 424, 425; Verzeichnis der Teilnehmer an der Besichtigung der Gußstahlfabrik durch höhere Beamten des Land- und Amtsgerichts Essen, 02.05.1906, ebd.,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

280

Die Fabrik als touristische Konstruktion

Abb. 26: Gedruckte Speisenfolge (1905): Sechsgangmenü mit passenden Weinen für eine Gruppe von Fabrikgästen

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

281

Bewirtung. Hinzu kamen die Kosten für den entsprechenden Rahmen des Ereignisses.290 Nichtsdestoweniger waren diese Ausgaben eine eher geringfügige Investition der Firma in ihr gutes Image und lagen keinesfalls über dem Niveau sonstiger bürgerlicher Freizeitgestaltung. Diese Form der Bewirtung nahm mit der Zeit derartige Formen an, dass die Belegschaft der Bayer-Werke sie in späteren Zeiten sogar in dem bereits genannten Spottlied verarbeitete. In der zweiten Strophe wird auf die ausufernde Bewirtung, die von den Gästen eingefordert und vom Unternehmen bereitwillig gestellt wurde, Bezug genommen: „‚Kommt nur herbei, Ihr Völkerscharen/Wir werden Euch durch’s Werk mal fahren!‘/Es steht dann weiter in dem Brief:/‚Wir reichen erst ’nen Aperitif,/ Danach in Anbetracht der schlechten Konjunktur/Ein ganz bescheidenes Mittagessen nur!‘“291 Selbst wenn sich ein schriftliches Zeugnis dieses Liedes erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts findet, so kann doch von einer längeren mündlichen Tradition des Spottes ausgegangen werden, die auf eine kritische Stimmung in der Belegschaft als Reaktion auf die üppige Bewirtung der Gäste zurückging. Umrahmt wurde die repräsentative Mahlzeit durch weitere leibliche und ästhetische Genüsse. Das begann bei den hochwertigen Zigarren, die nach dem Essen gereicht wurden,292 der Dekoration der Räumlichkeiten mit Blumenschmuck oder Lampions,293 und ging bis zum Musikprogramm, das bisweilen vom werkseigenen Orchester gestaltet wurde und unter anderem Stücke aus bekannten Opern beinhaltete.294 Bei spezielSig­natur: WA 4 2014, 321; Verzeichnis der Teilnehmer an der Besichtigung der Gußstahlfabrik durch ehemalige Mitglieder des Kyffhäuserverbandes der Vereine Deutscher Studenten, 08.03.1906, ebd., Signatur: WA 4 2014, 84, 85; Besucherliste Postbeamte, 22.01.1906, ebd., Signatur: WA 4 2014, 24; Danksagung und Teilnehmerliste Besichtigung vom 24.01.1906, 25.01.1906, ebd., Signatur: WA 4 2014, 26-28; Verzeichnis der Teilnehmer an dem Tagesausflug nach Rheinhausen der Cölner Vereinigung für rechts- und staatswissenschaftliche Fortbildung, 07.11.1906, ebd., Signatur: WA 4 2013, 355, 356, 357; Schreiben an Homann, Hinweise zur Führung am 11.09.1906, 11.09.1906, ebd., Signatur: WA 4 2013, 249, 250; Surmann an Direktion, Anfrage Besichtigung Rheinische Provinzial-Lehrerversammlung, 06.02.1906, ebd., Signatur: WA 4 2014, 274, 275; HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Signaturen WA 48, 3.1/157; WA 48, 3.1/169; WA 48, 3.1/158; WA 48, 3.1/152. 290 Vgl. Kapitel 5.2.3.; vgl. Unkosten Fremdenbesuch Leverkusen 1904, 24.05.1905, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 291 Die Besichtigung, [07.12.1951], BA, ebd. 292 Vgl. Unkosten Fremdenbesuch Leverkusen 1904, 24.05.1905, BA, ebd.: Die Kosten bei dem bereits genannten Ministerbesuch für Zigarren und Zigaretten beliefen sich auf rund 350 Mark. 293 Vgl. Homann an Führköller, Planung der Verköstigung zur Führung im Rahmen des Katholikentages in Essen, 08.08.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2013; Unkosten Fremdenbesuch Leverkusen 1904, 24.05.1905, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958): Die Summe für den Blumenschmuck für den Ministerbesuch wird hier mit über 100 Mark beziffert. 294 Vgl. Programm zur Besichtigung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Werk Leverkusen

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

282

Die Fabrik als touristische Konstruktion

len Besuchen, wie dem der Kegelbrüder des Bayer-Geschäftsführers Carl Duisberg,295 war ein weiteres spezifisches Programm möglich, hier in Form einer „Kegelprobe“ mit „Vesperschoppen“296 auf der werkseigenen Kegelbahn, die ansonsten von den höheren Werksbeamten genutzt wurde. Bisweilen nahm das Begleitprogramm zu den Fabrikbesichtigungen sogar die Form einer halboffiziellen Abendgesellschaft an, an der sich die Mitglieder der Fabrikleitung, zum Teil in Begleitung ihrer Gattinnen, beteiligten.297 Der Stil des Treffens war durch die in der Einladung vorgegebene Kleidung gekennzeichnet. Der von den Herren geforderte ‚Reiseanzug‘ unterstrich den tatsächlichen Zweck des Zusammenkommens, die lehrreiche Exkursion, und verlieh dem Ereignis eine ungezwungene Note. Gleichzeitig knüpfte diese Kleidervorschrift an Konventionen des gesellschaftlichen Beisammenseins an.298 Insgesamt handelte es sich bei diesen Gruppenbesuchen um durch und durch ritualisierte Ereignisse. Neben der Besichtigung der Werksanlagen im engeren Sinne, so wird ersichtlich, nahm bei einem Fabrikbesuch bürgerlicher Touristinnen und Touristen häufig ein umfassendes, bürgerlich-repräsentatives Freizeitprogramm einen bedeutenden Raum ein, bei dem bestimmte symbolische Praktiken und ein demonstrativer Konsum eine große Rolle spielten und – so lässt sich vermuten – das Erlebnis in der Fabrik selbst in den Hintergrund treten ließen, wie ein Dankesschreiben einer Gruppe von Jura­ studenten annehmen lässt: „Mein Dank erstreckt sich besonders auch auf die gastfreie Aufnahme und reiche Bewirtung, die Sie uns gewährt haben. In rein frohem Sang konnte der inhaltsreiche Tag so ausklingen.“299 Die Einstellung der Fabrikbesucherinnen und -besucher war entgegen ihrer eigenen Einschätzung als Reisende, die zur Horizonterweiterung Neues erleben wollten, die von Touristinnen und Touristen, die selbst im Unbekannten letztlich das Vertraute suchten und ihren Habitus niemals ablegten durch den Deutschen Verein für den Schutz des gewerblichen Eigentums, 07.09.1907, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Besuch der Mitglieder der Deutschen Bahnhofswirte aus den Bezirken Elberfeld, Essen, Cöln bei der Firma Gebrüder Stollwerck A.G. behufs Besichtigung der Fabrikanlagen am 15. Februar 1906, RWWA, Bestand: 280 – Stollwerck AG, Köln, Signatur: F 5495. 295 Vgl. Kapitel 5.1.2. 296 Duisberg/Bayer, Vorlage Einladung Kegelbrüder, 1904, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 297 Vgl. Rundschreiben an Direktion, Anfrage an Direktorium, sich der Führung der Regierungsmitglieder anzuschließen, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 35; Programm für die Besichtigung der Gußstahlfabrik durch Vertreter der Königlichen Eisenbahndirektionen, 15.02.1907, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2015, 47. 298 Vgl. ebd. 299 Schumacher an Duisberg. Dank für Führung der Bonner Jura-Studenten, 09.02.1908, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Der Ablauf des Fabrikbesuchs

283

Abb. 27: Fotografie anlässlich des Besuchs der Mitglieder der Deutschen Bahnhofswirte aus den Bezirken Elberfeld, Essen, Cöln bei der Firma Stollwerck (1906): Bürgerliche Selbstverortung

beziehungsweise sogar in den fremden Verhältnissen versuchten, sich als noch etwas Besseres zu inszenieren, als sie es eigentlich waren. Das letztgenannte Bestreben ist bei einer Gruppe von Bahnhofswirten und ihren Gattinnen, die die Firma Stollwerck besuchten, und die das Unternehmen bei dem abschließenden Gastmahl im Bild festhielt, besonders augenfällig (vgl. Abbildung 27). Die Fotografie ist von einer erhöhten Perspektive aufgenommen, um eine große Personenzahl, die an sehr langen Tischen ohne Rücksichtnahme auf einen gewissen Freiraum dicht an dicht saß, auf das Bild zu bannen. Dieser Absicht untergeordnet war ebenso die Wahl des Fluchtpunktes des Bildes, er ist zum linken Bildrand hin verschoben, wodurch kein perfekter geometrischer Eindruck des Raumes entsteht, aber die Möglichkeit geboten wurde, einen Großteil der Personen abzulichten. Diese Gestaltungsmerkmale, verbunden mit einer für einen solch langen Raum eher geringen Deckenhöhe und fehlendem Lichteinfall hinterlassen insgesamt einen wenig ästhetischen Raumeindruck. Vielmehr erzeugt die Fotografie trotz der für eine bürgerliche Kaffeetafel üblichen Accessoires wie weißen Tischdecken, edlen Gedecken und Blumenschmuck den Eindruck, einer Massenveranstaltung beizuwohnen. Obwohl es in dieser gedrängten Situation schwierig sein musste, sich

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

284

Die Fabrik als touristische Konstruktion

selbst als Individuum zu begreifen, dem eine besonders zuvorkommende Behandlung zuteilwurde, präsentierten sich die Besucherinnen und Besucher stolz in ihrer besten Ausgehkleidung. Die Damen trugen Spitze, die Herren Krawatten und gepflegte Bärte zur Schau. Daran, dass sich alle Anwesenden der Kamera entgegen reckten und bisweilen um den Preis einer merkwürdig anmutenden Körperhaltung bemüht waren, direkt von der Linse eingefangen werden zu können, lässt sich ablesen, wie wichtig es gerade dieser Berufsgruppe, die eher dem Kleinbürgertum zuzurechnen ist, erschien, ihre Teilhabe an dem Ereignis zu dokumentieren. Für das Kleinbürgertum, so verdeutlicht die Fotografie, bot nicht nur die Besichtigung der Werksanlagen, sondern insbesondere das Begleitprogramm die Möglichkeit, sich selbst als integrativen Teil des Bürgertums zu erleben.300 Dieser demonstrative Charakter der Handlungen rund um den Fabrikbesuch deutet darauf hin, dass die Besichtigung der Werksanlagen an sich ebenfalls lediglich einen demonstrativen Charakter hatte, den Charakter demonstrativ genutzter Freizeit, der zur Identitätsbildung beitragen konnte.

300 Auf die Bedeutung des bürgerlich konnotierten Begleitprogramms, z.B. „gemütliches Beisammensein und Tanz“, für die Bewertung des Fabrikbesuchs als gelungene Freizeitgestaltung verweist etwa Lauterbach, Angestelltenkultur, S. 128, vgl. auch ebd., S. 104.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

285

Erlebnisse in der Fabrik

6. Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis 6.1. „Das Leben und Treiben in den Fabriken macht einen eigenartigen Eindruck, doch lohnt es sich, ihm einen Augenblick zuzusehen“:1 Erlebnisse in der Fabrik

Wer die Fabrik, wie bereits festgestellt, nicht als Produktionsstätte, sondern als touristische Attraktion sah, gab auch den Vorgängen in ihrem Innern einen neuen Sinn. Worin bestand dieser neue Sinn? Als was nahmen Touristinnen und Touristen den Fabrikraum wahr? Wozu diente die neue Wahrnehmung? Sofern sich die Forschung überhaupt mit der Besichtigung von Produktionsstätten als Freizeitaktivität beschäftigt hat, hat sie bisher noch kaum Hinweise gefunden, was bei einer solchen Besichtigung auf welche Art und Weise vermittelt wurde.2 Um die Fabrik als mentalen Wissensraum zu begreifen, durch dessen Durchmessen man sich definierte und von anderen unterschied, sollen im Folgenden die Erlebnisse und Blickpraktiken bei einer Besichtigungstour durch die industriellen Betriebe rekonstruiert und analysiert werden. Als Basis für die Ausführungen dienen vorwiegend die Schilderungen der Fabrikreportagen aus Illustrierten Zeitschriften oder aus veröffentlichten Reiseberichten, da diese den größten Fundus an Aussagen über die Erlebnisse in der Fabrik bieten. Wie die Analyse der Durchführung und des Ablaufs der Führungen durch die Werkstätten der Unternehmen dargelegt hat, ging es bei dem Erlebnis in der Fabrik nicht vorrangig darum, ein bis ins Detail gehendes Verständnis für die Vorgänge zu schaffen.3 Was nicht-fachkundige Besucherinnen und Besucher daher letztlich erleben konnten, waren die Faszination des Produktionsprozesses und des fertigen Produkts als seinem Ergebnis sowie die der Akteure der Produktion, also der Maschine und der Arbeiterschaft.

6.1.1. Faszination Produktion

Die Eindrücke, die die Touristinnen und Touristen vom Herstellungsprozess in der Fabrik sammelten, und die eingingen in die Reportagen der illustrierten Zeitschriften oder ihren Niederschlag in gedruckten Fabrikführern oder Postkarten fanden, oszil1 2 3

Max Peregrinus: Lachsfang und Lachsindustrie an der pazifischen Küste, in: Über Land und Meer, Jg. 48, Bd. 96, Nr. 43, 1905/1906, S. 1048f., hier S. 1048. Vgl. z.B. Burkhart Lauterbach: Angestelltenkultur. „Beamten“-Vereine in deutschen Industrieunternehmen vor 1933, Münster/New York, NY/München/Berlin 1998, S. 126. Vgl. Kapitel 5.2.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

286

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

lieren zwischen zwei Polen, die sich mit den Schlagworten ‚Chaos‘ und ‚Ordnung‘ grob umschreiben lassen. Einerseits nahmen die Gäste den Fertigungsablauf als etwas Geheimnisvolles wahr, denn dessen Gesetzmäßigkeiten erschlossen sich nicht sofort, er erschien daher als ungeordnet und regellos. Genau darin bestand jedoch seine Faszination. Andererseits wandelte sich die vermeintliche Regellosigkeit bei näherer Betrachtung, häufig dank lehrreicher Erläuterungen, zu einem geordneten, sinnvollen Ablauf, den es zu erkunden galt. Sowohl aus dem erhabenen Anblick des als mystisch erfahrenen Fertigungsablaufs als auch aus der vermeintlich lehrreichen Erkenntnis des geordneten Produktionsprozesses konnte die Fabrikbesucherin oder der Fabrikbesucher ein touristisches Erlebnis in dem Sinne ableiten, dass sie oder er den Vorgang der Produktion seiner tatsächlichen Bedeutung, der Wertschöpfung zur Gewinnerzielung, entkleidete und ihn stattdessen für die eigenen Bedürfnisse der Unterhaltung und Belehrung umdeutete. Der Blick auf eine Vielzahl von Menschen, die sich nach keiner zu erkennenden Ordnung im Raum verteilten und Arbeiten ausführten, die in keinem Zusammenhang zu stehen schienen, und auf die Bewegung verschiedener Maschinen, deren Zweck sich dem ‚Fremden‘ nicht erschloss, bestimmte den Eindruck der Abläufe in der Fabrik als chaotisch. Solch ein Eindruck war tief verwurzelt in der Wahrnehmung der Fabrik, wie ein in der Illustrirte[n] Zeitung bereits im Jahr 1848 abgedruckter Holzstich dokumentiert. Die Abbildung, die im Übrigen in den Folgejahren vom Unternehmen selbst in verschiedenen Formaten, etwa als Postkarte, genutzt wurde,4 bot einen Blick in eine Werkshalle der Firma Borsig, in der Lokomotiven gefertigt wurden (vgl. Abbildung 28).5 Erstellt aus einer leicht erhöhten Position lenkte die Zeichnung den Blick des Betrachters entlang langer Fensterfronten in die Tiefe des Raumes. Diese ist gefüllt von Menschen, die vermutlich in verschiedenen Arbeitsvorgängen unterschiedliche Werkstücke bearbeiteten. Details sind jedoch nicht auszumachen. Aufgrund der Größe der Halle und der Position, die den Betrachtenden vorgegeben wird, verlaufen die Aspekte ab dem Bildmittelgrund ineinander. Tätigkeiten, Abläufe, die Zahl der Personen und mögliche Hierarchien zwischen ihnen sind nicht genau zu erkennen. Die Geschehnisse 4

5

Der ursprüngliche Holzstich wurde – wohl im Auftrag der Firma – 1848 von Peter Habelmann gefertigt, vgl. Peter Habelmann: Der Zusammensetzungssaal in Borsig’s Maschinenbauanstalt, Holzstich, Berlin 1848, SDTB, Bestand: V. – Bildersammlung, Signatur: V. 3. B 0157. Im gleichen Jahr wurde er dann in der Illustrirte[n] Zeitung abgedruckt, vgl. ders.: Der Zusammensetzungssaal in Borsig’s Maschinenbauanstalt, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 10, Nr. 244, 04.03.1848, S. 149, und in der Folge vom Unternehmen selbst beispielsweise in postkarten-ähnlicher Form gedruckt, vgl. ders.: Der Zusammensetzungssaal in Borsig‘s Maschinenbauanstalt, Holzstich, Berlin o.J., SDTB, Bestand: VI.1.004 – Fotosammlung Borsig, Signatur: VI.1.004 J 3308. Vgl. auch Gußstahlfabrik Essen – Tiegelguß im Schmelzbau, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/11.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

287

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 28: „Der Zusammensetzungssaal in Borsig’s Maschinenbauanstalt“: Komplexe Produktionsvorgänge für die Betrachtenden gebündelt

in den Tiefen der Halle liegen gleichfalls von der Beleuchtung her im Dunkeln, was der realen Situation in der Fabrikhalle insofern widersprochen haben dürfte, als diese durch die durchgehenden Fensterreihen eigentlich gleichmäßig mit Tageslicht hätte versorgt werden müssen. Dadurch verschwimmen die Menschen, Werkstücke und die Halle, die als einzige Begrenzung dient, ebenfalls zu einer Masse. Der Lichteinfall in der Zeichnung konzentriert sich vorwiegend auf den Vordergrund. Lediglich dort sind durch die größere Nähe zum Standpunkt des Betrachtenden und mehr Helligkeit Details zu erkennen. Zehn Personen führen hier unterschiedliche Aufgaben an klar zu erkennenden Arbeitsstücken aus, das Zusammenspiel der Arbeitsschritte erschließt sich den Betrachtenden jedoch trotz der größeren Detailschärfe auch hier nicht ohne Weiteres. Einige der Werkstücke liegen oder stehen unberücksichtigt im Raum, andere werden von den Arbeitern getragen oder in irgendeiner Form bearbeitet. Wäre nicht die halbfertige Lokomotive im rechten Bildvordergrund platziert, ließe sich nicht einmal erkennen, was produziert wurde. Die Zeichnung spiegelt somit einen der möglichen Eindrücke zeitgenössischer Besucherinnen und Besucher, die eine Fertigungshalle aus dieser oder einer anderen Perspektive, beispielsweise auf Augenhöhe mit den Arbeitern, betrachteten, und die Geschehnisse darin erst einmal als regelloses Durcheinander wahrnahmen. War diese frühe Darstellungsweise der Arbeitsvorgänge in der Maschinenbauanstalt von Borsig um die Mitte des Jahrhunders auch noch auf die realen Fertigungsbedingungen vor Ort zurückzuführen, wo die Einzelanfertigung im Gegensatz zu

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

288

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

später stärker durchrationalisierten Arbeitsprozessen noch verschiedene Arbeitsschritte nebeneinander nötig machte,6 so wählten folgende Darstellungen unter anderem Arbeitsprozesse, die aus ihrer Natur heraus auf den ersten Blick wenig durchschaubar erschienen und griffen damit die ältere Darstellungstradition auf (vgl. Abbildung 29).7 Im Bild der Illustrirte[n] Zeitung aus einem Thomasstahlwerk ist der Prozess der Stahlherstellung zu sehen. Um den Produktionsvorgang als aufsehenerregenden Moment zu inszenieren, wurde der glühende Stahl in der Original-Abbildung als einziges Bildelement farbig dargestellt, womit er sich von der sonst in Grautönen gehaltenen Umgebung der Werkshalle abhebt. Mehrere Arbeiter begleiten den Prozess mit verschiedenen Handreichungen ebenso wie als Beobachter aus sicherer Entfernung. Für den branchenfernen Betrachtenden des derart dargestellten Prozesses erschloss sich der genaue produktionstechnische Ablauf nicht, stattdessen stand die Wirkung des Elements Feuer im Mittelpunkt, zu dem die Arbeiter den Kontrast abgaben. Statt technische Abläufe in den Vordergrund zu stellen, spielte die Darstellung auf die Tradition des Erhabenen in der Malerei mit dem Spiel von Licht und Schatten an.8 Sprachlich konnten die Autoren die Erfahrung der Erhabenheit der Vorgänge, die sie ihrem Lesepublikum vorgaben, häufig nur mithilfe von Vergleichen fassen. Der Fluss von Roheisen erinnerte sie an „den Ausbruch eines Lavastromes aus einem Vulkan“9 und der Blick in einen Zementbrennofen ließ vermuten, wie es „wohl im Innern unserer Erde ausschauen“10 würde. In Sprachbildern wie diesen standen Naturgewalten 6

Vgl. Dieter Vorsteher: Borsig. Eisengießerei und Maschinenbauanstalt zu Berlin, Berlin 1983, S. 121. 7 Vgl. auch die Abbildung Das Bessemer-Werk, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2471, 08.11.1890, S. 504f.; Abbildung Das Walzen einer Panzerplatte, in: Über Land und Meer, Jg. 46, Bd. 93, Nr. 33, 1903/1904, S. 750; Abbildung Auswalzen einer großen Panzerplatte, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3142, 17.09.1903, S. 429; Abbildung Gießhalle in den Ueckinger Werken, in: ebd., Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. IVf. (gesonderte Paginierung). Vgl. über die Abbildungen in Zeitschriften hinaus auch verschiedene Motive aus der Postkartenmappe der Firma Krupp: Otto Bollhagen: Gußstahlfabrik Essen – Panzerbearbeitungswerkstatt, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/13; ders.: Gußstahlfabrik Essen – Panzergießerei, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, ebd.; ders.: Gußstahlfabrik Essen – Preßbau II (Innenansicht), Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, ebd.; ders.: Gußstahlfabrik Essen – Stahlformerei mit Martinwerk VI, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, ebd.; ders.: Grusonwerk – Stahlgießerei, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, ebd.; ders.: Friedrich Alfred-Hütte – Schienenwalzwerk, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, ebd.; ders.: Gußstahlfabrik Essen – Tiegelguß im Schmelzbau, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, ebd. 8 Den Zusammenhang zwischen der Art, Technologie bildlich darzustellen, und der Abbildung erhabener Naturschauspiele in der Malerei seit der Romantik stellt insbesondere David E. Nye heraus, vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 127. Vgl. hierzu auch Kapitel 4.1.1. 9 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 498. 10 Oskar Meyer-Elbing: Portland-Cement-Fabrik Dyckerhoff & Söhne G.m.b.H. in Amöneburg bei

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

289

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 29: „Thomasstahlwerk in Neunkirchen“ (1901, Original z.T. farbig): Die Erhabenheit des Anblicks bei der Stahlherstellung

Pate für die Beschreibung der Prozesse in der Fabrik. Häufig lehnten sich die Darstellungen außerdem an mythologische Schilderungen an. Die Hammerwerke eines Herstellers von Panzerplatten gewährten, so der Reporter, „einen titanenhaften Eindruck“, die angeschlossenen Walzwerke seien „moderne[ ] Werkstätten des Hephaistos“ und ein großer, frisch einem Schmelzofen entnommener Block glühenden Metalls „ähnelt mehr einem aus der Tiefe des Vulkans geschleuderten Gebilde der Unterwelt.“11 Akustische Eindrücke verstärkten die Empfindungen von Verwirrung und Erstaunen, wie Zeitschriftenreportagen meist betonten. Die mannigfachen Klänge, das „sich mehr und Biebrich a.Rh., in: Illustrirte Zeitung, Bd. 138, Nr. 3586, 21.03.1912, S. 49–52, hier S. 50 (gesonderte Paginierung). 11 Hermann Albrecht: Neues Verfahren bei der Herstellung von Panzerplatten, in: ebd., Bd. 121, Nr. 3142, 17.09.1903, S. 429f., hier S. 429. Vgl. für ähnliche Schilderungen I. Castner: Das Grusonwerk und seine Hartgußerzeugnisse, in: Über Land und Meer, Jg. 37, Bd. 47, Nr. 21, 1894/1895, S. 462f., hier S. 462; Gerd von Bassewitz: Aus den kruppschen Werken, in: Die Gartenlaube, Nr. 14, 1909, S. 294–298; Adolf Palm: Die Familie Krupp, in: Über Land und Meer, Jg. 39, Bd. 77, Nr. 16, 1896/1897, S. 267–270, hier S. 267.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

290

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

mehr steigernde Geräusch, das Hämmern, Dröhnen, Klingen und Tosen eines gewaltigen Betriebes“,12 die durch „Klopfen, Hacken, Schneiden, Schaben und Quetschen entstehenden Töne“13 steigerten sich zu einem als „Chaos“14 empfundenen Lautensemble, das der in solchen Betrieben der Schwerindustrie zumeist männliche Besucher bisweilen kaum zu verarbeiten vermochte, da es sich nicht in einzelne Geräusche aufgliedern und so die jeweilige Ursache bestimmen ließ.15 Das Gefühl, sich mitten in diesem Chaos zu befinden, schilderte der Reporter der Zeitschrift Über Land und Meer mit folgenden Worten: „Hier in den weiten, hallenartigen Parterreräumen, in denen naturgemäß alle Arbeiten zur Ausführung gelangen, welche die Aufwendung größerer Gewalt erfordern, finden wir Herd an Herd, und überall strecken sich uns glühende Eisenstangen entgegen, so daß wir uns kaum noch einen Weg bahnen können. Wir bücken und ducken uns, aber bald wieder geraten wir in einen dichten Funkenregen, der sehr anmutig zu schauen, aber doch nicht ganz ungefährlich erscheint. Wir ergreifen die Flucht, um friedlicheren Stätten unsre Aufmerksamkeit zuzuwenden.“16 Begab sich ein Gast hinein in dieses Chaos, war kein einfaches Durchkommen mehr möglich, da die Gegebenheiten des Produktionsprozesses keine Rücksicht auf die Betriebsfremden nahmen. Was im Rahmen der Produktion geboten und zielführend war, in einer Schmiede beispielsweise die Bearbeitung glühender Eisenstangen an heißen Essen, die dicht an dicht den Raum der Werkshalle optimal ausnutzten, wirkte auf den außerhalb dieses Prozesses stehenden ‚Fremden‘ wie eine Bedrohung. Gleichzeitig, so belegen die Worte des Reporters, wirkte diese Gefahr anziehend. Er musste sich gegen die Umstände behaupten, musste sich einen Weg durch das gefahrvolle Chaos bahnen. Eine gewisse Lust an der Gefahr, an dem eigentlich Abstoßenden, lässt sich aus den Worten des Reporters herauslesen. Eine Flucht aus der direkten Konfrontation war letztlich nötig, der Schritt aus dem Chaos heraus, sowohl um die eigene Sicherheit zu gewährleisten, als auch um die Gesamtheit des Prozesses in sich aufzunehmen, seine ästhetischen Dimensionen zu fassen 12 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 493. 13 Karl Doménigg: In einer Bozener Konservenfabrik, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, Nr. 25, 1900, S. 599–601, hier S. 600. 14 Ebd. 15 Vgl. G. Hoffmann: Die Kaiserliche Werft in Kiel, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2962, 05.04.1900, S. 478–485, hier S. 479. 16 Fred Hood: Deutsche Schmiedekunst, in: Über Land und Meer, Jg. 40, Bd. 80, Nr. 50, 1897/1898, S. 803–805, hier S. 804.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

291

Erlebnisse in der Fabrik

und die Zusammenhänge zu durchschauen. Nur aus sicherer Ferne ließ sich das Ereignis, fast wie in einem gerahmten Ausschnitt, als (be-)merkenswertes Bild aufnehmen, womit diese Schilderungen ganz der gängigen Praxis der illustrierten Zeitschriften der Zeit entsprachen, sprachlich ebenfalls für Eindrücke einen Betrachtungsrahmen bereitzustellen, innerhalb dessen eine Situation bildhaft nahegebracht wurde.17 Durch diese Rahmung entwickelte das Ereignis sich zu einem „Schauspiel von eigenthümlicher und in seiner Weise großartiger Schönheit.“18 Nicht nur die Position der Betrachterinnen und Betrachter, ob in der Fabrik selbst oder lesend im heimischen Sessel, war damit genau vordefiniert, sondern zugleich die Empfindung als ästhetisch ansprechend. Das Erlebnis des Produktionsprozesses, so wie es die Darstellungen in Reportagen aus der Fabrik vermittelten, wies somit Züge einer Inszenierung auf, indem für die Besucherinnen und Besucher von vornherein festgelegt wurde, welche Positionen sie einnehmen, welche Handlungen sie vollziehen und welche Empfindungen sie dabei verspüren sollten. Die Fabriktouristinnen und -touristen, ob als Lesepublikum oder als Menschen vor Ort, füllten eine festgelegte Rolle aus. Diese Rolle war vergleichbar mit der der alpinen Tourismusgruppen, die die vorgefertigte Erhabenheit des Gebirges (nach-)erlebten. Mit dem Schritt zurück, mit dem sich die Betrachterin oder der Betrachter von der Gewalt des ersten Eindrucks im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne distanzieren konnte, bestand dann die Möglichkeit, das Erleben des Produktionsprozesses auf eine weitere Weise zu interpretieren, nämlich als standardisierten, nachvollziehbaren Fertigungsablauf. Das Erleben des Chaos trat in dieser Interpretationsweise, die im Folgenden näher untersucht werden soll, zugunsten der Erkenntnis der Regelhaftigkeit und Ordnung des Herstellungsprozesses zurück. Die industrielle Fertigung hatte sich in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, angestoßen durch die Textilindustrie, zunehmend zur Massenproduktion entwickelt, die ab den achtziger Jahren nach amerikanischem Vorbild durch Linienfertigung und Serienproduktion, also stark normierte Prozesse, gekennzeichnet war.19 Hierauf baute die touristische Interpretation der Produktion unter anderem auf. Die Linienfertigung brachte eine Anordnung der Produktionsstätten und Betriebseinrichtungen mit 17 Vgl. Joachim Schöberl: „Verzierende und erklärenden Abbildungen“. Wort und Bild in den illus­ trierten Familienzeitschriften des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel der Gartenlaube, in: Harro Segeberg (Hrsg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films, Bd. 1), S. 209-233, hier S. 223. Vgl. auch Kapitel 2.3.3. 18 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 498; vgl. eine ganz ähnliche Wortwahl bei von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 298, der von einer „hinreißende[n] Poesie und Schönheit“ des Produktionsvorgangs spricht. 19 Vgl. Habbo Knoch: Das Stahlwerk, in: Alexa Geisthövel/ders. (Hrsg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York, NY 2005, S. 163–173, hier S. 168–170.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

292

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

sich, die sich an dem günstigsten Materialfluss ausrichtete. Die Serienproduktion beinhaltete die Herstellung hoher normierter Stückzahlen.20 Die Massenfertigung betraf damit die räumliche Anordnung der Anlagen und den Aufbau der einzelnen genormten Arbeitsschritte gleichermaßen. Diese beiden Aspekte waren es, die den Besucherinnen und Besuchern der Fabrik besonders ins Auge stachen oder stechen sollten.21 Wie schon beschrieben versuchten die Reportagen von Werksbesuchen aus Zeitschriften ebenso wie viele Fabrikführer, das für den Laien unübersichtliche und verwirrende Geschehen zu ordnen, indem sie bestimmte Sichtweisen vorgaben. „Das Leben und Treiben in den Fabriken macht einen eigenartigen Eindruck, doch lohnt es sich, ihm einen Augenblick zuzusehen.“22 Mit diesen Worten leitete ein Reporter der Zeitschrift Über Land und Meer seinen Bericht von den Vorgängen in einer Fischfabrik im Jahr 1906 ein. Der „Eindruck ungestümer, rasender Thätigkeit“ werde, so stellte in dieselbe Richtung argumentierend die Reportage der Zeitschrift Die Gartenlaube aus einem Stahlwerk bereits 1883 fest, durch „wenige Minuten der Beobachtung“ in die Überzeugung verwandelt, „dass alles zu einem endlichen, wohldurchdachten Ziele führt.“23 Mit einem solchen ‚Augenblick‘ Abstand betrachtet, erschloss sich auch der Blick in die Maschinenbauanstalt der Firma Borsig (vgl. Abbildung 28): Sah man von der im Hintergrund verschwimmenden Masse von Arbeitern und Fertigungsschritten ab und lenkte den Blick auf den Vordergrund, so ließ sich erkennen, dass jede der im Vordergrund scharf skizzierten Personen zielgerichtet einer bestimmten Aufgabe 20 Vgl. Christian Kleinschmidt: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 79), München 2007, S. 23. 21 Dieses Interesse an Arbeits- und Fertigungsprozessen zeigte sich bei der Leserschaft illustrierter Zeitschriften nicht nur im Rahmen einer Reportage aus einer Fabrik, sondern auch bei nicht-industriellen Produktionsprozessen. Häufig handelte es sich dabei jedoch bereits um arbeitsteilige Herstellungsprozesse, die entweder im Rahmen von Heimarbeit oder in einer Manufaktur ausgeführt wurden. Vgl. z.B. Das Porzellan und seine Herstellung, in: Die Gartenlaube, Nr. 31, 1912, S. 660–664; Hans Dominik: Vom Meerschaum, in: ebd., Nr. 21, 1910, S. 444–446; A. Trinius: Aus der Heimat der Puppen, in: Illustrirte Welt, Jg. 40, Nr. 12, 1892, S. 287–289; Die Puppenstadt, in: ebd., Jg. 44, Nr. 11, 1896, S. 263–265; Die Korallenindustrie in Italien, in: Das Buch für Alle, Jg. 31, H. 1, 1896, S. 22, 25; Die Konservierung der Sardinen, in: ebd., Jg. 42, H. 14, 1907, S. 311–314; Die Fabrikation von Flaschen und Vasen aus flüssigem Glas, in: ebd., Jg. 46, H. 9, 1911, S. 202–204. Obschon in diesen Artikeln bereits die Arbeitsprozesse, insbesondere die arbeitsteilig ausgeführten, detailliert geschildert wurden, hatte der Produktionsprozess, den die Fabriktouristinnen und -touristen erleben konnten, noch insofern einen etwas anderen Charakter, als hier die Normierung, sowohl in zeitlicher Perspektive als auch bezüglich des Produkts, noch nicht die Herstellung dominierte. Attestiert wird die Anziehungskraft von uniformen Reihen gleichartiger Maschinen und hoher Stückzahlen von Produkten auch für die Besichtigung von Fabriken in den USA im 19. Jahrhundert, vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 114f. 22 Peregrinus, Lachsfang und Lachsindustrie an der pazifischen Küste, S. 1048. 23 Ein Triumpf deutscher Kriegsindustrie, in: Die Gartenlaube, Nr. 13, 1883, S. 207–211, hier S. 209.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

293

Erlebnisse in der Fabrik

nachgeht. Am linken Rand des Bildes befinden sich die Einzelteile, die in der Bildmitte weiterverarbeitet und schließlich rechts im Bild zur fertigen, glänzenden Lokomotive montiert werden. Mit der Abbildung der verschiedenen Stufen der Produktion chronologisch von links nach rechts machte sich der Holzstich die bei europäischen Betrachterinnen und Betrachtern automatisierte Lese- und Schaurichtung zunutze, und führte so, ohne dass es weiterer Erläuterungen bedurfte, auf einem statischen Bild einen Prozess vor Augen. Diese Inszenierung stellte den Produktionsvorgang für die Betrachtenden in den Mittelpunkt der Zeichnung. Aus dem vermeintlichen Chaos der Arbeitermassen schälte sich bei genauerem Hinschauen der sinnhafte Vorgang der Fertigung heraus. Dasselbe Ziel, dem Lesepublikum ein Bild davon zu vermitteln, wie sich die Waren vom Ausgangsmaterial bis hin zum fertigen Produkt entwickelten, verfolgten zudem die Schilderungen der illustrierten Zeitschriften, indem sie ihre Reportagen wie einen virtuellen Gang durch die Fabrik konstruierten. Damit griffen sie auf ein generelles Grundmuster ihrer Berichterstattung zurück, Ereignisse und Sachlagen in Szene zu setzen, indem diese in einzelne Bilder zerlegt und dann aneinander gereiht wurden, wodurch sie für die Leserschaft leichter überschaubar erschienen.24 Gleichgültig um welches Produkt es sich handelte, schilderten derart angelegte Fabrikreportagen den Herstellungsprozess zumeist in allen seinen Teilen minutiös. Die Darstellung der Herstellung künstlicher Zähne umfasste die detaillierte Beschreibung der Zerkleinerung der Ausgangsstoffe Feldspat, Quarz und Kaolin in verschiedenen Durchgängen und mit immer feineren Werkzeugen, die Vermischung dieser Stoffe und den komplizierten Bau des künstlichen Zahnes.25 Bisweilen geriet die Schilderung des Produktionsprozesses in Reportagen oder in gedruckten Führern sogar viel detaillierter, als er tatsächlich bei einem Fabrikbesuch wahrgenommen werden konnte, indem sie mit technischem Hintergrundwissen bis auf das Äußerste angereichert wurde.26 Die Lektüre einer Fabrik­ 24 Vgl. Schöberl, „Verzierende und erklärenden Abbildungen“, S. 223. Vgl. Kapitel 2.3.3. 25 Vgl. Die Fabrikation künstlicher Zähne, in: Das Buch für Alle, Jg. 49, H. 18, 1914, S. 399. Vgl. beispielsweise auch Kohlenwäsche, in: ebd., Jg. 42, H. 13, 1907, S. 295f.; Die Gothaer Waggonbau-Industrie, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 134, Nr. 3478, 24.02.1910, S. 30–33, hier S. 30 (gesonderte Paginierung); Gutehoffnungshütte (Hrsg.): Die Betriebe der Gutehoffnungshütte, Oberhausen 1913, S. 22, RWWA, Bestand: 130 – Gutehoffnungshütte Aktienverein (GHH), Oberhausen, Signatur: 130, 2204. 26 Vgl. die Schilderung der Produktionsvorgänge in der Starkstromkabel-Fabrik, AEG (Hrsg.): Kabelwerk Oberspree, Berlin 1913, S. 14–18, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: I.2.060 P 7019; vgl. die Beschreibung der Vorgänge beim Maschinenbau, Maschinenbauanstalt Humboldt (Hrsg.): Führer durch die Maschinenbau-Anstalt Humboldt. 60 Jahre technische Entwicklung 1856–1916, [Köln 1919]; vgl. die Angaben zur Herstellung von Bronze, G. Klaussen: Die Bronze in der plastischen Kunst, in: Die Gartenlaube, Nr. 22, 1898, S. 364–366, hier S. 365.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

294

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

reportage – und natürlich noch vielmehr der tatsächliche Besuch – bot die Möglichkeit, an einer Inszenierung von technischer Bildung teilzunehmen. Die Lektüre führte ein Wahrnehmungsmuster ein, auf das das Bürgertum in der tatsächlichen Besichtigungssituation zurückgreifen konnte. Eine solche ordnende Absicht der Reportagen schloss bisweilen mit ein, den Fertigungsprozess regelrecht zu einer Narration zu machen, der gegebenenfalls sogar der Vorzug gegenüber den realen Umständen eines Fabrikbesuchs zu geben sei. Es war das erklärte Ziel, „das Vielseitige und Interessante hübsch der Reihe nach zu ordnen“,27 wobei diese Ordnung nicht der tatsächlichen räumlichen Anordnung der Produktionsprozesse im geografischen Raum der Fabrik entsprechen musste.28 Bildkollagen, die in einer Zusammenschau die einzelnen Fertigungsprozesse skizzierten, unterstützten das Verständnis der Abläufe in der Fabrik. Die Zeichnungen umrissen die einzelnen Arbeitsprozesse und stellten durch die Aneinanderreihung der Skizzen einen Gesamtzusammenhang des Produktionsablaufs her, wobei nicht die vielleicht unüberschaubar oder hektisch wirkende reale Situation der Produktionsvorgänge als Vorlage diente, sondern die Arbeitsvorgänge exemplarisch vorgestellt wurden, wie beispielsweise in einer Abbildung der Zeitschrift Das Buch für Alle aus dem Jahr 1892 über „Die Papierfabrikation“ (vgl. Abbildung 30).29 Die Bildfolge griff mit ihrer sorgfältigen Darstellung und Beschriftung der Prozesshaftigkeit von Arbeitsvorgängen eine Darstellungskonvention auf, die seit dem umfassenden Werk der Aufklärung, der Encyclopédie von Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert, verbreitet war.30 Die Anordnung der Bilder entsprach der üblichen Lese­richtung, nach der das Ausgangsprodukt links oben, das fertige Produkt rechts unten auf der Zeitschriftenseite erscheint. Gut sichtbar sind Maschinen und deren grobe Funktionsweise abgebildet, Rohstoffe, Zwischenprodukte und Erzeugnisse illustrieren den Vorgang ebenso wie Arbeiter. So leitet in der ersten Szene ein Arbeiter eine zähflüssige Masse aus einer großen Trommel; in der zweiten Szene überwacht ein anderer eine langgezogene offene Apparatur, die eine Endlosbahn eines dünnen, leicht zu biegenden Materials auf Rollen aufwickelt, eine Arbeiterin unterstützt diesen Vorgang. Die weiteren szenischen Abbildungen folgen diesem Muster: Ein oder zwei Arbeiter gehen exemplarisch mit einer Zwischenstufe des Produktes 27 Ein Gang durch die Ankerwerke A.G, in: Deutsche Nähmaschinen-Zeitung, Jg. 47, 15.11.1922, S. 3. 28 Vgl. Freiherr von Beaulieu-Marconnay: Das Heizwerk in Jena, in: Westermann’s illustrierte deutsche Monatshefte, Jg. 47, Bd. 92, 1902, S. 759; vgl. Kapitel 5.2.2. 29 Vgl. über die genannten Abbildungen hinaus auch Die Wiener Molkerei, in: Das Buch für Alle, Jg. 38, H. 19, 1903, S. 423; Die Wiener Wurstwaaren-Fabrikation im Großen, in: ebd., Jg. 25, H. 21, 1890, S. 512; Abbildungen Ziehen, Ausstanzen und Ausglühen der einzelnen Spielwaren, Drehen der Cylinder, Montieren der Spielwaren, in: Illustrirte Welt, Jg. 49, Nr. 12, 1901, S. 289. 30 Vgl. zur Bildsprache der Encyclopédie und ihrer Bedeutung Kapitel 2.3.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

295

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 30: „Die Papierfabrikation“ (1892): Arbeit als Prozess

an einer Maschine um, ihre Aufgabe ist zwar ohne weitere Erläuterungen nicht ganz genau zu definieren, aber doch so detailliert wie möglich dargestellt. Die Absicht, den Arbeitsvorgang exemplarisch vorzustellen, führte in den Abbildungen des Buch[s] für Alle sogar so weit, dass das Innere einer Maschine im Querschnitt gezeigt wurde, also eine Situation, die in der realen Fertigung gar nicht möglich gewesen wäre. Abgeschlossen wurde die Bilderserie durch eine Übersicht über den Verpackungsvorgang, wobei hier gleichzeitig noch die Serienfertigung eine Rolle spielte, da mehrere Arbeiterinnen abgebildet sind, die zeitgleich dieselbe Arbeit verrichten. Die Bildunterzeilen benannten die Stationen der Fabrikation und sorgten abschließend für eine klare Einsicht in den Prozess der Papierherstellung, indem sie den Namen der jeweils eingesetzten Maschine, beispielsweise den „Querschnitt einer Papiermaschine“, oder den Ort des Produktionsschritts, beispielsweise den „Sortirsaal“, angaben.31 Der Prozess wurde auf diese Weise so transparent wie möglich gestaltet. Es handelte sich nicht um die möglichst impressionistische Wiedergabe der Realität, sondern um eine exemplarische Inszenierung der Arbeitsschritte der Linienfertigung, die vorrangig das Verständnis des ‚Sesselreisenden‘ für den Vorgang fördern sollte. Gleichzeitig bekamen die bürger31 Die Papierfabrikation, in: Das Buch für Alle, Jg. 27, H. 14, 1892, S. 337.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

296

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

lichen Betrachtenden in den ihnen vertrauten Mustern von Ordnung und Symmetrie das Gefühl vermittelt, eine gewisse Art von Kontrolle über diesen komplexen Vorgang zu erlangen. Die Bildserie griff im Übrigen eine geschlechtsspezifische Verteilung der Arbeiten auf, indem sie Arbeiter im Stehen die entscheidenden Tätigkeiten im Produktionsprozess ausführen ließ, während Arbeiterinnen im Sitzen nachgeordnete Arbeiten ausführten. Hier offenbarten sich bereits Ansätze für die in der Zeit der Weimarer Republik ausgeweitete Praxis, bevorzugt Frauen in der Fließbandarbeit einzusetzen, da ihnen eine geringere Monotonieempfindlichkeit zugeschrieben wurde, eine Behauptung, die sich bis in die neunzehnhundertsiebziger Jahre hielt, ohne dass sie empirisch überprüft worden wäre.32 Die Zerteilung in einzelne Arbeitsvorgänge und deren automatisierte Durchführung, sei es durch den Menschen oder die Maschine, faszinierte umso mehr, so lässt sich annehmen, je weniger die Leserschaft einen solchen Herstellungsprozess hinter einem Produkt vermutete. Die große Anzahl von Reportagen über die Verarbeitung von Tieren als Lebensmittel mit ihren detaillierten Schilderungen des Tötens und Weiterverarbeitens in einer Produktionslinie sind in diesem Zusammenhang bemerkenswert.33 Der Tonfall der Reportage wurde umso enthusiastischer, je automatisierter und effizienter der Vorgang vonstattenging. Über den Berliner Zentralviehhof hieß es in der Zeitschrift Über Land und Meer im Jahr 1898: „Hier empfängt der Schlächter das ihm zugetriebene Schwein und versetzt ihm einen Schlag gegen den Kopf, daß es betäubt zu Boden sinkt, während ein zweiter Gehilfe das Tier aus der Bucht zieht, ihm den Hals aufschneidet und das Blut auffängt. Andre Gehilfen schaffen die getöteten Schweine mit Hilfe von Drehkranen in die großen Brühbottiche in der Mitte der Schlachthalle. […] Nach gründlichem Brühen und Reinigen der Schweine folgen die weiteren Manipulationen des Abschabens der Borsten, des Ausschlachtens, der Reinigung der Eingeweide und so weiter, welchen

32 Vgl. Karsten Uhl: Die Geschlechterordnung der Fabrik. Arbeitswissenschaftliche Entwürfe von Rationalisierung und Humanisierung 1900–1970, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Bd. 21, H. 1, 2010, S. 93–117, hier S. 97. 33 Vgl. Die Fleischconserven-Fabrikation in Oesterreich, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 103, Nr. 2666, 04.08.1894, S. 145; Bilder vom Berliner Zentralviehhof, in: Über Land und Meer, Jg. 40, Bd. 79, Nr. 7, 1897/1898, S. 115–118; Vom Fleischextrakt und seiner Ursprungsstätte, in: ebd., Jg. 44, Bd. 88, Nr. 38, 1901/1902, S. 767f.; F. Bock: Die Fleischindustrie Amerikas, in: Die Gartenlaube, Nr. 6, 1910, S. 124–127; A. Oskar Klaußmann: Moderne Fleischpackerei, in: Illustrirte Welt, Jg. 50, Nr. 12, 1902, S. 284–286; Das Reich der Suppe und seine Hochburg, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 118, Nr. 3057, 30.01.1902, S. 178f. Vgl. die Thematisierung dieses Aspekts in einem anderen Zusammenhang in Kapitel 5.1.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

297

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 31: „Das Schwein am Schwungrad“ (1902): Schweineschlachtung als normierter, arbeitsteiliger Prozess für den interessierten Laien

Zwecken praktische Aufhängevorrichtungen, Schragen, Fleischkarren und so weiter dienen.“34 Im Vordergrund dieser Schilderung stand das perfekte Ineinandergreifen verschiedener Arbeitsvorgänge, die jeweils von einem separaten Arbeiter oder Automaten ausgeführt wurden.35 Dieser normierte und normierende Prozess konnte, so lässt ein Bericht aus der Illustrirte[n] Welt aus dem Jahr 1902 ebenfalls über die Fleischindus­trie erkennen, sogar noch weiter perfektioniert werden, indem die Ware in ihren verschiedenen Fertigungsstufen automatisch von einem Bearbeitungsgang, beispielsweise mithilfe eines Schwungrades (vgl. Abbildung 31), zum nächsten transportiert wurde. Hierbei spielte 34 Bilder vom Berliner Zentralviehhof, S. 118. 35 Vgl. auch ähnliche Schilderungen in den Reportagen Vom Fleischextrakt und seiner Ursprungsstätte, S. 768, und Die Wiener Wurstwaaren-Fabrikation im Großen, S. 511.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

298

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

es ebenfalls keine Rolle, was für eine Art von Ware auf diese Weise transportiert wurde. Wie in der Abbildung erkennbar konnte es sich sogar um ein vor wenigen Minuten noch lebendes Schwein handeln, das auf diese Weise seinen Weg aus dem Pferch zur Weiterverarbeitung antrat. Das Tier wurde, so zeigt es die Zeichnung, von einem Arbeiter mit einer Kette an einem Hinterfuß an dem zu diesem Zeitpunkt unten befindlichen Teil des Rades befestigt und dann durch die Drehung des Rades in die Höhe gezogen, wo es an ein weiterführendes Transportband übergeben wurde, mit dem es im Hintergrund der Fabrik verschwand, wo andere Arbeiter auf den ‚Rohstoff‘ zur Weiterverarbeitung warteten. Die Zeichnung stellt die Details der Mechanisierung des Vorgangs in den Vordergrund, indem sie den Apparat in hellem Licht ausgeleuchtet und mit großer Detailtreue abbildet. So wurde der Fokus auf die effizient ablaufende Apparatur und den hohen Rationalisierungsgrad gelegt, der es erlaubte, dass die Schweine schnell hintereinander von nur einem Arbeiter dem Produktionsprozess zugeführt werden konnten. Allein der rationalisierte Arbeitsprozess interessierte, das Schwein wurde nur als Ausgangsstoff betrachtet, das schnell zur Weiterverarbeitung gelangte, die ebenfalls als arbeitsteiliger Prozess in einzelnen Schritten hintereinander und daher umso effizienter geschah, wie eine weitere Reportage über die Fleischindustrie erläuterte: „Das Aufschneiden des Schweines bewerkstelligt ein ganzes Heer geschickter Arbeiter, von denen jeder seine speziell ihm zufallende Aufgabe an den langsam, in ununterbrochener Prozession vorbeiziehenden Schweinen mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit und Gewandtheit vollzieht. Aus dem Kühlraum gelangen die Schweinehälften in den Zerlegeraum, wo die Schultern und Schinken mittels Bandsägen abgesägt werden. Den Speckseiten wird dadurch, daß sie durch Walzen gezogen werden, eine zum Verpacken und Salzen geeignete Form gegeben.“36 Bei diesem Prozess, der schließlich im Taylorismus und in der Ford’schen Fließbandarbeit perfektioniert werden sollte, gab es keine Möglichkeit der Abweichung vom vorgegebenen Produktions- und Zeitplan mehr: „Von dem Augenblick an, in dem das Schwein mit dem Hinterfuß an dem Schwungrad befestigt wird, bis zum Augenblick, in dem es in den Kühlraum kommt, vergehen ungefähr 15 Minuten.“37 Die Fabrikation in Linie gestaltete den Vorgang nicht nur effizient, sondern sorgte gleichzeitig, so vermittelte es der Bericht im Zusammenspiel mit der Veranschaulichung technologischer Effizienz, für eine hohe Qualität des Ausgangsprodukts.38 Die Befindlichkeit der 36 Bock, Die Fleischindustrie Amerikas, S. 126. 37 Klaußmann, Moderne Fleischpackerei, S. 286. 38 Vgl. Das Reich der Suppe und seine Hochburg, S. 178f.; Klaußmann, Moderne Fleischpackerei,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

299

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 32: „Stanzerei“ der AEG: Serienfertigung als touristische Attraktion

Arbeiter bei dieser Tätigkeit, beispielsweise die Abstumpfung gegenüber dem Tier als Lebewesen, oder die Last der immergleichen Verrichtung, wurde hingegen von derartigen Schilderungen ganz ausgeblendet. Der Arbeiter spielte nur insofern eine Rolle, als er seine Aufgabe entsprechend der Taktung des Prozesses perfekt erledigte. Der Vorgang des Schlachtens wurde damit zu einer normierten industriellen Tätigkeit, die nach festen Abläufen vonstattenging, die genau beschrieben und gemessen werden konnten. Das Objekt, das be- beziehungsweise verarbeitet wurde, ließ diese Schwerpunktsetzung in der Betrachtung des Produktionsvorganges völlig beliebig werden. Gleichgültig, ob es sich um Rohstoffe, Pflanzen oder Lebewesen handelte, alles hatte allein eine Bedeutung als Ausgangsprodukt, das weiterverarbeitet werden musste. Die Auswirkungen der Moderne, die alles nivellierte, sind hier unübersehbar. Daneben galt die Serienfertigung als das zweite Merkmal der modernen Fabrikproduktion als Garant für gleichbleibende Merkmale, also hohe Qualität und günstige Preise. Die Gleichförmigkeit des Prozesses der Serienfertigung und der dadurch entstehenden Produkte offenbarte sich der Fabriktouristin und dem Fabriktouristen bezieS. 284. Der amerikanische Journalist Upton Sinclair stellte im Übrigen in seiner kritischen Reportage aus den Fleischfabriken Chicagos klar, dass die Hygiene nicht notwendigerweise eine Folge der fabrikmäßigen Verarbeitung von Fleisch war, sondern dass ganz im Gegenteil die genormte Verarbeitung von Tieren in extrem unhygienischen Zuständen stattfinden konnte. Vgl. Upton Sinclair: The Jungle, New York, NY 1906.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

300

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

hungsweise der Leserschaft einer Fabrikreportage oder eines gedruckten Führers eines Unternehmens durch die Gleichförmigkeit von Maschinen und Arbeitsplätzen (vgl. Abbildung 32).39 Die Gestaltung der Abbildungen variierte kaum: Ihr Aufbau richtete sich stark perspektivisch auf einen Fluchtpunkt hin aus, auf den die vielen gleichförmigen Arbeitsplätze ebenso wie die baulichen oder produktionstechnischen Gegebenheiten wie Säulen oder Transmissionsriemen zuliefen. Die Maschinen und die Menschen, die an ihnen arbeiteten, erschienen nicht im Detail oder als Individuum, sondern nur als Menge, die sich, wie es schien, durch die in den Bildern angelegte Per­spektive hundertfach bis ins Unendliche zog und, so vermitteln die Darstellungen, ohne Ende denselben Vorgang ausführte. Die Exaktheit, in der die Maschinen aufeinander ausgerichtet waren, symbolisierte die Genauigkeit des immergleichen Vorgangs als Garant für die Qualität der Produkte. Die Symmetrie solcher Bilder wurde bisweilen lediglich durch die Figur eines Aufsehers gebrochen, der sich außerhalb der Serienfertigung bewegte und die Produktion überwachte. Hier lässt sich nun ein sehr offensichtlicher Kontrast zu dem Holzschnitt der Firma Borsig erkennen (vgl. Abbildung 28). Es handelt sich um gänzlich verschiedene Muster, Fabrikarbeit darzustellen. Während die Herstellung der Lokomotive einerseits die Unübersichtlichkeit des Vorgangs für den Laien betonte, andererseits aber auch die Sinnhaftigkeit der Abläufe als Prozess der Linienfertigung unterstrich, hoben die gerade behandelten Bilder auf den Charakter der Massenfertigung als Serienproduktion, also massenhafte Herstellung exakt gleicher einzelner Produkte oder Zwischenprodukte ab. Die Tatsache, dass es sich bei den Menschen, die die Serienfertigung ausführten, gleichermaßen um Arbeiter wie um Arbeiterinnen handeln konnte, verweist darauf, dass die Fähigkeit zu dieser genormten, präzisen Form der Herstellung keinem speziellen Geschlecht zugeschrieben wurde. Die Serienfertigung an sich war also nach Meinung der verantwortlichen Produzenten weder ein Vorgang, der aufgrund der geringen Eigenverantwortlichkeit oder ähnlicher Gründe am besten von Frauen ausgeführt werden konnte, noch durften ihn beispielsweise wegen der nötigen Genauigkeit nur die vermeintlich fähigeren Männer verrichten. Die Gäste in der Fabrik erlebten den Produktionsprozess nicht als geschlechtlich konnotiert, denn die Beschäftigten sollten geschlechts- und gesichtslos einfach nur als ein Element wie die Maschine in einem Bild der Ordnung ihren Platz einnehmen und ihren Teil zur Gesamtkomposition beitragen.40 39 Vgl. über die genannte Abbildung hinaus die Abbildung Aushauerinnen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 135, Nr. 3509, 29.09.1910, S. 43 (gesonderte Paginierung); Abbildungen Büchsenfüll-Ab­thei­ lung, Blechbüchsenfabrikation und Verschluß-Abtheilung, in: ebd., Bd. 103, Nr. 2666, 04.08.1894, S. 145. 40 Zur Bedeutung des Arbeiters in der Wahrnehmung der Fabriktouristinnen und -touristen, auch zu der Zuordnung bestimmter geschlechtsspezifischer Eigenschaften vgl. Kapitel 6.1.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

