Briefe an Anatolij Koni und andere Materialien: Herausgegeben von Bischitzky, Vera 9783412224349, 3412224340

Ivan A. Goncarov (1812-1891), dessen unsterblicher Roman "Oblomov" auch 150 Jahre nach seinem Erscheinen noch

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Briefe an Anatolij Koni und andere Materialien: Herausgegeben von Bischitzky, Vera
 9783412224349, 3412224340

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von DANIEL BUNČIĆ, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe B: EDITIONEN Band 29

Ivan A. Gončarov

Briefe an Anatolij F. Koni und andere Materialien Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von

Vera Bischitzky Mit einem Geleitwort von Peter Thiergen

2016 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N W E IMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Mikhail Prokhorov Foundation TRANSCRIPT – Programme to Support Translations of Russian Literature und des Privatfonds Schulze-Thiergen.

Vera Bischitzky lebt als freiberufliche Publizistin und literarische Übersetzerin, vor allem russischer Klassik, in Berlin. Für ihre Gončarov-Arbeiten wurde sie 2014 in Russland mit dem Internationalen Gončarov-Preis ausgezeichnet.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Postkarte, Ende des 19. Jahrhunderts

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22434-9

Inhalt Einführendes Geleitwort von Peter Thiergen .......................................................... 7 Vorwort ............................................................................................................................ 17 1. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Missachtung des Willens ............................... 25 2. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Briefe an Anatolij Fedorovič Koni .............. 44 3. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Briefe an Aleksandra Karlovna Trejgut ...... 148 4. Michail Matveevič Stasjulevič: Ivan Aleksandrovič Gončarov (Nachruf ) .................................................................................................................. 154 5. Anatolij Fedorovič Koni: Ivan Aleksandrovič Gončarov................................ 160 Editorische Notiz ........................................................................................................... 179 Anmerkungen ................................................................................................................. 182 Literatur............................................................................................................................ 254 Im Band erwähnte Werke Ivan Aleksandrovič Gončarovs .................................... 259 Personenregister.............................................................................................................. 261

Einführendes Geleitwort von Peter Thiergen I.  Der „deutsche Gontscharow“ Zu den Verdiensten der Neuen Zürcher Zeitung gehört seit je, dass sie ihre Seiten regelmäßig für slavistische Beiträge im weitesten Sinn öffnet. So konnte auch Hermann Hesse, der seit 1899 in der Schweiz lebte, in der NZZ publizieren. Im September 1906 hielt er fest: Es ist ja erstaunlich, daß trotz unserer Russenmode und trotz dem Druckeifer unserer Verleger so wenig gute deutsche Ausgaben der besten und bekanntesten Russen existieren […] Wir haben keinen gut gedruckten befriedigenden Turgenjew, keinen Puschkin, nicht einmal einen Gogol.1

Drei Jahre später konstatierte er, diesmal weniger kritisch, an anderer Stelle: Man beginnt auch der russischen Literatur allmählich ihre Klassiker zuzugestehen. Um Tolstoi hat sich Diederichs verdient gemacht, dann kam der Dostojewski des Verlags Piper in München, dann begann Georg Müller seine große Gogolausgabe, und nun gibt Bruno Cassirer in Berlin den ersten Band einer Gesamtausgabe von Gontscharow heraus. Beide, Gogol und Gontscharow, sind nun schon hundertjährig! Einstweilen sei auf die beiden Ausgaben mit nachdrücklichster Empfehlung hingewiesen […].2

Im Dezember 1909 erscheint dann, nunmehr abermals in der NZZ, Hesses Beitrag Ein deutscher Gontscharow. Dort heißt es anerkennend: Mit der Zeit kommt alles einmal an die Reihe. Seit Jahren habe ich, und nicht ich allein, angesichts der Gorkibegeisterung und anderer seichterer Russenmoden daran erinnert, daß es noch keine befriedigende deutsche Ausgabe von Gogol und Gontscharow gebe. Inzwischen hat Georg Müller in München seine große Gogol-Ausgabe begonnen, zwei Bände liegen fertig vor, und nun kommt bei Bruno Cassirer in Berlin ein auf vier Bände berechneter Gontscharow heraus […] Wer von Gogol

1 H. Hesse, Die Welt im Buch. Leseerfahrungen I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900–1910. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hg. v. Volker Michels, Frankfurt a.  M. 1988, S. 225. 2 Ebda., S. 395f. (kursiv im Orig.). Kommentar dazu S. 570 und 600.

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Einführendes Geleitwort und Turgenjew, oder auch nur von Korolenko und Gorki her ein Ohr für den eigentümlichen Ton der guten russischen Dichtung gewonnen hat, wird bei Gontscharow reichen Genuß finden.3

Wieder ein Jahr später resümiert er, nach einem Blick auf die deutschen Gogol-, Puschkin- und Turgenjew-Ausgaben: Nimmt man dazu den Gontscharow des Verlags Cassirer, so haben wir die großen Russen fast alle in würdigen Ausgaben beisammen.4

Was eine „würdige Ausgabe“ ist, muss jede Zeit aufs Neue definieren. Heute dürfen die Neuübersetzungen von Vera Bischitzky diesen Anspruch erheben, und vor allem ihre Ausgaben der Toten Seelen und des Oblomow legen hierfür Zeugnis ab.5 Es ist die Verbindung von sprachlicher Sorgfalt, reichem Realienkommentar, biographischen Bezügen und historischer Einordnung, die den Anspruch einlöst, zumal immer auch an einen Leserkreis außerhalb der Slavistik gedacht wird. Die vorliegende Edition will den „deutschen Gontscharow“ um neue Bausteine erweitern. Gončarovs Briefe sind bis heute noch nicht einmal in Russland vollständig gedruckt, geschweige denn in deutscher Übersetzung zugänglich. Auch wichtige Teile seiner essayistischen, häufig selbstkommentierenden und autobiographischen Schriften sind bisher nicht ins Deutsche übertragen worden bzw. – wenn doch – gänzlich abgelegen publiziert. Das ist eine folgenreiche Kalamität, weil genau deshalb die durchaus zahlreichen deutschen Gončarov-Beiträge, vor allem zum Oblomov, die in Feuilleton, Publizistik oder nichtslavistischen Schriften erscheinen, gleichsam in der Luft hängen und zu ärgerlichen Schnellschussinterpretationen führen können. Modischer Zeitgeist ersetzt dann philologische Sorgfalt. Kommen dann auch noch Lücken und Fehler in den früheren Gončarov-Übersetzungen hinzu, ist der „deutsche Gontscharow“ manchmal nur ein Zerrbild. Dafür ein Beispiel. In der Oblomow-Übersetzung von Josef Hahn wird die Erzählerauskunft zu Andrej Štol’c, dieser stelle ein „helles, weites Bild“ dar (jarkuju, širokuju kartinu), mit „ein leuchtendes umständliches Gemälde“ wiedergegeben.6 Das ist eine gravierende Fehlübersetzung, zumal Gončarov im Oblomov die für Russland übliche 3 Ebda., S. 410f. Kommentar S. 600. 4 Ebda., S. 512 (kursiv im Orig.). Kommentar S. 600. 5 Nikolai Gogol, Tote Seelen. Aus dem Russischen neu übersetzt von Vera Bischitzky. Mit Anmerkungen und Bericht aus der Übersetzerwerkstatt von Vera Bischitzky und einem Nachwort von Barbara Conrad, Düsseldorf 2009. Iwan Gontscharow, Oblomow. Roman in vier Teilen. Hg. und übersetzt von Vera Bischitzky, München 2012. (S. 749-838 Nachworte und Anmerkungen von Vera Bischitzky). Beide Ausgaben sind auch als Taschenbuch erschienen. 6 Iwan A. Gontscharow, Oblomow. Aus dem Russischen von Josef Hahn, München 1980 (= dtv), S. 593 (kursiv von mir, P. T.).

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Kontrastsetzung „weit“ (= russisch) vs. „eng“ (= deutsch) bedeutungsvoll umkehrt, indem er Štol’c als Trägerfigur für „Weite“, Oblomov aber als Sinnbild für „Enge“ präsentiert.7 Schon ein einziger Missgriff bei der Adjektivwahl kann den traduttore zum traditore machen.

II.  Der passionierte Briefschreiber Zu deutschsprachigen Literaturklassikern, aber auch zu fremdsprachigen Autoren westlicher Literaturen, erscheinen bei uns immer wieder reich kommentierte Brief- und Tagebuchausgaben, dazu höchst gehaltvolle Biographien von dokumentarischem Wert. Das sichert auch den traditionell kanonischen Namen zusätzliche Präsenz und Ranghöhe, und niemand ordnet solche Ausgaben als überflüssigen Biographismus ein. Gončarov selber hat freilich gewisse Publikations- bzw. Übersetzungsverbote erteilt. Für solche Interdiktionen kann es gute Gründe, aber auch ebenso gute Gegengründe geben (siehe das Vorwort von Vera Bischitzky). Die vorliegende Ausgabe wird zeigen, dass die Güterabwägung entgegen dem ursprünglichen Autorwillen nicht zu Gončarovs Nachteil gereicht. Diaristische und epistolographische Quellen sind zumeist Fundamentaltexte, trotz aller Fußangeln und Fallgruben, die sie enthalten können. Goethe notierte 1805: „Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann.“ Das gilt auch für Gončarovs Briefe, obwohl ihr Verfasser durchaus eitel-animos sein konnte und bisweilen, zum Beispiel im Plagiatsstreit mit Turgenev und in Sachen postalischer Briefüberwachung, geradezu an Verfolgungswahn litt. Das ging so weit, dass Gončarov am Ende sogar Flaubert bezichtigte, ihn mit Hilfe Turgenevs plagiiert zu haben. Vorsicht ist also angebracht, zumal sich Gončarov selber „Empfindlichkeit“ und übertriebene „Selbstliebe“ (samoljubie) zuschrieb. Auch er hatte Schwächen – und bekannte sich dazu. Das ehrt ihn. Wir leben in einer Zeit der Briefverächter, wenn nicht überhaupt der Handschriftnihilisten. Es dominiert jederzeit zu tilgende Digitalkommunikation. Dabei gab es einmal eine regelrechte „Kunst des Briefeschreibens“ als eigenhändiges Tun mit Tinte, Federkiel oder metallenen Schreibfedern. Gelegentlich wurde freilich auch diktiert. Briefe waren „rukotvornye pamjatniki“, d. h. im Wortsinn „authentische“, also urschriftliche Zeugnisse. Jeder Brief war ein Originalwerk. Die Gattung der Briefsteller galt eher als Prothese für geistig Faule oder Minderbemittelte. Unendlich Vieles kann, von der Gedankentiefe über die Stilästhetik bis zur Ironie und Modulierung je nach Anlass und Empfänger, in Briefen ge- und verborgen 7 Vgl. hierzu P. Thiergen, „Weite russische Seele“ oder „Geographie des Winkels“? Vorstellungen von Weite und Enge in Gončarovs „Oblomov“. In: P. Thiergen (Hg.), Scholae et symposium. FS für Hans Rothe zum 75. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 205–226.

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sein. Dabei konnte das schreibende Subjekt im Dialog mit dem Empfänger durchaus zugleich auch ein Selbstgespräch führen. Briefeschreiben hieß, anders als im E-Mail-Zeitalter, verzögerte Reflexion, manchmal sogar mit mehreren Entwürfen, bevor es zur Endfassung kam. Die einstigen Briefschreiber, vor allem die wortgeund bildungszugewandten, wussten um diese Bedeutungen, und die Empfänger ebenfalls, weil es den „imaginierten Leser“ schon damals gegeben hat. Heute werden sogenannte Brief-Studios gegründet, um dem Verfall der epistolaren Kultur wenigstens hie und da gegenzusteuern.8 Alle Klassiker der europäischen und der russischen Literatur haben umfangreiche Briefcorpora hinterlassen. Immer ging es um einen Briefwechsel, um Perepiska, als Hin- und Zurückschreiben mit Fortsetzungstendenz. Es ist zu vermuten, dass in manchen Fällen die Zahl der verlorenen Briefe die Anzahl der erhaltenen weit übersteigt. Man schätzt, dass Goethe etwa 20 000 Briefe selbst geschrieben und ca. 24 000 erhalten hat.9 Thomas Mann soll ca. 25 000, Hesse sogar 35 000 Briefe verfasst haben. Im Čechov-Archiv liegen rund 10 000 Briefe, die Čechov in seiner kurzen Lebenszeit bekommen hat, während von ihm selbst nur etwa halb so viele erhalten sind.10 Es gab Autoren, deren eigentliches Lebenswerk in ihrer Korrespondenz bestand. So auch bei dem russischen Aufklärer Aleksandr I. Turgenev (1784–1845), der sich selbstironisch eine „ėpistoljarnaja skribomanija“, eine „Brief-Scribomanie“ bescheinigte.11 Dominierten einst eher gattungsgebundene „Sendschreiben“ (poslanija), so gehörte seit Freimaurertum, Empfindsamkeit und Romantik das Briefewechseln zum intimeren Freundschaftskult mit Bildungsanspruch, Selbsterforschung, gewisser Beichtfreude und stilistischem Ästhetikspiel. Zugleich bzw. danach wiederum wurden die Grenzen zur zeitkommentierenden Publizistik und am Ende zum Geschäftsbrief fließend.12 Als eine Art Passepartout-Wort für den changierenden Briefinhalt diente nicht selten das Verbum „philosophieren“, versehen mit einer augenzwinkernden Komponente. „Davajte filosofstvovat‘“, lautete so mancher russische Briefauftakt.13 Und entsprechend als abschließender Ordnungsruf: „No polno filosofstvovat‘!“.14 Gemeint war ein Bedeutungsspektrum von „ernsthaft erörtern“ über „raisonieren“ bis hin zu „geistreich daherreden/klügeln“. 8 Vgl. C. P. Müller, Nichts ist schwerer zu schreiben als ein guter Brief. In: FAZ Nr. 51 vom 02. März 2015, S. 20. 9 Vgl. zuletzt die wunderbare Studie von A. Schöne, Der Briefschreiber Goethe, München 2015. 10 V. B. Kataev (red.), A. P. Čechov. Ėnciklopedija, Moskva 2011, S. 255ff. (s. v. „Pis’ma Čechova“). 11 Vgl. Der Briefwechsel zwischen Aleksandr I. Turgenev und Vasilij A. Žukovskij 1802–1829 […]. Hg., kommentiert und eingeleitet von Holger Siegel, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 42. 12 Vgl. ebda. H. Siegels Einleitung S. 12f., 25f., 42f., 56 u. ö. Siehe auch Ders., Aleksandr Ivanovič Turgenev (1784–1845). Ein russischer Aufklärer, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 201–337 (Kap. „Korrespondenzen“). 13 Siehe u. a. I. A. Gončarov, Sobr. soč. v vos’mi tomach, Bd. 8, Moskva 1980, S. 291. 14 Vgl. die Formel bei Žukovskij (wie Anm. 11 ), S. 329.

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Auch Gončarov war – nach eigener Auskunft wie nach objektivem Befund – ein begeisterter Briefschreiber und -kommentierer, der diese Gattung mit ebenso viel Ernst wie Lockerheit und Darstellungsfreude pflegte. Natürlich hat auch er Trivialbriefe verfasst, deren Aussagewert gering ist. Doch nicht wenige seiner Schreiben waren regelrechte Abhandlungen, die aus durchnummerierten Abschnitten, Addenda und Postscripta bestehen konnten. Das russische pis’mo mit seinem Bedeutungsfeld „schreiben, Geschriebenes“ transportiert ja auch eine andere Etymologie als das deutsche Lehnwort Brief, das mit Termini wie Brevier, Breviloquenz, brevi manu u. ä. zusammenhängt (von lat. brevis = kurz, knapp, bündig). Antwortete der Adressat länger nicht oder nur kurz, beschwerte sich Gončarov des Öfteren ironisch-indigniert über das lange Schweigen oder sprach von einer „homöopathischen Dosis“, mit der er wohl zufriedengestellt werden solle. Und fügte hinzu: „Ich selber kann keine homöopathischen Briefe schreiben – ich bin ein Allopath“.15 Wie anerkennend sich Anatolij F. Koni zu Gončarovs Briefkunst geäußert hat, findet sich in diesem Band (siehe S. 172 f.). In Gončarovs posthum erschienener Schrift Neobyknovennaja istorija (Eine ungewöhnliche Geschichte) aus den 1870er Jahren steht folgendes Bekenntnis: Schreiben – das ist eine Berufung – sie verwandelt sich in Passion. Auch ich besaß diese Passion – fast von Kindheit an, schon in der Schule! Ich schrieb an meine Mitschüler, von einem Klassenzimmer in das andere – an alle. Und das ist bis heute so: besonders Briefe. Und es ist doch klar, warum vor allem sie! Die Briefform verlangt keine vorbereitende Arbeit, keine Pläne […] Weder Personen noch Charaktere noch Details sind nötig, nichts, was aufhält und den freien Gedankenstrom und die Phantasie abkühlt! Erforderlich ist nur ein Korrespondent und irgendein mich interessierendes Sujet, ein Gedanke […] Ich setze mich hin, wie ein Musikant ans Fortepiano, und beginne zu phantasieren (fantazirovat‘), nachzudenken (myslit‘), Empfindungen zu haben (oščuščat‘), mit einem Wort, leicht zu leben, schnell und ganz eigen (žit‘ legko, skoro i svoeobrazno) – und fast genau so lebendig und real, wie im wirklichen Leben! […] Mich hat manchmal das eigentliche Sujet eines Briefes gar nicht interessiert, oder nur wenig, reichte es doch, wenn es, und sei es nur für einige Zeit, meine Nerven anregte – und ich konnte drauflosschreiben!16

15 Vgl. Iwan Gontscharow, Herrlichste, beste, erste aller Frauen. Eine Liebe in Briefen. Hg. und aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky, Berlin 2013, S. 19, 138 und 143. 16 I. A. Gončarov, Sobr. soč. v vos’mi tomach, Bd. 7, Moskva 1980, S. 391f. (Übersetzung hier wie auch sonst von mir, P. T.).

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„I ja davaj pisat‘!“ – das ist natürlich etwas geflunkert. Auch wenn es solche Drauflos-Briefe gibt und Routine die Produktion beschleunigt: in zahlreichen Schreiben begegnet uns Gončarov doch eher als gründlich nachdenkender, sorgender, auch (be)lehrender Ratgeber und Lebenserklärer, voller Karität und Idealhoffnung. Da er seinen erzieherischen Impetus nicht auf eigene Kinder richten konnte, schrieb er zunächst mit Vorliebe an junge Damen aus seinem Umfeld, darunter an Sof ’ja A. Nikitenko (1840–1901), später an engere Freunde wie M. M. Stasjulevič (1826– 1911) oder eben Anatolij F. Koni. In vielen Facetten kehrt dabei ein Hauptthema wieder: das Auseinanderfallen von Ideal und Wirklichkeit, Theorie und Alltag, Wollen und Können, von proklamiertem und realisiertem Lebensentwurf, dazu das Widerspiel von Vernunft und Emotion, von Pflicht und Neigung oder – um mit Habermas zu formulieren – von allgemeiner „Systemwelt“ und privater „Lebenswelt“.17 In Briefen an den Freund Ivan I. L’chovskij (1829–1867) oder an Sof ’ja Nikitenko beklagte Gončarov, dass bisher noch „keine Brücke“ über den „Abgrund zwischen Realität und Ideal“ gefunden sei, dass zwischen der „extremen Unvollkommenheit“ der Menschen und den Idealsetzungen von Religion und Philosophie ein permanenter, kaum auflösbarer Widerspruch bestehe.18 Die Kluft zwischen Sollen und Sein war eines der Lebensthemen Gončarovs, auch und gerade in seinen Briefen.

III.  Der „realistische Idealist“ Oberflächliche Betrachter schreiben Gončarov, zumeist aus vorschneller Analogiebildung zu seinem Oblomov, eine Rückzugs- und Aussteigermentalität des Nicht(s)Tuns zu. Dagegen hat sich Gončarov vielfach verwahrt. Wenn er hier und da von der „Poesie der Faulheit“ gesprochen hat, so meinte er damit ein ästhetisch-theoretisches Spiel, niemals ein ganzes Lebensmodell. Im August 1860 – der Oblomov war 1859 erschienen – schreibt er in einem seiner programmatischen Briefe an die Schwestern Nikitenko: Es heißt, man solle sich mit der Welt und den Menschen abfinden, so wie sie sind: damit kann ich nicht einverstanden sein. Vielleicht kann man sich dem allen von einem christlichen und humanen Standpunkt her nähern […], aber ruhig sein und akzeptieren, daß dies so sein muß, sich abfinden – das kann ich nicht […].19 17 Vgl. hierzu P. Thiergen, ‚Moderne Themen‘ im „alten Oblomov“. In: O. Ė. Karpeeva/G. A. Time (red.), Musenalmanach. V čest’ 80-letija Rostislava Jur’eviča Danilevskogo, Sankt-Peterburg (RAN) 2013, S. 425–439. 18 Vgl. I. A. Gončarov, aaO./Anm. 16/, Bd. 8, Moskva 1980, S. 252f., 318f. u. ö. 19 Ebda., S. 306.

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Zum Menschen gehöre eine tiefe Sehnsucht nach höheren Maßstäben und Idealen. Niemals sei die „tierische Apathie“ (skotskaja apatija) der Fühl- und Vernunftlosigkeit hinzunehmen, höchstens eine „Resignation“ (rezignacija) nach langem Lebenskampf, an dessen Ende „Seelenmüdigkeit“ und „der Verlust von Glaube, Hoffnungen und Liebe“ stehen könne. Und Gončarov fügt hinzu: Es gibt, so hoffe ich, einen Unterschied zwischen der Apathie eines verfetteten und verwöhnten Herrn und der Apathie eines Menschen, den im Leben Gedanken, Gefühle und schwere Not (mysl‘, čuvstva i nužda) begleitet haben.20

Das ist ein Verdikt gegen die Gleichgültigkeit der oblomovščina. Statt dieser, so Gončarov immer wieder, müßten die Idealproklamationen des „Guten, Wahren und Schönen“ und die Haupttugenden von „Fides, Spes, Caritas“ (1. Kor. 13, 13) befolgt werden. Das gehöre zum „Kampf ums Dasein“. Nichts stehe über dem „Streben nach dem Ideal“ (stremlenie k idealu) und der „Schönheit des menschlichen Tuns“ (krasota čelovečeskogo dela).21 Daher sei es die Aufgabe des Künstlers, mit psychologischer Darstellungskunst „die Erziehung zu vollenden und den Menschen zu vervollkommnen“.22 Gončarov hat nach eigener Aussage Prosawerke von Goethe, Schiller und Winckelmann übersetzt, später aber diese Übersetzungen vernichtet. In seinen Briefen, Essays und Romanen kehren vor allem Lehrteile Schillers direkt und indirekt wieder. Man darf auch an Kants Unterscheidung von „Wohlwollen“ und „Wohltun“ erinnern.23 Entsprechend warnt Schiller davor, das Dasein als bloßes „Wohlsein“ aufzufassen und damit in „Tierheit“ zu verfallen.24 Nicht bloße Worte des Wollens (= Oblomov), sondern helfende Taten des Handelns (= Štol’c) setzen moralische Dignität. Gončarov hat wie kaum ein anderer russischer Klassiker die seit dem 18. Jahrhundert intensivierte Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ aufgegriffen und wörtlich in seinen Texten vermittelt. Der Terminus „menschliche Bestimmung“ (čelovečeskoe naznačenie) gehörte ebenso wie der Begriff „Humanität“ 20 Ebda., S. 307. 21 Zum Lob der vita activa im Oblomov vgl. ebda., Bd. 4, Moskva 1979, S. 64, 184f., 428, 453, 459, 478 u. ö. 22 Ebda., Bd. 6, Moskva 1980, S. 455ff. Siehe dazu P. Thiergen, Oblomov als Bruchstück-Mensch. Präliminarien zum Problem „Gončarov und Schiller“. In: P. Thiergen (Hg.), I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung, Köln/Wien 1989, S. 163–191. Siehe auch P. Thiergen (Hg.), Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der I. Internat. Gončarov-Konferenz Bamberg, 8.–10. Oktober 1991, Köln/Weimar/Wien 1994. 23 Siehe dazu P. Thiergen 2013 (wie Anm. 17), S. 434f. 24 Vgl. P. Thiergen, Literarische Arkadienbilder im Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts. In: B. Heinecke/H. Blanke (Hg.), Arkadien und Europa, Haldensleben-Hundisburg 2007, S. 169– 193 (Zitat S. 183).

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(gumanitet, čelovečnost‘) zu seinen ethisch-moralischen Schlüsselwörtern. Das war eine der üblichen russischen Phasenverschiebungen, denn im deutschsprachigen Raum gehörte der Begriff „Bestimmung des Menschen“ – nach einer Blütezeit im 18. Jahrhundert – schon im frühen 19. Jahrhundert „der Vergangenheit an“.25 Die Sache selber freilich, nämlich mit pädagogischem Eros ein idealistisches Menschenbild als Leitbild im Gespräch zu halten, ist ein zeitloser Entwurf.

IV.  Anatolij F. Koni Es ist kein Zufall, dass Anatolij F. Koni (1844–1927) zu Gončarovs engeren Freunden und Briefpartnern gehörte. Beide trafen sich im Schnittfeld von säkularer Humanität und christlicher Caritas, d. h. in der Entscheidung für altruistisches Wohltun statt für selbstbezügliches Wohlsein. Koni sagte von Gončarov, dieser sei zeit seines Lebens ein „großes Arbeitstier“ gewesen (byl bol’šim truženikom) und damit gleichsam ein Anti-Oblomov.26 Genau diese Charakteristik trifft auch auf Koni selber zu. Der promovierte Strafund Staatsrechtler aus bekannter Familie hatte in Petersburg eine deutsche Schule besucht, später bei berühmten Gelehrten wie N. I. Kostomarov, B. N. Čičerin, S. M. Solov’ev oder F. I. Buslaev Vorlesungen gehört und prägende Erfahrungen in der Reformära Alexanders II. gemacht.27 Belesen, kultiviert und auf vielen Gebieten zuhause, engagierte er sich öffentlich über seine Profession hinaus und stand mit zahlreichen Zeitgenossen, darunter vielen Schriftstellern, in Kontakt. Dostoevskij, Tolstoj und Čechov interessierten sich für seine Prozessauftritte und Gerichtsreden (Sudebnye reči), eine in Russland eher selten gepflegte Gattung. Mehrere ‚Gerichtserzählungen‘ Tolstojs sind unmittelbar mit Koni verbunden, darunter Die Kreutzersonate und vor allem Auferstehung. Bei einem Besuch in Jasnaja Poljana Mitte 1887 hatte Koni seinem Gastgeber genau eine solche Causa aus der Gerichtspraxis vorgetragen, wie sie später in Auferstehung dargestellt wurde. Tolstoj selber nannte das Sujet seines Romans eine „Koni-Erzählung“ (Konevskaja povest‘).28 Bei Lesungen der Kreutzersonate trat Koni 25 Zur Geschichte und Bedeutung des Begriffs vgl. die beeindruckende Arbeit von Laura Anna Macor, Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. Zitat S. 355. Zu russischen Diskussionen der „Bestimmung des Menschen“ vor Gončarov vgl. die lehrreichen Ausführungen bei Siegel 2001 (wie Anm. 12). 26 Vgl. I. A. Gončarov v vospominanijach sovremennikov, Leningrad 1969, S. 253. Siehe auch ebda. S. 299f. 27 Vgl. Russkie pisateli 1800–1917. Biografičeskij slovar‘, Bd. 3, Moskva 1994, S. 53–54 (s. v. Koni, A. F.). Sein Vater Fëdor A. Koni (1809-1879) war Dr. phil. h. c. der Universität Jena und Verfasser dramatischer Unterhaltungsliteratur (siehe ebda., S. 56–57). Zu ihm vgl. jüngst M. Katz, F. A. Koni und das russische Vaudeville, München/Berlin 2012. 28 Vgl. L. N. Tolstoj, Sobr. soč. v dvadcati tomach, Bd. 13, Moskva 1964, S. 521ff.

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als engagierter Vortragender auf. Seit 1891 war er Senator. Seinen Bruder Evgenij F. Koni (1843–1892), einen in Not geratenen Schriftsteller, unterstützte er bis an dessen Lebensende. Er repräsentierte wie wenige das liberale, gebildete und von Arbeitsethos getragene Russland einer sich zaghaft formierenden Zivilgesellschaft. Hierzu passt, dass sich Koni lebhaft für Anton Čechovs mehrmonatige Sachalin-Reise von 1890 interessierte. Beide trafen sich im Januar 1891 zu einem Meinungsaustausch über die Verhältnisse auf der Sträflingsinsel, woraufhin Čechov seine Beobachtungen über das Elend der Kinder und Kinderprostituierten nochmals brieflich zusammenfasste.29 Als Koni 1897 eine Biographie des Moskauer Gefängnisarztes Friedrich Joseph Haass (1780–1853) veröffentlichte, erhielt Čechov ein Widmungsexemplar mit dem Eintrag, der Verfasser sei ein „großer Verehrer“ (glubokij počitatel‘) Čechovs.30 Diese Hochachtung kam auch darin zum Ausdruck, dass Koni Aufführungen von Čechov-Stücken besuchte und ihrem Autor brieflich für das Theatererlebnis dankte.31 1984 hat Lev Kopelev dem „deutschen Moskauer Friedrich-Fjodor Haass“ eine emphatische Darstellung gewidmet, und Heinrich Böll hat dazu ein Vorwort geschrieben.32

V. Desiderat Gončarov – Koni – Čechov – Haass – Kopelev – Böll: eine achtunggebietende Beispielreihe von Menschen, die idealistische Sinnsuche mit konkretem Tun verbunden haben. Elfenbeinturm und Schreibtischklause sind keine ausreichende Heimstatt. Die schönen Worte des Wohlwollens und die schönen Orte des Wohlseins können niemals die Gebote des Wohltuns ersetzen. Der Brückenbau über den „Abgrund“ muss immer von neuem versucht werden. Es wäre zu wünschen, dass weitere Briefe des „Brückenbauers“ Gončarov, zum Beispiel die Nikitenko- und die Stasjulevič-Briefe, ebenfalls in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht werden könnten. Nur so wäre ein Gesamtbild des Menschen und Oblomov-Verfassers Ivan Gončarov, zu dem wir keine deutschsprachige Biographie haben, annähernd erreichbar.

29 A. P. Čechov, Poln. sobr. soč. i pisem v tridcati tomach, Briefe Bd. 4, Moskva 1976, S. 167–169 (= Brief an Koni vom 26. Januar 1891). 30 Vgl. ebda., Briefe Bd. 7, S. 399. 31 Vgl. ebda., Briefe Bd. 6, S. 546f. 32 Der heilige Doktor Fjodor Petrowitsch. Die Geschichte des Friedrich Joseph Haass […], erzählt von Lew Kopelew, Hamburg 1984.

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Einführendes Geleitwort

Albrecht Goes hat ein Gedicht mit dem Titel Der alte Leser geschrieben.33 Es setzt gegen den Siegeszug der elektronischen Medien das Lob der Handschrift und schließt mit der tapferen Kapitulation: Ich denke einen, der am Rechtecktisch Im Lesesaal bei seiner Lampe sitzt – Geduldig ganz der Handschrift zugewandt, Dem Vorfahr nah im schweigenden Gespräch, Dem schönen Fund zulob die Feder führend – Ich weiß, ihr siegt. Ich will nicht mit euch siegen. Ich will beim Buchstab bleiben. Bis zuletzt.

Auch Gončarov blieb „beim Buchstab“. Bis zuletzt. Wir sollten seine Briefe lesen. Auch sie sind ein „schöner Fund“.

33 A. Goes, Vierfalt. Wagnis und Erfahrung, Frankfurt a. M. 1993, S. 147. Den Hinweis verdanke ich Michael Goldbach (Bamberg), der sich im konkreten und übertragenen Sinn, wie einst Gončarov, „ans Fortepiano“ zu setzen pflegt.

Ich glaube daran, glaube, dass die zivilisierte Welt unter der drückenden Last der elenden, krankhaften, wahnhaften Phantastereien oder der dreisten und verbrecherischen Versuche, die harmonische Entwicklung und den Lauf der menschlichen Existenz zu stören oder zu zerstören usw., nicht untergehen wird. Dieser Brand kann das eine wie das andere für eine gewisse Zeit in Asche legen, doch aus der Asche werden neue Phönixe aufsteigen (aus dem Brief I. A. Gončarovs an A. F. Koni vom 19. August 1880).