301

Erlebnisse in der Fabrik

Indem sie die Ordnung und Effizienz des derart interpretierten Produktionsprozesses besichtigten, konnten die Fremden in der Fabrik nicht nur ihren Bildungstrieb befriedigen, sondern ihre eigenen gesellschaftlichen Normen und Werte verwirklicht sehen. Selbst wenn auf den ersten Blick die Wahrnehmung „der vielen Rauch und Dampf ausstoßenden Schornsteine, das Getöse der Hämmer, das rastlose Laufen der Maschinen, die Gluth ausströmenden Öfen, der Betrieb auf den das ganze Etablissement durchlaufenden Schienensträngen, das Arbeiten der Dampfkrahne und das emsige Treiben von 1400 und mehr Arbeitern“41 für Verwirrung sorgen mochte, so konnte sich recht bald herausstellen, wie ein Journalist glaubte, dass es sich bei einer Fabrik um ein „von kundiger Hand geleitete[s] complicierte[s] Räderwerk[ ]“ handle, „in dem selbst die kleinste Schraube, das winzigste Getriebe mit der dem deutschen Volke in so hohem Maße eigenthümlichen Pünktlichkeit, Ordnung und Gewissenhaftigkeit eingreifen.“42 Die Gesamtordnung in einer Fabrik ließ sich eingliedern in den bürgerlichen Tugendkatalog. Sich die Produktionsabläufe in einer Fabrik anzusehen, hieß für Bürgerliche, die eigene Lebenseinstellung bestätigt zu finden. Diese Wahrnehmung war nur innerhalb eines begrenzten Wissensraumes für eine bestimmte Gemeinschaft möglich. Hinter diesem Wissensraum musste wiederum der reale Raum zurückstehen. Als Ergebnis dieses strukturierten Produktionsprozesses erschien das in großen Mengen in einer hohen Qualität und zu einem günstigen Preis hergestellte Produkt. Die Selbstdarstellungen der Unternehmen, wozu gleichfalls die Fabrikführer gehörten, stellten ihren Gästen ihre hohen Produktionszahlen als Beleg für die Leistungsfähigkeit des Unternehmens vor.43 Doch die Wahrnehmung ging über die bloße Erkenntnis des Produktionspotenzials der Firma hinaus: „Was hauptsächlich imponierend wirkt, ist neben der oft erstaunlichen Grösse die kaum übersehbare Zahl“,44 stellte Diedrich Baedeker in seinem Bericht über den Besuch des Krupp-Werkes fest. Wie auf den Gewerbeschauen oder in den Kaufhäusern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien das Produkt in der Darstellung des Fabrikinneren in unzählbarer Menge, unabhängig davon, ob es sich um Geschosse auf einer Postkarte kurz nach der Jahrhundertwende, die das Innere eines Gussstahlwerks abbildete (vgl. Abbildung 33), oder um Rinder41 Ein Triumpf deutscher Kriegsindustrie, S. 209f. 42 Ebd., S. 209f. 43 Vgl. z.B. AEG (Hrsg.): Zur Besichtigung der AEG-Fabriken, Berlin [1910], S. 5 DTBM, Bestand: AEG, Signatur: I.2.060 P 07014. Dies galt umso mehr bei solchen Fabriken, die eine „Grossfabrikation des Kleinen“ betrieben, dies. (Hrsg.): Apparate-Fabrik, Berlin o.J., S. 3f., SDTB, ebd., Signatur: So 702. 44 Diedrich Baedeker: Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen. Nach authentischen Quellen dargestellt von Diedrich Baedeker, Essen 1889, S. 371.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

302

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 33: Bildpostkarte aus dem Gußstahlwerk Witten, Werkstatt II (ca. 1910): Die Ästhetik der Gleichförmigkeit von Geschosshülsen

hälften in einer Fleischfabrik, von der eine illustrierte Zeitschrift aus derselben Zeit berichtete (vgl. Abbildung 34), handelte. Für die Abbildung der Geschosse wurde eine Perspektive gewählt, bei der der Fluchtpunkt zum rechten Bildrand verschoben ist. Die Mehrheit der skizzierten Produkte läuft exakt auf diesen Fluchtpunkt zu und füllt so einen Großteil des Bildes. Jenseits dieser perspektivischen Darstellung sind im Vordergrund weitere Stücke zu sehen, so dass die Betrachtenden das Produkt detailliert erkennen und gleichzeitig seine Menge und Gleichförmigkeit würdigen konnten. Im linken Abschnitt des Bildes ist im Hintergrund ein Teil der Fertigungsstätte zu erkennen, aus der das Erzeugnis hervorgegangen sein mag, allerdings lassen sich keine Details ausmachen, daher ist hier nur eine Vermutung möglich. Im anderen Fall der Abbildung von zum Kühlen gelagerten Rinderhälften ist der Produktionsprozess gleich ganz ausgeblendet, er wird nicht mehr optisch thematisiert, sondern hier zählt nur noch das unzählbare und uniforme Produkt – was auch insofern bemerkenswert ist, da eine Uniformität des Tieres natürlich nicht gegeben war, als serielles Produkt aber selbst ein vormals lebendes Wesen jede Einzigartigkeit einbüßte. In dieser Darstellung ist der Fluchtpunkt ebenfalls zum rechten Bildrand verschoben, vermutlich, um die Rinderhälften in der Vielzahl besser abbilden

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

303

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 34: „Kühlraum für Rinderseiten“ (1902): Die Ästhetik der Gleichförmigkeit von Rinderhälften

zu können. Eng nebeneinander platziert und das Bild bis in den Hintergrund füllend, entzog sich das einzelne Fabrikat dem quantifizierenden Blick der Betrachterin oder des Betrachters. Die auf der Postkarte ebenso wie in der Zeitschrift abgebildeten Produkte ließen sich nur als unzählbare Menge ausmachen, die sich im Bildhintergrund verlor beziehungsweise in diesen überging. Durch die Gleichförmigkeit der massenhaft versammelten Erzeugnisse und das als Gestaltungsprinzip in jedem Fall angewandte symmetrische Arrangement der Waren wurde ein Ausblick geschaffen, der ein ästhetisches Erlebnis bot, ganz gleich, ob die Produkte durch die ihnen eigene Form bereits einen stilvoll anmutenden Anblick boten, wie in diesem Fall die Geschosshüllen, oder von ihrer tatsächlichen Optik her eher gewöhnlich wirkten, wie die Rinderhälften. Das, worauf es ankam, war einerseits die schiere Menge, andererseits die Symmetrie als Ausdruck der Beherrschung dieser Menge. Durch die Ordnung auf den Abbildungen konnte das Fremde, Unkontrollierbare angeeignet werden. Die Fotografie als neues Medium, das um die Jahrhundertwende eine ganz eigene Ästhetik der Darstellung entwickelte, griff, so lässt sich vermuten, die massenhaft in der Fabrik aufgereihten Waren als Motiv bereitwillig auf und prägte die Wahrnehmung der Produkte durch die Bürgerinnen und Bürger als ästhetisierte Objekte. Die Menge der produzierten Ware

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

304

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

war einerseits das Ergebnis des bereits als touristisches Ereignis empfundenen Produktionsvorgangs, gleichzeitig wurde sie so zum Erlebnis an sich. Mit dem Blick auf das Erzeugnis gewannen die Betrachtenden die Kontrolle über den an sich unübersichtlichen, undurchschaubaren Produktionsvorgang.

6.1.2. Faszination Maschine

Die zwei Komponenten, die den Produktionsprozess ermöglichten, waren die Maschinen und die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fabrik. Ein Gang durch das Werk, so stellte die Zeitschrift Das Buch für Alle fest, müsse „auch den treuesten Verteidiger des Alten davon überzeugen, dass die einfache Handfertigkeit niemals imstande sein kann, so gute […] Produkte zu erzielen wie alle die vielgestaltigen, klug ersonnenen und im praktischen Gebrauch immer mehr vervollkommneten maschinellen Einrichtungen.“45 Was sahen die bürgerlichen Besucherinnen und Besucher beim Blick auf die technischen Anlagen? Wie konnte die Betrachtung einer Maschine zu einem touristischen Erlebnis werden? Von allen Dingen, die in der Fabrik auf die Sinne des ‚Fremden‘ einstürmten, schienen die Geschwindigkeit und Kraft sowie die Präzision der Maschinen am meisten zu faszinieren. Die Geschwindigkeit der Maschinen erlebten die Gäste vorwiegend durch die von den schnellen Bewegungen oder dem Antrieb verursachte Lautstärke. Ein „ohrenbetäubendes Klappern, Rasseln und Schnurren“46 bewies laut einem Artikel in der Zeitschrift Über Land und Meer vom Beginn des 19. Jahrhunderts die rastlose Bewegung der Webstühle in einer Textilfabrik ebenso wie die Lautstärke in einer Konservenfabrik, so dokumentierte die Illustrirte Welt, die nie aussetzende Tätigkeit von Blechschneide-, Rund-, Etikettierungs-, Deckel-, Stanz- und Verschlussmaschinen.47 Über diesen Geräuschen der Herstellung hing in nahezu jeder Fabrik bis zur vollständigen Elektrifizierung der Werkshallen das Geräusch der Transmissionsriemen, das lautmalerisch als „Sausen und Surren“48 immer wieder in Berichten thematisiert wurde und 45 Eine moderne Wollspinnerei, in: Das Buch für Alle, Jg. 49, H. 6, 1914, S. 130, 133, hier S. 130. Diese zeitgenössische Faszination der Maschine erkennt auch allgemein Nye in seiner Untersuchung der Wahrnehmung amerikanischer Fabriken, vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 114. 46 W. Hunnius/W. Herminghaus: Im Reiche des Weberschiffchens, in: Über Land und Meer, Jg. 49, Bd. 98, Nr. 40, 1906/1907, S. 1003–1006, hier S. 1005. 47 Vgl. Doménigg, In einer Bozener Konservenfabrik, S. 600. 48 Ebd. Vgl. auch Hoffmann, Die Kaiserliche Werft in Kiel, S. 479. Hier ist von einem „Surren und Brummen“ die Rede. Vgl. auch von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 297. Der Autor spricht hier von einem „Surren und Sausen“.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

305

Erlebnisse in der Fabrik

stellvertretend für die schnellen Bewegungen der dadurch angetriebenen Maschinen stand. Eine weitere Maßeinheit für die Wahrnehmung der Geschwindigkeit der technischen Anlagen boten Zeit und Warenausstoß, entweder die Kürze der verstreichenden Zeit für einen Bearbeitungsvorgang oder die Anzahl produzierter Waren in einem bestimmten Zeitraum. Die Schneidemaschine in der Wurstwaren-Fabrik bewunderten die Betrachtenden wegen ihrer Fähigkeit, mit ihren mehrfach hintereinander gelagerten Messern das Fleisch innerhalb kürzester Zeit zu zerkleinern.49 Von Hülsen für Zigaretten, so berichtete Über Land und Meer, konnten „durch Maschinen neuester Erfindung […] welche unter Dampfbetrieb arbeiten“50 je bis zu 50.000 Stück pro Tag angefertigt werden.51 Zudem wurde Geschwindigkeit darin bemessen, ob das Auge der Bewegung der Maschine folgen konnte. In der Weberei war die Geschwindigkeit der Maschinen beispielsweise so unbegreiflich, dass das Unternehmen glaubte, die Abläufe auf einem älteren Modell für die Besucherinnen und Besucher besser sichtbar machen zu können.52 Die Bewertung derartiger Geschwindigkeiten durch die bürgerlichen Betrachterinnen und Betrachter zielte jedoch nicht auf betriebs- oder ingenieurswissenschaftliche Beurteilungen, sondern mystifizierte den Vorgang. Die wahrgenommene Schnelligkeit wurde als „zauberhaft“53 klassifiziert, die in Erstaunen versetzte, nicht etwa als nüchterner Beleg einer für den ausreichenden Umsatz des Betriebes notwendigen Leistung. Insbesondere in der Eisen- und Stahlindustrie lag der Blick vorrangig auf der Kraft der Maschinen. Diese wurde gleich mehrfach sinnlich erfahrbar: durch optische Eindrücke, durch die Lautstärke des Vorgangs und durch spürbare Erschütterungen.54 Die Beobachtung, wie „mit mächtigem Auspuff […] der Dampf aus dem Cylinder“55 entweicht, ließ Betriebsfremde erahnen, welche Kräfte im Innern eines Dampfhammers erzeugt wurden. In ähnlicher Weise verwies der Funkenflug beim Gießen oder 49 Vgl. Die Wiener Wurstwaaren-Fabrikation im Großen, S. 511. 50 G. Albert: Die Zentral-Tabakfabrik in Konstantinopel, in: Über Land und Meer, Jg. 33, Bd. 65, Nr. 6, 1890/1891, S. 124, 127f., hier S. 127. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1004. 53 M. Hagenau: Wie ein Schaukelpferd entsteht, in: Die Gartenlaube, Nr. 49, 1905, S. 937. 54 Auch in anderen Industriezweigen wurde die Kraft der Maschinen thematisiert. Vgl. z.B. Ein Besuch in der Fabrik Lochmann’scher Musikwerke, S. 473. Allerdings gab es hier weniger wahrnehmbare Zeichen für diese Kraft, die daher für die Betrachtenden eher durch begleitende Informationen eines menschlichen oder gedruckten Führers deutlich wurde. 55 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 498; vgl. auch von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 296f.; Tony Rellen: Die Entwicklung der Krupp’schen Werke unter Friedrich Alfred Krupp, in: Westermann’s illustrierte Deutsche Monatshefte, Jg. 48, Bd. 95, 1903, S. 686f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

306

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Walzen von Stahl auf Urgewalten, die die mechanische Anlage hervorrief und gleichzeitig kontrollierte.56 Der Schlag des Dampfhammers wurde nicht nur akustisch vernommen, sondern als „erderschütternd“57 vom ganzen Körper wahrgenommen. Selbst in anderen, weniger kraftintensiven Fabriken, wie beispielsweise in einer Weberei, ließ sich die machtvolle Arbeit der Maschinen spüren. In einem Websaal vermeinte der Reporter einer populären Zeitschrift, durch die hundertfache Arbeit der Webstühle den Boden zittern zu spüren.58 Die Bewertung dieser Eindrücke von der „Technik in ihrer titanenhafte Größe“59 überhöhte das Ereignis wiederum und abstrahierte das Erlebte vom tatsächlichen Produktionszweck. „Der Hammerbär fährt herab, und ein donnernder Schlag macht das ganze Gebäude bis in seine Fundamente hinein erzittern. Selbst der vorbereitete Zuschauer vermag sich der überwältigenden Macht dieses Eindrucks nicht zu erwehren.“60 Wenn es in dieser Beschreibung zwar vordergründig um das Erlebnis und die Faszination entfesselter Naturgewalten ging, so zeigt sich doch, dass diese Naturgewalten beherrschbar waren, dass sie sowohl dazu dienten, eine Maschine anzutreiben, die Güter erzeugte, als auch, bei den Betrachtenden ein ästhetisches Erlebnis auszulösen. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen der an sich ungezügelten Naturgewalt und ihrer Beherrschung durch den Menschen entstanden das Produkt und das Erlebnis, das zwar Aufregung bescherte, aber gleichzeitig das Wissen vermittelte, die Situation aus der Position der Zuschauenden heraus zu beherrschen. Ähnlich stand es um die Eindrücke und ihre Bewertung in Bezug auf die Präzision, mit der die Maschinen arbeiteten. Die Fähigkeit der Maschinen, hunderte von Teilen in absoluter Gleichförmigkeit herzustellen, fiel gerade in den Fabriken auf, die selbst Maschinen in Massenproduktion für den Endverbraucher fertigten: Die Teile für Nähmaschinen,61 Automobile62 oder elektrische Kleinapparate, wie die AEG sie in dieser Zeit herzustellen begann,63 bestachen, wie die Berichte aus den Fabriken belegen, durch haargenaue Übereinstimmung. Für den Hersteller war dieses Merkmal betriebswirt56 Vgl. Abbildung Das Walzen einer Panzerplatte, in: Die Gartenlaube, Nr. 14, 1909, S. 296. Vgl. auch Abbildung Das Gießen der Schiffspanzerplatten, in: Das Buch für Alle, Jg. 38, H. 21, 1903, S. 463. 57 Von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 296. 58 Vgl. Hunnius/Herminghaus, Im Reiche des Weberschiffchens, S. 1005. 59 Das Gießen der Schiffspanzerplatten, S. 463. 60 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 498; vgl. auch von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 296f.; Rellen, Die Entwicklung der Krupp’schen Werke unter Friedrich Alfred Krupp, S. 686f. 61 Vgl. Ein Gang durch die Ankerwerke A.G., S. 3–5. 62 Vgl. Benz & Cie (Hrsg.): Benz-Automobile, Mannheim 1913, MBCA, Bestand: Werk Mannheim, Signatur: I.2. 63 Vgl. AEG, Apparate-Fabrik.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

307

Erlebnisse in der Fabrik

schaftlicher Grundtatbestand der Massenfertigung, da er durch die hohe Fertigungszahl gleicher Teile positive Skaleneffekte in Form von sinkenden Durchschnittskosten erzielte,64 für die Touristin und den Touristen hingegen Anlass für eine Ästhetisierung von Alltäglichkeit aufgrund von Symmetrie und Einheitlichkeit.65 Die Fähigkeit der Maschine zu einer ausnehmend schnellen, kraftintensiven oder präzisen Fabrikation erhob sie damit über den langsameren, schwachen, fehlbaren Menschen und zog die Betriebsfremden in ihren Bann. Daran schließt sich die Begeisterung dafür an, dass ein Großteil der Anlagen völlig oder zumindest nahezu selbstständig funktionierte, wie eine Firmenbroschüre der Daimler-Werke feststellte: „Dem Laien zwingen wohl die zahlreich verwendeten durchaus automatisch arbeitenden Maschinen die höchste Bewunderung ab.“66 Die Automatisierung und Mechanisierung stellten die Berichte aus der Fabrik als Garant für Qualität und Effizienz dar. Speziell in der Lebensmittelindustrie schien die automatisierte Produktion durch Maschinen oft identisch mit gleichbleibend hoher Güte der Produkte, wobei vorrangig die hygienische Behandlung thematisiert wurde. Ob bei der Herstellung von Schokolade,67 von Konserven68 oder von Mundwasser:69 Immer fand „die unerreicht saubere und hygienisch einwandfreie Behandlung des Fabrikates“70 großes Lob, das durch die Tatsache zustande kam, dass „auf dem ganzen Wege durch den Betrieb kaum eine Hand die Ware berührt“71 habe. In den Bereichen der Verbrauchs- und der Konsumgüter, also wiederum der Lebensmittelherstellung, zudem der Spielwaren- oder Zigarettenherstellung, aber ebenso in dem ganz neuen Produktionszweig der elektronischen Apparate für den Endverbraucher bewunderten die Fabriktouristin oder der Fabriktourist zudem die niedrigen Kosten, mit denen Maschinen im Gegensatz zur menschlichen Arbeit produzieren 64 Vgl. für weitere Erläuterungen zum Thema Skaleneffekte Kai-Ingo Voigt/Jürgen Weber: Economies of Scale, in: Springer Gabler Verlag (Hrsg.): Gabler Wirtschaftslexikon, URL: http://wirtschaftslexikon. gabler.de/Archiv/54610/economies-of-scale-v6.html (Stand: 01.09.2019). 65 Vgl. auch hier die Überlegungen Kracauers zum ‚Ornament der Masse‘, Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse (1927), in: ders. (Hrsg.): Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1977, S. 50–63. Vgl. Kapitel 4.1.3. 66 Benz & Cie, Benz-Automobile, S. 3–5. 67 Vgl. Kalender der Firma Sprengel, 1914, RWWA, Bestand: Stollwerck AG, Köln, Signatur: 350-7, S. 6; Illustrirtes Kalender-Notizbuch/den Freunden Stollwerck’scher und Cacaos, 1889, S. 1, RWWA, ebd., Signatur: 297-6; W. Wanna: Die Geschichte von der braunen Schokolade und dem weißen Zucker oder zu Besuch bei Gebrüder Stollwerck in Köln, in: Über Land und Meer, Jg. 33, Bd. 65, Nr. 12, 1890/1891, S. 280f. 68 Vgl. Doménigg, In einer Bozener Konservenfabrik, S. 600. 69 Vgl. Das größte Etablissement der Erde für Herstellung von Mundwasser, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. 543–545. 70 Kalender der Firma Sprengel, 1914, S. 6, RWWA, Bestand: Stollwerck AG, Köln, Signatur: 350-7. 71 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

308

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

konnten,72 ihre hohe Fabrikationsrate73 sowie ihre Zuverlässigkeit.74 Ein Heft, das als Führer durch die Apparate-Fabrik der AEG fungierte, brachte das Image der Maschine auf den Punkt: „Die subtile Ausbildung dieser Maschinen, die ausser der Zuführung des zu bearbeitenden Materials meist gar keiner Bedienung durch Menschenhand mehr bedürfen, ermöglicht es, Qualitätsware für einen geringen Preis herzustellen.“75 Was an der Arbeit der Maschine geschätzt wurde, war damit nahezu identisch mit den Vorteilen der Linien- und Serienfertigung. Das so vermittelte Image konnte vom Bürgertum vermutlich vorbehaltlos übernommen werden, lassen sich die skizzierten Eigenschaften doch unmittelbar im bürgerlichen Tugendkatalog von ‚Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit‘ wiederfinden. Man schätzte also an der Maschine Charakteristika, die man als Leitlinie für das eigene Leben begriff. Insofern bot die Betrachtung der mechanisierten Produktion die Möglichkeit, die eigenen Werte in der modernen Anlage bestätigt zu finden. Im Zuge dessen gewann die Maschine eine eigenständige Persönlichkeit, sie wurde als atmendes,76 denkendes77 und bewusst handelndes78 Wesen beschrieben.79 Statt die genauen technischen Prozesse im Innern zu erkunden, nahmen die lesenden Touristinnen und Touristen die Bearbeitung der Produkte durch dieses ‚denkende Wesen‘ als Vorgang wahr, den die Anlage aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten selbstverständlich und unhinterfragbar vollführte. Die Maschine erschien als eine ‚Black Box‘, in die ein Rohstoff hineinging und verwandelt als fertiges Produkt herauskam, wie eine Schilderung der Herstellung von Bleistiften in der Zeitschrift Über Land und Meer im Jahr 1905 der Leserschaft veranschaulichte: „Auf Spezialmaschinen werden hier die flachen Brettchen in runde, sechseckige, viereckige, dreieckige oder ovale Bleistifte verwandelt. Es ist unterhaltend zu beobachten, wie auf der einen Seite die rauhen [sic!] Brettchen automatisch in die Maschine hineinbefördert werden, und wie sie auf der anderen Seite, immer fünf, sechs, oder sieben Stück zusammen, als sauber gearbeitete, glatte, schöne Bleistifte fix und 72 Vgl. z.B. Klaußmann, Moderne Fleischpackerei, S. 284. 73 Vgl. z.B. Markus Schüßler: Die Spielwarenfabrikation in Nürnberg, in: Über Land und Meer, Jg. 41, Bd. 81, Nr. 11, 1898/1899, S. 176f., hier S. 176 (zugleich in: Illustrirte Welt, Nr. 11, 1901, S. 288); New Yorks größte Brotbäckerei, in: Das Buch für Alle, Jg. 38, H. 15, 1903, S. 331. 74 Vgl. Albert, Die Zentral-Tabakfabrik in Konstantinopel, S. 127. 75 AEG, Apparate-Fabrik, S. 5. 76 Vgl. Baedeker, Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen, S. 368. 77 Vgl. Benz & Cie, Benz-Automobile, S. 10. 78 Vgl. Ein Gang durch die Ankerwerke A.G., S. 3. 79 Diesen Eindruck gewinnt auch Nye bei der Analyse der Betrachtung der amerikanischen Fabrik als erhabenes Erlebnis, vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 122f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

309

Erlebnisse in der Fabrik

fertig herausspazieren. Es sind darum nach den Bleipressen stets die Hobelmaschinen, welche die Besucher der Fabrik am meisten anziehen und fesseln.“80 In dieser Beschreibung erhielt der ganze Prozess einen spielerischen Charakter, der für Unterhaltung sorgte und sich daher großer Beliebtheit erfreute. Den Touristinnen und Touristen ging es um die Befriedigung ihrer Schaulust, die sich mit ‚fertig herausspazierenden Bleistiften‘ so viel eher zufriedenstellen ließ als mit Produktionszahlen oder detailreichen Erläuterungen. Ebenso wie die Besucherinnen und Besucher einer Völkerschau oder eines Zoos betonten die Gäste in der Fabrik ‚offiziell‘ den Schauwert als Motiv für den Besuch. Letztlich war es doch vor allem die Schaulust, die im Vordergrund stand.81 Dieser Umstand mutet umso erstaunlicher an, als es dem Bürgertum im Rahmen seiner Technikbegeisterung und seinem Streben nach umfassender Bildung tatsächlich um technisches Verständnis hätte gehen müssen. Die Maschine als ein Wesen zu betrachten, das mehr darstellte als ein fortgeschrittenes Werkzeug, heißt dennoch nicht, dass nicht zusätzlich technisches Verständnis angestrebt wurde. Das beweist eine Vielzahl von Artikeln, die zwar gleichfalls von Fabriken berichteten, aber weniger das Erlebnis als vielmehr die Wissenschaftspopularisierung in den Mittelpunkt stellten. Die Inszenierung der Anlage als Objekt des touristischen Interesses konnte dagegen den genuinen Charakter der Maschine als technisches Werkzeug vernachlässigen und sie stattdessen in der genannten Weise personifizieren und mystifizieren.82 Die entsprechenden grafischen Darstellungen beruhten unter anderem auf dem Strukturmerkmal einer „potenziell ins Unendliche reichende[n] Aufreihung gleichartiger Elemente.“83 Eine Image-Broschüre der Gutehoffnungshütte in Oberhausen aus dem Jahr 1913 nutzte eine solche Inszenierung zur Darstellung eines Teils ihrer Fabrikanlagen (vgl. Abbildung 35).84 Die Fotografie zeigt Maschinen, deren hervorstechendes 80 Die deutsche Bleistiftfabrikation, in: Über Land und Meer, Jg. 37, Bd. 73, Nr. 18, 1894/1895, S. 400, 402, hier S. 402. 81 Vgl. Kapitel 1. 82 Vgl. zur Anthropomorphisierung als Stilmittel der Wissenschaftspopularisierung Angela Schwarz: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 153), Stuttgart 1999, S. 243–246. 83 Klaus Herding: Industriebild und Moderne. Zur künstlerischen Bewältigung der Technik im Übergang zur Großmaschinerie (1830–1890), in: Helmut Pfeiffer/Hans Robert Jauß/Françoise Gaillard (Hrsg.): Art social und art industriell. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus, München 1987, S. 424–468, hier S. 438. 84 Vgl. über die genannte Abbildung hinaus auch die Abbildung Automatische Kettenmaschinen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 135, Nr. 3509, 29.09.1910, S. 43 (gesonderte Paginierung); Abbildung Websaal in moderner Einrichtung, in: Über Land und Meer, Jg. 49, Bd. 98, Nr. 40, 1906/1907,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

310

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 35: „Zweitakt-Gasgebläse Eisenhütte II“ in der Gutehoffnungshütte (1913): Gleichförmigkeit von Maschinen als Faszinosum

Merkmal ein großes Schwungrad ist. Sie bestehen insgesamt aus einer lang gezogenen Apparatur, deren Zweck sich nicht erschließt. Die Größenverhältnisse sind ebenfalls nicht auszumachen, da beispielsweise Arbeiter als Referenzpunkte auf dem Bild fehlen. Das Schwung­rad steht überdies durch die gewählte Perspektive im Mittelpunkt, der Blick der Betrachtenden wird zum Fluchtpunkt im rechten Bildhintergrund genau über die Räder geleitet, die sich am rechten Ende der Maschinen befinden. Das Rad der ersten nimmt einen Großteil des Vordergrundes ein, dahinter folgen weitere, deren Zahl wiederum im Hintergrund verschwimmt. Das Bild wurde aus der Aufsicht aufgenommen, so dass der Eindruck der Fülle, ebenso wie der Gleichförmigkeit gesteigert wird. Die dunklen Räder laufen auf die hell beleuchtete Rückwand der Werkshalle zu, womit S. 1005; Abbildung Graphitmühlen, in: Die Gartenlaube, Nr. 42, 1910, S. 893.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

311

Erlebnisse in der Fabrik

ein Muster aufgegriffen wurde, das schon bei der Darstellung erhabener Aussichten in den Alpen Anwendung fand. Obschon das Grundgerüst der Fotografie durch die Gegebenheiten in der Werkshalle bestimmt war, oblagen doch viele Gestaltungselemente der Entscheidung des Fotografen beziehungsweise seiner Auftraggeber: Die perspektivische Gestaltung ebenso wie die Position, aus der heraus die Aufnahme entstand und die dann bei der Betrachtung zwangsläufig eingenommen werden musste und ebenso die Entscheidung, keine Menschen ins Bild mit aufzunehmen, möglicherweise sogar die Gestaltung des Lichteinfalls, der eine transzendente Stimmung erzeugen konnte, die zur Überhöhung des Eindrucks der Maschinen beitrug, schufen eine Inszenierung, die die Anlage in den Mittelpunkt stellte und ihre Ästhetik betonte. Die Tatsache, dass auf diese Darstellungsweise in verschiedenen Medien und zu unterschiedlichen Zeiten zurückgegriffen wurde, lässt vermuten, dass es sich um ein festes Muster der Präsentation von Maschinen und ihres speziellen Charakters handelte. Die Funktion erschloss sich in dieser Darstellungsweise nicht, stattdessen stand das Äußere für das Produktionspotenzial und die Wirkungsmacht. Obwohl derselbe Bildaufbau zum Tragen kam wie bei den Abbildungen, die die Serienfertigung dokumen­tier­ten, ging es im Gegensatz dazu hier nicht darum, die Funktion der Anlage, ihre Stellung im Produktionsprozess herauszustellen, sondern um die Maschine, die in ihrer materiellen Präsenz beeindruckte und so eine ganz eigene Ästhetik entwickelte. Den Höhepunkt erlebte diese Ästhetisierung bei der Betrachtung solcher Geräte, deren Funktionsweise sich für Laien ohne detaillierte Erläuterungen und technische Kenntnisse gar nicht erschließen ließ. Vornehmlich bei den Maschinen zur Stromherstellung oder elektrischen Kraftübertragung, die dem Betrachtenden nur ihre bewegungslose, undurchschaubare, aber auf Hochglanz polierte Metallhülle zeigten, und ihre Kraft ebenso unsichtbar entfalteten wie der von ihnen hergestellte elektrische Strom, trat dieses Phänomen auf.85 Häufig standen solche Bilder in den illustrierten Zeitschriften, in Werksführern oder Kundenzeitschriften für sich, ohne eine nähere Beschreibung der Funktionen. Stattdessen wurde die Ästhetik durch die Bildkomposition erschaffen. Wie schon bei anderen geschmackvoll anmutenden Darstellungen von Maschinen wurde der Blick auf die Anlagen perspektivisch über eine Vielzahl gleichförmiger Objekte gelenkt, lichtdurchflutete, hohe Hallen ohne Menschen verstärkten den Eindruck. Hinzu kam hier die inhärente Ästhetik glatter, schimmernder Oberflächen und klarer äußerer Formen, die von den Fotografen durch verschiedene Manipulationsmechanismen, beispielsweise den Lichteinfall oder das Aufpolieren bestimmter Teile, unterstrichen wurden. Die Fotografien wirkten so besonders kühl und 85 Vgl. hierzu auch Philippe Tomsin: L’esthétique des machines electriques industrielles, in: Bulletin d’histoire de l’electricité, Nr. 35, 2000, S. 67–77.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

312

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 36: Kraftzentrale eines Elektrizitätswerks der AEG (1910): Der Stil der Neuen Sachlichkeit bei der Abbildung technischer Anlagen

geometrisch.86 Diese Art der Darstellung machte sich vorwiegend die Elektroindus­trie zur Selbstdarstellung zunutze, so die AEG in ihrer für eine externe Leserschaft gedachten Firmenzeitung, um so unter anderem den objektiven Charakter des Magazins zu unterstreichen.87 Eine Fotografie, die auf dem Titelblatt der August-Ausgabe des Jahres 1910 einen Blick in die Kraftzentrale ihrer italienischen Schwesterfirma präsentierte, 86 Vgl. David E. Nye: Image Worlds. Corporate Identities at General Electric, 1890–1930, Cambridge, MA/London 1985, S. 66. 87 Vgl. ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

313

Erlebnisse in der Fabrik

kann stellvertretend stehen für mehrere Dutzend vergleichbarer Motive auf den Titelseiten der AEG-Zeitschrift seit ihrem ersten Erscheinen im Jahr 1909 oder in den diversen gedruckten Führern durch ihre Fabriken (vgl. Abbildung 36).88 Diese Art der Fotografie griff bereits dem Stil der Neuen Sachlichkeit mit ihrer streng objektiven Bildsprache in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor.89 Die Maschine bildete damit ein Faszinosum, das in die Fabrik lockte und den Aufenthalt dort als ästhetisches Erlebnis prägte. Wie die Anlagen erlebt wurden – nicht als Teil des eigenen Arbeitsalltags, wie sie den Arbeiterinnen und Arbeitern erschienen, auch nicht als technisches Vehikel, das der Fachmann zu schätzen wusste, sondern als ästhetisches Ereignis – hing eng mit dem Wissensraum der Betriebsfremden zusammen, der sich niederschlug in den Abbildungen und Beschreibungen, die sie selbst erstellten oder die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten waren.

6.1.3. Faszination ‚Arbeiter‘

Die Arbeiterinnen und Arbeiter gehörten neben der Maschine zu den zentralen Elementen der Fabrikproduktion.90 Wie wurden sie von den bürgerlichen Gästen gesehen? War es bei einem Kurzbesuch in der Fabrik überhaupt möglich, die Realität der Arbeitssituation in der Fabrik wahrzunehmen? Dean MacCannell stellte fest, dass Touristinnen und Touristen zwar die Gelegenheit hatten, die konkrete Arbeitssituation der Indus­triearbeiterschaft zu besichtigen, sie aber nicht mit Sinn versehen konnten.91 88 Vgl. hierzu insbesondere die diversen Abbildungen in der externen AEG-Zeitung oder den Fa­ brikführern des Unternehmens: AEG-Drehstrom-Schwungraddynamo mit Stahlgußinduktor, 3000 kva Leistung, 94 Umdrehungen in der Minute, in: [externe] AEG-Zeitung, Jg. 16, Nr. 3, 1913, Titelseite; AEG-Drehstrom-Dynamomaschine, in: ebd., Jg. 13, Nr. 6, 1910, Titelseite; In der Maschinenhalle der Kraftübertragungsanlage in Ronokei auf Formosa, in: ebd., Jg. 12, Nr. 10, 1910, Titelseite; vgl. auch Berliner Electricitäts-Werke, Zentrale Rummelsburg. Drehstrom-Turbodynamo, System AEG Curtis, von 7500 PS Leistung, in: ebd., Nr. 12, 1910, Titelseite; Elektrizitätswerk Barcelona, in: ebd., Jg. 13, Nr. 5, 1910, Titelseite; Turbokompressor der Königl. Berginspektion 2, Gladbeck i.W. (Rheinbabenschächte), in: ebd., Nr. 9, 1911, Titelseite; Grosse Maschinenhalle: Prüffeld, in: AEG (Hrsg.): Maschinenfabrik, Berlin [1914], S. 7, SDTB, Bestand: AEG, Signatur I.2.060 P 07015. Diese Bilder waren ebenso in den populären Zeitschriften vertreten, vgl. z.B. die Abbildung Das Innere der Zentrale, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 118, Nr. 3078, 26.06.1902, S. 991. 89 Vgl. z.B. Sergiusz Michalski: Neue Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919–1933, Köln 2003, S. 14–21; Hans Gotthard Vierhuff: Die Neue Sachlichkeit. Malerei und Fotografie, Köln 1980, S. 13–21. 90 Vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 115. 91 Vgl. Dean MacCannell: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1999 (englische Erstausgabe 1976), S. 67f.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

314

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Ebenso, so folgert eine Untersuchung Alf Lüdtkes über die „Portraits der Arbeit“,92 suggerierten die Fotografien, die dem Außenstehenden Einblicke in die kruppsche Fabrik liefern sollten, diesen Einblick in den Arbeitsalltag nur, ohne ihn tatsächlich zu gewähren.93 Und Rebekka Habermas stellt in ihrer Untersuchung der Debatte zur Darstellung der Unterschichten um 1890 heraus, dass durch einen Prozess des ‚Othering‘ die realen Menschen „zu Klischees und still gestellten Figuren“ erstarrten und so weit ihre Komplexität einbüßten, „bis sie sich in die Unkenntlichkeit eines Abziehbildes verwandelt hatte[n].“94 Auf welchen Umstand wäre eine solche nur oberflächliche Erkenntnis der ökonomischen und sozialen Realität der Fabrik zurückzuführen? Gab es eine spezifisch touristische Sicht auf den ‚Fabrikarbeiter‘ und seine Situation in der Fabrik? Die Faszination körperlicher Arbeit Dass die reine menschliche Arbeit das Bürgertum faszinierte, zeigte sich bereits in den ebenfalls vermehrt in illustrierten Zeitschriften oder ähnlichen Publikationen erscheinenden Reportagen über unterschiedliche industrieferne Arbeitssituationen. Die Berichte über die Arbeit in den verschiedenen Bereichen der Landwirtschaft95 und der Fischerei96 oder im noch nicht industriell betriebenen Berg92 Vgl. Alf Lüdtke: Gesichter der Belegschaft. Portraits der Arbeit, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 67–87. 93 Vgl. ebd., S. 81. 94 Vgl. Rebekka Habermas: Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollen. Debatten um 1890 oder „Cacatum non est pictum!“, in: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hrsg.): Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armen“ in Geschichte und Gegenwart, Freiburg/Berlin/Wien 2008, S. 97–122, hier S. 117. 95 Vgl. z.B. Bilder von der Weinlese, in: Das Buch für Alle, Jg. 35, H. 8, 1900, S. 191–194; Auf einem Hopfenfelde in Kent, in: Das Buch für Alle, Jg. 48, H. 7, 1913, S. 153, 154; C. Falkenhorst: Königin Baumwolle in Amerika, in: Die Gartenlaube, Nr. 45, 1906, S. 955–959; M. Hagenau: Vom deutschen Tabakbau, in: Die Gartenlaube, Nr. 18, 1907, S. 382–385; C. Falkenhorst: Unter den Korkeichen, in: Die Gartenlaube, Nr. 25, 1907, S. 519–523; M. Hagenau: Von der Harznutzung, in: Die Gartenlaube, Nr. 29, 1908, S. 621–624; F. Baumgarten: Baumwollernte in den Vereinigten Staaten, in: Über Land und Meer, Jg. 47, Bd. 94, Nr. 52, 1904/1905, S. 1198f.; Max Peregrinus: Muschelzucht, in: Über Land und Meer, Jg. 51, Bd. 102, Nr. 38, 1908/1909, S. 895; Vom Flachs, in: Über Land und Meer, Bd. 52, Bd. 104, Nr. 46, 1909/1910, S. 1119–1121. 96 Vgl. z.B. Die Hochseefischerei im Winter, in: Das Buch für Alle, Jg. 26, H. 10, 1891, S. 249, 251; Fischfang im Wattenmeer, in: ebd., Jg. 34, H. 5, 1899, S. 115, 117; Garnelenfischerei zu Pferde an der belgischen Küste, in: ebd., Jg. 37, H. 11, 1902, S. 267, 269; Die Hochseefischerei in der Nordsee, in: ebd., H. 22, 1902, S. 536, 538; Garnelenfischerinnen, in: ebd., Jg. 39, H. 6, 1904, S. 125, 131; Die Perlenfischerei auf Ceylon, in: ebd., Jg. 47, H. 3, 1912, S. 62, 64; P. Grabein: Heringsfang in Norwegen, in: Die Gartenlaube, Halbheft 11, 1904, S. 300–303; Paul Schreckhaase: Auf den Fisch­ gründen der Nordsee, in: ebd., Nr. 3, 1911, S. 63–66; C. Lund: Vom Hering und Heringsfang, in:

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

315

Erlebnisse in der Fabrik

bau97 führten den bürgerlichen Leserinnen und Lesern schwere körperliche Arbeit ebenso vor Augen wie die Berichte über Straßenbauarbeiten98 oder Be- und Endladevorgänge.99 Die zumeist männliche Arbeiterschaft und ihre Leistung traten den Rezipientinnen und Rezipienten vorwiegend auf den begleitenden Bildern sehr deutlich entgegen. Über die Produktion von Waren in reiner Handarbeit, häufig Produkten aus Spitze oder Stroh, wurde im Zeitalter der Industrialisierung ebenfalls vermehrt berichtet. Einerseits informierten diese Artikel über die genauen Handgriffe und Fertigungsabläufe der überwiegend weiblichen Arbeiterschaft, andererseits wiesen sie bisweilen einen folkloristischen Unterton auf, der diese Art der Arbeit als Merkmal gesellschaftlich und fertigungstechnisch rückständiger fremder Länder oder eher abgelegenerer Gebiete Deutschlands vorstellte.100 Schilderungen der Arbeit im traditionellen Handwerk waren den Leserinnen und Lesern illustrierter Zeitschriften ebenfalls nicht fremd.101 Diese zeichneten sich ausdrücklich durch eine detaillierte Beschreibung der Arbeitsprozesse aus. Bei der Analyse der Berichte über Handarbeit und Handwerk zeigt sich jedoch, dass die Übergänge zur industriellen Fertigung häufig eher fließend waren, was darauf schließen lässt, dass die Wahrnehmung der Arbeit, die mit solchen Reportagen vermittelt wurde, erst einmal nicht gesondert zwischen einem industriellen oder einem nicht industriellen Kontext unterschied. Die detaillierte Schilderung menschlicher Arbeit in der Industrie konnte also teilweise auf analoge Präsentationen aus anderen Gewerbezweigen zurückgreifen. Das InÜber Land und Meer, Jg. 46, Bd. 92, Nr. 25, 1903/1904, S. 571–573; Paul Schreckhaase: Kieler Sprotten, in: ebd., Jg. 54, Bd. 108, Nr. 47, 1911/1912, S. 606f. 97 Vgl. z.B. Sibirische Landleute beim Ausgraben von goldhaltigem Erz, in: Das Buch für Alle, Jg. 42, H. 15, 1907, S. 335, 337. 98 Vgl. z.B. Sonntagsarbeit in einem Londoner Untergrundbahntunnel, in: ebd., Jg. 49, H. 21, 1914, S. 465–467. 99 Vgl. Die Verladung von gefrorenem Fleisch in einem Londoner Dock, in: ebd., Jg. 47, H. 4, 1912, S. 92f.; A. Oskar Klaussmann: Aus dem Hamburger Hafenleben. Eine Skizze von unsrer Handelsmarine, in: Über Land und Meer, Jg. 43, Bd. 86, Nr. 31, 1900/1901, S. 500–502. 100 Vgl. z.B. Die Strohflechterei im Grunère-Thal (Kanton Freiburg), in: Das Buch für Alle, Jg. 28, H. 15, 1893, S. 365, 367; Die Spitzenindustrie in Rapallo (Italien), in: ebd., Jg. 29, H. 22, 1894, S. 529, 534; Die Spitzenklöppelei in Brügge (Belgien), in: ebd., Jg. 49, H. 11, 1914, S. 239, 241; Die Italienische Strohhut-Fabrikation, in: Über Land und Meer, Jg. 45, Bd. 90, Nr. 34, 1902/1903, S. 756–759; B. Gätjen: Die Spankorbindustrie im oberen Erzgebirge, in: ebd., Jg. 48, Bd. 96, Nr. 33, 1905/1906, S. 814f.; Vom Flachs, S. 1119–1121. 101 Vgl. z.B. Die Achatindustrie in Oberstein, in: Die Gartenlaube, Nr. 13, 1889, S. 216f.; Die Herstellung von Spielwaren im sächsischen Erzgebirge, in: Das Buch für Alle, Jg. 43, H. 9, 1908, S. 194, 197; Rose Julien: Aus dem Puppenland, in: Über Land und Meer, Jg. 47, Bd. 93, „Weihnachtsnummer“ [ohne Nummer], 1904/1905, S. 284f.; Wie die Schwarzwälderuhr entsteht. Studie von Julius Müller, in: ebd., Bd. 94, Nr. 29, 1906/1907, S. 725–727.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

316

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

teresse der Leserschaft an der genauen Beschreibung von Arbeitsabläufen und an dem Erlebnis der reinen Körperlichkeit lässt sich als konstante Motivation für Berichte über menschliche Arbeit erkennen und bestand neben der entgegengesetzten Sichtweise, die die Bedeutung des Arbeiters oder der Arbeiterin im Produktionsprozess negierte. Eine Reportage der Zeitschrift Über Land und Meer über die fabrikmäßige Herstellung einer Gasglühlampe aus dem Jahr 1898 beispielsweise stellte die Arbeiterinnen mit ihren Handgriffen in den Mittelpunkt der Schilderungen. Der Produktionsschritt des ‚Veraschens‘ der Glühstrümpfe wurde demnach folgendermaßen skizziert: „Vor jeder Arbeiterin befindet sich ein drehbares Gestell, auf dem eine große Anzahl eigentümlich gearteter Brenner angebracht ist. […] Die Arbeiterin stülpt den an seinem Tüllende fest vernähten Strumpf über ein Gestell und setzt ihn dem Einflusse der Flamme aus. Das Baumwollgewebe verkohlt.“102 Die genaue Beschreibung des Arbeitsplatzes erforderte es vor Ort in der Fabrik, sich die Fertigung nicht nur oberflächlich anzusehen, sondern sich ganz in die Nähe der Situation und damit in die Nähe der Arbeiterinnen zu begeben. Durch den Blick sozusagen über die Schulter der Akteurin konnten sich die Sesselreisenden die Gegebenheiten genau vorstellen und fast hautnah miterleben. Ebenso stand es um die Wahrnehmung der Handgriffe der Arbeiterinnen. Indem die Handlungen im Detail erkannt und der Leserschaft vorgestellt wurden, erschienen die Frauen als die aktiv Handelnden im Produktionsprozess. Anstatt zu Passiv-Formulierungen zu greifen und den Glühstrumpf sozusagen von allein entstehen zu lassen,103 stellte eine solche Berichterstattung den Menschen und seine Arbeit in den Mittelpunkt. Bestimmte Abbildungen von den Vorgängen in der Fabrik lassen sich in ähnlicher Weise charakterisieren. Die Illustrationen zu den Fertigungsschritten in einer Bozener Konservenfabrik aus einer Reportage der Zeitschrift Illustrirte Welt aus dem Jahr 1900 boten etwa einen Blick genau auf die Handgriffe der Arbeiterinnen. Für das Lesepublikum trat hervor, wie das Einlegen des Obstes in die Gläser vonstattenging oder welche Arbeiten die dicht nebeneinander sitzenden Frauen in der Zitronatabteilung verrichteten (vgl. Abbildung 37).104 In Form einer Collage gab die Reportage erst mit einem Ausschnitt im oberen Teil der Abbildung einen Überblick über den Arbeitssaal, in dem die manuellen Arbeitsschritte verrichtet wurden, um dann durch zwei, diesen Ausschnitt als zeichnerisches Stilmittel scheinbar überlappende Bilder konkrete Arbeitsschritte abzubilden, die in der Bildunterschrift genau betitelt wurden. Der Überblick skizziert mehrere Gruppen von Frauen an je einem großen Arbeitstisch 102 Franz Bendt: Die Fabrikation der Auerschen Gasglühlampe, in: Über Land und Meer, Jg. 40, Bd. 24, 1987/1989, S. 388. 103 Vgl. Kapitel 6.1.3. 104 Vgl. auch Ein Besuch bei Benz in Mannheim, in: Allgemeine Automobil-Zeitung (Wiener Ausgabe), Jg. 10, Bd. 1, Nr. 14, 04.04.1909, S. 11–21, hier S. 19.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

317

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 37: „Zitronatabteilung“, „Einlegen in die Gläser“ (1900): Menschliche Arbeit als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit

sitzend, die unterschiedliche, hier jedoch noch nicht genau zu erkennende Aufgaben verrichten. Eine dieser Gruppen dominiert den Vordergrund der Szene, dahinter befinden sich weitere, die die Fabrikhalle bis ans Ende füllen. Die Arbeiterinnen tragen adrett wirkende Kleidung mit einheitlichen Blusen und Schürzen, die die bürgerlichen Betrachter und vor allen Dingen die Betrachterinnen, verbunden mit der Pose der innigen Versunkenheit in die Arbeit auf dem Tisch weniger an ein Fabrikszenario, als

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

318

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

vielmehr an eine Handarbeitsschule erinnert haben mag. Die Zeichnung im linken unteren Teil der Collage präsentiert laut Bildunterzeile die „Zitronatabteilung“: Hier sind vier Frauen dargestellt, die mit den Händen ein Material aufwickeln, das in Kästen vor ihnen liegt. Noch klarer als im Vordergrund des Überblicksbildes sind hier die Hände und Gesichter der Frauen, und insbesondere der versunkene Gesichtsausdruck deutlich zu erkennen, während das Arbeitsmaterial etwas diffus anmutet. So klar die Gesichter aber auszumachen sind, zeigen sie doch keine individuellen Züge, sondern wirken uniform. Dasselbe gilt für die Skizze im rechten unteren Teil der Collage, die laut Bildunterzeile das „Einlegen in die Gläser“ abbildet. Auch die hier gezeigten fünf Arbeiterinnen, die mit langen Stäben in Einmachgläsern hantieren, sind zwar von ihrem Gesichtsausdruck und ihren Zügen sowie ihrer Haartracht deutlich zu erkennen, besitzen aber als Individuum keinen Wiedererkennungswert. Dieser Eindruck aus den zwei Detailansichten wird gestärkt durch das zeichnerische Stilmittel, den Hintergrund der Szenen nicht auszuführen, sondern die Arbeiterinnen ohne Kontext abzubilden. Dieser Kontext wird zwar im oberen Teil der Collage hergestellt, verliert sich aber beim Wandern des Blicks auf die unteren Bilder. Die Abbildung stellte so insgesamt die Arbeiterinnen als zufriedene, eifrige, in ihrer Arbeit aufgehende Personen dar. Hier offenbart sich bereits, dass die Wahrnehmung und die Darstellungen des Arbeiters oder der Arbeiterin und der Tätigkeit in der Fabrik häufig nicht allein rein sachlich waren. Es ging eben nicht um die bloße Wissensaufnahme und -vermittlung über bestimmte Abläufe, sondern um ein Erlebnis, das die realen oder potenziellen Gäste mit ihren Betrachtungen anstrebten. Die Handlungen der Arbeiterschaft in der Fabrik konnten in den Augen der bürgerlichen Betrachterinnen und Betrachter sogar einen Eventcharakter annehmen. Gerade bei Arbeiten, die außergewöhnlich raumgreifend und aufsehenerregend erschienen und den Einsatz von großer Kraft erforderten, wirkte der Produktionsvorgang wie ein spannungsgeladenes Ereignis, dem eine betriebsfremde Person voller Erwartung beiwohnte und dann das Erlebnis gegebenenfalls in einem Bericht – hier für Die Gartenlaube – niederlegte: „An 400 Arbeiter harren, mit langen Zangen bewaffnet, vor den Öfen auf das Zeichen zum Beginn; flackernde blaue und rotgrüne Flammen, die hie und da durch Spalten der Ofentüren züngeln, beleuchten rußige Gesichter. Ein alter Meister geht noch einmal prüfend die Reihen ab, dann tritt der leitende Betriebsingenieur mit seinen Assistenten an die Gußrinne, und das Zeichen zum Beginn ertönt. Im gleichen Augenblick öffnen sich 17 Ofenmäuler; blaustrahlende Helle flutet aus ihrem Innern durch den Raum, und emsige Bewegung kommt in die Arbeitermassen. Jeder Ofen hat seine Gruppe. Zwei Arbeiter jeder Gruppe greifen mit einer unge-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

319

Erlebnisse in der Fabrik

fügen, an Gleitkletten hängenden Zange tief in den Ofenbauch und holen einen weißglühenden Tiegel hervor, den sie vor dem Ofen auf einen Sandtisch setzen. – Nun springen zwei andere Arbeiter mit einer mächtigen Doppelzange hinzu, packen den Tiegel und tragen ihn zur Gußrinne, wo Paar auf Paar gleichmäßig den Inhalt (45 Kilogramm flüssigen Stahles) entleert.“105 Die Beschreibung gab Einsicht in die zeitliche und räumliche Ausdehnung der Arbeitsprozesse, bei denen die Arbeiter und ihre große Zahl von Beginn der Schilderung an im Fokus standen. Sie traten als Individuen auf, deren Gesichter im Ofenschein hervorstachen. Durch die farbige, unstete Beleuchtung und die Rauchschwärze der Gesichter wirkten diese jedoch fremd und geheimnisvoll. Das lud dazu ein, sie näher zu betrachten und so zu erkunden. Dass die Arbeiter gleichzeitig als „Masse“ beschrieben wurden, belegt, dass sich verschiedene Narrationen des Arbeiters als Objekt der touristischen Betrachtung in der Fabrik durchaus überlagern konnten.106 Mit Schlüsselwörtern, die anzeigten, dass ein Ereignis kurz bevorstand, wurde ein Spannungsbogen erzeugt: Die Arbeiter harrten dem Vorgang des Gießens, und mit ihnen erwartete die Leserschaft voller Spannung den Beginn dieses unbekannten, aufregenden Prozesses. An anderer Stelle verwendete die Reportage, um den Vorgang dramatisch zu beschreiben, weitere Signalwörter und Redewendungen wie „im gleichen Augenblick“ oder „nun“,107 womit nicht nur ein nüchterner Arbeitsprozess veranschaulicht, sondern eine Erlebnisatmosphäre geschaffen wurde. Über die Lektüre ließ sich der Arbeiter auf Schritt und Tritt bei jedem der detailliert geschilderten Arbeitsgänge und Handgriffe begleiten, ließ vom heimischen Sessel aus teilhaben an der Dynamik des Vorgangs. Diese Dynamik, die durch die Thematisierung des Arbeiters als dem wirkungsmächtigen Element im Produktionsprozess entstand, griffen auch die Bilder aus der Fabrik häufig auf. Sie präsentierten die Beschäftigten in Bewegung, bei der kraftvollen Bearbeitung von Werkstoffen, beim Umgang mit flüssigen, heißen Materialien, bei nahtlos ineinandergreifenden Arbeitsvorgängen, die sie maßgeblich vorantrieben. In einem Schienenwalzwerk, so zeigt eine Zeichnung aus der Illustrirte[n] Zeitung aus dem Jahr 1890, transportierte eine gut aufeinander abgestimmte Arbeitsgruppe gemeinsam im Laufschritt meterlange glühende Schienenstränge aus dem Schmelzofen heraus (vgl. Abbildung 38). Dazu nutzten die Männer ihre ganze Kraft, Schnelligkeit und Geschicklichkeit, wie die Illustration durch die Dynamik der Körperhaltung der Beteiligten verdeutlicht, die mitten in der Bewegung eingefangen scheinen. Obwohl 105 Von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 295. 106 Vgl. Kapitel 6.1.3. 107 Von Bassewitz, Aus den kruppschen Werken, S. 295.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

320

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 38: „Schienenwalzwerk“ (1890): Körperliche Kraft und Dynamik

jeder Arbeiter in einer individuellen Pose festgehalten ist – der eine setzt gerade das linke Bein nach vorn, ein anderer schwingt das rechte Bein, ein dritter versucht, sein Gleichgewicht zu halten, einer bewegt sich seitlich, ein anderer dreht sich beim Laufen eher nach vorn –, funktioniert die Gruppe doch als Einheit, symbolisiert durch den hell sich abhebenden Schienenstrang. Dynamik und Ordnung gingen, so die Aussage des Bildes, bei der Produktion in der Fabrik Hand in Hand. Solche Beschreibungen und Bilder evozierten eine große Nähe zur Körperlichkeit der Arbeit und des Arbeiters, die durchaus noch steigerungsfähig war, beispielsweise, wenn die Gäste in der Fabrik einen schweißüberströmten, fast nackten Körper aus absoluter Nähe erlebten oder Bilder und Beschreibungen eben dieses Erlebnis dem Publikum vermittelten. „So im Innern des Berges, bei rötlichem Grubenlicht, halb nackt, nur mit den Hosen bekleidet, in tropisch heiß-feuchter, sauerstoffarmer Luft, hauen die Picconieri das Gestein los, das die Carusi hinausbefördern.“108 Diese Szenerie aus einem sizilianischen Schwefelbergwerk, die die Zeitschrift Die Gartenlaube im Jahr 1909 beschrieb, war der Alltagsrealität der bürgerlichen Touristinnen und Touristen völlig entgegengesetzt. Sie begaben sich durch die Lektüre an einen Ort, der im Halbdunkel lag und an dem Hitze und Feuchtigkeit, Enge und Dreck vorherrschten. Hier 108 Aus den Schwefelbergwerken Siziliens, in: Die Gartenlaube, Nr. 3, 1909, S. 59–63, hier S. 61.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

321

Erlebnisse in der Fabrik

begegneten sie dem Arbeiter, der in dieser Umgebung seine Aufgabe verrichtete und von den Gegebenheiten in Mitleidenschaft gezogen war. Er musste beispielsweise, so lässt eine Zeichnung aus der Illustrirte[n] Zeitung erkennen, liegend in unnatürlicher Pose im kaum erhellten Stollen mit schwerem Gerät Kohle aus dem Berg schlagen (vgl. Abbildung 39) oder im Kohlebunker eines Dampfschiffes, so stellte es Die Gartenlaube 1903 ebenfalls in einer Zeichnung dar, bei starker Hitze unter großer Kraftaufwendung schweißüberströmt Kohle zerkleinern (vgl. Abbildung 40).109 Die Körperlichkeit der Arbeiter stand auf diesen Abbildungen im Vordergrund: Die Nahaufnahme der in liegender Position arbeitenden Bergleute unter Tage sollte das Gefühl vermitteln, neben ihnen im Stollen zu liegen und den Körper des Arbeiters direkt berühren zu können. Deutlich sind individuelle Gesichtszüge, die Falten der Kleidung und sogar die mit Kohlestaub gefüllten und dadurch klar sich abzeichnenden Hautfalten zu erkennen. Der Hauer im Kohlebunker erscheint dagegen entrückter, nicht nur durch seine Position in der Mitte des Bildes weiter vom Betrachter entfernt, sondern insbesondere durch den Lichteindruck, der durch die Wiedergabe des Feuerscheins erzeugt wird. Der 109 Vgl. neben den genannten Abbildungen z.B. auch Abbildung Herstellen der Sprenglöcher mit Handbohrer und Fäustel, in: Die Gartenlaube, Nr. 47, 1911, S. 1099; Abbildung Treiben von Bohrlöchern zur Sprengung des Gesteins mit der Hand, in: ebd., Nr. 34, 1909, S. 719.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

322

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 39: „Schrämen mit Schrämenmeißel“ (1893): Hautnahes virtuelles Erleben

blanke Rücken, den er den Betrachterinnen und Betrachtern zukehrt und auf dessen schweißnasser Haut sich der Feuerschein widerspiegelt, während sich darunter die kräftigen Muskeln bewegen, fesselt in seiner heroischen Anmutung. In beiden Abbildungen schufen die Zeichner Situationen, die einerseits auf das bürgerliche Bildgedächtnis abzielten, indem sie Anklänge an die Konventionen bei der Darstellung von Menschen in körperlichen Grenzsituationen seit der Antike erkennen ließen – ein Beispiel wäre die über zweitausend Jahre alte Laokoon-Gruppe, die in der Renaissance wiederentdeckt wurde und sich heute in den Vatikanischen Museen befindet. Andererseits befriedigten sie zugleich die bürgerliche Neugier und Sensationslust bezüglich des entblößten, von harter Arbeit geprägten Arbeiterkörpers. Vor allem für Betrachterinnen mag dazu eine gewisse erotische Faszination von dem mit seiner ganzen Kraft unter widrigen Umständen arbeitenden männlichen Körper ausgegangen sein. Noch größer war der Ertrag für die Sensationslust, wenn ein Hauch von Gefahr in der Luft lag, wenn die Risiken der Arbeit sichtbar wurden. Reportagen aus Stahlwerken evozierten einen gewissen Nervenkitzel, indem sie immer wieder die Gegenwart von Feuer und glühendem Eisen thematisierten und erklärten, bei der Arbeit handle es sich um einen Kampf zwischen dem Menschen und den von ihm „niedergezwunge-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

323

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 40: „Im Kohlenbunker“ (1903): Der heroisch Arbeitende im Blick der Betrachterinnen und Betrachter

nen Elementen.“110 Dass dieser Kampf nicht immer zugunsten des Menschen ausgehen musste, inszenierte beispielsweise ein Bild aus einem Eisenwalzwerk, das die Illustrirte Zeitung 1905 abdruckte. Indem es einen nur wenig bekleideten Verletzten an seinem gefahrvollen Arbeitsplatz darstellte, befriedigte es die bürgerliche Schaulust (vgl. Abbildung 41). Die Abbildung des eindrucksvollen Industriegemäldes111 zeigt im Vordergrund die Unfallsituation: Ein fast gänzlich unbekleideter bewusstloser Arbeiter wird von zwei Kollegen an Armen und Beinen gefasst und vom Unfallort weggetragen, ein dritter begleitet den Vorgang. Das Gesicht des Ohnmächtigen hat ein mittleres Alter, 110 Im Eisenwalzwerk, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 124, Nr. 3221, 23.03.1905, S. 422. 111 Vgl. Kapitel 2.3.2.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

324

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 41: „Im Eisenwalzwerk“ (1905): Abdruck eines Industriegemäldes in einer Illustrierten

der Körper ist aber noch muskulös, er wirkt geformt durch jahrelange körperliche Arbeit. Der Bildmittelgrund wird dominiert von einer hellen, ungebändigten Feuersglut, in die drei Arbeiter mit Hitzeschutzschürzen zur Eisenbearbeitung mit langen Stangen stoßen. Sie lassen sich von ihrer Arbeit durch den Unfall nicht abbringen, dieser scheint für sie zum Arbeitsalltag zu gehören und der Abtransport des Verletzten keine größere Aufmerksamkeit zu erregen. Der Bildhintergrund ist ebenfalls von einer weiteren Feuersglut hell erleuchtet, schemenhaft sind davor Personen zu erkennen. Im Übrigen erscheint der Vordergrund des Gemäldes in hellem Licht, das von einer Feuerstelle außerhalb des Bildausschnitts kommen mag. Durch das Wechselspiel der hell erleuchteten Arbeitsstellen und den ansonsten dunklen Räumen dazwischen entsteht für die Betrachtenden ein klaustrophobisches Erlebnis. Die Wände der Fabrikhalle sind nicht auszumachen, vielmehr entsteht der Eindruck, als spielten sich die Ereignisse in einer Höhle mit unbekannten Ausmaßen ab. Die Illustrirte Zeitung druckte nicht nur das Gemälde des Malers Oskar Popp ab, sondern lieferte ihrer Leserschaft gleich eine Anleitung zur Wahrnehmung und Interpretation. Neben den malerischen Aspekten des Bildes, der Feuersglut in der Bildmitte, thematisierte der Begleittext hauptsächlich das Verhältnis von menschlicher Kraft und Naturgewalt, „des Menschen im Kampfe

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

325

Erlebnisse in der Fabrik

mit den niedergezwungenen Elementen“, die zum Zweck der Produktion aufeinandertreffen müssten. Aus diesem Mit- und Nebeneinander sei der Unfall entstanden, das Unglück sei zurückzuführen auf die „vom Menschen gebändigten Kräfte und Massen“, die „einmal ihrerseits zum Angriff übergegangen sind.“112 Dass der Mensch im Produktionsprozess versehrt wurde, erschien jedoch nicht als etwas Ungewöhnliches, sondern als ein Umstand, der hinzunehmen war. Die Kollegen, die die Rettung übernahmen, arbeiteten geradezu routiniert zusammen, die Arbeit im Werk ging weiter ohne Unterbrechung.113 Auch die Illustrirte Zeitung brachte weder Mitleid mit dem verwundeten Arbeiter auf, noch regte sie ein solches Gefühl bei ihren Leserinnen und Lesern an. Damit grenzte sie sich unverkennbar von den Motiven der Sozialreportage ab und betonte stattdessen wiederum die Körperlichkeit der Arbeit, die diesen Körper, der eben keine Maschine war, durchaus verletzen oder zerstören konnte. Besonders für die Touristin, der der tatsächliche Zutritt zu den Betrieben der Schwer­industrie verwehrt wurde, boten solche Schilderungen die einzige Möglichkeit, sich einen Eindruck vom Inneren der Fabrik zu verschaffen. Das Bild, das Zeitschriften oder weitere Druckerzeugnisse dabei vermittelten, musste daher das touristische Erlebnis gerade der Körperlichkeit von Arbeit komplett ersetzen, die Blicke und Eindrücke, die es vorgab, lieferten für die Touristin den einzigen Zugang. Es wurde, so lässt sich zumindest vermuten, umso eifriger rezipiert. Doch selbst in Branchen, in denen ganz anders geartete Arbeit als in der Schwer­ industrie erbracht wurde, wandelte sich diese zum Event. Sogar Tätigkeiten wie das Entkernen von Früchten für die Weiterverarbeitung als Konserve erschienen in Fa­ brikreportagen als Erlebnis: „Geschäftiges Leben und Treiben allüberall in den hohen Arbeitssälen und an den langen Tischreihen! Hier fällt Kern auf Kern unter den emsigen Fingern der Arbeiterinnen aus dem süßen Fleisch der Steinfrüchte, dort schält, teilt und reinigt eine andre Partie mit kleinen Handmaschinen Aepfel, Birnen, Aprikosen und Pflaumen […].“114 Stilmittel wie der Gegensatz zwischen „hier“ und „dort“, der ebenso wie das Signalwort „allüberall“115 eine weit ausgreifende Betriebsamkeit suggerierte, oder ebenso das Mittel des Ausrufezeichens inszenierten einen recht eintönigen Vorgang als ein interessantes Erlebnis. Die Süße und Fleischigkeit der Früchte, die die Finger der Arbeiterinnen zerteilten, standen für körperliche Genüsse, wodurch die Arbeiterinnen, im Kontext des Produktionsprozesses gänzlich überflüssig vorgestellt als „glutäugige[ ] Töchter[ ] der bella Italia“,116 selbst mit einer verstärkten Körperlichkeit 112 Im Eisenwalzwerk, S. 422. 113 Vgl. ebd. 114 Doménigg, In einer Bozener Konservenfabrik, S. 600. 115 Ebd. 116 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

326

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

aufgeladen wurden. Durch den Bezug auf einen Topos, der nichts mit der Welt der Arbeit in der Fabrik zu tun hatte, sondern sich auf ein Wahrnehmungsmuster der geschlechtsspezifischen Exotisierung bezog, konnten gerade beim Leser erotische Assoziationen aufkommen. Das Erlebnis der Arbeit und dessen Beschreibung ist also als eine Inszenierung zu begreifen, die die Körperlichkeit betonte. Körperlichkeit war aber, wie die Beispiele aus den verschiedenen Industrien schon angedeutet haben, unterschiedlich verortet. Dies lag einerseits an der jeweiligen Tätigkeit, die in verschiedenen Branchen nötig war, etwa schwere körperliche Arbeit in der Schwerindustrie, Geschwindigkeit und Fingerfertigkeit in anderen Industrien. Menschliche Arbeit hatte überdies eine geschlechtsspezifische Komponente mit zweierlei Ursprüngen: Sie entstand dadurch, dass Männer und Frauen von der Industrie tatsächlich für unterschiedliche Aufgaben eingesetzt wurden, und sie ging aus der bürgerlichen Deutung von körperlicher Arbeit hervor. Während die Fabriktouristinnen und -touristen von männlicher Arbeit in erster Linie einen grundlegend martialischen Charakter erwarteten, maßen sie die Arbeit von Fa­ brikarbeiterinnen in Kategorien von Fleiß und Sauberkeit. Während typisch männliche Arbeit hauptsächlich in der Schwerindustrie stattfand und gekennzeichnet war durch Kraft und Ausdauer, erforderte weibliche Arbeit Geschick und Schnelligkeit, Ordnungsliebe und Reinlichkeit. „Emsig“,117 fleißig“118 und „gewandt“119 seien sie bei der Arbeit, „einfach und sauber frisiert[ ]“, „mit weißen Schürzen angethan“:120 So erlebten die Gäste in der Fabrik die Frauen an ihrem Arbeitsplatz. Diese Tugenden waren nicht nur ein Charakteristikum der weiblichen Arbeit, sondern wurden als ein genuiner Teil der Persönlichkeit interpretiert, was dazu führte, dass die Arbeiterinnen, obwohl sie einen Teil des maschinellen industriellen Fertigungsprozesses bildeten, doch ihren femininen Charakter behielten, der von der industriellen Umgebung scheinbar unberührt blieb, wodurch die bestehenden Rollenklischees bestärkt wurden. Die Arbeiterinnen der Firma Sprengel beispielsweise, die die Schokolade im Takt jener Maschine verpackten, die diese fertigte (vgl. Abbildung 42), standen in ihren adrett wirkenden Schürzen mit ihrem Äußeren für die innere ‚weibliche‘ Tugend der Reinlichkeit, die sie trotz der Beschäftigung an der Maschine beibehielten und die für die Güte des Produktes stand. Die Fotografie aus der Werbeabteilung der Firma Sprengel, die diese in ihrem Kundenkalender aus dem Jahr 1914 abdruckte, zeigt neben einer nicht genau auszumachenden Anzahl von Frauen im Hintergrund des Bildes im Vordergrund fünf klar 117 Ebd. 118 Richard Gollmer: Deutsche Konservenindustrie, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 131, Nr. 3408, 22.10.1908, S. 735f., 738f., hier S. 735. 119 H. Reiter: Wie entsteht die Maske?, in: Die Gartenlaube, Nr. 9, 1908, S. 186f., hier S. 186. 120 Wanna, Die Geschichte von der braunen Schokolade, S. 280.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

327

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 42: Bild aus dem illustrierten Kundenkalender der Firma Sprengel (1914): Die Tätigkeit des Verpackens als Attraktion

zu erkennende Arbeiterinnen. Den Betrachtenden am nächsten sitzt eine von ihnen an einer Maschine, die fertig produzierte Schokoladentäfelchen transportiert. Die Arbeiterin ergänzt das Werk der Maschine, indem sie die Schokolade vom Band nimmt und in die bereitstehende Verpackung legt. Ihre Reinlichkeit, unerlässlich, da sie direkt mit dem fertigen Lebensmittel in Berührung kommt, wird symbolisiert durch die weiße Schürze.121 Ihre Tätigkeit wird indes überwacht von einem Mann, der leicht erhöht rechts von ihr steht. Eine andere Frau im Vordergrund des Bildes führt die der Arbeiterin an der Maschine nachgeordnete Tätigkeit aus, indem sie Kartons mit bereits fertig verpackter Schokolade stapelt. Weitere Arbeiterinnen im Mittel- und Hintergrund beschäftigen sich ebenfalls mit Kartons voller Ware. Im Gegensatz zu der Arbeiterin an der Maschine tragen sie keine weißen, sondern dunkle Schürzen, was dem Umgang mit den Umverpackungen eher angemessen erscheint. Bei der Arbeit mit der verpackten Ware offenbarte sich ebenfalls eine starke geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, denn der Abtransport der Pappschachteln wird von einem Arbeiter übernommen, der in der Bildmitte einen Wagen mit gestapelten Kartons schiebt. Es schien also der feminine Charakter der Arbeiterinnen, symbolisiert durch die dargestellte Arbeitsteilung und die dezidiert weiblich-adrette Kleidung, den Darstellungskonventionen der Zeit entsprochen zu haben. Selbst in einer Umgebung wie der Fabrik, die mit schwerer körperlicher 121 Vgl. über die genannte Abbildung hinaus z.B. die Abbildung Handplätterei, auf der hunderte von Frauen adrett in Schürzen gekleidet an Bügeltischen stehend zu sehen sind: Handplätterei, in: Über Land und Meer, Jg. 50, Bd. 99, Nr. 20, 1907/1908, S. 505.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

328

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Arbeit, Lautstärke und Dreck assoziiert wurde und so tendenziell zu den Vorstellungen von weiblichen Charaktereigenschaften in Opposition stand, wurden die femininen Tugenden wie Sauberkeit, Ordnung, die Fähigkeit zu flinker Handarbeit und die Unterordnung unter die männliche Aufsicht herausgestellt.122 Hinzu kam in den Schilderungen aus der Fabrik als weiteres Merkmal der weiblichen Arbeit eine grundlegend positive Einstellung zur jeweiligen Tätigkeit. „Geplauder und fröhlicher Gesang“,123 die die Produktion nicht etwa behinderten, sondern in ihrem Fortkommen sogar noch begünstigten, begleiteten das „emsige“124 Wirken der Arbeiterinnen im Werk. In einem Arbeitsprozess, in dem Männer dominierten, wäre solches Verhalten dagegen eher als störend oder als Gefahr für die Arbeitssicherheit dargestellt worden. Die Analyse der möglichen bürgerlichen Wahrnehmung von weiblicher und männlicher Fabrikarbeit verweist so darauf, dass Touristinnen und Touristen festgelegte bürgerliche Rollenklischees ebenfalls bei der Betrachtung des Fremden, des Anderen, anbrachten. Sie beschworen den körperlich arbeitenden Menschen in der Fabrik zwar als Gegensatz der eigenen Lebens- und Arbeitswelt, konnten ihre Vorstellungen von männlichen und weiblichen Charakteren und Fähigkeiten jedoch nicht unberücksichtigt lassen.125 Die Körperlichkeit der Arbeit und der Arbeiterschaft, ob nun in spezifisch weiblicher Variante, die durch Ordnung und Reinlichkeit bestach, oder als schmutzbehaftete, schwere männliche Arbeit, war vielleicht das erschütterndste Erlebnis beim Fabrikbesuch. Eine Möglichkeit, mit dieser Körperlichkeit umzugehen, bestand darin, die Fa­brikarbeiter als bedrohliche Masse darzustellen, vor der die bürgerlichen Gäste zurückschreckten, die sie jedoch gleichzeitig mit Faszination betrachteten. Diese Betrachtung stellte sich, wie das Beispiel der Beschreibung des Tiegelgußstahls belegt,126 parallel neben vielen anderen Sichtweisen ein. Wann immer sich größere 122 Dieselbe Aussage lässt sich auch im Bild zum Bericht über die Bozener Konservenfabrik ausmachen (vgl. Abbildung 39), auf dem die Arbeiterinnen an Tischen sitzen und saubere helle Schürzen als Arbeitskleidung tragen, während der Abtransport der fertigen Waren von Männern in dunkler Kleidung übernommen wurde. 123 Der Schmiedeberger handgeknüpfte Smyrna-Teppich und seine Herstellung, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3149, 05.11.1903, S. 692f., hier S. 693. 124 Wanna, Die Geschichte von der braunen Schokolade und dem weißen Zucker, S. 280. 125 Die geschlechtsspezifische Differenzierung sowohl der unterschiedlichen Fabrikarbeiten als auch der Art ihrer Darstellung diagnostiziert ebenso Uhl gerade für die Schwer- und die Süßwarenindustrie. Für letztere stellt er fest, dass sich hier ein Wandel vollzogen habe von einem handwerklichen Betrieb und männlicher Arbeit zum industriellen Unternehmen und weiblicher Arbeit, vgl. Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 46, 284. 126 Vgl. Kapitel 6.1.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

329

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 43: „Die Limbecker Chaussee vor Beginn der Arbeit“ (1890): Eine entindividualisierte Masse von Arbeitern auf dem Weg in die Fabrik

Mengen von Arbeitern gleichzeitig zu ihrem Einsatzort bewegten oder ihn verließen, erzeugte das beispielsweise große Wirkung. Mit „unabsehbaren Menschenfluthen“127 hatte die Besucherin oder der Besucher einer Fabrik zu kämpfen, wenn sie oder er sich zu Arbeitsbeginn auf den Weg zur Produktionsstätte machte, war es in Berlin128 oder im Ruhrgebiet.129 Die Bilder, die dieses Thema aufgriffen, zeigten Straßen zur Fabrik, wie etwa die Limbecker Chaussee in Essen, die auf die Werkshallen der Firma Krupp zulief (vgl. Abbildung 43), und vollkommen verstopft mit Menschen in Arbeitskleidung war. Das Ende der Straße und damit der Menschenmenge verliert sich im Rauch der Fabrikschornsteine und scheint so eine Sogwirkung auszuüben. Die bürgerlichen Betrachterinnen und Betrachter sahen eine gesichtslose, weil nur von hinten zu erkennende Masse, die sie wie ein Mahlstrom in sich hineinzuziehen 127 Erich Salzmann: Aus den Werkstätten des Lichts, in: Die Gartenlaube, Nr. 2, 1892, S. 30–34, hier S. 30. 128 Vgl. ebd. 129 Vgl. Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 495.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

330

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

drohte.130 Ein ähnliches Szenario ereignete sich zur Mittagszeit. Die große Zahl von Arbeitern, die sich mit dem Schlag der Mittagsglocke über das Gelände der Kaiserlichen Werft in Kiel bewegte, empfanden die bürgerlichen Gäste des Unternehmens, so die Schilderung der Zeitschrift Die Gartenlaube aus dem Jahr 1909, als „schwarze[ ], endlose[ ] Menschenmassen“,131 die aus den Werkstätten herausquollen, über das Terrain fluteten und sie sinnlich zu überfordern drohten.132 Ebenfalls kaum als Individuen auszumachen waren die Arbeiter, wenn sich ihre Züge für den Bürger und die Bürgerin aufgrund des an der Arbeitsstätte vorherrschenden Drecks und der Dunkelheit des Rauches aus Fabrikschornsteinen und Fertigungshallen nicht auseinanderhalten ließen. Ganz klischeehaft erschienen der Besucher- oder Leserschaft solche „schwarzen Gestalten mit den rußigen Gesichtern“ aus den besonders mit Schmutz verbundenen Kohlenbergwerken „wie eine Schar aus ihrem Bergverlies ausgebrochener Dämonen der Tiefe.“133 Andererseits erfuhr die Leserschaft von Fabrikreportagen die Arbeiter jedoch als Individuen, die ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübertraten. Der Blick traf sie in den Abbildungen der Zeitschriften immer dann, wenn die Personen vor ihrem Arbeitsplatz oder dem von ihnen gefertigten Produkt in vermeintlichem Stolz posierten. In einer Fotografie, abgedruckt von der Illustrirte[n] Zeitung im Jahr 1902, blicken mehrere Arbeiter einer Großschlachterei die Betrachtenden direkt an, gruppiert um den ‚Rohstoff Schaf‘, wie um die Maschinen zur Weiterverarbeitung und zum Transport der Tiere (vgl. Abbildung 44). Die Arbeiter füllen in dem Bild jeden freien Raum zwischen den Produkten und den Produktionseinrichtungen aus, um von der Kamera und dem Blick der Betrachterinnen und Betrachter gleichermaßen gut eingefangen werden zu können. Mindestens acht Personen unterschiedlichen Alters mit individuellen Gesichtszügen sind auszumachen. Zwei von ihnen stehen im Vordergrund der Fotografie im Pferch für die Schafe, sie halten als Arbeitsgerät Ketten in den Händen. Dahinter greift eine Person nach an den Füßen an einem Förderband aufgehängten Schafen, um 130 Vgl. dazu auch das sehr ähnliche Motiv Straße in den Stumm’schen Werken in Neunkirchen bei Schichtwechsel. Vgl. Emil Limmer: Straße in den Stumm’schen Werken in Neunkirchen bei Schichtwechsel, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. I (gesonderte Paginierung). 131 Hoffmann, Die Kaiserliche Werft in Kiel, S. 479. 132 Auch für dieses Wahrnehmungsmuster, auf das Berichte aus der Fabrik zurückgriffen, gab es Vorläufer insbesondere im literarischen Bereich. Vgl. z.B. Elizabeth Gaskell: North and South (The Works of Elizabeth Gaskell, Bd. 7), Neudruck, London 2007 (englische Erstausgabe 1855), S. 68f. Die Autorin schildert dort die Eindrücke einer jungen Frau aus der Mittelschicht, die in einer fremden Fabrikstadt in den Strom der Arbeiter und Arbeiterinnen auf dem Weg zur Fabrik gerät und sich nur mit Mühe aus diesem befreien kann. 133 Paul Grabein: Im Reiche Plutos. Eindrücke im Kohlenbergwerk, in: Die Gartenlaube, Nr. 34, 1909, S. 716–719, hier S. 717.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

331

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 44: „Schlachten der Schafe“ (1902): Der Arbeiter als Individuum

diesen Arbeitsschritt als ihre individuelle Aufgabe zu kennzeichnen; noch weiter hinten packt eine weitere Person nach an diesem Förderband weitertransportierten Schafen. Die Bewegungen sind nur angedeutet, die Situation wirkt – vermutlich aufgrund technischer Vorgaben bei der Fotografie, die keine schnellen Bewegungen zuließen – eingefroren. Nichtsdestoweniger positionierten sich diese Arbeiter mit solchen Gesten im Produktionsprozess und wiesen sich darüber aus. Das Produkt, beispielsweise zum Weitertransport aufgehängte Schafe, dokumentierte die körperliche Leistung, die die Arbeiter erbracht hatten und nun stolz präsentierten. Die Identität des Arbeiters in dieser Pose erwuchs also aus seiner Leistung,134 obwohl sich die Künstlichkeit der Pose nicht übersehen läßt. Weitere Personen, die keine direkte Aufgabe auf dem Bild ausführen, recken ihre Hälse über Maschinenteile oder an anderen Kollegen vorbei, um mit ihrem 134 Vgl. über die genannte Abbildung hinaus z.B. auch folgende Motive: Abbildung Tunnelarbeiter, soeben aus dem Schacht kommend, in: Über Land und Meer, Jg. 49, Bd. 97, Nr. 14, 1906/1907, S. 362; Abbildung Abteufen des Segengottesschachts III, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 100, Nr. 2608, 24.06.1893, S. 688; Abbildung Blick in Montagehalle der Lokomotivbauanstalt, in: ebd., Bd. 139, Nr. 3610, 05.09.1912, S. 414.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

332

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Gesicht und damit als erkennbares Individuum mit auf das Bild zu gelangen. Nicht nur die Betriebsfremden hatten offenbar ein genuines Interesse an der Betrachtung, sondern gleichfalls die Arbeiter, die sich ins Bewusstsein ihres Gegenübers zu rücken versuchten. Sie richteten den Blick direkt auf die Gruppe der Betrachtenden oder ihren Stellvertreter in Form des Fotografen oder Zeichners. Hier spielt die Frage nach der Entstehungssituation solcher Bilder und der Intention der Auftraggeber ebenso eine Rolle wie die mögliche Wirkung auf die Betrachtenden. So ist zu vermuten, dass es im Interesse des Unternehmens lag, verschiedene Produktionsschritte abzulichten und durch die Anwesenheit der Arbeiter zu veranschaulichen; im Interesse der Belegschaft lag es möglicherweise aufgrund der Neugier auf das neue Medium Fotografie, Teil dieses Bildes zu sein. Für sie bestand hier die wahrscheinlich einzige Möglichkeit, jemals auf diese Weise abgebildet zu werden. Den Leserinnen und Lesern von Zeitschriften oder Fabrikführern prägte sich indes im Bildgedächtnis ein, dass in der Fabrik die Arbeiterschaft fast darauf wartete, in ihren Tätigkeiten innezuhalten, und von den Gästen betrachtet und in ihrer Leistung anerkannt zu werden. Durch die Abbildungen, die einen vermeintlichen ‚Blickkontakt‘ mit den arbeitenden Menschen boten, waren die Fabriktouristinnen und -touristen in der Erwartung, bei einer selbst begangenen Exkursion in die Fabrik die Arbeiter im direkten Anblicken als Studienobjekt betrachten zu können. In den Beschreibungen von Fabriken erschienen Arbeiter ebenfalls als Individuen, manche Reportagen nutzten die Persönlichkeit eines Einzelnen gar als zentrales Narrativ. So machte Die Gartenlaube in einer Reportage aus dem Jahr 1904 einen Heizer auf einem Dampfschiff zum Protagonisten. Sie versah ihn mit einem Namen und kennzeichnete ihn über bestimmte körperliche Merkmale: „Tomaschewski, ein kleines, schmächtiges Kerlchen mit blassem, scharfgeschnittenem Gesicht, aus dem ein paar schwarze Augen funkeln, reißt die Tür der Feuerbuchse auf.“135 Der derart charakterisierte Arbeiter schien der Schwere der Tätigkeit kaum gewachsen, hielt sich aber tapfer auf den Beinen: „Mit einem Krach fliegt die Tür zu, und wankenden Schrittes geht der Heizer zu einem in der Ecke des Heizraumes stehenden Eimer mit Trinkwasser. In durstigen Zügen schlürft er das lauwarme Naß, das am Rande des Trinkkumms vorbei ihm über Gesicht, Hals und den völlig entblößten Oberkörper fließt, helle Streifen auf die von Kohlen- und aschenstaub geschwärzte Haut malend, so daß der Mann aussieht wie ein Zebra.“136 135 Bernstorff: Die Funkenpuster, in: Die Gartenlaube, Halbheft 32, 1903, S. 897f., hier S. 897. 136 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

333

Erlebnisse in der Fabrik

Diese Reportage bemühte letzlich ebenfalls nur klischeehafte Bilder, obschon sie vermeintlich einen Bericht über ein konkretes Individuum lieferte. Sie skizzierte das Bild einer körperlich höchst strapaziösen Arbeit, die von einem gleichzeitig Mitleid und Bewunderung erregenden Menschen mit stoischem Durchhaltevermögen ausgeführt wurde. Das Bürgertum erkannte hier das eigene Arbeitsethos im ganz fremden Umfeld, wodurch es einerseits bekannte Maßstäbe zur Bewertung des Geschehens ansetzte, sich aber andererseits durch die Fremdheit des Vorgangs von der Arbeiterschaft abgrenzen konnte. Mit der detaillierten Betrachtung und Individualisierung der Arbeiter traten die Touristin und der Tourist in direkten Kontakt mit dem gesellschaftlich Anderen, ein Kontakt, der freilich nicht auf einem gleichberechtigten Miteinander beruhte und damit eine inszenierte Illusion war. Die Leserschaft der Zeitschriften glaubte nur, den Personen auf den Fotografien oder Zeichnungen direkt in die Augen zu sehen und so diejenigen tatsächlich zu erblicken, von denen sie sich zur Stärkung der eigenen Identität distanzieren wollten. Tatsächlich sah der arbeitende Mensch nur in das Objektiv der Kamera oder sein Blick war von vornherein eine Interpretation des Zeichners. Ein solcher ‚Blickkontakt‘ wurde im Übrigen weitestgehend nur mit männlichen Personen konstruiert, Arbeiterinnen wurden zwar auch als Protagonistinnen einer Reportage oder eines Bildes detailliert skizziert, eine Darstellung als selbstbewusstes Individuum, das seinen Blick in die Kamera oder auf den Zeichner richtete, erfuhren sie aber nicht. Hier spiegeln sich erneut bürgerliche Geschlechtervorstellungen, die Frauen generell das Streben nach Individualität absprachen, und die ebenso auf die Abbildung von Arbeiterinnen angewandt wurden. Auch in der Fabrik selbst bildete der direkte persönliche Blickkontakt zwischen Touristinnen und Touristen sowie Arbeiter und Arbeiterin eher die Ausnahme, da der touristische Blick viel eher als Panorama- denn als Detailblick angelegt war. Ein direkter Kontakt konnte gar nicht erwünscht sein, weil damit die touristische Konstruktion des Arbeiters durchbrochen worden wäre. Letztlich, so belegen verschiedene Fabrikreportagen, versuchten die bürgerlichen Betrachtenden, den Arbeiter oder die Arbeiterin, so sie sie denn als Personen anerkannten, doch in bestimmte Schemata einzufügen. Diesen Umstand schildert Angela Schwarz bereits in ihrer Untersuchung der Touristifizierung des Londoner East Ends und der dort beheimateten Menschen durch die Medien. Sie stellt fest, dass die Abbildungen vermeintlicher Individuen letztlich einer standardisierten Darstellung folgten, die die skizzierten Personen zu Typen erstarren ließ, „Typen, die sich beschreiben, in Kategorien einordnen, wiedererkennen und so fassen ließen.“137 Diese Typisierung 137 Angela Schwarz: „East-Enders“. Zur Konstruktion des neugierigen Blicks auf die städtischen Unterschichten in der Illustrated London News, in: Natascha Igl/Julia Menzel (Hrsg.): Illustrierte Zeit-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

334

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

wurde bemüht, um mit der eigentlich verwirrenden Individualität des Betrachtungsobjektes umzugehen und dem feste Wahrnehmungsschemata entgegenzusetzen, auf die die Touristinnen und Touristen in der tatsächlichen Situation zurückgreifen konnten. Mit dem Erlebnis der großen Arbeiterschaft der Eisenwerke des Unternehmers Stumm aus Neunkirchen an der Saar ging die Reportage über die Firma aus der Illustrirte[n] Zeitung daher ebenfalls durch Klassifizierung um, indem eine zugehörige Abbildung verschiedene ‚Arbeitertypen‘ konstruierte, die sich jeweils durch eine Kombination bestimmter Merkmale auszeichneten (vgl. Abbildung 45). Der abgebildete Arbeiter hatte entweder einen muskulösen, nackten Oberkörper, oder trug Kleidung; er hielt ein Arbeitsgerät in der Hand oder saß entspannt in einer Pause auf einer Bank; er hatte einen Hut auf dem Kopf oder war barhäuptig; er hatte einen Schnauzbart, einen Vollbart oder war bargesichtig. Aus dieser Kombination von Merkmalen konstruierte der Zeichner vierzehn Arbeiterabbilder vor einem weißen Hintergrund, wodurch diese gänzlich dekontextualisiert abgebildet wurden. Da die Kombination der genannten Merkmale endlich war, begannen sich die ‚Typen‘ außerdem zu wiederholen, unterschieden sich beispielsweise nur darin, ob sie ein Arbeitsgerät in der Hand hielten oder in entspannter Pose Pause machten. Rund ein Drittel der ‚Typen‘ wurde gar nur als Büste abgebildet, so dass hier nur die Merkmale der Kopfbedeckung, der Gesichtsbehaarung und ansatzweise der Kleidung eine Rolle spielten. Hierin offenbart sich der Konstruktionscharakter dieser klassifizierenden Skizze besonders klar. Die Gesichtszüge waren dagegen wenig individuell gestaltet. Insgesamt griffen diese ‚Typen‘ ebenfalls sehr stark Klischeevorstellungen von Arbeitern in einem Stahlwerk auf. Gleichzeitig lässt die Bildsprache Assoziationen aufkommen zu den zeitgenössischen Inszenierungen von Kriminellen und psychisch kranken Menschen, von denen verschiedene ‚Typen‘ in der Öffentlichkeit popularisiert wurden.138 Dass auf diese Weise in den genannten Beispielen nur Männer abgebildet wurden, liegt an der Branche, aus der die Bilder stammen. Für die Abbildung der Menschen in Branchen, die vorwiegend Frauen beschäftigten, lässt sich jedoch eine ähnliche Typisierung feststellen (vgl. Abbildung 37): Die Arbeiterinnen in der Konservenfabrik waren, selbst wenn sie im Detail gezeichnet waren, doch von großer Ähnlichkeit der Gesichtszüge und Haartrachten, so dass ein individuelles Erkennen kaum gefördert wurde. Die Arbeiterinnen erschienen eine wie die andere in ihre Arbeit versunken, adrett, sauber und fleißig und entsprachen damit erneut ganz bürgerlichen Vorstellungen. schriften um 1900. Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016, S. 281–307, hier S. 297. 138 Diese Anklänge findet auch Schwarz bei der Darstellung der Londoner Unterschicht, vgl. Schwarz, „East-Enders“, S. 296–298. Vgl. auch Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

335

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 45: „Arbeitertypen aus den Stumm’schen Werken“ (1901): Einordnung der Arbeiter nach gängigen Stereotypen

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

336

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Mit dieser Betrachtung des Arbeiters und der Arbeiterin fügten sich die Reportagen und Bilder aus der Fabrik ein in einen Trend des 19. Jahrhunderts, angesichts der Komplexität von außen und innen durch Typisierung das Eigene und das Fremde zu bestimmen. ‚Exotische‘ oder ‚urzeitliche‘ Menschen, gesellschaftliche Außenseiter ebenso wie fremde Sozialgruppen wurden durch die wissenschaftlich betriebene Beschreibung bestimmter Merkmale, insbesondere das Vermessen, kategorisiert und damit in einen Sinnzusammenhang gestellt. Das Ziel bestand darin, die Subjekte zu vermessenen Objekten zu degradieren.139 Indem es, so das Fazit der Analyse, beim Erlebnis der körperlichen Arbeit in der Fabrik nicht allein um den Erwerb von Kenntnissen über die Abläufe ging, um den eigenen Wissenshorizont zu erweitern, sondern um ein umfassendes touristisches Erlebnis, führte das Bürgertum sein ursprüngliches Streben nach Bildung ad absurdum. Statt des belehrenden Schauwerts des Vorgangs stand die Schaulust im Vordergrund. Wozu diente dann aber solch ein Blick auf körperliche Arbeit? Das Erlebnis der Körperlichkeit bildete einen grundlegenden Gegensatz zur eigenen Arbeits- und Lebenswelt. Bürgerliche Arbeit war geistige Arbeit. Sichtbares Zeichen war eine Art der Kleidung, die für größere körperliche Aktivitäten nicht geeignet war. Der Anzug, bestehend aus Sakko, Hose und Weste und kombiniert mit einem weißen Hemd, konnte weder dem Schmutz noch dem Verschleiß, die durch körperliche Arbeit auftraten, widerstehen, noch bot er genug Bewegungsfreiheit. Der Anzug als Uniform des männlichen Bürgertums im Beruf wie im Privatleben schloss körperliche Arbeit schon per se aus. Gleichzeitig lenkte er in seiner Schlichtheit und Einheitlichkeit die Aufmerksamkeit weg vom Körper des Trägers und half so, das Thema sogar im Privaten so weit wie möglich auszublenden.140 Der bürgerliche Körper wurde jedoch nicht nur von der Kleidung verhüllt. Obwohl das 19. Jahrhundert den Aufstieg der Hygiene-Bewegung sah, fanden die zugehörigen Handlungen beim Bürgertum doch im Verborgenen statt. Notwendige Gerätschaften wie beispielsweise Waschtische wurden als Möbel getarnt, und selbst die Sprache verhüllte die ursprünglichen Handlungen.141 Körperlichkeit ließ das Bürgertum allenfalls in gebändigter, disziplinierter Form beim Turnen zu.142 Der 139 Vgl. Gerd Theile: Vermessen. Eine Weimarer Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Anthropometrie, München 2005, S. 9–34, hier S. 20; Stephen P. Rice: Picturing Bodies in the Nineteenth Century, in: ders./Michael Sappol (Hrsg.): A Cultural History of the Human Body in the Age of Empire, Oxford 2010, S. 213–235; Schwarz, „East-Enders“, S. 296–298; Habermas, Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollen, S. 114f. 140 Vgl. Anne Hollander: Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung, Berlin 1995, S. 164–177. 141 Vgl. Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland 1760–1860, Göttingen 1997, S. 195–208. 142 Vgl. Michael Krüger: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, Bd. 2:

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

337

Erlebnisse in der Fabrik

Körperfeindlichkeit des Bürgertums stand die Körperlichkeit des Arbeiters in der Fabrik gegenüber. Mit der Betrachtung des halbnackten Arbeiters konnte es einerseits seine Neugier auf das Unbekannte, weil in der eigenen Gesellschaftsgruppe Unzeigbare und Unaussprechliche, befriedigen. Andererseits nutzte das Bürgertum die kathartische Wirkung des Anblicks, um sich von dem Betrachtungsobjekt zu distanzieren und sich in Abgrenzung dazu der eigenen Identität zu vergewissern. Arbeiterinnen und Arbeiter als Teil des Produktionsprozesses Neben der Darstellungskonvention, die Körperlichkeit der Fabrikarbeit in den Mittelpunkt zu rücken, existierte beim Blick auf die Beschäftigten die Sichtweise, diese als „minor actors in the drama of production“143 zu inszenieren. Diesen Statusverlust des Arbeiters vom vermeintlich selbstbewusst in die Kamera schauenden Menschen hin zu einer eher uniformen Masse und schließlich zu einem austauschbaren Teil des Produktionsprozesses interpretiert David E. Nye für die USA als eine in den Jahren 1890 bis etwa 1910 aufeinanderfolgende Entwicklung.144 Der Blick auf die Rollen, die die Berichte über Fabrikbesichtigungen und die Bilder aus der Fabrik aus dem deutschen Raum den Arbeiterinnen und Arbeitern zuwiesen, bestätigt diesen Befund, wenngleich nicht so deutlich als zeitlich gestaffelte Entwicklung. Sie konnten in der Position des über seine Aufgabe charakterisierten Facharbeiters – wobei diese Rolle weiblichen Personen kaum zugesprochen wurde – oder entgegengesetzt als uniformes Zubehör der Maschine wahrgenommen oder sogar aus der Wahrnehmung ganz ausgeschlossen werden. In solchen Fällen wurden sie in Schilderungen von Arbeitsprozessen gar nicht mehr thematisiert, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass die Fertigung ohne Menschen nicht möglich war. In der ersten Darstellungskonvention wurde der Mensch als Experte ebenso wie die Maschine als Garant für Qualität und Geschwindigkeit vorgestellt. Die Beschreibung des ‚fachkundigen Arbeiters‘ erschien als Narration in vielen Berichten über Fabrikbesichtigungen.145 Seine gute Ausbildung sorgte für die Güte des hergestellten Leibeserziehung im 19. Jahrhundert, Schorndorf 1993, S. 115–132. 143 Nye, American Technological Sublime, S. 129. 144 Vgl. ebd., S. 128. 145 Vgl. Ein Gang durch die Ankerwerke A.G., S. 7. Hier ist vom „sach- und fachkundigen Arbeiter[ ]“ die Rede. Vgl. auch Schüßler, Die Spielwarenfabrikation in Nürnberg, S. 176. Der Autor spricht vom „erprobte[n] Arbeiter[ ]“. Vgl. auch Becker: Unter Tage. Bilder aus einem westfälischen Steinkohlenbergwerk, in: Über Land und Meer, Jg. 46, Bd. 91, Nr. 6, 1903/1904, S. 128–133, hier S. 131. Hier ist „der geschickte Maschinist“ im Fokus der Betrachtung. Vgl. auch Baedeker, Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen, S. 361. Dort ist „ein mit kundigem Blicke begabter Arbeiter“ am Werk. Vgl. auch Bock, Die Fleischindustrie Amerikas, S. 126. Hier tut „ein ganzes Heer geschickter Arbeiter“ seine Pflicht.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

338

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Produktes,146 seine Schnelligkeit für die geringen Preise der Ware.147 Wo die Fähigkeit der Maschinen nicht ausreichte, kamen fachkundige Arbeiterinnen und Arbeiter zum Einsatz. Der Mensch übernahm, so schilderte Diedrich Baedeker, die subtilen Tätigkeiten, die die Fabrikleitung der Maschine nicht überlassen wollte, wozu im Stahlwerk das genaue Mischen der Eisenbestandteile als wichtigste Grundlage zum Gelingen der Eisenherstellung sowie die diffizile Tätigkeit des Tiegelstahlgusses gehörte148 oder bei der Fabrikation der Auerschen Gasglühlampe das Härten und Formen des empfindlichen und filigranen Brennstrumpfes.149 In der Porzellanfabrik konnte letztlich nur der Mensch das Glätten kleiner Unebenheiten übernehmen150 und bei der Herstellung von exklusivem Holzspielzeug, so schildert es die Reportage aus der Spielzeugfabrik, war die menschliche Hand unerlässlich, wenn „verwickeltere Formen und Ausstattungen mit feineren Details“151 an den Schaukelpferden herausgearbeitet werden sollten: „So sehen wir neben den geschilderten rasselnden Maschinen auch Handschnitzer in eifriger Tätigkeit.“152 Bei der Endkontrolle von maschinell gewebtem Tuch waren ebenfalls allein „geübte Arbeiterinnen“153 in der Lage, kleine Ungenauigkeiten zu erkennen und auszumerzen. Die Beispiele verweisen darauf, dass die menschliche Arbeit immer dann ausnehmend positiv hervorgehoben wurde, wenn es erstens um feinmotorische Fähigkeiten ging, zweitens rühmten die Reportagen den Menschen, wenn Eigenschaften wie Erfahrung oder eigene Entscheidungsfähigkeit gefragt waren: „Aber die Maschine kann die Menschenhand nie dort ersetzen, wo es nicht rein mechanische, sondern Überlegungsarbeiten gibt.“154 „Routine und Umsicht“,155 „Handfertigkeit und Geistesgegenwart“156 konnte die Maschine eben nicht bieten, sondern nur die menschlichen „Künstlerinnen“157 und Künstler der Arbeit. Sie wurden daher in den Schilderungen aus der Fabrik als Personen behandelt, deren Fähigkeiten sie aus dem ansonsten egalisierenden Produktionsprozess hervorhoben. 146 Vgl. Benz & Cie, Benz-Automobile, S. 11. 147 Vgl. Bock, Die Fleischindustrie Amerikas, S. 126; Vom Fleischextrakt und seiner Ursprungsstätte, S. 768. 148 Vgl. Baedeker, Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen, S. 366f. 149 Vgl. Bendt, Die Fabrikation der Auerschen Gasglühlampe, S. 388. 150 Vgl. F. Luthmer: In der Porzellanfabrik, in: Die Gartenlaube, Nr. 44, 1898, S. 744–749, hier S. 746. 151 Hagenau, Wie ein Schaukelpferd entsteht, S. 936. 152 Ebd. 153 Oscar Meyer-Elbing: Zweierlei Tuch. Der Werdegang der deutschen Uniformtuche, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 140, Nr. 3641, 10.04.1913, S. 61–68, hier S. 66 (gesonderte Paginierung). 154 Ebd. 155 Baedeker, Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen, S. 366. 156 Ebd., S. 367. 157 Bendt, Die Fabrikation der Auerschen Gasglühlampe, S. 388.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

339

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 46: „Dreher, Gießer und Former“ (1898): Charakterisierung der Arbeiter nach Tätigkeiten

Über diese recht individuelle Wahrnehmung einzelner Arbeiterinnen und Arbeiter hinaus registrierten die Besucherinnen und Besucher der Fabrik die Menschen in ihrer jeweiligen Tätigkeit und charakterisierten sie entsprechend. Vor allem die Unterzeilen in den illustrierten Zeitschriften kennzeichneten die Personen auf den Bildern nach ihrer Funktion, nicht nach ihren individuellen Aufgaben und Fertigkeiten. Sie waren gemäß einer Bildunterzeile einer Reportage in der Gartenlaube aus dem Jahr 1898 „Maler und Schmelzer“158 oder laut der Illustrirte[n] Zeitung neun Jahre zuvor „Former“ und „Dreher“.159 Als solche führten sie auf den Bildern, die eher wie beispielhafte Skizzen denn wie Momentaufnahmen wirkten, exemplarisch ihre jeweilige Aufgabe aus. Eine Abbildung aus einer Porzellanfabrik in der bereits genannten Reportage in der Zeitschrift Die Gartenlaube aus dem Jahr 1898 gewährte einen Blick auf vier Arbeiter, die gut sichtbar ihre spezielle Arbeit verrichteten, um Porzellanfiguren herzustellen (vgl. Abbildung 46). Die Zeichnung präsentiert durch ihre Gesichtszüge, ihre Kopfbedeckungen oder Frisuren und ihre Barttracht offenbar individualisierte Männer. Diese werden aber nicht als einzigartige Person vorgestellt, sondern durch die Bildunterzeile 158 Luthmer, In der Porzellanfabrik, S. 748. 159 Gotthard Winter: Vom Meißener Porzellan, in: Über Land und Meer, Jg. 32, Bd. 64, Nr. 50, 1889/1890, S. 1007–1010, hier S. 1009.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

340

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

über ihre Aufgabe im Produktionsprozess als „Dreher, Gießer und Former“160 gekennzeichnet. Diese Charakterisierung machte es sogar möglich, zwei ganz unterschiedliche Menschen, deren größte Gemeinsamkeit darin bestand, dieselbe Arbeitsaufgabe auszuführen, als voneinander nicht zu unterscheiden darzustellen. Indem sie als Funktionspersonal ausgewiesen wurden, erhielten sie eine austauschbare Rolle. Mit der klaren Bestimmung der Personen korrespondiert der weitere Aufbau der Zeichnung, der das Bild unterteilt in die drei in der Unterzeile genannten Arbeitsbereiche, indem pro Arbeitsbereich je ein separater Tisch zur Verfügung steht. Die Dreiteilung der Arbeitsaufgaben wird unterstrichen durch den symmetrischen Aufbau der Werkstatt, in der nicht nur jeder Tisch einen exakt gleich großen Raum einnimmt, sondern überdies drei gleiche Fenster hinter den Tischen diese mit Tageslicht versorgen. Eine solche Abbildung von Arbeitsvorgängen musste nicht unbedingt der tatsächlichen Situation in der Fabrik entsprechen, sondern konnte ebenso eine Skizze sein, die die Botschaft der Kongruenz von Arbeitsplatz, Arbeitsvorgang und Bezeichnung des Ausführenden in den Vordergrund stellte. Durch eine derartige Charakterisierung zeigte sich zwar, dass der Arbeiter einen Platz im Bewusstsein der Fabriktouristin und des Fabriktouristen hatte, dies jedoch nur als austauschbarer Inhaber einer festgelegten Rolle. Ob es sich bei diesem Rolleninhaber um Frauen oder Männer handelte, hing davon ab, ob die vorgegebene Rolle nach bürgerlicher Definition eher männliche oder weibliche Eigenschaften erforderte. Die Arbeiterin wurde zumeist dort lobend hervorgehoben, wo Tätigkeiten zu verrichten waren, die eher weiblich konnotierte Eigenschaften wie Umsicht und Sorgfalt erforderten. Der Arbeiter dagegen stand für Aufgaben, die eine gewisse Ausbildung nötig machten. Eine weitere Form, in der der Einzelne in den Erlebnissen in der Fabrik eine Rolle spielte, lag in der Aufgabe als Bedienpersonal an der Maschine. Hier waren zwei Sichtweisen auf den Menschen möglich. Entweder erschien er als Meister über die Maschine, der diese steuerte, oder aber lediglich als fleischlicher Teil einer mechanischen Anlage, der eine bestimmte Funktion ausführte. Der Beschäftigte an der „Drehbank für Säulen“, die die Zeitschrift Die Gartenlaube 1893 im Rahmen einer Reportage über ein Granitwerk abbildete, wies, obschon etwas typisierte, so doch klar zu erkennende, ausdrucksstarke Gesichtszüge auf (vgl. Abbildung 47).161 Seine Arbeitsaufgabe, hier konkret das Steuern der Maschine über zwei Kurbeln, ließ sich eindeutig erkennen. Obgleich die Maschine über Transmissionsriemen angetrieben wurde, konnte jede 160 Dreher, Gießer und Former, in: Die Gartenlaube, Nr. 44, 1898, S. 749. 161 Vgl. für ähnlich aufgebaute Darstellungen z.B. auch Benz & Cie, Benz-Automobile, S. 12. Hier finden sich etwa die Abbildungen Bohrmaschine und Horizontal-Drehbank.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

341

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 47: „Drehbank für Säulen“ (1893): Der Arbeiter als Individuum

Betrachterin und jeder Betrachter sehen, dass der Mensch die Steuerung übernahm. Nichtsdestoweniger benannte die Bildunterzeile nicht den Arbeiter in seinem Aufgabengebiet, sondern allein die Maschine in ihrer Funktion. Damit korrespondiert die Darstellung des Arbeiters am Rande des Bildes, während die Maschine zentral den Bildraum ausfüllt. Eine weitere Kontrastierung erfolgte über die eher grobe Skizzierung der Gesichtszüge und Kleidung des Arbeiters im Vergleich zu der sehr detailreichen Darstellung der Maschine mit ihren feingearbeiteten Zahnrädern. Die Beschreibungen in den Texten der Reportagen thematisierten ebenfalls eher die Maschine als den Menschen, der sie bediente, so wichtig seine Rolle für den Arbeitsprozess der technischen Anlage sein mochte: „Nun tritt bei den also Vorbereiteten die Maschine in Kraft, eine denkbar einfache und doch sinnreiche Stanzmaschine, die eine einzige Arbeiterin bedient. Die Maske wird unter eine auswechselbare Metallmatrize (Stanzform) geschoben […]. Ein Zug am Schwungrad, und die Matrize fährt nieder, um Augen, Mund oder

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

342

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Nasenlöcher durchzustoßen – schneller, sicherer, als die geübteste Menschenhand es vermöchte.“162 Schilderungen wie diese aus der Zeitschrift Die Gartenlaube aus dem Jahr 1908 lassen erkennen, dass es nicht um die individuelle Leistung des Menschen ging, sondern eher um das Lob der Maschine, die bis auf die Bedienung durch eine einzelne Arbeitskraft ihre Leistung ganz eigenständig besser erbrachte, als es jeder Mensch vermochte. Die Arbeiterin oder der Arbeiter erschien dagegen vorwiegend als austauschbares Element.163 Der Mensch an der Maschine kann in der Steigerung dieser Betrachtungsweise sogar nur als Staffage begriffen werden. Auf diesen Umstand verweist unter anderem eine Studie über die Fotografien aus dem Inneren der AEG-Werkshallen, die erklärt, dass auf vielen Fotografien zwar zunehmend Personen festgehalten wurden, diese jedoch nicht im Mittelpunkt der Bildaussage standen, sondern als belebende Staffage für Maschinen oder Arbeitsvorgänge dienten, beispielsweise um Größenverhältnisse oder Funktionsweisen zu veranschaulichen.164 Zu demselben Schluss kommt Alf Lüdtke in seiner Untersuchung der Werksfotografie der Firma Krupp.165 Letztlich kann diese Aussage auf Fotografien aus nahezu jedem Unternehmen übertragen werden. Nicht näher zu erkennende Arbeiter bewegten sich auf vielen Ansichten aus der Fabrik rund um eine Maschine, deren eigene Bewegungen von der Fotografie nicht abgebildet werden konnten, und gaben ihr auf diese Weise den Anstrich von Dynamik im Produktionsprozess.166 Ein herausragendes Beispiel für die Statistenrolle des Menschen an der Maschine bietet die Fotografie „Riesenhobelmaschine“ aus einer Reportage aus der Zeitschrift Das Buch für Alle aus dem Jahr 1909 (vgl. Abbildung 48). Die Maschine füllt den Bildrahmen in Gänze aus. Trotz der Großaufnahme ist die Funktionsweise jedoch nicht zu erkennen, was noch durch den Umstand gefördert wird, dass die Maschine nicht in Bewegung gezeigt wird – nicht einmal symbolisch –, sondern stillsteht. Durch den unspezifischen grauen Hintergrund wird sie zusätzlich dekontextualisiert. Ihre Funktion ist allenfalls aus der Bildunterzeile zu entnehmen. Die Funktion scheint also nicht zentral für die 162 Reiter, Wie entsteht die Maske?, S. 187. 163 Vgl. hierzu auch Lüdtke, Gesichter der Belegschaft, S. 81. 164 Vgl. Jörg Schmalfuß/Klaus-Dieter Bründel/Maria Bortfeldt: Menschen am Arbeitsplatz, in: Lieselotte Kugler (Hrsg.): Die AEG im Bild, Berlin 2000, S. 93–107, hier S. 93. 165 Vgl. Lüdtke, Gesichter der Belegschaft, S. 80f. 166 Vgl. z.B. die Abbildungen zur Reportage Die Verarbeitung der Kohlen im Ruhrgebiet, in: Die Gartenlaube, Nr. 52, 1892, S. 866–869. Hier stehen die großen technischen Anlagen zur Kohleförderung und -sortierung nicht allein, sondern mit einem nur schemenhaft zu erkennenden Arbeiter, der eine unbestimmte Tätigkeit ausführt. Vgl. ebenso die Bilder der Reportage von Meyer-Elbing, Zweierlei Tuch, S. 63–66 (gesonderte Paginierung).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