Vorwort Ivan Aleksandrovič Gončarov (1812–1891), Autor des unsterblichen „Oblomov“, weiterer Romane, Erzählungen, Essays und anderer Werke, der 1867 fünfundfünfzigjährig seinen Abschied aus dem Staatsdienst nahm und damit aus dem aktiven beruflichen Leben ausschied, tritt uns im vorliegenden Band als „Literat im Ruhestand“ entgegen. Mit dieser resignativen Selbstdiagnose unterschrieb er 1877 einen Brief an Petr Valuev (Gončarov, 1938, S. 317) und umriss damit den Status quo seiner durch schwierige, von Depressionen, Krankheiten und immer wieder auch Geldknappheit überschatteten persönlichen Umstände. „Irgendwie ist mir die Lebensfreude abhanden gekommen. Meine Altersgebrechen erinnern mich oft an das memento mori. Bald der Husten, bald Magenkrämpfe, bisweilen Atemnot und dergleichen mehr. Meine Krankheit ist unheilbar: sie heißt 76 Jahre“, schreibt er im Brief an Anatolij Koni vom 17. Juli 1888 (Brief Nr. 75, S. 135). Mehr und mehr hatte er sich, zutiefst verletzt, nach dem Misserfolg seines von der Kritik als zu konservativ und fortschrittsfeindlich empfundenen Romans „Obryv“ (1869) aus dem gesellschaftlichen Leben verabschiedet. In einem Brief an Sof ’ja Nikitenko, eine langjährige Freundin und Vertraute, heißt es im Juni 1870: „Ich tue nichts, d. h. ich schreibe nicht, und ich fühle, dass ich nie wieder schreiben werde. Man hat mich moralisch gemordet, und man hat auch jede lebendige Fähigkeit in mir gemordet“ (zitiert nach Alekseev, 1960, S. 193). Er zog sich zurück, ja, isolierte sich ganz bewusst, verkehrte nur noch mit einigen wenigen Vertrauten regelmäßig, empfand sich und sein Werk zunehmend als überflüssig und missverstanden und durchlebte eine tiefe Schaffenskrise. „Geist und Seele sind unruhig, meine Kräfte nicht im Gleichgewicht, und die arme Phantasie, diese zarte, schöpferische Fähigkeit, fliegt fort, wie ein aufgeschreckter Vogel!“ (Brief Nr. 74, S. 132). Außer einigen Erzählungen, Skizzen und Essays sind uns keine größeren Arbeiten der letzten zwanzig Jahre überliefert, obwohl manche Briefstellen darauf

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hindeuten, dass er über das Konzept für einen weiteren Roman nachdachte. Ob es dafür bereits Aufzeichnungen gab, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, da Gončarov einige Jahre vor seinem Tod fast sämtliche Schriftstücke, Briefe, auch seine Übersetzungen aus den frühen Jahren vernichtete. Im September 1869, im Erscheinungsjahr des Romans „Obryv“, schreibt er an Michail Stasjulevič, den Freund und Verleger: „Ob ich etwas tue, nein, ich tue nichts, ich wehre sogar die zudringlichen Überfälle der Phantasie ab, die mir listig und gegen meinen Willen neue Charaktere, Gesichter und Szenen eines neuen, mir selbst noch unbekannten Romans vor Augen führt. Doch ich wende mich ab und denke traurig, dass es zu spät ist: der Antrieb, der Ehrgeiz, alles ist mir abhanden gekommen, weshalb, weiß ich nicht, aus Altersgründen wahrscheinlich. Ich denke auch nicht daran, Altes zu drucken, das habe ich nicht vor, denn ich fürchte mich vor jemandes mir unverständlicher Feindschaft, vor einer literarischen und nicht literarischen Missgunst!“ (Gončarov, 1912, S. 84). Und im Januar 1870 heißt es in diesem Zusammenhang an Pavel Annenkov: „Wenn ich die Kraft dazu habe, wird es für mich wohl nach dem Abschluss von ‚Obryv‘ besser sein, gründlich über etwas Neues nachzudenken, das heißt, über einen Roman, sollte das Alter mich nicht daran hindern“ (Gončarov, 1955, S. 428). Für Gončarov, der lebenslang, insbesondere während seiner Auslandsaufenthalte oder seiner Sommerreisen, gern und ausführlich korrespondierte, wurde der briefliche Austausch mit einigen Nahestehenden in den letzten Lebensjahrzehnten quasi Lebenselixier und Ersatz für die literarische Arbeit: „Seine Briefe gleichen künstlerischen Miniaturen. Wichtig an ihnen ist natürlich auch die rein informative Seite […], doch die Information ist hier häufig der Vorwand, der Anlass für den Brief, in dessen Zentrum die um den Ausdruck ringende künstlerische Natur des Autors steht“, wie Tamara Ornatskaja und Vladimir Mel’nik in ihrem Vorwort zur russischen Erstpublikation der Briefe an Anatolij Koni schreiben (Gončarov, 2000 a, S. 440). Es stellt sich allerdings die altbekannte Frage, ob es legitim ist, als Außenstehender private, intime Briefe eines Fremden zu lesen, gar zu veröffentlichen, auch wenn sie aus einer längst vergangenen Epoche datieren und von einer Person der Zeitgeschichte stammen. Ganz besonders stellt sich diese Frage im Falle Ivan Gončarovs, der 1888, drei Jahre vor seinem Tod, in der Presse den in diesem Band (Kap. 1) abgedruckten Aufruf „Narušenie voli“ veröffentlichte, in dem er darum bat, ihm sämtliche seiner Briefe entweder zurückzugeben oder zu vernichten und nicht etwaigen „Literaturarchäologen“ das Feld zu überlassen. Neben der Bitte um die Wahrung seiner Privatsphäre äußerte er die Annahme, dass seine Briefe „nichts Brauchbares, Ernsthaftes, Tiefgründiges“ enthielten und auch nicht überschäumten vor „Geistesblitzen, vor Scharfsinn und Talent“, wie etwa die Briefe Turgenevs oder Puškins, „kurz, sie enthalten nichts Olympisches“ (siehe Kap. 1, S. 42). Eine völlige Fehleinschätzung, denn Gončarovs überlieferte Briefe zählen zu den Perlen

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des Briefgenres, weshalb wir es heute nicht mehr als Indiskretion empfinden, sie zu publizieren. Viele der Empfänger kamen seiner Bitte nach, vernichteten die Briefe oder schickten sie an den Absender zurück, der sie seinerseits vernichtete, so dass von den tausenden Briefen, die Gončarov Zeit seines Lebens schrieb, bis heute nur etwa 1800 der literaturgeschichtlich bedeutsamen, bekenntnishaften, anteilnehmenden, geistreichen, bisweilen überaus humorvollen und auch selbstironischen Zeugnisse des „privaten“ Gončarov überliefert sind, die oft seinen Werken in nichts nachstehen. Erhalten haben sich u. a. etwa 200 teilweise viele Seiten lange Briefe an den Freund und Herausgeber der Zeitschrift „Vestnik Evropy“, Michail Stasjulevič, und/oder seine Frau Ljubov‘ Stasjulevič über den Zeitraum von 1868 bis 1891, die bereits 1912 in Russland veröffentlicht wurden. Sie geben uns wertvollen Aufschluss über die Entstehungsgeschichte des Romans „Obryv“ und die für Gončarov schmerzlichen Begleitumstände der Veröffentlichung dieses Romans, vor allem jedoch zeichnen sie ein überaus lebendiges Bild der Persönlichkeit Gončarovs, seiner literarischen, auch seiner politischen Einstellungen, seiner Lebensumstände, seines Alltags, seiner Gewohnheiten und auch seines nie versiegenden, bisweilen bitteren Humors und seiner allgegenwärtigen Selbstironie. Einen besonderen Platz unter seinen Korrespondenten nehmen auch die Schwestern Ekaterina und Sof ‘ja Nikitenko ein, mit denen ihn eine jahrzehntelange enge Freundschaft verband. Beide Schwestern, Töchter des Gončarov viele Jahre freundschaftlich verbundenen Literaturhistorikers Aleksandr Nikitenko, standen ihm bei der Ausgabe seiner Werke unterstützend zur Seite, sie schrieben Manuskripte ab und waren ihm eine große Hilfe bei der Erziehung und Bildung der Pflegekinder Aleksandra, Vasilij und Elena Trejgut. Besonders Sof ’ja Nikitenko wurde ihm mit der Zeit immer mehr zur Beraterin in literarischen wie auch in Lebensfragen. Mit beiden wechselte er fünfundzwanzig Jahre lang unzählige Briefe, deren überwiegender Teil bisher auch in Russland noch unveröffentlicht ist. Überliefert sind unter anderem auch 34 Briefe an den Großfürsten Konstantin Konstantinovič Romanov, der Gončarov als väterlichen Mentor seiner literarischen Arbeiten sehr schätzte, um nur einige derjenigen Adressaten zu nennen, von denen im Folgenden immer wieder die Rede sein wird. Aus den an sie gerichteten Briefen wird in den Kommentaren jeweils ausgiebig zitiert. Und natürlich verfügen wir über die hier vorgelegten 90 Briefe an Anatolij Koni, einen der herausragenden Juristen seiner Zeit. Der erste dieser Briefe datiert aus dem März 1879, der letzte wurde am 8. Juli 1891 geschrieben, etwas mehr als zwei Monate vor dem Tod Gončarovs. Neben dem Aufschluss über Gončarovs Persönlichkeit aus „erster Hand“ gewähren die Briefe Einblicke in seine literarische Werkstatt, seine Überzeugungen, Ideale, Selbstzweifel, seine literarischen Sympathien und Antipathien, seinen Alltag. Anatolij Koni charakterisiert die Briefe wie folgt: „Seine Briefe könnten Bände füllen, denn er korrespondierte oft und gewissenhaft mit guten Bekannten, wobei seine Briefe wunderbare Beispiele jener Kunst des Briefeschreibens darstellen, wie sie Menschen der dreißiger und vierziger Jahre eigen war. Es war dies

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das besonnene Gespräch eines Menschen, der nicht nur den Wunsch hatte, ausführlich und aufrichtig seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen und zu erzählen, was in ihm vorging, sondern seine Gesprächspartner mittels einer Reihe anteilnehmender Fragen und harmloser Scherze zu einem ebensolchen Bericht zu bewegen.[…] Geschrieben mit seiner kleinen Schrift, mit unzähligen Zusätzen, zeichneten sie in ihrer Gesamtheit das Bild Gončarovs mit all den Facetten seiner komplizierten geistigen Natur“(siehe Kap. 5, S. 172). Anatolij Koni, der 1878 als junger Staatsanwalt maßgeblich verantwortlich war für den sensationellen Freispruch der Revolutionärin Vera Zasulič („mit der ,Akte Z[asulič]‘ im Portefeuille dürfen Sie sich keinesfalls der Traurigkeit hingeben, wenn in der Büchse der Pandora eine solche ‚Hoffnung‘ verborgen liegt“, schreibt ihm Gončarov im Brief Nr. 72, S. 129), durchlief in seinem Berufsleben verschiedene führende Positionen – Posten bei Gericht, im Justizministerium, als Senator im St. Petersburger Senat, die er häufig wegen der Unvereinbarkeit mit seinen Überzeugungen wieder aufgab; als ihm 1906 das Amt des Justizministers angeboten wurde, lehnte er dies ebenfalls ab. Gegen Ende seines Lebens, bereits in der sowjetischen Ära, hatte er eine Professur an der Petrograder/Lenigrader Universität inne. Darüber hinaus trat er als Autor bis heute hoch geschätzter juristischer Werke an die Öffentlichkeit und verfasste mehrbändige Lebenserinnerungen und Erinnerungen an seine Begegnungen mit zahlreichen Schriftstellern, darunter jene mit Ivan Gončarov, Ivan Turgenev, Fedor Dostoevskij, Lev Tolstoj und vielen anderen. Die Begegnungen mit Tolstoj habe er, wie er schrieb, stets als eine „Desinfektion der Seele“ empfunden, auch wenn er nicht in allem mit ihm einer Meinung gewesen sei. Tolstoj wurde durch Koni zu seinem Roman „Voskresenie“ („Auferstehung“) angeregt, dessen Sujet auf einen Fall aus Konis Gerichtspraxis zurückgeht, von dem dieser Tolstoj während eines Besuchs in Jasnaja Poljana erzählt hatte. Ein Widerhall der Begegnung Konis mit Tolstoj findet sich auch in den Briefen Gončarovs (Kap. 2). Anatolij Koni war für Ivan Gončarov ein Wahl- und Geistesverwandter, den er bei weitem seinen tatsächlichen, ihm seit langem entfremdeten Verwandten vorzog („Auf Wiedersehen, mein liebster Anatolij Fedorovič, mein wahrer Neffe – d.  h. Sie“, im Brief Nr. 47, S. 100). Konis Takt und Feingefühl ließen ihn auch allerlei Kapricen seitens des alten Freundes mit Verständnis ertragen, der bisweilen die Freundschaft über Gebühr strapazierte. Er genoss – soweit man dies aus dem Abstand von mehr als hundert Jahren beurteilen kann – Gončarovs volles Vertrauen und gehörte auch zu jenem engsten Freundeskreis, dem Gončarov seine neu entstandenen Werke zunächst zur Beurteilung vorlegte. Im von uns betrachteten Zeitraum entstehen „Na rodine“ (1888 veröffentlicht), „Slugi starogo veka“ (1888 veröffentlicht), über deren Entstehungsgeschichte die Briefe Auskunft geben, und einige kleinere, postum veröffentlichte Erzählungen („Ucha“, „Maj mesjac v Peterburge“, beide 1891 geschrieben, u. a.). Über die „Slugi“ (den in deutscher Übersetzung als „Dienstboten vergangener Tage“ bekannten Zyklus) heißt es in einem der Briefe an

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Koni: „Ich möchte mich unbedingt über einige von mir entworfene Skizzen Ihrer Meinung versichern: eine davon, höchstens zwei, würde ich Ihnen gern vorlesen, das würde nicht mehr als etwa eine Stunde in Anspruch nehmen. Ich habe sie Sof[‘ja] Al[eksandrovna] Nik[itenko] vorgelesen, und auch Mich[ail] Matv[eevič Stasjulevič] ist gestern bei mir gewesen, auch ihm habe ich ein wenig vorgelesen – beide billigen sie, doch ich muss auch wissen, was Sie davon halten, das würde den Ausschlag geben. Sollten auch Sie sich zu meinen Gunsten aussprechen, könnte ich das eine oder andere davon einer Zeitschrift anbieten“ (Brief Nr. 60, S. 116). Der hochsensible, verletzliche und in persönlichen Dingen eher verschlossene Gončarov ließ, wie den Briefen zu entnehmen ist, im Umgang mit Anatolij Koni den Schutzschild fallen und öffnete sich, da er sich des Verständnisses, des Mitgefühls, der Feinfühligkeit und der Geistesverwandtschaft seines Gegenübers sicher sein konnte. Er achtete den mehr als dreißig Jahre jüngeren Freund und Vertrauten ob seiner Humanität, seiner Aufrichtigkeit und Unbeugsamkeit hoch und empfand wohl auch väterliche Gefühle für Koni. Sicherlich erkannte er in Konis Persönlichkeit, seiner Veranlagung zur Schwermut und seiner Emotionalität, nicht zuletzt auch in dessen Leben als Junggeselle, Parallelen zum eigenen Leben. So heißt es 1882 in einem seiner Briefe: „Ihr verzagter Brief bekümmert mich zutiefst, mein guter und lieber Anatolij Fedorovič! Sein ganzer Ton ist von Traurigkeit durchdrungen, sogar beinahe verzweifelte Noten hört man heraus! […] Ihre, meine und ähnliche Naturen verfallen nicht selten in diesen Ton (ich habe die Beschaffenheit Ihrer Natur ja schon charakterisiert, indem ich sie ‚künstlerisch‘ genannt habe, das heißt nervös und empfindsam, wie es auch die meine ist). Das Leiden in verschiedenen seiner Erscheinungsformen, ohne jegliche äußerliche, schwerwiegende Gründe, ist ein ständiger Begleiter dieser Naturen. Das muss man sich ein für allemal klarmachen und ihm weder endlos nachgeben noch den Mut verlieren; auch sollte man immer daran denken, dass es beim kleinsten Wehen eines günstigen Lüftchens schnell umschlagen und zu einer Beruhigung, ja gar zu einem völlig entgegengesetzten Zustand führen kann! Von wenig empfindsamen, nicht nervösen Naturen werden Sie nicht selten viele dumme Vorwürfe zu hören bekommen, vermutlich haben Sie sie schon gehört, wie etwa: ‚Was fehlt ihm denn! Dies hat er und jenes, auch ein gutes Gehalt, und eine Stellung in der Gesellschaft usw., er aber ist ständig unzufrieden und jammert dauernd!‘[…] Ich vertraue darauf, dass der Nebel, der Sie einhüllt, verwehen und die Sonne Sie mit ihren warmen Strahlen liebkosen wird, kaum dass ein anderer Wind weht! In Ihrem Alter und mit Ihren Kräften werden Sie mit der neunten Woge sicher fertig werden, von diesen periodisch wiederkehrenden Wogen gibt es im Leben viele. Lassen Sie sich nicht entmutigen“ (Brief Nr. 34, S. 80). Einen besonderen Raum nimmt in der vorliegenden Ausgabe Gončarovs Sorge um die Familie seines 1878 plötzlich verstorbenen langjährigen Dieners ein. „Nach dem Tod ihres Vaters Karl Ljudvig Trejgut“, schreibt er 1883 in einem Begleitbrief zu seinem (1886 zu Gunsten der Familie Trejgut noch weiter überarbeiteten) Tes-

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tament, „wurde ich zum einzigen Halt der ganzen Familie, ohne diese Unterstützung hätte sie ohne Versorgung und ohne ein Dach über dem Kopf dagestanden.“ Im selben Schreiben heißt es, Karl Ljudvig Trejgut habe eine kranke Witwe hinterlassen, „die mir gemeinsam mit ihrem Mann mehr als 15 Jahre gedient hat und drei minderjährige Kinder, von denen die beiden jüngeren unter meinem Dach geboren wurden, alle drei wuchsen unter meinen Augen auf […] Das älteste Mädchen habe ich liebgewonnen wie eine Tochter“ (hier zitiert nach Cejtlin, 1950, S. 308 f.). Bis zu seinem Tode widmete er sich fortan der Erziehung, Bildung und dem Unterhalt der drei minderjährigen Kinder der mittellos zurückgebliebenen Witwe Aleksandra Ivanovna Trejgut, die fortan seinen Haushalt führt (und ihm ob ihres schwierigen Charakters manche Qual bereitet) und nimmt tätigen Anteil am alltäglichen Leben der Kinder Aleksandra, Vasilij und Elena. Damit bereitet er den Nährboden für bis heute anhaltende, unsinnige Spekulationen über eine etwaige Vaterschaft bei einem oder mehreren dieser Kinder, die sich nach der Lektüre der hier vorliegenden Briefe leicht widerlegen lassen. Die Liebe zu den Kindern – von seinen Zeitgenossen wegen des gravierenden Standesunterschieds nicht selten mit Kopfschütteln quittiert – gibt seinem Leben in den letzten Jahren einen Sinn und hilft ihm „wenigstens teilweise, ein wenig die Last des Lebens zu tragen und bis zum Ende zu erdulden“ (Brief Nr. 43, S. 96). Hier folgt Gončarov ganz offensichtlich auch dem Vorbild seines Paten, Nikolaj Tregubov, eines Junggesellen, der sich in Simbirsk nach dem frühen Tod von Aleksandr Gončarov, dem Vater des Schriftstellers, ebenfalls liebevoll um die vier Kinder der Familie Gončarov gekümmert hatte. Um dem ältesten der Trejgut-Kinder, Aleksandra, die Gymnasialausbildung zu finanzieren, überlässt Gončarov dem Buchhändler und Verleger Ivan Glazunov 1878 die Publikationsrechte seines Werks „Fregat Pallada“, „einzig deshalb, um mit dieser Summe Sanjas Ausbildung bis zum Abschluss gewährleisten zu können“, wie es in einem Brief an Ekaterina Nikitenko heißt (siehe Anm. 9 zu Kap. 2, S. 188). Wie liebevoll er auch um allerlei Alltagsbelange besorgt ist, ersehen wir aus Briefen, die er Aleksandra ins Mädchenpensionat schreibt: „Wir senden dir 6 Paar neue Strümpfe, liebe Sanja. Reiße aber die Bleisiegel nicht ab, sondern probiere zuerst ein Paar, sollten sie nicht passen, bewahre sie bis zum Sonntag auf und gib sie Anna Iv[anovna] Markelova mit, wir tauschen sie dann um. Sage in dem Falle nur, was für welche du brauchst, größere oder kleinere“ (siehe Kap. 3, S. 152). Auch um bessere Wohnbedingungen für die Dienerfamilie kümmert er sich: “Am 1. August bin ich zurückgekommen, seitdem sitze ich in meinem Nest, das ich notgedrungen vergrößern musste. Ich habe ein leerstehendes Zimmer neben meinem Arbeitszimmer angemietet, hinter der Wand. Wegen des fünfstöckigen Turms, der auf dem Hof errichtet worden ist, hat sich die Dienerkammer in meiner Wohnung in eine feuchte, finstere, übelriechende Höhle verwandelt, in der rund um die Uhr das Licht brennen muss. Diese Finsternis und Feuchtigkeit würde kein

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Grenadier aushalten, von einer kranken Frau und ihren Kindern ganz zu schweigen“ (Brief Nr. 27, S. 72). In die Sommerfrische ins baltische Dubbeln nimmt Gončarov die vierköpfige Familie nun ebenfalls regelmäßig mit, später auch nach Ust‘-Narva und Peterhof: „Hier können sich zumindest die Kinderchen erholen, sie können baden gehen, gesunde Luft atmen und sich kräftigen – in 10, 15 Jahren werden sie mir dafür vielleicht dankbar sein, sollten sie mich nicht vergessen haben! Ich liebe diese Kinder immer noch, besonders Sanja“ (Brief Nr. 43, S. 96). Als Aleksandra Trejgut im Frühjahr 1891 heiratet, stattet sie „das Alterchen“ mit einer Mitgift aus. Sein gesamtes Vermögen, große Teile der Wohnungseinrichtung und einige Manuskripte hinterlässt er ebenfalls der Familie Trejgut. In der Widmung des damals unveröffentlichten Manuskripts dreier Erzählungen vom 22. August 1891, drei Wochen vor seinem Tod, heißt es: „Drei Beiträge aus meinem Werk, 1.) ‚Maj mesjac v Peterburge‘, 2.) ‚Prevratnost‘ sud’by‘ und 3.) ‚Ucha‘ [in deutscher Übersetzung bekannt als „Ein Monat Mai in Petersburg“, „Launen des Schicksals“ und „Die Fischsuppe“] habe ich im August 1891 der Jungfer Elena Karlovna Trejgut geschenkt, damit sie sie zu ihren Gunsten zuerst in einer Zeitschrift und später in einer Ausgabe meiner gesammelten Werke durch den Buchhändler Glazunov oder einen anderen Verleger drucken lassen kann“ (Gončarov 1954, S. 532). Den vorliegenden Band beschließen Erinnerungen an Ivan Gončarov von den beiden ihm in den letzten Jahren wohl nahestehendsten Menschen, Anatolij Koni und Michail Stasjulevič. *** Mein besonderer Dank gilt Peter Thiergen (Bamberg) und dem Privatfonds Schulze-Thiergen sowie der Foundation Transkript des Michail Prochorov-Fonds, die die vorliegende Publikation ermöglichten, den Mitarbeitern des Instituts für Russische Literatur in St. Petersburg und jenen des Gončarov-Museums in Ul‘janovsk, die mir wertvolle Quellen, Informationen und Abbildungsvorlagen zugänglich machten und Karla Hielscher (Seeshaupt) für ihre große Hilfe bei der Endkorrektur des Manuskripts. Vera Bischitzky

Berlin, im März 2015

1. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Missachtung des Willens1 I Was für eine Missachtung, und wessen Willens, wird der Leser fragen. Vielleicht aber fragt er auch nicht, wenn er sich die Mühe macht, die gesammelten Briefe Puškins, Turgenevs, Kavelins2 und die kürzlich erschienenen Briefe Kramskojs3 und viele andere zu lesen, die allenthalben im Druck erscheinen. Er wird erkennen, dass der Wille verstorbener, bekannter, insbesondere bedeutender Schriftsteller, Gelehrter, Künstler, überhaupt von Personen mit mehr oder minder berühmtem Namen oder einfach mit einem gewissen Namen, ganz offensichtlich und ungeniert missachtet wird. Ich hätte mich nie entschlossen, noch dazu in der Presse,4 meine Meinung darüber zu bekunden, die weder maßgeblich, noch für irgend jemanden bindend ist: doch auf Schritt und Tritt sehe ich meine Auffassung von der Gepflogenheit bestätigt, dem öffentlichen Urteil private, intime Briefe, die eine Person an eine andere geschrieben hat – und nur an diese eine Person – durch die Presse zugänglich zu machen. Dies bedeutet, ein intimes Gespräch zwischen zwei nahestehenden Personen zu Papier zu bringen, das sie während einer Begegnung vielleicht im Arbeitszimmer oder während eines Spaziergangs unter vier Augen geführt hätten, natürlich ohne einen Vertrauensbruch einer der beiden Seiten anzunehmen. Gäbe aber eine dieser Personen, oder ein zufälliger Ohrenzeuge des Gesprächs, es nun jedem Erstbesten weiter und setzte Gerüchte und Gerede in die Welt, würde man einen derartigen Schwätzer mit dem wenig schmeichelhaften Attribut eines Klatschmauls brandmarken. Die Öffentlichkeit duldet keine Klatschmäuler: man nimmt sich vor ihnen in Acht und verschließt die Türen vor ihnen. Umso vorsichtiger, sollte man meinen, müsste die Presse vorgehen und den Klatsch nicht in alle Welt hinausposaunen. Indessen aber ist dies gang und gäbe. Allerlei bekannte – ganz zu schweigen von berühmten – Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Schriftsteller, Gelehrte, Künstler, lassen sich dazu hinreißen, in ihren Briefen, die nicht für den Druck bestimmt sind, von sich und anderen Dinge zu erzählen, die sie vermutlich laut keineswegs zu erzählen sich entschlossen hätten. Kaum hat der Verstorbene die Augen geschlossen, beginnen seine sogenannten „Freunde“ auch schon damit, sich auf die Suche nach seinen Briefen zu begeben, sie zu sammeln, zu ordnen und herauszugeben. Es ist leicht vorstellbar, welchen Eindruck die gegen den Willen und den Wunsch des Verfassers einander gegenüberge-

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stellten, unterschiedlichen, nicht selten widersprüchlichen Äußerungen und Meinungen hervorrufen. Unter der Eingebung eines augenblicklichen Unbehagens, einer flüchtigen Gereiztheit oder auch einer fröhlichen Stimmung hat er diesem oder jenem oder einem dritten etwas über den einen, anderen oder dritten sozusagen ins Ohr geflüstert – und plötzlich findet alles ein Echo, wird laut und vernehmlich weitergegeben, wie per Telefon,5 und für die Nachwelt aufbewahrt. Eine derartige Missachtung des Willens der Autoren von Briefen geschieht ungeniert, bravement, und ist nicht nur im Falle toter Personen zu beobachten, sondern bisweilen sogar lebender. So weit geht mittlerweile der eigenmächtige Umgang mit fremdem Eigentum und fremdem Willen. Und dem Verstorbenen sagen diese Missachter seines Willens gleichsam: „Du bist tot, jetzt drucken wir alles von dir, dessen wir habhaft werden können; du kannst uns jetzt nicht mehr daran hindern; also stell dich uns nicht in den Weg. Uns ist es angenehm oder nützlich, das heißt von Vorteil, und du kannst nichts dagegen tun.“ Doch mit welchem Recht wird dem Willen derartiger Zwang angetan? Wer hat es erteilt und wem? So weit mir bekannt ist, regelt das Gesetz lediglich das Recht des Eigentums: es billigt das Besitzrecht an einem Brief als einem materiellen Dokument jener Person zu, an die er gerichtet ist. Und das ist nur gerecht. Die Veröffentlichung derartiger Briefe in der Presse erfolgt mit dem Einverständnis der Erben ihres Verfassers. So sieht es das Gesetz vor. Wieder wird hiermit offensichtlich das Recht des materiellen Eigentums in Betracht gezogen; Briefe werden Manuskripten gleichgesetzt. Manuskripte aber stellen einen gewissen materiellen Wert dar, ein Geldkapital, das Gleiche kann auch für Briefe gelten. Demzufolge definiert das Gesetz nur die juristische Seite des Problems: eine andere berührt es nicht. Es ist dazu nicht verpflichtet und auch nicht imstande, dies zu tun. Ich überlasse die Lösung dieser ungelösten und vielleicht sogar juristisch unlösbaren Aufgabe kompetenten Personen, den Juristen, und will die Angelegenheit von einer anderen Seite betrachten, der moralischen. Wenn es im allgemeinen Gesetzbuch kein direktes Gesetz gegen diejenigen gibt, die den fremden Willen und fremdes Eigentum missachten, könnte und sollte dann nicht die Öffentlichkeit selbst die Lücke im Gesetzeskodex füllen und mit ihrem Gericht, dem Gericht der öffentlichen Meinung, die eigenmächtige Verfügung über fremdes Gut und Eigentum ahnden? Die Gesetze sind grobschlächtig: wie Polizisten, die offensichtliche, plumpe Gesetzesverletzer wegen eines Vergehens am Kragen packen, bestrafen sie den Missbrauch nach einem bestimmten Paragraphen des Gesetzbuchs; doch sie sind dort machtlos, wo dieser Verstoß einen ausgeklügelten, für sie nicht fassbaren, schwierigen Charakter annimmt. Überhaupt ist das Gericht der öffentlichen Meinung in Hinblick auf die Strafen gnadenloser als die Artikel des Gesetzbuchs. Es beleuchtet sämtliche Nuancen

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des Missbrauchs, lässt selten mildernde Umstände gelten und stürzt sich begierig auf alles, was erschwerend ins Feld geführt werden kann. Sein tausendäugiger Argus übernimmt die Beweisaufnahme, und das Gericht der öffentlichen Meinung verhängt ein kategorisches Urteil. Ein englischer Redner, es war wohl Beaconsfield,6 hat einmal gesagt, das Gebaren der Öffentlichkeit schütze die Engländer vor ihren Gesetzen, das heißt, der englische Gentleman fürchte nicht die Strafe des Gesetzbuches, die auch Schuldige verschonen kann: er fürchte die Gesellschaft selbst, die ihn wegen einer verwerflichen Tat aus ihrer Mitte ausstieße, weshalb er seltener auf der Anklagebank anzutreffen sei, nicht wegen seiner Tugenden, die er häufig nicht besäße, sondern wegen der äußersten Vorsicht, die ihn veranlasse, seine Leidenschaften im Zaum zu halten oder zu verbergen.

II In unserer Presse wurde gelegentlich die Frage nach der Manie aufgeworfen, Briefe zu veröffentlichen, doch man nahm sich der Angelegenheit kaum, und wenn, dann gleichgültig, an. Es ist noch nicht lange her, es war wohl im vergangenen Jahr, dass in den Zeitungen darauf hingewiesen wurde, wie wenig interessant und unnötig belanglose Briefe seien, die nur deshalb veröffentlicht würden, weil sie eine mehr oder weniger bekannte Persönlichkeit geschrieben habe. Überhaupt bleibt die Presse bei der Veröffentlichung derartiger Briefe gleichgültig, als müsste das so sein, oder sie widmet sich der kritischen Analyse dieser Briefe, warum und mit welchem Recht sie aber abgedruckt wurden, darum kümmert sie sich nicht. Es wäre auch unpassend zu protestieren, da sie ja selbst das Werkzeug ist und sich an der Missachtung des Rechts beteiligt, indem sie die vertraulichen Briefe in die Welt befördert und folglich vor dem Gericht der öffentlichen Meinung dafür als erste die Verantwortung trägt. Unterdessen erhebt sich im Publikum jedes Mal Geraune, mitunter auch Klage, anlässlich des Erscheinens gewisser Briefe. So wurde beispielsweise im Zusammenhang mit den unter der Redaktion Turgenevs herausgegebenen Briefen Puškins seinerzeit in der Öffentlichkeit einhellig Klage gegen das Erscheinen zahlreicher Briefe des Dichters laut, die offensichtlich nicht für den Druck gedacht waren. Man wunderte sich, dass derartige Briefe durch Turgenevs „sachkundige Hände“ (wie man sich damals ausdrückte) in die Öffentlichkeit gelangen konnten. Wem, so fragt man sich, steht das Recht zu, die postumen Briefe eines Schriftstellers, Malers, überhaupt einer Persönlichkeit mit bekanntem Namen herauszugeben? Dem offiziellen Recht zufolge, wie oben geschildert, keineswegs jenem, an den der Brief geschrieben wurde, sondern den Erben der verstorbenen Person. Steht aber entsprechend dem Moralkodex und dem Gerechtigkeitsgefühl den nahestehenden, gesetzlichen Erben der verstorbenen bekannten Persönlichkeit ein solches Recht zu, und sollte dies so sein? Ihnen steht, wie ich vermute, das Recht zu,

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gegen die Diffamierung und grobe Beleidigung ihres Verwandten zu protestieren – und natürlich sollte ihnen der materielle Wert des gesamten, auch des literarischen Eigentums auf dem Literaturmarkt gehören. Nur so lässt sich wohl die Erteilung des Einverständnisses der Erben des Autors hinsichtlich der Veröffentlichung seiner Briefe einholen. Das Recht der Veröffentlichung von Briefen aber sollte für immer beim Autor selbst bleiben: man muss wissen, ob er es wollte, ob er es veranlasst hat, ob er wünschte, dass seine Briefe öffentlich zugänglich würden und welche genau. Aber wie, wird man nun fragen, soll das herausgefunden werden, wenn der Autor nicht mehr am Leben ist und wenn er zu Lebzeiten keinerlei Verfügungen über seine Korrespondenz getroffen hat? Eine solche Frage ist entweder kindlich naiv oder kasuistisch hinterlistig. Jeder vernünftige, redliche Leser mit einer gewissen literarischen Bildung wird, wenn er die Briefe Puškins, Turgenevs, Kavelins und die kürzlich herausgegebenen Briefe Kramskojs und vieler anderer überfliegt, mit beinahe mathematischer Genauigkeit bestimmen können, ob der Autor gewünscht hätte, dass dieser oder jener Brief an seine Frau, den Sohn, den Bruder oder überhaupt an einen Nahestehenden, in die ganze Welt hinausposaunt und somit auch die schmutzige Wäsche in die Öffentlichkeit getragen, in alle Winde verweht und bis in die Nachkommenschaft gelangen wird. Aber Turgenev beispielsweise, entgegnet man mir darauf, der Puškins Briefe für den Druck durchgesehen hat, wird man doch keinen Mangel an Taktgefühl und Rücksichtnahme vorwerfen können, und erst recht nicht die Missachtung des Andenkens Puškins. Natürlich nicht, besonders keine Missachtung. Im Gegenteil: Turgenev hat sich ja gerade wegen seiner leidenschaftlichen Verehrung für Puškin versündigt. Wir alle, die wir Altersgenossen Turgenevs und Zöglinge der Schule des großen Dichters sind und mit seiner Poesie großgeworden, sind für immer vom Zauber seines Genies geprägt; jeder Strich seiner Feder ist uns teuer. Turgenev hat mit religiöser Inbrunst jede nur zugängliche vom Dichter geschriebene Zeile – wie Perlen – gesammelt und aufgelesen, offenbar ohne eine einzige auszusortieren, wohl in der Furcht, es könnte auch nur das Geringste verlorengehen. Und alle Puškin nahestehenden Zeitgenossen und Verehrer wären ebenfalls im Zweifel gewesen, wie sie sich hätten verhalten sollen, darunter, ich gebe es zu, auch ich. Für die Durchsicht und Redaktion der Briefe Puškins wäre ein anderer oder wären andere, weniger leidenschaftliche, unvoreingenommenere Verehrer des großen Dichters nötig gewesen. Ich habe im Übrigen gehört, dass viele unpassende Briefe von Turgenev ausgeschieden worden seien; warum aber nicht alle, die die Öffentlichkeit nichts angehen? Wenn man davon ausgeht – was außer Frage steht – , dass jedes nicht publizierte literarische Werk eines verstorbenen Schriftstellers, darunter auch Briefe, abgesehen

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von den durch das Gesetz geregelten Rechten hinsichtlich des materiellen Besitzes letzterer, der gesamten Gesellschaft gehört, so muss man zugestehen, dass auch die Sorge um die Veröffentlichung der Papiere eines Verstorbenen und die Kontrolle darüber zwischen den Erben des Schriftstellers oder seinen Adressaten und anderen in derartigen Fällen erfahrenen Personen geteilt werden muss, insbesondere dann, wenn die Erben selbst nicht über das entsprechende Wissen und die Erfahrung in literarischen und verlegerischen Fragen verfügen. Natürlich werden sich immer nicht eine oder zwei, sondern viele vernünftige, redliche und literarisch gebildete Persönlichkeiten finden, wie zum Beispiel Turgenev, die im Interesse der Literatur kollegial einen solchen Ehrendienst leisten können – sowohl der Öffentlichkeit, als auch dem verstorbenen Schriftsteller und seinen Erben, ohne sich durch blinde persönliche Verehrung hinreißen zu lassen. Ihnen obliegt es, aus seinen Papieren und Briefen das Überflüssige, Unnötige oder allzu Intime herauszufiltern, das bisweilen sogar einen Schatten sowohl auf den Charakter des Autors selbst, als auch auf die von ihm in den Briefen erwähnten Außenstehenden wirft. Man muss nur Puškins Briefe an seine Frau überfliegen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass auch seinem Andenken eine Missachtung des Willens widerfahren ist. Puškin selbst deutet dies an. Im 45. Brief an seine Frau finden sich folgende Zeilen: „Bitte erwarte keine zärtlichen Liebesbriefe von mir“, schreibt er. „Die Vorstellung, dass meine Briefe geöffnet und von der Post, der Polizei usw. gelesen werden, lässt mich zurückhaltend sein und so ist das, was ich schreibe, notgedrungen trocken und belanglos.“ Dies beweist, dass Puškin sogar die wenigen von ihm vermuteten, zufälligen außenstehenden Leser dessen, was er seiner Frau schreibt, im Sinn hatte, das heißt, was er ihr unter vier Augen mitteilte. Was, wenn er hätte vorhersehen können, dass seine zärtlichen, bisweilen eifersüchtigen Herzensergüsse in die Welt hinausgetragen, aus dem vertraulichen Brief in den Buchladen befördert und Gegenstand der Neugierde aller und jedes werden würden? Er hätte, so kann man kühn folgern, diese Briefe wohl kaum geschrieben, oder wenn, dann trocken und beherrscht, wie unter den Augen der Post- oder Polizeibeamten. Seine Briefe an den Fürsten Vjazemskij,7 an Sobolevskij8 und an andere sprudeln bisweilen über vor unbändiger Fröhlichkeit, in ihnen finden sich bald große, bald kleine Körnchen Scharfsinn, immer wieder Epigramme in Prosa oder Versen – boshafte Äußerungen über Widersacher, auch ungebührliche, nicht druckreife Anspielungen, die durch die Anfangsbuchstaben des Wortes angedeutet werden. Kurz, er führt ein freies, lebendiges, ungezwungenes Gespräch, wie es in einer fröhlichen Unterhaltung oder bei Tisch usw. gang und gäbe ist. Hätte der Autor gewollt, dass diese ausgelassene, familiäre Unterhaltung der ganzen Welt zu Ohren kommt? Natürlich nicht. Weshalb aber, so wird man fragen, hat er diese Briefe nicht vernichtet? Weil es ihm, so kann mit Sicherheit geschlussfolgert werden, natürlich nie in den Sinn kam,

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dass je fremde Augen seine zärtlichen, intimen Briefe zu Gesicht bekämen, dass fremde Hände sie berühren, in ihren wühlen, sie auswählen und darüber verfügen würden. Man kann es nur bedauern, auch in der Öffentlichkeit hat man es, ich wiederhole mich, bei Erscheinen der Briefe bedauert und man hat beklagt, dass die intimen Briefe des Dichters zum Gegenstand der Neugier der gesamten lesenden Öffentlichkeit geworden sind. Alle aufrichtigen und wahren Verehrer des Dichters haben das Recht, zu beklagen und zu bedauern, dass seinem Andenken nicht der gebührende Respekt gezollt wurde. Muss demnach alles der Welt verlorengehen, was geschrieben und vom Autor selbst nicht zum Druck vorgesehen ist, werden die Bewunderer eines Dichters oder die Verehrer einer verstorbenen bekannten Persönlichkeit fragen? In seinen Briefen brilliert doch dasselbe Talent. Schauen Sie doch nur, wie amüsant zum Beispiel die Briefe Puškins sind, wie sie vor Humor sprühen, welche Kapriolen seine Feder schlägt usw. Ein Talent bleibt in allem ein Talent, was immer seine Feder berührt. Humor, das Spiel der Phantasie, die Funken der Poesie sprühen überall und verleihen auch nüchternen Fakten bisweilen ein poetisches Kolorit, das heißt, sie verschönern sie, und versündigen sich dadurch bisweilen gegen die nackte Wahrheit. Ein Künstler ist überall Künstler, selbst in Kleinigkeiten. Viel Talent hat der Dichter auf seine zahlreichen Epigramme verwandt, die in der Presse nichts zu suchen haben. Es verbietet sich, sie zu veröffentlichen, ebenso, wie man den verstorbenen Dichter nicht in seiner abgeschirmten häuslichen Atmosphäre zur Schau stellen oder seine familiären, ungezwungenen Gespräche belauschen sollte. Sie sollen also verloren gehen? Natürlich sollen sie verloren gehen, wenn der Autor die Briefe selbst dem Vergessen anheimgegeben hat, handelt man dem aber zuwider, so tut man seinem Willen groben Zwang an. Sollte er seinen Willen nicht geäußert haben, so gibt es, wie mir scheint, ein Mittel, die Brosamen, die von der Tafel eines solchen Talents wie Puškin fallen, für seine Verehrer und die Literaturgeschichte zu bewahren, ohne seinem Willen Zwang anzutun. Dieses Mittel wäre – nicht alles vollständig, wie es gerade kommt, zu drucken, sondern unter strenger, gewissenhafter Auswahl dessen, was wertvoll, gewichtig, von allgemeinem Interesse und von Bedeutung ist, wie die Gedanken, maßgeblichen Ansichten des Schriftstellers über diese oder jene Fragen der Wissenschaft, der Kunst, des öffentlichen Lebens usw., kurz, all dessen, was seine Werke würdig ergänzt. In der Presse finden sich natürlich unzählige Beispiele von Zitaten aus Briefen bekannter Persönlichkeiten, Auszüge, Fragmente, die von allgemeinem Interesse sind – ohne die Beimischung einer Vielzahl entweder unnötiger oder intimer Einzelheiten. Gar nicht zu reden von jenen Briefen, die durchgängig einem bestimmten Thema gelten, wie zum Beispiel ein kürzlich in den Papieren Žukovskijs9