343

Erlebnisse in der Fabrik

Abb. 48: „Eine Riesenhobelmaschine“ (1909): Der Arbeiter als dekoratives Beiwerk

Bildaussage gewesen zu sein. Durch den fehlenden konkreten Hintergrund sind keine Größenverhältnisse auszumachen. Als Maßstabsvergleich dienen jedoch zwei Arbeiter, die keine greifbare, mit der Funktion der Maschine verknüpfte Aufgabe ausführen, sondern lediglich in einer Standbein-Spielbein-Pose an einen Teil des Gerätes gelehnt stehen. Sie wirken vor der Maschine geradezu winzig, die durch den angelegten Maßstab eine Größe von etwa fünf Menschen und eine Länge von sieben bis acht Menschen erkennen lässt. Aufgrund ihrer geringen Größe im Verhältnis zum Bildgegenstand sind die Gesichtszüge der Männer kaum auszumachen. Die Arbeiter werden in dieser Abbildung weder als Individuen, noch als durch ihre Arbeit charakterisierte Personen dargestellt, sondern lediglich als dekoratives Beiwerk.167 Eine Steigerung dieser Betrachtungsweise erkannte die Arbeiterin beziehungsweise den Arbeiter dann nur noch als entindividualisierten und teilweise sogar entmenschlichten Teil der Maschine. In die „Gummier- und Trockenmaschine“ einer Briefmarkenfabrik, wie sie Das Buch für Alle im Jahr 1909 abbildete (vgl. Abbil167 Vgl. eine ähnliche Instrumentalisierung von Menschen zur Demonstration der Größenverhältnisse eines Produkts in Abbildung 12.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

344

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 49: „Gummier- und Trockenmaschinen“ (1909): Der Arbeiter als Teil der Maschine

dung 49),168 erschien der einzelne Arbeiter, der zu ihrer Vervollständigung nötig war, für manche Betrachtende als völlig integriert. Die Fotografie der Szene zeigt zwei baugleiche, raumhohe Maschinen nebeneinander. Der Betrachtendenstandpunkt und die gewählte Perspektive lassen einen angeschrägten Blick auf den Teil beider Maschinen zu, an dem sie durch die Arbeiter ergänzt werden. Der Rest der sehr lang gezogenen Anlagen, die durch ein System von Rollen gekennzeichnet sind, durch die ein zusammenhängendes, dünnes, flexibles und weißes Material transportiert wird – vermutlich eine Art Papier –, verliert sich im wenig beleuchteten Hintergrund. Dagegen ist das in den Vordergrund ragende Stück durch Deckenlampen gut ausgeleuchtet, was der Arbeitssituation geschuldet gewesen sein mag, den Fokus der Betrachterinnen und Betrachter der Fotografie aber dezidiert auf diesen Bildabschnitt lenkte. Hier sind zwei Arbeiter zu erkennen, die jeweils auf einem in die Maschine integrierten Sitz ihren Platz haben. Die Gerätschaft bietet eine exakte Aussparung für die menschliche Komponente ihrer 168 Vgl. auch die weiteren Abbildungen zum Artikel Die Herstellung der Postwertzeichen, in: Das Buch für Alle, Jg. 44, H. 3, 1909, S. 65, die ähnliche Situationen abbilden.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

345

Erlebnisse in der Fabrik

ansonsten mechanischen Teile, so dass diese sich perfekt in den Aufbau einfügen kann. Die beiden Beschäftigten, die diese Rolle ausfüllen, sitzen leicht schräg mit dem Rücken zum Fotografen, womit die Betrachterinnen und Betrachter keine Möglichkeit hatten, genaue Gesichtszüge zu erkennen, oder gar ‚Blickkontakt‘ mit den Arbeitern aufzunehmen. Stattdessen musste ihnen der Arbeiter als in der Maschine gänzlich aufgehend erscheinen. Es entstand so der Eindruck, dass er ganz mit ihr verschmelzen sollte, von der Maschine aufgesogen wurde, ein Umstand, der rund dreißig Jahre später als tagtägliche Erfahrung zahlloser Arbeiterinnen und Arbeiter in der Fabrik von Charlie Chaplin filmisch karikiert wurde.169 Im Gegensatz zu der Darstellung des Arbeiters als Meister der Maschine (vgl. Abbildung 39), der noch eine gewisse Persönlichkeit besaß, was sich unter anderem an seinen Gesichtszügen und Kleidungsstücken erkennen ließ, verschwammen die Details des Arbeiters als Teil der Maschine fast völlig. Gerade noch ließ sich sein Gesicht als hellerer Fleck ausmachen, während die Kleidung nur noch als einheitliche Stoffmasse erschien. Diese Betrachtungsweise des Menschen als Teil der Maschine war nicht nur ein vereinzeltes Phänomen, sondern in der Massenproduktion eine Massenerscheinung, wie bereits die Bilder zur Serienfertigung zeigen (vgl. Abbildungen 31 und 32). Die Reihen von technischen Anlagen mit Menschen als entindividualisierten Maschinenkomponenten konnten einen Fabriksaal scheinbar bis ins Unendliche füllen. Sie erschienen gehäuft als uniforme, fremdbestimmte Glieder eines technisierten Körpers, dessen Regungen nicht aus freiem Willen, sondern durch die Macht und im Takt der Dampfkraft oder der Elektrizität geschahen. Von einem erhöhten Standpunkt erhielten die Besucherinnen und Besucher der Fabriken beziehungsweise die Leserinnen und Leser entsprechender illustrierter Reportagen einen Überblick über die Maschinen mit ihren Komponenten aus Fleisch und Blut. Der Blick wurde jedoch von den Arbeitern nicht erwidert, da sie – so lässt sich diese Passivität deuten – in den so komponierten Ausblicken nicht über eine individuelle Antriebskraft für eine solche Regung verfügten. Eine derartige Wahrnehmung der Menschen als gesichts- und willenloser Teil der Produktion ermöglichte es sogar, den Menschen als Individuum ganz auszublenden, so dass er selbst als Maschine zu klassifizieren war. Auch wenn gar keine maschinelle Arbeit im engeren Sinne, das heißt unter Verwendung von durch Dampf oder Elektrizität angetriebenen Geräten, verrichtet wurde, fügte sich der Mensch im Blick des Betrachtenden doch in das Schema der genormten maschinellen Fertigung ein (vgl. Abbildung 50). In einer Fotografie, die der AEG-Führer durch die „Apparate-Fabrik“ vermutlich um das Jahr 1910 abdruckte, verschaffte die erhöhte Position einen weiten, perspektivisch auf einen zentral in der Mitte des Bildes positio169 Vgl. Modern Times, Regie: Charles Chaplin, USA 1936.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

346

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 50: „Schalterfabrikation und -Revision“ bei der Firma AEG: Attraktion manueller Arbeit

nierten Fluchtpunkt zulaufenden Blick über die gleichförmigen Arbeitsplätze und ihre Inhaberinnen, die die Fabrikhalle bis auf den letzten Platz füllen und im Hintergrund verschwimmen. Die perspektivische Wirkung wird unterstützt durch die baulichen Gegebenheiten der Fabrikhalle: In regelmäßigen Abständen sind Fenster in den Seitenwänden eingelassen, die, ebenso wie ein Oberlicht, das die Hallendecke von vorn bis hinten durchschneidet, ausreichend Tageslicht auf die Arbeitsplätze werfen. Die Firma AEG demonstrierte mit der Abbildung dieser Fotografie die guten Arbeitsbedingungen in den neu erbauten Fabrikhallen.170 Durch die Konstruktion der Fotografie erhielten die Betrachterinnen und Betrachter aber gleichzeitig – ob von den Bildproduzenten bewusst oder unbewusst so vermittelt – einen Eindruck vom Wert und Charakter menschlicher Arbeit in dieser Halle. Während man vordergründig davon ausgehen kann, dass durch die hellen, luftig und übersichtlich geordnet wirkenden Arbeitsplätze der Anschein eines angenehmen Arbeitsklimas vermittelt wurde, entstand gleichzeitig aber vermutlich ein weiterer Eindruck von menschlicher Arbeit in der Fabrik: Den Vordergrund des Bildes füllt eine Reihe von fünf Arbeiterinnen, die an ihren Plätzen sitzen. Diese bestehen aus einem zu den Nachbarinnen abgegrenzten Tischbereich, auf dem Vorstufen des Produktes – laut der Bildunterzeile handelt es sich um elektrische Schalter – ebenso wie 170 Vgl. für die Kommunikation des Werts dieser neuen Arbeitsstätten als vertrauensbildende Maßnahme für die Öffentlichkeit Kapitel 4.2.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

347

Erlebnisse in der Fabrik

fertige Produkte liegen und auf dem die nötigen Handgriffe ausgeführt werden, um die Komponenten zusammenzufügen. Die Hände der Arbeiterinnen, die diese Aufgabe verrichten, stehen damit im Mittelpunkt des Bildes, während die auf die Arbeit gesenkten Gesichter, insbesondere aufgrund des Betrachtendenstandpunkts, nicht zu erkennen sind. Eine vergleichbare Fokussierung auf Hände, die immer wieder dieselben kleinteiligen Handgriffe als Teil eines größeren Produktionsprozesses ausführten, finden sich beispielsweise auch, wenn es darum ging, Ausgangsstoffe der Produktion zu sortieren,171 Modeschmuck zusammenzufügen172 oder die fertigen Waren zu verpacken.173 Eine solche Art der Abbildung war sicherlich vorrangig der Tatsache geschuldet, dass die Produkte in den Fabriken zwar durch die Verfielfältigung und Mechanisierung der Arbeitsplätze in Massen produziert werden konnten, die Unternehmen aber trotzdem bis in die neunzehnhundertfünfziger Jahre bei vielen Schritten noch auf Handarbeit angewiesen waren, die dann ebenfalls verfielfältigt werden musste.174 Diesen Aspekt nahmen dann die Bilder aus der Fabrik mit auf. Dass dies aber nicht willkürlich geschah, unterstreichen die Schilderungen in Fabrikreportagen oder Werksführern. Die Texte, die die Verrichtungen dieser menschlichen ‚Maschinen‘ beschrieben, fokussierten ihre Schilderungen häufig ganz auf die Teile der ‚Maschine‘, die die tatsächliche Fertigung ausführten. Nicht die ganze Arbeiterin oder der ganze Arbeiter, sondern nur die ‚Hände‘ verrichteten in der Sichtweise die Tätigkeit. Texte wie beispielsweise die Reportage über den Besuch einer Seifen- und Parfümfabrik in der Illustrirte[n] Zeitung bestätigten dies: „Viele Hände regen sich, um in den hellen freundlichen Sälen die erwähnten flüssigen Stoffe aufzufüllen, zu etikettieren, einzuschlagen, zu verpacken und zu confectioniren.“175 Auch spezielle Handarbeiten betrachteten und bewerteten die Beobachterinnen und Beobachter so mit dem Maßstab der Maschinenarbeit. Das Personal verschmolz in der bürgerlichen Betrachtung mit der Maschine oder wurde gar selbst zur Maschine. Dass Arbeiterinnen und Arbeiter in dieser Form betrachtet wurden, stellte später Siegfried Kracauer fest, der in seinem kulturkritischen Essay über Das Ornament der Masse176 als Signum der Zeit hervorhob, dass der Mensch – ob als Tanzgirl in einer Revue, als 171 Vgl. die Abbildung Sortiersaal, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, Nr. 1, 1900, S. 17. 172 Vgl. die Abbildung Bijoutiers-Abteilung, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 135, Nr. 3509, 29.09.1910, S. 43 (gesonderte Paginierung). 173 Vgl. die Abbildung Versand-Abteilung, in: ebd.; Abbildung 1. Theilansicht des Arbeitssaales II: Auffüllen und Verpacken von Lohse’s Taschentuchparfüms, in: ebd., Bd. 111, Nr. 2889, 10.11.1898, S. 633. Abbildung 3. Theilansicht des Arbeitssaales I: Einschlagen und Verpacken von Lohse’s Lilienmilch-Seife, in: ebd., S. 634. 174 Vgl. Knoch, Das Stahlwerk, S. 168. 175 Gustav Schubert: Die Fabrik feiner Parfümerien und Toilette-Seifen Gustaf Lohse in Berlin, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 111, Nr. 2889, 10.11.1898, S. 633f., hier S. 634. 176 Vgl. Kracauer, Das Ornament der Masse, S. 50–63.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

348

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Turner bei einer Massenveranstaltung oder als Arbeiterin und Arbeiter in einer Fabrik – nicht mehr als Individuum wahrgenommen werde, sondern als fragmentiert in einzelne Teile – Beine, Arme, Hände. Diese würden dann im Ensemble mit anderen gleichen Teilen ein Eigenleben entwickeln, das jedoch entfremdet war von dem einzelnen Individuum. Dieses Eigenleben, so der kritisch argumentierende Kracauer, konnte dann mit einem beliebigen neuen Sinn aufgeladen werden. Während Kracauer sich vorwiegend auf den Nationalsozialismus mit seinen nach diesem Muster faszinierenden Massenveranstaltungen bezog, lässt sich der touristische Blick auf die Arbeiterschaft gleichfalls interpretieren als eine Art des Schauens, das die Ästhetik des ‚Ornaments der Masse‘ suchte. Wie die Abbildungen aus der Schalterfa­brikation ebenso wie die Fotografien von Menschen, die mit der Maschine zu verschmelzen scheinen, zeigen, zog hier die klassische Moderne des kommenden 20. Jahrhunderts auf.177 Kracauer selbst sprach die Arbeit in der Fabrik als Teil des Phänomens an: „Jeder erledigt seinen Griff am rollenden Band, übt eine Teilfunktion aus, ohne das Ganze zu kennen. Gleich dem Stadionmuster steht die Organisation über den Massen, eine monströse Figur, die von ihrem Urheber den Augen ihrer Träger entzogen wird und kaum ihn selbst zum Betrachter hat. […] Den Beinen der Tillergirls entsprechen die Hände in der Fabrik.“178 Indem die Touristinnen und Touristen die Beschäftigten nur als Teil der Maschine betrachteten, sogar nur die Teile des Menschen wahrnahmen, die tatsächlich eine Arbeit im Gleichklang mit der Maschine verrichteten, dieses dann jedoch von hunderten von Händen an hunderten von Maschinen gleichzeitig, beraubten sie ihn seiner ursprünglichen Natur,179 ästhetisierten den Vorgang der Arbeit und luden ihn damit mit einem neuen Sinn auf. Das Vergnügen, denselben Vorgang hunderte Male gleichzeitig an hunderten von Maschinen von hunderten von Arbeitern ausgeführt zu sehen, war ebenso groß, wie die gleichzeitig in die Luft geworfenen, unzähligen Beine der Frauen in der Tanzrevue zu betrachten, die nichts mehr über die Tänzerinnen selbst aussagten, sondern als eigenes ästhetisches Erlebnis gedeutet wurden.180 177 Wie sich der Rationalisierungsdiskurs der Zeit auf die Organisation der Fabrik ausübt, untersucht Karsten Uhl detailliert in seiner Habilitationsschrift, vgl. Uhl, Humane Rationalisierung. 178 Kracauer, Das Ornament der Masse, S. 54. 179 Auf die Problematik der Entfremdung der Arbeit hatte bereits Karl Marx in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 hingewiesen, die allerdings erst 1932 veröffentlicht wurden. Vgl. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, hrsg. von Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2005. 180 Vgl. Kracauer, Das Ornament der Masse, S. 51. Kracauer macht hier deutlich, dass es sich beim Blick auf die Tänzerinnen um ein ästhetisches Erlebnis handelt.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

349

Erlebnisse in der Fabrik

Dabei war die Sichtweise, den Menschen oder Fragmente von ihm als Teil einer Maschine zu betrachten, um 1900 keine Novität. Vielmehr hat sie ihre Wurzeln schon im frühen 19. Jahrhundert in der Industriellen Revolution Großbritanniens. Schon bei seinem Besuch in England, dessen Erlebnisse in sein Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England einflossen, war Friedrich Engels diesem Phänomen begegnet, dass die Fabrikbesitzer die Arbeiterinnen und Arbeiter als ‚hands‘ bezeichneten, deren Leistung allein zählte und die sie nicht als Menschen an sich wahrnahmen.181 Dadurch, dass die nahezu selbstständig funktionierende Maschine immer stärker in das öffentliche Bewusstsein trat, verwischten sich ebenfalls für die Industrietouristinnen und -touristen des späten 19. Jahrhunderts die Grenzen zwischen Mensch und Mechanik.182 Die Gästegruppen, die Ende des Jahrhunderts eine Fabrik besuchten, vollzogen also eine bereits verbreitete Sicht nach und sahen in dem Unbekannten der Fabrik hauptsächlich die vertrauten Schemata, womit sie sich ihrer Weltsicht und damit ihrer Identität versicherten. Zu dieser Erkenntnis trägt außerdem das Phänomen bei, dass es hauptsächlich die Arbeiterinnen waren, die im Blick des bürgerlichen Reporters ihre Persönlichkeit einbüßten und mechanisiert wurden.183 Die Arbeiter waren, wie die vorausgegangenen Untersuchungen der Betrachtungsparadigmen enthüllen, zumindest immer noch als Menschen zu erkennen, als Staffage für die Maschine, als Facharbeiter oder gar als Herr der Maschine. Dagegen erschienen Frauen vorwiegend als unzählbare Masse an den Maschinen oder selbst als Maschine, die gleichmütig ohne eigene Ambition sich wiederholende Arbeit verrichtete. Dies mag zum einen daran gelegen haben, dass die Industrie selbst männlichen und weiblichen Beschäftigten jeweils verschiedene Wertigkeiten zuordnete und ihnen daher Aufgaben unterschiedlicher Bedeutung im Produktionsprozess zuwies. Das führte dazu, dass Arbeiterinnen die Aufgaben ausfüllten, die eher dem Charakter maschineller Arbeit ähnelten, statt Aufgaben zu übernehmen, zu denen eine Maschine aufgrund fehlender Eigenschaften wie Urteilsvermögen, Ent181 Vgl. Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, Leipzig 1845, S. 330. 182 Vgl. Herbert Sussman: Victorian Technology. Invention, Innovation, and the Rise of the Machine, Santa Barbara, CA/Oxford 2009, S. 49. Vgl. hierzu auch die Automatenfaszination in der Romantik. Jedoch sollten in dieser Zeit die Maschinen wie Menschen wirken, während im 19. Jahrhundert die Maschine als solche bewundert wurde und sich der Mensch ihr anpassen und unterordnen sollte. Vgl. Lieselotte Sauer: Marionetten, Maschinen, Automaten. Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik, Bonn 1983. 183 Vgl. Schubert, Die Fabrik feiner Parfümerien und Toilette-Seifen Gustaf Lohse in Berlin, S. 633f.; O. Sch.: Aus der deutschen Schmuckwaren-Industrie u. -Technik. Kollmar & Jourdan A.-G., Pforzheim, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 135, Nr. 3509, 29.09.1910, S. 43f. (gesonderte Paginierung), hier S. 43; Friedrich Bücker: Ein Blick in den Bernsteinbergbau und in die Bernsteinindustrie, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, H. 1, 1900, S. 17; AEG, Apparate-Fabrik, S. 7.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

350

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

scheidungsbefähigung oder Erfahrung nicht in der Lage war. Insofern stellten die Bilder aus der Fabrik, wie sie Berichte von einem Besuch verbreiteten, nur die reale Arbeitssituation vor Ort dar, in der Frauen meist monotone, wenig Ausbildung erfordernde Handgriffe ausführten. Zum anderen lässt sich jedoch zusätzlich vermuten, dass eine solche Darstellung speziell von Arbeiterinnen aus der allgemeinen Blickpraxis der überwiegend männlichen Fabrikbesucher resultierte beziehungsweise sich an die Praxis anlehnte, Frauen allgemein, und nicht nur als Fabrikarbeiterinnen, weniger als Individuum wahrzunehmen denn Männer. Damit zeigt sich, dass die Reporter bestimmte Rollenklischees der bürgerlichen Gesellschaft in die Betrachtungspraktik der Situation im Werk übertrugen, ein weiteres Indiz dafür, dass der Blick der Gäste niemals unvoreingenommen, sondern aufgeladen war mit impliziten Annahmen über die Rollen, die die Betrachtungsobjekte auszufüllen hatten. Schließlich gingen viele Reportagen über die Erlebnisse in der Fabrik zumindest passagenweise bei der Schilderung der Abläufe der Produktion so vor, dass sie die Arbeiterinnen und Arbeiter gar nicht als handelnde Akteure thematisierten, sondern ihre Existenz durch Passiv-Formulierungen verdeckten, so dass es schien, als ginge die Produktion wie von Geisterhand vonstatten. Dies traf ebenfalls bei Schilderungen aus den Werkshallen zu, die weniger einen Reportage- als vielmehr einen Lehrcharakter hatten und die sich neben den eigentlichen Fabrikreportagen als Teil der allgemeinen Wissenspopularisierung ebenfalls häufig in Zeitschriften oder unternehmenseigenen Veröffentlichungen fanden.184 Doch selbst darüber hinaus nutzten die direkten Fabrikreportagen dieses Mittel, um das Produkt oder den Produktionsprozess in den Vordergrund zu stellen und die Menschen als Akteurinnen und Akteure auszublenden. Die Reportage der Illustrirte[n] Zeitung aus dem Jahr 1894 aus einer Fleischkonservenfabrik, die die Abläufe der Leserschaft mithilfe verschiedener Skizzen darlegen wollte, ging genau auf diese Weise vor, indem sie offenließ, wer die zur Schlachtung und Zerlegung der Tiere nötigen Handlungen vollzog: „Die erste der sechs kleineren Abbildungen zeigt das geschäftige Treiben in der Schlachthalle, wo die Ochsen geschlachtet und in Theile zerlegt werden, das darunter befindliche Bild die Fleischerei, in welcher die Fleischtheile von Knochen, Sehnen und Fett befreit werden, um dann durch Dampfkraft betriebene Fleischschneidemaschinen eigenen Systems zu gelangen, wo das Fleisch in würfelartige Stücke zerschnitten wird.“185 184 Ein Beispiel hierfür ist die Schilderung der Bleistiftfabrikation. Vgl. Feldhaus, Der Bleistift, seine Geschichte und seine Fabrikation, S. 892–895; Die deutsche Bleistiftfabrikation, S. 400, 402. 185 Die Fleischconserven-Fabrikation in Oesterreich, S. 145.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

351

Erlebnisse in der Fabrik

Der Text beschrieb durch die passivische Satzkonstruktion die Abläufe derart, dass der Eindruck entsteht, die Vorgänge liefen komplett automatisiert ab, wohingegen die Bilder, auf die sich der Text bezog, sehr wohl veranschaulichen, dass an dieser Arbeit Menschen maßgeblich beteiligt waren.186 Eine weitere sprachliche Möglichkeit, die Arbeiterin beziehungsweise den Arbeiter als direkte Akteurin oder direkten Akteur zu verschweigen, lag in der Umschreibung mit dem unpersönlichen „man“.187 Andere Weisen, mithilfe von Satzbau und Grammatik die Menschen als Subjekt zu verneinen, ließen die Maschinen selbst als Handelnde auftreten: „Der Gußarm [der zu produzierenden Nähmaschine] wird auf die mittlere Platte gelegt und durch einen Hebeldruck von sinnreich angeordneten Klauen festgehalten, dann kommen, durch eine Schaltung veranlaßt, die Bohrer von fünf Seiten heranspaziert, bohren ihr Loch genau dort, wo es hin soll und ziehen sich, ebenso geräuschlos wie sie kamen, zurück, bis ein neuer Arm eingespannt ist.“188 Es ist zwar möglich, dass dieser Fertigungsprozess tatsächlich voll automatisiert und ohne menschliche Einwirkung ablief, allerdings ist es doch unwahrscheinlich, dass nicht einmal ein Arbeiter diese scheinbar so automatisch agierenden Maschinen steuerte. Die Herrschaft der Maschine als Akteur des Produktionsvorgangs bestätigten Bildunterzeilen, die die Abbildungen, die sowohl die Apparaturen als auch die an ihnen arbeitenden Menschen vorstellten, einzig nach den dargestellten Anlagen betitelten. Statt des Druckers, der an der Maschine stand, zeigten die Abbildungen zu einer Reportage über die Herstellung von Briefmarken ihrem Untertitel nach lediglich eine „Farbreibemaschine“, „Druckmaschinen“ und „Perforiermaschinen“.189 Darüber hinaus schienen bisweilen nach der Beschreibung der Reporter sogar die Produkte in ihren verschiedenen Bearbeitungsstadien ein gewisses Eigenleben zu entwickeln und selbst ihre weitere Bearbeitung voranzutreiben: „Geschwind füllen sich die Körbe mit dem Ergebniß, welches zu den Metalldrehern wandert, um sich an der Drehbank die Ecken und Kanten abschleifen zu lassen.“190 Dass der Mensch in der Schilderung der Abläufe in der Fabrik keine Erwähnung fand, lag natürlich außerdem daran, dass, wie viele Firmen als besonderes Merkmal herausstellten, einige Anlagen tatsächlich „unter dem Gesichtspunkte […] des Ersatzes 186 Vgl. ebd. 187 Vgl. Die Verarbeitung der Kohlen im Ruhrgebiet, S. 868; Winter, Vom Meißener Porzellan, S. 1009. 188 Ein Gang durch die Ankerwerke A.G., S. 3. 189 Die Herstellung der Postwertzeichen, S. 65. 190 Salzmann, Aus den Werkstätten des Lichts, S. 32.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

352

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

menschlicher Arbeitskraft durch maschinelle Einrichtungen […] erbaut“191 waren, wie eine Selbstbeschreibung der Gutehoffnungshütte in Oberhausen aus dem Jahr 1913 herausstellte. Daher konnte die Darlegung des Weges, den die Kohle in einer Stahlhütte nahm, und die ebenfalls keine menschliche Arbeit als Teil der Vorgänge benannte, sondern die Kohle nahezu eigenständig ihren Weg durch das Werk zu ihrem Einsatzort finden ließ,192 tatsächlich auf einer realitätsgetreuen Wiedergabe der Abläufe beruhen, mit denen die Reportagen in Zeitschriften oder die Selbstdarstellungen in werkseigenen Publikationen die Modernität der Produktionsprozesse des vorgestellten Unternehmens herausstellen wollten. Zum Teil lag es in der Natur bestimmter Produktionsvorgänge, dass wenig menschliches Zutun nötig oder überhaupt möglich war, etwa bei der Stromerzeugung.193 Dennoch nutzten die Erfahrungsberichte aus der Fabrik häufig die Möglichkeit, die Arbeiterschaft aus den Abläufen im Werk und damit aus ihrer eigenen Wahrnehmung auszuklammern. Sie marginalisierten die Menschen und stellten stattdessen die Maschinen, das Produkt oder den Prozess seiner Herstellung in den Vordergrund. Wo lagen die Gründe für solche Beschreibungs- und Darstellungstechniken? Die Vermutung liegt nahe, dass auf diese Weise der Arbeiter und insbesondere die Arbeiterin nicht als Individuum wahrnehmbar sein sollte.194 Stattdessen erschufen Fabrikbesucherinnen und -besucher einen Wissensraum, in dem der arbeitende Mensch zu unbedeutend war, um eine aktive Rolle zu spielen. So konnten sie eine ‚Parallelwelt Fabrik‘ besuchen, in der die Arbeiterin beziehungsweise der Arbeiter nur eine Maschine unter anderen Maschinen war oder schlicht nicht existierte. Die Arbeiterschaft als das gesellschaftlich Andere, gegen das das Bürgertum sich abgrenzen wollte, büßte auf diese Weise ihre Existenz an eben der Wirkungsstätte ein, die ihre Identität erst bestimmte. Die Szenen, die die Touristin oder der Tourist in der Fabrik sah oder die durch Reportagen vermittelt wurden, suggerierten, so lassen sich die Ergebnisse der vorausgegangenen Analysen zusammenfassen, einen Einblick in die Arbeits- und Alltagsrealität der Arbeiterschaft, ließen sich aber, wie eingangs bereits in Rückgriff auf die Studien MacCannells, Lüdtkes und Habermas’ vermutet,195 letztlich nicht als realer Ort der Produktion und der täglichen Arbeit deuten. Die ökonomische und soziale Realität 191 Gutehoffnungshütte, Die Betriebe der Gutehoffnungshütte 1913, S. 18; vgl. auch die vorwiegend im Passiv gehaltenen Schilderungen über die Fertigung bei Krupp: Baedeker, Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen, S. 359f. 192 Vgl. Gutehoffnungshütte, Die Betriebe der Gutehoffnungshütte 1913, S. 18. 193 AEG (Hrsg.): Kraftstationen Moabit und Rummelsburg, Berlin 1913, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: I.2.060 P 07021. 194 Vgl. zur Sozialreportage aus der Fabrik Kapitel 2.2.2. 195 Vgl. Kapitel 6.1.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

353

der Fabrik wurde übersehen. Der Grund dafür lag in der mangelnden Fähigkeit des Bürgertums, aus der eigenen gesellschaftlichen Rolle herauszutreten. Die Ereignisse in der Fabrik vermochten seine Angehörigen nur im Rahmen des eigenen Wissensraumes zu deuten – und der ließ diese nur als touristischen Ort bestehen, der wiederum alle anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten ausschloss. Das pittoreske Erlebnis allein drang ins bürgerliche Bewusstsein.196 In der Fabrik als touristischem Ort war – anders als bei der Feldforschung bürgerlicher Sozialreformer197 – letztlich keine wirkliche Begegnung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft möglich. Gab es dennoch einen Ort, an dem sich Mitglieder des Bürgertums und der Arbeiterschaft im Kontext der Industrie gegenübertraten? Tatsächlich bestanden weitere Möglichkeiten dazu, da Unternehmen regelmäßig Führungen durch ihre Wohlfahrtseinrichtungen anboten. Was für Einsichten brachte den Industrietouristinnen und -touristen die Besichtigung des Arbeiters jenseits der Fabrik?

6.2. Das Werksleben jenseits der Arbeit

Zu einem vollständigen Bild der Fabrik – darüber waren sich nach der vorliegenden Materiallage die Unternehmen ebenso wie die Gäste einig – gehörte neben den Produktionsstätten ebenso das Werksleben jenseits der Arbeit. Mit der Vorführung ihrer Sozialleistungen warben die Unternehmen auf einer weiteren Ebene um Anerkennung.198 Das Ergebnis freiwilliger sozialer Leistungen für die Belegschaft, so die Botschaft der Unternehmen, waren gut ausgebildete und den sozialen Frieden wahrende Stammarbeiter, die qualitativ hochwertige Produkte herstellten und zum gesellschaftlichen Fortschritt beitrugen. Die Kunden der Firma erhielten dadurch nicht nur vortreffliche Waren, sondern das Unternehmen erzielte darüber hinaus einen übergreifenden gesellschaftspolitischen Mehrwert. Die Basis für diesen Mehrwert den Besucherinnen und Besuchern vor Augen zu führen, gehörte wesentlich zum Programm nahezu jeder Fabrikführung. Daher stellten nicht nur die Produktionsstätten an sich das Ziel einer solchen dar, sondern ebenso die sichtbaren Zeichen der firmeneigenen Sozialfürsorge. 196 Die Überlegung, dass die ökonomische und soziale Realität der Fabrik von Besucherinnen und Besuchern zugunsten eines pittoresken Erlebnisses übersehen wurde, spricht bereits John F. Sears in seiner Studie über amerikanische Touristenattraktionen des 19. Jahrhunderts an, ohne sie jedoch weiter auszuführen. Vgl. John F. Sears: Sacred Places. American Tourist Attractions in the Nineteenth Century, Amherst, MA 1998, S. 204–206. 197 Vgl. Jens Wietschorke: Entdeckungsreisen in die Fabrik. Bürgerliche Feldforschungen 1890–1930, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 104, H. 1, 2008, S. 41–71; vgl. Kapitel 2.2.2. 198 Vgl. Kapitel 4.2.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

354

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Die Berichte über das Erlebnis des Fabrikbesuchs gingen auf diese von den Unternehmen vermittelte Sichtweise ein, dass Wohlfahrt ein integraler Bestandteil der Firma sei. Schilderungen der Sozialeinrichtungen eines Unternehmens bildeten einen unverzichtbaren Bestandteil fast jeder Reportage der illustrierten Zeitschriften. Die Hinweise auf die Wohlfahrtseinrichtungen schienen den Autoren neben den Angaben zur Unternehmensgeschichte und zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vorwiegend geeignet, den Charakter des Werks und damit allgemein der industriellen Moderne als gleichermaßen effizient und wohltätig zu bestimmen. Über die Vermittlungsabsichten des Unternehmens hinaus gingen die Fabriktouristinnen und -touristen jedoch eigenen, weiterführenden Interessen nach. Sie wollten, die ethnologischen Bemühungen der Zeit nachahmend, die Lebenswelt der Arbeiterinnen und Arbeiter erkunden,199 letztlich aber nur, um den gesellschaftlich Anderen als pittoreske Attraktion zu erleben. Die Arbeiterschaft geriet damit in den Bereich der Folklore. Darüber hinaus wollten sie die Lebensumstände der vermeintlich gesellschaftlich und sozial unterentwickelten Arbeiterschaft kennenlernen und sich über die Möglichkeiten informieren, diese zu besseren Gesellschaftsmitgliedern zu erziehen. In beiden Fällen ging es den Angehörigen des Bürgertums jedoch weniger um die Arbeiterinnen und Arbeiter, als um das eigene touristische Erlebnis, für das die Lebenswelt der Anderen nur die Kulisse bot. Diesen touristischen Blick diagnostiziert Daniel Kiecol ebenfalls für deutsche Reisende in Paris zwischen 1900 und 1930, die versuchten, durch die Besichtigung von Garküchen und Volkstheatern in die Lebenswelt der Arbeiterschaft einzutauchen, was der Autor jedoch als Phänomen einer fremden, Anonymität versprechenden Großstadt deutet.200 Bei dem Besuch der Fabrik und ihrer Wohlfahrtseinrichtungen konnten die Touristinnen und Touristen ihre Handlungen jedoch unter dem Aspekt der Bildung summieren und daher offen zelebrieren, was unter anderem aus den Reportagen der illustrierten Zeitschriften hervorgeht. Allein die Zeitschrift Das Buch für Alle führte ihre Leserschaft nicht in die ‚Kolonien‘ oder Lesehallen der Unternehmen. Es ist anzunehmen, dass für ihre Abonnenten, die eher im Kleinbürgertum zu verorten sind,201 die ‚Fallhöhe‘ nicht groß genug war, um das Alltagsleben der Arbeiterschaft, das sich möglicherweise gar nicht wesentlich von ihrem eigenen mühsam aufrechterhaltenen Lebensstil unterschied, als Objekt touristischer Neugier begreifen zu können. Wie verliefen diese Führungen durch die Wohlfahrtseinrichtungen von Unternehmensseite, was stand auf dem Besichtigungsplan und welche Motive verfolgten die 199 Vgl. Kapitel 4.1.4. 200 Vgl. Daniel Kiecol: Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen. Paris und Berlin zwischen 1900 und 1930, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel/New York, NY/Oxford/Wien 2001, S. 215. 201 Vgl. Kapitel 2.3.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

355

Firmen damit? Mochten die Konzerne ein Interesse an einer Gesamtpräsentation der eigenen Leistungsfähigkeit haben, so musste auf der Seite ihrer Adressatinnen und Adressaten das Interesse nicht ebenso umfassend sein. Welche Motive hatten dann Fabriktouristinnen und -touristen, sich neben der Fertigungsstätte gleichfalls das Werksleben jenseits der Arbeit anzusehen? Was nahmen sie dabei überhaupt wahr? Aufschluss hierüber bieten sowohl die unternehmenseigenen touristischen Materialien als auch die Berichte über Wohlfahrtseinrichtungen in verschiedenen touristischen Publikationen.

6.2.1. Das Werksleben in der unternehmerischen Selbstdarstellung

Obwohl die Intention des Unternehmens, das Image durch die Vorstellung der eigenen sozialen Leistungen zu verbessern, bereits erforscht wurde,202 fehlt bisher eine Untersuchung über die konkrete touristische Präsentation der Wohlfahrtseinrichtungen. Die Abhandlung von Heinz Reif, die 1994 erstmals überhaupt die touristische Qualität der Wohlfahrtseinrichtungen und ihre Verdeutlichung durch Fotos aus den Arbeitersiedlungen herausstellte, geht darauf nur am Rande ein. Reif führt aus, dass ab der Jahrhundertwende eine umfassende fotografische Bestandsaufnahme der betrieblichen Sozialleistungen stattgefunden habe, die die Grundlage „für einen kontinuierlichen, sukzessiv alle Repräsentations- und Werbemedien erfassenden Einsatz auch dieses Themenfeldes der Werksfotografie in der Öffentlichkeitsarbeit“203 geschaffen habe. In welcher Form und mit welchen Strategien und Intentionen das Unternehmen vorging, lässt er jedoch offen.204 Sichtbar wurden bei einem Blick auf das Werksleben jenseits der Arbeit vor allen Dingen räumlich verortbare Einrichtungen im Gegensatz zu solchen wie beispielsweise Pensionskassen, die an keiner konkreten Stelle angesiedelt waren. Ihre Besichtigung erfolgte ebenso wie die Besichtigung der Fabrik gegliedert in verschiedene Stationen und nach einem bestimmten Ablauf. Die Firma Krupp ist ein herausragendes Beispiel für den intensiven Bau von Werkswohnungen, die den Arbeitern und ihren Familien zu günstigen Mietpreisen zur Verfügung standen. Das Unternehmen legte einen dementsprechend gesteigerten Wert auf die Vorstellung seines Engagements bei seinen Besuchern und vor allem 202 Vgl. Kapitel 4.2.3. 203 Heinz Reif: „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“. Das Werksleben jenseits der Fabrik in der Fotografie bei Krupp, in: Tenfelde, Bilder von Krupp, S. 105. 204 Vgl. ebd., S. 105–122.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

356

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

bei den Besucherinnen. Daher durften die ‚Kolonien‘ in keinem Führungsprogramm durch die ‚Wohlfahrtseinrichtungen‘ eines Unternehmens fehlen, wie Protokolle über den Ablauf der Besuche im und ums Werk belegen. Auf dem Programm standen fast immer die Kolonien Friedrichshof und Kronenberg, bisweilen ebenfalls die Kolonie Alfredshof.205 Damit wurden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern verschiedene Siedlungsstile vor Augen geführt. Während die Kolonie Kronenberg noch aus der Gründerzeit mit ihrer extremen Wohnungsnot stammte und mit über 1.500 Wohnungen rund 8.000 Menschen Unterkunft in langgezogenen dreigeschossigen Wohnblöcken bot, stellte sich der Friedrichshof aus den Jahren 1899 bis 1906 mit rund 525 Wohnungen schon als eine aufgelockertere Bebauung dar, selbst wenn hier noch aufgrund der städtischen Lage Wohnblöcke vorherrschten. Der Alfredshof hingegen bestand zumindest in seiner ersten Bauphase bis 1899 aus Gebäuden nach dem Vorbild der englischen Gartenstädte. Die bekannte Siedlung Margarethenhöhe, vollkommen nach dem Gartenstadt-Prinzip konzipiert, war vor dem Ersten Weltkrieg noch im Entstehen begriffen, weshalb sie erst ab 1912 in Ausnahmen auf dem Plan für eine Führung stand.206 Als Gemeinsamkeit wiesen die ‚Kolonien‘ der Firma Krupp eine solide Bauweise auf dem neuesten Stand des Städtebaus auf, die Raum für Erholung und Freizeit bot und mit Gemeinschaftseinrichtungen für die Bewohnerinnen und Bewohner aufwartete. Als besondere Einrichtung kam der „Altenhof“ hinzu,207 der ab 1893 als Wohnsiedlung für ehemalige Werksangehörige ausgebaut wurde und zum Ende der Bauphase 1907 607 Wohnungen bereitstellte. Das Unternehmen setzte dafür eine langjährige Zugehörigkeit des Mannes zur Belegschaft des Unternehmens bei tadelloser Führung voraus.208 205 Vgl. z.B. Schreiben an Erbslöh: Zusagen Besichtigung Wohlfahrtseinrichtungen, 16.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 354; Programm für die Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen der Gußstahlfabrik durch Mitglieder des Vereins der national-liberalen Jugend zu Elberfeld, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2013, 235. 206 Vgl. HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 3.1/158: Auf dem vorgedruckten Besucherbogen, auf dem der Besuch der Teilnehmer am Evangelisch-sozialen Kongress am 31.05.1912 vermerkt war, ist die Station Margarethenhöhe handschriftlich ergänzt; HAK, ebd., Signatur: WA 48, 3.1/152: Bei dem Besuch der Wohlfahrtseinrichtungen der Firma Krupp sahen sich die Teilnehmerinnen des Rhein. Philologentages auch die Margarethenhöhe an. 207 Vgl. Schreiben an Erbslöh: Zusagen Besichtigung Wohlfahrtseinrichtungen, 16.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 354; Programm für die Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen der Gußstahlfabrik durch Mitglieder des Vereins der national-liberalen Jugend zu Elberfeld, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2013, 235. 208 Vgl. für die allgemeine Darstellung der Werkswohnungen: Buchdruckerei der Gußstahlfabrik Fried. Krupp A.G. (Hrsg.): Führer durch die Wohlfahrtseinrichtungen der Gußstahlfabrik, Essen 1908, S. 1–23; Graphische Anstalt der Gußstahlfabrik Fried. Krupp A.G., Essen (Hrsg.): Zum 100jährigen Bestehen der Firma Krupp und der Gussstahlfabrik zu Essen-Ruhr, Essen 1912, S. 388–391.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

357

Die Firma Bayer führte ihre Besucherinnen und Besucher gleichfalls durch ihre Werkssiedlungen,209 obschon diese nicht so einen hohen Stellenwert wie bei Krupp einnahmen. Die Beschreibungen zum Thema „Unterkunft“, die der Führer geben sollte, fielen eher kursorisch aus.210 Ein maschinenschriftliches Dokument aus dem Bestand der Werksbesichtigung der Firma Bayer, das allerdings erst aus dem Jahr 1921 überliefert ist, nennt auf acht Din A4-Seiten zwar ausführlich alle Sozialleistungen des Unternehmens, verwendet auf die Beschreibung der Werkswohnungen jedoch nur eine gute halbe Seite, die sich vorwiegend mit den Wohnungen für die Werksbeamten beschäftigt. Letztlich besteht die einzige Information über die Wohnsituation für Arbeiterfamilien darin, dass es rund 2.000 Arbeiterwohnungen und zwei Junggesellenheime gegeben habe. Mit den ‚Werkskolonien‘ befriedigte das Unternehmen ein elementares Bedürfnis seiner Arbeiterschaft. Doch, so stellten unter anderem die Ablaufpläne der Führungen durch die Wohlfahrtseinrichtungen heraus, legten die Unternehmen gleichermaßen Wert darauf, den Besucherinnen und Besuchern vorzuführen, dass sie ihrer Belegschaft sogar auf dem Gebiet des körperlichen Wohlergehens und der persönlichen Weiterentwicklung und -bildung Hilfestellung boten. Daher stellte Krupp insbesondere die für alle Bewohner211 der Kolonie Friedrichshof zugängliche Badeanstalt, die Räume des Bildungsvereins in der Kolonie Kronenberg und den Lesesaal der Siedlung Friedrichshof, außerdem die zentrale Spareinrichtung, die Bücherhalle und die Haushaltsschule vor.212 Dass überdies für das Wohl der Seele gesorgt war, veranschaulichte der häufige Besuch verschiedener zu den Siedlungen gehöriger Kirchen, etwa der Kapellen in der Kolonie Altenhof.213 Die Vorlage der Firma Bayer für die Ausführungen des Fremdenführers bezüglich der Wohlfahrtseinrichtungen gaben einerseits Informationen über 209 Bereits beim Besuch der ‚Kegelbrüder‘ des Direktors Duisberg standen die Werkskolonien auf dem Programm. Vgl. Programm für die Besichtigung der Leverkusener Werke der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Elberfeld am Sonnabend, den 26. März 1904, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). Auch der Verein deutscher Apotheker besuchte die Arbeiterkolonien. Vgl. Besichtigung der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. zu Leverkusen durch den Verein Deutscher Apotheker, 10.08.1906, BA, ebd. 210 Vgl. Kurze Zusammenstellung der Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen, 1921, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 211 Die Werksführer differenzierten diese Aussage nicht nach dem Geschlecht der Bewohner, so dass hier offen bleiben muss, ob dieses und die weiteren Angebote auch für die Bewohnerinnen der Kolonien gedacht waren. 212 Vgl. Programm für die Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen der Gußstahlfabrik durch Mitglieder des Vereins der national-liberalen Jugend zu Elberfeld, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2013, 235; Programm für eine Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen der Gußstahlfabrik, 23.05.1906, HAK, ebd., Signatur: WA 4 2014, 368. 213 Vgl. ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

358

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

„Einrichtungen zur Hebung der materiellen Lage der Werksangehörigen“, andererseits zu „Einrichtungen auf dem Gebiete des Bildungswesens“.214 Unter dem ersten Punkt summierte die Vorlage unter anderem Informationen zu Krankenhäusern und Wöchnerinnenheimen, diversen Fürsorgestellen sowie zu werkseigenen Kaufhäusern, Speiseanstalten und Erholungshäusern. Der zweite Punkt umfasste die kurze Beschreibung von Einrichtungen wie einer Bücherei und einer Lesehalle.215 Obschon somit bei einer Führung durch das Unternehmen das Leben jenseits des Werks durchaus einen wichtigen Teil des Erlebnisses bildete, hatten die Besucherinnen und Besucher, wie konkrete Ablaufpläne für den Aufenthalt in den ‚Kolonien‘ und weiteren Wohlfahrtseinrichtungen erkennen lassen, wenig Zeit, tatsächlich in die ‚private‘ Lebenswelt des Arbeiters einzutreten. Pro Station, also pro Kolonie mit allen ihren zusätzlichen Einrichtungen, standen während einer Führung der Firma Krupp durchschnittlich 25 Minuten zur Verfügung.216 Mehr als ein rasches Durchschreiten und einige kurze Erläuterungen des Begleiters der Gruppe werden in dieser kurzen Zeit kaum möglich gewesen sein. Damit lehnten sich die Führungen durch das Fabrik­umfeld in ihrer Organisation an diejenigen durch die Werkstätten selbst an, die, wie bereits ausgeführt, einem ähnlich straffen Zeitplan folgten.217 Bei Bayer reduzierte sich, wie man den Führungsplänen entnehmen kann, der Kontakt mit der Arbeiterschaft jenseits der Arbeit wahrscheinlich nur auf die Durchfahrt per Kutsche durch die Arbeitersiedlungen.218 Dagegen konnten die gedruckten Führer, die zumeist nach den Führungen ausgeteilt wurden, detailliertere Informationen über die Sozialleistungen des Unternehmens liefern. Die Ausführungen hier waren, ähnlich wie beim Verhältnis zwischen dem Erlebnis bei der Führung durch die Werkstätten und den Beschreibungen in einem Fabrikführer, ausführlicher und einprägsamer als die beim Gang durch die ‚Kolonien‘ mündlich gelieferten. Das gedruckte „Erinnerungsblatt an den Besuch der Farbenfabriken vorm Friedr. Bayer & Co. Leverkusen“ zum Deutschen Färbertag 1901 in Elberfeld verwendete drei seiner acht Seiten auf die Vorstellung der firmeneigenen Sozialeinrichtungen219 und ergänzte auf diese Weise die eher kursorischen Anmerkungen des 214 Kurze Zusammenstellung der Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen, 1921, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 215 Vgl. ebd. 216 Vgl. Programm für eine Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen der Gußstahlfabrik, 23.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 368. 217 Vgl. Kapitel 5.2.2. 218 Vgl. Gedruckter Führungsplan für den Verein Deutscher Apotheker. Damen-Abteilung I, 1906, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Gedruckter Führungsplan für den Verein Deutscher Apotheker. Damen-Abteilung II, 1906, BA, ebd. 219 Vgl. Buchdruckerei der Farbenfabriken: Erinnerungsblatt an den Besuch der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Leverkusen, BA, ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

359

menschlichen Führers und die vermutlich schnelle Durchfahrt durch die ‚Kolonien‘ so weit, dass bei der zumeist nachträglichen Lektüre das Gesehene interpretiert und eingeordnet werden konnte. Die Publikationen der Firma Krupp konnten sogar auf umfassende fotografische Bestandsaufnahmen der betrieblichen Sozialleistungen zurückgreifen, die die Firma in dieser Zeit im Rahmen des Ausbaus ihrer Graphischen Anstalt hatte anfertigen lassen.220 Bei einer Gesamtlänge von je etwa sechzig Seiten machten die Ausführungen und Bilder zu den Wohlfahrtseinrichtungen bei den Veröffentlichungen von Krupp jeweils etwa ein Sechstel der Länge aus.221 Die Firma Krupp verteilte an ihre Gäste sogar einen gedruckten Führer, der besonders ausführlich über die Wohlfahrtseinrichtungen berichtete.222 Dieses Druckerzeugnis bestand ebenso wie die allgemeinen Führer aus etwa sechzig Seiten, die sich jedoch allein mit den Sozialleistungen der Firma beschäftigten. Siebenunddreißig Fotografien, die fast jede der angesprochenen Einrichtungen thematisierten, unterstützten die ausführliche textliche Darstellung, hinzu kamen Übersichtskarten jeder größeren Kolonie. Eine derart intensive Vorstellung inszenierte die Wohlfahrtseinrichtungen noch einmal viel stärker als Wohltat des Unternehmers und stellte ihre Nutzer, die Arbeiterschaft der Firma, als unmündige Wesen dar, die der Leitung des Unternehmers bedurften und die daher als sozial niedriger gestellte Wesen von den bürgerlichen Besucherinnen und Besuchern als Objekte der touristischen Neugier betrachtet werden konnten und durften. Die Unternehmenspublikationen gliederten die Sozialleistungen der Firma Krupp in die Bereiche „Konsum-Anstalt“,223 „Wohnungswesen“,224 „Kassen- und Versicherungswesen“225 sowie „Sonstiges“,226 wozu gerade Einrichtungen für Gesundheitsfürsorge und Hygiene gehörten.227 Hierzu lieferten sie erschöpfende Fakten und diverse Bilder, die allerdings nur die Gebäude und Einrichtungen thematisierten, jedoch nicht 220 Vgl. Reif, „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“, S. 105. 221 Vgl. [Fabrik] Fried. Krupp (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1902, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1902; dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1905, HAK, ebd., Signatur: FK 3-1-1905. 222 Vgl. Buchdruckerei der Gußstahlfabrik Fried. Krupp A.G., Führer durch die Wohlfahrtseinrichtungen. 223 Krupp, Statistische Angaben, 1905, S. 57. 224 Ebd., S. 59. 225 Ebd., S. 60. 226 Ebd., S. 62. 227 Vgl. ebd. Eine ähnliche Gliederung legte der Führer durch die Wohlfahrtseinrichtungen der Firma vor: Er behandelte die Kapitel „Wohnung und Verpflegung“ (S. 1–22), „Konsum-Anstalt“ (S. 23–32), „Gesundheitspflege“ (S. 33–38), „Unterricht, Fortbildung und Erholung“ (S. 39–49), „Krankenkassen, Hilfskassen u. Unterstützungseinrichtungen“ (S. 49–59) und „Sonstige Wohlfahrtseinrichtungen“ (S. 59–60), vgl. Buchdruckerei der Gußstahlfabrik Fried. Krupp A.G., Führer durch die Wohlfahrtseinrichtungen.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

360

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

ihre Nutzerinnen und Nutzer in den direkten Blick nahmen. Bei der detaillierten Lieferung von Zahlen und Fakten stand, ebensowenig wie auf den eher dokumentarischen Bildern, der Mensch nicht im Mittelpunkt. Er verschwand hinter den Tatsachen, mit denen die Firma sich brüstete. Zum „Wohnungswesen“ vermerkten beispielsweise die „Statistischen Angaben“ von Krupp aus dem Jahr 1905: „Die zum Bereich der Gußstahlfabrik in Essen gehörigen Arbeiter-Kolonien sind folgende: Westend, Nordhof, Baumhof, Schederhof, Cronenberg, Alfredshof […] mit zusammen 4327 Wohnungen. […] Nach der letzten im Oktober 1903 vorgenommenen Generalaufnahme wohnten in Krupp’schen Häusern im Bereiche der Gußstahlfabrik 5163 Angehörige der Firma mit 16325 Familienangehörigen, zus. 21488 Personen.“228 Die Lebenssituation der Arbeiter, obwohl bei Krupp vorbildlich, thematisierten die „Statistischen Angaben“ nur insofern, als sie durch eine quantifizierende Sichtweise umrissen werden konnte. Dagegen warteten die Beschreibungen zu anderen Bereichen des Unternehmens zum Teil mit viel mehr Details auf. Es lässt sich vermuten, dass es der Firma mit einer derartigen, rein quantitativen Thematisierung darum ging, die Arbeiterschaft beziehungsweise ihre angemessene Versorgung als Teil des Produktionspotenzials des Unternehmens zu kennzeichnen, aber nicht ihr Wohlergehen in sozialreformerischer oder anderweitiger Absicht in den Mittelpunkt zu rücken. Auch das „Erinnerungsblatt“229 der Bayer-Werke benannte die Sozialleistungen, ohne auf die Wirkung auf die Beschäftigten tatsächlich einzugehen.230 Dasselbe Vorgehen findet sich darüber hinaus in einigen Zeitschriftenartikeln, die wohl als Auftragsarbeit und damit eher als Werbung denn als freie journalistische Berichterstattung zu klassifizieren sind und die die Sozialleistungen des vorgestellten Unternehmens nur knapp aufzählten: „Nicht unerwähnt dürfen die Wohlfahrtseinrichtungen bleiben; es sind überall genügende Wasch-, Garderoben-, Speiseräume, Kantinen usw. vorgesehen. Eine eigene Krankenkasse ist der Fabrik angegliedert. Nicht unbedeutende Summen sind für Beamtenunterstützungs- bzw. Pensionsfonds bereitgestellt. Zwölf Hydranten und eine Berieselungsanlage in den großen Gebäuden sorgen für genügend Feuerschutz.“231 228 Krupp, Statistische Angaben, 1905, S. 59. 229 Buchdruckerei der Farbenfabriken: Erinnerungsblatt an den Besuch der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Leverkusen, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 230 Vgl. ebd. 231 Rundgang durch die Maschinenfabrik A. Ventzki Aktiengesellschaft, Graudenz, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 136, Nr. 3541, 11.05.1911, S. 35–37, hier S. 35 (gesonderte Paginierung).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

361

Abb. 51: „Speisesaal“ der Firma Haniel & Lueg (1899): Eine freiwillige Sozialleistung als Werbemittel

Die kurze Auflistung orientierte sich an dem Ziel, das Unternehmen zu charakterisieren, nicht daran, die Arbeiterschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Diese wurde in einer solchen Unternehmensbeschreibung gar nicht benannt, sondern trat nur indirekt als Auslöser in Erscheinung, der die Maßnahmen überhaupt nötig machte.232 Ebenso blendeten die Bilder in Publikationen der Fabrik den Nutznießer der jeweiligen sozialen Einrichtung häufig aus: Ein Foto des Speisesaals der Maschinenfabrik Haniel & Lueg aus der Denkschrift zur Feier des 25. Jahrestages der Betriebseröffnung des Düsseldorfer Werkes aus dem Jahr 1899 eröffnet den Blick in einen hellen, luftigen Raum mit hoher Decke. Das Licht strömt durch Oberlichter in der Decke und durch eine großzügige Fensterreihe an der linken Seite des Raumes; durch die gewählte Perspektive tritt die Tiefen- und Breitendimension des Raumes hervor. Eine Vielzahl von akkurat angeordneten langen Tischen mit Stühlen daran signalisierte, dass das Unternehmen in der Lage war, einer großen Menge Arbeiter einen Ort zu bieten, an dem sie, wenn auch nicht in komfortabler, so doch in ordentlicher und sauberer Umgebung, ihr Essen einnehmen konnten. Die Nutzung des Speisesaals durch die Arbeiter wurde jedoch nicht abgebildet, wer sich das Bild ansah, konnte sie sich allenfalls vorstellen 232 Vgl. auch von Beaulieu-Marconnay, Das Heizwerk in Jena, S. 775.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