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aufgetauchter Brief Gogol‘s, der dessen Ansichten über die Kunst beinhaltet. Es gibt eine ganze Literaturgattung in Gestalt von Briefen zwischen zwei Personen, die diesen oder jenen Fragen gelten. Diese Briefe sind von den Autoren unmittelbar für die Öffentlichkeit gedacht und stellen einen eindeutigen Beitrag zur Literatur dar. Doch dies sind für die Veröffentlichung vorgesehene Werke und keine privaten Briefe, die an und für eine Person geschrieben werden. In einem Briefentwurf (an eine unbekannte Dame), der sich in Puškins Papieren fand, heißt es: „Zeigen Sie diesen Brief niemandem außer jenen, die ich liebe, und die nicht aus Neugier, sondern aus Freundschaft Anteil an mir nehmen.“ Er selbst warnt davor, seine Briefe gleichgültigen, ihm fremden Menschen zugänglich zu machen, zu deren müßigem Zeitvertreib und zur Befriedigung ihrer Neugier. Sich gegen diese Veröffentlichungspraxis aufzulehnen ist ebenso schwierig, wie gegen den archimedischen Hebel,10 der die Welt auf seine Weise bewegt, doch es gibt Bereiche im Privatleben, in denen dieser Hebel nichts zu suchen hat. Wenn die Natur selbst Geheimnisse hat, so gibt es im menschlichen Leben Blößen, die unbedingt der Bedeckung bedürfen; dies verlangt schon der einfache Anstand. Ich meine damit das individuelle, private Leben, das geschützt und behütet werden muss, respectée (um es mit diesem in unserem Sinne unübersetzbaren französischen Wort zu sagen); dies ist ein grundlegendes Gesetz des Zusammenlebens. Das typisch öffentliche Leben steht jedem Betrachter, Denker, Gelehrten, Schriftsteller, Künstler offen, man studiert und beackert es und stellt es von allen Seiten und in allen Details dar, ohne dabei jemanden persönlich und individuell zu beleidigen, ihm zu nahe zu treten oder einem fremden Willen und fremden Rechten Zwang anzutun. Aber wie kommt es, wird man einwenden, dass es im Ausland gang und gäbe ist, Briefe Lebender zu veröffentlichen, die an eine Person gerichtet sind, und für diese bestimmt, und niemand an dieser Sitte etwas Verwerfliches findet. Dort nutzt man nicht selten private Briefe als Belege in Streitfällen, im Kampf verschiedener politischer Parteien, die es bei uns nicht gibt, oder sie werden als Beweismittel in Gerichtsprozessen eingesetzt, was auch bei uns vorkommt und mitunter unerlässlich und unausweichlich ist, zum Beispiel in Kriminal- und anderen Prozessen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Es gibt auch historische Briefe, eine ganze wissenschaftliche Literatur, die sich Briefen widmet; auch sie sind hier nicht gemeint. Doch die Veröffentlichung eines intimen, privaten Briefwechsels, einfach um der Neugier der Öffentlichkeit willen, ist für einen Autor, selbst wenn er tot ist, unannehmbar, und im Ausland ebenso verwerflich wie bei uns. Wenn ich mich nicht täusche, gibt es in England ein Gesetz, das es verbietet, in der Presse Einzelheiten über das häusliche, das Familienleben einer Privatperson zu veröffentlichen, ohne ihr Einverständnis, wie sich versteht, auch wenn diese nichts Anstößiges enthalten. Das Haus des Engländers, sein home, ist sein Heiligtum, und der Neugier der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Es wäre nicht schlecht, würden wir

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diese gute Regel auch bei uns einführen, die wir doch derart darauf versessen sind, alles Fremde zu übernehmen! Turgenev, den Redakteur der Puškinbriefe, ereilte nach seinem Tod, wenn auch in abgeschwächter Form, dasselbe Schicksal, das er im Falle der Briefe des Dichters zugelassen hatte. Obwohl Turgenevs Briefe unter der Redaktion des alten und erfahrenen Literaten V. P. Gaevskij11 durch die Hände mehrerer Personen gegangen waren, schlüpften auch hier einige durch die Maschen (zum Beispiel auf den Seiten 133, 259, 307, 400 die Briefe 105, 203, 244, 339), deren Abdruck Turgenev natürlich nie zugestimmt hätte, und viele andere, in denen er scharf und mitunter ungerecht über Menschen oder ihre Werke urteilt. Im Brief Nr. 339 an J. P. Polonskij12 sagt Turgenev anlässlich einer von ihm in einem privaten Brief über Sarah Bernhardt geäußerten Meinung, die in die Presse gelangt war: „Dies alles hatte schmutziges Gerede und Gezänk zur Folge … Ich bin es nicht gewohnt, von meinen Meinungen abzurücken, und kann nur bedauern, dass sie (die Meinungen), die privat geäußert wurden, wegen eines Mangels an Taktgefühl plötzlich in der Öffentlichkeit auftauchen.“ Wir sehen also, dass sich auch Turgenev darüber äußerte, wie unangenehm die Veröffentlichung gewisser privater Briefe ist. Und er erklärte es mit Taktlosigkeit. Als er dies schrieb, konnte er natürlich nicht vorhersehen, wie viel von dem, das er seinen Bekannten selbst privat mitgeteilt, sozusagen ins Ohr geflüstert hatte, vor jedermann ausgebreitet werden würde, und zwar nicht in ferner Zukunft, sondern kurz nach seinem Tod. Die Herausgeber seiner Briefe ließen sich vermutlich ebenfalls aus Anteilnahme am Autor und seiner Feder und von dem Wunsch leiten, die nicht publizierten Werke dieser Feder mit seinen unzähligen Verehrern zu teilen, wobei sie, Gerüchten zufolge, sehr vieles aussortierten, einiges aber, das sich nicht unbedingt zur Veröffentlichung eignete, dennoch beibehielten. Außer den oben erwähnten Briefen gibt es zahlreiche, denen es an Gehalt fehlt und die keinen Bezug zur Literatur haben; zum Beispiel liebevolle Zeilen an seine Freunde, scherzhafte kurze Bemerkungen, Nachrichten aus dem Ausland, nach Hause in sein Dorf, oder aus dem Dorf, mit allerlei Anmerkungen über die Gutswirtschaft, mit Aufträgen, die Geldfragen betreffen, über Buchsendungen usw., die für niemanden von Interesse sind. Und von derartigen Briefen wimmelt es nur so. Sie überfrachten und verunreinigen den Briefwechsel gleichsam, der interessanter sein könnte, hätte man das Überflüssige aussortiert. Herausgekommen ist ein aufgeblähter, umfangreicher Band – wie ein vollgestopfter Omnibus. Man liest ihn nicht nur mit Mühe, sondern hat auch Mühe, ihn in den Händen zu halten. Infolgedessen bewirkt die Lektüre dieser zusammengewürfelten Briefe, ebenso wie die der Briefe Puškins, à la longue insgesamt äußerste Ermüdung, trotz der meisterhaften Sprache und des funkensprühenden Scharfsinns, der solche Talente auszeichnet. Diese Briefe lesen sich keineswegs so, wie die literarischen Werke derselben Autoren, und nicht nur darum nicht, weil sie nachlässig geschrieben sind und

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der Autor häufig ungezwungen auftritt. Liest man sie, so fühlt man sich, als führe man durch einen endlosen Park mit langen, eintönigen Alleen, ohne Halt, ohne Zentrum, nichts, woran das Auge zur Ruhe kommen könnte. Man kann zurückblättern und von vorn beginnen, oder das Ende aufschlagen und von hinten nach vorn lesen – alles ein und dasselbe. Als ergieße sich eine ununterbrochene, eintönig murmelnde Kaskade. Der Leser überfliegt die Briefe wie ein gleichgültiger Passant, der auf der Straße im Vorübergehen in die Fenster der unteren Etagen der Häuser späht; dort sitzen sie beim Essen, da wird Karten gespielt, hier musiziert usw. Abwechslungsreich, sollte man meinen. Er wirft einen Blick durch ein Fenster, durch ein zweites, drittes und setzt seinen Weg fort. Kaum ist er aber wieder aus der Straße heraus, hat er diesen ganzen Abwechslungsreichtum, die Vielfarbigkeit schon wieder vergessen und weiß nicht, woran er sich erinnern soll, alles fließt zu einem farblosen Fleck zusammen, er fühlt sich äußerst ermüdet und hat nicht den geringsten dauerhaften Eindruck davongetragen.

III Nun möchte ich noch auf die Briefe Kavelins und Kramskojs eingehen. Der Herausgeber der ersten hat, als er sie unter dem Titel „Materialien zur Biographie Kavelins“ im „Vestnik Evropy“ 1886–1887 publizierte, die Einschränkung gemacht, dass er die Briefe, darunter auch jene an Kavelins Schwester und an seine Mutter, vollständig abdrucke und nur ausschließe, was von rein familiärem Interesse sei. Und so ist es geschehen. In dieser Beziehung sind die Briefe untadelig. Außer den allgemein interessierenden Fragen ist lediglich Kavelins zärtlicher Liebe für seine Tochter ein gewisser Platz eingeräumt, die ihrerseits in der pädagogischen Welt Petersburgs bekannt war. Alles Übrige in seinen Briefen eignet sich ausnahmslos für die Öffentlichkeit, das Publikum, die Literatur: alles scheint nicht für einen einzelnen, sondern für alle geschrieben zu sein. Es sind keine Briefe, eher Gespräche eines klugen, begabten Professors, sozusagen Vorträge, die für alle interessant und lehrreich sind, obwohl sich in ihnen kein Glanz, kein Scharfsinn, kein Humor, kein unerwartetes Spiel seiner Feder oder gar der Funkenflug der Phantasie findet, wie bei Puškin oder Turgenev. Dafür aber ist alles, worüber er auch schreibt, gewichtig, wertvoll, maßgeblich: sei es über Politik, über soziale, ökonomische oder landwirtschaftliche Fragen. Wieviel Geist, tiefschürfende philosophische Aphorismen, zutreffende praktische Bemerkungen über die verschiedensten gesellschaftlichen Erscheinungen, vor allem über die Gestaltung des bäuerlichen Alltags, ja, über alles! Und in all diesen Fragen spürt man seelische Wärme, für die Menschen im Allgemeinen und das menschliche Wohl. Diese Wärme durchzieht sämtliche Ideen

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des Autors, sein Bestreben, seine Analyse wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Erscheinungen. Man meint, dies sei nicht mit der Feder geschrieben, sondern als spräche sein Inneres selbst zu uns; zu Recht merkt sein Herausgeber an, er hätte wohl mehr Liebe für die Ideen als für die Menschen empfunden. Ein gelehrter Idealist, dessen Hauptaufmerksamkeit der Wissenschaft, dem Fortschritt und dem Allgemeinwohl galt. Von seiner Persönlichkeit, von intimen Bekenntnissen findet sich in den Briefen fast keine Spur. Auch Kramskojs Briefe besitzen ihren Wert für die Literatur. Es ist eine Sammlung von Meinungen, Ansichten, Urteilen, der Analyse von Kunstwerken der alten, neuen und neuesten Meister, bis zu seinen Zeitgenossen, Altersgenossen, Freunden und Schülern seiner Kunst einschließlich. Selbst ein alter Meister, betrachtet er die nachwachsenden jungen Talente voller Liebe, rühmt und preist sie, mitunter tadelt er auch, kurz, er lehrt. Er ist in gleichem Maße, wenn nicht sogar mehr, Lehrer der Kunst wie er Künstler ist. Verstand, Logik, Auseinandersetzung – alles findet sich auf seiner literarischen Palette. Er ist ein Philosoph, ein Mensch, der Talente und die Malerei selbst zu schätzen weiß. Der Herausgeber dieser Briefe, V. V. Stasov,13 hat sich mit dieser Ausgabe verdient gemacht. Im Vorwort umreißt er zutreffend den Charakter, die Bedeutung und den Wert der Briefe. Aber … auch hier gibt es ein aber, und zwar ein beträchtliches. Vermutlich wird man mir vorhalten: „Sie sind doch der Ansicht, dass private Briefe, die an eine Person gerichtet sind, ihren Wert besitzen, und können etwa die Briefe Kramskojs nicht genug loben: wieso also sollte man derartige Briefe nicht herausgeben?!“ Auch hier wiederhole ich, dass man nichts Unnötiges aus Briefen veröffentlichen soll, was für die Mehrheit wenig interessant ist. Kramskojs Briefe eignen sich vielleicht als praktische Anleitung für Maler, als regelrechter Kursus der Malerei – in theoretischer, ästhetischer und kritischer Hinsicht, der die Entwicklung jedes intelligenten, bewussten Malers, der nicht blindlings alles mit seinem Pinsel aufmalt, was ihm gerade vor die Augen kommt, wohltuend beeinflussen könnte. Doch in Kramskojs Briefen findet sich viel Überflüssiges, das wenig direkten Bezug zur Kunst besitzt. All dies hätte man aussortieren können, ohne dass dem Buch ein Schaden entstanden wäre. Im Gegenteil, das Buch hätte dadurch nur gewonnen. Es ist eine ungeheure Menge an Briefen, ein ganzes Archiv, in dem man sich verirrt und ertrinkt wie in Meereswogen. Und der Autor verzettelt sich derart in dieser unendlichen Analyse von Ansichten und Meinungen, der kleinteiligen kritischen Bewertung, dass er fast nie zu allgemeingültigen Schlüssen gelangt. Man erkennt in seinen Ansichten über die Kunst keine Schwerpunkte: alles geht unter in einem Strudel einzelner Aphorismen über die Kunst, in der Bestimmung von Schulen, Richtungen, des Charakters der Kunst im Ausland und bei uns … Es ist ein Labyrinth ohne roten Faden. Man weiß nicht, worauf man sich in dem chaotischen Durcheinander

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konzentrieren soll und erhält statt etwas Ganzheitlichem, Verdichtetem, Bestimmtem, statt eines theoretischen und praktischen Leitfadens für den Maler so etwas wie ein Nachschlagewerk, das die gewünschte Auskunft aber nicht liefert, und wenn doch, dann eher zufällig und unverhofft … Man kann nur bedauern, dass dieses riesige Briefarchiv in Kramskojs eigenem Interesse, jenem der Maler, der lesenden Öffentlichkeit und der Kunst, nicht einer sorgfältigeren Auswahl und Klassifikation unterzogen wurde. Doch natürlich muss man auch den Herausgeber bedauern, der bei der Zusammenstellung und Veröffentlichung der Briefe, seinen Worten zufolge, „in großer Eile“ eine wahrhaft gigantische Arbeit geleistet hat. Eben diese „Eile“ war auch die Ursache für die ungekürzte Ausgabe der Briefe. Auch hier reicht eine Person nicht aus, es ist vielmehr eine Gruppe von Bewunderern, Fachleuten und Kunstkennern nötig. Die Briefe atmen eine derartige, die ganze Seele des Malers erfüllende bewusste, kluge und innige Liebe zur Kunst, die V. V. Stasov zufolge (im Vorwort) „kein einziger europäischer Kritiker in Hinblick auf die Kunst seines Landes je geäußert hat“. Eine derartige, so klug und innig formulierte Liebe widerspiegelt zur Gänze die schöpferische Berufung und ist ihre Verkörperung. Sie ist geeignet, einen Maler, der diese Briefe liest, anzustecken, sein Talent zu entwickeln und zur Vollendung zu bringen. „Das stimmt alles, nur kürzer müsste es sein, kürzer!“ sagt der von der Lektüre ermüdete Leser. Unnötige Briefe, die nichts mit den Hauptmotiven des Buches zu tun haben, tauchen wie fremde Gäste im engen Freundeskreis auf und bewirken, dass der Leser erkaltet, sie hindern ihn daran, sich auf die verstreuten Ansichten des Autors über die Kunst zu konzentrieren und seine einzelnen, bruchstückhaften Meinungen, kritischen Anmerkungen zu einem Kern zu vereinen. Es finden sich darunter aber auch Briefe, deren Veröffentlichung Kramskoj gewiss nicht zugestimmt hätte, beispielsweise solche rein familiären Charakters. Obwohl der Herausgeber im Vorwort versichert, es seien derer nur wenige, auch hätten diejenigen, die Kramskoj unvorsichtig erwähnt habe, den Abdruck „großzügig“ erlaubt, geht es hier nicht um die Erlaubnis oder Großzügigkeit der erwähnten Personen, sondern darum, ob die Veröffentlichung derartiger Briefe nicht Kramskojs Willen widerspricht. Ich plädiere für die Achtung des Andenkens und der Wünsche eines Verstorbenen. Die Motive für die Sammlung derartiger Briefe nach dem Tode sind verständlich: es ist vor allem, wie ich annehme, die Angst, sie würden im Laufe der Zeit und aus Unachtsamkeit verloren gehen. Die Veröffentlichung unter dem Vorzeichen der „Eile“ durch die Freunde eines Verstorbenen aber ist weniger verzeihlich. Sie verhindert, sich im Archiv der Papiere und Briefe zurechtzufinden und sie zu prüfen, weshalb, teilweise auch aus diesem Grund, vieles in eine Ausgabe hineingelangt, das weder für die Biographie des Schriftstellers oder Malers, noch für die Literaturoder Kunstgeschichte die geringste Bedeutung besitzt, und schließlich auch allzu

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offenherzig und dem Andenken des Autors wie auch anderer erwähnter Personen nicht zuträglich ist. Derartige Briefe oder ihre Abschriften sollten eine Zeitlang unter Verschluss gehalten werden, beispielsweise in der Kaiserlichen öffentlichen Bibliothek14 oder in privaten Büchersammlungen, die wichtigen oder interessanten Papieren aller Art ihre Gastfreundschaft ganz sicher nicht versagen. Der Leser, der einige Briefe von Verstorbenen mit bissigen, spöttischen oder abfälligen Äußerungen über verschiedene Personen überfliegt, wird dem Autor dieser Briefe höchstwahrscheinlich Boshaftigkeit, Menschenverachtung, einen schlechten Charakter oder Doppelzüngigkeit bescheinigen, wenn er in diesem ganzen Wust auch dem widersprechende, freundliche Äußerungen über dieselben Personen entdeckt. Doch all diese Aussagen sind ja nichts als augenblickliche Ausbrüche, rein nervliche Regungen, die nichts mit seinen allgemeinen Charaktereigenschaften gemein haben, aber dennoch als Ausdruck letzterer aufgefasst werden und zu Fehlurteilen führen können. Was sagt man einem guten Freund unter vier Augen nicht alles über dies und das in einem Augenblick der Erregung oder eines zeitweiligen unbedachten Ärgers. Diese Strohhalme also werden nun sorgsam aufgesammelt und ins Formular seines Charakters eingetragen. Danach beurteilt man dann bisweilen den ganzen Menschen und vergisst, dass einem die Sprache unter anderem auch gegeben ist, um seine Gedanken zu verbergen, wie es in dem bekannten Aphorismus heißt.15 Aus diesem Grund geht man leicht in die Irre, wenn man sich auf den privaten, intimen Briefwechsel eines Schriftstellers oder Künstlers oder wessen auch immer mit verschiedenen Personen stützt. Oft sagt er Unterschiedliches, drückt sich so oder so aus, wie es je nach Gesprächspartner auch in einem mündlichen Gespräch der Fall ist. Es geht gar nicht um grundlegende Charakterzüge, Überzeugungen, Eigenarten und Ähnliches; er lässt sich oft einfach nur von seiner persönlichen Einschätzung der Person leiten, zu der er spricht; einiges verschweigt er oder er verbirgt seine wahren Gedanken je nach dem Charakter des Gesprächspartners. Sollte man wirklich alles, was mit fliegender Feder flüchtig notiert wurde, für bare Münze nehmen und daraus ernsthafte Schlüsse über den Schreibenden ableiten? Die Untersuchungsrichter in Sachen Literatur aber tun genau das; sie schicken sich an, ernste Schlüsse zu ziehen: hier, in diesem Falle, hat er darüber das gesagt, in einem anderen etwas anderes, Gegenteiliges, daraus folgt also … Nichts folgt daraus … In dem einem Falle stand er unter dem einen Eindruck, im anderen unter einem anderen, das ist alles! Daraus folgt, dass der private Briefwechsel einer Person des öffentlichen Lebens mit verschiedenen Korrespondenten nicht immer „wertvolles autobiographisches Material“ darstellt, wie es zum Beispiel im Vorwort zu den Turgenev-Briefen heißt. Um die Wahrheit zu sagen, verstehe ich es offen gesagt nicht, und wenn ich es verstehe, so fühle ich kein Bedürfnis, tief im privaten, intimen Leben eines Schriftstellers, Künstlers, Gelehrten herumzuwühlen: meinetwegen soll man herausfinden, und dies ist nicht schwer, wo er zur Schule ging, was er gelesen, wie er gearbeitet hat

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usw.; aber man will es bis in die kleinste Einzelheit wissen: was er gegessen und getrunken hat, welche Gewohnheiten er hatte und anderes, das nicht den geringsten Bezug zu seiner Arbeit aufweist. Was hat das Privatleben hier zu suchen? Weshalb muss man beispielsweise wissen, dass Byron nicht allzu tugendhaft war oder dass George Sand in ihrer Jugend Männerkleider trug und verschiedene Kapricen hatte … von Rousseau ganz zu schweigen! Dichter, Gelehrte, Maler, Bildhauer drücken das, was sie ausdrücken wollen, auf diese oder jene Weise in ihren Werken aus, und man sollte sich dem gesunden Menschenverstand und dem Gerechtigkeitsgefühl entsprechend damit zufriedengeben, was in den Büchern, Gedichten, Bildern und Skulpturen dieser Personen ausgedrückt ist und letztere nach ihren Werken beurteilen. Nein, man beginnt nachzuforschen, was er für ein Mensch war, stellt Bezüge zwischen dem Schriftsteller oder Maler und seinen Werken her, will wissen, ob sein Charakter und seine sittlichen Eigenschaften dem entsprechen, was er dargestellt hat und warum und wie? Und so geht es immer fort – es wird beurteilt, herumgezerrt, verurteilt oder begnadigt. Dabei ist doch nur eines erforderlich: wie und wodurch er der Wissenschaft oder der Kunst einen Dienst erwiesen hat, durch welche Werke oder Taten, alles andere aber, das Privatleben hinter den Kulissen, ist wohl vor allem für jene von Nutzen, die danach suchen, damit sie ihren Geist, ihre Standhaftigkeit, Gesetzestreue usw. unter Beweis stellen können. Selbst in Puškins oder Turgenevs literaturkritischen Reaktionen auf diese oder jene literarischen Werke finden sich nicht immer ihre tatsächlichen Ansichten, Geradlinigkeit oder Aufrichtigkeit. Die Werke ihrer Briefpartner beurteilen die Autoren der Briefe sozusagen von Angesicht zu Angesicht meist nachsichtig, anerkennend und wohlwollend; jede literarische Kleinigkeit wird ernsthaft und gewichtig analysiert und beinahe zu einer Perle der Schöpfung stilisiert. Hinter vorgehaltener Hand aber entschlüpft ihnen, wie auf der Bühne, bisweilen ein Epigramm. Folglich sollte man auch kritischen Bewertungen literarischer Werke oder solcher der Malerei, die in Briefen verstreut sind, kein besonderes Gewicht beimessen. Auch der Herausgeber der Briefe Kramskojs weist in seinem Vorwort auf die „Unzuverlässigkeit mancher der Urteile über Maler und ihre Werke“ hin und erwähnt, dass Kramskoj in gewissen Fällen ebenfalls „ungerecht gegenüber anderen“ war. Sehr selten, wie er sagt, doch er war es tatsächlich, wie die Briefe belegen.

IV Ich sprach oben über die Motive, die Verleger oder Freunde eines Autors veranlassen, seine Briefe von den Adressaten zusammenzutragen: es geht darum, für den zeitgenössischen Leser und die Nachwelt ein umfassendes Bild des Schriftstellers oder Künstlers zu bewahren. Die Absicht ist natürlich gut, doch sie erreicht, wie ich gerade sagte, selten den gewünschten Effekt, eher führt sie zu einem entgegen-

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gesetzten Ergebnis. Ein Schriftsteller ist seinem Wesen nach redselig und neigt zu Weitschweifigkeit; es zieht ihn zur Feder, wo er (ich spreche von Briefen) weder durch den Inhalt, noch ein Konzept oder eine Technik gebunden ist. Er tut sich keinen Zwang an und lässt seinen Gedanken und seiner Phantasie freien Lauf, wie in einem Gespräch unter vier Augen. Er schreibt ungehemmt, nimmt kein Blatt vor den Mund und sprüht bald vor Geist, vor Phantasie oder Humor. Damit tut er vor allem sich selbst einen Gefallen, er erfreut sich am Bedürfnis, sich auszudrücken, wie ein Musiker, der spielt, wenn ihm ein Instrument in die Hand gerät oder wie ein Maler auf einem zufällig auf dem Tisch liegenden Papier mit Bleistift eine Skizze zeichnet. Wie soll man hier eine wirkliche Korrektheit der faktischen Seite des Lebens voraussetzen? Es sind ja nichts weiter als künstlerische Umrisse, Entwürfe, die man natürlich, falls sie von allgemeinem Interesse sind, sammeln und unter zwei unerlässlichen Bedingungen veröffentlichen kann: erstens, wenn die Autoren die Veröffentlichung in der Presse gewünscht hätten; und zweitens, wenn dadurch nicht andere Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Von diesen Fragen müssen sich kluge und gewissenhafte Verleger leiten lassen. Ich bitte zu bedenken, dass ich keineswegs dafür eintrete, Briefe quand même totzuschweigen; ich bin lediglich dagegen, das Innerste eines Autors nach außen zu kehren, wodurch die Unversehrtheit seiner Gestalt und seines Charakters beeinträchtigt wird und seine Bewunderer enttäuscht werden, noch dazu ungerechtfertigterweise. Außerdem bin ich dagegen, der Presse unnötigen, überflüssigen Ballast aufzubürden, der die Leser nur ermüdet, und natürlich vor allem gegen jeglichen Missbrauch, jede Indiskretion und jedes rücksichtslose Vorgehen gegen einen Briefautor. In einem meiner vor langer Zeit geschriebenen Briefe (der, wie ich nebenbei bemerken will, für mich unerwartet in der Presse erschien, im Almanach „Meine Bekannten“, herausgegeben von der „Russkaja starina“), äußerte ich mein Bedauern, dass ein Schriftsteller nach seinem Tod nicht in dem Lichte erscheint, in dem er gesehen werden wollte, und dass ihn verschiedene literarische Totengräber in seine Einzelteile zerlegen und die Unversehrtheit seiner Gestalt zerstören, in der er vor dem Publikum und der Nachwelt erscheinen wollte. (Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Wortlaut des Briefes und die Ausgabe habe ich leider nicht zur Hand; sinngemäß aber stimmt es.) Les beaux esprits se rencontrent, und ich freue mich sehr, dass die in diesem meinem Brief geäußerte Auffassung in der Presse kürzlich durch die Äußerung eines bekannten Literaten zum selben Thema eine Bestätigung fand; folglich hat diese Meinung ihre Berechtigung. Ich bin auch jetzt noch dieser Ansicht und werde es auch künftig sein. Mag der Leser selbst urteilen: der Schriftsteller tritt im vollen Gewand seines Talents in Erscheinung, liefert reife, gründlich durchdachte und sorgsam erarbeitete Werke, tritt als ganzheitliche, in sich geschlossene Gestalt auf, wie eine monumentale Skulptur und möchte damit

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den von ihm erhofften Eindruck hinterlassen. Das ist das Ziel seiner Tätigkeit, sein Stolz, sein Lohn, sein Ruhm. Die Literaturarchäologen aber graben alles aus – eine flüchtige Skizze, einen Vers, einen Satz, eine Seite, ein Wort, kurz, all das, was der Künstler aussortiert und für unbrauchbar erklärt hat, was für seine Arbeit nicht als Rohmaterial zu gebrauchen war und gewöhnlich aus der Werkstatt gefegt wird. Weshalb? Es sei interessant, heißt es dann, gar lehrreich, um zu sehen, wie er in seiner Werkstatt gearbeitet hat, was er zunächst beabsichtigte und dann verwarf. Es sei von Nutzen, die Vorgehensweise des Schaffensprozesses zu studieren usw. Doch das alles stimmt nicht. Nutzen hat es nicht den geringsten; die Methoden des Schaffensprozesses kann man sich nicht von einem anderen aneignen. Jeder Künstler hat seine eigenen Methoden. Man kann allenfalls die äußere Methode nachahmen, doch das führt zu nichts, in den Arbeitsprozess eines schöpferischen Geistes kann man nicht eindringen. Auch wird durch diese Abfallprodukte die Ganzheitlichkeit seiner künstlerischen Gestalt verletzt. Er wollte in festlichem Gewand künstlerischer Vollkommenheit in Erscheinung treten, doch man zeigt seine Windeln vor, sein Jäckchen, die Krakel, die er als Kind gezeichnet hat und sagt: „Schaut nur, so war er als Wickelkind und so als Jüngling!“ Was soll das? Wie viel Unnötiges die Menschen doch tun, erwachsene, kluge, bisweilen auch tüchtige Menschen, sollte man meinen. Sie denken sich dieses Unnötige aus und sind bisweilen im Schweiße ihres Angesichts auf der Suche danach! Weshalb, fragt man sich: es ist interessant, heißt es. Ein so bedeutender Mann, folglich ist auch alles, was ihn betrifft, bedeutend … Nein, weder folgt das daraus, noch betrifft es alles. Sollen sie meinetwegen nach unveröffentlichten Manuskripten oder wertvollen Fragmenten fahnden, die vom reifen Talent des Autors künden, auch nach bedeutsamen Versen oder einzelnen Seiten, allerdings immer unter der Bedingung, dass der Autor sie veröffentlichen wollte, es aber nicht mehr geschafft hat. Doch halbe Zeilen, einzelne Wendungen, gar Absichten, die er zunächst in Betracht zog, dann aber verwarf usw. – nein! Und alles nur, weil es „interessant“ ist, das heißt, um die müßige Neugier der Menge zu befriedigen. Aus diesem Grund zerlegt man den Autor in Einzelteile und beschädigt die erhabene Ganzheit seiner Gestalt. „Ein windiger Menschenschlag“, sagt man unwillkürlich mit dem Dichter.16 Es erübrigt sich zu fragen, wer ihnen das Recht dazu gibt. Wovon lassen sich jene leiten, die das hinterlassene Erbe eines Schriftstellers oder Künstlers ausforschen? Von den gleichen Beweggründen wie auch die Herausgeber postumer Briefe, zum Beispiel von Puškin, Turgenev und anderen, die von den Autoren selbst nicht zum Druck bestimmt waren. So, wie der Körper eines Schriftstellers Beute des Anatomiemessers wird – um eine Krankheit zu diagnostizieren oder aus Gründen der Gerichtsmedizin – und dann der Erde übergeben wird, um zu zerfallen, möchte man auch den Geist eines Schriftstellers, seinen körperlosen, sittlichen Organismus einem solchen Prozess un-

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terziehen, indem man seinem Verstand, seinem Willen und seinem Herzen Gewalt antut! Als sei das ein und dasselbe! Nahe Angehörige des Verstorbenen, die ihn zärtlich lieben, widersetzen sich so gut sie können, damit nicht einmal der Körper dem Anatomiemesser ausgeliefert wird. Hier aber wird sein Geist seziert! Du bist tot, denken die Freunde, Bewunderer und Verehrer seines Talents und seine Verleger, folglich sind auch deine Gedanken, dein Wille, dein Geist unser Eigentum. Wir zwingen dich, mit eigenen Worten das zu sagen, was du zu Lebzeiten nicht selbst ausgesprochen hättest; du bist ebenso Beute des Grabes wie dein Körper; du gehörst nicht mehr dir selbst, wir graben dein ganzes Leben um und präsentieren alles der Wissbegier und Neugier der Menge. Das heißt es also, ein Leben zu studieren. So denken vermutlich auch jene, die dem Verstorbenen gleichgültig gegenüberstehen, wenn sie mit seinem Willen und seinem postumen Andenken rücksichtslos umgehen. Sollen Sie ihn doch studieren, wenn es schon sein muss, und Daten und Fakten sammeln, aber warum ihn zwingen, sich selbst bloßzustellen! Wie sehr das alles dem widerspricht, mit dem man den Sarg eines Verstorbenen umgibt, wenn man ihn zu Grabe trägt! Wie soll man in diesem Zusammenhang die am Grab vergossenen Tränen verstehen, die Kränze, Reden und schließlich die dem Toten errichteten Denkmäler? Nicht seinem Körper gilt ja die Verehrung, sondern seiner Seele, seinem Verstand, seinem Talent, kurz – seinem Geist. Man wird mir nun vermutlich auch vorwerfen, ich zierte mich, hätte eine allzu pedantische Auffassung von einer derart einfachen, alltäglichen Angelegenheit wie dem rücksichtslosen Umgang mit einem Menschen, der nicht mehr lebt, es käme der chinesischen Übertreibung gleich, mit der man Toten Ehre erweist … Man soll mir das ruhig vorwerfen, mich ruhig als Rührmichnichtan bezeichnen, ich tröste mich damit, dass sehr viele Menschen in der Öffentlichkeit diese meine „Skrupel“ teilen werden, und wage anzunehmen, dass die Mehrheit mir zustimmen wird. Viele allerdings werden natürlich auch nicht zustimmen, darunter vor allem die Herausgeber und Verleger historischer Materialien und Zeitschriften, die sich der Vergangenheit widmen. Sie reden viel, laut und gefühlvoll über die Wissenschaft, die Geschichte, die Notwendigkeit, das alte Leben wiederaufleben zu lassen und führen überhaupt viele passende Gründe und Vorwände an. Die Gründe aber sind meist andere, einfachere. Verleger historischer Sammelbände und Zeitschriften sind nicht immer mit ausreichend seriösem historischen Material versorgt, deshalb erwerben sie allen möglichen alten Plunder, selbst wenig interessante Memoiren und Tagebücher von Personen, die keineswegs historisch sind und auch Privatbriefe, um die zu einem feststehenden Zeitpunkt erscheinenden Ausgaben füllen zu können. Sie fischen jede Kleinigkeit, Mitteilung, Anekdote heraus – oft von unbedeutenden und bisweilen auch von kürzlich verstorbenen Personen, und all dies wird als quasi-historisches Material ausgegeben. Wie viel derartiges Material sich da ansammelt! Unwillkürlich erin-

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nert man sich an den einstigen Minister für Volksbildung Uvarov,17 der in einer seiner Broschüren die Frage stellte: „Ist die Geschichte glaubwürdiger geworden, seitdem sich ihre Quellen vermehrt haben?“ Also seit jener Zeit, da am Gürtel der Geschichte statt eines einzigen Schlüssels hunderte Schlüsselchen auftauchten, die man fast unmöglich ordnen kann, und hunderte Türen ins dunkle Labyrinth des längst Vergangenen, die nicht ins Licht führen. Adressaten einer bekannten Persönlichkeit, die den Verlegern mit Freuden jene Briefe, die sie von ihr besitzen, zur Verfügung stellen, lassen sich von verschiedenen Beweggründen leiten: einer davon ist Anteilnahme, Freundschaft mit dem Verstorbenen, der Wunsch, andere an den in den Briefen verstreuten Perlen seines Talents teilhaben zu lassen, angeblich, um sein Andenken zu verewigen und nebenbei noch das eigene. Es gibt solche Liebhaber der Unsterblichkeit. Andere lassen sich einfach von kleinlicher Eigenliebe leiten: „Es sollen ruhig alle wissen, dass diese Persönlichkeit mit mir im Briefwechsel stand, folglich bin auch ich wer!“ Das ist bedauernswert und armselig. All dies bringt es mit sich, dass im Briefkonvolut eines Schriftstellers oder Künstlers viel Unnötiges zusammenkommt, was der Ganzheitlichkeit des Eindrucks nur schadet. „Die wahren Freunde“ und Verleger des Briefwechsels einer verstorbenen Persönlichkeit müssten deshalb seine Briefe, Memoiren, Tagebücher usw. unbedingt davon befreien. Doch nicht nur der Wille Verstorbener wird missachtet, wie ich eingangs sagte, sondern auch jener von Lebenden: Man druckt ihre Briefe ohne ihr Einverständnis, und zwar nicht etwa als Beweisstücke in etwaigen Streitigkeiten, Gerichtsprozessen usw., nein, man entnimmt sie ganz einfach aus dem Alltag und druckt sie ab, ohne das Einverständnis des Autors eingeholt zu haben, wegen seines bekannten Namens, aus Gründen der Werbung. Das ist unerhört und ich weiß nicht, wie man ein derartiges Vorgehen bezeichnen soll. Obwohl ich dafür eintrete, den Anstand gegenüber Lebenden zu wahren und den Willen von Verstorbenen zu achten, erhebe ich keinen Anspruch darauf, dass man meine Ansichten völlig teilt, doch ich wünsche von Herzen (und sehr viele andere mit mir, wie ich zu behaupten wage), dass die Frage des Abdrucks privater Korrespondenzen gründlich durchdacht und in einer für alle Seiten befriedigenden Weise entschieden wird. Sie ist es wert. Ich habe hier nur einige der Probleme erwähnt, die sich aus der Veröffentlichung von Briefen einer Person an eine andere ergeben, die nur für diese andere bestimmt sind, und zeige oben auch Wege auf, wie man es vermeiden kann, in die heikle Lage zu geraten, einen fremden Willen zu missachten: indem man Briefe und andere Schriftstücke nicht vor der Zeit veröffentlicht, zumindest nicht, solange die Zeitgenossen des Autors und seine Adressaten noch leben. Außerdem sollten jene Briefe, die neben allgemein Interessantem auch eine Fülle an intimen, familiären Details enthalten, nicht immer vollständig abgedruckt werden, sondern lediglich Auszüge daraus, also ausgewählte Stellen.

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Vielleicht haben andere, in der Veröffentlichungspraxis kompetentere und maßgeblichere Richter als ich, die meine Ansichten teilen, ein besseres Rezept: ich überlasse die Angelegenheit ihrem Urteil und setze nur die Frage auf die Tagesordnung. „Das Leben zu studieren“, das ist natürlich interessant, doch jedes menschliche Leben ist auf seine Weise interessant: warum aber geht es nur um Schriftsteller, Künstler und Gelehrte? Weil diese, so heißt es, in ihren Briefen oder Tagebüchern über sich selbst sprechen und diese Aussagen eines Schriftstellers oder Künstlers über sich selbst seien doch zuverlässige Quellen. Oben habe ich versucht, das Gegenteil zu beweisen, und erlaube mir, mich auf die große Autorität Puškins zu beziehen. Im 31. Brief an den Fürsten Vjazemskij (S. 46 der billigen Ausgabe von Suvorin) sagt er aus diesem Anlass Folgendes: „Niemanden liebt man so sehr, niemanden kennt man so gut, wie sich selbst. Ein unerschöpflicher Gegenstand. Doch es ist schwer, über sich zu schreiben. Nicht lügen, das kann man; offenherzig zu sein ist aber eine physische Unmöglichkeit. Die Feder hält bisweilen inne, es ist, als ob man vor einem Abgrund zum Sprung ansetzt, in der Annahme, ein Außenstehender könne das Geschriebene lesen.“ Folglich kann man sich wohl kaum auf die Zuverlässigkeit autobiographischer Angaben in Briefen, Memoiren usw. verlassen. Wer all das liest, was ich zur Verteidigung verstorbener Persönlichkeiten geschrieben habe, ihre nachgelassenen Manuskripte, Briefe und was auch immer, die von ihnen nicht zur Veröffentlichung in der Presse vorgesehen waren, gegen ihren Willen publik zu machen, könnte annehmen, auch ich, ein baldiger Kandidat das Zeitliche zu segnen, verteidige mich damit auch selbst gegen Übergriffe, irgendwelche meiner postumen Papiere zu publizieren. Ich nehme an, dass all jene, die mich ein wenig näher kennen, das nicht denken: andere aber werden diesen Verdacht hegen. Aus diesem Grund halte ich es für unerlässlich und wichtig, hier nun auch meinen Wunsch und meinen Willen zu bekunden. Ich verfüge und bitte meine direkten und indirekten Erben, alle Adressaten und Adressatinnen, ebenso die Verleger von Zeitschriften und Sammelbänden, die sich der Vergangenheit widmen, nichts zu publizieren, was ich nicht veröffentlicht oder wofür ich nicht die Druckgenehmigung erteilt und was ich zu Lebzeiten nicht selbst veröffentlicht habe, darunter natürlich auch Briefe. Mögen meine Briefe Eigentum jener bleiben, an die sie gerichtet sind, und nicht in andere Hände übergehen, und später der Vernichtung anheimfallen. Würde ich beabsichtigen, Briefe oder andere meiner Papiere zu veröffentlichen, hätte ich sie selbst zusammengestellt, durchgesehen und jene von ihnen gedruckt, die von allgemeinem Interesse sind. Meine Briefe jedoch enthalten nichts Brauchbares, Ernsthaftes, Tiefgründiges, wie beispielsweise Kavelins oder Kramskojs Briefe; sie schäumen auch nicht über vor Geistesblitzen, vor Scharfsinn und Talent, wie die Briefe Puškins und Turgenevs, kurz, sie enthalten nichts Olympisches und auch fast nichts, was die Literatur

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betrifft. Es ist ein zwangloses, bisweilen vielleicht lebendiges Geplauder mit Freunden und Freundinnen, selten mit Literaten, und nur für jene interessant, denen die Briefe gelten und zum Zeitpunkt, da sie geschrieben wurden. Ich habe eine Art pudeur, in der Öffentlichkeit mit diesem Plunder zum Gespött zu werden. Und ich bitte, dieses Gefühl, dass heißt die pudeur, zu respektieren. Mögen gute, anständige Menschen, die Gentlemen der Feder, den letzten Willen eines Schriftstellers erfüllen, der seinen Beruf ernst genommen hat, und nichts drucken, wie ich oben sagte, was ich zu Lebzeiten nicht selbst veröffentlicht und was ich nicht für den Druck nach meinem Tod bestimmt habe. Auch verfüge ich nicht über Papiere, die sich zum Druck eignen. Die Erfüllung dieses meines Wunsches soll die Anerkennung für meine Arbeit sein und der beste Kranz auf meinem Grab.

2. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Briefe an Anatolij Fedorovič Koni1 1 St. Petersburg, den 16. März [1879] Beiliegend sende ich Ihnen, teurer Anatolij Fedorovič, das Album Ihres verstorbenen Vaters zurück, der mein Altersgenosse und Kommilitone an der Univers[ität]2 war. Wie viele Erinnerungen an die Vergangenheit diese vergilbten Seiten in mir geweckt haben! Ein halbes Jahrhundert liegen sie zurück, ja sogar mehr: denken Sie nur! Ich bin Fedor Aleks[eevič] oft begegnet, allerdings weniger in der Universität, die er selten besuchte, meist anderswo, vor allem bei der liebenswerten, sympathischen M. D. L’vova-Sineckaja,3 deren Porträt ich, wie mir scheint, auf einer der ersten Seiten wiedererkenne. Fast die gesamte Theaterwelt kam damals bei ihr zusammen – in Gestalt ihrer wichtigsten Vertreter. Es wurde gesungen, gespielt, getanzt und ausgiebig gegessen und getrunken. Dort „verflogen auch meine Jugendtage“,4 soviel ist gewiss. Es kamen Literaten, man las, redete – kurz, ein herrliches Zentrum des Lebens und der Kunst, mit einer klugen, talentierten und gastfreundlichen Hausherrin an der Spitze. Ihr Vater ist dort häufig zu Gast gewesen, Herr des Hauses war Varlamov,5 der geborene bohémien, doch ein talentierter Komponist, Humorist und bezaubernder Salonsänger. Unter den Silhouetten konnte ich niemanden erkennen, doch neben Nadeždin6 habe ich gerade eben Ivaškovskij7 entdeckt. Wenn ich ausgehe, werde ich Ihrem Portier diese Zeilen und das Album selbst vorbeibringen. Ich hoffe, dass er es zuverlässig übergibt. Ihr Gončarov P.  S. Mit welcher Anteilnahme ich Ihre schmerzlichen Zeilen über die neuen Ausschreitungen unserer kopf- und herzlosen jugendlichen Skopcen8 beantworte. Möge dieses Übel, diese Krankheit des Jahrhunderts, für immer mit der Wurzel ausgerissen werden, aber leider ist dagegen und gegen seine Wurzeln noch kein Mittel gefunden! Ja, es ist eine apathische, beklagenswerte Epoche, es sind beklagenswerte, von der Wiege an vergiftete Kinder und wir sind hinfällige, kraftlose Alte! O, Herr im Himmel, erbarme dich und hilf !

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2 [St. Petersburg], den 18. Sept[ember 18]79 Darf ich Ihnen noch einmal das von mir ins Reine geschriebene Testament9 zur wohlwollenden Durchsicht vorlegen, sehr geehrter Anatolij Fedorovič? Sollten Sie keine weiteren Anmerkungen haben, würde ich es endgültig abschreiben, damit ich und die Zeugen unterschreiben könnten. So, wie es jetzt aussieht, kann ich es wohl nicht belassen – schon allein deshalb nicht, weil die Zeilen schief geraten sind – auch weiß ich nicht, ob ein auf zwei einzeln aufeinanderfolgenden Blättern geschriebenes Dokument zulässig ist: sollten sie nicht besser ineinandergelegt, zusammengeheftet und dann abgeschrieben werden? Außerdem hat sich im Punkt 2, Ziffer 1 ein Pleonasmus eingeschlichen (das Bargeld ist in bar vorhanden) und bei der Konjunktion so fehlt das dazugehörige dass. Schließlich habe ich unter Punkt 5, Ziffer 2 (auf der 3. Seite) vergessen, den Punkt 5 aufzuführen und ihn erst später eingefügt, was man natürlich sehen kann.10 Deshalb werden natürlich auch Sie es für unpassend halten, dass es in dieser Form unterschrieben wird: mir bleibt nichts übrig, als alles abzuschreiben und dieses dann als Kopie zu behalten. Vielleicht finden Sie es auch angebracht, noch weitere Anmerkungen zu machen – ich werde sie berücksichtigen. Wegen der doppelten Bezifferung hatte auch ich Bedenken, ich wollte ursprünglich die erste Rubrik, unter der das Eigentum aufgelistet ist, statt mit Zahlen mit a, b, c usw. bezeichnen, doch Mark Nik[olaevič]11 hatte etwas dagegen einzuwenden, eine zweite Kennzeichnung mit Ziffern aber hielt ich für völlig ausgeschlossen – wegen der Verwechslungsgefahr, zu der dies eventuell führen könnte, ich wusste nicht, dass so etwas zulässig ist. Wenn ich das Testament unterzeichne, werde ich wohl sagen müssen: „Dieses von mir selbst verfasste und eigenhändig unterschriebene Testament“ usw. Da ich das Dokument aber in Ihrem Beisein unterschreiben werde, werde ich dann Ihrer Anweisung folgen, jetzt aber bitte ich Sie, mir großmütig zu verzeihen, dass ich Sie von Neuem und, wie ich hoffe, zum letzten Mal, in dieser Angelegenheit belästigt habe. Wollen Sie doch bitte die Güte haben, mir die Papiere zurückzusenden – mit Anmerkungen und Hinweisen, falls selbige notwendig sind. Über die Höhe meines Vermögens bitte ich Sie ergebenst, Stillschweigen zu bewahren: die Zeugen (d. h. Žemč[užnikov] und Kruz[e] [Kruse]) werden dies sicher nicht wissen wollen und den Text nicht lesen.12 Seien sie herzlich und dankbar gegrüßt I. Gončarov

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3 [St. Petersburg], den 27. September 1879 Von ganzem Herzen danke ich Ihnen für Ihre Porträtkarte,13 sehr, sehr geehrter14 Anatolij Fedorovič. Ich habe Ihnen mit der Übersendung „meines Antlitzes“ in Gestalt der beiden beigelegten und von Ihnen gebilligten Exemplare nicht zuvorkommen können, aus Gründen, die ich am Ende dieses Monologs ausführen werde, jetzt aber gestatten Sie mir eine kleine kritische Analyse Ihrer Karte. Es ist eigentlich gar keine Karte, eher ein Bild,15 das vortrefflich wäre, würde Ihr Gesicht größer ausgefallen sein, zum Beispiel mindestens so groß wie auf den sogenannten „Kabinettkarten“, wie ich sie beifüge. Dann würde auch das lebendige Accessoire, der Hund, die Atmosphäre des Bildes wunderbar ergänzen, ohne dass er den ihm nicht zukommenden beherrschenden Platz einnähme. Diese Kritik entspringt meinem lebhaften Wunsch, den zweifellos Ihre zahllosen Verehrer teilen werden, Sie mögen sich angesichts dieser unserer aller Wünsche und Bitten einem erfahrenen Fotografen anvertrauen, damit er Sie würdig ablichtet, und dabei auch Ihren stummen Freund nicht vergisst, selbst wenn seine Schnauze in natura vielleicht größer ist als der menschliche Kopf. Eine geschickte Ausleuchtung Ihres Gesichts, die Pose, einige Geheimnisse der Perspektive und dergleichen mehr werden bewirken, dass Ihre Erscheinung das Bild beherrscht, selbst wenn Ihnen ein Löwe zu Füßen läge. All diese Überlegungen will ich jetzt gleich zusammen mit den Porträtkarten zum Ovsjanniko-Eliseevschen Haus16 bringen und Ihnen, so ich das Glück habe, Sie anzutreffen, persönlich übergeben. Nun zum Grund für die Verzögerung. Ich hatte Sie um die Erlaubnis gebeten, Ihnen den Entwurf des bewussten Dokuments zur abschließenden Durchsicht17 zu schicken, was ich auch heute tun und zusammen mit den Porträtkarten vorbeibringen wollte. Doch ich habe soeben erfahren, dass gewissen Personen, denen die mich belastenden Probleme und Sorgen um die fremde, mir offenbar vom Herrgott selbst anvertraute Familie,18 seit langem bekannt sind, und die ebenfalls daran Anteil nehmen und gern bereit sind, diese Fürsorge nach meinem Tode fortzusetzen, gerade eben von einem Sommeraufenthalt im Ausland zurückgekehrt sind. Ich will ihnen die Dokumente zunächst vorlesen, da darin auch von ihnen die Rede ist.19 Bitte gewähren Sie mir deshalb noch einen gewissen Aufschub, bevor ich Ihnen den Entwurf zeige. Vorerst grüße ich Sie innig und aufrichtig, I. Gončarov

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4 [St. Petersburg], den 8. Oktober 1879 Gestern habe ich auf das von Nikolaj Fed[orovič] Kruze angekündigte überaus große Vergnügen gehofft, mit Ihnen zwei, drei Stunden bei Tisch im Hôtel de France20 verbringen zu können, sehr geehrter Anatolij Fedorovič; doch dazu ist es leider aus irgendeinem Grund nicht gekommen, oder, wenn das Mahl stattgefunden hat, dann wohl andernorts, denn im Hôtel de France waren auch weder Kruze noch Žemčuž[nikov]. Ich wollte übrigens noch einmal an das Vorhaben des Testaments erinnern, das im Entwurf fertig ist, und um die Erlaubnis bitten, es Ihnen zur abschließenden Durchsicht vorbeizubringen. Da ich nicht weiß, wann ich wieder das Vergnügen haben werde, Sie zu sehen, gestatte ich mir vorerst, das oben erwähnte Papier beizufügen und Sie ergebenst zu bitten, mich bei seiner Rückerstattung wissen zu lassen, ob es etwas taugt, das heißt, est il valable (acte) vor dem Gesetz und ob darin ausführlich und deutlich genug all das ausgeführt ist, was ich wünsche; und außerdem, ob das Dargelegte der in solchen Papieren üblichen Sprache entspricht. Schließlich: können Zeugen von Privattestamenten einzeln unterschreiben oder müssen sie zusammenkommen? Ihre Bleistiftbemerkungen im Text und an den Rändern werden für mich bindend sein. Entschuldigen Sie, dass ich Sie in dem Wust Ihrer Aufgaben mit diesem Kleinkram belästige: aber Sie sind mir so wohlgesonnen, und ich bin in diesen Dingen derart unerfahren, dass ich es wage. Ihnen herzlich zugetan Gončarov 5 [St. Petersburg], Dienstag, den 23. Okt[ober 18]79 Verzeihen Sie, sehr geehrter Anatolij Fedorovič, dass ich es noch einmal wage, Ihnen das abgeschriebene Testament vorzulegen – zur abschließenden Durchsicht. Sollte es einen Makel aufweisen, schonen Sie mich nicht und senden Sie es ohne Erbarmen zurück: ich werde es dann rasch noch einmal abschreiben. Sollte aber alles seine Richtigkeit haben, so bitte ich Sie, das Papier zum Essen mitzubringen (falls Sie Ihre Absicht, heute im Hôtel de France zu speisen, nicht geändert haben), wir könnten es dann alle unterschreiben.

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Die Gründe, warum ich Sie gebeten habe, das Testament noch einmal durchzusehen, sind folgende: 1.  Unter der Ziffer zwei habe ich zwei neue Punkte hinzugefügt, den 2. und 3., in denen ich zwischen der Mutter und den Kindern die Verteilung von vierzehn Scheinen der fünfprozentigen Gewinnanleihe anführe, denn ich finde es unpassend, diese Scheine mit den übrigen Wertsachen zu vermischen, sie in zwei gleiche Hälften aufzuteilen, wie in Punkt 4 angeführt, denn diese Anteilsscheine werden auch in die Ziehung kommen und könnten gezogen werden und sie müssen auch versichert werden, deshalb habe ich sie in den beiden neuen Punkten so aufgeteilt, dass 5 Scheine der 1. Anleihe für die Mutter bestimmt sind, und im nächsten Punkt vermache ich neun Anteilsscheine den drei Kindern, drei Scheine für jeden, wobei ich auch angegeben habe, wer welche Nummer bekommen soll. Im vierten Punkt habe ich dann alles Übrige in zwei Teile geteilt, wie zuvor. Ist das möglich? 2.  Ich weiß auch nicht, ob der Sinn dieses 3. Punkts verständlich wird, wo ich den Testamentsvollstrecker bitte, mit diesen Scheinen der Waisen so zu verfahren, wie er es für richtig erachtet. 3.  Zu Beginn des Testaments, bei der Jahres- und Datumsangabe, habe ich wenig Platz für letzteres gelassen, um es in Worten aufzuschreiben: kann das Datum auch als Ziffer angegeben werden? 4.  Bei der Erwähnung von Mark Nikol[aevič], am Ende, habe ich das Wort Senator vergessen. Vielleicht fällt Ihnen noch etwas anderes auf. Ich wiederhole – schonen Sie mich nicht und ordnen Sie an, dass alles, wenn nötig, noch einmal abgeschrieben werden muss: ich werde es guten Mutes und leichten Herzens tun. Ihr bis zum Tag des Inkrafttretens des beigefügten Testaments herzlich zugetaner I. Gončarov 6 Dubbeln (neben Riga),21 Herren-Straße, Haus Possel‘, den 30. Mai [1880] Jeden Tag vor der Abreise hatte ich vor, zu Ihnen zu kommen, guter und sehr geehrter Anatolij Fedorovič, um Ihnen zum Abschied die Hand zu drücken, vor allem aber, um Ihnen forschend, ja wie ein Richter, in die Augen zu sehen und nach Möglichkeit herauszufinden, ob Sie auch dieses Mal gescherzt haben wie im vergangenen Jahr, als Sie mich in der Hoffnung wiegten, mit Ihnen am hiesigen Strand spazieren gehen zu können, und mich dann im Stich ließen? Oder aber – ob Sie es wider alles Erwarten riskieren werden, das Versprechen vom letzten Jahr wahrzumachen?

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Nun bin ich also hier. Ich bin ganz krank abgereist: drei Tage lang hatte ich die Absicht, aufzubrechen, aber der Husten, die Atemnot und eine allgemeine Schwäche des Organismus ließen jeden Gedanken daran hinfällig werden. Abends wagte ich nicht einmal, aus dem Haus zu gehen (deshalb habe ich es auch nicht mehr zu Ihnen geschafft) und erst am 23. Mai, am ersten warmen Tag, konnte ich freier atmen und war soweit gekräftigt, dass ich abreisen konnte, allerdings ohne mich von irgend jemandem verabschiedet zu haben – aus Angst, mich wieder zu übernehmen. Der Doktor hat mich buchstäblich fortgejagt. Hier ist es kalt und regnerisch: bloß heute haben wir ausnahmsweise einen herrlich klaren Tag. Geb‘s Gott, dass auch die kommenden Tage so werden, nur noch wärmer. Der Frühling ist noch nicht ganz auf den Sommer umgeschwenkt. Sollte bei Ihnen tatsächlich der Gedanke gereift und sollte „selbiger“ nicht aufgepickt worden sein, wie es die Vögel (zum Beispiel die Stasjulevičs)22 auf dem Wege tun, oder sollten ihn nicht Passanten zertreten haben, so müssen Sie diesen Gedanken, das heißt herzukommen, ab Mitte Juni oder in den Tagen nach dem 20. Juni in die Tat umsetzen. Worüber ich Sie zu benachrichtigen mich beeile. Jetzt ist es zu früh, die Saison hat noch nicht begonnen, es ist niemand da, sogar die Läden sind nicht alle geöffnet. Am Meer trifft man kaum jemanden und auch beim Essen ist man allein. Doch ab 1. Juni wird sich alles schnell füllen. Unterkünfte gibt es überall reichlich, auch im sogenannten Actienhaus,23 wo Sie vermutlich ebenfalls absteigen werden, sollten Sie denn kommen … Dort gibt es unendlich viele sommerlich ausgestattete Klausen, auch Wohnungen für Familien, kurz, alles erdenkliche, mit Personal und Bettwäsche, wie in allen Hotels. Ich würde mich dort selbst einquartieren, doch ich habe wieder die Familie mitgeschleppt, die bei mir wohnt, die Kinder und ihre kranke Mutter – und werde mich bon gré mal gré auch in der kleinen Wohnung niederlassen müssen, die ich den Sommer über für 150 Rubel gemietet habe, um nicht doppelt zu bezahlen und um eine Bediente um mich zu haben wie zu Hause. Gott hat es gefallen, mir ein fremdes Joch aufzubürden: möge mir dieses Joch zumindest als gute Tat angerechnet werden und möge die Bürde leicht sein! Die Waisen und ihre Mutter tun mir leid, eines der Mädchen aber liebe ich einfach:24 das ist ein kleiner Trost für mich, vor allem, wenn ich sehe, dass alles nur durch mich aufrechterhalten werden kann. Würde ich sie im Stich lassen, gingen sie zugrunde! Doch häufig wird mir schwer ums Herz, mir ist sogar ein wenig bange: wie soll es weitergehen? Weder die moralischen noch die materiellen Mittel reichen! Doch was Gott mir beschert hat, das will ich annehmen! Nur damit tröste ich mich! Ich habe fünf Kämmerchen in einem Dachgeschoß gefunden, mit einem kleinen Balkon, für 150 Rubel für den Sommer. Jedes beliebige Kartenhaus an der Černaja rečka25 kann es mit dieser Behausung aufs Haar aufnehmen, mit dem einzigen Unterschied, dass sich hier auf der einen Seite statt der Černaja rečka der große Fluss Aa befindet, mit dem weiten Horizont der Felder, und auf der anderen das

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Meer und der Kiefernwald. Das alles, besonders letzterer, ist unvergleichlich! Und die Luft! Ich selbst wäre aus Trägheit und aus Altersgründen am Ende wohl gar in Petersb[urg] geblieben: mit zunehmendem Alter ist es mir ganz einerlei geworden, wo ich wohne, doch bleiben konnte ich nirgends: im Haus wird gebaut. Notgedrungen musste ich irgendwohin ausweichen oder abreisen – aber wohin? Es ist mir ganz einerlei, wie ich schon sagte, so bin ich denn hierher gefahren! Und ich habe auch gleich die kränkelnde Dienerin und ihre Kinder mitgenommen, in der Hoffnung, dass es ihnen radikal hilft, ihre Gesundheit zu stärken! Vorläufig sitze ich hier und langweile mich, seit dem 27. Mai lese ich nicht einmal mehr Zeitungen: man bekommt sie im Kurhaus erst ab dem 1. Juni. So sitze ich den fünften Tag ohne jede Nachricht da und beschäftige mich damit, wo ein Nagel eingeschlagen werden soll, wo was aufzuhängen ist usw.! Appetit habe ich noch keinen, esse fast nichts, mein Husten erweist sich als widerspenstig und weicht nur langsam, die Atemnot hat sich gebessert, aber als gesund kann ich mich noch immer nicht bezeichnen. Wie ich mich von Ihnen verabschieden soll, weiß ich nicht: bis zum Herbst oder bis zum baldigen Wiedersehen? Schreiben Sie mir ein Wort, wenn es Ihre Zeit erlaubt, und lassen Sie sich fest die Hand drücken. I. Gončarov Sollten Sie Vlad[imir] Mich[ajlovič] Žemč[užnikov]26 sehen, so grüßen Sie ihn herzlich von mir. 7 [Dubbeln], Freitag. [Zwischen der zweiten Junihälfte bis Ende Juli 1880] „Um der Krebse und des Arrak allein Kehre ein, im Häuschen mein!“27

A onze heures précises: daran sollen Sie weder babarak,28 noch Verstopfungen oder Verschlüsse und dergleichen hindern! Das mit dem Arrak29 ist nicht nur ein Wortspiel: ich habe welchen für Heilzwecke zum häuslichen Gebrauch vorrätig! Ihren Heilbrunnen können Sie ein andermal trinken, oder zwei Stunden nach den Krebsen – dann werden Sie genesen. Der Heilbrunnen ist übrigens förderlich, wenn sich die Erregung legt oder wenn Sie sie gedanklich annehmen: dann werden Sie vermutlich auch nicht mehr unter Verschlüssen und Verstopfungen leiden und den Heilbrunnen gar nicht mehr brau-

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chen. Luft und Spaziergänge, dazu gutes Essen, unter anderem auch Krebse, das reicht schon! Ich schicke Ihnen auch eine Flasche Heilbrunnen mit: es ist nicht ganz der richtige, oder vielleicht auch ganz und gar nicht der richtige – die beiden Flaschen zeugen wohl eher von Aleksandra I[vanovnas]30 Eifer. Sie hat ganz Riga danach abgesucht und dabei einige der Einkäufe für mich und sich selbst vergessen, worüber sie Ihnen eine spannende Geschichte erzählen wird. Nun denn, ich erwarte Sie gegen elf Uhr. Auch der Kaviar ist nicht in Vergessenheit geraten. Gončarov A[leksandra] I[vanovna] hatte wohl nur “Victoria” im Sinn, maß dem Adjektiv “Ofener”31 wenig Bedeutung bei, weshalb sie in der Schwan-Apotheke32 deshalb nicht den dort vorrätigen Ofener Ragotz oder Racotz33 gekauft hat, da das Wort „Victoria“ fehlte. Doch über all das um elf Uhr. Nochmals Gončarov 8 [Dubbeln] Montag. [Zwischen der zweiten Junihälfte bis Juli 1880] Ich schicke Ihnen „Les Soirées de Médan“34 und die „Histoire de la société française“35 und bitte Sie, mir im Gegenzug – sollten Sie, Anatolij Fedorovič, ihn selbst nicht brauchen –, zur Durchsicht den „Vestnik Evropy“36 zu schicken, ich werde ihn bald zurückgeben. Nun zu den Krebsen: stellen Sie sich vor, ich selbst habe auf dem Basar einen ganzen Korb Krebse gekauft, die in diesem Augenblick überall durch mein prächtiges Wohnzimmer kriechen – es ist niemand zu Hause, alle sind baden gegangen* – und ich weiß nicht, was ich tun soll: doch ich habe das Gefühl, dass diese Krebse schon in weniger als einer Stunde aufgetischt sein werden. Wollen Sie nicht jetzt gleich vorbeikommen, wenn Sie nichts anderes vorhaben, um gegen halb zwölf diese Krebse zu essen und eine Tasse Tee mit mir zu trinken? Sollten die Krebse noch nicht gar sein, gibt es Kaviar, Butter usw. Was halten Sie davon? Ich grüße Sie Gončarov * Sie sind schon vor langer Zeit fortgegangen und müssten folglich jeden Augenblick zurück sein.

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9 [Dubbeln], Mittwoch. [Zwischen der zweiten Junihälfte bis Juli 1880] Gegen elf Uhr (nicht früher) erwarten wir – die einstweilen noch über den Boden kriechenden 60 Krebse und ich – Sie und Petr Dmitr[ievič]37, dem ich, wie Sie es versprochen haben, höflichst bitte, den Weg zu meinem Balkon zu weisen oder besser noch, ihn herzuführen. Es wird auch frische Butter geben und sicher auch Eier, ob sie aber frisch sein werden, das weiß ich nicht, für letztes mache ich jene Lettin verantwortlich, bei der sie gekauft werden. Anschließend eine Tasse Kaffee oder Tee – ad libitum. Bis elf also: jetzt gehe ich baden. Gončarov Villa Possel‘

10 [Dubbeln. Zwischen der zweiten Junihälfte und Ende Juli 1880]

Heute: „Krebse!“ „Krebse!“ „Große Krebse!“ Leider sind sie nicht groß und überdies für zwei zwar ausreichend, für drei aber nur mit Müh und Not, weshalb ich diesmal Petr Dmitrievič nicht einladen werde. Könnten Sie um elf Uhr kommen, nicht früher, und wenn möglich auch nicht später, damit die Krebse, der Tee (und unter anderem auch der Kaviar) nicht verkochen! Dann also, bis zum Wiedersehen, wie ich hoffe Gončarov 11 [Dubbeln. Zwischen der zweiten Junihälfte und Ende Juli 1880] Mittwoc H.38 G Enau umel fuh RE rwart Ensi ediek rebseun dic H. Gon‘-Čar’o-V‘

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12 [Dubbeln. Zwischen der zweiten Junihälfte und Ende Juli 1880] Mittwoch Heute wurden Krebse gebracht: darf ich Sie kurz vor eins oder um ein Uhr erwarten, oder wann es Ihnen passt! Ich füge die Rezepte für die Pillen bei, die mich jedesmal rasch vom Hustenkatarrh befreien. Wenn Ihr „Bedarf gedeckt ist“, bitte ich ergebenst, mir beide Rezepte zurückzugeben. Dann also, bis zum baldigen – wie ich hoffe – Wiedersehen Gončarov Die Rezepte sind beide gleich – sie unterscheiden sich wohl nur in den Dosen. Sie werden daraus besser schlau werden als ich. 13 St. Petersburg, Mochovaja, Nr. 3, den 30. Juli 1880 Einen ganzen Tag lang habe ich mich abgequält, lieber Anatolij Fedorovič: mit meinem Pflegekind39 und im Wortsinne mit der sengenden Sonne, vor der uns weder das geräumige Abteil in der ersten Klasse schützte (wir waren allein), noch die lila Vorhänge oder der Luftzug! Und so ging es bis nach Petersburg, wo es augenblicklich ebenso brütend heiß ist wie in Dubbeln, dazu kommen noch Staub, Schwüle, der Geruch von Teer etc. Gottseidank bin ich jetzt zu Hause, in meinem kühlen Arbeitszimmer und locke Sie nun hierher, wie ich Sie im Juni von hier nach Dubbeln gelockt habe. In zwei Wochen, so hoffe ich, wird alles wieder in geregelte Geleise kommen, das heißt alle, auch Sie, werden heimkehren, die kalten Tage werden anbrechen, es wird regnen usw. Wenn es doch bald Winter wäre: ich liebe ihn, er ist frisch, kräftigt und muntert auf, mit seinen Lampen, Kaminen und den friedlichen Diners mit den Freunden und dem Moselwein! Bitte grüßen sie unsere gemeinsamen Dubbelner Bekannten von mir: vor allem die liebe, gute, reizende Sof ’ja Aleks[androvna],40 und danken Sie ihr für das großherzige, doch leider fruchtlose Bestreben, mich durch ihre freundliche weibliche Aufmerksamkeit zu beleben: wenn sie damit nicht erfolgreich war, so einzig wegen meiner hoffnungslosen Unfähigkeit, etwas Berührendes und Schönes zu empfinden. Richten Sie Petr Dmitrič für seine überaus angenehme Gesellschaft meinen Dank aus (nos controverses y comprises). Ohne sie hätte unseren Tischgesprächen

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das Salz, die Schärfe und der Gärstoff gefehlt.41 Zwischen Menschen, die den Verstand, die Ansichten und das Temperament besitzen wie wir alle, kann es gar nicht fade zugehen. Sagen Sie ihm doch bitte auch, dass ich seine Meinung über mich als Schriftsteller sehr schätze, und nie vergessen werde, dass er der Erste war, der in einer seiner Vorlesungen über die Bühnenkunst gewisse Verdienste meiner kritischen Bewertung des Čackij42 hervorgehoben hat. Grüßen Sie sodann unseren tauben Freund43 und sagen Sie ihm, dass ich mich nicht von ihm verabschieden wollte – denn ein Abschied für eine unbestimmte Zeit hat etwas, wenn auch nicht immer Schweres, so doch Trostloses an sich! Er wird übrigens meine Karte in seinem Weingeschäft in Riga vorfinden, denn die Wohnung war abgeschlossen. Sie werden es natürlich ebenfalls übernehmen, auch Vera Petrovna44 und den Kindern meine besten Grüße zu übermitteln, sowie meine Dankbarkeit für die freundliche Aufmerksamkeit, unter anderem auch für den grünen Stuhl, auf dem ich, ihr sei’s gedankt, weich gesessen habe und den ihr Aleks[andra] Iv[anovna] hoffentlich zurückgebracht hat. Und Matilda Ljubovna45 drücken, ja, quetschen Sie an meiner Statt die Hand, wenn Sie sie treffen, oder was Sie sonst zu quetschen für angemessen und angebracht halten. Und allen, allen anderen, den Bogdanovs und den gastfreundlichen Deutschen, den Inhabern des Actienhauses und den schönen Mädchen mit den hervorstehenden Augen (aber nicht ihrer Mutter, lieber der Mutter der jungen Schlangen) und Ihrem jungen Nachbarn Skopin mit den träumerischen Augen und außerdem dem Meer und dem Wald, meine innigsten, dankbaren Grüße. Ihnen schulde ich für diese anderthalb Mo[na]te grenzenlosen Dank: gebe Gott, dass es uns noch einmal beschieden ist, gemeinsam dieses schattige, friedliche Ufer zu besuchen, unter neuen, guten Umständen und unter Beibehaltung alles Guten, das uns jetzt zuteilwurde. Allerdings fürchte ich zu hoffen. Meine Hoffnungen welken und zerfallen wie Herbstlaub: es komme wie es wolle! Der Bischof hat beim letzten Mal gesagt, man müsse immer an das bekannte Ende denken: ich darf es folglich nie vergessen! Sanja46 küsst Sie: sie ist nach draußen gelaufen, um mit dem Nachbarskind Katja herumzutollen! Sollten Sie eine freie Minute haben, so schauen Sie doch bitte in meiner früheren Behausung vorbei und erkundigen Sie sich, wie es der kranken Witwe und den Waisen geht!47 Ich wünsche mir sehr, dass sie auf dem Rückweg denselben Zug nimmt wie Sie. Wenn sie weiß, dass ein Bekannter in der Nähe ist, wird sie sich unterwegs sicherer fühlen und sich auch weniger vor den Juden,48 Schaffnern und Gendarmen fürchten. Ich drücke Ihnen fest die Hand und sage – auf Wiedersehen Ihr Gončarov

Briefe an Anatolij Fedorovič Koni

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14 [St. Petersburg], Mochovaja Nr. 3, den 10. August 1880 Ich danke Ihnen für den, wenn auch späten, so doch lieben, sehr lieben Brief, guter, lieber, allerliebster Anatolij Fedorovič, Gott möge Sie für Ihre Güte belohnen! Da Sie, wie Sie sagen, bis zum 18. August in Dubbeln bleiben wollen, kann ich ohne Weiteres noch einmal schreiben – und Sie unter anderem auch bitten, vor allem so schnell wie möglich Aleks[andra] Ivanovna auszurichten (natürlich nur, wenn sie noch nicht abgereist ist), dass sie sich mit der Abreise Zeit lassen kann. Sie mag ruhig noch bis zum 20. bleiben, wenn es ihr für die Gesundheit nützlich erscheint und wenn das Wetter weiterhin gut bleibt, kurz, wenn sie selbst noch bleiben möchte. Sie wollte zum 14. August zurückkommen, da Vasja sich an diesem Tag in der Schule49 hätte vorstellen sollen. Als ich vor drei Tagen dort war, erfuhr ich in der Direktion, dass die Kinder nicht vor dem 25. August aufgenommen werden, da im Haus umgebaut und renoviert wird usw. Ich habe es ihr sogleich geschrieben, doch für den Fall, dass sie meinen Brief nicht bekommen hat, bitte ich Sie, ihr das auszurichten, sie mag dann tun, was sie für richtig hält. Wir haben hier auch gutes Wetter, auf unserem Hof aber riecht es übel, und es ist staubig, von den Ziegeln, vom Kalk, von den Fuhrwerken und den Arbeitern, so dass eine Heimkehr bei dieser Hitze wenig erfreulich ist! Heiß ist es eigentlich nicht, nur warm, und das ist gut, ich begebe mich jeden Tag nach dem Aufstehen um neun Uhr mit einer kleinen Tasche (für Handtuch, Seife u.a.) in die Nachbarschaft des Bezirksgerichts und präsentiere mich dort in meiner ganzen Blöße inmitten der Wellen dem ebenfalls nackten, doch spärlichen Publikum,50 darunter Popen, Offiziere, Gymnasiasten, vielleicht auch Mitglieder des Kreisgerichts und anderer Gerichte! Kurz – eine Fortsetzung von Dubbeln! Ich danke Ihnen, dass Sie mit dem „Garstigen“, wahlweise auch „ehrwürdiger“ Alter genannt, baden gehen (die beiden Spitznamen spiegeln zwei Seiten seines Betragens wider). Gehen Lenočka (auch Kugel oder Ente genannt)51 und ihre Mutter ebenfalls baden und haben Sie ihr den versprochenen Hahn gemacht?52 Und was ist mit den Krebsen: haben Sie bei Alek[sandra] Iv[anovna] vielleicht welche bestellt? Sanja habe ich am Tag nach unserer Rückkehr in der Familie der Fräulein N[ikiten]ko53 in Carskoe Selo untergebracht, sie haben sie aufgenommen wie eine Verwandte. Ich war schon zweimal dort, auch gestern. Sie tollt mit einem anderen Mädchen durch den herrlichen Park, streift durch die schattigen, wunderschönen Alleen (beim Schloss des Thronfolgers)54, sucht Pilze und findet auch welche. Das reinste Vögelchen! Sie ist ausgelassen und treibt Unfug! Heute hatte ich den Hoff-

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nungsschimmer, sie vielleicht auf Staatskosten unterbringen zu können: das würde mich entlasten, wenn auch nicht völlig, so doch beträchtlich.55 Raten Sie, wen ich gestern im Zug nach Carskoe Selo getroffen habe und mit wem ich dorthin gefahren bin? Mit Aleks[andra] Vasil‘evna.56 Wir haben uns beide über die Begegnung gefreut. Ihr erster Satz jedoch galt Ihnen – „Sie hier“, sagte sie, „und ohne Anatol[ij] Fed[orovič]!“ Dann sah sie mich vorwurfsvoll an. „Er hört nicht auf mich: gehorcht mir nicht mehr! Ich habe ihn immer wieder eingeladen, aber er kommt nicht!“ habe ich mich über Sie beklagt. Übrigens hat sie im Gespräch selbst ihren wunden Punkt angesprochen, das Problem mit dem ältesten Sohn, und von ihrer Dummheit erzählt, wie sie sich ausdrückte, d. h., dass sie sich überlegt hat, ihn mit 25 Jahren finanziell abzufinden, und das ist dann dabei herausgekommen! Sie hat mir auch die Geschichte mit der „Amerikanerin“ erzählt. Von seinen übrigen Aberrationen aber hat sie nichts gesagt. Ich habe natürlich voller Anteilnahme zugehört, als sei das alles neu für mich. Zu Mittag esse ich wegen des warmen Wetters meist im Sommergarten.57 Das Essen für 1 Rubel 25 Kopeken ist miserabel, schlechter als im Actienhaus. Vorgestern hat sich Grigorovič58 an meinen Tisch gesetzt, er ist auf seine Art auch ein Boborykin. Dasselbe Genre, lediglich die Nuancen und Details unterscheiden sich. Allerdings steht Petr Dmitrič viel höher. Sie haben natürlich recht, wenn Sie über letzteren sagen, er sei kalt. Solche Menschen haben ein vorherrschendes Gefühl (oder wie man es nennen soll) – das ist die Eigenliebe. Großes Talent vorausgesetzt, kann man mit dieser Triebkraft in allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit Wunder vollbringen. Menschliche Bindungen stören dabei nicht, wie hindernde Gewichte, seinen Weg zu gehen – auf ein Ziel zu, zur Berufung, die den ganzen Menschen beansprucht. Unbegabte Menschen jedoch treibt die Eigenliebe an, eine Masse an Farblosem, Langweiligem, Unnützen usw. zu produzieren. Ein Mensch mit Herz sollte nie fern von seiner Frau leben, wenn er einen Roman schreiben will: er sollte sich im Gegenteil an diesem Feuer wärmen, dann würde er vieles erreichen, warmherzig, leidenschaftlich und fesselnd! Dafür aber ist überhaupt Leidenschaft nötig und die Fähigkeit, sich nicht nur fesseln zu lassen, sondern auch zu fesseln. Ich denke sogar, dass auf dieser Kälte oder Eigenliebe seiner Natur auch der Gleichmut und die Ruhe in der Beziehung zwischen den Eheleuten basiert, die wir beide an ihnen beobachtet haben. Wäre er leidenschaftlicher und warmherziger, so würde ihn diese leise sich ergießende Kaskade ihrer unversiegbaren, unaufhörlichen und ergebenen Zärtlichkeit möglicherweise ermüden und er würde sich etwas anderes wünschen! Es scheint wohl – offenbar – nötig zu sein! Ich sehne mich – nicht nach diesen oder jenen Umständen –, nein, es ist eine allgemeine Alterssehnsucht, die durch nichts und niemand gestillt werden kann und nach jener Ruhe lechzt, die man die ewige nennt!