362

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

(vgl. Abbildung 51).233 Wieder stand nicht der Mensch im Fokus, sondern die Leistung des Unternehmens für sein ‚Fürsorgeobjekt‘. Mit der Vorstellung der Sozialleistungen und Sozialeinrichtungen zielten die Unternehmen also nicht darauf ab, der Öffentlichkeit ‚den Arbeiter‘ als Person näherzubringen. Stattdessen wollte die Firmenleitung mit der Präsentation der Wohlfahrtseinrichtungen die Übernahme von sozialer Verantwortung durch das Unternehmen demonstrieren und ihren Beitrag, den sozialen Frieden nicht nur in der Firma, sondern in der Gesamtgesellschaft zu fördern, herausstellen sowie die Güte der hergestellten Produkte begründen. Dass das Unternehmen sich um soziale Lesbarkeit bemühte, lässt sich an den gehäuften Aussagen ablesen, wie wichtig das Wohlergehen der Werksangehörigen und das gute Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten sei, ohne dass daran direkte weitere Ziele geknüpft wurden.234 „Aus dieser kurzen Uebersicht [über die Sozialleistungen] ist zu ersehen, dass das Gebiet äusserst umfangreich ist. Die Einrichtungen haben schon viel Gutes gestiftet und werden auch weiterhin dazu beitragen, das Verhältnis zwischen Firma und Werksangehörigen angenehmer zu gestalten.“235 Diese Worte legte die Vorlage für eine Führung durch die Wohlfahrtseinrichtungen der Firma Bayer den Begleitern der Touristengruppen als Fazit der Besichtigung in den Mund. Die Arbeiterschaft sollte, so mutet diese Einschätzung an, als funktionierender Teil des Unternehmens gepflegt werden, ebenso, wie man Maschinen regelmäßig wartete oder sie in einer intakten Werkshalle vor der Witterung schützte. Die Gestaltung der Werkshallen konnte jedoch ebenso als Wohltat gedeutet werden, was die Menschen umso mehr auf eine Stufe mit den Maschinen stellte. Die AEG beispielsweise sah speziell die Weiträumigkeit und Helligkeit ihrer neu errichteten Fabrikhallen nicht nur als Produktionsvorteil, sondern vor allem als großzügig gewährte Wohltat für ihre Arbeiterschaft und versäumte es darüber hinaus nicht, diese Tatsache in ihren diversen Fabrikführern aus der Zeit um 1914 immer wieder herauszustellen.236 233 Denselben Eindruck vermittelte die Präsentation der Berlin-Anhaltischen Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft in einer Sondernummer der Illustrirte[n] Zeitung. Sie zeigte die Wasch- und Ankleideräume in den Dessauer Fabriken des Unternehmens ebenfalls als rein bauliche Einrichtung. Vgl. Abbildung Wasch- und Ankleideräume in den Dessauer Fabriken, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 140, Nr. 3649, 05.06.1913, S. 38 (gesonderte Paginierung). 234 Das Ziel, herauszustellen, „dass die Firma neben ihrer industriellen Leistungsfähigkeit auch ihre soziale Verantwortung der eigenen Belegschaft gegenüber im Blick hatte“, ergab etwa die Untersuchung der bildlichen Darstellung der Wohlfahrtseinrichtungen der AEG unter der Federführung des Leiters des Deutschen Technikmuseums, Jörg Schmalfuß. Vgl. Jörg Schmalfuß/Klaus-Dieter Bründel/Maria Bortfeldt: Wohlfahrtseinrichtungen, in: Kugler, Die AEG im Bild, S. 157–187, hier S. 157. 235 Kurze Zusammenstellung der Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen, 1921, BA, Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958). 236 Vgl. AEG, Apparate-Fabrik, S. 5; dies. (Hrsg.): Fabriken Brunnenstrasse, Hygienemuseum, Berlin

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

363

Sofern die Unternehmen ihre Beschäftigten überhaupt als etwas anderes, als ein Produktionsmittel, das es zu pflegen galt, vorstellten, legten sie vorrangig ein paternalistisches Verständnis vom Umgang mit den Arbeitern an den Tag. Das drückte sich etwa in dem Anspruch aus, dass das Arbeitsverhältnis nicht nur in einer Arbeitsleistung und ihrer Bezahlung bestehe, sondern darüber hinaus von gegenseitiger Zuneigung bestimmt sein sollte, wie die Illustrirte Zeitung in einem Bericht über die Wohlfahrts­ einrichtungen der Firma Faber feststellte. „Lothar Faber wollte seine Arbeiter nicht nur beschäftigen und bezahlen, er war auch für [sic!] ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen besorgt, er wollte, daß sie mit Lust und Liebe mit ihm und unter ihm tätig waren.“237 In der Beschreibung des Verhältnisses von Unternehmen und Arbeiterschaft, die sich, obwohl in der freien Presse abgedruckt, doch eher wie eine Firmenwerbung las, waren die gegenseitigen Pflichten offen benannt: Der Arbeiter sollte seine Aufgaben bestmöglich erfüllen, gleichzeitig sollte er dem Firmeninhaber Dankbarkeit und Respekt entgegenbringen, der ihm dafür nicht nur die Bezahlung für die Arbeit, sondern eine weitergehende Pflege zukommen ließ. „Wir wissen“, so ließ die Direktion der Eisenwerke Gaggenau in einem Artikel der Illustrirte[n] Welt aus dem Jahr 1893 verlauten, „daß man dem Arbeiter mehr als seinen Lohn schuldig ist.“238 Bei der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer handelte es sich in der Selbstdarstellung der Unternehmen nicht nur um ein Geschäft, sondern um ein gegenseitiges Einverständnis, das emotional überzeichnet wurde. Der Arbeiterin und dem Arbeiter kam dabei jedoch nur der passive Teil zu, als unmündiges Objekt empfing man die Wohltaten des Unternehmens, für die man dann eine angemessene Arbeitsleistung schuldig war. Eine solche Haltung lehnte sich offensichtlich an die Einstellung des Adels im Feudalismus an und ließ das Verhältnis zwischen Pächter und Grundherr wieder aufleben. Damit lebten überkommene Bilder gesellschaftlicher Strukturen in der modernen Industriegesellschaft fort. Die bürgerlichen Gäste konnten den sozial Anderen also nicht nur als Mitglied einer unterlegenen Gesellschaftsschicht zum Objekt der touristischen Betrachtung machen, sondern sein Dasein und seine gesellschaftliche Position in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang von Herrschern und Beherrschten einordnen. Außerdem, so stellten die Unternehmen in ihren Aussagen in firmeneigenen Drucksachen oder in unternehmensnahen Veröffentlichungen in der Presse heraus, bemühten sie sich mit ihren freiwilligen Leistungen um sozialen Frieden, von dem dann die [1914], S. 4, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 06904; dies. (Hrsg.): Turbinenfabrik, Berlin o.J., S. 22, SDTB, ebd., Signatur: So 4268. 237 Wohlfahrtseinrichtungen der Bleistiftfabrik A.W. Faber. Gegründet 1761, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 140, Nr. 3649, 05.06.1913, S. 34f., hier S. 34 (gesonderte Paginierung). 238 Eine der bedeutendsten Industriewerkstätten Deutschlands, in: Illustrirte Welt, Jg. 41, Nr. 1, 1893, S. 19–21, hier S. 21.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

364

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

gesamte bürgerliche Gesellschaft profitieren konnte. Diesen Aspekt griff eine – wahrscheinlich von den dort genannten Unternehmen geförderte – Sondernummer der Illustrirte[n] Zeitung aus dem Jahr 1913 eigens auf, die sich ausschließlich mit den Sozialleistungen verschiedener Firmen beschäftigte. Die Berichte stellten ausdrücklich den Wert eines Ältestenkollegiums heraus, das für einen Ausgleich zwischen der jeweiligen Unternehmensleitung und den Beschäftigten sorgen sollte. Das Gremium, das von der Arbeiterschaft des Unternehmens gewählt wurde, hatte beispielsweise die Aufgabe, die jüngeren Arbeiter zu überwachen oder die Einhaltung der Fabrikordnung zu garantieren. Das Ältestenkollegium war dazu bestimmt, für „das Wohl, die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer und die Ehre und das Gedeihen des Geschäfts […] Sorge zu tragen.“239 Die gerade für die direkte Kundschaft des jeweiligen Unternehmens wichtigste Auswirkung der Wohlfahrtspolitik, und daher das Ziel, das die Firmen außerordentlich betonten, war eine Förderung der Güte der hergestellten Produkte. Die Kundschaft sollte durch die indirekte Werbung, die die betriebliche Sozialpolitik präsentierte, auf die aus der vorbildlichen Behandlung resultierende Haltung der Belegschaft als Potenzial für die Produktion aufmerksam gemacht werden.240 Die Glasqualität der optischen Werkstätte Carl Zeiss in Jena, so stellte die Familienzeitschrift Die Gartenlaube dann auch stellvertretend für ihr bürgerliches Lesepublikum fest, war nur durch einen zuverlässigen Arbeiterstamm, der durch die Wohlfahrtseinrichtungen beim Unternehmen gehalten wurde, zu gewährleisten.241 Die Käuferschaft musste angesichts des an das Unternehmen gebundenen versierten Personals keine Angst vor minderwertiger Ware haben, die in der Lebensmittelindustrie ganz drastische Folgen für den Konsumenten hätten und sich in „Furcht vor geheimnisvollen Gesundheitsschädigungen oder gar Vergiftungen“242 manifestieren konnte. Derartigen absatzschädigenden Ängsten konnten die Unternehmen durch die Vorstellung ihrer Wohlfahrtseinrichtungen entgegenwirken.243 Der Nutzen einer gut ausgebildeten Stammarbeiterschaft war für das Unternehmen wie für die Kundschaft von hohem praktischen Wert, so dass sich hier die Sozialfürsorge der Unternehmen als Grundlage für eine solche Arbeiterschaft besonders werbewirksam einsetzen ließ. 239 Die Berlin-Anhaltische Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft und deren Wohlfahrtseinrichtungen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 140, 1912 (ohne Nummer, undatiert), S. 38. 240 Auf diese Strategie des Unternehmens weist auch Heinz Reif hin. Vgl. Reif, „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“, S. 115. 241 Vgl. E. Franken: Optisches Glas, in: Die Gartenlaube, Nr. 21, 1905, S. 376–379, hier S. 379; vgl. auch Hübel & Denck, Groß-Buchbinderei in Leipzig, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2966, 03.05.1900, S. 654f., hier S. 655. 242 Gollmer, Deutsche Konservenindustrie, S. 736. 243 Vgl. auch Reif, „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“, S. 115.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

365

Weitere ganz pragmatische Motive des Unternehmens, Industrietouristinnen und -touristen durch ihre Wohlfahrtseinrichtungen zu führen, können darin begründet liegen, dass ein solcher Besuch weniger betriebliche Störungen verursachte. Während die Produktionsabläufe im Werk gegebenenfalls gerade durch den Besuch größerer Gruppen gefährdet wurden, bestand diese Gefahr bei der Besichtigung etwa der Lehreinrichtungen oder der Wohnsiedlungen nicht. Aus diesem Grund, so ist anzunehmen, verwies die Firma Krupp einige Gruppen, die eigentlich eine Werksbesichtigung angefragt hatten, direkt auf die Führung durch die Wohlfahrtseinrichtungen.244 Damit nutzte das Unternehmen dies als Möglichkeit, derartige Anfragen vor allem von als weniger wichtig eingestuften Personengruppen wie etwa Schülerverbänden, bei denen der Nutzen einer Besichtigung der Produktionsstätten für die Firma als geringer als der Schaden für die Produktionsabläufe eingeschätzt wurde, trotzdem nicht direkt abweisen zu müssen. Außerdem gab die Besichtigung der Einrichtungen der Sozialfürsorge die Möglichkeit, den Begleiterinnen der Besucher ein ansprechendes, ‚frauenspezifisches‘ Programm zu bieten. Dem lag einerseits zugrunde, dass manche Fabriken, insbesondere die der Schwerindustrie, schlicht keine Frauen in der Fabrik duldeten, was sich ebenso auf bürgerliche Besucherinnen bezog. Andererseits schienen gleichfalls Firmen, die bürgerliche Frauen in ihren Werkshallen willkommen hießen, davon auszugehen, dass diese sich nicht primär für die Technik, sondern für ein Gesamtbild der Firma interessierten, das sich vor allem durch einen Besuch der Wohlfahrtseinrichtungen vermitteln ließ.245 Ob sich daraus tatsächlich geschlechtsspezifische Vorlieben bei den Betriebsfremden ableiten lassen, was zu besichtigen war, muss offen bleiben.

6.2.2. Das Werksleben in der touristischen Betrachtung

Wenn die Beweggründe der Firmen, ihre Wohlfahrtseinrichtungen vorzuführen, so unmissverständlich umrissen waren, stellt sich die Frage, ob diese Botschaft tatsächlich so eindeutig ankam und ob die Motive der Firma denen der Touristinnen und Touristen entsprachen. Die Anfragen, die die Unternehmensleitung erreichten, enthüllen, sofern sie den Besuch der Einrichtungen der Sozialfürsorge explizit thematisieren, eher einen der Besonderheit dieses Teils der Besichtigung gegenüber indifferenten Reisenden. „Ob Sie uns einen Teil des technischen Betriebes oder mehr die Wohlfahrtseinrichtungen, oder etwa beides, zeigen wollen, muß ich Ihnen ganz überlassen. Interesse haben wir 244 Antwort auf die Besuchsanfrage der nationalliberalen Jugend zu Elberfeld, 04.07.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2013, 4197. 245 Vgl. Kapitel 5.1.1.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

366

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

für alles“,246 übermittelte die Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft der Direktion der Firma Krupp in ihrer Anfrage für eine Besichtigung aus dem Jahr 1906. Die Mitglieder schienen sich im Vorfeld ihrer konkreten Erwartungen, die sie mit der Besichtigung der verschiedenen Unternehmensteile verknüpften, gar nicht bewusst zu sein. Gäste der Leverkusener Werke der Firma Bayer interessierten sich ebenfalls für das Werk und die sichtbaren Zeugnisse der Sozialleistungen des Unternehmens, ohne eine Priorisierung vorzunehmen.247 Die Besuchsübersichten der Firma Krupp weisen in dieselbe Richtung. Sie lassen erkennen, dass sich die Besuchsströme gleichmäßig auf das Werk selbst und auf die Wohlfahrtseinrichtungen verteilten, wobei viele Industrietouristengruppen beides besichtigten.248 Das lag sicherlich an der bereits angesprochenen Lenkung der Besuchsströme von Seiten der Fabrikleitung speziell bei den Gruppen, die aufgrund ihrer Größe oder ihres Geschlechts die Abläufe im Werk selbst zu behindern drohten, mag aber ebenso durch das persönliche, undifferenzierte Interesse der Touristinnen und Touristen begründet gewesen sein. Diese Umstände deuten darauf hin, dass sie sich allein von der eher unbestimmten touristischen Neugier leiten ließen, die jedes Ereignis, das in ihren Augen mit einem gewissen Maß an Schauwert versehen war und daher ein wie auch immer geartetes Bildungserlebnis versprach, als gleichwertig erachtete. Konkret hieß das, dass die Qualität und der Charakter des Blicks auf die Arbeiterschaft derselbe oder zumindest ein sehr verwandter war, unabhängig davon, ob sie bei ihrer Arbeit oder in ihrer Freizeit angetroffen werden konnten. Der Blick auf die bewusst artikulierten Beweggründe für eine Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen belegt letztlich die Unfähigkeit seitens der Industrietouristinnen und -touristen, auszudrücken, was sie mit dem Besuch der ‚Kolonien‘ und ähnlicher Einrichtungen erzielen wollten. Dieses Manko ließ sich bereits bei der Suche nach den Motiven für einen Besuch der Fabrik generell erkennen. Was lag dem also zugrunde? Wie genau blickten die Werksgäste auf die Wohnsiedlungen, Speiseräume und Bücherhallen? Wie entstand dabei jener Wissensraum, den sie bei der Besichtigung konstruierten? Es ist zu vermuten, dass die Betriebsfremden schwerpunktmäßig andere Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellten, als die Unternehmen vorrangig propagierten. Natürlich hatten die Besucherinnen und Besucher, die gleichzeitig Konsumentinnen und Konsumenten waren, ein Interesse, die Qualität der Waren durch eine gut versorgte 246 Daniels an Firma Krupp: Anfrage Besichtigung Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft Posen, 14.05.1906, HAK, Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten, Signatur: WA 4 2014, 421f. 247 Vgl. Lucas an Duisberg: Annahme Einladung Fabrikbesichtigung am 26.03.1904, 14.03.1904, BA, Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908). 248 Vgl. HAK, Bestand WA 48 – Besuchswesen, Teil 1 und Bestand WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

367

Abb. 52: „Gesamtansicht“ (1902): Dörflicher Charakter einer Arbeitersiedlung

Arbeiterschaft garantiert zu sehen, doch suchten sie, wie die folgenden Ausführungen sichtbar machen sollen, vielmehr das Erlebnis, die Arbeiterfamilien selbst zu betrachten. Aus den touristisch motivierten Berichten über die Wohlfahrtseinrichtungen lassen sich zwei Grundmuster der Betrachtung herauslesen. Das eine setzte die Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren Familien in einen bäuerlich anmutenden Zusammenhang, wodurch sie sich als folkloristische Attraktion deuten ließen, das andere interpretierte sie als Fürsorgeobjekt, das es zu erziehen galt, was die Wohlfahrtseinrichtungen als große Erziehungsanstalt vorstellte. Gerade das Leben in den Werkssiedlungen skizzierten viele Fabrikreportagen in einem auffälligen Gegensatz zu der technisierten, industrialisierten Welt des Werkes selbst. Das Leben in den ‚Kolonien‘ erschien als eine ländliche, vorindustrielle Idylle. Der Prototyp einer solchen idyllisch anmutenden Siedlung war der „Altenhof“ der Firma Krupp. In diesem speziellen Fall stand schon die Bauweise für sich, die vorgab, dass es sich um ein individuell gewachsenes Dorf mit ganz unterschiedlichen Häusern handele, die in kleinen Gärten lägen. Die Illustrirte Zeitung thematisierte diese dörflich anmutende Bebauung, indem sie eine Gesamtansicht von oben auf die kopfsteingepflasterten Straßen und freistehenden Fachwerkhäuser der Siedlung abdruckte. Durch diese Art der Abbildung ließ sich die Zeitschrift auf die Inszenierung, die der baulichen Gestaltung des Altenhofs immanent war, ganz und gar ein (vgl. Abbildung 52). Der Blick wurde aus

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

368

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

der erhöhten Position, die die Zeichnung vorgab, eine Dorfstraße entlang gelenkt, an der sich zweistöckige, verwinkelt und individuell ausgestaltet wirkende Fachwerkhäuser aufreihen. Jedes ist akkurat von einem Zaun umgeben und hat einen ordentlich angelegten Garten. Im Hintergrund ragt der Turm einer ‚Dorfkirche‘ auf. Auf den zweiten Blick allerdings, und hier kann nur spekuliert werden, ob dies den zeitgenössischen Betrachterinnen und Betrachtern negativ ins Auge stach oder sie es vielmehr als ihrer Seh­ erfahrung entsprechend und daher angenehm hinnahmen, wirkt vieles an der Siedlung zu künstlich, um natürlich gewachsen zu sein. Hier lassen sich die gute Qualität der Straße mit gepflasterten Rinnsteinen sowie ihr gerader Verlauf ebenso nennen wie die Gleichartigkeit der Zäune oder der einwandfreie Zustand aller Häuser. In seinem synthetischen Charakter erinnert der Altenhof in der Abbildung der Illustrirte[n] Zeitung aber frappierend an Bauernhäuser oder ganze Dörfer auf Welt­ausstellungen, die in ihrer Künstlichkeit doch den Anspruch erhoben, die Realität des ländlichen Lebens einer Nation oder Region abzubilden.249 Der zugehörige Artikel charakterisierte die Siedlung als „förmliches Dorf“, „entrückt dem rastlosen Treiben, dem Lärm und Kohlendunst der Fabrikstadt.“250 Der Autor evozierte beim Publikum das Bild eines malerischen Ausflugs­ziels, gelegen inmitten von bewaldeten Hügelketten, die weißen Wände mit „Spaliergewächsen“ geschmückt, das Fachwerk farblich gestaltet, durch dessen „anheimelnde[n] Eindruck“251 die Betrachtenden in eine idealisierte Gegenwelt zur Industriestadt versetzt wurden. Die Information, dass es sich um eine bewusste Konstruktion von Idylle mit nur scheinbar natürlicher Unregelmäßigkeit der Bebauung handelte, die durch eine immer neue Kombination von etwa einem Dutzend verschiedener Häusertypen erreicht wurde, hielt der Autor jedoch nicht zurück.252 Wichtig erschien allein der Effekt auf die Besucherinnen und Besucher, die glaubten, „eine weit größere Mannigfaltigkeit zu erblicken.“253 Der Artikel suggerierte einen touristischen Blick, der die Realität zugunsten des gewünschten Erlebnisses ausblendete. Die Kolonie Altenhof hatte damit lediglich die Qualität eines bewohnten Freilichtmuseums ähnlich den künstlich angelegten ‚Dörfern‘ auf den Weltausstellungen,254 in dem die Besuchsgruppen die ehemaligen Arbeiter und deren Frauen hinter ihren Gartenzäunen fast wie die Tiere im Zoo hinter ihren Gitterstäben bei einem geruhsamen und beschaulichen Leben beobachten konnten, zu dem sie scheinbar nach dem Arbeitsleben in der Industrie zurückkehren durften. In dem Gedanken, dass es eine strikte Trennung gäbe zwischen Arbeitsplatz und Heim, 249 Vgl. Kapitel 4.1.4. 250 Die Colonie Altenhof, in: Illustrierte Zeitung, Bd. 118, Nr. 3076, 12.06.1902, S. 919. 251 Ebd. 252 Vgl. ebd. 253 Ebd. 254 Vgl. Kapitel 4.1.4.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

369

Arbeit und Feierabend, Arbeitsleben und Lebensabend, spiegelt sich wiederum die bürgerliche Weltsicht der zwei Sphären des öffentlichen (männlichen) und des privaten (weiblichen) Bereichs, den die bürgerlichen Besucherinnen und Besucher in ihrer Interpretation des Erlebnisses auf die Lebenswelt der Arbeiterschaft übertrugen. Doch nicht nur den schon durch seine Bauweise ein ländliches Idyll imitierenden Altenhof interpretierten die bürgerlichen Gäste als rustikal geprägte Gegenwelt zur Industriestadt. Auch die regulären Werkssiedlungen verklärten die Reportagen über die Wohlfahrtseinrichtungen von Industrieunternehmen in dem Maße, dass sie wie ein der Gegenwart entrücktes Dorf wirkten. Der Zeichner einer Reportage der Zeitschrift Illustrirte Welt aus dem Jahr 1893 hatte den Moment so inszeniert, dass neben den baulichen Einrichtungen vermeintlich typisches Leben eingefangen wurde (vgl. Abbildung 53). Auf drei Bildern, die kollageartig ineinander ragen und um die sich der Text der Reportage herum gruppiert, enthüllte der Künstler nicht nur die Siedlung mit ihrer typischen Bebauung, sondern gleichermaßen die Alltagsszenen, die sich auf den Straßen der Siedlung ereignen konnten: Das obere Bild der Kollage zeigt fünf nahezu identische Häuser in einer Reihe, bei denen es sich laut Bildunterzeile um „Wohnhäuser für eine und zwei Familien“ handelt. Sie sind durch Vorgärten und Gartenzäune von der Straße getrennt, wobei diese eher wie ein kaum befahrener Weg anmutet, ein Eindruck, der dadurch unterstützt wird, dass auf der anderen Straßenseite die Bebauung fehlt und stattdessen eine Wiese oder ein Feld zu liegen scheint. Die Vorgärten sind reich bepflanzt, zum Teil finden sich in ihnen große Bäume, die den Charakter des Bildes prägen. Das geht sogar so weit, dass der Zeichner einige Äste malerisch in den Vordergrund des Bildes ragen lässt und so klar eine romantische Stimmung erzeugt. Die insgesamt elf Personen, die der Zeichner auf dem Weg abbildete, tragen spezielle, für die bäuerliche Welt typische Kleidungsstücke wie beispielsweise Kopftücher und führen der vorindustriellen Welt zugehörige Gerätschaften wie Holzkarren mit sich. Sie alle strahlen Ruhe und Gelassenheit aus, die die zeitgenössischen Betrachtenden wahrscheinlich eher mit der vermeintlichen Beschaulichkeit des Landlebens, nicht aber mit der Hektik des Indus­triezeitalters verbanden. Nachbarn unterhalten sich, Kinder spielen, Frauen beugen sich über Karren mit Waren, um diese in Ruhe zu betrachten. Die beiden unteren Teile der Kollage vermitteln denselben Eindruck ländlicher Geruhsamkeit. Sie bilden einmal das „Wohnhaus für Werksmeister“, das trotz seiner recht beeindruckenden Größe ebenfalls an einem ungepflasterten Weg liegt und von einem Lattenzaun umgeben ist, und ein „Wohnhaus für vier Familien“ inmitten eines malerischen Gartens ab. Auf dem Weg vor dem Haus für Werksmeister spazieren eine Frau mit einem Korb in der Hand und ein Junge gemächlich daher, vor ihnen runden Enten und Hühner, die frei herumlaufen, das Idyll ab. Es ist davon auszugehen, dass der Künstler in den drei Bildern der Kollage bewusst den Vorteil der Zeichnung gegenüber der Fotografie nutzte, für die diese Anordnung

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

370

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 53: „Wohnhäuser für eine und zwei Familien“, „Wohnhaus für Werksmeister“, „Wohnhaus für vier Familien“ (1893): Vermeintlich ländliche Idylle in der Industriestadt

mühevoll hätte hergerichtet werden müssen, um sie abzulichten, wohingegen die Szenerie der Zeichnung nur in der Vorstellung des Erzeugers existent sein musste. Obwohl die Bildunterzeilen nüchtern die verschiedenen Bebauungsarten innerhalb der Kolonie thematisieren, sprechen die Zeichnungen eine andere Sprache. Hätte der Fokus allein auf der Bebauung liegen sollen, hätten die Häusertypen gänzlich ohne menschliches Beiwerk und die Symbole des ländlichen Lebens dekontextualisiert vor einem weißen Hintergrund skizziert werden können. Stattdessen wird eine Tendenz erkennbar, Arbeiterwohnungen folkloristisch zu verklären, die sich beispielsweise gleichfalls im „Parc étranger“ der Weltausstellung in Paris im Jahr 1867 zeigte. Dort sollten eigentlich beispielhafte Arbeiterhäuser ausgestellt werden, letztlich entwickelte sich die Ausstellung jedoch zu einer Präsentation idealisierter Bauernhäuser verschiedener Länder.255 255 Vgl. Martin Wörner: Vergnügung und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900,

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

371

Abb. 54: „Colonie Kronenberg und die protestantische Kirche“ (1890): Inszenierte Beschaulichkeit selbst in der mehrstöckigen Arbeiterwohnzeile

Selbst das Leben in solchen Siedlungen, die aus mehrstöckigen, langen Wohnzeilen bestanden, erschien – angereichert durch eine Fülle von pittoresken Details – als heiter und gelassen und wies damit die typischen Charaktereigenschaften eines idealisierten Dorfes auf. Ein von der Illustrirte[n] Zeitung im Jahr 1896 gewährter Blick in die Kruppsche Kolonie Kronenberg ließ auf der sauberen Hauptstraße der Siedlung und in den ordentlichen Vorgärten vermeintlich typische Alltagsszenen erkennen (vgl. Abbildung 54). Ein Großvater kümmert sich um sein Enkelkind im Kinderwagen, während die Mutter über die Gartenmauer ihre größeren Kinder zu Ruhe und Vorsicht ermahnt. Eine Gießkanne neben dem Kinderwagen lässt auf müßige Gartenarbeit schließen, der der Großvater ansonsten nachgeht. Die Kinder, die der Zeichner auf der Straße angeordnet hat, spielen typische ländliche Straßenspiele, sie tanzen im Reigen oder ziehen Spielzeugpferde hinter sich her. Viele andere Menschen aus der Siedlung schlendern auf der Zeichnung die Straße entlang, eine Frau am linken unteren Bildrand bewegt sich sogar scheinbar aus dem Bild heraus auf die Betrachtenden zu. Selbst das weitere Leben, beispielsweise der Markttag in der Kolonie Kronenberg, bot, so wie es von Münster/Tübingen 1999, S. 52.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

372

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Besucherinnen und Besuchern ebenso wie von Reportern wahrgenommen, erinnert und verbreitet wurde, Anklänge an bäuerliches Leben, indem etwa auf dem Markt folkloristisch gekleidete Frauen als Marktfrauen ihre selbst produzierte Ware feilboten oder als Kundinnen die Speisekammer mit gesunden, frischen Produkten auffüllten.256 In diesem Zusammenhang wurden natürlich keine Männer im erwerbsfähigen Alter abgebildet, da sie den Tag über der Welt der Arbeit in der Fabrik angehörten. Diese Betonung der Trennung zwischen Erwerbsleben und Feierabend beziehungsweise der Industrie und dem beschaulichen Leben jenseits des Werkes zieht sich durch viele der Berichte über das Leben in den Wohnsiedlungen der Arbeiterschaft. Sie konstruierten auf diese Weise eine Dichotomie von Arbeits- und Privatleben und von männlichen und weiblichen Aufgaben, die ganz der bürgerlichen Trennung der Sphären in eine öffentliche und eine private entsprach. Die bürgerlichen Touristinnen und Touristen fanden daher mit einem Besuch der ‚Werkskolonien‘ ihre Weltsicht, ihre Vorstellungen von sozialen ebenso wie von Geschlechterrollen bestätigt. Natürlich musste die touristische Sichtweise auf die Werkssiedlungen in realen Verhältnissen wurzeln. Tatsächlich hatten die Unternehmen viele ‚Kolonien‘, die bisher angesprochen wurden, in einem Stil errichtet, der den Bewohnerinnen und Bewohnern, die häufig ihre Wurzeln im nicht-städtischen Raum hatten, vordergründig ein Stück ländliches Leben in der Industriestadt bieten sollte. Tatsächlich, so lässt sich annehmen, verfolgten die Unternehmen das Ziel, ihre Arbeiterschaft durch eine scheinbar naturnahe Umgebung sozial zu erziehen. Die pädagogische Wirkung von Parks und Gärten war im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärker betont worden und hatte bei den Planungen zum New Yorker Central Park wie zu verschiedenen öffentlichen Parks in London eine Rolle gespielt. Aus den Arbeitersiedlungen, die als ‚Brutstätte‘ von Krankheiten, Laster, Kriminalität und Unruhen angesehen wurden, sollte die Arbeiterschaft in die Parks strömen, um durch den Naturgenuss ihre Persönlichkeit hin zu einem bürgerlichen Ideal auszubilden. Die Menschen der Unterschicht sollten dadurch zivilisiert und letztlich besser unter Kontrolle gehalten werden.257 Die Unternehmen griffen diese Überlegung teilweise auf, indem sie die Arbeitersiedlungen selbst parkähnlich gestalteten. Insofern fußte die Wahrnehmung eines dörflichen Charakters auf der Inszenierung 256 Vgl. Abbildung Auf dem Markt in Schederhof, in: Friedrich C.G. Müller: Krupp’s Gussstahlfabrik, Düsseldorf 1896, S. 148. 257 Vgl. Lothar Reinermann: Königliche Schöpfung, bürgerliche Nutzung und das Erholungsbedürfnis der städtischen Unterschichten. Londoner Parks im 19. Jahrhundert, in: Angela Schwarz (Hrsg.): Der Park in der Metropole. Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 19–105, hier S. 76–87; Angela Schwarz: Ein „Volkspark“ für die Demokratie: New York und die Ideen Frederick Law Olmsteds, in: dies., Der Park in der Metropole, S. 107–160, hier S. 124–128, 134–145.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

373

von Dörflichkeit der Unternehmen zur Erziehung der Arbeiterschaft. Entscheidend war jedoch, dass das Besichtigte und die Besichtigten mit einem touristischen Blick bemessen wurden, was bedeutete, dass nicht die realen Verhältnisse im Vordergrund standen, sondern das innere Erlebnis des Betrachtenden. Der touristische Blick wies den Menschen in den Werkssiedlungen ebenfalls eine Rolle zu, und zwar ganz so, wie es die Betrachterinnen und Betrachter beispielsweise aus dem Alpentourismus kannten: eine romantische Verklärung der Landschaft, die Vernachlässigung der Lebensumstände der Menschen, die auch in den Werkskolonien nur Statisten zu sein hatten: So fungierten die ‚Kolonien‘ als die etwas anderen Alpen. Die andere schwerpunktmäßig vorherrschende Sicht auf die Lebenswelt der Arbeiterschaft kam von den gesellschaftlichen Reformern, wobei hier ebenfalls eine Art touristische Konstruktion vorlag. Arbeiterinnen und Arbeiter wurden als Ziel von Sozialmaßnahmen betrachtet, über die sich die bürgerlichen Betrachtenden informierten, um so ihr Wissen zu erweitern. Es ging also nicht darum, im Sinne der reformerischen Sozialforschung persönliche Kontakte zu den Arbeiterinnen und Arbeitern aufzubauen und in ihre Lebenswelt einzutauchen, um so Wissen für die reformerische Praxis zu erwerben.258 Vielmehr sollte das eigene Gesellschaftsideal, wie utopisch es Ende des 19. Jahrhunderts auch geworden sein mochte, zur eigenen Identitätsversicherung ebenfalls an der Arbeiterschaft umgesetzt erscheinen. Gleichzeitig sollten die doch zu Gleichen zu Erziehenden auf Distanz bleiben, was dadurch möglich blieb, dass sie als unfertige Objekte der Sozialarbeit betracht wurden. Diese Sichtweise schlug sich in vielfältigen Medien nieder, darunter in unternehmensnahen Veröffentlichungen. Ihr Ziel, sich als dem Wohl ihrer Arbeiterschaft verpflichtet darzustellen, kreuzte sich mit dem Interesse der Gäste an der gesellschaftlichen Reformleistung des Unternehmens. Aus Besuchersicht stand jedoch nicht das Lob der Firma im Vordergrund, sondern die Arbeiterin beziehungsweise der Arbeiter als soziales Projekt. Die Förderung des körperlichen Wohlergehens, die die Unternehmen ihren Beschäftigten angedeihen ließen, stellte sich gleichzeitig als Möglichkeit dar, ihre Moral zu heben und die öffentliche Ordnung zu fördern. Geordnete Wohnungsverhältnisse, wie die Firma Krupp sie bot, sorgten für ein geordneteres Familienleben, wie der Autor Friedrich Müller der Leserschaft in seiner ausführlichen Vorstellung des Unternehmens versicherte.259 „In dem Sinn für Häuslichkeit und Familie aber wurzelt auch die Liebe zur Arbeit und Ordnung, und diese bildet die Grundlage für das Einzelwohl und Gemeinwohl.“260 Solche Wertungen, die Müller stellvertretend für die gesamte Schicht vornahm, orientierten 258 Vgl. Kapitel 2.2.2., Anm. 124–126. 259 Vgl. Müller, Krupp’s Gussstahlfabrik, S. 147. 260 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

374

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

sich unverkennbar an bürgerlichen Werten von Ordnung, Fleiß und Sauberkeit, aus deren Einhaltung, die den Arbeitern und Arbeiterinnen oktroyiert wurde, sozialer Frieden und öffentliche Ordnung erwachsen sollten.261 Ebenso stand es um die Bewertung der Gesundheitsfürsorge, die die Unternehmen den Beschäftigten zuteilwerden ließen. Einrichtungen für die Körperpflege wie beispielsweise Duschanlagen sollten ebenso wie gemeinsames Turnen nicht nur den Arbeiterkörper reinigen und kräftigen und so vor gesundheitlichem Schaden bewahren, wie es die Illustrirte Zeitung in ihrer Sondernummer zu verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen aus dem Jahr 1913 ausführte. Vielmehr lässt sich daneben der Wunsch des Reporters herauslesen, die Arbeiterinnen und Arbeiter in sozialer und hygienischer Sicht zu Menschen zu erziehen, wie sie der Fabrik und darüber hinaus der Gesellschaft nützlich sein konnten.262 Wie unmündige Kinder führten die Einrichtungen der Firmenwohlfahrt vor allen Dingen die ledigen Arbeiter an dieses Ideal heran. Sie überwachten, davon berichten die Fabrikreportagen, die Junggesellen in ihren Wohnungen.263 Die Fabrik regelte sogar die Ernährung der ledigen Männer penibel: „Es giebt [sic!] zu Mittag täglich Fleisch und zwar erhält Jeder davon etwa 200 g zugetheilt; sonst darf er von den in größeren Behältern aufgetragenen Speisen so viel essen als ihm beliebt. Die Abendkarte bietet 5 mal Reis-, Graupen- oder Kartoffelsuppen, Montags sogar mit 100 g Blutwurst auf jeden Mann. Am Sonnabend winken dem Menagebewohner Pellkartoffeln mit einem Häring [sic!], und der Mittwoch bildet mit Salzkartoffeln, Sauce und Leberwurst den culinarischen Schwerpunkt der Woche.“264 Diese genaue Aufschlüsselung, was einem Arbeiter an Nahrungsmitteln zugestanden wurde, gab nicht nur Aufschluss über die Ernährung, sondern zudem über die soziale Kontrolle, die über ihn ausgeübt wurde. Dieses Essen war in den Augen der Touristin oder des Touristen daher mehr als die die Gesundheit fördernde Kalorienzufuhr, sondern die Demonstration von gelungener Disziplinierung. Eine derartige Behandlung der Arbeiter lässt durchaus Parallelen mit den Erziehungsmaßnahmen in den damals neu entworfenen Strafanstalten erkennen, die ebenfalls zum touristischen Ziel taugten.265 Wiederum wurden hier die allgemeinen ordnungspolitischen Vorstellungen des Bürgertums bekräftigt. 261 Vgl. ebd., S. 150. 262 Vgl. Wohlfahrtseinrichtungen d. Papierfabrik I.M. Zanders. Bergisch Gladbach, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 140, Nr. 3649, 05.06.1913, S. 39 (gesonderte Paginierung). 263 Vgl. Müller, Krupp’s Gussstahlfabrik, S. 150. 264 Ebd., S. 152. 265 Vgl. Kapitel 4.1.4.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

375

Abb. 55: „Arbeitertöchter in dem Unterricht für weibliche Handarbeiten“ (1901): Vermittlung bürgerlicher Tugenden an die zukünftige Arbeiterfrau

Das Erlebnis, das eine Besichtigung der Wohlfahrtseinrichtungen oder die Lektüre von Berichten über den Besuch vorrangig vermittelte, bestand im Miterleben der Disziplinierung der gesellschaftlich unmündigen Arbeiterschaft. Doch diese Disziplinierung, die die Besucherinnen und Besucher der Wohlfahrtseinrichtungen erleben konnten, erstreckte sich nicht nur auf den Körper. Ebenso sollte der Geist gefördert und damit für das bürgerliche Denk- und Wertesystem aufgeschlossen werden. Die Maßstäbe für einen idealen Arbeiter, der der bürgerlichen Gesellschaft entgegenstrebte, umfassten eine praktische Ausbildung, die die Umsetzung bürgerlicher Tugenden unterstützte, ebenso wie eine gewisse humanistische Bildung oder zumindest Anklänge daran. Vorwiegend die Ausbildung der Frauen der Fabrikarbeiter erregte das Interesse der bürgerlichen Beobachtenden – ob nur der Bürgerin oder gleichfalls des Bürgers, muss an dieser Stelle offenbleiben. Die Stumm-Werke in Neunkirchen an der Saar beispielsweise, so demonstrierte die Illustrirte Zeitung auf einer Abbildung in der Sondernummer über das Unternehmen, boten den Töchtern der Belegschaft Handarbeitsunterricht. Unter Aufsicht und Anleitung einer Lehrerin in sauberer weißer Schürze und mit korrekt hochgesteckten Haaren beugen sich die sechs auf der Zeichnung abgebildeten Mädchen eifrig über ihre Stickereien und Näharbeiten. Der weiße Stoff, an dem sie ihre Fähigkeiten üben, bleibt vom Schmutz rein (vgl. Abbildung 55). Die Zeitschrift bildete hier

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

376

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

nicht nur die Tatsache ab, dass die Unternehmen sich ihrer Arbeiterschaft annahmen, sondern zeigte gleichzeitig ein Idealbild, wie die zukünftige Arbeiterfrau sein sollte – sauber, ordentlich, in sich selbst ruhend, auf ihre Aufgaben konzentriert. Ähnliche Charaktereigenschaften wurden vom Grundsatz her ebenfalls bürgerlichen Töchtern anerzogen. Die Übertragung ging sogar so weit, dass in der Zeichnung eigentlich nicht mehr zu erkennen war, dass es sich um Arbeiter- und nicht um Bürgertöchter handelte. Lediglich die Bildunterzeile gab darüber Aufschluss. Die Betrachtenden konnten also bei der Erziehung von Arbeiterkindern bürgerliche Prinzipien ausmachen und sahen damit – und das war das Entscheidende – das Bekannte im Unbekannten. Außerdem erkannte die Leserschaft bei einer derartigen Darstellung der Erziehung der Mädchen ohne weiteres das Konzept der getrennten Sphären des Bürgertums, das der Frau die Verantwortung über – aber genauso die Begrenzung auf – den privaten Bereich übertrug. Die Berichte konzentrierten sich insofern eher auf die Bezugnahme auf vertraute bürgerliche Gesellschaftsnormen, als auf die Abbildung der Realität in einem Arbeiterhaushalt, in dem eine solche Trennung aufgrund der wirtschaftlichen Lage, die Frauen zur Mitarbeit am Einkommen der Familie und damit zur Teilnahme am Erwerbsleben zwang, kaum möglich war. Hinter der Förderung konkreter Fertigkeiten wie Nähen, Kochen und der Reinhaltung von Haushalt und Kleidern, die die Mädchen in den fabrikeigenen Haushaltsschulen erlernen konnten,266 fiel der Blick der Touristinnen und Touristen in der Hauptsache auf die Ausbildung allgemeiner Fähigkeiten, die der „Frauenberuf“ erforderte. Die Mädchen sollten zu Frauen werden, die „sittlich [ge] festig[t] und mit Sparsinn und Arbeitslust“267 erfüllt waren. Die Frau sollte die Stütze der Familie als Kernstück der Gesellschaft sein, eine Rolle, auf die sie vorbereitet werden musste, wollte man die Arbeiterschaft an die bürgerliche Gesellschaft heranführen, wie Friedrich Müller in seinem Buch über die Firma Krupp 1896 feststellte: „Und doch weiß Jeder, der die Verhältnisse mit freiem Blick aus der Nähe ansieht, daß ein gutes Stück des Elends und der Verwilderung der unteren Volksschichten sich daher schreibt, daß die Frau ihrer Stellung nicht gewachsen ist.“268 Diese Aussage skizziert nicht nur das Ziel der Bemühungen, sondern zeichnet indirekt ein sehr düsteres Bild der aktuellen Zustände, von denen die bürgerliche Betrachterin und der Betrachter ihre eigenen Lebensverhältnisse nachdrücklich abgrenzen konnten. Dass es sich bei diesem Bild des unzivilisierten Arbeiters um einen Topos handelte, von dem sich das reformorientiertere Bürgertum selbst teilweise schon abgewendet hatte, wie zeitgenössische kritische Zeitschriften wie der Simplicissimus darlegen, hinderte weder die paternalistisch gesinnten 266 Vgl. Meyer-Elbing, Portland-Cement-Fabrik Dyckerhoff & Söhne, S. 52. 267 Müller, Krupp’s Gussstahlfabrik, S. 164. 268 Ebd.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Das Werksleben jenseits der Arbeit

377

Unternehmen, solch ein Bild weiterzuverbreiten, noch einen Großteil der Fabriktouristinnen und -touristen daran, es unhinterfragt zu konsumieren. Außerdem erregte die Erziehung des männlichen Arbeiters zu „Gesittung und Bildung“269 die Neugier. Zu den „Einrichtungen für das geistige Wohl“270 zählten unter anderem Gesangsvereine der Belegschaft.271 Beim Vereinswesen allgemein und speziell bei solchen Zusammenschlüssen wie Gesangs- oder Turnvereinen handelte es sich um typisch bürgerliche Einrichtungen,272 in denen spätestens ab der Zeit des Vormärz mit seinem Verbot bürgerlicher Parteien bürgerliche Weltvorstellungen ihren Ausdruck fanden.273 Die Vereine verfolgten das Ziel, die allgemeinen, öffentlichen und gesellschaftlichen Zustände im Sinne liberaler und nationaler Ideale zu verbessern. Es waren speziell die Männergesangsvereine, die im Sinne eines volkstümlichen Liberalismus bewusst alle Kreise des Volkes mit einbeziehen wollten.274 Es ist zu vermuten, dass mit der Förderung derartiger Vereine im Kreis der Fabrikarbeiter die Unternehmen diesen Erziehungsauftrag und -anspruch der bürgerlichen Vereinsbewegung der Vormärzzeit aufgriffen, um die Arbeiterschaft zu ‚kolonisieren‘, sie mit bürgerlichen Verhaltensnormen vertraut zu machen. Indem die Berichte die Qualität des Gesangs dieser Chöre rühmten,275 verwiesen sie auf eine Möglichkeit für den Arbeiter, sich über seinen Arbeitsalltag zu erheben und in seiner Freizeit nach höherer Geistesbildung zu streben, die ihn in die Nähe des Ideals der bürgerlichen Gesellschaft rückte. Tatsache ist jedoch, dass die eher paternalistischen Erziehungsziele des Firmeninhabers oder der Unternehmensleitung nicht gleichgesetzt werden können mit den liberalen Entwicklungsidealen des Vormärz. Der Besuch des Gottesdienstes bot eine weitere Möglichkeit für den Arbeiter, das Leben jenseits der Arbeit mit einem höheren Sinn zu versehen, was ebenfalls von den Unternehmen unterstützt wurde. Sofern ein Unternehmen keine Kapelle baute, stellte es andere Räume wie die Werkskantine für den Gottesdienst zur Verfügung.276 Außerdem richteten die 269 Wohlfahrtseinrichtungen d. Papierfabrik I.M. Zanders, S. 39. 270 Ebd. 271 Vgl. ebd. 272 Vgl. Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahr­ hundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: ders. (Hrsg.): Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18), Göttingen 1976, S. 174–205, hier S. 183; Annegret Heemann: Männergesangsvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur städtischen Musikgeschichte Münsters, Frankfurt am Main 1992, S. 19, 27. 273 Vgl. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland, S. 200; Heemann, Männergesangsvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert, S. 13. 274 Vgl. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland, S. 178. 275 Vgl. Wohlfahrtseinrichtungen d. Papierfabrik I.M. Zanders, S. 39. 276 Vgl. Meyer-Elbing, Portland-Cement-Fabrik Dyckerhoff & Söhne GmbH in Amöneburg bei Bieberich a. Rh., S. 51 (gesonderte Paginierung).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

378

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Unternehmen Bibliotheken ein, damit die Belegschaft „nach des Tages Last und Hitze oder für die Stille des Sonntags gesunde unterhaltende und belehrende Lektüre“277 finden und sich so zu Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft weiterbilden konnte. Zwischen diesen so idealisierten Arbeiterinnen und Arbeitern und dem Status quo der Lebenswelt der Belegschaft musste trotz der tatsächlichen Bemühungen der Firmen um geistige und moralische Weiterbildung letztlich eine derart große Diskrepanz bestehen, dass die bürgerlichen Beobachtenden die Maßnahmen lobend betrachten, die Arbeiterinnen und Arbeiter aber immer noch als die Anderen begreifen konnten, von denen sie sich selbst als Teil der idealen Gesellschaft unterschieden. Ebenso wie bei der Sichtweise, die das Individuum aus der Arbeiterschaft als typenhafte folkloristische Attraktion wahrnahm, inszenierten die Touristin und der Tourist die Arbeiterin und den Arbeiter in ihrer Lebenswelt selbst jenseits der Arbeit als touristische Objekte, die vorrangig den Zweck erfüllten, ein Schau-Erlebnis zu bieten. Mit diesem Erlebnis bewegten sie sich in einem Wissensraum, der sich über den geografischen Raum der Wohlfahrtseinrichtungen legte und diesen nahezu ausblendete.