Briefe an Anatolij Fedorovič Koni

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Leben Sie wohl – bis zum, wie ich hoffe, baldigen Wiedersehen noch in dieser Welt. Reichen Sie mir Ihre Hand. Ihr I. Gončarov Alle Neuigkeiten haben Sie natürlich den Zeitungen entnehmen können!59 Hier hat man übrigens schon vor der Veröffentlichung von den Veränderungen in den Ministerien gesprochen. P. S. Sie schreiben, dass Sie „nichts tun“: das ist fürchterlich, ich will es nicht glauben! Sie haben sich doch eine Aufgabe vorgenommen – Ihre Aufzeichnungen ein großes Stück voranzubringen, und ich hoffe, dass Sie Ihre meisterhafte Skizze vollenden werden, die mich buchstäblich gefesselt hat, und dass Sie mir bald nach Ihrer Rückkehr daraus vorlesen werden. 15 [St. Petersburg], den 19. August [18]80 Gestern saß ich krank bei meiner Bouillon, als mir der große Umschlag von Ihnen gebracht wurde, mein lieber und guter Anatolij Fedorovič: ich habe ihn auf den Tisch legen lassen, erst nach dem Essen geöffnet und darin gefunden: 1. Ihren Brief mit dem Geld, 2. den Aufsatz über die Gründe der Ausbreitung der Unruhen unter der Jugend und dergl.60 Zu Punkt eins möchte ich anmerken, dass Sie sich zu sehr beeilt haben, mir das Geld zurückzugeben – ich benötige es in diesem M[on]at vorerst noch nicht. Punkt zwei dagegen, das heißt, den Aufsatz, habe ich gestern Abend in einem Zug gelesen und bin nach der Lektüre gestern und heute Vormittag immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Zu allererst möchte ich Ihnen sagen, dass er mit jener Klarheit und Nüchternheit der Ansichten, kurz, der Logik geschrieben ist, die ich an Ihnen bewundere (j’admire), und zudem in beneidenswerter Kürze, die vieles aussagt, ohne weitschweifig zu sein. Zweifellos ist der Aufsatz auch inhaltlich überzeugend, die Argumente und Schlüsse sind unanfechtbar, die Fakten erstaunlich –,61 und ich vermute, dass Ihr Aufsatz, bedenkt man, was die Regierung in der letzten Zeit unternommen hat, eine starke Wirkung hatte und vermutlich keine geringe Rolle gespielt hat, sollte er den Adressaten, für den er gedacht war, denn erreicht haben. Vielleicht war er für einige der Verantwortlichen gar richtungsweisend, als sie die neuesten Maßnahmen ergriffen …62 Zum großen Kummer des gesunden und ehrlichen Teils der Gesellschaft aber, zu dem wir beide gehören, folglich auch zu unserem Kummer, sind sämtliche er-

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griffenen Maßnahmen und alle anderen, die in dieser Weise noch ergriffen werden könnten, welche auch immer es seien, ja nur palliative Maßnahmen, geeignet, die heftigen Ausbrüche des menschlichen Leidens für eine mehr oder weniger lange Zeitspanne zu lindern, das Wehklagen, Stöhnen und Weinen der viel[en] zu dämpfen: auch das ist natürlich ein großes Verdienst, Gottseidank! Doch zur Wurzel dieses neuesten menschlichen Leidens – (wenn es denn nur ein Leiden ist) – konnte Ihr Aufsatz natürlich nicht vordringen und er sollte es auch nicht: das ist nicht seine Absicht, seine Absicht aber erreicht er zweifellos glänzend. Das werden Sie natürlich auch selbst zugestehen. Ich schicke ihn hiermit zurück und danke Ihnen von ganzem Herzen: er hat mir zwei Stunden großer Befriedigung beschert, die mit tiefem Kummer vermischt war, der Ihnen verständlich ist, jenem Kummer, mit dem Sie Ihren Brief an mich mit Puškins Worten schlossen. Ohne den Glauben an die Zukunft der Menschheit könnte man sich von diesem Kummer erdrücken lassen! Ich sagte gerade: „wenn es denn nur ein Leiden ist“, und setze meinen Gedanken wie folgt fort: „und nicht das Bestreben der Menschheit nach Erneuerung“. Ich glaube daran, glaube, dass die zivilisierte Welt unter der drückenden Last der elenden, krankhaften, wahnhaften Phantastereien oder der dreisten und verbrecherischen Versuche, die harmonische Entwicklung und den Lauf der menschlichen Existenz zu stören oder zu zerstören usw., nicht untergehen wird. Dieser Brand kann das eine wie das andere für eine gewisse Zeit in Asche legen, doch aus der Asche werden neue Phönixe aufsteigen usw. Es steht außer Frage: wir sind in eine wohl nie dagewesene Zeit weltweiter chemischer Reaktionen geraten und quälen uns darin. Wir werden uns vermutlich bis ans Ende unserer Tage quälen müssen (nicht nur meiner, auch Ihrer Tage), doch wir werden die Hoffnung nicht aufgeben!63 Die Epochen des Übergangs vom Heidentum zum Christentum, aus der Finsternis der Barbarei zur Wiedergeburt64 (als doch alles erloschen und erstorben zu sein schien) sind unserer heutigen Zeit in gewisser Weise vergleichbar. Es endete damit, dass das Christentum über das Heidentum obsiegte und die ganze Welt erleuchtete (und es wird die Welt weiterhin erleuchten, auch wenn es den Positivisten nicht gefällt). Die Renaissance65 hat das erloschene Feuer der Zivilisation erneut entzündet usw. Die Welt strebt in allem nach Erneuerung, angefangen bei der Religion bis zur Polizei. Was die letztere betrifft, so ist bei uns schon einiges in Gang gesetzt worden. Um weiter und höher hinaus zu kommen, hilft es aber weder, die III. Abteilung66 zu schließen, noch in der Rechtsprechung in politischen Prozessen usw. eine bessere Ordnung einzuführen. Dies kann zwar Krisen verhindern (was augenblicklich erreicht werden muss), doch es ist menschliche (und vor allem göttliche) Weisheit und Stärke vonnöten, um bis zu den Wurzeln vorzudringen, sie zu beleben und eine Rückkehr zum früheren Zustand zu verhindern.

Briefe an Anatolij Fedorovič Koni

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Mit Dank erstatte ich Ihnen auch das Buch von Tardieu67 zurück. Es gehört wohl nur in die Hand des Mediziners oder Untersuchungsrichters. Wie grauenvoll! Nicht „Nana“,68 sondern ein solches Buch kann selbst dem lasterhaftesten Menschen Abscheu vor dem Laster einflößen! Sollten Sie die Absicht hegen, irgendwohin zum Essen auszugehen, und sollten Sie nicht eingeladen sein, so kommen Sie doch um halb sechs bei mir vorbei: ich kann auch im Sommergarten essen. Es geht mir heute Gotteseidank besser, ich muss aber immer noch vorsichtig sein. Ganz Ihr Gončarov Entschuldigen Sie diesen langen – und, wie ich nach nochmaligem Lesen finde – dummen Brief: vermutlich ist es meine Krankheit, die sich Luft verschafft. 16 [St. Petersburg], den 20. August 1880 Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, vielmals geehrter69 Anatolij Fedorovič, dass Sie mir die beiden Briefe des Regier[ungs]dep[artements] des Rat[es] der Patr[iotischen] Gesellsch[aft] für Fr[auenbildung] zur Verfügung gestellt haben.70 Ich werde sie vorerst zur Kenntnis nehmen, bis zu dem Zeitpunkt, da ich an Lenočka denken muss,71 aber es wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis sie an der Reihe ist. Jetzt muss ich zunächst Sanja unterbringen: ob mir das gelingen wird, weiß ich nicht. Auch steht noch die kapitale Frage nach einem Winkel oder einem Dach über dem Kopf auf der Tagesordnung, wo es zumindest ein wenig Licht und Luft gibt, damit mir nicht der Tod droht, sei es durch den chronischen Katarrh oder die Stukkatur! Ich habe den Eindruck, dass sich alles gegen mich verschworen hat, sogar die Erde weigert sich – sowohl mich zu tragen, als auch in ihren Schoß aufzunehmen! Weshalb, weshalb nur haben Sie auf weitere drei kostbare Produkte der tropischen Tabakflora verzichtet! Sie sollten gerade jetzt genießen, ich aber muss der Schwelgerei allmählich entsagen! Dennoch – sollten Sie heute irgendwo á la Dubbeln essen gehen wollen, so werde ich für alle Fälle von halb sechs bis halb sieben auf der Hauptallee des Sommergartens auf und ab spazieren – von der Kapelle bis zum Ingenieursschloss72 und zurück: sollte ich Sie nicht entdecken, so werde ich allein essen gehen, entweder im Sommergarten oder bei Croissante.73 Sie werden sicher etwas auf die Schnelle essen wollen. Ich danke Ihnen tausendmal – auf Wiedersehen. Ihr Gončarov

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Die Briefe gebe ich Ihnen bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zurück. Wissen Sie, wer heute aus Dubbeln hier war: Sie kommen nie darauf ! Jene lettische Venus, auf deren umfangreiche Reize es der Ihnen bekannte Musiker abgesehen hatte: erinnern Sie sich? Sie hatte versprochen, Al[eksandra] Iv[anovna] zur Hand zu gehen, und war zu uns gekommen, nachdem sie von ihrer früheren Herrin geschlagen und ohne Lohn davongejagt worden war. Sie ist außerordentlich arbeitsam, ein über die Maßen schwitzendes Dienstmädchen. Das wird sich in meiner kleinen Wohnung sicher bemerkbar machen. Wollen wir nicht, natürlich nur, wenn das Wetter mitspielt, nach Pavlovsk fahren, und dort bei den Tataren zu Mittag essen, wir könnten auch einen Abstecher nach Carskoe Selo machen und kurz bei Sanja vorbeischauen?74 Aber das Barometer fällt etwas. 17 [St. Petersburg. Zwischen dem 20. und 25. August 1880] Das ist wirklich rührend! Hurra, eine Dubbelner Armida!75 Wir wollen uns beide etwas ausdenken, teurer Anatolij Fedorovič, um der lieben Vera Petrovna76 angemessen zu danken. Ich könnte ihrem Sohn eine „Pallada“77 schicken oder etwas in dieser Art. Lassen Sie es uns besprechen, wenn wir uns sehen, am Freitag, wie ich hoffe. Ihr Gončarov 18 [St. Petersburg], Freitag, [den 25. August 1880] 15 Minuten vor fünf Uhr werde ich aus dem Haus gehen, und hoffe, genau um fünf in der großen Sommergartenallee zu sein, wo ich auf und ab laufen und Sie, teurer Anatolij Fedorovič, erwarten werde. Ich sehne mich schon lange nach Ihnen, und Ihr Vorhaben reizt mich mehr denn je. In Erwartung der fünften Stunde umarme ich Sie für die gute Idee, die Ihnen in den Sinn gekommen ist. Ihr Gončarov

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19 [St. Petersburg], Sonnabend, den 4. Oktober [1880] Gestern habe ich am Polic[ejskij] most78 Mich[ail] Matv[eevič]79 getroffen und ihm von Ihrer löblichen Absicht erzählt, teurer Anatolij Fedorovič, am Montag zum Mittagessen zu kommen. Er freut sich sehr (und ich natürlich auch) und will ebenfalls kommen. Die traurige Angelegenheit80 Ihres Bruders ist wohl Gottseidank glimpflich abgelaufen, ohne jenen großen Lärm, den Sie befürchtet hatten, zumindest haben die Zeitungen, die ich lese, nichts darüber erwähnt, sollte aber dennoch etwas erwähnt werden, so hoffe ich, dass es ohne Schadenfreude abgeht, und dass die Angelegenheit schnell in Vergessenheit gerät. Sie persönlich geht diese ganze Geschichte ja kaum etwas an – wie jeden anderen Außenstehenden! Courage donc, schwimmen Sie kühn weiter im Strom des Lebens, ohne zurückzuschauen, und leben Sie Ihren eigenen Idealen, Interessen, Gefühlen und Angelegenheiten, dann werden Sie, so Gott will, den Hafen der Glückseligkeit erreichen. Amen. Auf Wiedersehen Ihr Gončarov 20 [St. Petersburg], Dienstag, den 9. Dezember [1880] Heute, am Dienstag, den 9. Dezember, haben zugesagt, zu mir zu kommen: Nadežda Dmitr[ievna] Chvoščinskaja-Zajončkovskaja, auch bekannt als Krestovskij-Pseudonym,81 und die beiden Fräulein Ekater[ina] und Sof ’ja Aleks[androvna] Nikitenko.82 Halten doch auch Sie, teurer Anatolij Fedorovič, Ihr Versprechen und schmücken Sie meinen dunklen und öden Winkel mit Ihrer Anwesenheit. Ich nehme an, dass es auch für Sie nicht uninteressant sein wird, diese kleine Gruppe kluger und hübscher Frauen zu treffen. Ab neun Uhr erwarte ich Sie, wie immer, mit besonderem Vergnügen. Ihr Gončarov

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21 [St. Petersburg], Sonnabend [nach dem 9. Dezember 1880] Sollten Sie, teurer Anatolij Fedorovič, am heutigen Sonnabendabend in der zehnten Stunde, oder um zehn Uhr, zu Hause sein und sich in Ihrem Hause nach oben zur Wohnung Nummer 42 begeben, so würden Sie dort mich vorfinden und die Damen des Hauses, Madame und die Mademoiselles Nikitenko,83 des weiteren Krestovskij-Pseudonym, d. h. die Chvoščinskaja, der ich schon viel von Ihnen erzählt habe – und alle wären sehr zufrieden, und ich erst recht. Mit dieser Großtat könnten Sie jenes Fehlen Ihrer Person bei mir unlängst unter ähnlichen Umständen wettmachen. Ihr Gončarov 22 [St. Petersburg], Dienstag, den 30. Dez[ember 18]80 Ich sende Ihnen zwei Fregatten Pallas – für ihre lieben Schwestern, teurer Anatolij Fedorovič.84 Ich wollte sie zusammen mit anderen Kleinigkeiten meinen kleinen, jungen Freundinnen am 24. Dez[ember] unter den Weihnachtsbaum legen, doch ich habe mich nicht entschließen können, Ol‘ga und Ljudm[ila] Fed[orovny] unter Sanjas winziges Bäumchen zu bitten, wo sie keine passenden Freundinnen vorgefunden hätten, ich nahm auch an, sie seien an diesem Abend woanders eingeladen, wo sie sich besser vergnügen können. Ich wollte die Bücher am ersten oder zweiten Feiertag schicken, dann aber haben Sie mich alle drei besucht: so habe ich das Geschenk für den Neujahrstag aufgehoben. Übergeben Sie ihnen meine Pallas am 1. Januar mit meinen Wünschen für ein glückliches Neues Jahr, mögen sie den alten Mann nicht vergessen. Sie könnten die Bücher auch bis zum 2. Januar unter Verschluss halten, damit ich sie persönlich übergeben kann, doch dann ist es schon kein Neujahrsgeschenk mehr – und das widerspricht dem üblichen Brauch. Entscheiden Sie, wie Sie es für richtig halten. Schreiben Sie mir doch auch bitte noch kurz, um welche Zeit ich meine Füchsin-Amtsschreiberin85 am Freitagabend zu Ihnen bringen soll? Ich habe vergessen, Sie danach zu fragen. Ihr Gončarov

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23 [St. Petersburg], den 1. Januar 1881 Ich dachte, Sie hätten meine Fregatte längst, teurer Anatolij Fedorovič, sonst wäre selbige doch schon von mir in Ihren Hafen gelenkt worden und dort vor Anker gegangen. Hiermit erfülle ich Ihren Wunsch und ändere die Widmung an Ol‘ga Fed[orovna] in Anatolij Fed[orovič], und in das andere Exemplar schreibe ich für Ol‘ga statt für Ljudmila – ist es so richtig? Oder sollte ich nicht besser schreiben für Ol‘ga und Ljudmila? Ergänzen Sie oben bitte, wenn ich etwas irrtümlich gestrichen habe.86 Die Kaznačeicha87 sendet Ihnen einen Kuss für das liebe Geschenk: sie ist gerade bis zur Nase darin versunken. Aber warum: sie hat doch genug Krimskrams. Schade, dass das Schattenspiel für die Kinder ausfallen musste. Alles, alles Gute zum Neuen Jahr! Ach, würde der Herr doch nur ein wenig der alten Mühsal von Ihnen und uns allen nehmen und uns stattdessen erneut … seine Gnade erweisen! Sanja geht heute zu den N[ikitenkos] und übernachtet dort, bis Sonnabend wird sie allerdings wohl kaum bleiben, falls aber doch, so schauen wir beide bei Ihnen vorbei. Ihr Gončarov 24

Dubbeln, den 7. Juni 1881

„Wo sind Sie, o, wo sind Sie nur, Anatolij Fedorovič! Wem zuliebe haben Sie mich im Stich gelassen!“88 rufe ich aus, wenn ich über den rieselnden Sand des Ihnen bekannten Strandes wandere. „Wo ist er, wo ist er nur?“ bestürmen mich alle – Vera Petrovna und die guten deutschen Wirtsleute, Fol’vort und Šepfer [Vollwort und Schepfer?] und unser tauber Freund und einfach alle! Und die Krebse, was sollen die denken? Gestern, an meinem zweiten Tag hier, erschienen sie schon in ihren roten Uniformen, um mir zum Geburtstag89 und zur Ankunft zu gratulieren! In ihren hervorquellenden Augen stand nur eine Frage, ein Vorwurf: „Wo ist er!“ Es grünt in Dubbeln, der Flieder ist schon verblüht, vom Meer weht ein ziemlich kalter Wind und die Badesaison ist noch nicht eröffnet. Ein erstklassiges Orchester aus Berlin aber lärmt schon und trägt Motive von Suppé, Meyerbeer, Strauss u. a. weit über den Strand. Das Publikum besteht allerdings vorerst aus acht Personen, von denen fünf meine Petersb[urger] Bekannten sind.

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Das Grün, die Luft, das Meer – alles ist unvergleichlich, nur das Essen ist abscheulich, was heute auch einer der Direktoren des Actienhauses zugab und erklärte, mit dem Strom der Gäste werden auch frische Fische herbeiströmen, Vögel herbeigeflogen kommen und die Früchte des Feldes heranreifen, dann wird die Table d’hôte lukullisch sein! Ändern Sie doch Ihre Reiseroute und Ihre Absichten und kommen Sie her! Bedenken Sie nur – außer sämtlichen Ihnen bekannten Dubbelner Reizen wie der Luft, den Spaziergängen, dem Moselwein, den Krebsen etc., gibt es eine weitere Annehmlichkeit: weder das Ehepaar Bob[orykin] ist hier, noch der bösartige Grünschnabel Sk[opin]! Weder die Französinnen noch Star[?].90 Einzig ein überaus langweiliger Inspektor aus Petersb[urg] und ähnl[iche] Leute, doch sie sind sehr schweigsam, Unannehmlichkeiten sind von ihnen nicht zu erwarten! Ich bin, nachdem ich eine Zeitlang auf Wohnungssuche war, auf die Behausung vom letzten Jahr gestoßen, und habe sie wieder gemietet. A[leksandra] I[vanovna] hat am Balkon schon die Vorhänge aufgehängt, die Wirtin hat uns zwei, drei Blumentöpfe hingestellt, das große Gepäck ist ausgepackt, die Wäsche liegt teils noch im Koffer, teils in der Kommode, da es hier keine Schränke gibt. Ich sitze auf harten Strohstühlen91 – kurz, ich führe ein primitives, patriarchalisches Leben, obwohl ich noch nicht begonnen habe, mich von der Milch der hiesigen Herden zu ernähren. Lediglich Al[eksandra] Iv[anovna] und die Kinder haben bisher die Milch der Ziege probiert, die ihren Überfluss den Dürstenden für einen Fünfer mit prallem Euter spendet, nachdem sie ihre Jungen verloren hat.92 Ihre Nachricht mit der Frage nach meiner hiesigen Adresse erreichte mich am Abend vor der Abreise, als ich sie las, dachte ich, Sie seien selbst in die Sommerfrische gefahren. Gott gebe Ihnen Gesundheit. Und kommen Sie her, wenn möglich! Ihr Gončarov Meine hiesige Adresse: Herren-Straße, Haus Possel‘. 25

Dubbeln, den 5. Juli [18]81

Gerade eben habe ich Ihren Brief bekommen, teurer Anatolij Fedorovič, und beschlossen, mit der Antwort nicht bis zu Ihrer Kissingenreise zu warten, da Sie zuvor ja noch nach Finnland93 fahren wollen und Sie mein Brief folgl[ich] noch in Petersburg erreichen und Ihnen vielleicht noch einige Zeilen entlocken könnte. Auf diese Zeilen werde ich dann bereits nach Kissingen antworten oder dorthin, wo Sie sich gerade aufhalten, was Sie mich sicher wissen lassen werden.

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Der Doktor hat vielleicht recht, wenn er Ihnen Kissingen94 verordnet; mir aber tut es leid für Sie, dass Sie sich nicht an Marienbad gehalten haben, dessen Brunnen ich an die zehn Mal erprobt habe,95 und der für Hämorrhoidalbeschwerden und überhaupt für die Wiederherstellung der richtigen Blutzirkulation wirkungsvoller ist als der von Kissingen, von dem ich auch zwei Mal Gebrauch gemacht habe, doch mit merklich geringerem Erfolg als bei ersterem. Ihr Leiden resultiert, wie auch meine Leiden, soweit ich es durch Selbstbeobachtung und anhand Ihrer Klagen feststellen konnte, vor allem aus der sitzenden Lebensweise, unserer Petersbur[ger] Trägheit,96 der geringen Bewegung, dem Mangel an natürlicher Luft (stattdessen haben wir die durch Holz erwärmte Zimmerluft) und besonders aus dem willkürlichen oder unwillkürlichen langen nächtlichen Wachbleiben, sei es aus Gründen der Arbeit, des Kartenspiels oder einfach so, auch wegen des späten Schlafengehens und ebenso späten Erwachens. Des Weiteren dann die anderen Gründe, wie eine vergrößerte Leber, gereizte Nerven und dergleichen Erscheinungen: Sorgen, Kränkungen usw., denen man nie und nirgends entkommt! Was die Nerven betrifft, so will ich übrigens anmerken, dass die Kissingener, Marienbader, Karlsbader und ähnl[iche] Brunnen sie nicht nur nicht stärken, sondern im Gegenteil, schwächen. Was sie stärkt, ist nicht der Brunnen, sondern zum Beispiel eine Luft, wie wir sie hier haben, das Baden, die Ruhe und die Abwesenheit – zumindest für eine gewisse Zeit – jeglicher, selbst angenehmer, starker Erregungen, Eindrücke und ähnlicher Zustände. Im vergangenen Jahr haben Sie sich hier gegen Ende der Saison merklich erholt, obwohl sie zu Beginn geklagt hatten. Und als Sie nach Petersburg zurückkamen, waren Sie wie ausgewechselt. Möge dies so bleiben, und mögen Sie Ihr häusliches Drama97 nach Möglichkeit standhaft ertragen und vor allem nicht bis tief in die Nacht aufbleiben, weder um zu arbeiten, noch um mit Freunden zu plaudern usw. Auch in den Heilbädern sollten Sie sich nicht herumtreiben, sondern einfach herkommen, wo alle, die Sie kennen, an Sie denken, Sie lieben und (einige, insbesondere einige Personen weiblichen Geschlechts) sich über Ihre Abwesenheit bitter grämen, darunter auch ich, sogar mehr als sämtliche der von Ihnen verlassenen Penelopes, Sie listenreicher Ulysses!98 Alle haben mich mit Fragen bestürmt, wo Sie sind, wie es Ihnen geht, was los ist und warum, und mich dabei beinahe drohend angesehen, als sei ich für Ihre Abwesenheit verantwortlich! Eine von ihnen, nämlich Vera Petr[ovna], nach der Sie gefragt haben, stickt sogar, um es der echten Penelope99 gleichzutun, eine endlose Decke, oder ist es ein Vorhang, ich kann es nicht sagen: ich weiß nur nicht, ob sie die Stickerei auch wieder auftrennt, wie jene es tat, um die verschiedenen Bewerber abzuwehren. Sie wohnt unweit von hier – in einer der Straßen, die parallel zum Meer verlaufen, in vier kleinen Zimmern, und klagt über die Enge und die Langeweile. Ich kann leider weder sie noch sonst jemanden davor bewahren, nicht einmal vor der Langeweile, und erst recht nicht Ihre Gesellschaft ersetzen. Ich habe sie dreimal

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für kurze Zeit besucht; sie war so liebenswürdig vorzuschlagen, mit Sanja täglich Klavier zu üben. Zuerst wollte ich auch darauf eingehen, da das listige Mädchen, die „Füchsin-Amtsschreiberin“, diese Stunden aber als Vorwand nutzen würde, um sämtlichen anderen Übungsstunden mit mir aus dem Weg zu gehen (Franz[ösisch], Deut[sch], Russ[isch]), und dann, wenn sie nach dem Frühstück zur Stunde laufen würde, für den ganzen Tag verschwände, habe ich die Musikstunde gestrichen, umso mehr, als es auch ein zu großer Gefallen seitens Vera Petr[ovnas] wäre, den anzunehmen ich nicht das geringste Recht besitze und für den ich mich auch nicht angemessen erkenntlich zeigen könnte. Seit fünf Tagen habe ich sie nicht mehr gesehen, sie kommt selten ins Actienhaus, aber wenn ich sie das nächste Mal sehe, richte ich ihr Ihre Grüße aus. Ihre Adresse kann ich Ihnen nicht sagen, denn ich kenne weder den Namen der Straße noch des Hauswirts.100 Ich kann augenblicklich auch niemanden schicken, um das herauszufinden, denn draußen donnert es und es gießt wie aus Eimern, wenn ich den Brief aber liegenlasse, geht er nicht mehr mit der Post ab. Ich werde ihr aber sagen, wohin sie Ihnen schreiben soll, sie wird das dann gewiss tun. Auch die Fürstin aus Majorenhof101 hat mich nach Ihnen gefragt, und noch die eine oder andere Dame. Desgleichen die Inhaber des Actienhauses, die liebenswürdigen Deutschen, die sich übrigens gerade in der Frage der Badestunden und der Einführung des Badens in Badeanzügen in den Haaren liegen, damit der Strand für alle zugänglich wird. Es gibt unzählige Klagen – die einen sind zufrieden, andere fordern Veränderungen, Ergänzungen, kurz, das reinste Durcheinander. Auch ich bin da hineingeraten, habe gemurrt, dass man uns, den Männern, die Badezeit am Vormittag und auch später um je eine halbe Stunde beschnitten hat. Die Verantwortlichen sehen mich ein wenig schief an, besonders, nachdem eine der Damen meinen Protest, der im Übrigen zurückhaltend war, dem Gouverneur überbracht hatte. Mit letzterem bin ich bekannt geworden: es ist ein sehr angenehmer, gebildeter und kluger Gentleman.102 Unser tauber Freund meidet die Öffentlichkeit, doch mich hat er besucht, er ist jetzt in Kemmern103 untergeschlüpft, wo er sich weniger einsam fühlt als hier.104 Auch Banza mit seiner ganzen Sippe ist jetzt hier, sie wollten mich schon umzingeln, doch da ich ihr Mamachen nur grüße, aber nicht näherkomme, gehen sie mir ebenfalls aus dem Weg. Auch jene Französin ist da, die Ihr Zimmer verwüsten wollte: ich kannte sie nicht von Angesicht, doch Vera Petrovna hat sie mir gezeigt. Auch die Gotskaja samt Tochter ist gekommen und Matilda Ljubovnas Mann105 mit den Schwestern, sie soll auch bald eintreffen, kurz, es sind fast alle da. In diesem Jahr gibt es hier besonders viele Juden106 und Pädagogen; mit letzteren habe ich Bekanntschaft geschlossen, wir plaudern bisweilen auf der Terrasse, unter anderem mit dem Professor der Medizinisch-chirurg[ischen] Akademie Sorokin, einem sehr klugen und angenehmen Herrn107. Anfangs war es ziemlich leer und die Mietpreise für die Wohnungen sanken stark, jetzt aber sind alle angereist, doch nicht so viele wie sonst.

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Ich leide wie üblich unter Langeweile und Ungeselligkeit, womit ich mir wohl die allgemeine Abneigung zuziehe: das ist immer und überall dasselbe. Ich streife allein umher, Sie, der Sie mir so vertraut und teuer sind und mich aus meiner Einsamkeit erretten könnten, sind ja nicht da, so gehe ich meiner Wege, grüße den einen oder anderen der Entgegenkommenden, mit manchem tausche ich „ein paar Worte“ und gehe weiter. Fünf Mal vielleicht bin ich mit Vera Petrovna am Strand spazieren gegangen, doch bald habe ich eingesehen, dass das weder ihr noch mir Freude bereitet, und es wieder sein gelassen. Kurz, es ist zum Verzweifeln. Erst unlängst habe ich mit dem Baden begonnen, denn es war bisher noch recht frisch, jetzt gehe ich jeden Tag mit dem alten Garstigen baden – ich habe ihn einstweilen für das gut bestandene Examen zum General befördert.108 Die Kinderchen sprechen oft voller Liebe von Ihnen, denn sie spüren, wer es gut mir ihnen meint. Ihre Mutter hält sich dieses Jahr Gottseidank gut, ich weiß aber nicht, wie es weitergehen wird. Sie dankt Ihnen sehr, dass Sie an sie gedacht haben. Sie geht sehr oft mit der Gouvernante von Vera Petr[ovna] und mit allen Kinderchen am Strand spazieren. Für nur einen Tag sollten Sie nicht herkommen, das wird einen Sturm entfachen: man wird Sie nicht mehr fortlassen und Sie werden alle, auch mich, nur gegen sich aufbringen. Kommen Sie doch lieber ganz her, statt nach Kissingen zu fahren, das wäre für alle das Beste, für die Penelopes, für mich, und ich glaube, auch für Ihre Gesundheit. Sie brauchen völlige Erholung und keine Heilbrunnen, es ist noch zu früh für Sie, sich damit vollzupumpen: dafür ist später noch Zeit!109 Aus bestimmten Gründen sehe ich übrigens voraus, dass Sie, wie es sich für den listenreichen Ulysses gehört, nachdem Sie in Kissingen waren oder wohin man Ihnen sonst noch zu fahren rät, im August für eine Stippvisite den hiesigen Landstrich mit Ihrer Anwesenheit beehren werden, wenn ich leider nicht mehr hier bin. Sie haben mir das schon vor längerer Zeit angedeutet, als Sie sagten: „vielleicht im August“, und ich habe es mir gemerkt. Sie haben mich selbst hergelockt und dann im Stich gelassen – und ich muss Sie nun vor allen rechtfertigen – weshalb? Von irgendeiner Halskrankheit will hier niemand etwas wissen! Nun denn – gebe Gott Ihnen Glück und Frieden, wo auch immer! Und vergessen Sie nicht den Ihnen herzlich zugetanen und Sie liebenden I. Gončarov Schreiben Sie mir doch, sollten Sie es schaffen, noch kurz aus Petersb[urg], ob Sie dieser Brief dort erreicht hat! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!

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26 St. P[eters]burg, den 9. August 1881 Heute bekam ich Ihren Brief, allerliebster und teurer Anatolij Fedorovič, – und wie Sie sehen, eile ich, die angenehmen, doch überaus kurzen Zeilen zu beantworten. In Dubbeln habe ich keinen weiteren Brief von Ihnen erhalten, vermutlich kam er nach meiner Abreise, abgereist aber bin ich mit der „Füchsin-Amtsschreiberin“ am 31. Juli, um sie für den August nach Carskoe Selo zu den Nikit[enkos] zu bringen, was ich auch getan habe. Doch Ihr Brief wird nicht verlorengehen, A[leksandra] I[vanovna], die mit dem Alten und dem Fröschlein (auch Kugel genannt)110 noch für etwa zwei Wochen in Dubbeln geblieben ist, wird ihn mir nachsenden oder mitbringen. Genauso wie ich abgefahren bin, bin ich auch wieder zurückgekommen – mit meiner altersbedingten Gleichgültigkeit. Ob ich gesund bin oder nicht, kann ich gar nicht sagen, ich werde nicht schlau daraus: einerseits scheine ich gesund zu sein, denn mir tut nichts weh; andererseits habe ich keinen Appetit, kann nicht schlafen und werde schwermütig, kaum dass es trübe wird. Augenblicklich aber ist es hier ständig trübe. Sonnige, klare Tage sind die Ausnahme. Trotzdem bade ich weiterhin (bei 12 Grad), ich habe lediglich den Dubbelner Strand gegen das Gagarin-Ufer111 eingetauscht. Tun Sie dasselbe? Und wo? Welche Wellen legen sich Ihnen „liebkosend zu Füßen“?112 Ganz im Ernst – wie geht es Ihnen, was macht der nicht gezogene Zahn, und was ist mit den Folgen dieser Operation, und wie steht es um Ihren allgemeinen Gesundheitszustand: sind Sie wieder zu Kräften gekommen und hat sich Ihr Hals normalisiert? Von allen Seiten nimmt man Anteil. Im Actienhaus sind die Fragen nach Ihnen bis zu meiner Abreise jeden Tag buchstäblich wie Erbsen auf mich niedergeprasselt, von Frauen, Männern, insbesondere von Frauen, und von Jungfrauen ebenfalls. In den letzten Tagen prasselte der Erbsenregen mit doppelter, ja dreifacher Kraft auf mich ein – anlässlich des von der Presse (sogar im „Rižs[kij] vestn[ik]“)113 verbreiteten Gerüchts, Sie würden Ihre jetzige Stellung114 gegen eine Anwaltstätigkeit eintauschen wollen. Das hat viel Gerede ausgelöst, sowohl unter den Russen als auch den Deutschen. Ich wusste natürlich weder, was ich antworten, noch was ich denken sollte. Die Gerüchte waren derart hartnäckig, dass ich schon zu zweifeln und ihnen Glauben zu schenken begann – bis gestern, als ich in „Porjadok“115 ihr kategorisches Dementi las. Aber ich gestehe: ein wenig habe ich mich für Sie gefreut. Die Perspektive Ihrer gegenwärtigen Tätigkeit liegt ja nicht gerade ohne Hindernisse vor Ihnen ausgebreitet, auch genießen Sie nicht jene materiellen Vorteile und Vergünstigungen, die Ihnen gebühren und die auch Ihre offizielle Stellung und Ihre persönlichen Umstände verlangen.

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Eine Advokatur dagegen würde Sie nicht daran hindern, Ihrer Begabung zu folgen und Ihrer Bestimmung nachzugehen, sie würde Ihnen 1. größere Möglichkeiten im Leben eröffnen und Ihnen 2. wohl auch helfen, die Ihnen eigene selbstständige Sichtweise und Ihren Charakter bei dieser Art von Tätigkeit einzubringen und diesem Beruf die nötige Dosis Würde zu verleihen, und Ihnen seitens des Publikums Achtung bescheren. Kurz – Sie könnten diesem Teil unseres parquets116 zur Zierde gereichen und ihm zu größerem Ansehen verhelfen: und das ist umso leichter für Sie, als Sie sich Ihre Reputation schon erworben haben, von der Gabe des Wortes und dem Talent ganz zu schweigen. Dies ist meine Meinung, im Übrigen liegt es „in der Hand des Herrn“, wie Famusov117 sagt. Haben Sie meinen Brief aus Dubbeln noch in Petersburg bekommen? Da ich Ihrer kurzen Notiz entnahm, dass Sie vor Kissingen nach Finnland118 fahren wollten, um dann noch einmal nach Petersburg zurückzukehren, habe ich Ihnen nach Petersburg sofort einen langen Brief geschrieben und um eine Antwort gebeten. Doch diese kam nicht. In Dubbeln haben mich all jene, die meine Bekanntschaft machen wollten, in große Bedrängnis gebracht. Da ich mich ständig versteckt hielt und fortgelaufen bin, habe ich mir natürlich nicht wenige Feinde zugezogen. Ich bin des Lebens müde, allein das Sprechen bereitet mir schon Schwierigkeiten, ich habe auch keine Lust dazu, doch ständig wurde ich eingeladen: bald zu einem Spaziergang auf dem Land, bald zu Konzerten oder Bällen, oder zu einem Essen des „Bajan“119 (erinnern Sie sich noch an „Bajan“?) usw. Auch die Deutschen, die Inhaber des Actienhauses, begannen schon, mich schief anzusehen, teilweise, weil ich gegen die falsche Aufteilung der Badestunden protestiert hatte, teilweise aber auch wegen meiner kritischen Bemerkungen bezüglich des Essens. Einer von ihnen warf mir naiv vor, ich, ein Schriftsteller, verbrächte den dritten Sommer am Strande*, ohne in den Zeitungen eine einzige Zeile über den Liebreiz von Dubbeln geschrieben zu haben. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich sah nur, dass er völlig außerstande war zu begreifen, warum ich darüber nicht in den Zeitungen schreiben kann. Ich habe einige neue Bekanntschaften geschlossen, darunter auch mit dem Gouverneur,120 ein sehr eleganter und angenehmer Gentleman,121 Wir haben auf der Veranda Karten gespielt, sind spazieren gegangen, kurz, das übliche. Auch die unvermeidliche Familie Banza war da und Madame Gotskaja mit ihrer Tochter, auch die Fürstin U. mit der jungen Fürstin etc., etc., ebenso Matilda Ljubovna mit ihrem Mann, dem Jüdlein,122 meinem Bekannten.123 Er ist immer irgendwie unterwürfig und niedergeschlagen, der Ärmste, obwohl ihn der Pöbel nie geschlagen hat. Seine Frau aber hat sich aus einer zarten, anmutigen Jüdin in ein dickes Judenweib124 verwandelt: alles an ihr strebt in verschiedene Richtungen auseinander, sämtliche Körperteile sind in die Breite gegangen; von früher sind nur die rollenden Augen und die aufgeworfene Lippe übrig geblieben.

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Außerdem habe ich noch drei Jüdinnen125 aus Moskau kennengelernt: eine Mutter und ihre beiden Töchter, die sich alle drei zu erklären beeilten, dass sie an keinen Gott glaubten, weder an den Abrahams noch an den christlichen, nicht in die Synagoge gingen und manchmal eine russische Kirche besuchten, einfach so, zum Zeitvertreib; Jiddisch sprächen sie nicht, die Bibel sei ihnen fremd und religiöse Überzeugungen hätten sie keine. „Und wenn Sie heiraten wollen, zum Beispiel einen Russen, was dann?“ fragte ich. „Was soll sein: taufen geht doch schnell!“ antworteten sie. Sieh mal einer an! Vera Petrovna habe ich pour la bonne bouche aufgehoben. Ich schrieb Ihnen schon nach Petersb[urg], dass ich zuerst einverstanden war, Sanja zum Klavierspiel zu ihr zu schicken, es dann aber wieder rückgängig machen musste, weil Sanja ganze Tage bei ihnen geblieben und nur unwillig wieder nach Hause gekommen ist. Ihre Mutter hat dagegen aufbegehrt, so wurden die Stunden eingestellt. Vera Petr[ovnas] Tochter Ol’ga verhält sich schon ganz wie eine Erwachsene, sie eignet sich nicht als Gefährtin für Sanja, beide saßen nebeneinander und schwiegen, Sanja aber ist ein Kind und muss herumlaufen. Wir haben uns fast jeden Abend bei den Konzerten getroffen und oft von Ihnen gesprochen. Auch Baron Wolf, desgleichen unser tauber Freund, alle haben sich voller Anteilnahme nach Ihnen erkundigt, ich finde es sehr schade, dass Sie niemanden von ihnen mit einigen Zeilen erfreut haben. Darüber hätten sich alle unendlich gefreut. Einige sind jetzt schon abgereist, auch Vera Petrovna wollte um den 10. Aug[ust] herum abreisen. Wundern Sie sich nicht, dass ich Ihnen aus Petersb[urg] nur über Dubbeln schreibe: ich bin schon seit einer Woche zurück, habe aber noch keine Menschenseele gesehen. Die Stadt ist leer, man trifft höchstens einen Arbeiter, und im Sommergarten, wohin ich gehe, um mir die Beine zu vertreten, sieht man einen Haufen undefinierbarer Personen beiderlei Geschlechts, kein einziges bekanntes Gesicht darunter. Nachdem ich Sanja nach Carskoe gebracht hatte, habe ich mich nirgends mehr blicken lassen, umso mehr, als das Wetter unmöglich ist. Ozeane von Regen stehen über unseren Köpfen: es ist schwül, feucht und drückend, selbst am Tage überkommt einen bleierner Schlaf. Auf meinem Hof wurde ein fünfstöckiges Gebäude errichtet, ein Art Riesengefängnis, es hat allen das Licht und die Luft genommen. In jenem Raum auf der anderen Seite der Diele, in dem sich A[leksandra] I[vanovna] mit den Kindern eingerichtet hatte, herrscht jetzt undurchdringliche Finsternis, so dass man ohne Kerze nicht einmal die eigene Nase sehen kann. Ich habe ein Zimmer dazu gemietet, neben meinem Arbeitszimmer, und möchte einen Türdurchbruch machen lassen. Dort will ich diese Familie dann unterbringen, um die ich mich notgedrungen kümmern muss. Ich weiß allerdings nicht, ob meine Geduld und meine Mittel dafür ausreichen werden.

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Leben Sie wohl, mein guter und lieber Anatolij Fedorovič: ich hoffe, bis zum September noch Nachricht von Ihnen zu bekommen und im September dann Sie selbst. Immer Ihr Gončarov 27 [St. Petersburg], den 2. September [18]81 Ihren Brief aus Koblenz habe ich erhalten, teurer Anatolij Fedorovič, ebenso wie den vorigen, der mich in Dubbeln nicht mehr erreichte, und ich freue mich, dass ich mit Ihnen noch ein Wort wechseln kann, auch wenn Sie schon auf dem Heimweg sind und ankündigen, bald hier zu sein. Es ist allerdings ungewiss, ob der Brief rechtzeitig bei Ihnen eintreffen wird: doch ihn zu erhalten, das ist bereits Ihre Sache, ich tue das meine, d. h. ich schreibe. Aus Ihren Klagen über die Krankheit ersehe ich, dass es besser gewesen wäre, Sie hätten sich nicht mit ausländischem Heilbrunnen versehen, sondern sich irgendwo in der Nähe, zu Hause, erfrischt, und wenn es wieder in Dubbeln gewesen wäre, um so mehr, als Sie nichts daran gehindert hätte, auch dort den Brunnen zu trinken. Bei unserem tauben Freund ist er ebenso gut wie der Wein – erinnern Sie sich noch an den Moselwein? Und erst der Strand, und die Krebse, und die Damen – Ihre Verehrerinnen, und schließlich wir! Wir, das heißt ich und … der unvergleichliche Petr Dmitrič, und die noch unvergleichlichere Sof ’ja Aleks[androvna]!126 Allerdings bin ich überzeugt, dass Sie diese Damen, gesellte man ihnen noch Vera Petrov[na] und die beiden Fräuleins bei, daran gehindert hätten, die Arbeit zu erledigen, die Ihnen der Rat der Einrichtungen Elena Pavlovnas127 übertragen hat, ebenso wie daran, etwas für die Zeitungen zu schreiben. Jetzt sind wir alle hier, d. h. die meisten, und wir dämmern apathisch vor uns hin – sei es wegen der sommerlichen Flaute oder aus klimatischen Gründen. Die Lider öffnen wir höchstens einen Spaltbreit, wenn etwas vor unseren Augen vorbeihuscht. Die Zeitungen reagieren mit schläfrigem Gekläff aufeinander, wie träge, gemästete Hunde, und freuen sich ungemein, wenn sie ein fait-divers erhaschen, wie zum Beispiel, dass einem Mann eine Schlange in den Mund geschlüpft sei oder ein Soldat bei einer Schlägerei einem anderen Soldaten ein Ohr abgebissen habe. Nicht einmal, dass irgendwo Drillinge geboren worden seien128 hört man, oder dass jemandes Ehefrau mit einem anderen Mann durchgebrannt wäre. Alles ist still und friedlich. Wichtige Ereignisse, wie beispielsweise, dass Abdur Rahman den Ayub Khan129 geschlagen hat oder umgekehrt, oder dass Gambetta eine weitere Rede gehalten130

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und Haymerle131 sich über Rumänien erregt habe, kümmern uns wenig. Was ist nur aus uns geworden? Das verstehe ich nicht. Kürzlich habe ich bei einem Mittagessen auf den Inseln, beim Baron Gincburg,132 Michail Matveevič133 gesehen, der doch immer so munter, rastlos, lebhaft, unermüdlich und lebendig war, jetzt aber ist er nachdenklich und wortkarg und ganz grau geworden. Er war eben erst aufgestanden: und das am Tag, kurz vor dem Mittagessen!134 Meine gute Freundin Ljub[ov‘] Isaak[ovna]135 wollte unbedingt, dass ich am vergangenen Mittwoch bei ihnen auf dem Land zu Mittag esse: doch die Abende sind dunkel und feucht, deshalb habe ich gebeten, es bis zu ihrer Rückkehr in die Stadt aufzuschieben. Lassen Sie uns zusammen zu ihnen fahren, wenn Sie wieder da sind. Am 1. August bin ich zurückgekommen, seitdem sitze ich in meinem Nest, das ich notgedrungen vergrößern musste. Ich habe ein leerstehendes Zimmer neben meinem Arbeitszimmer angemietet, hinter der Wand. Wegen des fünfstöckigen Turms, der auf dem Hof errichtet worden ist, hat sich die Dienerkammer in meiner Wohnung in eine feuchte, finstere, übelriechende Höhle verwandelt, in der rund um die Uhr das Licht brennen muss. Diese Finsternis und Feuchtigkeit würde kein Grenadier aushalten, von einer kranken Frau und ihren Kindern ganz zu schweigen. A propos Kinder: Sie sind jetzt wieder an Ort und Stelle untergebracht – Sanja im Gymnasium und der Alte General in seiner Schule. Er hat ein Belobigungsschreiben erhalten, wofür ich ihm einen ganzen Rubel ausgezahlt habe. „Ich trage ein Kreuz!“ Sie haben es getroffen: und ich weiß nicht, ob ich es irgendwann loswerde, gegenwärtig ist mir unerträglich schwer zumute und in der Zukunft sehe ich nichts außer „Ch.“136 Derartige Situationen lösen sich wie der Gordische Knoten, kraft der Ereignisse, eine bewusste, durchdachte Lösung gibt es nicht, da findet sich kein passender Schlüssel! Eine kranke Frau, die noch dazu nicht einfach irgendeine Krankheit hat, die man benennen könnte, sondern eine sog[enannte] „Neurose“ (nevrosisme), wie könnte man eine solche Kranke loswerden wollen und wohin, das ist ausgeschlossen, sie aber irgendwo anders unterzubringen und mich selbst neuen Leuten auszuliefern, dazu reichen meine Mittel nicht; doch mich um die fremden Kinder zu kümmern, dazu habe ich keine Kraft, und ich wüßte auch nicht, wie – das ist die fatale Schlinge, die mir die Luft abschnürt! Und was noch schlimmer ist – würde eine barmherzige Fee mich erlösen, mich von all dem befreien, so würde ich trübselig werden und nicht wissen, wie und wofür ich meine Zeit und meine Kräfte aufwenden sollte: eine aussichtslose Lage! Sie wollen mir mit den Boborykins Angst machen, doch ich denke, ihr Überwintern in Petersburg droht eher Ihnen als mir. Von mir sind ja, wie von einem Ziegenbock, weder Wolle noch Milch zu erwarten, sie werden wohl kaum bei mir vorbeischauen: anders steht es mit Ihnen, Sie sind ein Vulkan, ich aber ein erloschenes Vulkänchen.

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In den Zeitungen habe ich gelesen, dass jemand aus dem hiesigen Bezirksgericht, wohl gar der stellvertretende Staatsanwalt, seinerseits vorgeladen wurde – weil sein Hund jemanden gebissen hat; da kann ich nur ein Zitat aus Ihrem Brief wiederholen: à bon entendeur salut! Auch Sie haben doch einen Hund, und was für einen! Ich wünsche Ihnen, dass das Wiedersehen mit Ihrer Frau Mutter137 ruhig ablaufen und sich überhaupt Ihre Familienangelegenheiten klären mögen und Sie gesund und fröhlich zurückkehren, in der tatkräftigen Hoffnung auf einen weiteren glücklichen Lebensweg. Ihr Sie voller Ungeduld erwartender Gončarov 28 [St. Petersburg], Sonntag, September 1881 Ich hatte gestern Abend den Plan, zusammen mit Sanja bei Ihnen vorbeizukommen, teurer Anatolij Fedorovič, dachte jedoch, ich würde Sie, im Falle, dass ich Sie nicht angetroffen hätte, mit meinem Besuch gleichsam auffordern, schnellstens Ihr Versprechen wahrzumachen, mich abends einmal zu besuchen. Da ich Ihnen aber keinen Zwang auferlegen wollte, beschloss ich, doch lieber abzuwarten, bis Sie selbst zu mir kommen, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Ich will lediglich sagen, dass ich vor Ungeduld brenne, Sie zu umarmen und mich sattzureden. Am Mittwoch erwarte ich Sie um halb sechs, nicht um sechs Uhr. Da wir zu Fuß gehen werden (das mache ich immer so), müssen wir wenigstens eine Stunde Fußweg einplanen – ich habe es schon ausprobiert.138 Diesen Besuch habe ich Sirena Isaakovna139 schon versprochen und nur deshalb aufgeschoben, weil ich auf Sie gewartet habe. Dann also bis zum Mittwoch, wenn es früher nicht möglich ist. Immer Ihr Gončarov Gestern habe ich Sanja zu den Nikitenkos gebracht, wo sie auch übernachtete, heute fährt sie wieder zur Schule. Die Kinderchen, besonders Sanja, sprechen oft von Ihnen.

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29 [St. Petersburg], den 7. November [1881] Ich sende Ihnen, lieber und teurer Anatolij Fedorovič, das dumme, überaus dumme Buch, das Sie bei mir auf dem Tisch entdeckt haben. Befreien Sie mich davon! Ganz werden Sie es nicht lesen wollen, wenn Sie es aber überflogen haben, lassen Sie es bitte in die bewusste Ecke mit der englischen Bezeichnung schaffen. A propos – ich würde sehr gern, ja müsste Sie in einer kleinen Angelegenheit sehen und um Ihren Rat bitten und vielleicht auch um eine kleine Unterstützung. Es geht um Sof ’ja Aleks[androvna] Nikitenko: sie hat mich gefragt, ob Sie nicht für einen Augenblick bei Ihnen vorbeikommen könnte,140 um etwas mit Ihnen zu besprechen, doch ich habe gesagt, es sei besser, den Besuch anzukündigen, was ich hiermit tue. Sie wird Ihnen dieses Schreiben und die beigefügten Bücher bringen. Verzeihen Sie, lieber Freund – und auf ein angenehmes Wiedersehen. Ihr Gončarov 30 [St. Petersburg, den 11. November 1881] Mein guter, armer Anatolij Fedorovič! Ich hatte befürchtet, dass etwas Unangenehmes, Schlimmes bei Ihnen im Gange ist, wie es uns im Leben oft zustößt, auch mir droht das Schicksal von allen Seiten mit gefletschten Zähnen, was bleibt uns übrig! Meine Angelegenheit, oder besser gesagt, Sof ’ja Alek[sandrovnas] kleine Bitte, ist nicht so eilig, und es ist auch nicht wichtig, sie wird Ihnen keine Mühe bereiten. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, so schicken Sie doch jemanden vorbei, damit sie weiß, wann sie zu Ihnen kommen kann, wenn Sie aber nett sein wollen, so gehen Sie im Vorbeigehen kurz zu ihr, dann wird sie Ihnen selbst erzählen, worum es geht. Ich erwarte sie jeden Augenblick, sie wollte mit ihrer Schwester141 zu mir kommen. Immer Ihr Gončarov P. S. Ich weiß nicht, was bei den Stasjul[evičs] vor sich geht, ich habe sie lange nicht gesehen.

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Mir macht mein Auge zu schaffen.142 Aleksandra Aleks. hat nach Ihnen gefragt, als sie bei mir war. Reichen Sie mir die Hand und auf Wiedersehen – Gott ist allmächtig und unendlich barmherzig, lassen Sie den Kopf nicht hängen. „Euer Herz erschrecke nicht“143 usw. 31 [St. Petersburg], den 1. Januar 1882 Ich umarme Sie und wünsche Ihnen von Herzen alles erdenkliche Glück im Neuen Jahr, teurer Anatolij Fedorovič – gebe Gott, dass sich die Wogen beruhigen mögen, sollten sie noch immer toben, und dass die Sonne wieder über Ihnen scheine! Ich danke Ihnen dafür, dass Sie das Versprechen bezüglich der Waise Lena nicht vergessen haben, ich befürchte nur, dass sie noch zu klein und zu sehr Kind ist für eine öffentliche Einrichtung,144 aber es komme, wie es kommen soll! Ich werde aus Moskau mit Briefen bombardiert145 – Sie ahnen, von wem: von unserer Dubbelner Bekannten! Sie wundert sich, dass weder ich noch Sie ihr antworten und denkt, Sie wären vielleicht umgezogen, bittet um Ihre Adresse usw. Aber von mir – kein Sterbenswörtchen (und von Ihnen sicher auch nicht): ich nehme an, sie will aus irgendwelchen Gründen mit uns korrespondieren. Nein, nein, daraus wird nichts! Ich wüsste auch nicht, was ich ihr sagen sollte: ich kenne sie kaum und noch weniger interessiere ich mich für sie! Was will sie bloß von uns: gibt es in Moskau etwa wenig Menschen? Das ist dummer Weiberkram! Bis zum baldigen Wiedersehen Immer Ihr Gončarov Heute komme ich bei Ihnen und den Nikitenkos vorbei: Sanja ist dort zu Gast, ich muss sie abholen. 32 Livländ[isches] Gouv[ernement], Dubbeln bei Riga, den 7. Juni 1882 Dubbeln, neben Riga. Herren-Straße, Haus Possel*34 Am Dienstag, den 1. Juni, bin ich aus Petersb[urg] abgereist und am Donnerstag, den 3., war ich schon hier in Dubb[eln], in meiner alten Wohnung, d. h. nicht ganz der alten: damals wohnte ich oben, jetzt habe ich die untere Etage gemietet. *

Im Original deutsch.

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Den vierten Tag dürste ich danach, Ihnen zu schreiben, teurer Anatolij Fedorovič, aber erst heute, am fünften Tag, konnte ich zur Feder greifen, vor allem deshalb, weil die Feder im Koffer steckte, genauso wie das Briefpapier. Die Tinte habe ich im Kramladen besorgt, zusammen mit dem Tintenfaß. Erst gestern konnten wir auspacken, aber noch immer nicht alles, weshalb ich mich schon den dritten Tag ins selbe Taschentuch schneuzen muss: noch einen Tag oder zwei, und ich werde es auf russische oder lettische Art durch die Finger tun, wenn die Taschentücher nicht ausgepackt werden, genauso wie die Stiefel, vorläufig trage ich noch meine Reisekleidung. Meine Haushälterin* aber zur Eile anzutreiben, das möchte ich nicht, es wäre mir unangenehm: sie ist durch die Reise und andere Sorgen völlig vom Fleische gefallen, übrig geblieben sind allein die Nase146 und auch die Zunge, von der sie lebhaft Gebrauch macht und unablässig entweder mit den Kindern schimpft oder mit der lettischen Mar’ja, die sie sich hier zugelegt hat, und die aussieht wie eine Kuh.35 Hier unten ist es weniger abscheulich als es oben war; ich habe zwar ein Zimmerchen weniger, dafür aber einen Saal, in dem man Bälle veranstalten könnte, und auch mehr Möbel und eine Küche mit Eiskeller gleich nebenan, über den sich Aleks[andra] Iv[anovna] nicht genug freuen kann. Heute haben die Füchsin-Amtsschreiberin und der Alte, denen ich anderthalb Rubel gegeben hatte, Blumen gekauft und damit unter den Fenstern ein ganzes Beet angelegt. Aber wie kalt es dieser Tage ist, wie regnerisch! Keine Rede davon, sich irgendwo blicken zu lassen! Ich habe mich in ein Plaid gehüllt und in die Ecke geschmiegt und die Kinder, und überhaupt alle in Dubb[eln], gehen mit blauen Nasen und doppelter Kleidung herum. Heute scheint die Sonne, doch wie lange, das weiß niemand, aber es ist trotzdem frisch, gar nicht sommerlich. Bei Ihnen ist es natürlich auch nicht besser. Es ist bisher sehr wenig Publikum da, eigentlich kaum jemand. Ab dem 10. Juni soll die Gästewelle anrollen. Dann beginnt hier die Saison, wenn nur das schlechte Wetter und die Moskauer Ausstellung147 die Gäste nicht davon abhält, anzureisen. Auch das Orchester (wieder ein preußisches) trifft am 10. Juni ein. Bis dahin tritt ab und zu ein Armeechor auf und gestern ist im Bahnhof148 ein halbes Hundert Menschen zusammengekommen. Alle saßen schweigend und eingemummt da, von Leben keine Spur. Ich habe unsere gemeinsamen deutschen Bekannten getroffen, Vortman [Wortmann], Šaf [Schaf ] und Ljangevic [Langewitz], von den Russen nur Sorokin vom letzten Jahr, den Professor der Mediz[inischen] Akademie. Weder Banza noch sonst irgendwen. Von den Urusovs und dem bewussten Mosk[auer] Individuum ist nichts zu hören. Sie wird wohl auch nicht kommen: vermutlich wird sie auf der Mosk[auer] Ausstellung dringender gebraucht als hier, oder sie braucht die Ausstellung dringender. Es sind noch einige Armeegeneräle da, die strikt unter *

Im Original deutsch.

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sich bleiben, wie die Juden,149 und sich in ihrer Generalsecke zusammendrängen, beim Elysium. Man hat mir auch berichtet, dass Gerngross hier sein soll und die Doktorin der Rechte Evrejnova,150 mit der Sie wohl bekannt sind, doch ich habe niemanden gesehen, nur Sorokin,151 mit dem ich Strandspaziergänge unternehme. Er ist ein kluger und angenehmer Gesprächspartner. Doch alle – Bekannte wie Unbekannte – haben mir einstimmig und allen Ernstes versichert, dass Sie in jedem Falle kommen werden. Vergebens habe ich gesagt, dass das nicht sicher sei, und dass Sie, wenn überhaupt, so erst im Juli kommen würden, und auch das nur für ein paar Tage. Aber niemand will es hören. Wie schön es wäre, wenn sie recht hätten! Nebenbei bemerkt habe ich mich gestern mit Vera Michajl[ovna] getroffen, der Frau des Notars Utin, von ihrer Absicht, herzukommen, hörte ich übrigens von Sirena Isaakovna, die jetzt natürlich schon weit weg ist, im Ausland.152 Ungeachtet der Kälte hat die Badesaison begonnen, doch ich nehme vorerst Wannenbäder mit Meersalz in der Bade-Anstalt.153 Mein Leben verläuft schläfrig, träge und unwillig, und ich quäle mich zudem zeitweise mit neuralg[ischen] Schmerzen in den Schläfen herum, die ich mir unterwegs im Eisenbahnabteil durch die Zugluft zugezogen habe. Als die Füchsin bemerkte, dass ich Ihnen schreibe, bat sie mich hinzuzufügen, dass sie Sie grüßen lässt. „Ich auch!“ piepste die Kugel (auch Fröschlein genannt). „Ich auch!“ sagte der Alte bedächtig. Auch ich grüße Sie von Herzen, teurer Anatolij Fedorovič, und bitte Sie, mich nicht zu vergessen und durch einige teure Zeilen zu erfreuen. Ihr Gončarov 33 Herren-Straße. Haus Possel. Dubbeln, den 26. Juni 1882 Was für ein liebes Geschenk Sie mir direkt am 24. Juni154 beschert haben, teurer Anatolij Fedorovič! Nach der Kirche kam natürlich der herzensgute F. A. Rebinin zu mir, an den Sie sich vermutlich erinnern und der Sie sehr grüßen lässt (der Rigaer Eliseev),155 zusammen mit seiner Frau und seinem Schwager, einem Petersb[urger] Studenten. Als wir bei der Namenstagspirogge auf der Veranda saßen, reichte mir der Postbote aus dem Garten zwei Briefe herauf: Ihren und den von Mich[ail] Matv[eevič]156 – beide kamen genau im richtigen Moment! Meine Gäste habe ich darüber ganz vergessen! Der Gast war übrigens eher ich selbst, denn ich habe sie mit einer schäbigen, in der Nachbarschaft bestellten Pirogge bewirtet, Rebinin aber verköstigte mich mit ausgezeichneten Havanna-Zigarren, seinem Geburtstagsgeschenk!

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Als er erfuhr, dass der Brief von Ihnen stammt, bat mich Rebinin, seinem Gruß die Nachricht hinzuzufügen, dass der „Bajan“-Verein für Sie anlässlich seines alljährlichen Festes am 11. Juli eine Einladung vorbereitet hat und Ihnen in den nächsten Tagen das Billett senden wird.157 Ihre Teilnahme und Ihre damalige Rede sind bis heute allen in Erinnerung.158 Die Bajan-Mitglieder, die bereits vor meiner Ankunft hörten, dass Sie beabsichtigen, in Dubbeln vorbeizuschauen, bitten Sie sehr, Ihren Besuch mit dem 11. Juli abzustimmen, damit Sie an den Feierlichkeiten teilnehmen können, denen Sie, wie es heißt, besonderen Glanz verleihen würden. Außer den Gouverneur und andere Ehrengäste wollen sie auch Manasein159 und Stojanovskij160 einladen (er ist mit seiner Familie in Majorenhof ),161 kurz, die Crème, und wenn Sie sie mit Ihrer Anwesenheit beehrten, würde des Beifalls kein Ende sein! Man hat sich bei mir nach Ihrer Adresse erkundigt, doch ich habe meine Dienste für die Übersendung der Einladung angeboten. In diesem Jahr ist es hier stiller als sonst, zahlreiche Wohnungen sind nicht vermietet, obwohl bei gutem Wetter viel Publikum bei den Konzerten162 zusammenkommt, teilweise aus Riga, teilweise aus Edinburg163 und aus Carlsbad,164 wo dagegen alles voll ist. Ich habe heute zum zehnten Mal gebadet – es war herrlich, auch wenn die Wasser- und Lufttemperatur nur 14 Grad betrug. Es bläst noch immer ein recht starker Wind, der die Wellen herantreibt, so dass man nicht tief ins Wasser gehen kann. Ich lebe sehr zurückgezogen oder besser gesagt, ungesellig, esse nicht einmal mehr im Actienhaus zu Mittag, sondern zu Hause eine Suppe, die die Ihnen bekannte Lettin leidlich zubereitet, dann ein Hühnchen und abends jeden Tag Dickmilch. Krebse sind dreimal zum Frühstück auf den Tisch gekommen – sie haben sehr gut geschmeckt, denn beim Essen sprachen die Kinder und ich natürlich von Ihnen. Sanja ist in die Höhe geschossen und, wie es den Anschein hat, auch fülliger geworden, Gottseidank. Sie geht täglich mit dem Fröschlein und der Mutter baden und ist den ganzen Tag an der Luft: bald im Wald, bald am Strand. Aus ihr ist eine Art Amphibie geworden, nicht, weil sie im Meer badet, sondern weil sie sich irgendwie verdoppelt: bald sieht man das Kind mit dem Ball oder der Puppe (die sie neben sich ins Bett legt), hört ihr Kinderlachen, dann wieder werden Anzeichen einer sich öffnenden vierzehnjährigen Knospe sichtbar – kurz, es vollzieht sich die Vermischung eines kleinen Mädchen und einer Jungfrau. Ach, wie sehr ich das alles fürchte, all die drohenden Sorgen, Mühen, am liebsten würde ich fortlaufen, aber wohin? Es gibt keine Zuflucht, ich stehe an der Pforte des ewigen Ankerplatzes! Ihre Aufregungen wegen der Abreise Ihrer Frau Mutter verstehe ich, doch ich nehme an, dass durch diese Trennung ein wenig Ruhe einziehen wird!

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Ich habe mich sehr gefreut zu hören, dass Sie zum Neuen Jahr nicht nur die Petersb[urger] Gesellschaft, sondern die ganze russische Öffentlichkeit mit Ihrem Talent bekanntmachen werden, nicht durch mündliche Äußerungen, sondern auch auf dem Wege der Presse.165 Ich aber werde so lange nicht aufhören mich zu grämen, bis Sie die von Ihnen hier begonnenen Erinnerungen aus Ihrer Gerichtspraxis nicht niedergeschrieben haben.166 Dies wäre ein wichtiges Buch, denn jedes Wort darin würde der Wahrheit entsprechen: ausdenken muss man sich hier nichts und man darf es auch nicht. Die Wahrheit selbst, dargestellt in Silhouetten, Porträts und einzelnen Szenen, und beleuchtet von Ihrem juristisch-philosophischen Blick, das ist mehr wert und wichtiger als jeder Roman. Die Phantasie eines Künstlers, die in Ihnen steckt, wird dazu beitragen, die Personen und Ereignisse geschickt anzuordnen und ihnen das nötige Kolorit zu verleihen. Die Entwürfe, die Sie mir vorgelesen haben, sind wunderbar: wenn Sie noch daran arbeiten, werden Sie sich der Feder oder besser des Pinsels eines Künstlers rühmen können, denn es mangelt Ihnen weder an Phantasie noch an Scharfsinn oder Humor. Sie müssen dem Publikum dieses Buch schenken, vergessen Sie das nicht! Und zwar zu meinen Lebzeiten: folglich dürfen Sie es nicht auf die lange Bank schieben. Von hier ist bisher offenbar noch niemand abgereist, außer Gerngross-Vater. Mutter und Sohn sind noch da: ihnen gefällt Dubbeln sehr. Stojanovskij167 habe ich zweimal getroffen: er wollte zu mir kommen und hat mich auch zu sich eingeladen, aber wegen meiner Ungeselligkeit habe ich das ausgeschlagen, und er, der diese meine Krankheit nicht kannte, hat es wohl nicht ganz verstanden. Unser tauber Freund Švejnfurt [Schweinfurt] ist hier, und immer noch genauso gut und lieb, und genauso bedauernswert. Er hat den Winter in Rom verbracht. Alles ist, alle sind, unverändert. Auch die Juden und Jüdinnen168 sind fast dieselben, eine neue habe ich kennengelernt, die mir sehr liebenswürdig anbot, ihr Sanja zu Musikstunden zu schicken, unter der Anleitung ihrer Gouvernante, was ich auch tun werde. Die Kinder betrachten Sie als Verwandten und Aleks[andra] Iv[anovna] äußerte sich folgendermaßen, als von Ihnen die Rede war: “Anatol[ij] Fed[orovič], gehört doch sowieso zu Ihnen.“169 Besser hätte sie es wirklich nicht ausdrücken können! Vorläufig kränkelt sie nicht, geht mit den Kindern viel in den Wald und ans Meer, doch sie kann von Natur aus leider nicht untätig sein, ständig pusselt sie herum und hastet umher, das ermüdet sie natürlich. Müßiggang170 ist ihr unbekannt. Leben Sie wohl, teurer Anatolij Fedorovič! Ich habe die, allerdings schwache, Hoffnung, dass Sie hier vorbeischauen, auch wenn es ein gutes Stück Wegs ist, vielleicht können wir Sie mit vereinten Kräften irgendwie herlocken, die „Bajan“-Leute und ich!

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Sollte ich die Einladung vom „Bajan“-Verein für Sie bekommen, bevor ich diesen Brief abgeschickt habe, so lege ich sie bei, wenn sie aber bis morgen früh nicht da ist, schicke ich sie gesondert ab. Ich drücke Ihnen fest die Hand und danke Ihnen herzlich. Immer Ihr Gončarov 34 [Dubbeln], den 20. Juli 1882 Ihr verzagter Brief bekümmert mich zutiefst, mein guter und lieber Anatolij Fedorovič! Sein ganzer Ton ist von Traurigkeit durchdrungen, sogar beinahe verzweifelte Noten hört man heraus! Ich aber kann Ihnen zusätzlich zu dem, was die Ärzte sagen, etwas aus meiner Praxis mitteilen, d. h. aus meinen Beobachtungen Kranker mit ähnlichen Symptomen, unter denen ich der Erste bin.171 Fürchten Sie Ihre Krankheit nicht: das, was Sie jetzt empfinden, ist der allgemeine Ton (wie ich gerade sagte) oder ein Widerhall der Nervenschwäche im Organismus. Ihre, meine und ähnliche Naturen verfallen nicht selten in diesen Ton (ich habe die Beschaffenheit Ihrer Natur ja schon charakterisiert, indem ich sie „künstlerisch“ genannt habe, das heißt nervös und empfindsam, wie es auch die meine ist). Das Leiden in verschiedenen seiner Erscheinungsformen, ohne jegliche äußerliche, schwerwiegende Gründe, ist ein ständiger Begleiter dieser Naturen. Das muss man sich ein für allemal klarmachen und ihm weder endlos nachgeben noch den Mut verlieren; auch sollte man immer daran denken, dass es beim kleinsten Wehen eines günstigen Lüftchens schnell umschlagen und zu einer Beruhigung, ja gar zu einem völlig entgegengesetzten Zustand führen kann!172 Von wenig empfindsamen, nicht nervösen Naturen werden Sie nicht selten viele dumme Vorwürfe zu hören bekommen, vermutlich haben Sie sie schon gehört, wie etwa: „Was fehlt ihm denn! Dies hat er und jenes, auch ein gutes Gehalt, und eine Stellung in der Gesellschaft usw., er aber ist ständig unzufrieden und jammert dauernd!“ Solche Naturen haben immer nur einen einzigen Ton, oder womöglich überhaupt keinen! Ich denke, es hat nichts damit zu tun, dass Sie sich eines schweren Gegenstands angenommen haben! Kurz, ich vertraue darauf, dass der Nebel, der Sie einhüllt, verwehen und die Sonne Sie mit ihren warmen Strahlen liebkosen wird, kaum dass ein anderer Wind weht! In Ihrem Alter und mit Ihren Kräften werden Sie mit der neunten Woge173 sicher fertig werden, von diesen periodisch wiederkehrenden Wogen gibt es im Leben viele. Lassen Sie sich nicht entmutigen! Sie haben den Gedanken herzukommen also noch nicht aufgegeben: ich aber denke, dass es jetzt schon zu spät ist. Ich gebe zu, dass ich auch zuvor nicht mit

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Ihrem Besuch in Dubbeln gerechnet hatte. Zuerst wollten Sie nach dem 8. Juli kommen, dann um den 15. herum und nun haben Sie es bis zum 5. August aufgeschoben. Jetzt ist aber kaum mehr jemand hier, d. h. keine passende Gesellschaft, in der Sie sich besonders wohlfühlen würden, und um den 5. August beginnt hier schon die allgemeine Abreise. Allerdings sind jetzt die Tage, besonders die Abende, am Strand, bei Mondschein, mit all der Stille und Wärme, einfach bezaubernd. Wenn ich über den weichen Sand laufe, manchmal mit meinen Küken und Aleks[andra] Iv[anovna] im Schlepptau, häufig aber allein, selten mit Sorokin, tragen mich meine Erinnerungen weit gen Süden.174 Einen guten Kameraden und Gefährten, auf dessen ständige Gesellschaft ich zählen könnte, habe ich hier nicht. Sorokin verbringt die Zeit mit seiner Frau, sie kann allerdings nicht weit laufen. Mit anderen ist es mir langweilig. Man beäugt mich sowieso schon misstrauisch wegen meiner Ungeselligkeit und schreibt meine Isolation nicht dem Alter oder der Nervosität, sondern anderen, kleinlichen oder dummen Gründen zu. Am 2. oder 3. August will ich mich auf den Heimweg begeben und am 5. hoffe ich, Sie in Petersburg in die Arme schließen zu können. In diesem Jahr habe ich es eilig mit der Heimkehr, denn in der Handwerksschule sind für Anfang August die Aufnahmeprüfungen angesetzt. Man hat mir versprochen, Vasja auf eine kostenlose Vakanz aufzunehmen, Gott sei‘s gedankt, wenn sie ihr Versprechen halten!175 Deshalb muss ich ihn Anfang August zur Prüfung bringen. Jetzt will ich auch meinerseits über eine Krankheit klagen, d. h. über Herzschmerzen, bisweilen sind sie dumpf, bisweilen heftig, begleitet von einer gewissen Atemnot, die ich (die Schmerzen) auch früher schon empfunden habe, doch sehr selten, jetzt aber rufen sie sich öfter in Erinnerung. Insbesondere bei schlechtem Wetter spüre ich sie, vor dem Regen, vor Gewitter, im Winter, bevor es schneit, und jetzt bei jeder Art von Wetterumschwung, bisweilen auch nach dem Baden, und zwar recht stark. Ich hatte einst einen Freund, der unter ebensolchen Schmerzen litt, eines Tages fiel er auf der Straße um und war tot. Auch mein Bruder starb an Atemnot.176 Was das ist, weiß ich nicht, und ich mache mir auch nicht allzu viele Gedanken: nur wenn der Schmerz zu sehr spürbar wird, verziehe ich das Gesicht und streiche mit der Hand über die Herzgegend, dann aber vergesse ich es, bis es wieder schmerzt! Ich bin immerhin schon 70 Jahre alt, folglich schickt es sich nicht, zu klagen, man kann sich nur ein, wenn auch nicht gänzlich „schmerzloses“, so doch nach Möglichkeit qualfreies und auch „christliches, friedliches und ehrenwertes Ende“177 wünschen! Darum bete ich täglich zu Gott. Fälschlicherweise denken Sie, Sie hätten mir die Einladung zum „Bajan“-Fest zu verdanken: ich hatte in Dubbeln kaum einen Fuß vor die Tür gesetzt, als mich schon alle mit Fragen bestürmten: „Wird er kommen?“ Ich sagte, Sie hätten versprochen, um den 15. Juli herum zu kommen, da begann ein Weh und Ach, weshalb nicht am 11., so verfiel man schließlich auf die Idee, Ihnen eine Einladung zu schicken, ich war lediglich für die Beförderung zuständig.