6.3. Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

Das Erlebnis in der Fabrik beruhte, so belegen die bisherigen Ausführungen, auf dem Zauber, den die Mischung aus maschineller und menschlicher Arbeit ausübte. Die Tatsache, dass dieser Zauber ein konstruierter war, dass die Vorgänge und die daran Beteiligten erst durch einen Akt der Ästhetisierung einen Sinn ergaben, reflektierten die Besucherinnen und Besucher nicht kritisch. Vielmehr nahmen sie diesen Umstand als inhärentes Merkmal des touristischen Erlebnisses als selbstverständlich hin. Die Bilder, die die verschiedenen Medien aus der Fabrik lieferten, waren dazu angetan, die Werkstätten als Ausflugsziele zu betrachten. Manche von ihnen gingen jedoch sogar noch ein Stück weiter und regten die Betrachterinnen und Betrachter dazu an, sich selbst in der Rolle des Besuchers zu erkennen. Sie thematisierten nicht nur ganz bewusst einen panoramatischen Blick, der dem ‚Touristen‘ ureigen war, als die beste Möglichkeit, die Fabrik zu besichtigen, sondern rückten bisweilen sogar den Betrachter selbst ins Bild. Dass die Gäste Betrachtende waren, die über dem Geschehen standen, war ein wiederkehrendes Motiv, das den Begleitmaterialien zur Führung ebenso wie den Berichten über Fabrikbesichtigungen zugrunde lag. Nicht nur die Hinweise in den Texten, welche Position im Raum eingenommen werden sollte und was von dort aus wie zu beschauen 277 Mercator: Wohlfahrtseinrichtungen von Otto Müller & Co., Mechanische Weberei, Berlin, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 140, Nr. 3649, 05.06.1913, S. 36f., hier, S. 37 (gesonderte Paginierung).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

379

sei, gaben einen bestimmten Blick vor, sondern in erster Linie übernahm diese Aufgabe die Perspektive, die die Positionierung der Kamera beziehungsweise des Zeichners für die Bilder vorgab. Ein Weiteres war die Darstellung des Verhältnisses zwischen den betrachtenden und den betrachteten Menschen, die den Angehörigen beider Seiten jeweils bestimmte Rollen zuwiesen. Wie schon an verschiedenen Stellen angesprochen, stellte die erhöhte Position ein wiederkehrendes Motiv der Berichte und Fabrikführer dar.278 Damit lehnte sich die Besichtigung der Fabrik an die Blickpraktiken an, die auch von den Besucherinnen und Besuchern der Warenhäuser und Gewerbeausstellungen mit ihren Aufzügen und Emporen vollzogen wurden.279 Die Wege, die die Besuchsgruppen in der Fabrik beschreiten sollten, führten wenn möglich über erhöhte Galerien oder auf erhöhte Standpunkte. Dieses war zwar vermutlich in erster Linie rein pragmatisch dem Umstand geschuldet, dass die Fa­brik ihre Produktionsvorgänge nicht stören lassen und gleichzeitig die Besucherin und den Besucher vor deren Gefahren schützen wollte. Die Berichte und Führer legten diese Wegführung jedoch als Maßnahme aus, einen möglichst guten Ausblick zu gewährleisten. Ganz wie der Baedeker den Touristinnen und Touristen den besten Platz für die Betrachtung eines bestimmten Ausblicks nahelegte, gaben die Beschreibungen von Rundgängen durch die Fabrik in den Reportagen illustrierter Zeitschriften den (potenziellen) Besucherinnen und Besuchern einen Weg vor, von dem sie den bestmöglichen Ausblick auf die Szenerie hatten, die für sie damit erst aus dem unverständlichen Chaos des Fabrikalltags entworfen wurde: „Von der inmitten des Raumes gelegenen erhöhten Tribüne sieht man alsdann die rothglühenden Tiegel, deren Schein die Gesichter der Träger röthet, wie Scharen von Glühwürmchen in scheinbarer Verwirrung hin- und hereilen, dazwischen die weißleuchtenden Quellen der sich entleerenden Tiegel […]. Die Verwirrung, welche die große Zahl von Arbeitern mit ihren glühenden Tiegeln auf den ersten Blick zu haben scheint, lässt sich bei ruhiger Betrachtung sehr bald als eine nur scheinbare erkennen. In der That sind alle Rollen vorher genau vertheilt und gut eingeübt, und präcise Commandos und Signale regeln den Fortgang der Operationen.“280 278 Die Bedeutung der erhöhten Position für die Wahrnehmung des Technisch-Erhabenen thematisiert auch Nye kurz, vgl. Nye, American Technological Sublime, S. 126. Die Verbindung von besseren Einsichten in die Technik und malerischen Eindrücken lässt sich ebenfalls im Reisebericht durch das Ruhrtal von Pieler erkennen, vgl. Franz Ignaz Pieler: Das Ruhrthal. Reise auf der RuhrthalEisenbahn mit Ausflügen in die Umgegend, Werl 1983 [unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1881], S. 324. 279 Vgl. Kapitel 4.1.3. 280 Die Gußstahlfabrik von Fried. Krupp in Essen, S. 498.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

380

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Diese Beschreibung einer Besichtigung der Krupp-Werke aus der Illustrirte[n] Zeitung gab der Leserschaft den Ort vor, von dem aus sie ihre Betrachtung vornehmen sollte, sie erläuterte ihr, welcher sinnliche Eindruck sie dort erwartete und dekodierte das zu Sehende in seiner Bedeutung. Das Verständnis der Vorgänge, so stellt die Schilderung dar, war allein durch die erhöhte Position möglich, durch die die Schauenden nicht nur einen Überblick im konkret räumlichen Sinne erhielten, sondern durch ihre he­ rausgehobene Stellung, die die erhöhte Position symbolisierte, auch einen Erkenntnisgewinn bezüglich der Produktionszusammenhänge verzeichneten. Die Beschreibung der Fabrikreportage setzte diese Position mit größerer Erkenntnisfähigkeit gleich. Dass diese Annahme in der Realität der Fabrikbesichtigung wahrscheinlich ein Trugschluss war, dass selbst von einem erhöhten Standpunkt die Produktionsvorgänge nicht automatisch durchschaut werden konnten, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Vielmehr war von Bedeutung, dass die Reportage die Verortung im geografischen Raum der Fabrik mit einer Erkenntnis verknüpfte, die auf dem mentalen Raum ‚Fa­ brik‘ beruhte, den Betriebsfremde bei ihrer Besichtigung konstruierten. Die Zeitschrift gab der Leserschaft vor, dass eine erhöhte Position Erkenntnis schuf, und die Leserinnen und Leser als potenzielle Fabrikbesucherinnen und Fabrikbesucher nahmen diesen Zusammenhang vermutlich als gegeben hin und setzten ihn demgemäß wahrscheinlich bei einem eigenen Fabrikbesuch voraus. Von oben auf die Abläufe in der Fabrik zu schauen, war gleichgesetzt mit dem Bewusstsein, die Abläufe zu überblicken und gleichzeitig zu durchschauen. Dieser vermeintliche Erkenntnisgewinn schuf dann das zentrale Bildungserlebnis. Ähnlich verfuhren die gedruckten Werksführer verschiedener Unternehmen. Sie lieferten Anweisungen, welcher Weg für den besten Blick auf die Produktion zu wählen sei und erläuterten die zu betrachtenden Vorgänge.281 Den Nutzen der neuen, großen und übersichtlichen Werkshallen der AEG-Fabriken mit ihren umlaufenden Galerien interpretierten die Fabrikführer des Unternehmens explizit nicht nur in Bezug auf bessere Produktionsabläufe oder Arbeitsbedingungen, sondern ebenso in ihrem Wert für die Besucherinnen und Besucher: „Die Uebersicht ist gesteigert, jeder Arbeiter hat einen viel grösseren Atmungsraum, die vielen nutzlosen Ecken und Winkel sind vermieden, und der Fabrikherr hat dann am Ende noch Gelegenheit, seinen Gästen einen solchen Blick über die stolzen Reihen seiner Maschinen bieten zu können, wie es hier der Fall ist.“282 Der Text schildert die typische Inszenierung einer Fabrikbesichtigung: Der „Fabrikherr“ wollte bei seiner Führung durch die Werkshallen sein Unternehmen 281 Vgl. AEG, Maschinenfabrik; dies., Turbinenfabrik; dies., Fabriken Brunnenstrasse, Hygienemuseum. 282 Dies., Turbinenfabrik, S. 24; vgl. auch dies., Fabriken Brunnenstrasse, Hygienemuseum, S. 6.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

381

als Stätte rationalisierter qualitätvoller Arbeit präsentieren. Die Effizienz betraf alle Aspekte des Produktionsprozesses, es gab keinen verschwendeten Arbeitsraum durch eine schlechte Raumaufteilung, keine verschwendete Arbeitskraft durch gesundheitlich angeschlagene Arbeiter, keine nicht voll betriebsfähige Maschine. Zu dieser Inszenierung auf Seiten des Unternehmens, um seine Werkstatt als Symbol für die ganze Firma im bestmöglichen Licht erscheinen zu lassen, kam die Inszenierung der Gäste und im weiteren Sinne der Leserschaft des Fabrikführers als Konsumenten dieses Ausblicks. Sie bekamen die Eindrücke vorgelegt, ohne sich tatsächlich zu den Arbeitern und Maschinen begeben zu müssen. Sie schauten, statt mitzuerleben und nachzuvollziehen, doch galt ihnen diese distanzierte Betrachtung, so lässt das bisher Gesagte annehmen, als die höchste Form des touristischen Erlebnisses. Durch die sprachliche Blicklenkung und Inszenierung von Ausblicken gewann der Besuch der Fabrik erst seine Qualität als Bildungserlebnis, wobei es nicht nur um die Erklärung der technischen Vorgänge und damit um die Vermittlung von Fachwissen ging, sondern um die Konstruktion der Gäste als an umfassender Bildung interessierte Personen, die eine Position über dem Geschehen einnahmen und von dort das vermeintlich für sie entworfene (Bildungs-) Erlebnis konsumierten. Die derart geschaffene Szenerie lässt nicht nur einen Vergleich mit den Landschaftsbildern des Baedekers zu, sondern bietet, wie schon häufiger angerissen, ebenso Analogien zu den inszenierten Bildern von Waren, Tieren und Menschen im Kaufhaus, im Zoo oder auf Weltausstellungen, die ebenfalls ohne die verschiedenen Inszenierungstechniken nicht in ihrer Funktion und Bedeutung für die Betrachterinnen und Betrachter zu erkennen waren. Eine große Zahl von Bildern aus den Werkshallen ganz verschiedener Firmen in Fabrikführern, Zeitschriftenreportagen oder auf Postkarten gaben diese Sicht von einem erhöhten Standpunkt auf die dadurch übersichtlich erscheinende Fabrikhalle wieder (vgl. Abbildungen 56 und 57).283 So präsentierte ein gedruckter Führer der AEG durch die Turbinenfabrik vom Anfang des 20. Jahrhunderts den Blick in eine neue Werkshalle des Unternehmensstandortes. Die Leserschaft des Heftes sah eine kuppelartige Decke, die durch ihre großen Fensterflächen und filigranen Metallverstrebungen an sich schon einen ästhetischen Anblick bot. Die hohe Haupthalle war teilweise umgeben von Zwischenstockwerken, so dass ein galerieartiger Eindruck ähnlich dem eines Lichthofes entstand. Hinzu kam der starke Lichteinfall durch diese Art von Dachkonstruktion, der, unterstützt durch große Deckenlampen, die Vorgänge in der Halle auf der Foto283 Vgl. über die genannten Abbildungen hinaus z.B. Die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-Aktien-Gesellschaft zu Differdingen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 138, Nr. 3591, 25.04.1912, S. 25–28, hier S. 26 (gesonderte Paginierung); Abbildung Kesselschmiede, Innenansicht, in: Gutehoffnungshütte, Die Betriebe der Gutehoffnungshütte 1913, S. 44.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

382

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 56: „Innenansicht der neuen Halle“ der AEG: Touristischer Blick auf die Maschinen der Fabrik

grafie besonders gut zur Geltung brachte. In dieser Haupthalle sahen die Betrachtenden große glänzende Maschinen, deren Funktion sich aber nicht offenbarte. Dies war einerseits dem Typus der Maschine geschuldet, die Funktionsweise eines Dynamos war von außen schlicht nicht auszumachen, andererseits ist aber davon auszugehen, dass aus der Entfernung, aus der die Apparatur fotografiert worden waren, auch bei anderen Typen nur schwerlich eine detaillierte Erkenntnis möglich gewesen wäre. Die Anlagen wirkten stattdessen, und das wohl beabsichtigt, allein durch ihre Größe. Die Position der Kamera und damit die Stelle, von der aus der Blick in die Fabrikhalle präsentiert wurde, ist auf der Ebene des Zwischenstockwerks und damit auf halber Höhe der Haupthalle zu verorten. Außerdem wurde ein Standort genau in der Mitte zwischen den beiden Hallenwänden gewählt, so dass ein vollkommen symmetrischer Bildaufbau mit einem Fluchtpunkt in der Mitte der hinteren Hallenwand zustande kam. Dieses Bild aus dem Fabrikführer der AEG weist eine frappierende Analogie zu den Fotografien auf, mit denen Warenhäuser ihr Inneres der Öffentlichkeit vorstellten, ebenso bezüglich der Architektur wie des Aufbaus und damit der Position der Betrachtenden.284 Die Fabrikhalle als Ort der Maschine, an dem die Waren erst entstanden, korrespondierte durch den den beiden Stätten gemeinsamen panoramatischen Blick mit dem Warenhaus als Ort 284 Vgl. Abbildung 5, Kapitel 4.1.3.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

383

Abb. 57: Bildpostkarte „Krupp’s Gussstahlfabrik“: Touristischer Blick auf die Fertigung in der Fabrik

der Ware selbst. Dieser Blick erinnert an die althergebrachten Darstellungspraktiken von Kirchenschiffen, bei der die Position des Malers oder später des Fotografen häufig auf der Orgelempore zu verorten war, von wo er den Ausblick über den Mittelgang auf den Hochaltar einfing. Durch die analoge Darstellungsweise erhielten die Maschinen in der Fabrik ebenso wie die Waren im Kaufhaus eine sakrale Bedeutung, gleichzeitig wähnten sich die Betrachterin und der Betrachter bei einer ähnlich achtbaren Tätigkeit wie beim Blick durch einen Kircheninnenraum. Während auf der Fotografie aus der AEG-Werkshalle in Berlin kein Produktionsprozess und die daran beteiligten Menschen, sondern nur die Maschinen vom Fotografen eingefangen worden waren, zeigte eine Postkarte der Firma Krupp aus der Zeit der Jahrhundertwende einen Blick in eine Werkshalle der Gussstahlfabrik, in der eine lebhafte Fertigungsszene zu betrachten war (vgl. Abbildung 57).285 Auch hier lässt sich eine filigrane Deckenkonstruktion, die viel Licht einlässt, und ein emporenartiger Umlauf um die Halle erkennen, der dieser den Eindruck eines Lichthofs verleiht. Bei beiden Hallen 285 Fast dieselbe Fotografie mit einer nur minimal verschobenen Perspektive findet sich auch als Abbildung in der Zeitschrift Die Gartenlaube in einer Reportage über die Krupp-Werke. Vgl. Die Mittelhalle der IV. Mechanischen Werkstatt, in: Die Gartenlaube, Nr. 14, 1909, S. 297. Daraus lässt sich schließen, dass die Fotografie ursprünglich vom Unternehmen selbst angefertigt und verbreitet und dann schließlich in verschiedenen Kontexten und Medien genutzt wurde.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

384

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

bot sich die Blickposition auf halber Höhe schlicht aus architektonischen Gründen an. Bei dem Beispiel des Blicks in die Gussstahlfabrik gegenüber dem in die Werkshalle der Turbinenfabrik war lediglich die Perspektive etwas zur Seite verschoben, so dass die Symmetrie nicht voll zur Geltung kam, möglicherweise, um das am Boden des Raumes stehende übergroße Werkstück prägnanter abbilden zu können. Diese leicht verschobene Ausrichtung der Perspektive verweist auf einen Unterschied in dem, worauf der Blick fiel: Es wurden nicht nur die Maschinen, sondern der Produktionsprozess mit den dazugehörigen Arbeitern und den gerade entstehenden Werkstücken vorgeführt. Wiederum lassen sich hier Ähnlichkeiten mit anderen Blick- und Ausstellungspraktiken erkennen. Bisher wurde schon die Perspektive in die Kathedralen des Konsums und der Arbeit offengelegt, nun lässt sich beim Blick auf die Arbeiter aus der erhöhten Position der Betrachtenden die Verwandtschaft mit der Aussicht in ein Hagenbeck’sches Diorama feststellen:286 Bei dieser Inszenierung war der Aufbau der Örtlichkeit so gestaltet, dass die darin präsentierten exotischen Tiere und Menschen dem Publikum scheinbar ohne eine Abtrennung oder Barriere gegenübertraten. Die Trennung kam allein durch geschickt angeordnete Gräben und durch einen Höhenunterschied zwischen den Betrachtenden und den Betrachteten zustande. Die erhöhte Position des Publikums war dem Aufbau des Dioramas, zumindest, sofern sich in ihm lebende Wesen aufhielten, inhärent. Dass die Position auf eine Produktionsszenerie mit bewusst im Blickkontakt gefangenen Arbeitern ebenfalls erhöht dargestellt wurde, mag unter anderem an dem Rückbezug auf den Standort des Publikums in der so beliebten Ausstellungsform des Dioramas liegen. Die Position bot den Vorteil, dass man sowohl vor Ort als auch medial vermittelt zwar dem Geschehen so nahe wie möglich kam und sich selbst dadurch sogar vormachen konnte, dass man in die Situation eintauchte, aber gleichzeitig räumlich wie mental über dem Geschehen stand. Wie bei den Textbeschreibungen erschien durch die Perspektive auf den Abbildungen der Betrachter als unabhängiger, nicht involvierter Beobachter, der die Vorgänge umso besser abstrahieren und als pittoreske Szenerie wahrnehmen konnte. Hier finden sich überdies Anklänge an die Sehgewohnheiten, wie sie die Guckkastenbühne des bürgerlichen Theaters prägte. Durch die Rahmung der Postkarte beziehungsweise des abgedruckten Bildes in einer Zeitschrift oder einem Fabrikführer wird die Inszenierung ähnlich wie durch die Seitenwände einer Bühne unmissverständlich als solche umrissen. Der Raum erscheint geometrisch auf die Positon der Betrachterinnen und Betrachter ausgerichtet, denen dadurch ein fester Platz zugewiesen wird. Zwischen ihnen und den Ereignissen auf der Bühne – ob der Bühne des Theaters oder der industriellen Fertigung – besteht eine Barriere, die den Zuschauenden Sicherheit 286 Vgl. Kapitel 4.1.4.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

385

vor der bisweilen bedrohlichen Szene bei gleichzeitig idealer Aussicht beschert. Diese Aussicht präsentiert zwar einen realen Raum, doch wird dieser in einen fiktiven Raum umgedeutet.287 Die Bühne der industriellen Fertigung, die die Touristinnen und Touristen aus ihrer ‚Loge‘ betrachteten, zeigte damit mehr als technische Abläufe. Auf ihr spielte sich ein Stück ab, durch dessen Betrachtung sie sich selbst von den ‚Darstellern‘ abhoben. Wie sehr die Grenzen zwischen den verschiedenen Inszenierungen verschwammen, veranschaulicht zudem ein Artikel der Zeitschrift Das Buch für Alle, der davon berichtete, dass neuerdings zu Werbezwecken Arbeitsvorgänge in Schaufenstern von Ladenlokalen ausgestellt würden: „Und es gehört nicht mehr zu den Seltenheiten, daß man in einem Berliner Schaufenster ein hübsches junges Mädchen emsig ‚tippend‘ vor einer Schreibmaschine sitzen oder mit flinken Fingern appetitliche Pralinés herstellen sieht. Eine besondere Anziehung auf die zahlreichen Passanten der Straße Unter den Linden übten geraume Zeit hindurch einige malerisch kostümierte Zigarettenarbeiterinnen, die im Fenster eines Tabakverkaufsgeschäftes ihrer Beschäftigung oblagen.“288 Statt der fertigen Waren, die eigentlich im Schaufenster präsentiert wurden, platzierten die Kaufhäuser dort nun die Arbeiterinnen und stellten so die Menschen und den Produktionsvorgang gleichermaßen aus. Überdies waren die Frauen als Orientalinnen verkleidet, was eine exotische Note beifügte. In dieser Inszenierung zeigte sich nicht nur der touristische Wert der Arbeit, sondern überdies eine Gleichwertigkeit von Arbeiterinnen und Arbeitern, ‚exotischen‘ Menschen und Waren in ihrer Eignung als Ausstellungsobjekt. Die Rolle der Touristin oder des Touristen, die die Besucherin oder der Besucher in der Fabrik einnahm, ist überdies nicht nur aus den Beschreibungen, was er oder sie wie sehen sollte, und den Bildern, die einen bestimmten Blickwinkel und eine konkrete Inszenierung abbildeten, zu rekonstruieren, sondern wurde von den Reportagen über Fabrikbesuche und den gedruckten Fabrikführern selbst im Bild eingefangen. Viele Reportagen ließen in einem der Begleitbilder neben den üblichen Szenarien von Arbeit und Produktion gleichzeitig den – allerdings durchweg männlichen – Betrachter eines solchen Ausblicks auftreten und thematisierten damit zumindest der männlichen 287 Vgl. für den Vergleich von Postkarte und Theaterbühne Anton Holzer: Die Bewaffnung des Auges. Die drei Zinnen oder eine kleine Geschichte vom Blick auf das Gebirge, Wien 1996, S. 31. 288 Zigarrenarbeiterinnen in einem Schaufenster Unter den Linden in Berlin, in: Das Buch für Alle, Jg. 37, H. 16, 1902, S. 409, 411, hier S. 411.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

386

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 58: „Im Schmelzbau“ (1890): Bürgerliche Besucher in der Fabrik als Zeitschriftenmotiv

Leserschaft gegenüber ganz konkret die Möglichkeit, selbst als ein solcher zu agieren, ob nur im geistigen Nachvollzug der Schilderungen der Reportage oder bei einem eigenen Fabrikbesuch. Die schon häufig genannte Reportage der Illustrirte[n] Zeitung vom November des Jahres 1890 über die Firma Krupp lieferte nicht nur einen Einblick in den Produktionsvorgang von Tiegelstahl, sondern thematisierte überdies die Betrachter dieses Vorgangs (vgl. Abbildung 58).289 Die Arbeit von Hunderten von Menschen in einer unüberschaubaren, unendlich langen hohen Halle, die Tiegel mit glühendem Stahl tragen, diente als Hintergrund für die Darstellung eines angeregten Gesprächs zwi289 Vgl. für ein ähnliches Motiv auch die Abbildung Herausheben des Gußblockes für eine große Panzerplatte aus der Gießgrube, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3142, 17.09.1903, S. 429. Während im Mittelpunkt des Bildes ein riesiges Werkstück steht, dass von zehn Männern an Seilen bewegt wird, sind im Vorder- sowie im Hintergrund bürgerliche Beobachter, zu erkennen an ihren Kopfbedeckungen, abgebildet. Vgl. auch die Abbildung Stadtbahnschienen-Walzwerk, Neu-Oberhausen, in: Gutehoffnungshütte, Die Betriebe der Gutehoffnungshütte 1913, S. 25; Maschinenbauanstalt Humboldt, Führer durch die Maschinenbau-Anstalt Humboldt, Inneneinband; Abbildung Feineisenwalzwerk der Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-Aktien-Gesellschaft zu Differdingen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 138, Nr. 3591, 25.04.1912, S. 27 (gesonderte Paginierung).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

387

Abb. 59: „Blockwalzwerk“ (1901, Original z.T. farbig): Der Arbeiter betrachtet den bürgerlichen Betrachter

schen zwei mit Melone und Anzug ausgestatteten Männern. Der auf den ersten Blick sehr ungeordnet wirkende Vorgang der Stahlherstellung im Tiegelgussverfahren füllt den hinteren Teil des Bildes bis zu einer im Halbdunkel der Halle verschwimmenden gegenüberliegenden Wand. Die Schar der Arbeiter erschien als Masse, in der kaum Individuen auszumachen sind. Akzente in dieser grauen Menge setzen nur die glühenden Tiegel, die in großer Zahl in der Menschenmasse aufleuchten. Lediglich einige Arbeiter am Rande der Zeichnung und vorrangig zwei Männer in der Mitte des Bildvordergrundes sind als Individuen zu erkennen. Die zwei Arbeiter im Vordergrund, die, wie ihre vielen hundert Kollegen im Hintergrund, einen glühenden Tiegel zwischen sich tragen, veranschaulichen das Hauptthema des Bildes, den Vorgang des Tiegelstahlgusses. Doch die Zeichnung bietet neben diesem vordergründigen Thema noch ein weiteres Motiv. Zwar am Bildrand, doch ebenfalls groß im Vordergrund, zeigt die Abbildung zwei Beobachter des Herstellungsprozesses. Ihre Pose, in der die zwei zueinander im Gespräch stehen, scheint für die Welt der Fabrik ebenso fremd wie ihre Kleidung: Entspannt stehen sie, ein Bein abgestreckt, in lockerer Körperhaltung einander gegenüber. Die Darstellung des Bildes kennzeichnet die Betrachter zwar noch nicht eindeutig als Touristen – es könnte sich ebenso um hochrangige Beamte des Unternehmens, um Ge-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

388

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Abb. 60: „Schiffskurbelwelle von 45000 Kilogr. Gewicht auf der Drehbank“ (1890): Die Anleitung zur richtigen Betrachtung verstellt die Realität

schäftspartner oder sogar um die Besitzer des Unternehmens selbst handeln –, es wird aber klar, dass sie einem höheren gesellschaftlichen Kreis entstammen als die Arbeiter, die in der Mehrzahl zu einer grauen Masse verschwimmen. Dieselbe Bildkomposition mit dem Arbeitsvorgang im Hintergrund und bürgerlichen Betrachtern im Vordergrund findet sich auch auf einer Zeichnung des Blockwalzwerks aus der Fabrik Stumm in Neunkirchen an der Saar, abgebildet von der Illustrirte[n] Zeitung im Jahr 1901 (vgl. Abbildung 59). Im Hintergrund der Zeichnung konnten die Leserinnen und Leser gleich mehrere Arbeitsabläufe beobachten: An der linken Seite der Werkshalle hantieren drei Männer mit vereinten Kräften an einem Schmelzofen. In der Bildmitte ist der nächste Arbeitsschritt zu sehen: Zwei Arbeiter dirigieren mit Stangen einen langen, glühenden Eisenblock über eine Rollvorrichtung zur Weiterverarbeitung. Schließlich wird der Arbeitsgang, am rechten Rand des Bildes positioniert, abgeschlossen, indem der Stahl von einer Maschine unter der Bedienung eines Beschäftigten zu einer langen, flachen Schiene geschliffen wird. Jeder der drei Arbeitsvorgänge ist auf dem ansonsten in Grautönen gehaltenen Bild besonders dadurch gekennzeichnet, dass die Stahlstücke im farbigen Original in einem Gelbton erstrahlen. Dem Auge des Lesepublikums wurde dadurch signalisiert, dass es direkt bei der Erzeugung und Verarbeitung des glühenden Stahls dabei war. Die Teilhabe an dem Ereignis verdeutlichte das Bild jedoch noch in anderer Hinsicht, indem es im Vorder-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

389

grund eine Besuchergruppe abbildete. Diese Gruppe war vom Zeichner zentral in der Mitte positioniert worden. Die drei Personen sind einander im Gespräch zugewandt. Das Licht aus einem Dachfenster der Halle fällt auf die Männer, die auf diese Weise, so mag die Interpretation des Lesepublikums gelautet haben, zwar in der Werkshalle stehen, jedoch das Licht der Welt außerhalb dieser Stätte der Arbeit weiter genießen können. Dass sie nur Besucher im Kosmos der Arbeit waren, die eigentlich zu einer anderen Welt gehörten, zeigte sich außerdem in ihrer Körperhaltung und ihrer Kleidung. Das Gewicht entspannt auf ein Bein verlagert, das andere Bein leicht abgestellt, legten sie Interesse an der Situation, aber gleichzeitig auch Entspannung an den Tag. Insbesondere der Mann in der Mitte der Dreiergruppe wirkte sehr leger, was unter anderem auf seinen schon dandyhaft anmutenden Kleidungsstil zurückzuführen ist, der sich in seiner hellen Farbe scharf von dem grauen Hintergrund der Werkshalle abhebt. Ob es sich bei allen drei Personen tatsächlich um bürgerliche Besucher handelte oder ob zumindest einer der Männer zum gehobenen Personal der Fabrik gehörte, der die Führung der Gruppe übernahm, muss offen bleiben. Die Person in der Mitte der Gruppe, so wie der Künstler sie eingefangen hatte, erschien den Betrachterinnen und Betrachtern in jedem Fall als Mensch in seiner Freizeit, der das interessante Bildungserlebnis sichtlich genoss. Hier bekam die Leserschaft der Illustrirte[n] Zeitung ohne Zweifel einen Touristen in der Fabrik vorgeführt.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

390

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

Und sogar, wie sich dieser Tourist verhielt, thematisierten die Darstellungen in den Fabrikreportagen. Wenn er nicht einen panoramatischen Blick über die Werkshalle warf, lauschte er den Erläuterungen eines Experten oder tauschte sich im Gespräch mit anderen Besuchern aus (vgl. Abbildungen 58 und 59). Oder er vertiefte sich in ein Buch, das ihm die Erlebnisse in der Fabrik vorgab, wie eine weitere Zeichnung zur Reportage über die Krupp-Werke der Illustrirte[n] Zeitung belegt (vgl. Abbildung 60). Die Zeichnung präsentiert die Fertigung eines riesenhaften Werkstücks, wie die Bildunterzeile erläutert, einer Schiffskurbelwelle. Anstatt jedoch diesen Vorgang, der nicht nur von einer überdimensionalen Maschine, sondern dazu von einem Arbeiter begleitet wird, für sich stehen zu lassen, stellte der Zeichner sogar die Art, wie dieser Vorgang vom Touristen wahrgenommen wurde, dar. Der Besucher steht zwar nah an der gerade in Bearbeitung befindlichen Schiffskurbelwelle, er betrachtet aber nicht diesen Vorgang selbst, sondern blickt in ein kleines Buch in seiner Hand. Davon ausgehend, dass es sich dabei um einen Fabrikführer oder ein ähnliches Buch handelte, das die Verfahren und Abläufe in der Fabrik erläuterte, bildete die Zeichnung denselben Effekt ab, wie ihn der Umgang mit einem Reisehandbuch wie dem Baedeker erzeugte:290 Anstatt die Realität zu betrachten und selbst zu erfassen und zu bewerten, ließ sich der Fabriktourist leiten von den Vorgaben des Handbuchs, was er wie sehen sollte. Das Handbuch verstellte auf diese Weise den Blick gleich doppelt. Es schob sich ganz real zwischen das Betrachtete und den Betrachter, indem der Blick auf das Papier und nicht auf den Gegenstand gerichtet war, es schob sich aber gleichermaßen durch seine Informationen und Interpretationen zwischen den Besucher und sein individuelles Erleben. Der Tourist bekam indes durch die Lektüre das Gefühl, nicht nur verständnis- und ziellos durch die Fabrik zu wandern, sondern seine Zeit dort sinnvoll zur Weiterbildung zu nutzen und sich damit ganz gemäß den Normen und Werten seiner Gesellschaftsgruppe zu verhalten. Die Zeitschriftenreportagen thematisierten außerdem, wie fremd dieser Tourist der Welt der Fabrik eigentlich war, indem sie ihn selbst zum Objekt der Neugier machten. Auf der Zeichnung des Blockwalzwerks aus der Fabrik Stumm blickt ein Arbeiter, der einige Meter von der Gruppe von Besuchern entfernt angeordnet ist, voller Verwirrung, so lässt sich der Gesichtsausdruck deuten, auf die drei Menschen, die weder optisch in die Umgebung passen, noch eine Aufgabe im Produktionsprozess erfüllen (vgl. Abbildung 59). Vergleichbare Situationen, in denen die Touristen gleichermaßen zum Objekt der Neugier wurden, ergaben sich ebenfalls, wie etwa Abbildungen in englischen Zeitschriften humoristisch dokumentieren, beim Besuch der Wohnquartiere durch Slumtouristinnen und -touristen im London des späten 19. Jahrhunderts.291 Die 290 Vgl. Kapitel 2.3.3. 291 Vgl. Schwarz, „East-Enders“, S. 291.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

391

Verblüffung des Arbeiters ob der Fremden an seinem Arbeitsplatz blendeten die Besucher indes scheinbar gänzlich aus. Dass sie selbst zum Objekt der Neugierde werden konnten, dass ihre Anwesenheit eine individuelle Reaktion bei dem Arbeiter auslöste, wurde ihnen nicht bewusst. Das Unverständnis des Arbeiters korrespondierte mit dem Unverständnis des Touristen für die Fabrik als Ort der Produktion. Für den Touristen war die Fabrik lediglich der Ort des touristischen Erlebnisses. Bezeichnenderweise handelt es sich bei diesen Bildern, die genauestens den Habitus des Fabriktouristen einfangen, um Zeichnungen, die viel stärker als Fotografien zu dieser Zeit eine Situation nicht nur abbilden, sondern mehr noch konstruieren konnten. Es zeigt sich damit, dass der touristische Besucher, der gemäß der bürgerlichen Vorstellung der Geschlechterordnung durchweg männlich war, letztlich wie die Fabrik selbst ebenfalls eine Konstruktion war. Die Fabrikführer und -reportagen entwarfen einen Industrietouristen, der genau die Eigenschaften eines bildungsinteressierten Bürgers hatte, die die Gäste durch ihren Besuch demonstrieren wollten. Dass sich die Leserschaft mit diesem idealen Bürger identifizierte oder sie sich bei einem tatsächlichen Besuch einer Fabrik angemessen als ein solcher zu verhalten wusste, trug dazu bei, die eigene Identität zu stärken.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

392

Der Fabrikbesuch als touristisches Erlebnis

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

393

7. Schlussbetrachtung Die Reise zur Industrie bot dem Bürgertum mehr als nur den Blick in den Innenraum einer Werkshalle. Sie ermöglichte gleichzeitig einen Blick in das eigene Innere. Indem die Industrietouristen – und bisweilen -touristinnen – die Fabrikhalle betraten, begaben sie sich in eine Situation, die fremd, aber gleichzeitig doch vertraut war. Fremd war sie insofern, als die Welt der industriellen Fertigung, die Welt der Arbeiterschaft oder allenfalls noch des Wirtschaftsunternehmers, mit ihrer eigenen Lebenswelt erst einmal wenig gemein hatte. Damit setzten sie sich mannigfachen neuen Eindrücken aus, deren Bewältigung eine Herausforderung sein konnte: der Vielfalt der Arbeitsprozesse und der Sinneseindrücke, die diese mit sich brachten, dem überwältigenden Raumeindruck der großen Werkshallen mit ihren Tiefendimensionen und der Fremdheit der Menschen, die sie beherbergten. Um die Eindrücke dieser fremden Welt zu bewältigen, schufen die Fabriktouristinnen und -touristen im Geiste einen mentalen Innenraum, in dem ihre bürgerlichen Sichtweisen galten und der den rein geografischen Raum der Fabrik überlagerte. Diese gemeinsame Praktik eines touristischen Blicks vereinte die an sich sehr heterogene Gruppe bürgerlicher Besucherinnen und Besucher und grenzte sie ab von denjenigen, die außerhalb dieses mentalen Wissensraumes ‚Fabrik‘ standen, allen voran von den Arbeiterinnen und Arbeiter in den Werkshallen. Die touristische Entdeckung der Fabrik durch das Bürgertum im 19. Jahrhundert half daher, das eigene Innere, die eigene Identität in den als krisenhaft wahrgenommenen letzten Jahrzehnten vor der Zäsur des Ersten Weltkrieges neu zu entdecken und gegenüber den Objekten der touristischen Neugierde Macht und Kontrolle zurückzugewinnen. Der touristische Blick, der das Unbekannte nicht um seiner selbst willen betrachtete, sondern um ein Erlebnis zu schaffen, durch das sich eine Person der eigenen Identität zu vergewissern vermochte, lässt sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Er schloss nahezu jedes denkbare Objekt mit ein. Landschaften, Waren, Tiere und sogar Menschen wandelten sich für und durch die Betrachtung zur inszenierten Sehenswürdigkeit. Ob in den Alpen, in einer Warenausstellung, in Zoos oder Völkerschauen: Die Blick- und Inszenierungspraktiken wiesen eine frappierende Ähnlichkeit auf. Der touristische Blick sollte immer ein genau umrissenes Ensemble erfassen. Die Ausblicke in den Alpen waren im Reiseführer genau beschrieben oder von den Abbildungen in illustrierten Zeitschriften oder ähnlichen Medien als feststehendes Bild präsentiert. Doch nicht nur die Landschaft wurde auf diese Weise inszeniert. Die Gruppe der Betrachtenden bekam eine ganz bestimmte Position zugewiesen, die sie in der Landschaft einnehmen musste, um den jeweils ‚richtigen‘ Ausblick erleben zu können. Diese Ausblicke sollten dazu führen, dass sich Gefühle der Erhabenheit einstellten, deren

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

394

Schlussbetrachtung

Wahrnehmung die Alltäglichkeit des Geschehens verhüllte und stattdessen zur Persönlichkeitsbildung beitragen würde. Ebenso erfassten die Blicke auf die Waren feste Ensembles zum Beispiel in Schaufenstern oder Vitrinen, die die Betrachterinnen und Betrachter nicht einmal mehr aus den natürlichen Gegebenheiten herauslesen mussten, sondern die die Aussteller direkt – in Wechselwirkung mit den Erwartungen des Publikums – konzipiert hatten. Neben der Anhäufung gleichartiger Produkte legten die Aussteller zudem auf eine gewisse Narration wert, beispielsweise, indem sie die verschiedenen Produktionsstadien eines Produkts nebeneinander ausstellten, um dessen Entstehungszusammenhänge zu veranschaulichen. Wiederum sollte das Publikum eine bestimmte Position einnehmen, aus der heraus es auf diese Ensembles schauen konnte, die im Warenhaus und auf der Gewerbeschau bisweilen auf einem erhöhten Standort lag. Hier lag der Zweck gleichfalls darin, dem Schauenden ein ‚angemessenes‘ Erlebnis zu ermöglichen, das nicht allein im kontemplativen Genuss der Waren, sondern ebenso in einem gewissen Bildungsvorgang bestand. Analoge Inszenierungs- und Blickschemata fanden sich zugleich im Zoo und bei der Ausstellung fremdartiger Menschen. Diese erschienen sowohl in den Ausstellungen selbst als auch in den Medien, die deren Bilder verbreiteten, geordnet in Gruppen, eingebettet in eine künstliche Szenerie, die es erlaubte, sie in Ruhe anzuschauen und zu Bildungszwecken zu klassifizieren sowie sie in den vermeintlichen Kontext einzuordnen, der über die Einbettung suggeriert wurde. Sie waren ausgestattet mit Verhaltensweisen, die das Publikum von ‚wilden‘ Tieren und Menschen erwartete, und in deren Beobachtung es sich vermeintlich natur- und völkerkundlich weiterzubilden vermochte. Aus diesen Gemeinsamkeiten lassen sich generelle Merkmale des touristischen Blicks ableiten, durch den die Konstruktion der Fabrik als touristische Attraktion erst möglich wurde: – In allen Fällen fand eine Inszenierung des betrachteten Objektes durch Ästhetisierung statt. Der touristische Blick nahm die Landschaften, Produkte, Tiere und Menschen separiert von ihrer ursprünglichen Alltagsbedeutung und ihren eigenen Lebensumständen wahr und verlieh ihnen stattdessen einen neuen, einen touristischen Wert, der das eigene touristische Erlebnis bedingte. – Die touristischen Objekte bekamen durch das Vorwissen der Betrachtenden eine veränderte Bedeutung und nahmen so ihren Platz im touristischen Wissensraum ein. Nicht das, was die Touristinnen und Touristen tatsächlich vor sich hatten, stand im Vordergrund, sondern der spezielle Blick, der häufig schon die Bewertung vorwegnahm. – Alles Betrachtete ordnete der touristische Blick dem Bedürfnis nach Bildung im umfassenden Sinne unter, sogar die Wirklichkeit selbst. – Es bestand eine Wechselwirkung zwischen dem touristischen Blick und seiner Wiedergabe in verschiedenen Medien. Seine Praktiken schlugen sich in Forschungs- und

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘ Schlussbetrachtung

395

Reiseberichten oder Reiseführern nieder, diese erzeugten oder verstärkten bei ihrer Leserschaft dann wiederum diese Sichtweise. – Mitunter führten sich die zeitgenössischen Betrachterinnen und Betrachter diese Zusammenhänge selbst vor Augen, indem sie die Künstlichkeit der Situation durchaus reflektierten und zum Teil sogar kritisierten. Doch breite bürgerliche Kreise wandten den touristischen Blick unreflektiert und uneingeschränkt an. – Durch die Ästhetisierung nahmen die Touristin und der Tourist eine Umdeutung des ‚Anderen‘, des Betrachteten vor, die eine Deklassierung des Gegenübers und gleichzeitig eine Aufwertung der eigene Person beinhaltete. Ebenso wie das Betrachtete wurden all jene, die nicht diese Fähigkeit zum touristischen Blick besaßen, deklassiert, d.h. ausgegrenzt und abgewertet. Die Fabrik als touristisches Reiseziel für eine bürgerliche Zielgruppe trat im späten 19. Jahrhundert neben die bereits etablierten Destinationen. Als Ort der angewandten Wissenschaft und der Technik schlechthin kam sie der Begeisterung für die Naturwissenschaften und deren technischen Einsatz, ein besonderes Merkmal der Zeit um die Jahrhundertwende, entgegen. Das dem bürgerlichen Tourismus inhärente Ziel der – vorgeblichen – persönlichen Weiterbildung vermochten die Gäste daher bei einem Fabrikbesuch besonders gut zu verfolgen. Bei der Besichtigung solcher neuen Sehenswürdigkeiten, zu denen neben der Fabrik selbst ebenso die durch ‚moderne‘ Technik unterstützten Maßnahmen der Großstädte zur kommunalen Versorgung und Verkehrs­ planung sowie zum Städtebau zählten, löste sich außerdem ein besonderes Dilemma des Bürgertums. Diese Gruppe, die einerseits ihre Freizeit demonstrativ als Statussymbol nutzen wollte, andererseits mit reinem Müßiggang gegen die bürgerlichen Tugenden verstieß, konnte so ihre Freizeit an einem Ort der Technik verbringen, um sich dort vermeintlich in diesem Bereich weiterzubilden. Dem Interesse des Bürgertums kamen die Unternehmen insofern entgegen, als sie erkannten, dass eine gezielte Information der Öffentlichkeit über den Kundenkreis hinaus eine image- und damit absatzfördernde Wirkung hatte. Folglich informierten sie beispielsweise durch Broschüren, die die Leistungen der Firma und die technischen Abläufe illustrieren, durch die Ausstellung der Produktion selbst im Rahmen von Industrie- und Gewerbeschauen oder tatsächlich, indem sie die Allgemeinheit die Produktionsvorgänge vor Ort besichtigen ließen, über ihre Erzeugnisse und Produktionsstätten. Entscheidend für die tatsächliche Etablierung der Fabrik als touristisches Ziel war, dass sie als ein solches zum Beispiel in illustrierten Familienzeitschriften, Reiseführern oder auf Postkarten kommuniziert, inszeniert und interpretiert wurde, allesamt Medien, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu weitreichenden Massenmedien entwickelten und deren Zielgruppe zu einem sehr großen Teil das Bürgertum war.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

396

Schlussbetrachtung

Dass es sich beim Fabriktourismus, den diese Medien bewarben oder widerspiegelten, tatsächlich Ende des 19. Jahrhunderts um ein zunehmend verbreitetes Phänomen handelte, belegen die steigenden Besuchszahlen, die die Unternehmen verzeichneten. Der Blick auf einzelne Firmen als einziger verlässlicher Nachweis für diese Entwicklung bekräftigt, dass die Besuche von Privatleuten speziell aus dem Bereich, den man dem Bildungsbürgertum zuordnen kann, ab Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts stetig zunahmen und erst aufgrund von Reglementierungsmaßnahmen seitens der Fabriken zurückgingen, mit denen man einen geregelten Betriebsablauf sicherstellen wollte. Die steigenden Besuchszahlen führten in der Folge dazu, dass die Unternehmen, die besonders häufig angefragt wurden, den Besuch institutionalisierten. Sie richteten spezielle Abteilungen ein, die sie mit der Angelegenheit der Gäste betrauten, und standardisierten die Organisation für Besichtigungen. Damit schufen sie Strukturen, die die weitere Entwicklung der Fabrik als touristisches Ziel durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch prägen sollten. Ganz entgegen der bürgerlichen Konzeption des weiblichen Handlungsraumes an sich, nach dem die Frau auf die private, häusliche Sphäre beschränkt sein sollte, gehörte die Bürgerin ebenfalls zu den Fabriktouristen. Das ist umso erstaunlicher, als die Fabrik als Ort der Technik vermeintlich eher dem als typisch männlich definierten Interesse entsprach. Die Industrieanlage als touristische Attraktion übte aber insgesamt auf Frauen, und nicht nur auf sozial engagierte Reformerinnen, eine ebensolche Faszination aus wie auf Männer. Frauen schlossen keine Fabrik als Reiseziel aus und selbst, wenn sie keinen Einlass in das Werksinnere fanden, nutzten sie doch die vorhandenen alternativen Angebote, um sich einen Eindruck des Fabrik- beziehungsweise Arbeiterlebens zu verschaffen. Über die Gründe für diese weibliche Faszination kann nur spekuliert werden. Möglicherweise lag es an der generellen Faszination der Technik, die sich, obschon eigentlich nicht als Bildungsgegenstand für Frauen in der großen Breite etabliert, doch so großer Beliebtheit beim Bürgertum insgesamt erfreute, dass sich davon weibliche Bildungshungrige ebenfalls angezogen fühlten. Wie viele Frauen unter den ‚sesselreisenden‘ Leserinnen von Fabrikreportagen waren, lässt sich nur insofern erahnen, als der Anteil der Leserinnen solcher Publikationen allgemein höher lag als der der Leser. Ebenso schwierig ist eine eindeutige Antwort auf die Frage, um welche Teile des Bürgertums es sich bei den Fabriktouristinnen und -touristen genau handelte. Aufgrund des verstärkten Drangs des ‚neuen Bürgertums‘, der Schicht der Angestellten, sich von den Arbeitern, von denen sie sich beispielsweise durch ihren Verdienst teilweise nur gering unterschieden, zu distinguieren und durch ihr starkes Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung vor allem durch das etablierte, mittlere Bürgertum, kann vermutet werden, dass gerade diese Teilgruppe der Sozialformation die Möglichkeiten, die ein

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘ Schlussbetrachtung

397

Fabrikbesuch in Bezug auf Selbstinszenierung und Distinktion von Anderen, speziell der Arbeiterschaft bot, gerne annahm. Gerade das ‚neue Bürgertum‘ zeigte sich darüber hinaus besonders aufgeschlossen gegenüber den neuartigen Bildungsinhalten, die Naturwissenschaften und Technik boten, daher ist begründet anzunehmen, dass gerade auf sie die Fabrik als Ort der Technik eine besondere Faszination ausübte. Aus der vorliegenden Untersuchung heraus lässt sich diese Überlegung jedoch nicht endgültig bestätigen. Einerseits belegen einige Dokumente über die Besucherinnen und Besucher, die eine Fabrik registrierte, dass selbst das neue beziehungsweise das Kleinbürgertum diesen Ort zu Besichtigungen aufsuchte, jedoch nicht in einem andere bürgerliche Gruppen übertreffenden Maße. Andererseits berichtete gerade eine Zeitschrift wie Das Buch für Alle, die sich vorwiegend an das untere Bürgertum richtete, nur wenig von und aus der Fabrik und überging dabei die Arbeiterschaft als Objekt der Sozialfürsorge ganz. Das deutet darauf hin, dass niedere Angestellte die Fabrik und insbesondere die Menschen in ihr kaum als touristische Attraktion wahrnahmen, weil sie von den von ihnen präferierten Medien vergleichsweise wenig thematisiert wurde. Hinzu kommt, dass der Fabriktourist, wurde er selbst einmal im Bild thematisiert, optisch eher in großbürgerlicher Manier erschien. Die Konstruktion der Fabrik und ihrer Besichtigung als touristische Attraktion zeigte sich einerseits in der tatsächlichen Ausgestaltung des Besuchs, andererseits in den Blickpraktiken, die ein umfassendes touristisches Erlebnis erschufen. Der Eintritt in die fremde Welt der Arbeit erschien regelrecht als Initiation, der Gang durch die Produktionsstätte, der eigentlich weniger eine Erkenntnis im Sinne der Weiterbildung, als vielmehr zahlreiche oberflächliche Eindrücke von ‚der Fabrik‘ lieferte, mutierte zum kolossalen Bildungserlebnis, einem ‚Event‘ im heutigen Sinne, und am Ende des Besuchs reichte die Fabrikleitung ein festliches Gastmahl und hochwertige Souvenirs. Es entstand eine deutliche Diskrepanz zwischen der Fabrik als Ort des ökonomischen Wertschöpfungsprozesses und als Ort des touristischen Erlebnisses. Für das Unternehmen bildeten die Gäste letztlich doch eher einen Störfaktor, den man sich zwar gewogen halten wollte, der aber weder die Abläufe in der Fabrik noch sich selbst gefährden durfte. Daher richteten die Unternehmen die Organisation des Besuchs vorrangig an diesen Erfordernissen aus und berücksichtigten erst dann die Interessen der Gäste. Diese wendeten das Erlebte jedoch auf vielfältige Weise so, dass sie in jedem Fall den Fabrikbesuch als Ereignis, das der Fortbildung und damit der dem bürgerlichen Ideal entsprechenden nutzbringenden Verwendung der Freizeit dienen sollte, als ureigene Erfahrung deuten konnten. Unter allen Umständen suchte das Bürgertum dort einen Schauwert. Die Fabrik in ihrer ursprünglichen ökonomischen Funktion blendete es dafür aus. Dazu trugen die Umstände des Besuchs und vielfältige Begleitmaterialien bei, mit denen die Vorgänge, die auf dem Gang durch die Werkshallen möglicherweise

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

398

Schlussbetrachtung

noch unverständlich geblieben waren, erläutert wurden, die zudem Zusammenhänge herstellten und insgesamt eine Atmosphäre schufen, die den Besuch als sinnvolle, aber gleichzeitig bürgerlichen Maßstäben für demonstrative Freizeitnutzung entsprechende Tätigkeit erscheinen ließen. Der Fabrikinnenraum, den die Touristin und der Tourist durchstreiften, sei es bei einem tatsächlichen Besuch eines Unternehmens, sei es im Nachvollzug durch die Lektüre von Reportagen aus der Fabrik oder beim Lesen eines Fabrikführers, bot eine überwältigende Menge an Eindrücken, die auf eine bestimmte Weise zu deuten waren, um der Besichtigung eine Bedeutung im Sinne bürgerlicher Selbstvergewisserung zu geben, um einen mentalen ‚Innenraum Fabrik‘ zu erschaffen. Die wichtigsten Strategien dieses vorwiegend unbewussten mentalen Prozesses bestanden darin, (1) das Geschehen nach bestimmten Schemata zu ordnen, um es so vermeintlich ‚richtig‘ zu verstehen und dadurch einen Bildungseffekt zu verspüren, (2) in den Eindrücken nach ästhetisch-künstlerischen, ‚malerischen‘ Aussichten zu suchen, durch deren Konsumierung man sich als Persönlichkeit weiterentwickelte, (3) die eigenen (bürgerlichen) Wertvorstellungen bestätigt zu finden, (4) die Arbeiterin und den Arbeiter als Anschauungsobjekt zu entindividualisieren und damit zu deklassieren und schließlich schlicht (5) die persönliche Schaulust jenseits aller Bildungsideale zu befriedigen und letztlich einfach zum Zeitvertreib zu dienen. Konkret bestand eines der vorrangigsten Ziele beim Blick in die Fabrik in der Suche nach Ordnungsschemata. Erkannte man erst einmal die Ordnung im vermeintlichen Chaos der Werkshalle, so ließ sich ein Zusammenhang konstruieren, erschien gleichfalls eine tiefergehende Erkenntnis, ein Bildungserlebnis möglich. Dem Produktionsprozess schrieb das Bürgertum die Ordnung eines perfekten Ineinandergreifens verschiedener Arbeitsgänge und der absoluten Einheitlichkeit hundertfach gleichzeitig stattfindender Arbeiten zu, um der Angst vor dem Chaos auszuweichen. Der Blick auf die fertigen Waren offenbarte zusätzlich eine scheinbare Kontrolle über den zunächst unübersichtlichen Produktionsvorgang. Die Betrachtung der Kraft der Maschine vermittelte den Touristinnen und Touristen den Eindruck, dass man sich ohne Weiteres diese Urgewalt handhab- und kontrollierbar machen und sie dadurch gleichzeitig in ihrer eigenen Natur verstehen konnte. Sogar der Blick auf die Arbeiterschaft suchte nach Ordnungsmöglichkeiten, mit deren Hilfe man sich in die Lage zu versetzen hoffte, verwertbares Wissen über diese aus bürgerlicher Sicht ‚fremden Wesen‘ zu erlangen. Im Rückgriff auf die im 19. Jahrhundert übliche Klassifizierungsmode schufen die Betrachterinnen und Betrachter verschiedene Arbeitertypen, wodurch sie ihren Wissenshorizont zu erweitern meinten. Der Ordnungseffekt trat insbesondere durch die Position ein, die die Gäste in der Fabrik bei der Führung einnahmen und die sich zugleich in fast allen bildlichen Darstellungen der Fabrik findet. Durch den Blick von

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘ Schlussbetrachtung

399

einer erhöhten Position, und damit verbunden einem mental übergeordneten Standpunkt aus, erschien ein Erlebnis möglich, durch dessen Erfahrung das Bürgertum sich seiner Identität vergewissern konnte. Folglich suchte selbst der Blick auf Arbeiterinnen und Arbeiter in ihrem Leben jenseits der Fabrik nach diesem Bildungserlebnis. Die Wohlfahrtseinrichtungen der Unternehmen begriffen die Gäste unter anderem als eine Art von pädagogischem Feldversuch, den sie mit Interesse betrachteten. Die Arbeiterin und der Arbeiter erschienen darin als Objekt der sozialen Fürsorge, über das man sich mit vermeintlich wissenschaftlicher Neugier informierte. Dabei ging es nicht um ein tatsächliches Engagement in der Sozialarbeit, die einen persönlichen Kontakt zu Angehörigen dieser Schicht erfordert hätte, sondern nur um die Betrachtung eines Objektes zur eigenen Weiterbildung. Dass es sich bei diesen Bildungserlebnissen jeweils nur um eine Illusion handelte, blendeten die Industrietouristin beziehungsweise der -tourist dagegen fast gänzlich aus. Was zählte, war der Glaube, dass der Besuch der Fabrik den Zweck der naturwissenschaftlich-technischen oder sozialwissenschaftlichen Bildung erfüllt habe. Bildung umfasste zum zweiten für den (Bildungs-)Bürger darüber hinaus jedoch ebenso die Persönlichkeitsentwicklung, die pittoreske oder erhabene Ansichten vorantrieben. Dementsprechend suchten die Besucherinnen und Besucher im Innenraum der Fabrik nach solchen Ansichten. Sie fanden sie zumeist in einer Sichtweise auf das fertige Produkt, das durch seine große Zahl oder seine schiere Größe faszinierte, also durch rein optische Aspekte, wohingegen Gesichtspunkte der Funktion oder der hochwertigen Fertigung keine merkliche Rolle für die bürgerlichen Gäste spielten. Das Lob der Maschine umfasste ebenfalls vorwiegend ihre Symmetrie und Einheitlichkeit beziehungsweise ihre grundsätzliche Fähigkeit, ebensolche Produkte herzustellen. Selbst die Arbeiterinnen und Arbeiter dienten, ganz ihrer menschlichen Natur beraubt, als optisch ansprechender Anblick, indem sich beispielsweise nur die Ästhetik von sich gleichzeitig bewegenden Körperteilen wahrnehmen ließ. Schließlich interpretierten die Gäste selbst den privaten Lebensraum der Arbeiterschaft als malerisch, als idealisierte Gegenwelt zur Industrie, gar als ein mögliches Ausflugsziel für die bürgerlichen Touristinnen und Touristen. Nicht nur Wohnsiedlungen, die tatsächlich als Nachbildung einer dörflichen Umgebung angelegt waren, sondern ebenso Werkssiedlungen, die einen großstädtischen Charakter hatten, verklärten beispielsweise Reportagen über die Wohlfahrtseinrichtungen der Unternehmen in diesem Sinne. Die Menschen in den ‚Kolonien‘ erschienen weitgehend als Teil des Erlebnisses einer ‚folkloristischen‘ Idylle und verloren damit im Blick der Betrachterin oder des Betrachters vollständig ihren Status als Individuen. Sich selbst verstanden die Betrachtenden als unabhängige, nicht involvierte Beobachtende, die über dem Geschehen standen, und es daher umso besser zu verstehen, zu abstrahieren und als pittoreske Szenerie wahrzunehmen ver-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

400

Schlussbetrachtung

mochten. Das Bildungserlebnis, gleichgültig, ob es sich dabei um den Erwerb konkret anwendbaren, naturwissenschaftlich-technischen Wissens handelte oder ob es eher um eine Ausbildung der Persönlichkeit ging, rekurrierte auf die Bildung als Wert an sich, unabhängig von ihrem praktischen Nutzen für den einzelnen Bürger oder die Bürgerin, durch deren Erwerb man sich eben als vorbildlicher Vertreter oder Vertreterin seiner gesellschaftlichen Gruppe verhielt. Die Suche nach dem Bildungserlebnis in der Fabrik stand daher stellvertretend für die Identitätssuche der Fabriktouristinnen und -touristen. Ein weiteres unbewusstes Ziel des Bürgertums beim Gang durch die Fabrik bestand drittens darin, die eigenen Ideen und Werte bestätigt zu sehen. Die Rationalisierung als Prinzip des Produktionsprozesses entsprach der rationalen bürgerlichen Weltsicht und Lebensführung. In der Maschine sahen die Bürger und Bürgerinnen die Prinzipien von Präzision und Zuverlässigkeit verkörpert, die sie selbst ebenfalls anstrebten. Die vermeintlich stoisch die schwere körperliche Tätigkeit ausführende Arbeiterschaft symbolisierte das vertraute bürgerliche Arbeitsethos, das die Touristin oder der Tourist hier selbst im ihm sonst gänzlich fremden Umfeld entdecken konnte. Auch an dem Umgang mit Geschlechterstereotypen in der Fabrik lässt sich belegen, dass der Blick der Gäste niemals (wert-)neutral war, sondern stets auf den eigenen Wertekanon referierte und diesen zum Maßstab erhob. Die Rollen, die die Betrachtenden den Arbeiterinnen und Arbeitern zuwiesen, hingen davon ab, ob die jeweilige Arbeit nach bürgerlicher Sicht männliche oder weibliche Eigenschaften erforderte. Die Arbeiterin wurde in Verbindung gebracht mit weiblich konnotierten Eigenschaften wie Umsicht und Sorgfalt, Fleiß und Sauberkeit, während beim männlichen Pendant die körperliche Kraft oder die besonderen, durch Ausbildung erworbenen Fachkenntnisse im Vordergrund standen. Frauen erschienen eher als entindividualisierte Masse, Männer dagegen ließen zumeist noch ein Mindestmaß an Individualität erkennen. Die Geschlechterstereotypen setzten sich überdies in der Betrachtung der Lebenswelt der Arbeiterschaft jenseits der Arbeitsstätte fort. Ob dieser Blick auf Männer und Frauen in und außerhalb der Fabrik zugleich davon abhing, ob eine Touristin oder ein Tourist ihn warf, ob überhaupt die Erlebnisse in der Fabrik geschlechtsspezifische Besonderheiten hatten, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. In den Medien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts spielte nur die Perspektive des männlichen Touristen eine Rolle. Die Autoren der Reportagen waren ebenso allesamt männlich wie die Zeichner und Fotografen, die die Abbildungen zu den Reportagen erstellten. Zudem tauchten in den Bildern aus der Fabrik ausschließlich männliche Betrachter auf, sofern solche überhaupt in Szene gesetzt wurden. Die bürgerliche Frau als Fabriktouristin mit ihrer vielleicht (geschlechter-)spezifischen Wahrnehmung spielte in der Selbstdarstellung der (männlichen) Touristen keine Rolle.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘ Schlussbetrachtung

401

Bei einem Besuch der Arbeitersiedlungen sahen die Gäste nicht nur die Frauen der Arbeiter an ihrer nach bürgerlichen Maßstäben passenden Wirkungsstätte in Haus und Garten, sondern insgesamt die Arbeiterschaft in der ihr aus Sicht des Bürgertums zugewiesenen gesellschaftlichen Position als Unterschicht, die diese scheinbar fraglos akzeptierte. Die Touristinnen und Touristen fanden beim Gang durch die Wohlfahrtseinrichtungen damit ihre Vorstellung von festgelegten sozialen Rollen bestätigt. Gleichzeitig sahen sie in den Förder- und Bildungsmaßnahmen der (bürgerlichen) Unternehmer die Möglichkeit für die Arbeiterschaft gegeben, in Ansätzen an der bürgerlichen Gesellschaft teilzuhaben beziehungsweise deren gesellschaftliche Werte zu adaptieren. Damit wurde das zwar letztlich nur noch als Utopie existierende, aber immer noch in der Mentalität seiner Angehörigen grundlegende Gesellschaftskonzept des Bürgertums genau in dem Moment bestätigt, als es durch die Krise und die daraus resultierende labile Situation dieser Gesellschaftsformation am stärksten gefährdet war. Indem die Touristinnen und Touristen im Fremden der Fabrik und des Arbeiters ihre eigenen Konzepte und Werte verwirklicht sahen, vergewisserten sie sich gleichzeitig ihrer Gültigkeit und damit überdies der eigenen Identität. Der Verlust an gesellschaftlicher Deutungsmacht, den das Bürgertum mit der zunehmenden Heterogenität der Gesamtgesellschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte hinnehmen müssen, hatte die ohnehin schon fragile Identität dieser Gesellschaftsformation ab der Jahrhundertmitte zunehmend erschüttert. Nun erlaubte es der Blick auf die Vorgänge und Menschen in den Werkshallen, zumindest wieder ein Stück dieser verloren geglaubten Deutungsmacht zurückzugewinnen, jedenfalls im mentalen Bereich. Im Innenraum der Fabrik, so wie die Besucherinnen und Besucher ihn sehen wollten, sahen sie ihre Wertevorstellungen und gesellschaftlichen Konzepte verwirklicht. Daraus konnten sie neues Selbstbewusstsein schöpfen. Diese Identitätsbestätigung wiederum wurde viertens durch Abgrenzung vom Unbekannten, vom Anderen in der Fabrik vorangetrieben. Nicht nur, dass die Fabriktouristin beziehungsweise der -tourist die Arbeiterin und den Arbeiter eher selten als ein Individuum ansah, das aufgrund seiner Fähigkeiten aus dem Produktionsprozess hervortrat. Vielmehr erschienen die Angehörigen der Unterschicht entweder als austauschbarer Teil des Produktionsprozesses, mit einer festgelegten Rolle ausgestattet oder sogar völlig entindividualisiert nur als Teil der Maschine. Die Besucherinnen und Besucher gingen sogar so weit, die Existenz der Arbeiterschaft an ihrer ureigenen Wirkungsstätte ganz auszublenden. Selbst wenn der Eindruck der körperlichen Arbeit von den Touristinnen und Touristen nicht mehr zu übersehen, sondern als besonderer Teil des Erlebnisses der Fabrikbesichtigung zu deuten war, reagierte das Bürgertum dennoch mit Abgrenzung von der Arbeiterschaft und ihrer Körperlichkeit. Die Menge an Arbeitern und Arbeiterinnen, der man beim Weg in die Fabrik oder in der Werkshalle begegnete, erschien als