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Das Fest war sehr gelungen und das Wetter prächtig: es gab alles – eine Messe, gesungen vom Chor des „Bajan“, dann ein Frühstück, ein Mittagessen, Gesang, Reden, eine Serenade, ein Feuerwerk und Salutschüsse. Ich habe das alles aus der Menge heraus verfolgt. Wie schade, dass Ihre inoffiziellen Arbeiten ins Stocken geraten sind. Ich denke, sie könnten Sie retten, wie sie bisweilen auch mich vor der Schwermut bewahrt haben, auch wäre es eine Möglichkeit, auf diese Weise ebenfalls der Gesellschaft zu dienen. Wir alle hier machen dasselbe wie immer. Wir baden fleißig (ich mit dem General,178 die Mädchen mit ihrer Mutter), inmitten von Myriaden von Juden,179 die die Mehrheit der Besucher bilden. Dann lassen sich die Herren und Damen Badenden träge (letztere mit einer sogen[annten] Arbeit in den Händen) auf den Veranden nieder und ziehen sich vor der Sonne in schattige Winkel zurück. Darauf folgt ein schlechtes Mittagessen, abermals Musik und Strandspaziergänge. Aber die Luft, die Luft – das ist Glückseligkeit! Da wird man notgedrungen gesund, selbst wenn man Herzschmerzen hat! Sollten Sie den Stasjulevičs schreiben, so fragen Sie doch bitte, ob sie meinen Antwortbrief erhalten haben, den ich ihnen sofort nach Karlsbad geschickt habe. Wo sie jetzt sind, weiß ich nicht, vermutlich in Paris. Meine Kinderchen, die ja gar nicht die meinen sind, und ihre Mutter grüßen Sie aufs herzlichste und innigste, und ich umarme Sie von ganzem Herzen in Gedanken, in der Hoffnung, Sie Anfang August persönlich umarmen zu können, am wahrscheinlichsten in Petersburg. Immer Ihr Gončarov Frau Gerngross ist mit ihrem Sohn nach Ostende abgereist – sie hat Dubbeln nur sehr ungern verlassen. 35 St. Petersburg, den 11. November 1882 Ihren lieben Brief, teurer Anatolij Fedorovič, habe ich heute erhalten, ich will auch sogleich antworten, damit meine Zeilen Sie noch in der Stadt erreichen. Lassen Sie mich bitte bei erster Gelegenheit wissen, ob Sie sie bekommen haben. Es übersteigt meine Vorstellungskraft, was unter der Revision der Gerichte eines ganzen Gouvernements zu verstehen ist,180 d. h. ich weiß nicht, wie das vor sich geht; vielleicht ebenso wie man in der guten alten Zeit gegen die aufständische Massen vorging: man griff sich jeweils den zehnten heraus und züchtigte ihn. Auch hier greift man vielleicht aus dem Ozean der Papiere jede zehnte Akte heraus und über-

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prüft sie. Wie auch immer es sei, ich kann mir aber vorstellen, was für eine qualvolle Arbeit Ihnen aufgebürdet ist, und noch besser kann ich mir den gewaltigen Nutzen Ihrer Revision vorstellen. Es ist ein frischer Luftzug, der in ein stickiges Gefängnis weht. Doch woher 50 Anatolij Fedorovičs nehmen, um in den 50 Provinzen Desinfektion zu betreiben? Ich wundere mich nur, dass eine so neue, junge Einrichtung wie unser parquet181 in kurzer Zeit derart verderben konnte, dass eine extreme, allgemeine Desinfektion des gesamten, an die Hauptstadt angrenzenden Gebiets durchgeführt werden muss! Wann und wie konnte es bloß so verunreinigt werden! Ich danke Ihnen, lieber, guter Freund, für Ihre aufrichtige Anteilnahme an meinem Leben. Zu Ihrer Gatčina betreffenden Frage kann ich freudig berichten, dass ich noch immer unter dem Zauber des wohlwollenden Empfangs stehe.182 Glücklicherweise waren wir nur zu fünft, so dass ich eines Empfangs unter vier Augen und einiger Minuten eines guten, liebenswürdigen Gesprächs für würdig befunden wurde. Ich kam völlig verzaubert heraus: als seien mir Flügel gewachsen. Sie haben es gleichsam erahnt, als Sie im Brief davon sprachen, man müsse vermutlich „anordnen“, dass ich meine Bücher neu herausgebe: zwar gab es keine Anordnung, oder wenn, dann in Form einer Frage: ob ich meine Bücher denn drucken ließe. Ich habe mich natürlich beeilt, eine bejahende Antwort zu geben und sogar darum gebeten, sie selbst überbringen zu dürfen, wenn sie erscheinen. Die Folge war, dass ich vor einer Woche den Vertrag unterschrieben habe, in dem ich Glazunov meine Autorenrechte für alle Werke abtrete,183 so dass Sie den „Oblomov“ künftig nicht in einem fremden Ex[emplar] werden lesen müssen. Ich bitte Sie aber, vorerst mit niemandem darüber zu sprechen, damit es nicht auf dem Wege der Provinzpresse an die hiesigen Zeitungen gerät, die es vor der Zeit ausposaunen würden, während die Bücher doch vermutlich nicht vor dem Herbst184 in Druck gehen werden. Mit der Nachricht, dass Sie den Oblomov lesen, haben Sie mich sehr erfreut. Ich dachte, man könne ihn, wie überhaupt derartige alte Bücher wie die meinen, heute nicht mehr lesen. Aber das ist jetzt nicht mehr meine Angelegenheit: ich habe mich nicht aufgedrängt, man hat mich bestürmt, ich möge nachgeben, sollte es ein Reinfall werden, mache man mir keine Vorwürfe!185 Sirena Isaakovna und M[ichail] M[atveevič] habe ich öfter gesehen, einmal habe ich zusammen mit ihnen sogar beim Baron, ihrem Nachbarn,186 diniert. Sie sind beide liebenswürdig und nett wie immer, und jedes Mal denken wir an Sie. Vorgestern habe ich ihnen die, wie sich jetzt nach Ihrem Brief herausstellt, falsche Botschaft von Ihrer Rückkehr überbracht. Fürst Cert[elev]187 war bei jemandem in Ihrem Haus zu Gast und hörte vom Portier, dass man Sie angeblich anderntags zurückerwarte, d. h. gestern, am Dienstag. Wir haben alle in die Hände geklatscht, aber von wegen! Außerdem musste ich, und muss teilweise auch jetzt noch, einen gewissen Kampf mit Mich[ail] Matv[eevič] ausfechten, wegen bestimmter böser Absichten,

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die er anlässlich meines 50. Jahrestags hegt. Sie wissen ja sicher noch, dass ich einmal bei Tisch als Kuriosum erwähnte, dass ich in diesem Jahr 1.) 70 Jahre alt werde, 2.) dass 50 Jahre vergangen sind, seit ich 1832 im „Teleskop“ einen Auszug aus einem franz[ösischen] Roman veröffentlicht habe188 und dass 3.) vor 35 Jahren, 1847, im „Sovremennik“ die „Obyknovennaja istorija“189 erschien. Erinnern Sie sich auch, dass ich Sie bat, über diese meine Jahrestage niemandem etwas zu sagen, damit es nicht in die Zeitungen gelangt, da ich keinerlei Jubiläumstrubel wünsche?190 Unter keinen Umständen! Dennoch hat er in der Öffentl[ichen] Bibl[iothek] Nachforschungen angestellt, allerdings im „Telegraf “191 und natürlich nichts gefunden, danach kam er zu mir, um sich zu erkundigen, was das zu bedeuten habe. Ich verwies ihn auf das „Teleskop“ und fragte, wozu er diese Auskunft benötige. Und dann besuchte mich Andrej Aleks[androvič]192 – und dies nicht ohne Grund, wie ich jetzt weiß. Als ich begriff, dass etwas Übles im Gange ist, wandte ich mich an Mich[ail] Matv[eevič] und verbot ihm aufs Entschiedenste, an irgendwelche Ovationen zu denken und nannte die Weitergabe des Tischgesprächs Verrat. Daraufhin war er zu einem Kompromiss bereit und sagte, die Redaktionen jener Zeitschriften, in denen ich veröffentlicht hätte, könnten ein intimes Essen geben. Ich wollte mich schon darauf einlassen, habe dann aber abgelehnt, wozu das alles?193 Nichts dergleichen ist nötig: diese Daten sind nur für mich von Bedeutung – mag mein Jahr ruhig im Strudel der Ewigkeit versinken, ohne dass seiner im Guten gedacht werde, dann aber auch nicht im Bösen! Habe ich nicht recht? Sie haben versprochen, am 20. hier vorbeizuschauen – also dann auf Wiedersehen. Seien Sie fest umarmt I. Gončarov Außer dem Fröschlein sitzen die kleinen Lauser jetzt in der Schule. Der General und die Füchsin wachsen heran. Das Fröschlein blüht auf und alle lieben Sie sehr. Ihre Mutter dankt für die Güte, die Sie den Kindern erweisen. 36 [St. Petersburg, den 7. Dezember 1882] Mein Freund! Ich komme heute ins Hôtel de France, um einen Blick auf Sie zu werfen, vielleicht zum letzten Mal!

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Ein großes Unglück hat mich ereilt – mein rechtes Auge hat sich geschlossen!!! Gestern war ich beim Augenarzt, heute Abend um 10 Uhr soll mir ein künstl[icher] Blutegel gesetzt werden194 und ich werde für 24 Stunden im dunklen Zimmer eingesperrt. Was danach werden wird, weiß Gott allein! Den Rest erzähle ich dann bei meiner Bouillon und danach verkrieche ich mich! Bis zum Wieders[ehen] also. Oh je! Oh je! Oh je! Ihr Gončarov 37 [St. Petersburg, den 9. Dezember 1882]195 Wollen Sie mich heute im Laufe des Tages bis zehn Uhr abends vielleicht besuchen kommen, teurer Anatolij Fedorovič? Mir wurde ein künstlicher Blutegel gesetzt, ich habe mehr als einen Tag im dunklen Zimmer gesessen, eine Erleichterung für die Augen aber verspüre ich noch nicht. Ich würde so gern, ja, ich müsste mit Ihnen sprechen. Heute gehe ich nicht aus dem Haus. Gončarov 38 [St. Petersburg], den 1. Januar 1883 Ivan Aleksandrovič Gončarov196 (persönlich) umarmt den teuren Anatolij Fedorovič, dankt ihm für den rührenden Ausdruck seiner Freundschaft, den er ihm gestern so lieb erwiesen hat197 und gratuliert ihm zum Neuen Jahr und besonders zum seit langem verdienten Schritt nach vorn! Gott gebe ihm eine lichte, siegreiche und dauerhaft glückliche Zukunft, sowohl in gesellschaftlichen Dingen als auch im persönlichen Leben! Die Vorsehung möge ihn schützen, in diesem Jahr wie in vielen weiteren Jahren! 39 [St. Petersburg], Sonnabend, [den 5. März 1883] Morgen, teurer Anatolij Fedorovič, wird es mir kaum möglich sein, Sie und Marija Gavrilovna198 zu empfangen: ich werde Sanjas Lektionen abhören müssen und sie

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dann in die Schule bringen, kurz, sonntags bin ich immer den ganzen Tag mit ihr beschäftigt. Am Montag, Dienstag oder Mittwoch jedoch bin ich ab zwei Uhr frei. Wenn Sie aber keine Zeit haben, so sagen Sie Marija Gavrilovna doch, dass ich mich immer glücklich schätze, sie auch allein bei mir zu sehen, sollte es ihr nicht langweilig sein, allein einen kranken alten Mann zu besuchen. Ihr Gončarov 40 [St. Petersburg], Sonntag, den 20. März [1883] Heute gegen fünf Uhr werde ich zu Hause sein – deshalb wäre es am besten, wenn Sie heute zu mir kämen, um sich zu verabschieden, teurer Anatolij Fedorovič, denn ich weiß nicht, was am Dienstag sein wird. Natürlich, die Abschrift des Testaments werde ich bis zu Ihrer Rückkehr aufschieben müssen: wann wird das sein? Das Laferté-Buch schicke ich Ihnen und bitte Sie, es nicht zu verlieren.199 Bei der Gräfin200 war ich noch nicht, wenn ich zu ihr gehe, vergesse ich Ihren Auftrag nicht und erbitte ein Exemplar für Sie. Auf Wiedersehen Ihr Gončarov 41 [St. Petersburg, den 23. April 1883] Ivan Aleksandrovič Gončarov201 hat soeben dem Kalender entnommen, dass am 23. unter den heiligen Gerechten der Name des Märtyrers Anatolij zu finden ist, er gratuliert von ganzem Herzen und wünscht jeden nur möglichen Segen und alles Glück der Welt. 42 [St. Petersburg], den 18. Mai [1883] Teurer Anatolij Fedorovič! Ich versinke verzweifelt in den Wogen meines unglückseligen Testaments,202 bin dabei, es zum dritten Mal abzuschreiben, mein Auge ist schon blutunterlaufen und im

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Kopf klopft es wie von Hammerschlägen, aber es kommt nichts Gescheites dabei heraus: ich stoße dauernd auf verschiedene Fragen und Zweifel, die flüchtigen Anmerkungen, die Sie mir mündlich mitteilten, habe ich vergessen, und das, was ich mit Bleistift notierte, kann ich nicht entziffern. Um mich aber von Zettel zu Zettel, von Anmerkung zu Anmerkung vorzuarbeiten, dafür fehlt mir die Kraft, das heißt, das Augenlicht! Ich fürchte zu erblinden, doch ehe ich meine Lebensaufgabe nicht richtig und endgültig gelöst habe, werde ich keine Ruhe finden und auch nicht abreisen können, reisen aber muss ich in ein paar Tagen.203 Ich kann und möchte unbedingt die eine Großtat vollbringen, nämlich eigenhändig das Testament abschreiben, doch bereits in der vollständig fertigen und bis zum letzten Komma korrigierten Fassung. Sie zu dieser niederen und öden Arbeit zu verdammen, daran wage ich nicht einmal zu denken, außerdem haben Sie auch gar keine Zeit dafür: das würde ich niemals wagen. Wollen Sie mir vielleicht einen kleinen Beamten empfehlen, der sich auf diesem Gebiet auskennt, den ich beauftragen könnte, eine getreue Abschrift mit all Ihren abschließenden Anmerkungen anzufertigen, die ich dann, wenn Sie diese gelesen haben, selbst abschreiben würde. Ich zahle ihm für die Arbeit, was es kosten wird. Vorläufig will ich Sof ’ja Al[eksandrovna] Nikitenko bitten, all das ins Reine zu schreiben, was ich zusätzlich auf einem halben Bogen notiert habe; sie versprach, morgen, am Donnerstag, um 12 Uhr zu mir zu kommen, ich werde sie vielleicht bitten, das ins Reine Geschriebene bei Ihrem Portier abzugeben. Ich bitte Sie als Freund, die Angelegenheit nicht aufzuschieben, denn die Zeit drängt, und ich habe vor meiner Abreise noch eine Menge kleiner Dinge zu erledigen, wie das immer der Fall ist. Wenn daraus aber nichts wird, so denke ich, ob es nicht besser wäre, alles einem Notar zu übergeben, wie ich Ihnen sagte, natürlich keinem Aristokraten, sondern einem von der bescheideneren Sorte, sollten Sie Letzteres befürworten, so bitte ich Sie, mir zu raten, wem genau. Es ist eine Qual, aber ich würde alles so gern für die Waisen in Ordnung bringen, und dann meinetwegen sterben! Bitte verzeihen Sie mir als Freund, dass ich Sie mit diesem Krempel belästige, doch an wen sollte ich mich in dieser Angelegenheit wenden, wenn nicht an Sie! Kurz, mir ist traurig zumute, im Auge hämmert es und ich fühle mich schlecht, trotz des schönen Wetters! Sagen Sie ein Wort und ich komme zu Ihnen, sollten Sie keine Zeit haben. Ihr Gončarov

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Abb. 1: Ivan Aleksandrovič Gončarov, 1886

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Abb. 2: Anatolij Fedorovič Koni, 1880er Jahre

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Abb. 3: Michail Matveevič Stasjulevič, 1886

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Abb. 4: Aleksandra Ivanovna Trejgut mit den Kindern Aleksandra, Vasilij und Elena (von rechts nach links)

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Abb. 5: Aleksandra Karlovna Trejgut, Mitte der 1880er Jahre

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43 Gouv[ernement] Livl[and]. Dubbeln, bei Riga. In der Gospodskaja ulica, Haus Possel’, den 14. Juni 1883 Mein teurer Anatolij Fedorovič! Nehmen Sie dieses mein Schreiben, und fahren Sie damit, ohne es gelesen zu haben, in die Galernaja 20,204 und lesen Sie es dort vor, wenn Sie zu dritt sind, d. h. Sie, Mich[ail] Matv[eevič] und Ljubov‘ Isaakovna, und sonst niemand. Weshalb? fragen Sie. Für einen Moment haben Sie den traurigen Zustand meiner Augen außer Acht gelassen. Wenn Sie aber meine Augenschwäche bedenken, werden Sie selbst zu dem richtigen Schluss kommen, dass mir halbblindem alten Mann ein großer Trost versagt ist – nämlich der Briefwechsel mit mir nahestehenden Menschen, wie ich ihn gern führen würde. Aus diesem Grund habe ich Ihnen im Brief an Mich[ail] Matv[eevič] geschrieben, und jetzt, im Brief an Sie, schreibe ich auch ein wenig an ihn und seine Frau und beantworte dabei gleich auch teilweise Mich[ail] Matveev[ičs] Brief, den ich gestern erhielt.205 Ich bitte sowohl Sie als auch die beiden, mich nicht ohne Nachricht über all das zu lassen, was mich interessieren könnte, und mich interessiert alles, was auch Sie und die beiden interessiert. Mit der Nachricht, dass er nicht gewählt wurde, hat mich Mich[ail] Matv[eevič] nicht überrascht, und ich sage sogar, auch nicht betrübt. Ich habe mich gefreut, als er sich zur Wahl stellte,206 d. h., dass sich eine Gruppe von Personen gefunden hat, die verstand, was ein solcher Mensch auf jenem Feld der Plagen207 zu leisten imstande wäre, auf den ihn das Schicksal gestellt hat. Doch damit sollte man seinen Triumph auch bewenden lassen. Zu erwarten, dass die Wahl auf ihn fallen würde, war aussichtslos: ich habe das im Vorhinein gewusst, im Vorhinein gerochen und vorhergesehen und deshalb auch nicht mit den Flügeln geschlagen und seinen Triumph besungen, denn alt und erfahren bin ich und ich habe nicht nur Ordnung und Unordnung diverser gesellschaftl[icher] Strömungen kennengelernt, sondern auch genug bittere Lebenserfahrung gekostet und tue es noch immer. Mir ist einst (vor dreißig Jahren) Ähnliches widerfahren: ich wurde gewählt, im Namen der höchsten Instanzen gebeten, anzunehmen und das Amt auszufüllen; ich aber empfand dabei eine gewisse Leere und freute mich nicht; ich freute mich nicht nur nicht, sondern reiste für eine Woche nach Moskau, um von dort zu sehen, was wird. Und ich hatte recht: als ich zurückkam, war alles auf den Kopf gestellt, ich nahm meinen Abschied und ruhte aus.208 Doch über all das beim Wiedersehen. Ich kam nur deshalb darauf zu sprechen, weil ich bis heute Gott dankbar bin, dass nichts daraus geworden ist! Mich[ail] Matveič, d. h. Sie, Mich[ail] Matv[eevič], hätten möglicherweise, sogar bestimmt, in dieser Ihrer neuen Arena irgendein écueil erwartet, der Ihr Schifflein zum Kentern gebracht hätte. Angenommen, wir, Ihre Freunde, aber auch Ihre

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Mitarbeiter, hätten uns in die Fluten gestürzt, um zuerst, wie es sich gehört, Ljubov‘ Isaak[ovna] zu bergen, Sie aber, auch wenn Sie ein Meister darin sind, Ertrinkende aus dem imposanten Kissingener Fluss zu retten (wie er heißt, habe ich vergessen), könnten in den trüben Wogen der so unterschiedlichen Strömungen der öffent[lichen] Meinung etwas Wesentliches verlieren! Jetzt haben Sie sie auf Ihrer Seite, belassen Sie es beim Ehrenkranz; etwas anderes sollten Sie nicht erwarten, lediglich, dass alle Blätter abgerissen werden (ob durch die Schwarzhunderter209 oder andere, das ist ganz einerlei), Ihnen würde nichts als das kahle Gestell bleiben! Eines bedauere ich, dass unsere einflussreichen Persönlichkeiten nicht die Fähigkeiten und die Energie jener nutzen, die bereit sind, der Allgemeinheit zu dienen, der auch sie selbst dienen. Fürchtet man etwa, der Stellvertreter des Stadtoberhaupts würde plötzlich irgendeinen Unsinn verkünden, statt aufmerksam die Ausführung der Beschlüsse zu überwachen, wovon die Stadt und alle ihre Bewohner gewinnen würden, folgl[ich] auch die Allgemeinheit gewinnt? Doch was würden dann die Schwarzhunderter tun, wenn es unmöglich gemacht wird, beim Wiegen oder Abmessen zu betrügen, Kloaken210 entstehen zu lassen, die Preise für alles unverschämt in die Höhe zu treiben usw. usf.? Es ist zum Verzweifeln! Und die Armen, die Bettler, die Kinder und Obdachlosen stöhnen: aber wen schert‘s! Und Sie haben gedacht, man ließe Sie auf einem solchen Platz ein, zwei Jahre sitzen, ohne Ihre Reputation anzutasten und Ihre Absichten nach eigenem Gutdünken zu verdrehen; und dass man nicht zu Bosheit und Verleumdung griffe, das heißt, Sie buchstäblich zerfleischen wolle? Danken Sie Gott, setzen Sie sich zur Ruhe211 und freuen Sie sich, dass sie den Klippen unter der Wasseroberfläche entkommen sind. „Und wenn ich doch gewählt werde?“ Nun, dann fassen Sie Mut und kämpfen Sie: dann sind Sie nicht umsonst von Oben zum Kampf auserwählt! Auch Ihnen, lieber Anatolij Fedorovič, hat das Leben schwere Prüfungen und Kämpfe auferlegt – in gewissen Momenten hatte ich Angst um Sie, in anderen erfreute ich mich an Ihnen. Sie sind noch jung,212 Ihnen fällt es leichter zu kämpfen – kämpfen Sie und denken Sie daran, dass das Leben Geduld bedeutet und dass nur der gerettet wird und als Sieger hervorgeht, der „bis ans Ende beharrt“!213 So kämpft denn, Ihr jungen Leute, Gottes Segen für Eure guten und nützlichen Taten, um der Liebe für das Allgemeinwohl willen, d. h. für den Nächsten! Was soll ich Ihnen aus Dubbeln berichten? Die Saison hat noch nicht begonnen, sogar die Konzerte fangen erst nach dem 15. an, d. h. übermorgen. Über der ganzen Küstenregion liegen dichte Wolken, aus denen es tröpfelt und die vor Bosheit heulen, weil sie der Wärme das Feld überlassen müssen! Vorläufig aber ist es kalt, abscheulich und schmutzig; die Häuser, die den Winter über zugesperrt waren, sind noch feucht und verströmen Modergeruch. Ich habe den selben Verschlag vom Letten Possel‘ gemietet, doch diesmal den ganzen, damit sich niemand über meinem Kopf einnistet, wegen des Wetters habe ich noch gar nicht ausgepackt.214 Ich

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schlafe oben, wo es trockener ist; ich bin übrigens krank: habe eine Grippe und eine Bronchitis mitgebracht – erst jetzt, nach drei Bädern in Zimmermanns Badeanstalt, huste ich weniger. In den Nächten ist es scheußlich und kalt, erst ein einziges Mal habe ich auf der Veranda Tee getrunken. Die Kinder laufen durch den Garten und spielen Krocket. Aleks[andra] Iv[anovna] friert ständig und kocht mit der Ihnen bekannten Lettin Suppe, auch für mich, abends gibt es Dickmilch und Langeweile und morgens Langeweile ohne Dickmilch, ich erfreue mich am Schlaf wie an einem Freund, einem Bruder, einer Geliebten! Das Alterchen (d. h. ich) schwächelt offenbar, verliert auch etwas an Gewicht, kurz, es schmilzt dahin! Wenn ich mich im Bad im Spiegel betrachte, erschrecke ich: bin ich das, dieser magere, gelb-grüne Alte, der aussieht, wie seinen Angehörigen aus dem Irrenhaus übergeben, mit dem roten, blinden Auge, der traurigen Miene, der das Denken und Fühlen verlernt hat und nur noch imstande ist, um Essen und Trinken zu bitten und, wenn es hoch kommt, nach draußen gehen zu dürfen, oh, oh, oh! … Wie entsetzlich! Denken Sie aber nicht, dass ich allzu entsetzt bin: in meiner Seele hüte ich einen Schatz, den ich nicht preisgebe, und ich vertraue darauf, dass er mich bis zur Endstation begleiten wird! In Riga215 sagte mir der Augenarzt, es sei ein Fehler gewesen, dass ich die Operation nicht habe machen lassen, mein Auge sei jetzt nicht mehr zu retten, die Pupille sei erweitert. Er verordnete mir, sämtliche Tropfen fortzulassen und die Augen mit warmem Wasser zu spülen! Dazu noch das schlechte Wetter, die Belastung durch die Hämorrhoiden und in der Perspektive – Bobor[ykin] und seine Frau!216 Sie werden ja vermutlich nicht kommen, das würde das Alterchen sehr trösten und beruhigen! Aleks[andra] Iv[anovna] und die Kinder bitten, dass ich Ihnen ihre Grüße ausrichte, sie danken Ihnen für all die Freundlichkeit. Sanja fragte mich, ob ich auch an Ljubov‘ Isaak[ovna] schreiben werde. Sie schweigt, wagt nicht, ihr Grüße zu senden und weiß nicht, wie sie ihre Achtung und Dankbarkeit ausdrücken soll, doch aus diesem kindlichen Schweigen spricht das Taktgefühl ihres kleinen Herzens. P. S. Indem ich diesen Brief schrieb, habe ich eine Großtat vollbracht, doch es ist für mich sowohl Erholung als auch Vergnügen! Diesmal bin ich sozusagen notgedrungen hierher gekommen. Es wäre mir lieber gewesen, zu Hause zu bleiben, auf meinem Diwan: doch augenblicklich habe ich kein Zuhause: die Zimmerdecken in meiner Wohnung hingen wie spitze Steine über meinem Kopf; die Dielenbretter spielten wie Klaviertasten eine Symphonie im Mäusegeschmack und unter den Füßen gähnten Abgründe; die Tapeten und die Teppiche, die meine alten Füße vor der Kälte bewahren sollten – alles hatte sich in Fetzen verwandelt, die bei der erstbesten Berührung zerfielen. Wie sie das in Ordnung bringen wollen, weiß ich nicht, bis zum August aber ist an eine Rückkehr nicht zu denken, auch die Öfen sind uralt. Der Hauswirt hat mir aber versprochen, alles instand zu setzen!

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In der Petersburger Umgebung etwas zu mieten, das wäre auf das gleiche hinausgelaufen wie in Petersburg zu bleiben. Das gleiche unbeständige Wetter, die gleiche Kälte wie in der Stadt und Ausgaben hat man auch nicht weniger, möglicherweise sogar mehr! Hier können sich zumindest die Kinderchen erholen, sie können baden gehen, gesunde Luft atmen und sich kräftigen – in 10, 15 Jahren werden sie mir dafür vielleicht dankbar sein, sollten sie mich nicht vergessen haben! Ich liebe diese Kinder immer noch, besonders Sanja, jede Liebe aber, sogar für ein fremdes Kind, kommt einen sehr teuer zu stehen. Dafür hilft sie aber wenigstens teilweise, ein wenig die Last des Lebens zu tragen und bis zum Ende zu erdulden! Vielleicht nicht mehr lange! Unsere guten Bekannten, die Deutschen, haben sich die Lippen geleckt, als ich ihnen Ihre Ankunft schmackhaft gemacht habe, Anatolij Fedorovič. Der taube Švejnfurt hat, natürlich vergeblich, die Ohren gespitzt, als ich ihm Ihren Namen aufschrieb, usw. Allerlei Leute reisen an, aber ich kenne niemanden, halte mich abseits und gehe allein spazieren. Nur ein gewisser Simanskij aus Moskau, ein dummes Rindvieh, will mir dauernd seine Bekanntschaft aufdrängen und redet auf mich ein, aber ich schüttle ihn jedes Mal ab. Immer und ganz der Ihre Gončarov 44 Gouv[ernement] Livl[and], Dubbeln, bei Riga, Gospodskaja ul., Haus Possel‘, den 28. Juni [18]83 Mein teurer Anatolij Fedorovič! Ich habe Ihnen einen langen, überaus langen Brief geschrieben und ihn an die Stasjul[evičs] adressiert, damit sie ihn Ihnen übergeben, Sie sollten ihn dann, nachdem sie selbigen dort beim Mittagessen allen zu Gehör gebracht hatten, mit nach Hause nehmen.217 Ich hatte gehofft, eine kurze Antwort von Ihnen zu erhalten, doch es ist schon eine geraume Zeit verstrichen, Sie aber haben mich noch mit keiner Zeile erfreut! Sind Sie gesund? Mir vielleicht aus irgendeinem Grund böse? Sind Sie überhaupt in Petersburg? Die beiden ersten Gründe würden mich betrüben, dass Sie aber verreist sind, nehme ich augenblicklich nicht an, denn vor einer Woche kam während des Konzerts im Actienhaus ein sauber rasiertes, überaus anständig aussehendes Alterchen zu mir und richtete mir einen Gruß von Ihnen aus. Es war Herr Matisen [Matthiesen?], Ihr Kollege. Da er aber, genau wie ich, am 1. Juni aus Petersb[urg] abgereist ist, hätte ich ihm ebenfalls einen Gruß von Ihnen ausrichten können.

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Er war es auch, der mir sagte, Sie würden bis zum August in Petersburg bleiben und den Herbst über entweder auf die Krim oder ins Ausland reisen: ich denke, wohl eher ins Ausland, wo sie sich vermutlich M[ichail] M[atveevič] und Ljub[ov‘] Isaak[ovna] anschließen werden – irgendwo an der Küste, allerdings nicht jener der Rigaer Bucht. Ich wünsche Ihnen eine gute, unbeschwerte Reise – wohin auch immer! Wie sehr ich mich auch freuen würde, Sie hier zu sehen, herbitten will ich Sie dennoch nicht: das Alter und die Krankheiten halten mich im Griff, alles erscheint mir öde und widerwärtig, dieses Jahr ist irgendwie missraten, schläfrig und matt, auch wenn sich viele Leute eingefunden haben und die Musik gut ist! Ich nehme an, dass alles wie immer ist, nur ich bin nicht der Alte. Ich wage weder zu baden, noch den Brunnen zu trinken, nehme lauwarme (tièdes) Wannenbäder von 23°, schlendere abends am Strand entlang, über den Sand, bis zum Mittagessen gehe ich, wegen der Motion, mit meiner kleinen Truppe in den Wald, während Aleks[andra] Iv[anovna] die okroška218 „zurechtmacht“ und die vollbusige, mollige Mar’ja anknurrt, dann schlummere ich und höre zu, wie das Fröschlein franz[ösisch] und deutsch liest und der Alte das „Lied vom weisen Oleg“ aufsagt.219 Von den Russen sehe ich niemanden und ich weiß auch nicht, wer überhaupt hier ist. Zu meinem Namenstag bekam ich aus Petersb[urg] drei Telegramme, darunter auch von den Stasjul[evičs], mit der Nachricht, dass sie heute oder morgen nach Marienbad abreisen wollen. Werden Sie sich ihnen anschließen? Am 24.220 brachten mir die Kinder Blumen, Sanja schenkte mir Pantoffeln, die sie heimlich bestickt hatte, und ihre Mutter einen Festtagskringel.221 Ich hatte zwei Piroggen bestellt, ein Bekannter schickte noch eine dritte, und ein Unbekannter sandte einen großen Blumenstrauß. Kurz, ein glänzender Namenstag! Lassen Sie von sich hören, teurer Freund: wohin werden Sie gehen? Oder wohin wird der Weg Sie dienstlich führen, das heißt, steht etwas in Aussicht? N. B. Gerade eben brachte man mir zwei Briefe: ich dachte, vielleicht von Ihnen? Aber es erwies sich, dass der eine von Mich[ail] Matv[eevič] war, der andere von den Nikitenkos, beides Ergänzungen zu den Namenstagstelegrammen! In der Hoffnung, dass Sie den Alten nicht vergessen, verbleibe ich immer Ihr Gončarov 45 [Dubbeln], Dienstag, den 2. August [1883] Bitten Sie doch, teurer Anatolij Fedorovič, sich selbst und A. E. Beneskritov, sich heute um elf Uhr, das heißt in zwei Stunden, auf meiner Veranda einzustellen, wo hundert Krebse auf Sie warten, die soeben gebracht wurden und im Topf ungeduldig darauf brennen, verspeist zu werden.

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Erinnern Sie A. E. Beneskritov daran, dass er versprochen hatte, zu Tee und Krebsen zu mir zu kommen, da er aber in drei Tagen abreist, wird nichts mehr daraus werden, falls Sie beide nicht heute vorbeikommen, denn auf dem Markt gibt es jetzt nicht oft Krebse. Et moi, je tiens, dass Sie ihn begleiten. Wenn ich es schaffe, gehe ich selbst kurz zu ihm, um ihn herzulocken. Nehmen Sie meinen Sondergesandten, den ich mit dieser Nachricht zu Ihnen schicke, bitte mit den ihm gebührenden Ehren auf, das heißt mit einer Abreibung.222 Die Zeitung brauche ich heute noch nicht, aber morgen. Ihr Gončarov 46 [St. Petersburg], Mittwoch, den 7. September [1883] Ich danke Ihnen für die liebe Nachricht, teurer Anatolij Fedorovič – ich hätte mich sonst heute vergeblich zu Ihnen auf den Weg gemacht. Morgen werde zumindest ich im Hôtel de France zu Mittag essen, selbst wenn Sie und Mich[ail] Matv[eevič] nicht kommen, denn ich wüsste nicht, wo ich sonst essen sollte. Falls Sie beide kommen und vor mir da sind, könnten Sie dann vielleicht ein gesondertes Zimmer nehmen, denn in den großen Gasträumen ist es immer voll, auch werden die Fenster geöffnet. Ich habe mich deshalb schon zweimal erkältet. Er wird wohl kaum kommen, wegen der Turgenevschen Bacchanalien:223 Grigorovič belauert ihn ja seit langem, um durch ihn die Kastanien aus dem Feuer zu holen. O, was für Albernheiten! Wie erbärmlich! Vor kurzem war Graf Kutuzov224 bei mir – einer der eifrigen Mitglieder des Puškin-Kreises: ich habe ihm von Ihrer Bereitschaft erzählt, sich anzuschließen: er und alle anderen sind begeistert. Er hat mich sogar gebeten, ihn zuvor mit Ihnen bekannt zu machen. Lassen Sie uns doch zu dritt in unserem Hotel essen gehen, ich könnte aber auch mit ihm in der kommenden Woche zu Ihnen kommen, vielleicht am Mittwoch. Ich würde es übernehmen, ihn zu benachrichtigen. Dann also – vermutlich – bis morgen Ganz Ihr Gončarov P. S. Ich habe noch immer Scherereien mit der Wohnung – bis zum 1. Oktober!!!