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

402

Schlussbetrachtung

genau die gesichtslose, bedrohliche Masse, die man sich zuvor immer schon vorgestellt hatte. Die schwere körperliche Arbeit erregte gleichermaßen Neugier wie Schrecken. Außerhalb des Werkes distanzierten sich der Bürger und die Bürgerin ebenfalls von der Arbeiterschaft dadurch, dass man sie als unfertige Objekte der Sozialarbeit betrachtete. Indem es das Andere an der Arbeiterschaft betonte, versuchte das Bürgertum, sich seiner eigenen Identität stärker zu vergewissern. Jenseits der Fragen nach dem Schauwert des Gesehenen, nach dem Bildungswert, ging es den Industrietouristinnen und -touristen fünftens um das Erlebnis von etwas Außergewöhnlichem, das nicht der eigenen Lebenswelt entsprach. Die Besichtigung der Fabrik stellte schlicht ein ‚Event‘ dar. Das ‚Wunder‘ der industriellen Produktion, bei dem die Maschine als handelnde Persönlichkeit auftrat, regte die Schaulust ebenso an wie die dem Bürgertum eher fremde Körperlichkeit der menschlichen Arbeit. Die Maschine wirkte wie ein Wunderwesen, das selbstständig einen geheimnisvollen, scheinbar fast mystischen Vorgang verrichtete. Und selbst der – in diesem Fall zumeist männliche – Arbeiter erschien in seiner Körperlichkeit, die einen grundlegenden Gegensatz zur Körperfeindlichkeit des Bürgertums bildete, als exotisches Schauobjekt. Beim Blick auf den bisweilen nur mangelhaft bekleideten Körper, auf den Schweißfilm auf der Haut, die anschwellenden Muskeln und verzerrten Gesichtszüge in Folge der Anstrengungen der Arbeit durften die bürgerlichen Betrachtenden ihrer Neugier auf das in der eigenen Gesellschaftsgruppe Verborgene, Verhüllte, Unaussprechliche freien Lauf lassen. All diesen Umgangsweisen mit den Eindrücken in der Fabrik lag die Eigenschaft des touristischen Blicks zugrunde, durch einen Akt der Ästhetisierung die Fabrik und die Vorgänge, Gegenstände und Menschen in ihr der ursprünglichen Bedeutung der Produktion zu entheben und ihnen stattdessen einen Wert als touristisches Erlebnis zuzuweisen.1 Das Bedürfnis nach eben diesem touristischen Erlebnis überlagerte und verhüllte das, was man sonst als Wirklichkeit hätte wahrnehmen können. Nur der mentale Raum, den die Touristin oder der Tourist für sich selbst vor dem geistigen Auge konstruierte, war von Bedeutung. Dazu griffen die Besucherinnen und Besucher auf ein ihrer Gesellschaftsgruppe eigenes, unbewusstes Vorwissen zurück, dass insbesondere die nötige Art des Blicks von einer bestimmten (mentalen) Position aus vorgab. Der Ästhetisierung und damit ebenso der Deklassierung des Betrachteten kam in der Fabrik dadurch besondere Bedeutung zu, dass ihre Besichtigung die einzigartige Möglichkeit eröffnete, Angehörige der Arbeiterschaft als eine spezielle Gesellschaftsgruppe in einem ebenso speziellen Zusammenhang, nämlich bei der Verrichtung ihrer Aufgaben, zu betrachten. Da es sich bei der Arbeiterin beziehungsweise dem Arbeiter nicht 1

Vgl. zu diesem Aspekt auch Dean MacCannell: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London, S. 63.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘ Schlussbetrachtung

403

nur um das touristische Objekt handelte, das es zu betrachten galt, sondern gleichzeitig um die Personen, von denen man sich genau durch das touristische Verhalten abheben wollte, wurde der bürgerliche Fabriktourismus in einzigartiger Weise zu einem Distinktionsmittel. In mehrerer Hinsicht traten in der Betrachtung der Fabrik als touristischer Attraktion verschiedene Aspekte hervor, die für die Moderne kennzeichnend waren. Vieles, was sich bei einer Werksbesichtigung an Praktiken, Sicht- und Verhaltensweisen niederschlug, offenbarte sich gleichfalls in der bürgerlichen Sphäre außerhalb der Fabrik. Die Neugier auf die Welt der Arbeit ging so weit, dass diese aus der Fabrik hinaustrat und sich an anderen Orten in einer Inszenierung wiederfand, sei es in dem Schaufenster eines Warenhauses2 oder auf dem Unternehmensstand einer Weltausstellung.3 Hier zeigte sich der Beginn einer Entwicklung, die schließlich jede Art von Arbeit an jedem Ort zu einem Objekt der Schaulust machen konnte, die jeder Mensch, gleichgültig, welcher Gesellschaftsschicht er angehörte, zu praktizieren vermochte. Bei der Betrachtung der Vorgänge in der Fabrik schienen außerdem starke Parallelen zu den Ordnungsvorstellungen auf, die sich ebenso in den Erziehungsmaßnahmen, zum Beispiel in den damals neu entworfenen Strafanstalten, die ebenfalls zum touristischen Ziel taugten,4 oder bei der Erschaffung neuer städtischer Parks5 erkennen ließen. Die Erziehung der nicht-bürgerlichen Schichten zwar nicht zu gleichwertigen, aber doch zu aus bürgerlicher Sicht sinnvollen Mitgliedern der Gesamtgesellschaft lässt sich hierbei als allgemeines Merkmal der industriellen Moderne erkennen. Dazu gehörte in gewisser Weise zudem die Typisierung des Arbeiters, die sich an die Strömung der Anthro2 3 4

5

Vgl. die Abbildung Zigarrenarbeiterinnen in einem Schaufenster Unter den Linden in Berlin, in: Das Buch für Alle, Jg. 37, H. 16, 1902, S. 409, 411. Vgl. Roland Marchand: Creating the Corporate Soul. The Rise of Public Relations and Corporate Imagery in American Big Business, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1998, S. 249–254. Vgl. Wolfgang Kaschuba: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Göttingen 1995, S. 92–127, hier S. 125; Daniel Kiecol: Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen. Paris und Berlin zwischen 1900 und 1930, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel/ New York, NY/Oxford/Wien 2001, S. 211; John F. Sears: Sacred Places. American Tourist Attractions in the Nineteenth Century, 2. Aufl., Amherst, MA 1998, S. 87–89; Harro Zimmermann: Irrenanstalten, Zuchthäuser und Gefängnisse, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 207–213. Vgl. Lothar Reinermann: Königliche Schöpfung, bürgerliche Nutzung und das Erholungsbedürfnis der städtischen Unterschichten. Londoner Parks im 19. Jahrhundert, in: Angela Schwarz (Hrsg.): Der Park in der Metropole. Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 76–87; Angela Schwarz: Ein „Volkspark“ für die Demokratie: New York und die Ideen Frederick Law Olmsteds, in: dies., Der Park in der Metropole, S. 124–128, 134–145.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

404

Schlussbetrachtung

pometrie anlehnte, deren Ziel darin bestand, das Äußere eines Menschen in verschiedene Kategorien einzuordnen, die gleichzeitig für sein inneres Wesen stehen sollten, und die dadurch die untersuchten Menschen zu vermessenen Objekten degradierte.6 Ebenfalls als ein Merkmal der Moderne und der mit ihr heraufziehenden Massengesellschaft zeigte sich die in der Fabrik beobachtete und als malerischen Vorgang gedeutete Fragmentierung und Entindividualisierung von Menschen. Das Ornament der Masse7 war ebenso ein Effekt, der aus diesem Kontext enstand, wie die Entgrenzung der Unterschiede zwischen Mensch und Maschine, die beispielsweise Literatur und Film vor allem ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgriffen.8 Die Fabrik hatte sich in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg als touristisches Ziel etabliert. An diese Erkenntnis lässt sich die Untersuchung des Industrietourismus als internationale und für die gesamte Zeit der Moderne und Postmoderne prägende Erscheinung anschließen. Inwieweit kann man das deutsche Beispiel der Fabrik als touristisches Ziel in einen internationalen Zusammenhang stellen? Welche Bedeutung entwickelte der Industrietourismus im weiteren Verlauf des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts? Die Praxis, Industriegebiete oder gar das Innere einer Fabrik als touristisches Ziel zu bereisen, besaß, wie erste Forschungen bereits belegt haben, in verschiedenen westlichen Industrieländern wie Großbritannien und den USA bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bisweilen sogar noch früher, eine gewisse Bedeutung.9 Die Motive für den Besuch jedoch, so legen diese Forschungen nahe, variierten zum Teil sehr stark. In den USA spiegelte sich, so erste Ergebnisse, in dem Besuch von Arbeitsstätten nach der Zeit des Bürgerkriegs ein wachsender Stolz auf die Leistung des Landes, den amerikanischen Erfindungsreichtum und die technische Kompetenz.10 Die Bedeutung, die die Besucherinnen und Besucher den amerikanischen Industriegebieten bei ihrer Visite zumaßen, erschien vergleichbar mit jener der neu entstehenden Nationalparks. Beide spiegelten für die Gäste die Einmaligkeit ihrer Nation. Zum Teil kamen sogar dieselben Beschreibungsmuster für die Industrie und die Natur zur Anwendung.11 Es 6 7

Vgl. z.B. Gerd Theile (Hrsg.): Anthropometrie, München 2005. Vgl. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse (1927), in: ders. (Hrsg.): Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1977, S. 50–63. 8 Vgl. z.B. aus dem Bereich Film Modern Times, Regie: Charles Chaplin, USA 1936; Metropolis, Regie: Fritz Lang, Deutschland 1927. 9 Vgl. Katherine Haldane Grenier: Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914. Creating Caledonia, Aldershot 2005, S. 23, 49; Marchand, Creating the Corporate Soul, S. 255–264; Sears, Sacred Places, S. 182, 191–206. 10 Vgl. Cindy S. Aron: Working at Play. A History of Vacations in the United States, Oxford 2001, S. 145. 11 Vgl. Sears, Sacred Places; David E. Nye: American Technological Sublime, Cambridge, MA/London

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘ Schlussbetrachtung

405

lassen sich jedoch ebenso transnationale Motive finden, die auf eine moderne westliche Wertegemeinschaft zurückzuführen sind, so etwa der Gedanke, dass durch die Besichtigung einer Arbeitsstätte selbst in gewisser Weise Arbeit verrichtet, die Freizeit damit nicht sinnlos vertan wurde.12 Was aus dem touristischen Ziel der Fabrik nach seiner Entdeckung wurde, gehört zu den zentralen Fragen dieses vielschichtigen sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtlich bedeutsamen Themas. Sie reiht sich ein in langfristige Wandlungsprozesse wie die endgültige Herausbildung der Massengesellschaft, den allgemeinen Anstieg des Lebensstandards in der westlichen Welt, die Verringerung der Wochenarbeitszeit und die Herausbildung einer – zunehmend heterogener werdenden – Freizeitkultur. Erlebte die Fabrik in diesem Zuge eine Verwandlung vom ‚Geheimtipp‘ zum touristischen Massenziel? Was wurde in diesem Prozess aus dem – zunächst bürgerlichen – touristischen Blick? Mit Blick aus der Phase der ‚Dritten Industriellen Revolution‘ im frühen 21. zurück auf das 20. Jahrhundert hat sich die Fabrik ähnlich wie andere touristische Anziehungspunkte, etwa die Alpen oder die Küstenlandschaft, grundlegend gewandelt. Sie entwickelte sich schließlich zu einem Ausflugsziel nicht nur für bürgerliche Schichten, sondern ebenso für die Arbeiterschaft selbst.13 In der (post-)modernen Massengesellschaft fand eine Demokratisierung des touristischen Blicks statt,14 sind die Rollen von Beobachter und Beobachtetem austauschbar geworden.15 Jede Art von Arbeit barg das Potenzial, zum Objekt der touristischen Neugierde zu werden. Ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts warben Firmen offensiv für einen Besuch ihrer Werksanlagen. Die Fabrik wurde zu einem Ausflugsziel für Gäste aus jeder Gesellschaftsschicht. Arbeiter, die am Tag zuvor noch selbst an einem Fließband gestanden hatten, besichtigten in ihrer Freizeit zusammen mit ihrer Familie fremde Menschen in fremden Betrieben bei einer vergleichbaren oder völlig anderen Tätigkeit oder bisweilen sogar die eigenen Kollegen im eigenen Unternehmen.16 Nicht nur die Unternehmen, sondern ebenso die durch die Industrie geprägten Gemeinden begriffen den Industrietourismus als Mittel, gleichermaßen das Image aufzuwerten, als auch die Kasse zu füllen.17 In der Ära der

12 13 14 15 16 17

1994; Leo Marx: The Machine in the Garden. Technology and the Pastoral Ideal in America, London/Oxford/New York, NY, 3. Aufl. 1974. Vgl. Aron, Working at Play, S. 145. Vgl. zu diesem Aspekt auch MacCannell, The Tourist, S. 63, 65. Vgl. John Urry: Consuming Places, New York, NY 1995, S. 176. Vgl. MacCannell, The Tourist, S. 63. Vgl. Allison C. Marsh: The Ultimate Vacation: Watching Other People Work. A History of Factory Tours in America, Diss. Universität Baltimore, MD 2008. Die Siegener Zeitung berichtete beispielsweise im Jahr 1969 über die Möglichkeit, „ein Industriegebiet dem Fremdenverkehr zugänglich zu machen“, indem „zur Attraktion der Gäste gegebenenfalls Führungen durch den einen oder den anderen Betrieb organisiert werden könnten.“ In Siegener

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

406

Schlussbetrachtung

Pauschalreise nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Fabriktourismus ebenfalls zum vollständig standardisierten Ereignis, ohne seinen Zauber einzubüßen. Eine neue Stufe der Umwertung der Fabrik als touristische Attraktion setzte in Deutschland ebenso wie in anderen westlichen Industrieländern im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein. In dieser Phase wurden viele Fabrikanlagen der Schwerindustrie von den Unternehmen aufgegeben und einige Jahre später als Stätten der Industriekultur und damit neuer touristischer Attraktion wiedergeboren.18 Zu ‚Kathedralen der Arbeit‘ erklärt, erreichten die Fabriken dann nicht nur den bislang letzten Höhepunkt ihrer Umdeutung als – nunmehr ausschließlich – touristische Orte, sondern die endgültige Weihe als Bildungs- und Kulturgüter einer nun wahrhaft sozial inklusiven neuen ‚Leisure Class‘.

Hotels bleiben viele Schlafstätten leer. Reicht die Zahl der Fremdenbetten aus? – Experten geben die Antwort – Umstellung auf Tourismus steht im Vordergrund, in: Siegener Zeitung, 26.04.1969. Vgl. auch Angela Schwarz: „Urlaub machen, wo andere arbeiten“? Die Anfänge von Fremdenverkehrswerbung und Regionalmarketing im Siegerland (1950–1975), in: Diagonal, Jg. 2013: Schaut auf diese Region! Südwestfalen als Fall und Typ, S. 85–109, bes. S. 94–105. 18 Vgl. für die Analyse dieser Entwicklung Angela Schwarz: Industriekultur, Image und Identität im Ruhrgebiet. Oder: Die umstrittene Frage nach dem Strukturwandel in den Köpfen, in: dies. (Hrsg.): Industriekultur, Image, Identität. Die Zeche Zollverein und der Wandel in den Köpfen, Essen 2008, S. 17–67.

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

Die Konstruktion des ‚Fabriktouristen‘

407

Anhang

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

408

Anhang

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

409

Anhang

Abkürzungsverzeichnis BA Bayer AG, Corporate History & Archives BLHA Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam SDTB Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Berlin HAK Historisches Archiv Krupp, Essen HAT Historisches Archiv zum Tourismus, Berlin HDEG/Stadtarchiv Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv, Essen HStAS Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Stuttgart Mercedes-Benz Classic Archive, Stuttgart MBCA RWWA Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Köln WABW Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart WWA Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund

Quellenverzeichnis Veröffentlichungen in zeitgenössischen Zeitschriften und Zeitungen [externe] AEG-Zeitung, Jg. 1, Nr. 1, 1899–Jg. 16, Nr. 12, 1914 [interne] AEG-Zeitung, Jg. 7. Nr. 1, 1905 Allgemeine Automobil-Zeitung, Jg. 10, Bd. 1, Nr. 14, 1909 (Wiener Ausgabe) Das Buch für Alle. Illustrirte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann, Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart/Berlin/Leipzig, Jg. 14, 1880–Jg. 58, 1914 Deutsche Nähmaschinen-Zeitung, Jg. 47, 15.11.1922 Deutsche Rundschau, Bd. 8, 1876 Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe, Jg. 1, Nr. 3, 20.01.1895 National-Zeitung, Nr. 200, 30.04.1900 Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt, Verlag Ernst Keil, Leipzig/Stuttgart 1853, 1880–1914 Illustrirte Welt. Blätter aus Natur und Leben, Wissenschaft und Kunst zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, Jg. 28, 1880–Jg. 72, 1914

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

410

Anhang

Illustrirte Zeitung, Verlag J.J. Weber, Leipzig, Bd. 74, 1880–Bd. 143, 1914 Magdeburgische Zeitung 09.10.1890 Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, Jg. 1, Bd. 1, 1858/1859; Jg. 22, Bd. 43, 1879/1880–Jg. 57, Bd. 114, 1914/1915 Westermann’s illustrirte deutsche Monats-Hefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart, Westermann, Braunschweig, Jg. 25, 1880–Jg. 59, 1914 Reise- und Fabrikführer AEG (Hrsg.): Apparate-Fabrik, Berlin o.J., SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 702 Dies.: Fabriken Brunnenstrasse, Hygienemuseum, Berlin [1914], SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 06904 Dies.: Kabelwerk Oberspree, Berlin 1913, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: I.2.060 P 7019 Dies.: Maschinenfabrik, Berlin [1914], SDTB, Bestand: AEG, Signatur: I.2.060 P 07015 Dies.: Turbinenfabrik, Berlin o.J., SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 4268 Dies.: Zur Besichtigung der AEG-Fabriken, Berlin [1910], SDTB, Bestand: AEG, Signatur: I.2.060 P 07014 Baedeker, Karl: Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende, 10. Aufl., Leipzig 1898 Ders.: Berlin und Umgebung. Handbuch für Reisende, 18. Aufl., Leipzig 1914 Ders.: Die Rheinlande. Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, 31. Aufl., Leipzig 1909 Ders.: Die Rheinlande. Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, 32. Aufl., Leipzig 1912 Ders.: Nordwest-Deutschland. Handbuch für Reisende, 27. Aufl., Leipzig 1902 Ders.: Nordwest-Deutschland. Handbuch für Reisende, 30. Aufl., Leipzig 1911 Ders.: Südbayern. Südbayern, Tirol, Salzburg, Ober- und Nieder-Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain, 24. Aufl., Leipzig 1890 Ders.: Südbayern. Südbayern, Tirol, Salzburg, Ober- und Nieder-Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain, 29. Aufl., Leipzig 1900 Ders.: Südbayern. Südbayern, Tirol, Salzburg, Ober- und Nieder-Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain, 34. Aufl., Leipzig 1910 Ders.: Süddeutschland. Oberrhein, Baden, Württemberg, Bayern und die angrenzenden Teile von Österreich, 27. Aufl., Leipzig 1901 Benz & Cie. (Hrsg.): Benz-Automobile, Mannheim 1913, MBCA, Bestand: Werk Mannheim, Signatur: I.2. Buchdruckerei der Gußstahlfabrik Fried. Krupp A.G. (Hrsg.): Führer durch die Wohlfahrtseinrichtungen der Gußstahlfabrik, Essen 1908

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

411

Quellenverzeichnis

Buchdruckerei des Krupp’schen Etablissements (Hrsg): Statistische Daten über die Gussstahlfabrik nebst den zugehörigen Berg- und Hüttenwerken, Essen 1877, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1877 Dies: Statistische Daten über die Gussstahlfabrik nebst den zugehörigen Berg- und Hüttenwerken, Essen 1883, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1883 Dies.: Statistische Daten über die Gussstahlfabrik nebst den zugehörigen Berg- und Hüttenwerken, Essen 1892, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur 3-1-1892 [Fabrik] Fried. Krupp (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1896, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1896 Dies.: Statistische Angaben, Essen 1900, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1900 Dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1902, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1902 Dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1905, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1905 Dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1906, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1906 Dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1909, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1909 Dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1911, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1911 Dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1913, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1913 Dies. (Hrsg.): Statistische Angaben, Essen 1914, HAK, Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen, Signatur: FK 3-1-1914 Maschinenbauanstalt Humboldt (Hrsg.): Führer durch die Maschinenbau-Anstalt Humboldt. 60 Jahre technische Entwicklung 1856–1916 [Köln 1919], RWWA, Bestand: Bibliothek, Signatur: XIVe 507 Graphische Anstalt der Gußstahlfabrik Fried. Krupp A.G., Essen (Hrsg.): Zum 100jährigen Bestehen der Firma Krupp und der Gussstahlfabrik zu Essen-Ruhr, Essen 1912 Gutehoffnungshütte (Hrsg.): Die Betriebe der Gutehoffnungshütte, Oberhausen 1913, RWWA, Bestand: 130 – Gutehoffnungshütte Aktienverein (GHH), Oberhausen, Signatur: 2204 Haniel & Lueg (Hrsg.): Denkschrift zur Feier des 25. Jahrestages der Betriebseröffnung des Werkes von Haniel & Lueg, Düsseldorf-Grafenberg, 12. Februar 1899, Düs-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

412

Anhang

seldorf 1899, RWWA, Bestand: 130 – Gutehoffnungshütte Aktienverein (GHH), Oberhausen, Signatur: 2220 Murray, John: A Handbook for Travellers on the Continent. Being a Guide to Holland, Belgium, Prussia, Northern Germany, and the Rhine from Holland to Switzerland, 12. Aufl., London 1858 Routledge’s Jubilee Guide to London and its Suburbs, London 1887 Weitere veröffentlichte Quellen Diderots Enzyklopädie. Die Bildtafeln 1762–1777, Erster Band, bearb. von Gerd Zill, Augsburg 1996 Baedeker, Diedrich: Alfred Krupp und die Entwicklung der Gussstahlfabrik zu Essen. Nach authentischen Quellen dargestellt von Diedrich Baedeker, Essen 1889 Bahr, Hermann: Zur Kritik der Moderne, Weimar 2004 (Erstausgabe 1890) Baum, Marie: Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950 Chaplin, Charles (Regie): Modern Times, USA 1936 Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft in Posen (Hrsg.): Vereinssatzung, Posen [1901], in: Poznan Foundation of Scientific Libraries (Hrsg.): Wielkopolska Biblioteka Cyfrowa (Großpolnische digitale Bibliothek), 21.06.2006, URL: http:// www.wbc.poznan.pl/publication/25792 (Stand: 01.09.2019) Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, Leipzig 1845 Forster, Edward Morgan: A Room with a View, London 1908 Gaskell, Elizabeth: North and South (The Works of Elizabeth Gaskell, Bd. 7) Neudruck, London 2007 (englische Erstausgabe 1855) Göhre, Paul: Das Warenhaus, Frankfurt am Main 1907 Gutzkow, Karl: Die Bühne der Gegenwart, in: ders. (Hrsg.): Unterhaltungen am häuslichen Herd. Neue Folge, Zweiter Band, Leipzig 1857, S. 446f. Jussen, Bernhard (Hrsg.): Liebig’s Sammelbilder. Vollständige Edition aller 1138 Serien (Atlas des Historischen Bildwissens, Bd. 1), 2 CD-Roms, Berlin 2002 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Berlinische Monatsschrift, Jg. 4, Nr. 12, 1784, S. 481–494 Koepper, Gustav: In Plutos Reich. Wanderungen durch Schacht und Hütte im Rheinisch-Westfälischen Industriebezirk, Berlin 1899 Lang, Fritz (Regie): Metropolis, Deutschland 1927 Löbker, Gerhard: Wanderungen durch das Ruhrthal, Münster 1852 Luther, Bernhard: Wanderungen durch den Rheinisch-westfälischen Industriebezirk, Berlin 1913 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), hrsg. von Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2005 (Erstausgabe 1932)

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

413

Quellenverzeichnis

Meloney, William Brown: Slumming in New York’s Chinatown. A Glimpse into the Sordid Underworld of the Mott Street Quarter, where Elsie Sigel Formed Her Fatal Associations, in: Munsey’s Magazine, Bd. 41, Nr. 6, 1909, S. 818–830 Müller, Friedrich C.G.: Krupp’s Gussstahlfabrik, Düsseldorf 1896 Mumford, John Kimberly: This Land of Opportunity. The Heart of a „Soulless Corporation“, in: Harper’s Weekly. A Journal of Civilization, Nr. 11, 1908, S. 22–24, Nr. 18, 1908, S. 22f. Paquet, Alfons: Das Ausstellungsproblem in der Volkswirtschaft, Jena 1908 Pieler, Franz Ignaz: Das Ruhrthal. Reise auf der Ruhrthal-Eisenbahn mit Ausflügen in die Umgegend, Werl 1983 (unveränderter Nachdruck der Ausgaben von 1881) Ders.: Reisen auf der Cöln-Mindener Eisenbahn und zur Seite derselben. Ein Beitrag zur Vaterlandskunde, in: F.X. Hoeg (Hrsg.): Jahresbericht über das königl. Laurentianum zu Arnsberg, Arnsberg 1856, S. 17–48 Rivera, Diego: Detroit Industry Murals, Südwand, Fresko, Detroit Institute of Art, Rivera Court, Detroit, MI 1932–33 Schücking, Levin: Von Minden nach Köln. Schilderungen und Geschichten (Brockhaus’ Reise-Bibliothek für Eisenbahnen und Dampfschiffe), Leipzig 1856 Sinclair, Upton: The Jungle, New York, NY 1906 Sombart, Werner: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München, Leipzig 1913 Walther & Co.: Stabil-Vorlagenheft, Berlin 1957 Zimmermann, Ad[olf ]: Von Haspe nach Duisburg. Industrielle Reisebriefe, Berlin 1912 Unveröffentlichte Quellenbestände Bayer AG, Corporate History & Archives (BA), Bestand: 111-6.1 – Farbstoffe, Allgemeines 1887–1909; Bestand: 192-1.1 – Werksbesichtigungen, Bestimmungen und Richtlinien für Besucher der Bayer Werke, Bd. I (1902–1966); Bestand: 192-2 – Werksbesichtigungen, Allgemeines, Bd. I (1903–1958); Bestand: 192-3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908); Bestand: 221-2 – Sozialabteilung Leverkusen Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Bestand: Rep. 30 – Polizeidirektorium/-präsidium Potsdam – Akten (1790–1945) Deutsches Technikmuseum Berlin (SDTB), Bestand: I.2.060 A 06.08 – FA AEGTelefunken, Technisch-Literarische Abteilung, Verschiedenes; Bestand: V. – Bildersammlung; Bestand: VI.1.004 – Fotosammlung Borsig Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS), Bestand: E 146 III Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv (HDEG/Stadtarchiv), Bestand: Historisches Bildarchiv, Postkarten

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

414

Anhang

Historisches Archiv Krupp (HAK), Bestand: S 2 – Krupp Drucksachen: Allgemeine Sammlungen; Bestand: S 6 – Bildpostkarten; Bestand: WA 4 – Altbestände (Pertinenzbestände), Akten; Bestand: FAH 2 – Friedrich Alfred Krupp (1854–1902) und seine Frau Margarethe, geb. Freiin von Ende (1854–1931); Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1 Sammlung Hildegard Paus, Bestand: Postkartensammlung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv (RWWA), Bestand: 130 – Gutehoffnungshütte Aktienverein (GHH), Oberhausen; Bestand: 280 – Stollwerck AG, Köln Westfälisches Wirtschaftsarchiv (WWA), Bestand: F 81 – Gussstahl-Werk Witten; Bestand: F 55 – D.H. Rump & Söhne, Drahtindustrie, Altena Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg (WABW), Bestand: B 46 – Paul Hartmann AG

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

415

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis Abels, Heinz: Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, 2., überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden 2010 Adler, Judith: Travel as Performed Art, in: The American Journal of Sociology, Bd. 95, Nr. 6, 1989, S. 1366–1391 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973 Albers, Patricia C./James, William R.: Travel Photography. A Methodological Approach, in: Annals of Tourism Research, Bd. 15, Nr. 1, 1988, S. 134–158 Ames, Eric: Wilde Tiere. Carl Hagenbecks Inszenierung des Fremden, in: Alexander Honold/Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen (Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Beiheft, Bd. 2), Bern/ Berlin/Brüssel/Frankfurt am Main/New York, NY/Oxford/Wien 1999, S. 123–148 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 14. Aufl., London 2006 (englische Erstausgabe 1983) Anhalt, Utz: Tiere und Menschen als Exoten. Die Exotisierung des „Anderen“ in der Gründungs- und Entwicklungsphase der Zoos, Saarbrücken 2008 Apel, Claus: Gestalt- und Aussagewandlungen des illustrierten Firmenbriefkopfes im 19. Jahrhundert, in: Bernard Korzus (Hrsg.): Fabrik im Ornament. Ansichten auf Firmenbriefköpfen des 19. Jahrhunderts, Münster 1980, S. 84–98 Aron, Cindy S.: Working at Play. A History of Vacations in the United States, Oxford 2001 Augustine, Dolores L.: Arriving in the Upper Class. The Wealthy Business Elite of Wilhelmine Germany, in: David Blackbourn/Richard J. Evans (Hrsg.): The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century, London/New York, NY 1993, S. 46–85 Bachleitner, Reinhard: Erlebniswelten. Faszinationskraft, gesellschaftliche Bedingungen und mögliche Effekte, in: ders./Max Rieder/Jürgen Kagelmann (Hrsg.): ErlebnisWelten. Zur Kommerzialisierung der Emotionen in touristischen Räumen und Landschaften, München/Wien 1998, S. 43–57 Bachmann-Medick, Doris: Spatial Turn, in: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe, 4. Aufl., Stuttgart 2008, S. 664f. Bäker, Rolf: Bürgertum und Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert. Analysen zu sozialpolitischen Zeitschriftenbeiträgen in der Phase der Hochindustrialisierung Deutschlands, Frankfurt am Main/Bern/New York, NY/Paris 1990

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

416

Anhang

Baerenholdt, Joergen Ole/Framke, Wolfgang/Larsen, Jonas/Haldrup, Michael/Urry, John: Performing Tourist Places, Aldershot 2004 Bätschmann, Oskar: Beiträge zu einem Übergang von der Ikonologie zu kunstgeschichtlicher Hermeneutik, in: Ekkehard Kaemmerling (Hrsg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme, Köln 1979, S. 460–484 Balme, Christopher B.: Schaulust und Schauwert. Zur Umwertung von Visualität und Fremdheit um 1900, in: Hans-Peter Bayerdörfer/Bettina Dietz/Frank Heidemann/Paul Hempel (Hrsg.): Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert (Kulturgeschichtliche Perspektiven, Bd. 5), Berlin 2007, S. 63–78 Baratay, Eric/Hardouin-Fugier, Elisabeth: Zoo. A History of Zoological Gardens in the West, London 2004 Bartels, Klaus: Über das Technisch-Erhabene, in: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 295–318 Barth, Dieter: Das Familienblatt – ein Phänomen der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts. Beispiele zur Gründungs- und Verlagsgeschichte, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 15, 1975, Sp. 121–316 Ders.: Zeitschrift für alle. Das Familienblatt im 19. Jahrhundert. Ein sozialhistorischer Beitrag zur Massenpresse in Deutschland, Münster 1974 Barthes, Roland: Der Eiffelturm, München 2000 (französische Erstausgabe 1964) Ders.: Mythen des Alltags, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1970 (französische Erstausgabe 1957) Bausinger, Hermann: Bürgerlichkeit und Kultur, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 121–142 Becher, Ursula A. J.: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen – Wohnen – Freizeit – Reisen, München 1990 Beetham, Margaret: Towards a Theory of the Periodical as a Publishing Genre, in: Laurel Brake (Hrsg.): Investigating Victorian Journalism, Basingstoke 1990, S. 19–31 Belgum, Kirsten: Popularizing the Nation. Audience, Representation, and the Production of Identity in Die Gartenlaube, 1853–1900, London 1998 Belting, Hans: Das Werk im Kontext, in: ders./Heinrich Dilly/Wolfgang Kemp/Willibald Sauerländer/Martin Warnke: Kunstgeschichte. Eine Einführung, 7. Aufl., Berlin 2008, S. 229–246 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V/1: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1982 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 20. Aufl. (unveränderter Abdruck der 5. Auflage 1977), Frankfurt am Main 2004 (englische Erstausgabe 1967)

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

417

Literaturverzeichnis

Berghoff, Hartmut: „Dem Ziele der Menschheit entgegen“. Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hrsg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 47–78 Ders.: Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich. Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten, in: Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland, Bd. I: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 233–272 Biggeleben, Christof: „Das Bollwerk des Bürgertums“. Die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920, München 2006 Bird, Dunlaith: Travelling in Different Skins. Gender Identity in European Women’s Oriental Travelogues, 1850–1950, Oxford 2012 Bitterli, Urs: Der ‚Edle Wilde‘, in: Thomas Theye (Hrsg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek 1985, S. 271–287 Ders.: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnungen, München 1976 Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1962 (Erstausgabe 1935) Bluma, Lars: Progress by Technology? The Utopian Linkage of Telegraphy and the World Fairs, 1851–1880, in: M. Michaela Hampf/Simone Müller-Pohl (Hrsg.): Global Communication Electric. Business, News and Politics in the World of Tele­ graphy, Frankfurt am Main/New York, NY 2013, S. 146–169 Bogdan, Robert: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit, Chicago, IL/London 1990 Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1994 Boorstin, Daniel J.: The Image. A Guide to Pseudo-Events in America, New York, NY 1977 Borsdorf, Ulrich/Schneider, Sigrid: Ein gewaltiger Betrieb. Fabrik und Stadt auf den Kruppschen Fotografien, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 123–158 Böhme, Hartmut: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des „Menschenfremdesten“, in: Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 119–141 Bösch, Frank: Zwischen Populärkultur und Politik. Britische und deutsche Printmedien im 19. Jahrhundert, Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 45, 2005, S. 549–584 Bourdieu, Pierre: Antworten auf einige Einwände, in: Klaus Eder (Hrsg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt am Main 1989, S. 395–410 Ders.: La Distinction. Critique Sociale du Jugement, Paris 1979

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

418

Anhang

Ders.: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198 Ders.: Soziologie symbolischer Formen, Frankfurt am Main 1991 Brandt, Paul: Schaffende Arbeit und Bildende Kunst, Leipzig 1928 Braun, Rudolf: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 87–95 Brenner, Peter J.: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1991 Brilli, Attilio: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die „Grand Tour“, 2. Aufl., Berlin 2001 Brown, Dona: Inventing New England. Regional Tourism in the Nineteenth Century, Washington, DC/London 1995 Brüggemeier, Franz-Josef/Rommelspacher, Thomas: Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840–1990, Essen 1992 Ders./Toyka-Seid, Michael (Hrsg.): Industrie-Natur. Lesebuch zur Geschichte der Umwelt im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York, NY 1995 Bucher, Hans-Jürgen: Mehr als Text mit Bild. Zur Multimodalität der Illustrierten Zeitungen und Zeitschriften im 19. Jahrhundert, in: Natascha Igl/ Julia Menzel (Hrsg.): Illustrierte Zeitschriften um 1900. Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016, S. 26–73 Budde, Gunilla: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009 Buddemeier, Heinz: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970 Burke, Peter: Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: Ulrich Raulff (Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 127–145 Burke, Peter: Eyewitnessing: The Uses of Images as Historical Evidence, London 2001 Burkhardt, Johannes: Das Verhaltensleitbild „Produktivität“ und seine historischanthropologische Voraussetzung, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Bd. 25, Nr. 2–3, 1974, S. 277–289 Buttlar, Adrian von: Der Landschaftsgarten, Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989 Buzard, James: The Beaten Track. European Tourism, Literature, and the Ways to Culture, 1800–1918, 2. Aufl., New York, NY 1993 Chalmers, David Mark: The Social and Political Ideas of the Muckrakers, 2. Aufl., Freeport, NY 1970 Chartier, Roger: Intellektuelle Geschichte und Geschichte der Mentalitäten, in: Ulrich

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

419

Literaturverzeichnis

Raulff (Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 69–96 Ders.: Social Figuration and Habitus. Reading Elias, in: ders. (Hrsg.): Cultural History. Between Practices and Representations, New York, NY 1988, S. 71–94 Christin, Olivier: Geschichtswissenschaften und Bourdieu, in: Catherine Colliot-Thélène/Etienne Francois/Gunter Gebauer (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Deutsch-französische Perspektiven, Berlin 2005, S. 195–207 Ciolina Erhard/Ciolina, Evamaria: Garantiert aecht. Das Reklame-Sammelbild als Spiegel der Zeit, München 1987 Dies.: Reklamebilder, München 2000 Clifford, James: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, 2. Aufl., Cambridge, MA 1997 Cocks, Catherine: Doing the Town. The Rise of Urban Tourism in the United States, 1850–1915, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 2001 Conze, Eckart/Wienfort, Monika: Einleitung. Themen und Perspektiven historischer Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/Köln/ Weimar 2004, S. 1–16 Corbey, Raymond: Ethnograpic Showcases 1880–1930, in: Cultural Anthropology, Bd. 8, Nr. 3, 1993, S. 338–369 Coupland, Nikolas/Jaworski, Adam: Discourse, in: Paul Cobley (Hrsg.): The Routledge Companion to Semiotics and Linguistics, London 2001, S. 134–148 Cutlip, Scott M.: Public Relations History. From the 17th to the 20th Century, Hillsdale, NJ/Hove 1995 Daum, Andreas: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, 2. Aufl., München 2002 Davis, John R.: The Great Exhibition, Stroud 1999 Davison, Graeme: Exhibitions, in: Australian Cultural History, Nr. 2, 1982/83, S. 5–21 Dewitz, Bodo von: „Die Bilder sind nicht teuer und ich werde Quantitäten davon machen lassen!“ Zur Entstehungsgeschichte der Graphischen Anstalt, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 41–66 Dinzelbacher, Peter: Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, in: ders. (Hrsg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. XVII–XLIII Döcker, Ulrike: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York, NY 1994

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

420

Anhang

Doerry, Martin: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim/München 1986 Döring, Jörg: Spatial Turn, in: Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 90–99 Ders./Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kulturund Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008 Dreesbach, Anne: „Neu! Grösste Sehenswürdigkeit! Neu! Zum ersten Male in München!“. Exotisches auf dem Münchner Oktoberfest zwischen 1890 und 1911, in: dies./Helmut Zedelmaier (Hrsg.): „Gleich hinterm Hofbräuhaus waschechte Amazonen“. Exotik in München um 1900, München/Hamburg 2003, S. 9–34 Dies.: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940, Frankfurt am Main 2005 Dürbeck, Gabriele: Samoa als inszeniertes Paradies. Völkerausstellungen um 1900 und die Tradition der populären Südseeliteratur, in: Cordula Grewe (Hrsg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft (Transatlantische Historische Studien, Bd. 26), Stuttgart 2006, S. 69–94 Durkheim, Emile: Représentations Individuelles et Représentations Collectives, in: Revue de Metaphysique et de Morale, Bd. 6, 1898, S. 273–302 Edensor, Tim: Staging Tourism. Tourists as Performers, in: Annals of Tourism Research, Bd. 28, Nr. 2, 2000, S. 322–344 Eibach, Joachim: Annäherung – Abgrenzung – Exotisierung. Typen der Wahrnehmung ‚des Anderen‘ in Europa am Beispiel der Türken, Chinas und der Schweiz (16. bis frühes 19. Jahrhundert), in: ders./Horst Carl (Hrsg.): Europäische Wahrnehmungen, 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse (The Formation of Europe/Historische Formationen Europas, Bd. 3), Hannover 2008, S. 13–73 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie 2007 Ders.: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Zivilisation, 17. Aufl., Frankfurt am Main 1992 (Erstausgabe 1976) Elkar, Rainer S.: Auf der Walz. Handwerkerreisen, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 57–61 Engelhardt, Ulrich: Bildungsbürgertum. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986 Enzensberger, Hans Magnus: Eine Theorie des Tourismus (1958), in: ders. (Hrsg.): Bewußtseins-Industrie, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1976, S. 179–206 Epple, Angelika: Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikrogeschichte der Globalisierung, Frankfurt am Main 2010

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

421

Literaturverzeichnis

Fehrenbach, Elisabeth: Bürgertum und Liberalismus. Die Umbruchsperiode 1770– 1815, in: Lothar Gall (Hrsg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, S. 1–62 Feldman, Gerald D.: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen, 1870–1924, München 1998 Fiebach, Joachim: Audiovisuelle Medien, Warenhäuser und Theateravantgarde, in: Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): TheaterAvantgarde. Wahrnehmung – Körper – Sprache, Tübingen/Basel 1995, S. 15–57 Fischer, Ludwig: Das Erhabene und die ‚feinen Unterschiede‘. Zur Dialektik in den sozio-kulturellen Funktionen von ästhetischen Deutungen der Landschaft, in: Rolf Wilhelm Brednich/Annette Schneider/Ute Werner (Hrsg.) Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, Münster 2001, S. 347–357 Ders.: Perspektive und Rahmung. Zur Geschichte einer Konstruktion von ‚Natur‘, in: Harro Segeberg (Hrsg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films, Bd. 1), München 1996, S. 69–96 Fischer-Lichte, Erika: Rite de passage im Spiel der Blicke, in: Kerstin Gernig (Hrsg.): Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in europäischen Diskursen, Berlin 2001, S. 296–315 Dies.: Theatralität und Inszenierung, in: dies. (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität (Theatralität, Bd. 1), 2. Aufl., Tübingen 2007, S. 9–28 Flechtner, Hans-Joachim: Carl Duisberg. Eine Biographie, München 1984 Fleiß, Daniela: Die Fabrik als Wissensraum. Bürgerliche Raum- und Wirklichkeitskonstruktionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Dorit Müller/Sebastian Scholz (Hrsg.): Raum. Wissen. Medien. Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs, Bielefeld 2012, S. 59–83 Dies.: Bourgeois Tourism as a Discourse of Inclusion and Exclusion. The Tourist Gaze in late 19th Century Germany, in: International Journal of Tourism Anthropology, Bd. 4, Nr. 3, 2015, S. 219–237 Dies./Strelow, Dörte: Urlaub im Schatten des Förderturms. Industriekultur als Tourismusattraktion und Hoffnungsträger, in: Angela Schwarz (Hrsg.): Industriekultur, Image, Identität. Die Zeche Zollverein und der Wandel in den Köpfen, Essen 2008, S. 221–260 Frank, Gustav/Podewski, Madleen/Scherer, Stefan: Kultur – Zeit – Schrift. Literaturund Kulturzeitschriften als „kleine Archive“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 34, H. 2, 2009, S. 1–45 Freiesleben, Dietmar: Kleine Welt und große Technik: Spielzeugeisenbahnen, in: Beate Hobein (Hrsg.): Traumland Technik. Technisches Spielzeug zwischen Industrialisierung und Gesellschaft, Essen 1991, S. 26–29

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

422

Anhang

Freller, Thomas: Adlige auf Tour. Die Erfindung der Bildungsreise, Ostfildern 2007 Frevert, Ute: „Fürsorgliche Belagerung“. Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 11, H. 4, 1985, S. 420–446 Dies.: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48 Dies.: Die Gesellschaft der Ehrenmänner. Duelle im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1991 Frey, Manuel: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland 1760–1860, Göttingen 1997 Friedmann, Georges: Problèmes Humains du Machinisme Industriel, Paris 1946 Friedrich, Thomas/Schweppenhäuser, Gerhard: Bildsemiotik. Grundlagen und exem­ plarische Analysen visueller Kommunikation, Basel 2010 Frysztacka, Clara: Zeit-Schriften. Die Konstruktion der historischen Zeit in der Moderne am Beispiel der polnischsprachigen Wochenpresse ‚für viele‘ am Ende des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts, phil. Diss. Universität Siegen 2018 Dies./Herborn, Klaus/Palli, Martina/Scheidt, Tobias: Kolumbus transnational: Verflochtene Geschichtskulturen und europäische Medienlandschaften im Kontext des 400. Jubiläums der Entdeckung Amerikas 1892, in: Journal of Modern European History, Jg. 15, H. 3, 2017, S. 419–447 Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz 2005 Funck, Marcus/Malinowski, Stephan: Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie, Bd. 7, 1999, S. 236–270 Gall, Lothar: „…ich wünschte ein Bürger zu sein“. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 245, H. 3, 1987, S. 601–623 Ders.: Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989 Ders.: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000 Ders.: Liberalismus und „Bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, in: Historische Zeitschrift, Bd. 220, H. 2, 1975, S. 324–356 Ders.: Selbständigkeit und Partizipation. Zwei Leitbegriffe der frühen bürgerlich-liberalen Bewegung in Deutschland, in: Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 291–302 Ders. (Hrsg.): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

423

Literaturverzeichnis

Ders.: Walter Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009 Gaus, Detlef: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800, Stuttgart/Weimar 1998 Gebhardt, Hartwig: Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer wenig erforschten Pressegattung, in: Buchhandelsgeschichte (Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel), Jg. 10, H. 2, 1983, S. 41–65 Ders.: Kollektive Erlebnisse. Zum Anteil der illustrierten Zeitschriften im 19. Jahrhundert an der Erfahrung des Fremden (1834–1900), in: Ina M. Greverus/Konrad Köstlin/Heinz Schilling (Hrsg.): Kulturkontakt – Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden, Bd. 2, Frankfurt am Main 1988, S. 517–544 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987 Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Stuttgart 1967 Georg, Werner: Lebensstile in der Freizeitforschung. Ein theoretischer Bezugsrahmen, in: Christiane Cantauw (Hrsg.): Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Bd. 88), Münster/New York, NY 1995, S. 13–20 Geppert, Alexander C. T.: Exponierte Identitäten? Imperiale Ausstellungen, ihre Besucher und das Problem der Wahrnehmung, 1870–1930, in: Ulrike von Hirschhausen/Jörn Leonhard (Hrsg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 181–203 Geulen, Christian: „Center Parcs“. Zur bürgerlichen Einrichtung natürlicher Räume im 19. Jahrhundert, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 257–282 Ghose, Indira: Women Travellers in Colonial India: The Power of the Female Gaze, 2. Aufl., Oxford 1999 Gilbert, David/Hancock, Claire: New York City and the Transatlantic Imagination. French and English Tourism and the Spectacle of the Modern Metropolis, 1893– 1939, in: Journal of Urban History, Bd. 33, Nr. 1, 2000, S. 77–107 Gilcher-Holtey, Ingrid: Gegen Strukturalismus, Pansymbolismus und Pansemiologie. Pierre Bourdieu und die Geschichtswissenschaft, in: Catherine Colliot-Thélène/ Etienne Francois/Gunter Gebauer (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Deutsch-französische Perspektiven, Berlin 2005, S. 179–194 Dies.: Kulturelle und symbolische Praktiken. Das Unternehmen Pierre Bourdieu, in: Wolfgang Hardt­wig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 111–130

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

424

Anhang

Gilhaus, Ulrike: „Schmerzenskinder der Industrie“. Umweltverschmutzung, Umweltpolitik und sozialer Protest im Industriezeitalter in Westfalen 1845–1914 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 12), Paderborn 1995 Glaser, Hermann: Das deutsche Bürgertum. Zwischen Technikphobie und Technik­ euphorie, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 25–41 Goblot, Edmond: Klasse und Differenz. Soziologische Studie zur modernen französischen Bourgeoisie, Konstanz 1994 (französische Erstausgabe 1925) Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 4. Aufl., München 2003 (englische Erstausgabe 1959) Gold, Helmut: Wege zur Weltausstellung, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 320–326 Goldmann, Stefan: Wilde in Europa. Aspekte und Orte ihrer Zurschaustellung, in: Thomas Theye (Hrsg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek 1985, S. 243–269 Gorsemann, Sabine: Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung. Produktion, Aufbau und Funktion von Reiseführern, Münster 1996 Graf, Andreas/Pellatz, Susanne: Familien- und Unterhaltungszeitschriften, in: Georg Jäger (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd.1: Das Kaiserreich 1871–1918, Teil 2, Frankfurt am Main 2003, S. 409–447, 460–522 Ders. (unter Mitarbeit von Susanne Graf ): Die Ursprünge der modernen Medienindustrie: Familien- und Unterhaltungszeitschriften der Kaiserzeit (1870–1918), in: Karl-Heinz Remy (Hrsg.): ABLIT. Abenteuer-Literatur, URL: http://www. zeitschriften.ablit.de/graf/g1.pdf (Stand: 01.09.2019), S. 21–28 Grenier, Katherine Haldane: Tourism and Identity in Scotland, 1770–1914. Creating Caledonia, Aldershot 2005 Groh, Dieter/Groh, Ruth: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung, in: Heinz-Dieter Weber (Hrsg.): Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 53–95 Großbölting, Thomas: „Im Reich der Arbeit“. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 (Ordnungssysteme, Bd. 21), München 2008 Ders.: Die Ordnung der Wirtschaft. Kulturelle Repräsentation in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen des 19. Jahrhunderts, in: Hartmut Berghoff/ Klaus Vogel (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main/New York, NY 2004, S. 377–403 Grosser, Thomas: Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bürgerliche

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

425

Literaturverzeichnis

Bildungsreise, in: Michael Maurer (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 135–176 Grütter, Heinrich Theodor (Hrsg.): 200 Jahre Krupp. Ein Mythos wird besichtigt, Essen 2012 Günther, Dagmar: Wandern und Sozialismus. Zur Geschichte des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, Bd. 30), Hamburg 2003 Gunn, Simon: The Spatial Turn. Changing Histories of Space and Place, in: ders./ Robert J. Morris (Hrsg.): Identities in Space. Contested Terrains in the Western City since 1850, Aldershot 2001, S. 1–14 Gyr, Ueli: Touristenkultur und Reisealltag. Volkskundlicher Nachholbedarf in der Tourismusforschung, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 85, H. 2, 1988, S. 224–240 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981 Habermas, Rebekka: Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollen. Debatten um 1890 oder „Cacatum non est pictum!“, in: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hrsg.): Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armen“ in Geschichte und Gegenwart, Freiburg/Berlin/Wien 2008, S. 97–122 Habinger, Gabriele: Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationen von reisenden Europäerinnen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Wien 2006 Dies.: Ida Pfeiffer. Eine Forschungsreisende des Biedermeier (Feministische Theorie, Bd. 44), Wien 2004 Hackl, Wolfgang: Eingeborene im Paradies. Die literarische Wahrnehmung des alpinen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 100), Tübingen 2004 Haller, Michael: Die Reportage, 6. Aufl., Konstanz 2008 Halbwachs, Maurice: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003 (französische Erstausgabe 1941) Hall, Stuart: The Work of Representation, in: ders.: Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 15–63 Hallenberger, Dirk: Industrie und Heimat. Eine Literaturgeschichte des Ruhrgebiets, Essen 2000 Haltern, Utz: Bürgerliche Gesellschaft. Sozialtheoretische und sozialhistorische Aspekte, Darmstadt 1985 Ders.: Die Londoner Weltausstellung von 1851. Ein Beitrag zur Geschichte der bürgerlich-industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Neue münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 13), Münster 1971 Hamalian, Leo (Hrsg.): Ladies on the Loose. Women Travellers of the 18th and 19th Centuries, New York, NY 1981

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

426

Anhang

Harnisch, Hartmut: Adel und Großgrundbesitz im ostelbischen Preußen 1800–1914, Berlin 1993 Hartung, Olaf: Museen des Industrialismus. Formen bürgerlicher Geschichtskultur am Beispiel des Bayerischen Verkehrsmuseums und des Deutschen Bergbaumuseums, Wien/Köln/Weimar 2007 Hausen, Karin: Arbeit und Geschlecht, in: dies. (Hrsg.): Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 238–254 Dies: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hrsg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 15–55 Dies.: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: dies. (Hrsg.): Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49 Heap, Chad: Slumming. Sexual and Racial Encounters in American Nightlife, 1885– 1940, Chicago, IL/London 2009 Heemann, Annegret: Männergesangsvereine im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur städtischen Musikgeschichte Münsters, Frankfurt am Main 1992 Hein, Dieter: Arbeit, Fleiß und Ordnung, in: Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 239–252 Ders./Schulz, Andreas: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, München 1996, S. 9–16 Heinrichs, Wolfgang E.: Das Judenbild im Protestantismus des Deutschen Kaiserreichs. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des deutschen Bürgertums in der Krise der Moderne, Köln 2000 Heller, Michael: British Company Magazines, 1878–1939. The Origins and Functions of House Journals in Large-Scale Organisations, in: Media History, Bd. 15, Nr. 2, 2009, S. 143–166 Hennig, Christoph: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt am Main 1997 Hennings, Gerd/Müller, Sebastian (Hrsg.): Kunstwelten. Künstliche Erlebniswelten und Planung, Dortmund 1998 Herbers, Klaus: Unterwegs zu heiligen Stätten. Pilgerfahrten, in: Hermann Bausinger/ Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 23–31 Herding, Klaus: Die Industrie als ‚zweite Schöpfung‘, in: Sabine Beneke/Hans Ottomeyer (Hrsg.): Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Berlin/Wolfratshausen 2002, S. 10–27

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

427

Literaturverzeichnis

Ders.: Industriebild und Moderne. Zur künstlerischen Bewältigung der Technik im Übergang zur Großmaschinerie (1830–1890), in: Helmut Pfeiffer/Hans Robert Jauß/Françoise Gaillard (Hrsg.): Art social und art industriell. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus, München 1987, S. 424–468 Herrmann, Klaus: Ingenieure auf Reisen. Technologieerkundung, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 297–304 Heß-Meining, Ulrike: Der Habitusbegriff. Ein soziologischer Ansatz zur Erfassung kollektiver Charaktere, Identitäten, Mentalitäten, in: Heinz Hahn (Hrsg.): Kulturunterschiede. Interdisziplinäre Konzepte zu kollektiven Identitäten und Mentalitäten, Frankfurt am Main 1999, S. 199–216 Hettling, Manfred: Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Peter Lundgreen (Hrsg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 18), Göttingen 2000, S. 319–339 Ders.: Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland, in: ders. (Hrsg.): Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 7–37 Ders./Nolte, Paul (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993 Dies.: Bürgerliche Feste als symbolische Politik im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 7–36 Hiebl, Ewald: Badestube und Wandelbahn. Salzburger Bädertourismus vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Hanns Haas/Robert Hoffmann/Kurt Luber (Hrsg.): Weltbühne und Naturkulisse. Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus, Salzburg 1994, S. 82–90 Hilger, Susanne: Sozialpolitik und Organisation (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beihefte, Bd. 94), Stuttgart 1996 Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hrsg.): The Invention of Tradition, 8. Aufl., Cambridge 2006 (englische Erstausgabe 1983) Hobein, Beate: Kleine Jungen, große Ingenieure. Baukästen, in: dies. (Hrsg.): Traumland Technik. Technisches Spielzeug zwischen Industrialisierung und Gesellschaft, Essen 1991, S. 30–32 Dies.: Rauchende Fabrikschlote und unbegrenzte Möglichkeiten. Dampfspielzeug, in: dies. (Hrsg.): Traumland Technik. Technisches Spielzeug zwischen Industrialisierung und Gesellschaft, Essen 1991, S. 23–25 Hofmann, Werner: Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., München 1974 Hölscher, Lucian: Bürgerliche Religiosität im protestantischen Deutschland des 19. Jahr-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

428

Anhang

hunderts, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe des Arbeitskreises für modernen Sozialgeschichte, Bd. 54), Stuttgart 1993, S. 191–215 Hollander, Anne: Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung, Berlin 1995 Holzer, Anton: Die Bewaffnung des Auges. Die Drei Zinnen oder eine kleine Geschichte vom Blick auf das Gebirge, Wien 1996 Holzer-Kernbichler, Monika/Martina Nußbaumer/Senarclens de Grancy, Antje/Stadler, Elisabeth/Stromberger, Monika/Uhl, Heidemarie/Wilding, Peter: Stadt(leit)bilder. Imaginationen und Konzepte der modernen Stadt um 1900, in: Moritz Csáky (Hrsg.): Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne (Gedächtnis – Erinnerung – Identität, Bd. 4), Innsbruck/Wien 2004, S. 129–163 Hong, Jean-Kyeong: Die Folgen der industriellen Revolution für die Baukunst. Der Entwicklungsprozess der neuen Bautypen zwischen Coalbrookdalebrücke 1779 und Eiffelturm 1889, Köln 1994 Huck, Gerhard: Der Reisebericht als historische Quelle, in: ders./Jürgen Reulecke (Hrsg.): …und reges Leben ist überall sichtbar! Reisen im Bergischen Land um 1800 (Bergische Forschungen. Quellen und Forschungen zur bergischen Geschichte, Kunst und Literatur, Bd. 15), Neustadt an der Aisch 1978, S. 27–44 Jaeger, Friedrich/Niefanger, Dirk: Moderne, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8: Manufaktur – Naturgeschichte, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 651–653, 661–663 Jäger, Hans-Wolf: Reisefacetten der Aufklärungszeit, in: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 261–281 Jäger, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt am Main 2009 James, Harold: Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen, München 2011 Johnson, Jeffrey Allan: Zweiter Teil. Die Macht der Synthese (1900–1925), in: Werner Abelshauser (Hrsg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 117–220 Jost, Erdmut: Wege zur Glückseligkeit. Sophie von La Roches Reisejournale 1784 bis 1786, Thalhofen 2007 Jütte, Robert: Geschichte der Sinne, München 2002 Junggeburth, Tanja: Stollwerck 1839–1932. Unternehmerfamilie und Familienunternehmen (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 225), Stuttgart 2014 Kagelmann, Jürgen: Erlebniswelten. Grundlegende Bemerkungen zum organisierten Vergnügen, in: ders./Max Rieder/Reinhard Bachleitner (Hrsg.): ErlebnisWelten. Zur Kommerzialisierung der Emotionen in touristischen Räumen und Landschaften, München/Wien 1998, S. 58–95

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

429

Literaturverzeichnis

Kajetzke, Laura/Schroer, Markus: Sozialer Raum, in: Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 192–203 Kalifa, Dominique: Das Gegenstück des Boulevards: La tournée des grands-ducs und der Elendstourismus, in: Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hrsg.): Haussmann und die Folgen. Vom Boulevard zur Boulevardisierung (edition lendemains, Bd. 25), Tübingen 2012, S. 67–80 Karentzos, Alexandra/Kittner, Alma-Elisa: Touristischer Raum. Mobilität und Imagination, in: Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 280–293 Kaschuba, Wolfgang: Aufbruch in die Welt der Moderne, in: Klaus Beyrer/Wolfgang Behringer (Hrsg.): Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600–1900, Karlsruhe 1992, S. 222–235 Ders.: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 2: Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, Göttingen 1995, S. 92–127 Ders.: Erkundung der Moderne. Bürgerliches Reisen nach 1800, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 87, H. 1, 1991, S. 29–52 Kaudelka-Hanisch, Karin: The Titled Businessman. Prussian Commercial Councillors in the Rhineland and Westphalia during the Nineteenth Century, in: David Blackbourn/Richard J. Evans (Hrsg.): The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century, London/New York, NY 1993, S. 87–114 Kaufman, Bruce E.: Managing the Human Factor. The Early Years of Human Resource Management in American Industry, Ithaca, NY 2008 Kaufmann, Gerhard: Die Postkarte im Spiegel der Kultur und Gesellschaft, in: ders./ Robert Lebeck (Hrsg.): Viele Grüße… Eine Kulturgeschichte der Postkarte, Dortmund 1985, S. 399–437 Kessel, Martina: „Der Ehrgeiz setzte mir heute wieder zu…“ Geduld und Ungeduld im 19. Jahrhundert, in: Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 129–148 Kidd, Christopher: Inventing the ‚Pygmy‘. Representing the ‚Other‘, Presenting the ‚Self‘, in: History and Anthropology, Bd. 20, Nr. 4, 2009, S. 395–418 Kiecol, Daniel: Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen. Paris und Berlin zwischen 1900 und 1930, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Brüssel/New York, NY/ Oxford/Wien 2001 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1998 Dies./Bruner, Edward M.: Tourism, in: Richard Bauman (Hrsg.): Folklore, Cultural

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

430

Anhang

Performances, and Popular Entertainments. A Communications-centered Handbook, Oxford 1992, S. 300–307 Klemm, Volker: Die Agrarwissenschaften und die Modernisierung der Gutsbetriebe in Ost- und Mitteldeutschland, in: Heinz Reif (Hrsg.): Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise – junkerliche Interessenpolitik – Modernisierungsstrategien, Berlin 1994, S. 173–190 Kleinschmidt, Christian: Technik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Enzy­ klopädie Deutscher Geschichte, Bd. 79), München 2007 Knebel, Hans-Joachim: Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, Stuttgart 1960 Knoch, Habbo: Das Stahlwerk, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hrsg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York, NY 2005, S. 163–173 Ko, Jae-Baek: Wissenschaftspopularisierung und Frauenberuf. Diskurs um Gesundheit, hygienische Familie und Frauenrolle im Spiegel der Familienzeitschrift. Die Gartenlaube in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2008 Kocka, Jürgen (Hrsg.): Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München 1986 Ders. (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987 Ders.: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen und deutsche Eigenarten, in: ders. (Hrsg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europä­ischen Vergleich, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, München 1988, S. 11–76 Ders.: Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63 Ders.: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2001 Kohle, Hubertus: Das Industriebild als modernes Historienbild. Monumentalisierung und Heroisierung von Industrie und Arbeit in Belgien, in: Sabine Beneke/ Hans Ottomeyer (Hrsg.): Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Berlin/Wolfratshausen 2002, S. 80–85 Köllmann, Wolfgang: Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert, Tübingen 1960 Kondylis, Panajotis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991 König, Gudrun M.: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln/Weimar 2009 Koshar, Rudy: German Travel Cultures, Oxford/New York, NY 2000

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

431

Literaturverzeichnis

Ders.: ‚What ought to be seen‘. Tourists’ Guidebooks and National Identities in Modern Germany and Europe, in: Journal of Contemporary History, Bd. 33, Nr. 3, 1998, S. 323–340 Koven, Seth: Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton, NJ/Oxford 2006 Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse (1927), in: ders. (Hrsg.): Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1977, S. 50–63 Krasnobaev, Boris J.: Russische Reiseführer des 18. Jahrhunderts, in: ders./Gert Robel/ Herbert Zeman (Hrsg.): Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung, Berlin 1980, S. 83–99 Krätz, Otto: Das ideale Bild der Fabrik. Die Werke des Industriemalers Otto Bollhagen (1861–1924), in: Kultur & Technik, Jg. 17, H. 4, 1993, S. 26–33 Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt am Main/New York, NY 1999 Krüger, Jens/Ruß-Mohl, Stephan: Popularisierung der Technik durch Massenmedien, in: Laetitia Boehm/Charlotte Schönbeck (Hrsg.): Technik und Kultur, Bd. 5: Technik und Bildung, Düsseldorf 1989, S. 387–415 Krüger, Michael: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports, Bd. 2: Leibeserziehung im 19. Jahrhundert, Schorndorf 1993 Kuhn, Axel: Die industrielle Revolution, in: Armin Hermann/Wilhelm Dettmering (Hrsg.): Technik und Kultur, Bd. 10: Technik und Gesellschaft, Düsseldorf 1993, S. 135–149 Ders.: Unternehmer und Arbeiter. Die gesellschaftliche Realität im 19. Jahrhundert, in: Armin Hermann/Wilhelm Dettmering (Hrsg.): Technik und Kultur, Bd. 10: Technik und Gesellschaft, Düsseldorf 1993, S. 178–204 Kuhn, Bärbel: Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt, in: Annette Keinhorst (Red.): Frauenrechte, Bildung, Forschung, Geschichte. 20 Jahre Frauenbibliothek und Genderdokumentation im Saarland, Saarbrücken 2010, S. 14–17 Dies: Die Familie in Norm, Ideal und Wirklichkeit. Der Wandel von Geschlechterrollen und Geschlecherbeziehungen im Spiegel von Leben, Werk und Rezeption Wilhelm Heinrich Riehls, in: Werner Plumpe/Jörg Lesczenski (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 71–79 Dies.: Familienstand: ledig. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850–1914) (L’homme: Schriften, Bd. 5), 2. Aufl., Wien/Köln/Weimar 2002 Dies.: „Keinen Mann um jeden Preis“. Zur Herausbildung neuer weiblicher Lebensformen in der bürgerlichen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Siglinde Clementi/Alessandra Spada (Hrsg.): Der ledige Un-Wille/Norma e contra-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

432

Anhang

rietà. Zur Geschichte lediger Frauen in der Neuzeit/Una Storia del Nubilato in Età Moderna e Contemporanea, Wien/Bozen 1998, S. 269–286 Dies.: Weiblich, ledig, erfolgreich. Ein Frauenporträt aus dem 19. Jahrhundert, in: Bärbel Miemietz (Hrsg.): Blickpunkt. Frauen- und Geschlechterstudien, St. Ingbert 2004, S. 135–149 Kunczik, Michael: Geschichte der Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland, Wien/Köln/ Weimar 1997 Kutter, Uli: Der Reisende ist dem Philosophen, was der Arzt dem Apotheker. Über Apodemiken und Reisehandbücher, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 38–47 Labisch, Alfons: Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt am Main/New York, NY 1992 Lackner, Helmut/Stadler, Gerhard A.: Fabriken in der Stadt. Eine Industriegeschichte der Stadt Linz, Linz 1990 Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main/New York, NY 2008 Langewiesche, Dieter: Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994, S. 11–28 Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004 Lauterbach, Burkhart: Baedeker und andere Reiseführer, in: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 85, H. 2, 1989, S. 206–234 Ders.: Angestelltenkultur. „Beamten“-Vereine in deutschen Industrieunternehmen vor 1933, Münster/New York, NY/München/Berlin 1998 Lawrence, Karen R.: Penelope Voyages. Women and Travel in the British Literary Tradition, Ithaca, NY/London 1994 Le Goff, Jacques: Eine mehrdeutige Geschichte, in: Ulrich Raulff (Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 18–33 Leed, Eric J.: Die Erfahrung der Ferne. Reisen von Gilgamesch bis zum Tourismus unserer Tage, Frankfurt am Main/New York, NY 1993 Lefebvre, Henri: La Production de l’Espace, Paris 1974 Leonhardt, Nic: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899), Bielefeld 2007 Lepsius, M. Rainer: Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 8–18

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

433

Literaturverzeichnis

Ders.: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993 Lesczenski, Jörg: August Thyssen 1842–1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen 2008 Lewis, Russel: Everything under One Roof. World’s Fairs and Department Stores in Paris and Chicago, in: Chicago History, Jg. 12, Nr. 3, 1983, S. 28–47 Linke, Angelika: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 1996 Lippuner, Roland/Lossau, Julia: Kritik der Raumkehren, in: Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 110–119 Löfgren, Orvar: Landscapes and Mindscapes, in: Folk. Journal of the Danish Ethnographic Society, Bd. 31, 1989, S. 183–208 Ders.: On Holiday. A History of Vacationing, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1999 Lüdtke, Alf: Gesichter der Belegschaft. Portraits der Arbeit, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 67–87 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987 (französische Erstausgabe 1984) Lundgreen, Peter (Hrsg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, Bd. 18), Göttingen 2000 Lüsebrink, Hans-Jürgen: Exotismus, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 3: Dynastie – Freundschaftslinien, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 682–687 MacCannell, Dean: The Tourist. A New Theory of the Leisure Class, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1999 (englische Erstausgabe 1976) Mai, Gunther: Der Erste Weltkrieg, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Scheidewege der deutschen Geschichte. Von der Reformation bis zur Wende 1517–1989, München 1995, S. 159–170 Mandel, Birgit: Wunschbilder werden wahr gemacht. Aneignung von Urlaubswelt durch Fotosouvenirs am Beispiel der Fotoalben deutscher Italientouristen der fünfziger und sechziger Jahre, Frankfurt am Main 1996 Marchand, Roland: Creating the Corporate Soul. The Rise of Public Relations and Corporate Image­ry in American Big Business, Berkeley, CA/Los Angeles, CA/London 1998 Märker, Peter/Wagner, Monika: Bildungsreise und Reisebild. Einführende Bemerkungen zum Verhältnis von Reisen und Sehen, in: Kunsthistorisches Institut der Universität Tübingen (Hrsg.): Mit dem Auge des Touristen. Zur Geschichte des Reisebildes, Tübingen 1981, S. 7–18

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

434

Anhang

Marsh, Allison C.: Taking the Factory to the Fair, unveröffentlichtes Konferenzpapier, Vortrag auf dem World’s Fair Symposium der Special Collections Library der California State University (30. März bis 1. April 2005), Konferenz „World’s Fair Symposium“, in: HSozKult. Termine, 12.11.2004, URL: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/termine/id=3347 (Stand: 01.09.2019) Dies.: The Ultimate Vacation: Watching Other People Work. A History of Factory Tours in America, Diss. Universität Baltimore, MD 2008 Martschukat, Jürgen/Patzold, Steffen: Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur, in: dies. (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 1–31 Maurer, Michael: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815), Göttingen 1996 Ders.: Kulturgeschichte. Eine Einführung, Köln 2008 Ders.: Reisen interdisziplinär. Ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive, in: ders. (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 287–410 Marx, Leo: The Machine in the Garden. Technology and the Pastoral Ideal in America, London/Oxford/New York, NY, 3. Aufl. 1974 Mayer, Arno J.: Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848–1914, München 1984 Mayne, Allan: The Imagined Slum. Newspaper Representation in Three Cities, Leicester/London/New York, NY 1993 Melosi, Martin V.: Thomas A. Edison and the Modernization of America, 2. Aufl., New York, NY 2008 Menzel, Ulrich: Die Musealisierung des Technischen. Die Gründung des ‚Deutschen Museums von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik‘ in München, Braunschweig 2002 Mergel, Thomas: Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren. Für Hans-Ulrich Wehler zum 70. Geburtstag, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 41, 2001, S. 515–538 Ders.: Kulturgeschichte – die neue „große Erzählung“? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 41–77 Michalski, Sergiusz: Neue Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919–1933, Köln 2003 Miggelbrink, Judith/Schlottmann, Antje: Diskurstheoretisch orientierte Analyse von Bildern, in: Georg Glasze/Annika Mattissek (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld 2009, S. 181–198

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

435

Literaturverzeichnis

Miller, Michael B.: The Bon Marché. Bourgeois Culture and the Department Store, 1869–1920, Princeton, NJ 1981 Mills, Sara: Discourses of Difference. An Analysis of Women’s Travel Writing and Colonialism, London/New York, NY 1991 Mitchell, Timothy: The World as Exhibition, in: Comparative Studies in Society and History, Bd. 31, Nr. 2, 1989, S. 217–236 Mohrmann, Ruth-E.: Stadterfahrung und Mentalität, in: Horst Matzerath (Hrsg.): Stadt und Verkehr im Industriezeitalter, Wien/Köln/Weimar 1996, S. 261–275 Mommsen, Hans: Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–315 Morris, Mary: Introduction, in: dies. (Hrsg.): The Virago Book of Women Travellers, London 1996, S. XV–XXII Dies. (Hrsg.): The Virago Book of Women Travellers, London 1996 Müller, Susanne: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt am Main/New York 2012 Müller-Scheessel, Nils: To See Is to Know. Materielle Kultur als Garant von Authentizität auf Welt­ausstellungen des 19. Jahrhunderts, in: Stefanie Samida (Hrsg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 157–176 Münch, Paul: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“, München 1984 Mysliwietz-Fleiß, Daniela: Topografien des Blicks. Das Fernrohr als Instrument bürgerlicher Welt­eroberung im 19. Jahrhundert, in: Joseph Imorde/Andreas Zeising (Hrsg.): Runde Formationen. Mediale Aspekte des Zirkulären (Bild- und Kunstwissenschaften, Bd. 10), Siegen 2019, S. 131–146 Nelle, Florian: Künstliche Paradiese. Vom Barocktheater zum Filmpalast, Würzburg 2005 Neutsch, Cornelius/Witthöft, Harald: Kaufleute zwischen Markt und Messe, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 75–82 Nieberding, Anne: Unternehmenskultur im Kaiserreich. J.M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., München 2003 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990 Ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1990 Ders.: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: ders.: Gesellschaft, Kultur, Theo-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

436

Anhang

rie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 18), Göttingen 1976, S. 174–205 Nye, David E.: American Technological Sublime, Cambridge, MA/London 1994 Ders.: Image Worlds. Corporate Identities at General Electric, 1890–1930, Cambridge, MA/London 1985 Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt am Main 1980 Oetzel, Sabine: „…auf einzelne Bequemlichkeiten Bedacht genommen.“ Die Entwicklung der Haushaltselektrifizierung in Recklinghausen, in: Peter Döring (Hrsg.): 100 Jahre Strom für Recklinghausen 1905–2005, Essen 2005, S. 99–116 Oexle, Otto Gerhard: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 14–40 Opaschowski, Horst W.: Kathedralen des 21. Jahrhunderts. Die Zukunft von Freizeitparks und Erlebniswelten, Hamburg 1998 Opitz-Belakhal, Claudia: Geschlechter-Geschichte, Frankfurt am Main 2010 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 6. Aufl., München 2011 Pagenstecher, Cord: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubs­prospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950–1990 (Schriftenreihe Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 34), Hamburg 2003 Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie (1939/1955), in: Ekkehard Kaemmerling (Hrsg.): Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme, Köln 1979, S. 207–225 Pasternak, Jan: Schnelligkeit und Luxus. Personenbeförderung auf der Nordatlantikroute vom Untergang der Titanic bis zum Brand auf der Normandie (1912–1942), Magisterarbeit, Universität Duisburg-Essen 2004 Peitsch, Helmut: Das Schauspiel der Revolution. Deutsche Jakobiner in Paris, in: Peter J. Brenner (Hrsg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 306–332 Pepchinski, Mary: Feminist Space. Exhibitions and Discourses between Philadelphia and Berlin 1865–1912, Weimar 2007 Pierenkemper, Toni: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 29), 2. Aufl., München 2007 Plato, Alice von: Zwischen Hochkultur und Folklore. Geschichte und Ethnologie auf den französischen Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, in: Cordula Grewe (Hrsg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft (Transatlantische Historische Studien, Bd. 26), Stuttgart 2006, S. 45–68

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

437

Literaturverzeichnis

Plessen, Marie-Louise von: Der gebannte Augenblick. Die Abbildung von Realität im Panorama des 19. Jahrhunderts, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, S. 11–19 Pohl, Klaus: Die Welt für Jedermann. Reisephotographie in deutschen Illustrierten der zwanziger und dreißiger Jahre, in: ders. (Hrsg.): Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850-heute, Gießen 1983, S. 96–127 Pohl, Manfred: Emil Rathenau und die AEG, Mainz 1988 Poore, Carol: The Bonds of Labor. German Journeys to the Working World. 1890– 1990, Detroit, MI 2000 Popplow, Marcus: Popularisierung. Technik, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9: Naturhaushalt – Physiokratie, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 200–204 Pott, Andreas: Orte des Tourismus. Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung, Bielefeld 2007 Potts, Alex: Picturing the Modern Metropolis. Images of London in the Nineteenth Century, in: History Workshop, Bd. 26, Nr. 1, 1988, S. 28–56 Prahl, Hans-Werner: Soziologie der Freizeit, Paderborn 2002 Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992 Prein, Philipp: Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Münster 2005 Pretzel, Ulrike: Die Literaturform Reiseführer im 19. und 20. Jahrhundert. Untersuchung am Beispiel des Rheins, Frankfurt am Main 1995 Pries, Christine: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 1–32 Pritchard, Annette/Jaworski, Adam: Discourse, Communication and Tourism Dialogues, in: dies. (Hrsg.): Discourse, Communication and Tourism, Clevedon 2005 Prinz, Sophia: Die Praxis des Sehens, Bielefeld 2014 Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998 Ders.: Technik im Temporausch der Jahrhundertwende, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 61–76 Raucher, Alan R.: Public Relations and Business 1900–1929, Baltimore 1968 Raulff, Ulrich: Vorwort. Mentalitäten-Geschichte, in: ders. (Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 7–17 Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999 Reif, Heinz: „Wohlergehen der Arbeiter und häusliches Glück“. Das Werksleben jen-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

438

Anhang

seits der Fabrik in der Fotografie bei Krupp, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.): Bilder von Krupp. Fotografie und Geschichte im Industriezeitalter, München 1994, S. 105–122 Ders.: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999 Reinermann, Lothar: Königliche Schöpfung, bürgerliche Nutzung und das Erholungsbedürfnis der städtischen Unterschichten. Londoner Parks im 19. Jahrhundert, in: Angela Schwarz (Hrsg.): Der Park in der Metropole. Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 19–105 Requate, Jörg: Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft (Atelier des Deutschen Historischen Institut Paris, Bd. 4), München 2009, S. 30–42 Reulecke, Jürgen: Das Abbild einer neuen Zeit. Das Bergische Land um 1800 in Reiseberichten, in: ders./Gerhard Huck (Hrsg.): …und reges Leben ist überall sichtbar! Reisen im Bergischen Land um 1800 (Bergische Forschungen. Quellen und Forschungen zur bergischen Geschichte, Kunst und Literatur, Bd. 15), Neustadt an der Aisch 1978, S. 7–25 Ders.: Indolenz und Fortschritt. Konfessionalität im Bergischen Land in Reiseberichten um 1800, in: Joachim Bahlcke/Karen Lambrecht/Hans-Christian Maner (Hrsg.): Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Leipzig 2006, S. 649–660 Rice, Stephen P.: Picturing Bodies in the Nineteenth Century, in: ders./Michael Sappol (Hrsg.): A Cultural History of the Human Body in the Age of Empire, Oxford 2010, S. 213–235 Rieder, Max/Bachleitner, Reinhard/Kagelmann, Jürgen (Hrsg.): ErlebnisWelten. Zur Kommerzialisierung der Emotionen in touristischen Räumen und Landschaften, München/Wien 1998 Rieke-Müller, Annelore/Dittrich, Lothar: Der Löwe brüllt nebenan. Die Gründung Zoologischer Gärten im deutschsprachigen Raum 1833–1869, Wien/Köln/Weimar 1998 Ritter, Gerhard A.: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 5), Bonn 1992 Röllinghoff, Silke: „Zollverein muss kompromisslos gut werden“ oder: „Vergangenheit hat Zukunft“, in: Angela Schwarz (Hrsg.): Industriekultur, Image, Identität. Die Zeche Zollverein und der Wandel in den Köpfen, Essen 2008, S. 261–307 Rooch, Alarich: Zwischen Museum und Warenhaus. Ästhetisierungsprozesse und sozialkommunikative Raumaneignungen des Bürgertums (1823–1920), Oberhausen 2001 Ders.: Warenhäuser. Inszenierungsräume der Konsumkultur. Von der Jahrhundertwende bis 1930, in: Werner Plumpe/Jörg Lesczenski (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 17–30

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

439

Literaturverzeichnis

Rosaldo, Michelle Z.: The Use and Abuse of Anthropology. Reflections on Feminism and Cross-Cultural Understanding, in: Signs, Bd. 5, Nr. 3, 1980, S. 392–416 Rose, Gillian: Performing Space, in: Doreen Massey/John Allen/Philip Sarre (Hrsg.): Human Geography Today, Cambridge/Oxford 1999, S. 247–259 Rosenstrauch, Hazel: Zum Beispiel die Gartenlaube, in: Annamaria Rucktäschel (Hrsg.): Trivialliteratur, München 1976, S. 169–189 Ruppert, Wolfgang: Die Fabrik. Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, München 1983 Rüschemeyer, Dietrich: Bourgeoisie, Staat und Bildungsbürgertum. Idealtypische Modelle für die vergleichende Erforschung von Bürgertum und Bürgerlichkeit, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 101–120 Said, Edward: Orientalismus, Frankfurt am Main 2009 (englische Erstausgabe 1978) Salewski, Michael: Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: ders./ Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77–91 Sandgruber, Roman: Strom der Zeit. Das Jahrhundert der Elektrizität, Linz 1992 Sauer, Lieselotte: Marionetten, Maschinen, Automaten. Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik, Bonn 1983 Schäfer, Michael: Bürgertum in der Krise, Göttingen 2003 Schäfer, Robert: Tourismus und Authentizität. Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichkeit, Bielefeld 2015 Schäffter, Ortfried (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991 Schaser, Angelika: Margarethe Krupp. Entwurf eines Lebens im Zentrum der KruppSaga, in: Michael Epkenhans/Ralf Stremmel (Hrsg.): Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010, S. 179–249 Scheitler, Irmgard: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780–1850, Tübingen 1999 Scherle, Nicolai: Nichts Fremdes ist mir fremd. Reiseführer im Kontext von Raum und der systemimmanenten Dialektik des Verständnisses von Eigenem und Fremdem, in: Rudolf Jaworski/Peter Oliver Loew/Christian Pletzing (Hrsg.): Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa (Veröffentlichungen der Academia Baltica, Bd. 1), Wiesbaden 2011, S. 53–70 Schildt, Gerhard: Die Arbeiterschaft im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 36), München 1996 Schirrmeister Claudia: Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur, Bielefeld 2010 Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München/Wien 1977

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

440

Anhang

Schmalfuß, Jörg/Bründel, Klaus-Dieter/Bortfeldt, Maria: Menschen am Arbeitsplatz, in: Lieselotte Kugler (Hrsg.): Die AEG im Bild, Berlin 2000, S. 93–107 Dies.: Wohlfahrtseinrichtungen, in: Lieselotte Kugler (Hrsg.): Die AEG im Bild, Berlin 2000, S. 157–187 Schmeiser, Leonhard: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 2002 Schmidt, Alexander: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997 Schöberl, Joachim: „Verzierende und erklärenden Abbildungen“. Wort und Bild in den illustrierten Familienzeitschriften des neunzehnten Jahrhunderts am Beispiel der Gartenlaube, in: Harro Segeberg (Hrsg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vorund Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst (Mediengeschichte des Films, Bd. 1), München 1996, S. 209–233 Scholten, Helga: Einführung in die Thematik. Wahrnehmung und Krise, in: dies. (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 5–11 Schröder, Achim: Industrietourismus, in: Christoph Becker/Hans Hopfinger/Albrecht Steinecke (Hrsg.): Geographie der Freizeit und des Tourismus. Bilanz und Ausblick, 3. Aufl., München 2007, S. 213–224 Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2009 Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 75), München 2005 Schulze, Hagen: Mentalitätsgeschichte. Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 36, Nr. 4, 1985, S. 247–270 Schumann, Kerstin: Grenzübertritte. Das ‚deutsche‘ Mittelmeer, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Endlich Urlaub! Die Deutschen reisen, Köln 1996, S. 33–42 Schwarz, Angela: „…absurd to make moan over the imagined humiliation and degradation.“ Exhibiting the Colonial Other at World’s Fairs and the Institutionalization of Cruelty, in: Trutz von Trotha/Jakob Rösel (Hrsg.): On Cruelty. Sur la Cruauté. Über Grausamkeit (Siegener Beiträge zur Soziologie, Bd. 11), Köln 2011, S. 538–556 Dies.: „Come to the Fair“. Transgressing Boundaries in World’s Fairs Tourism, in: Eric G.E. Zuelow (Hrsg.): Touring Beyond the Nation. A Transnational Approach to European Tourism History, Farnham 2011, S. 79–100 Dies.: „East-Enders“. Zur Konstruktion des neugierigen Blicks auf die städtischen Unterschichten in der Illustrated London News, in: Natascha Igl/ Julia Menzel (Hrsg.):

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

441

Literaturverzeichnis

Illustrierte Zeitschriften um 1900. Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016, S. 281–307 Dies.: Allmacht oder Ohnmacht. Technikvorstellungen und Krisenwahrnehmung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, in: Helga Scholten (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 203–222 Dies.: Bilden, überzeugen, unterhalten. Wissenschaftspopularisierung und Wissenskultur im 19. Jahrhundert, in: Carsten Kretschmann (Hrsg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, Bd. 4), Berlin 2003, S. 221–234 Dies.: Der Schlüssel zur modernen Welt. Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870–1914) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte, Bd. 153), Stuttgart 1999 Dies.: Destination Past. Showcasing History and Historical Time as an Attraction at World Exhibitions, in: Flippo Carlà-Uhink/Florian Freitag/Sabrina Mittermeier/ Ariane Schwarz (Hrsg.): Time and Temporality in Theme Parks (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 4), Hannover 2017, S. 43–62 Dies.: Die Reise ins Dritte Reich. Britische Augenzeugen im nationalsozialistischen Deutschland (1933–39) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 31), Göttingen 1993 Dies.: Ein „Volkspark“ für die Demokratie: New York und die Ideen Frederick Law Olmsteds, in: dies. (Hrsg.): Der Park in der Metropole. Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 107–160 Dies.: Industriekultur, Image und Identität im Ruhrgebiet. Oder: Die umstrittene Frage nach dem Strukturwandel in den Köpfen, in: dies. (Hrsg.): Industriekultur, Image, Identität. Die Zeche Zollverein und der Wandel in den Köpfen, Essen 2008, S. 17–67 Dies.: Inszenierung und Vermarktung: Wissenschaftsbilder im Reklamesammelbild des 19. Jahrhunderts, in: Stefanie Samida (Hrsg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 83–102 Dies.: Populärwissenschaftlich in Text und Bild? Zur Visualisierung in der britischen Populärwissenschaft des 19. Jahrhunderts: Das Beispiel der Literatur für Kinder und Jugendliche, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 56, 2002, S. 179–202 Dies.: The Regional and the Global: Folk Culture at World’s Fairs and the Reinvention of the Nation, in: Timothy Baycroft/David Hopkin (Hrsg.): Folklore and Nationalism in Europe During the Long Nineteenth Century (National Cultivation of Culture, Bd. 4), Leiden/Boston, MA 2012, S. 99–111 Dies.: „They cannot choose but to be women.“ Stereotypes of Femininity and Ideas of

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

442

Anhang

Womanliness in Late Victorian an Edwardian Britain, in: Ulrike Jordan/Wolfram Kaiser (Hrsg.): Political Reform in Britain, 1886–1996, Bochum 1997 Dies.: Transfer Transatlantici tra le Esposizioni Universali, 1851–1940, in: Ale­xander C.T. Geppert/Massimo Baioni (Hrsg.): Esposizioni in Europa tra Otto e Novecento. Spazi, Organizzazione, Rappresentazioni (Monographisches Sonderheft von Memoria e Ricerca: Rivista di Storia Contemporanea, Bd. 17), Mailand 2004, S. 61–93 Dies.: „Urlaub machen, wo andere arbeiten“? Die Anfänge von Fremdenverkehrswerbung und Regionalmarketing im Siegerland (1950–1975), in: Diagonal, Jg. 2013: Schaut auf diese Region! Südwestfalen als Fall und Typ, S. 85–109, bes. S. 94–105 Dies: Vom Maschinenpark zum Futurama. Popularisierung von Wissenschaft und Technik auf Welt­ausstellungen (1851–1940), in: Petra Boden/Dorit Müller (Hrsg.): Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850, Berlin 2009, S. 83–99 Dies./Mysliwietz-Fleiß, Daniela (Hrsg.): Reise in die Vergangenheit. Geschichtstourismus im 19. und 20. Jahrhundert (TransKult: Studien zur transnationalen Kulturgeschichte, Bd. 1), Wien/Köln/Weimar 2019 Schwiglewski, Katja: Erzählte Technik. Die literarische Selbstdarstellung des Ingenieurs seit dem 19. Jahrhundert (Kölner Germanistische Studien, Bd. 36), Wien/Köln/ Weimar 1995 Scott, Joan W.: Gender. Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hrsg.): Selbst Bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, S. 27–75 Sears, John F.: Sacred Places. American Tourist Attractions in the Nineteenth Century, 2. Aufl., Amherst, MA 1998 Sellin, Volker: Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: Historische Zeitschrift, Bd. 241, H. 3, S. 555–598 Shields, Rob: Places on the Margin. Alternative Geography of Modernity, London/ New York, NY 1991 Siebers, Winfried: Ungleiche Lehrfahrten. Kavaliere und Gelehrte, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 47–57 Siebert, Ulla: Grenzlinien. Selbstrepräsentationen von Frauen in Reisetexten 1871 bis 1914, München/New York, NY/Berlin 1998 Sieferle, Rolf Peter: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984 Smith, Duane A.: Rocky Mountain Heartland. Colorado, Montana, and Wyoming in the Twentieth Century, Tucson, AZ 2008 Soénius, Ulrich S.: Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Familie Scheidt in Kettwig 1848–1925, Köln 2000 Sorokin, Pitirim A.: Sociocultural Causality, Space, Time. A Study of Referential Principles of Socio­logy and Social Science, New York, NY 1964

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

443

Literaturverzeichnis

Spelsberg, Gerd: Rauchplage. Hundert Jahre saurer Regen, Köln 1984 Spiekermann, Uwe: Das Warenhaus, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hrsg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/ New York, NY 2005, S. 207–217 Spode, Hasso: Der moderne Tourismus – Grundlinien seiner Entstehung und Entwicklung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Dietrich Storbeck (Hrsg.): Moderner Tourismus. Tendenzen und Aussichten (Materialien zur Fremdenverkehrsgeographie, Bd. 17), Trier 1988, S. 39–76 Ders.: Der Tourist, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York, NY 1999, S. 113–137 Stahl, Heiner: Lärm machen. Geräuschkulissen, (Hör-)Erfahrungen und soziale Akustik in Essen, Erfurt und Birmingham (1910–1960), Habilitationsschrift, Siegen 2019 Stammberger, Birgit: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert, Berlin 2011 Steinbrink, Malte/Pott, Andreas: Global Slumming. Zur Genese und Globalisierung des Armutstourismus, in: Karlheinz Wöhler/Andreas Pott/Vera Denzer (Hrsg.): Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens, Bielefeld 2010, S. 247–270 Steinecke, Albrecht: Kunstwelten in Freizeit und Konsum. Merkmale – Entwicklungen – Perspektiven, in: ders./Christoph Becker/Hans Hopfinger (Hrsg.): Geographie der Freizeit und des Tourismus. Bilanz und Ausblick, 3. Aufl., München 2007, S. 125–137 Steinmetz, Willibald: Die schwierige Selbstbehauptung des deutschen Bürgertums. Begriffsgeschichtliche Bemerkungen in sozialhistorischer Absicht, in: Rainer Wimmer (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch. Jahrbuch 1990 des Instituts für deutsche Sprache, Berlin/New York, NY 1991, S. 12–40 Stevenson, Catherine Barnes: Victorian Women Travel Writers in Africa, Boston, MA 1982 Sticht, Werner: Spiel mit Stabil, in: Stefan Poser/Joseph Hoppe/Bernd Lüke (Hrsg.): Spiel mit Technik. Katalog zur Ausstellung im Deutschen Technikmuseum Berlin, Berlin 2006, S. 68–70 Stollberg-Rilinger, Barbara: Rezension zu: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, in: H-Soz-Kult. Rezensionen. Bücher, 25.02.2004, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ 2004-1-112 (Stand: 01.09.2019) Stöckl, Harmut: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

444

Anhang

Sprache und Bild in massenmedialen Texten. Konzepte – Theorien – Analysemethoden (Linguistik – Impulse & Tendenzen, Bd. 3), Berlin/New York, NY 2004 Stremlow, Matthias: Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheißung der nahen Fremde zur Sportarena. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700, Bern/ Stuttgart/Wien 1998 Ders.: Postkarten aus dem „Dachgarten Europas“. Skizzen einer Geschichte touristischer Alpenbilder, in: Tourismus-Journal. Zeitschrift für tourismuswissenschaftliche Forschung und Praxis, Jg. 3, H. 2, 1999, S. 255–274 Stremmel, Ralf: Friedrich Alfred Krupp. Handeln und Selbstverständnis eines Unternehmers, in: Michael Epkenhans/Ralf Stremmel (Hrsg.): Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010, S. 27–75 Stross, Randall: The Wizard of Menlo Park. How Thomas Alva Edison Invented the Modern World, New York, NY 2007 Strüver, Anke: Grundlagen und zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskurstheorie, in: Georg Glasze/Annika Mattissek (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld 2009, S. 61–82 Dies./Wucherpfennig, Claudia: Performativität, in: Georg Glasze/Annika Mattissek (Hrsg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld 2009, S. 107–127 Strunk, Peter: Die AEG. Aufstieg und Niedergang einer Industrielegende, Berlin 2002 Studberg, Joachim: Globetrotter aus dem Wuppertal. Eine Untersuchung großbürgerlicher Mentalität anhand autobiographischer Reiseaufzeichnungen aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs, Pfaffenweiler 1991 Stummvoll, Josef: Tagespresse und Technik. Die technische Berichterstattung der deutschen Tageszeitung mit besonderer Berücksichtigung der technischen Beilagen, Dresden/ Leipzig 1935 Stürmer, Michael: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Berlin 1998 Tedlow, Richard S.: Keeping the Corporate Image, Greenwich, CT 1979 Theile, Gerd: Vermessen. Eine Weimarer Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Antropometrie, München 2005, S. 9–34 Theye, Thomas: Optische Trophäen. Vom Holzschnitt zum Foto-Album: Eine Bildgeschichte der Wilden, in: ders. (Hrsg.): Wir und die Wilden. Einblicke in eine kannibalische Beziehung, Reinbek 1985, S. 18–95 Thompson, Carl: Travel Writing, New York, NY 2011 Thompson, Edward P.: The Making of the English Working Class, Neudruck, London 1991 (englische Erstausgabe 1963) Todrowski, Christiane: Bürgerliche Technik-„Utopisten“. Ein Beitrag zur Funktion von

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

445

Literaturverzeichnis

Fortschrittsoptimismus und Technikeuphorie im bürgerlichen Denken des 19. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel der Publikationen Max Eyths und Max Maria von Webers, Münster 1996 Tomsin, Philippe: L’esthetique des machines electriques industrielles, in: Bulletin d’histoire de l’electricité, Nr. 35, 2000, S. 67–77 Trachtenberg, Alan: The Incorporation of America. Culture and Society in the Gilded Age, Jubiläums-Sonderausgabe, New York, NY 2007 Tümmers, Horst-Johs: Rheinromantik. Romantik und Reisen am Rhein, Köln 1968 Türk, Klaus: Bilder der Arbeit. Eine ikonographische Anthologie, Wiesbaden 2000 Uhl, Karsten: Die Geschlechterordnung der Fabrik. Arbeitswissenschaftliche Entwürfe von Rationalisierung und Humanisierung 1900–1970, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Bd. 21, H. 1, 2010, S. 93–117 Ders.: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert, Bielefeld 2014 Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Frankfurt am Main 1997 Universität Siegen (Hrsg.): Forschungsprojekt „Geschichte für alle“ in Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, URL: http://www.uni-siegen.de/phil/geschichte/geschichte_fuer_ alle/ (Stand: 31.01.2019) Urry, John: Consuming Places, New York, NY 1995 Ders.: The ‚Consuming‘ of Place, in: Adam Jaworski/Annette Pritchard (Hrsg.): Discourse, Communication and Tou­rism, Clevedon 2005, S. 19–27 Ders.: The Tourist Gaze. Leisure and Travel in Contemporary Societies, London 1990 Valentine, Gill: Theorizing and Researching Intersectionality. A Challenge for Feminist Geography, in: The Professional Geographer, Bd. 59, H. 1, 2007, S. 10–21 Van der Pot, Johan Hendrik Jacob: Die Bewertung des technischen Fortschritts. Eine systematische Übersicht der Theorien, Bd. 1, Assen 1985 Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, London 1953 (amerikanische Erstausgabe 1899) Verg, Erik: Meilensteine. 125 Jahre Bayer 1863–1988, Leverkusen 1988 Vierhaus, Rudolf: Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 64–78 Ders.: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier, Göttingen 1995, S. 5–28 Vierhuff, Hans Gotthard: Die Neue Sachlichkeit. Malerei und Fotografie, Köln 1980 Vogel, Klaus/Wingender, Christoph: „…, deren Besuch sich daher unter allen Umstän-

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

446

Anhang

den lohnt“. Die I. Internationale Hygiene-Ausstellung 1911, in: Dresdner Hefte, Bd. 18, H. 3, 2000, S. 44–52 Von Plato, Alice: Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/New York, NY 2001 Vorsteher, Dieter: Borsig. Eisengießerei und Maschinenbauanstalt zu Berlin, Berlin 1983 Ders.: Das Industriebild als Auftrag zwischen Vormärz und Gründerzeit, in: Sabine Beneke/Hans Ottomeyer (Hrsg.): Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Berlin/Wolfratshausen 2002, S. 66–79 Vovelle, Michel: Serielle Geschichte oder „Case studies“: ein wirkliches oder nur ein Schein-Dilemma?, in: Ulrich Raulff (Hrsg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 114–126 Wagner, Ernst: Anmerkungen zu Romreiseführern, in: Reisebriefe. Schriften zur Tourismuskritik, Bd. 15/16, 1986, S. 16–32 Wagner, Monika: Das Gletschererlebnis. Visuelle Naturaneignung im frühen Tourismus, in: Götz Großklaus/Ernst Oldemeyer (Hrsg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe 1983, S. 235–264 Wasern, Erich: Sammeln von Serienbildchen. Entwicklung und Bedeutung eines beliebten Mediums der Reklame und der Alltagskultur, Landshut 1981 Weber, Heike: Vergnügliche Technikaneignung um 1900, in: Gudrun Wolfschmidt (Hrsg.): Popularisierung der Naturwissenschaften, Hamburg 2000, S. 326–330 Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920, herausgegeben und eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß, 3. Aufl., Weinheim 2000 Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. überarb. Aufl., Tübingen 1976 Weber, Johannes: Wallfahrten nach Paris. Reiseberichte deutscher Revolutionstouristen von 1789 bis 1802, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 179–186 Weber, Wolfgang: Technikentwicklung und Technikkonsum – ein gesellschaftlicher Grundkonsens, in: Wolfgang König (Hrsg.): Propyläen Technikgeschichte, Bd. 1840– 1914: Netzwerke. Stahl und Strom, Berlin 1990, S. 536–552 Ders.: Industriespionage als technologischer Transfer in der Frühindustrialisierung Deutschlands, in: Technikgeschichte, Bd. 42, H. 4, 1975, S. 287–305 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995 Ders.: Geschichte und Zielutopie der deutschen „bürgerlichen Gesellschaft“, in: ders. (Hrsg.): Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 241–255

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

447

Literaturverzeichnis

Ders.: Wie „bürgerlich“ war das Deutsche Kaiserreich?, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 243–280 Werner, Stephen: Blueprint. A Study of Diderot and the Encyclopédie Plates, Birmingham, AL 1993 Wessely, Christina: „Künstliche Tiere etc.“. Zoologische Schaulust um 1900, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin, Bd. 16, Nr. 2, 2008, S. 153–182 Dies.: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008 Wietschorke, Jens: Entdeckungsreisen in die Fabrik. Bürgerliche Feldforschungen 1890–1930, in: Zeitschrift für Volkskunde, Bd. 104, H. 1, 2008, S. 41–71 Willoughby, Martin: Die Geschichte der Postkarte. Ein illustrierter Bericht von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart, Erlangen 1993 Wischermann, Ulla: Frauenfrage und Presse. Frauenarbeit und Frauenbewegung in der illustrierten Presse des 19. Jahrhunderts (Studien zur Publizistik. Bremer Reihe, Bd. 24), München 1983 Wolbring, Barbara: „Auch ich in Arkadien!“ Die bürgerliche Kunst- und Bildungsreise im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein/Andreas Schulz (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, München 1996, S. 82–101 Dies.: Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Selbstdarstellung, öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Kommunikation (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Bd. 6), München 2000 Wolter, Stefanie: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums, Frankfurt am Main/New York, NY 2005 Wörner, Martin: Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900, Münster 1999 Wyss, Beat: Bilder von der Globalisierung. Die Weltausstellung von Paris 1889, Berlin 2010 Zedelmaier, Helmut: Die ungeheure Neugierde der Zivilisierten. Zehn Feuerländer in München 1881/1882, in: Anne Dreesbach/Helmut Zedelmaier (Hrsg.): „Gleich hinterm Hofbräuhaus wasch­echte Amazonen“. Exotik in München um 1900, München/Hamburg 2003, S. 53–77 Zimmermann, Harro: Irrenanstalten, Zuchthäuser und Gefängnisse, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, 2. Aufl., München 1999, S. 207–213 Zipfel, Astrid: Public Relations in der Elektroindustrie. Die Firmen Siemens und AEG 1847 bis 1939, Köln 1997 Zolper, Andreas: Ideal Krupp, in: Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.): 200 Jahre Krupp. Ein Mythos wird besichtigt, Essen 2012, S. 30–33 Zunz, Olivier: Making America Corporate, Chicago, IL/London 1990

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

448

Anhang

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

449

Abbildungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Der Plansee mit dem Gasthof zur Forelle und der österreichischen Zollstation, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 94, Nr. 2452, 28.06.1890, S. 678 Abb. 2: Die Weißwandspitze im Schnitz, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 114, Nr. 2956, 22.02.1900, S. 276 Abb. 3: Schaustellung der Verkaufsgegenstände der Hannoverschen Cakesfabrik H. Bahlsen in Hannover, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 134, Nr. 3490, 19.05.1910, S. 21 (gesonderte Paginierung) Abb. 4: Geschäftshaus der Firma Ernst Vogdt, Juwelier, Breslau, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 121, Nr. 3153, 03.12.1903, S. 865 Abb. 5: Warenhaus Wertheim in der Leipziger Straße. Brunnen-Lichthof mit Strumpfabteilung, Fotografie, Berlin 1906, bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Bild-Nr. 40003806. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte © bpk Abb. 6: Aus der Nordwestdeutschen Gewerbe- und Industrieausstellung, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2463, 13.09.1890, S. 280 Abb. 7: Löwenjunge, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 7, 1890, S. 181 Abb. 8: Palmstrohhütte und Eingeborene der Nordküste von Neupommern, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 115, Nr. 2994, 15.11.1900, S. 746 Abb. 9: Die Maschinenhalle der städtischen Elektrizitätswerke zu Paris in der geplanten Vergrößerung, in: Das Buch für Alle, Jg. 25, H. 15, 1890, S. 369 Abb. 10: Jute-Spinnerei. Leinen- und Jute-Weberei. Rechnung [Kopf der Seite], Emsdetten 1896, in: WWA, Bestand: F 55 – D.H. Rump & Söhne, Drahtindustrie, Altena, Signatur: F 55, Nr. 530. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des WWA Abb. 11: AEG (Hrsg.): Fabriken Brunnenstrasse, Hygienemuseum, Berlin [1914], nach S. 6, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 06904. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des SDTB Abb. 12: Schraubenwelle & Schraube vom Schnelldampfer, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2463, 13.09.1890, S. 281 Abb. 13: Karl Baedeker: Die Rheinlande. Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, 31. Aufl., Leipzig 1909, nach S. 304 (Original farbig). Die mit einer gestrichelten Linie markierten Flächen kennzeichnen industriell genutzte Flächen und Arbeiterkolonien, die mit einer durchgehenden Linie kennzeichnen den mittelalterlichen Stadtkern (Kennzeichnungen d. Verf.).

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

450

Anhang

Abb. 14: Karl Baedeker: Die Rheinlande. Schwarzwald, Vogesen. Handbuch für Reisende, 31. Aufl., Leipzig 1909, nach S. 306 (Original farbig). Die mit einer durchgehenden Linie umrandeten Flächen kennzeichnen die mittelalterlichen Stadtkerne von Duisburg und Ruhrort, die mit einer gestrichelten Linie umrandeten Flächen die Duisburger und Ruhrorter Hafenanlagen sowie die projektierten Hafenbecken zwischen den beiden bestehenden Häfen (Kennzeichnungen d. Verf.). Abb. 15: Gruss aus Essen, Bildpostkarte, versendet am 07.05.1896, HDEG/Stadtarchiv, Bestand: 951 – Postkartensammlung, Signatur 951/26. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des HDEG/Stadtarchiv Abb. 16: Gruss aus der Kanonenstadt Essen, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HDEG/ Stadtarchiv, Bestand: 951 – Postkartensammlung, Signatur: 951/34 (Original farbig). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des HDEG/Stadtarchiv Abb. 17: Gruss aus Sterkrade, Bildpostkarte, versendet am 14.10.1898, in: Sammlung Hildegard Paus, Bestand: Postkartensammlung, ohne Signatur (Original farbig). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Hildegard Paus Abb. 18: Essen-Ruhr – Blick auf die Krupp’schen Werke, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/13, 78 (Original farbig). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des HAK Abb. 19: Führung von 3 Lehrern und 21 Schülern der Prima des Gymnasiums Essen, 29.10.1908, HAK, Bestand: WA 48 – Besuchswesen, Teil 1, Signatur: WA 48, 3.1/169. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des HAK Abb. 20: Auflegen eines großen Blocks auf die Straße des Walzwerks, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 137, Nr. 3566, 02.11.1911, S. 44 (gesonderte Paginierung) Abb. 21: Bei den Dynamomaschinen, in: Das Buch für Alle, Jg. 28, H. 12, 1893, S. 301 Abb. 22: Otto Bollhagen: Gußstahlfabrik Essen – Panzerbearbeitungswerkstatt, Bildpostkarte, ungelaufen, [1912], HAK, Bestand: S 6 – Bildpostkarten, Signatur: S 6/11 (Original farbig). Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des HAK Abb. 23: Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Leverkusen a. Rh, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., BA, Bestand: 192–3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908), ohne Signatur. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des BA Abb. 24: Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Zur Erinnerung an den Deutschen Färbertag Pfingsten 1901, Bildpostkarte, 1901, BA, Bestand: 111/6.1 – Farbstoffe, Allgemeines, 1887–1990, ohne Signatur. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des BA Abb. 25: Die Bergischen Apotheker beim Besuch von Leverkusen am 14. April 1905, Fotografie, [Leverkusen] 14.04.1905, BA, Bestand: 192–3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888–1908), ohne Signatur. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des BA

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

451

Abbildungsverzeichnis

Abb. 26: Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. Speisenfolge, Leverkusen, 14.04.1905, BA, Bestand: 192–3 – Besuche im Leverkusener Werk, Bd. I (1888– 1908), ohne Signatur. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des BA Abb. 27: Besuch der Mitglieder der Deutschen Bahnhofswirte aus den Bezirken Elberfeld, Essen, Cöln bei der Firma Gebrüder Stollwerck A.G. behufs Besichtigung der Fabrikanlagen am 15. Februar 1906, Fotografie, [Köln] 15.02.1906, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, F 5495. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des RWWA Abb. 28: Peter Habelmann: Der Zusammensetzungssaal in Borsig’s Maschinenbauanstalt, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 10, Nr. 244, 04.03.1848, S. 149 Abb. 29: Emil Limmer: Thomasstahlwerk in Neunkirchen, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. VIII (gesonderte Paginierung, Original z.T. farbig) Abb. 30: Die Papierfabrikation, in: Das Buch für Alle, Jg. 27, H. 14, 1892, S. 337 Abb. 31: Das Schwein am Schwungrad, in: Illustrirte Welt, Jg. 50, Nr. 12, 1902, S. 284 Abb. 32: AEG (Hrsg.): Apparate-Fabrik, Berlin o.J., S. 25, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 702. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des SDTB Abb. 33: Gußstahl-Werk Witten. Werkstatt II, Südseite. Seitenschiff, Bildpostkarte, ungelaufen, [1910], WWA, Bestand: F 81 – Gussstahlwerk Witten AG, Signatur: F 81, aus Nr. 500. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des WWA Abb. 34: Kühlraum für Rinderseiten, in: Illustrirte Welt, Jg. 50, Nr. 12, 1902, S. 285 Abb. 35: Gutehoffnungshütte (Hrsg.): Die Betriebe der Gutehoffnungshütte, Oberhausen 1913, S. 20, RWWA, Bestand: 130 – Gutehoffnungshütte Aktienverein (GHH), Oberhausen, Signatur: 2204. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des RWWA Abb. 36: Zentrale Cedegolo der Societa Generale Elettrica dell‘ Adamello, 5 Aggregate von je 4700 PS, in: [externe] AEG-Zeitung, Jg. 13, Nr. 2, 1910, Titelseite. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des SDTB Abb. 37: Arbeitssaal, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, Nr. 25, 1900, S. 600; Zitronatabteilung, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, Nr. 25, 1900, S. 600; Einlegen in die Gläser, in: Illustrirte Welt, Jg. 48, Nr. 25, 1900, S. 600 Abb. 38: Schienenwalzwerk, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2471, 08.11.1890, S. 502 Abb. 39: Schrämen mit Schrämenmeißel, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 100, Nr. 2608, 24.06.1893, S. 688 Abb. 40: Willy Stöwer: Im Kohlenbunker, in: Die Gartenlaube, Halbheft 32, 1903, S. 898 Abb. 41: Im Eisenwalzwerk, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 124, Nr. 3221, 23. März 1905, S. 421 Abb. 42: Illustrierter Kundenkalender der Firma Sprengel, Fotografie, 1914, RWWA, Bestand: 208 – Stollwerck, Signatur: 208, 350–7, Bild- Nr. 12. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des RWWA

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

452

Anhang

Abb. 43: Die Limbecker Chaussee vor Beginn der Arbeit, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2471, 08.11.1890, S. 495 Abb. 44: Schlachten der Schafe, in: Illustrirte Welt, Jg. 50, Nr. 12, 1902, S. 285 Abb. 45: Emil Limmer: Arbeitertypen aus den Stumm’schen Werken, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. IX (gesonderte Paginierung) Abb. 46: Dreher, Gießer und Former, in: Die Gartenlaube, Nr. 44, 1898, S. 749 Abb. 47: Drehbank für Säulen, in: Die Gartenlaube, Nr. 20, 1893, S. 330 Abb. 48: Eine Riesenhobelmaschine, in: Das Buch für Alle, Jg. 44, H. 2, 1909, S. 51 Abb. 49: Gummier- und Trockenmaschinen, in: Das Buch für Alle, Jg. 44, H. 3, 1909, S. 64 Abb. 50: AEG (Hrsg.): Apparate-Fabrik, Berlin o.J., S. 7, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 702. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des SDTB Abb. 51: Haniel & Lueg (Hrsg.): Denkschrift zur Feier des 25. Jahrestages der Betriebseröffnung des Werkes von Haniel & Lueg, Düsseldorf-Grafenberg, 12. Februar 1899, Düsseldorf 1899, S. 7, RWWA, Bestand: 130 – Gutehoffnungshütte Aktienverein (GHH), Oberhausen, Signatur: 2220. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des RWWA Abb. 52: Gesamtansicht, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 118, Nr. 3076, 12.06.1902, S. 917 Abb. 53: Wohnhäuser für eine und zwei Familien, in: Illustrirte Welt, Jg. 41, Nr. 1, 1893, S. 21; Wohnhaus für Werksmeister, in: Illustrirte Welt, Jg. 41, Nr. 1, 1893, S. 21; Wohnhaus für vier Familien, in: Illustrirte Welt, Jg. 41, Nr. 1, 1893, S. 21 Abb. 54: Colonie Kronenberg und die protestantische Kirche, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2471, 08.11.1890, S. 508 Abb. 55: Emil Limmer: Arbeitertöchter in dem Unterricht für weibliche Handarbeiten, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. XVIII (gesonderte Paginierung) Abb. 56: AEG (Hrsg.): Turbinenfabrik, Berlin o.J., S. 21, SDTB, Bestand: AEG, Signatur: So 4268. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des SDTB Abb. 57: Essen. Krupp’s Gussstahlfabrik. Montage von Schiffs- u. Küstenlafetten, Bildpostkarte, ungelaufen, o.J., HDEG/Stadtarchiv, Bestand: 951 – Postkartensammlung, Signatur: 951/582. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des HDEG/ Stadtarchiv Abb. 58: Im Schmelzbau, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2471, 08.11.1890, S. 496f. Abb. 59: Emil Limmer: Blockwalzwerk in: Illustrirte Zeitung, Bd. 116, Nr. 3015, 11.04.1901, S. XIIf. (gesonderte Paginierung, Original z.T. farbig) Abb. 60: Schiffskurbelwelle von 45000 Kilogr. Gewicht auf der Drehbank, in: Illustrirte Zeitung, Bd. 95, Nr. 2471, 08.11.1890, S. 502

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

453

Ortsregister

Ortsregister Berlin 11, 50, 67, 79, 132, 145, 146, 148, 150, 157, 190, 197, 198, 199, 243, 296, 329, 383, 385 Bielefeld 11, 249 Bremen 139, 189 Breslau 135, 136 Brüssel 134, 135 Chicago 34, 149, 177 Dortmund 11, 249, 250 Duisburg 11, 202, 203, 249, 250 Düsseldorf 251, 361 Elberfeld 219, 222, 249, 250, 283, 358 Emsdetten 183 Essen 11, 56, 78, 163, 185, 200, 201, 202, 206, 207, 208, 209, 210, 212, 213, 215, 217, 221, 225, 226, 230, 241, 249, 251, 252, 271, 283, 329, 360 Hamburg 145, 148 Kiel 330 Köln 11, 79, 206, 223, 229, 251, 258 Leverkusen 11, 79, 219, 222, 223, 224, 251, 273, 276, 358, 366 Liverpool 46 London 46, 47, 57, 131, 132, 156, 192, 333, 372, 390 Manchester 46 Mauch Chunk 49 München 121, 150, 153, 169 Neunkirchen 289, 334, 375, 388 New York 156, 157, 158, 372 Paris 47, 48, 50, 67, 99, 120, 131, 132, 143, 149, 155, 156, 157, 177, 178, 192, 354, 370 Ruhrort 11, 202, 203, 249, 250 San Francisco 193 Sheffield 46 St. Louis 150, 153 Wien 155, 192

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820

© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783412507794 — ISBN E-Book: 9783412518820