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47 [St. Petersburg], Freitag, den 2. Dezember [1883] Cher et très cher Anatolij Fedorovič. Ich werde morgen nicht dorthin gehen, folgl[ich] auch nicht bei Ihnen vorbeikommen. Überhaupt sind meine Nerven so sehr in Unordnung, dass ich nachts kaum schlafen kann. Deshalb ist es mir nicht nur unmöglich, neue Bekanntschaften zu schließen, ich ziehe mich auch allmählich von den alten zurück. Mein Smolensker Neffe225 (ich habe deren einige, sie sind in vier Gouvernements zerstreut) hat dort natürlich gesagt, ich sei begierig auf diese Bekanntschaft, mir aber sagte er, Monsieur und Madame Kulomz[in] beabsichtigten angeblich, mich zu besuchen: um letzteres abzuwenden, antwortete ich, ich würde ihrer Visite gern zuvorkommen, dann aber kam es zu einer Reflexion oder einer Reaktion, in deren Folge ich dies nicht mehr möchte, in der Annahme, auch den Kulomzins würde es ihrerseits so gehen.36 Soll Madame Kulomzina meinetwegen das Schlimmste über meine Beziehungen zu den Neffen denken,* ich denke mir mein Teil über sie, dass nämlich Onkel im Allgemeinen und ich im Besonderen von ihnen wenig Nutzen haben, statt dessen (um es mit den Worten meines verstorbenen Kammerdieners226 zu sagen, dem Mann von A[leksandra] I[vanovna]), nichts als Verluste,227 und wenn es auch keine materiellen Verluste sind, wie ich sie beispielsweise habe, so doch gewisse Unbequemlichkeiten, deren eine augenblicklich in Erscheinung tritt, nämlich der Wunsch, mich mit seinen guten Bekannten zusammenzubringen, um dadurch seine Nähe zu mir zu demonstrieren: d. h. mit dem Stern des Großonkels228 zu prahlen, da spielt es auch keine Rolle, dass ich selbigen gar nicht besitze. Er ist im Übrigen ein sehr netter junger Mann: alle, die ihn kennen, sind des Lobes voll, und er ist gern damit einverstanden, das Problem besteht nur darin, dass ich ihn kaum kenne, denn ich lebe schon ein halbes Jahrhundert nicht mehr in der Heimat, wie es, wenn Sie sich erinnern, ausführlich im Kommentar zu meinem Testament dargelegt ist.229 Jetzt fragt sich, warum ich ein Egoist sein soll, wie Madame Kul[omzina] im Brief an Sie vermutet hat, der nach Dubbeln adressiert war. Oder besser gesagt, wer von uns beiden ist der größere Egoist – er oder ich? Doch genug davon. Ich bedauere sehr, dass ich Ihnen vorgestern nicht gewisse Fragen stellen konnte, die mir auf dem Herzen lagen (sie betreffen einige der Sie bewegenden Probleme), doch wir waren nicht allein, es war unpassend. Gestern kam * Apropos, fragen Sie sie doch, in Ihrem eigenen Namen natürlich, was das eigentlich ist, ein Neffe, sollte sie es richtig definieren, so wird sie mich vielleicht keinerlei Untaten mehr bezichtigen. Doch sie wird diese Frage wohl kaum beantworten können, so wie auch ich einst eine mir gestellte Frage nicht beantworten konnte, was ein Teufel sei, nicht Satan, sondern ein Teufel? „Weiß der Teufel, was das ist“, antwortete ich verzagt (Anm. von Gončarov).

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Evg[enij] Is[aakovič] Utin230 bei mir vorbei und entführte mich zum Mittagessen zu sich, er sagte, auch Sie würden da sein, aber Sie waren es nicht! Auf Wiedersehen, mein liebster Anatolij Fedorovič, mein wahrer Neffe – d. h. Sie. Ihr Gončarov 48 [St. Petersburg, den 31. Dezember 1883] Ivan Aleksandrovič Gončarov237 beglückwünscht den teuren Anatolij Fedorovič zum Neuen Jahr, sendet ihm sein Buch (anlässlich des Jubiläums, am 31. Dez[ember] des vergangenen Jahres) und bittet um die Adresse von P. B. Michajlovskij, der bei ihm war, desgleichen um den Vornamen und Vatersnamen von Michajlovskijs Gattin. 49 Russland, Riga, Dubbeln, Gospodskaja ulica, Haus Possel‘, den 14./26. Juni 1884232 Hier also bin ich: im selben Sommerhaus, auf derselben Veranda, auf der wir beide, teurer Anatolij Fedorovič, geplaudert, Tee getrunken und Zigarren geraucht haben, und von wo ich Ihnen diese Nachricht schreibe. Ihren Brief habe ich heute, am 14., erhalten, obwohl er, wie dem Poststempel zu entnehmen ist, schon am 6. in Petersb[urg] ankam. Die kaum des Lesens mächtige alte Frau, die meine Petersb[urger] Wohnung hütet, hat abgewartet, ob nicht noch weitere Briefe kommen, und mir alle, die kamen, auf einmal geschickt, darunter auch ein Telegramm aus dem Ausland, das nebenbei bemerkt unnötig war, mit Glückwünschen zu meinem Geburtstag am 6. Ihre Pläne sind wunderbar, am wunderbarsten Ihre beabsichtigte Seereise von Holland nach Riga und folgl[ich] nach Dubbeln. Doch … doch hier will ich nicht weiterschreiben, wie gestern an Mich[ail] Matv[eevič],233 der mich von diesen Ihren Plänen benachrichtigte, dass letztere wegen Ihrer sprunghaften, empfänglichen Natur von niemandem, nicht einmal von Ihnen selbst, ernst genommen werden können, und es so kommen kann, dass Sie sich plötzlich statt in Holland oder Riga, auch für Sie selbst überraschend, irgendwo in Aranjuez234 wiederfinden, oder an der Adria, in einer „geheimnisvollen Gondel mit Venedigs holder Maid im Arm“.235 Doch Gottseidank leben Sie still und zufrieden dort, wo Sie jetzt sind! Möge das Schicksal Ihnen weiterhin wohlwollend gesonnen sein und sämtliche Ihrer Wunden durch Stille und Vergessen kurieren.

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Sie fragen nach den Stasjulevičs. Gestern kam ein Brief von ihnen, und auch davor einer und ein Telegramm, unter anderem auch mit einem Gruß von Ihnen. Ich danke Ihnen allen, danke, dass Sie den alten Mann nicht vergessen haben. Sie wollen um den 18. nach Karlsbad fahren. Ich trinke hier den Marienbader Brunnen, an die 15 Flaschen, nicht mehr, um mein Gewissen zu beruhigen und um mir nicht Vorwürfe machen zu müssen, ich sei fahrlässig, sollten sich meine Schwindelanfälle wiederholen. Außerdem habe ich mein krankes Auge mit einer Hose verletzt, meiner eigenen natürlich – ich bin mit einem Metallknopf direkt an den Augapfel geraten. Er ist gerötet und schmerzt schon ein paar Tage. Stasju[levič] amüsiert sich, dass sich meine Hose sozusagen in ein Selbstmordinstrument verwandelt hat!236 Hier ist es ruhig, es ist sehr wenig Betrieb, viele Sommerhäuser stehen leer und die Inhaber weinen.237 Vielleicht werden die Sommerfrischler nach dem 15. eintreffen, wenn die Prüfungen in den Schulen vorüber sind. Der Alte General Vasja ist auch noch nicht da. Erst gestern haben sie ihn von der Schule in die Eisenbahn gesetzt, gegen Abend werde ich nach Riga fahren, um ihn vom Bahnhof abzuholen, ich will im Hotel übernachten und ihn am Vormittag herbringen. Die beiden Mädchen und auch ihre Mutter sind Gottseidank gesund. Sanja hat während der Prüfungen einen ganzen Monat lang so angestrengt gearbeitet, dass sie kaum zu Kräften kommt. Sie hatte in Riga sogar einen nervösen Anfall mit Krämpfen und hat damit ihrer Mutter und mir einen Schrecken eingejagt, doch Gottseidank ist es überstanden. Jetzt ist sie in die 2. Klasse versetzt worden. Das Fröschlein läuft herum, kreischt und lacht. Alle grüßen Sie im Chor und bitten Sie zu kommen. Die Actienhaus-Deutschen sind sämtlich an Ort und Stelle. Sie haben mich alle herzlich empfangen und sich noch herzlicher nach Ihnen erkundigt. Und Gr[af ] Saltykov (er ist hier und sie auch) hat gleich bei der ersten Begegnung verkündet, dass man Sie hier erwarte und die Wohnung für Sie bereitstehe. Die „Trappisten“ haben dies bestritten und gesagt, es sei zunächst Ihre Absicht gewesen, dann aber hätten Sie es sich anders überlegt. Von den Russen hat sich die Baronin Majdel‘ lebhaft für Sie interessiert, die frühere Schmidt. Sie wohnt mit ihrem Gatten im Valuev-Park, in einem kleinen Cottage.238 Ihre Mutter und Schwester sind auf der Durchreise zu ihrem Gut für eine Woche bei ihr zu Gast, und sie spazieren als Gruppe umher. Zwei, drei Generäle sieht man noch, sonst niemanden. Dafür gibt es viele Hunde und auch Schutzleute. Nie zuvor gab es hier so viel Polizei, zu deren Gunsten jetzt von jedem Gast im Sommer sogar 50 Kopeken Gebühr erhoben werden. Das Wetter ist erträglich, hin und wieder regnet es. Bis jetzt badet niemand, außer dem unerschrockenen Bljaze und den Juden.239 Um den 20. erwarte ich aus Vitebsk den Arzt Lazarev (er ist dort stellvertretender Inspektor der Medizinalverwaltung), ich habe ihm angeboten, sich in

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einer der Mansarden meines Sommerhauses einzuquartieren. Es ist ein guter, angenehmer, philosophisch gebildeter, doch einfacher Mensch, und er liebt lange Spaziergänge. Dann habe ich jemanden, mit dem ich zum Strand und in den Wald gehen kann. Und wenn Sie noch kommen würden, dann würden aber die Krebse aufmarschieren! Um diese Zeit werde ich nämlich die Trinkkur beenden. Gestern erhielt ich aus Baden-Baden einen Brief von S. A. Nik[itenko]. Sie schreibt, Bobor[ykin] sei dort gewesen und dann verschwunden, nach Italien hinuntergefahren, von wo er wieder nach Kissingen hinaufgehen will, wohin auch sie fährt. Doch sie nimmt sich vor ihm in Acht. Auch ich schaue mich beim Spaziergang immer um, ob nicht Vera Petr[ovna]240 hinter einem Busch hervorspringt, doch Gottseidank ist sie nicht zu sehen, hoffentlich bleibt es so! Eine unsichtbare Flora (es wird doch nicht Vera Petr[ovna] sein!) schickt mir dauernd Blumen wie im vergangenen Jahr: am Sonntag bekam ich einen ganzen Korb voll. Na, gebe Gott ihr Gesundheit! Das Alter bringt es mit sich, dass ich mich nicht einmal langweile, obwohl ich nichts tue. Die Altersgleichgültigkeit bewahrt mich vor diesem unheilbaren Übel, der Langeweile; von Zeit zu Zeit schaue ich lediglich in der Tasche nach, ob es für alles reicht, dann lausche ich, ob es in der Wirtschaft keine Perturbationen gibt, ob alles seinen Gang geht: mit dem Samowar, der Suppe usw., und bin zufrieden. Alles Übrige ist nicht der Rede wert, getreu der Redewendung: Man muss sich schließlich nicht um jede Ohrfeige reißen. Leben Sie wohl, teurer Freund, ich glaube, ich habe eine Menge Unnützes zusammengeschwatzt: nun verstumme ich bis zu Ihrer, hoffentlich baldigen, Antwort! Aufrichtig, immer Ihr I. Gončarov 50 [St. Petersburg], den 23. Aug[ust 1884], Mochovaja 3 Teurer Anatolij Fedorovič! Man sagt, Sie seien schon lange hier, ich aber bin erst am Sonntag, den 19. Aug[ust] zurückgekommen, selbstverständlich mit Husten, Schnupfen usw. Natürlich möchte ich mich in erster Linie mit Ihnen treffen, doch wo und wie, das weiß ich nicht. Ich hatte mehrmals vor, bei Ihnen vorbeizukommen, doch Sie anzutreffen ist schwierig. Wenn ich auf gut Glück komme, muss ich in den dritten Stock steigen,

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denn unten beim Portier etwas über Sie zu erfahren ist ebenfalls schwierig: er ist ja dauernd beim Abendessen! Wo könnte ich Sie nur treffen? Vormittags sind Sie beschäftigt, folgl[ich] wäre es unbescheiden zu erwarten, dass Sie zu mir kommen, abends aber bin ich vor zehn oder elf Uhr nicht zu Hause. Außerdem herrscht in meiner Wohnung noch immer Unordnung, die Tische stehen auf den Diwanen, die Stühle auf dem Bett und ich selbst habe mein Obdach beinahe unter der Zimmerdecke aufgeschlagen. Einen Ausweg gibt es noch – Sie könnten zwischen sieben und halb neun Uhr einen Abstecher ins Hôtel de France machen, zum Essen, oder einfach so, nach Ihrem Mittagessen,241 kurz, wie Sie können und wie es Ihnen passt. Um diese Zeit treffen Sie mich dort an, ich erwarte Sie voller Ungeduld und mit einer freundschaftlichen Umarmung. M. M. Stasjul[evič] schreibt, er wolle am 1./13. September242 ebenfalls im Hôtel de France essen, und hat dort auch Ihnen und mir ein Rendezvous in Aussicht gestellt. Er ist imstande, sein Versprechen zu halten, wenn es von ihm und nicht von der Quarantäne im Ausland243 abhängt. Auf Wiedersehen denn, ich hoffe, Sie lassen mich nicht im Ungewissen schmoren und stellen sich selbst ein oder stellen mir ein Wort über sich in Aussicht. Immer Ihr Gončarov 51 [St. Petersburg], Sonnabend, den 2. Jan[uar 18]85 Über Ihre Ernennung244 freue ich mich unsagbar! Ich habe die ganze Zeit gewartet, morgen wollte ich mich selbst erkundigen gehen. Die Bürde der Lebenserfahrung hat ihr rettendes Feuer entzündet, und Gott hat sie aus dem Strudel herausgeführt und Ihnen gewiesen, wohin und wie Sie gehen sollen! Mit Gott denn, immer weiter geradeaus auf Ihrer geradlinigen Bahn, ohne vom Wege abzukommen! Beten Sie zu Ihm, folgen Sie – als Richter – der Wahrheit und bewahren Sie – als Mensch – ein reines Herz, bis zum Grab! Sie denken, dass ich das sage, nein, das würde ich mir nie erlauben. Das sagt Ihnen von dort Ihr Vater, mein einstiger Altersgenosse und Kamerad! Ich übermittle lediglich seine Stimme! Ich würde selbst vorbeikommen, doch ich habe eigene Sorgen: Lenočka hat Scharlach, sie liegt im hinteren Zimmer bei ihrer Mutter, der Doktor kommt jeden Tag vorbei. Er sagt aber, es sei eine leichte Form.245

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Ich gehe nirgendwohin aus, obwohl ich nicht unbedingt an die Ansteckungsgefahr glaube, da ich mir aber keine Vorwürfe einhandeln will, meide ich die Familienhäuser einstweilen. Sanja und Vasja sind nicht da; Sanja hat die letzten Tage bei den Nikitenkos verbracht und der Alte ist in der Schule. Somit halte ich in gewisser Weise Quarantäne ein. Ich umarme Sie, teurer Anatolij Fedorovič, und gratuliere Ihnen von ganzem Herzen. Ihr Gončarov P. S. Grüßen Sie die Bewohner der Galernaja246 und erklären Sie ihnen, weshalb ich nicht komme. 52 [St. Petersburg], den 3. Febr[uar 18]85 Ich danke Ihnen, teurer Anatolij Fedorovič, dass Sie mir die Nr. 5 der „Nedelja“247 mit Ihrem Beitrag über Jazykov248 geschickt haben. Ich hatte, gleich nachdem ich aus Ihrem Haus getreten war, bedauert, Sie nicht um diese Ausgabe gebeten zu haben, denn ohne sie gelesen zu haben, hätte ich aus Angst vor Überschneidungen nicht über Jazykov schreiben können. Jetzt aber, nach der Lektüre Ihres Beitrags, sehe ich, dass mir nichts zu schreiben bleibt: Sie haben die Persönlichkeit des Verstorbenen so verdichtet, klug und richtig skizziert, dass mir nur bliebe, Ihren kleinen Artikel mit Details und Kleinigkeiten zu spicken, die heute niemanden mehr interessieren. Möge die Asche meines guten Bekannten in Frieden ruhen! Meine „Blume auf dem Sarg Agatons“249 würde meinen alten Freund nicht vor dem Vergessen bewahren, das mildtätig ist, wie ich nebenbei bemerken will, und nicht jedem beschieden, worum man ihn nur beneiden kann. Die Erinnerungen an bekannte Persönlichkeiten des öffentl[ichen] Lebens werden meist von einer derartigen Beimischung von Bosheit und Schmutz begleitet, dass vom Frieden ihrer Asche keine Rede sein kann! Jazykovs aber kann man wirklich nur im Guten gedenken: Feinde hatte er keine, unsaubere oder böse Taten hat er nicht begangen und zu allen, die ihn kannten, war er freundlich, nett und liebenswürdig! Was will man mehr: wenigen ist ein solches Los bestimmt – ohne Furcht und Tadel250 im Grab zu schlafen! Friede im Grab und mildtätiges Vergessen in der Welt! “Schlafe friedlich, du Toter, im Sarge, genieße das Leben, du Lebender!“251 Ich wende mich an Sie, den „Lebenden“, und wünsche Ihnen, das Leben zu genießen, in all seiner Vielfalt und Fülle! Sie sind jetzt „ein großes Schiff “ und laufen aus „zu großer Fahrt“!252 Möge Gott Ihr Schiff auf einen guten, richtigen und direkten Weg lenken und Ihr Ohr und Ihr Herz vor „erlogenen Worten“253 bewahren, die heute öfter als sonst

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irgendwo in den Mauern der Gerichte ertönen, und einen gerechten und aufrechten Richter aus Ihnen werden lassen, wie Samuel der Israelit.254 Amen. Immer Ihr Gončarov P. S. Wenn Sie einen Kurier vorbeischicken, lasse ich ihm die Ausgabe der „Nedelja“ aushändigen. 53 [St. Petersburg], den 19. Mai [zwischen 1879 und 1886] In der selben niedergeschlagenen Verfassung, in der Sie waren, teurer Anatolij Fedorovič, als Sie gestern gingen, blieb auch ich zurück, als ich wieder allein war. Ich habe darüber nachgedacht, wie es wohl dazu gekommen sein mochte, insbesondere gestern, da ich mich an den anderen Tagen doch besser gefühlt hatte, zum Beispiel als wir zusammen im Zoolog[ischen] Garten waren, erinnern Sie sich? Heute Morgen hat sich die Ursache aufgeklärt: Gewitter, Regen, Temperaturrückgang, kurz ungünstige Luftverhältnisse. Bei Ihnen, bei mir und bei vielen, vielen anderen äußert sich das in Niedergeschlagenheit, d. h. die Nerven leiden.255 Es ist die Krankheit des Jahrhunderts – Nevrosismus oder névrosisme, wie die Franzosen sagen. Die Nieren oder die Leber haben damit nichts zu tun, oder wenn doch, so verstärken oder erschweren sie lediglich die Wahrnehmung oder die Nervenreflexe in bestimmter Weise. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, und nutze deshalb die Gelegenheit (da Aleks[andra] Ivan[ovna] in meinem Auftrag in das von Ihnen bewohnte Haus geht), Ihnen diese Zeilen zu schreiben, damit Sie sich den gestrigen Zustand, der uns beide betraf, gut merken und auch in Zukunft darauf achtgeben. Mir scheint, Sie haben sich unnötig an Ihren Nachbarn, den Doktor, gewandt. Der eine Doktor wird Sie wegen der Nieren behandeln, ein anderer die Ursache in der Leber suchen usw., und jeder wird seinen Brunnen und seine Arznei empfehlen. Dabei liegt es einzig an den Nerven, die sowohl bei Ihnen als auch bei mir wie bei jedem Erdenbewohner durch die verschiedenen Perturbationen des Lebens angegriffen sind, außer vielleicht bei grobschlächtigen und hartgesottenen Charakteren! In dem einen Kurbad behandelt man Ihre Nieren, in einem anderen Ihre Leber, dann aber sehen Sie zu Ihrem Erstaunen, vielleicht auch zu dem des Doktors, dass „Niedergeschlagenheit und Nervosität“ wie eh und je auftreten, vielleicht sogar noch heftiger, denn der Brunnen, der reinigend auf das Blut oder den Magen wirkt, schwächt den Organismus in gewissem Grade. Dies alles mache ich seit etwa fünfzehn Jahren durch und bin zu dem Schluss gelangt, dass zerrüttete, angegriffene Nerven nicht heilbar sind (weil man dafür ra-

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dikal sämtliche Lebensumstände im irdischen Jammertal verändern müsste, so zum Beispiel müsste man Kummer, Unheil, Ängste abschaffen und auch Kälte, Regen und überhaupt das Wetter), doch man kann und sollte sie durch Erholung in angenehmem Klima beruhigen, willkürliche, das heißt von einem selbst abhängende Erschütterungen vermeiden, sich zum Beispiel nicht dem Glücksspiel hingeben, keine heftigen Liebesdramen erleben usw. Kurz, sich beobachten, nicht mit Heilbrunnen und Medikamenten vollstopfen, und sich auch hochprozentiger Getränke enthalten und zur Nachtzeit nicht wach bleiben. Sie sind noch so jung, dass Sie Linderung finden werden! Ihr I. G. 54 Gouv[ernement] Livl[and], Dubbeln, bei Riga, Landhaus Possel‘, den 30. Juni 1886 Rechtzeitig, das heißt genau am 24. Juni, erhielt ich Ihren teuren Gruß, lieber, guter Anatolij Fedorovič, ebenso das offene Schreiben,256 doch (o Graus!) ich habe Ihnen noch nicht geantwortet, wie sehr ich es auch wollte! Entschuldigen Sie mich großmütig – in Ihrem Brief war ja weder der Ort angegeben, von wo er geschrieben wurde, noch, wohin ich Ihnen schreiben soll. Sie haben sich in Richtung Merrekküll 257 auf den Weg gemacht, Frau Baggovut aber sagte, Sie suchten hier eine Unterkunft. Entschuldigen Sie – Sie haben mir nicht die Adresse Ihrer Stadtwohnung mitgeteilt:258 ich hätte sonst zumindest dorthin schreiben können, aber ich wusste auch nicht, ob Sie in Petersb[urg] waren, als Sie mir schrieben oder schon auf Reisen. Ich ging noch einmal zu der Dame, um mich zu erkundigen, aber sie wusste es nicht. Senator Baturin259 sagte, Sie seien in die Karavannaja umgezogen (das wusste ich auch ohne ihn), ins Haus irgendeiner Fürstin, deren Namen ich sogleich wieder vergessen habe, er weiß aber nicht, wo Sie augenblicklich sind. Entschuldigen Sie schließlich auch, dass ich nicht weiß, wo Narva liegt, d. h. im Gouv[ernement] Petersb[urg] oder im Gouv[ernement] Estl[and]. Der Post vertraue ich nicht und in der neuesten postalischen Geographie bin ich nicht bewandert, die Bücher sagen das eine, die Postboten aber haben eine andere, eigene Geographie – und sie verlangen Genauigkeit. Gestern bin ich zum hiesigen Postamt gegangen, um mich zu erkundigen, zu welchem Gouvernement man Narva zählt, doch sie, d. h. die Post, war geschlossen, denn hier feiert auch die Post Peter und Paul.260 Ich muss sicher gehen, dass der Brief ankommt, denn ich kann kaum die Feder übers Papier führen – in meinen Augen flimmern gelbe Pünktchen. Deshalb habe ich beschlossen, einen Einschreibebrief zu schicken: vielleicht erreicht er Sie. Narva

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liegt am Finnischen Meerbusen,261 das weiß ich mindestens seit 60 Jahren, und seit zehn oder fünfzehn Jahren ist mir klar, dass es an der Baltischen Eisenb[ahn]linie liegt. Unsere Postkontore aber erkennen nichts dergleichen an, sie wollen das Gouvernement wissen! Für all dies bitte ich Sie, mich zu entschuldigen!262 Wie gut Sie daran getan haben, nicht herzukommen, und wie schlecht von mir, dass ich gefahren bin! „Langeweile, Kälte und Sand!“263 Zum Meer zu gehen verbietet sich. Gestern konnte ich es nicht einmal sehen: so sehr tobte es und der plage war voller Schlick, es hat auch wieder ein Boot ans Ufer gespült, von den Ruderern aber fehlt jede Spur! Niemand wagt sich an den Strand. Alle sitzen da, hören dürftige Musik und verspeisen Zwiebelklopse, Karbonaden und Ferkelbraten!264 Das einzig Gute ist, dass es wenig Fliegen gibt und dass B[oborykin] nicht da ist. Er sollte doch am Ende nicht gar bei Ihnen sein! Dafür ist allerdings Vera Petr[ovna] hier eingetroffen, welk, unscheinbar – mit ihrem Mosk[auer] Mitrofan,265 der stark an einen Jockey oder einen Vorreiter266 aus alten Zeiten erinnert, und mit einem erwachsenen Püppchen, ihrem hübschen Töchterchen. Ich habe höchstens fünf Minuten mit ihr gesprochen, und auch das ungern. Sie schreiben, dass man mich „anscheinend liebt“ – ach, nein: niemand kann mich leiden, und ich habe das auch vollkommen verdient bei meiner Ungeselligkeit und Unduldsamkeit. Und jetzt, mit fünfundsiebzig Jahren, bin ich endgültig ein alter Griesgram geworden, fast wie der Baron Wolf. Dieser kleine, durch irgendetwas verbitterte alte Mann läuft allein durch den Wald und tut so, als habe er durch eine Bronchitis die Stimme verloren, damit man ihn nicht ins Gespräch verwickelt. Ich aber winke nur, wenn ich Bekannte sehe, manchmal auch mit dem Stock, damit sie fortgehen. Durch irgendetwas verbittert, habe ich über den Baron gesagt, mein Gott! Durch das Leben doch. Wenn man diese Last siebzig Jahre lang trägt, verbittert man notgedrungen: und je nach Temperament weint man entweder oder man schimpft oder prügelt sich. Gerührt betrachte ich jene gebrochenen und vom Leben gezeichneten alten Männer und Frauen, die an Kirchenmauern gekauert oder in ihren Kämmerchen vor dem Heiligenbild still und klaglos ihre Bürde tragen und im Leben und hoch über dem Leben nur das Kreuz und das Evangelium sehen, einzig daran glauben und darauf hoffen! Weshalb sind wir nicht so! „Das sind Selige, die da geistlich arm sind“,267 sagen die klugen Denker. Nein – es sind Menschen, jene, denen das zugänglich ist, was den Klugen und Vernünftigen verschlossen bleibt. Ihrer ist das Himmelreich und sie werden Gottes Kinder heißen!268 Sie werden sagen: was faselt der alte Esel da! Will er vielleicht in die Fußstapfen des Grafen Tolstoj treten: wo das Pferd mit seinem Huf hintritt, dort kneift, wie man sagt, auch der Krebs mit seiner Schere!269

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Nein – ich bin irgendwie niedergeschlagen, deshalb ist mir das unwillkürlich entschlüpft! An allem ist das Wetter schuld: wir hängen von ihm ab, mit Haut und Haar – ob wir glücklich sind oder fröhlich oder traurig oder gut oder böse! Alles lebt und atmet nach dem Barometer und dem Thermometer, leidet an erblichen Unzulänglichkeiten und Krankheiten, träumt aber von der Freiheit, vom Glück, das es nicht gibt, und das einem niemand versprochen hat. O, was für ein Haufen Gesindel wir doch alle sind, das heißt die Menschen.270 Wenn es mir schlecht geht, tröste ich mich damit, dass ich, welche, d. h. gute, Bedingungen mir auch immer beschieden sein würden (Reichtum etwa, Ehre, ein wohlhabendes Leben usw.), mich dennoch schlecht fühlen würde, und sofort geht es mir besser. Leicht aber ist mir fast nie zumute, und sollte es auch nicht sein. „Der einfache Mann wird sonst übermütig“, sagt der Kutscher bei Gogol‘, man muss ihn auspeitschen.271 So peitscht man uns denn aus! Da haben Sie meine ganze Dubbelner Weisheit, herbeigeweht vom kalten Meereswind, von anderen Winden, vor allem aber von der Zugluft! J’ai vidé mon sac? Ob es bei Ihnen in Hungerburg272 besser ist? Ich hoffe, Sie leiden dort keinen Hunger, wie der Name vermuten lässt? Hier bereitet Aleks[andra] Iv[anovna] wie üblich sehr gute Dickmilch zu, vor kurzem gab es auch Krebse, von denen ich jedes Mal zu viele esse, und dabei selbst rot anlaufe wie ein Krebs und an Sie denke! Ohne Sie essen die Kinder sie allerdings nicht: sie und ihre Mutter grüßen Sie so warmherzig, dass ich ganz neidisch werde. Ich habe Sie mit der falschen Kunde begeistert, dass Sie kommen wollen, dann aber zogen sie lange Gesichter, als sie erfuhren, dass daraus nichts wird. Vasja ist auch traurig, dass Beneskritov nicht da ist. Ich habe am 24. Juni von ihm ein Telegramm erhalten. Von Stasjulevič ist ebenfalls ein Brief gekommen und ein Telegramm. Bis jetzt konnte ich noch niemandem antworten, ich bin alt und schwach geworden. Ach, weshalb nur ist es Sommer geworden, und weshalb bin ich hergekommen! Das wiederhole ich niedergeschlagen ein ums andere Mal. Was soll nur aus mir werden und was aus diesen schon großen, mir fremden Kindern, die ich aber noch immer liebe? Sie sagen, ich werde gebraucht: ach, dieses Gebrauchtwerden! Man sollte bald ein anderes Onkelchen für sie finden, ich bin müde und kann nicht mehr.273 Was ist das? Murren?!274 … Tsss … Das wage ich nicht, ich schweige und fahre fort, die Pflicht eines Menschen zu erfüllen, der … gebraucht wird, wie es die Vorsehung275 will! Sie lesen jetzt also tatsächlich die Fregat Pallada? – das ist doch sicher ein Scherz? Ich dagegen kann nicht einmal den Namen dieses Schreiberlings276 Gončarov ertragen. Das einzige Gute an ihm ist, dass er an Sie denkt, Sie liebt und Sie verehrt.

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Bisher habe ich noch kein einziges Bad im Meer genommen, und das wird sich wohl auch nicht ändern! Ich warte wieder auf ein liebes Wort von Ihnen Ihr Alterchen P. S. Gestatten Sie noch ein Wort über das Gebrauchtwerden: wenn Sie mir all das verzeihen, was ich auf der 1. Seite geschrieben habe, so verzeihe ich Ihnen, dass Sie mich einen Menschen genannt haben, der gebraucht wird. Und wenn ich mich beschwere, dann höchstens bei Ljubov‘ Isaak[ovna], unserer gemeinsamen Freundin, und auch dies über ihren Mann, auf direktem Wege, das wäre unpassend. Menschen, die gebraucht werden, das sind doch Subjekte, die man für sich einnehmen will, die man bewirtet, denen man Geschenke macht usw., das heißt, sie werden gebraucht, solange Bedarf da ist, wenn man sie aber nicht mehr braucht, laufen alle fort! Und mich haben Sie in diese Reihe gestellt! Wie sehr ich mich auch bemüht habe, geistreicher konnte ich es nicht ausdrücken, frei nach dem Sprichwort: „que la plus belle fille ne donne que ce qu’elle a“. Nun aber leben Sie wohl. Gott gebe Ihnen Kraft und Gesundheit! Für mich kommt wohl bald die Zeit zu vermodern, ich spüre, dass ich mich dieser Schwelle nähere.277 Ich hätte auch gar nichts dagegen, Aleks[andra] Iv[anovna] aber bittet mich (ganz im Ernst), noch ein Jährchen zu warten, bis Sanja das Gymnasium beendet hat – ich werde gebraucht, sagt sie. Ich habe es versprochen.278 Hier ist ein gesunder, strahlender I. M. Sorokin mit seiner Frau eingetroffen, sogar zwei Sorokins: der andere ist Pädagoge und Literat, so etwas in der Art. Er ist so groß wie A. V. Golovnin279 und findet, man könne hier nicht baden, es sei zu seicht! Auf Wiedersehen Ganz Ihr Gončarov Verzeihen Sie, dass ich Ihre beiden Briefe mit einem einzigen beantworte, doch mit was für einem: er reicht für drei Briefe. Ob Sie ihn wohl erhalten werden? 55 [St. Petersburg], den 28. Oktober 1886 Erinnern Sie sich an den kleinen, lahmen, gütigen und freundlichen Jazykov,280 teurer Anatolij Fedorovič, dessen Sie in Ihrem Nachruf in der „Nedelja“ so warmherzig und feinfühlig gedachten?

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Heute war seine Witwe hier, sie ist meine Gevatterin (ich bin Pate ihres Sohnes Andrej), sie traf mich aber nicht zu Hause an und hinterließ diese Nachricht, die ich im Original beilege. Sie wendet sich darin, wie Sie sehen werden, über mich um Hilfe an Sie. Einer ihrer Söhne (sie hat vier Söhne und eine Tochter), Sergej, er ist verheiratet und hat Kinder, arbeitet in der Provinz, in Čerepcov wohl, ich weiß es nicht genau, offenbar im Gouv[ernement] Černig[ov], als stellvertretender Staatsanwalt. Vermutlich der Kinder wegen würde er gern nach Novgorod übersiedeln, wo er übrigens auch selbst aufgewachsen ist und zur Schule ging, als sein Vater dort arbeitete. Vielleicht möchte er auch in der Nähe seiner Mutter sein, um mit ihrer Hilfe leichter die familiären Pflichten zu bewältigen. Genaueres weiß ich nicht, doch ich kann meiner Gevatterin Ekaterina Aleksandrovna die Bitte um Ihre gütige Aufmerksamkeit nicht abschlagen, und bitte Sie auch meinerseits, ihr bei der Versetzung ihres Sohnes zu helfen, sollten Sie darauf in irgendeiner Weise Einfluss haben. Geruhen Sie doch, mir über das Diesbezügliche (wie es in der Kanzleispr[ache] heißt) zwei Worte oder zwei Zeilen mitzuteilen, damit ich ihr eine Antwort geben kann, denn sie hat angekündigt, noch einmal zu mir zu kommen. Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie mit dieser Angelegenheit behellige. Zum guten Schluss danke ich Ihnen herzlich dafür, dass Sie mir Ihre letzte Rede geschickt haben. Ich hatte sie schon in der Zeitung gelesen, allerdings nur mit Mühe, d. h. für meine Augen war es wegen der kleinen, unleserlichen Schrift sehr anstrengend, jetzt habe ich sie noch einmal mit Vergnügen wiedergelesen. Mehr als alles andere interessiert mich natürlich ihre literarische Seite, das heißt die kunstvolle Anordnung der Fakten und die wunderbare Sprache und erst dann die juristisch-psychologische Analyse des Problems! Ach, dachte ich, was für ein Schriftsteller, Psychologe und beobachtender Belletrist sich in diesem juristischen Dickicht verbirgt – welchen Einfluss er auf einen großen Leserkreis haben könnte, wo ihn jetzt doch nur verhältnismäßig wenige lesen! Auf ein baldiges Wiedersehen, wie ich hoffe: jetzt sind unsere gemeinsamen Bekannten wieder vollzählig! Ihr I. Gončarov 56 [St. Petersburg], den 11. Januar 1887 Guter, teurer Anatolij Fedorovič! In der Neujahrszeit erhielt ich Ihr liebes Schreiben mit den innigen Grüßen und wollte von Herzen gern antworten, doch wohin? Als Absender ist Moskau angegeben, aber nicht die Adresse, wo genau Sie Ihr Nest eingerichtet haben.

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Ich weiß auch jetzt noch nicht, wo Sie sich befinden, sind Sie zurück, sind Sie gesund? Ich habe wieder meinen elenden Husten, die chronische Schwächung des linken Lungenflügels bewirkt diesen Husten sogar bei der kleinsten Erkältung. Wenn es warm wäre, würde ich mich erholen, wie im September, jetzt aber, im tiefsten Winter, in dieser nicht endenden finsteren Nacht und der Frostperiode, kann ich den Husten nicht loswerden. Viel reden darf ich nicht, weshalb ich mich wie ein Einsiedler zurückgezogen habe und niemanden empfange, außer zwei, drei Nahestehenden, um den Husten nicht durch das Sprechen zu reizen und die angegriffenen Nerven nicht zu ermüden. Aus dem Haus gehen kann ich nur in den Vormittagsstunden, wenn es nicht kälter als fünf Gr[ad] minus ist. Aber das Sitzen hinter verschlossenen Türen und die Unmöglichkeit, mich mit kaltem Wasser abzureiben, bringen es mit sich, dass die Blutzirkulation stockt, dass ich Schwindelanfälle bekomme und Ähnliches. Ich bin sehr schwach geworden, esse wenig und bin niedergeschlagen. Dies ist meine Lage! Indessen aber lädt man mich hierhin ein und dorthin, bald in die Puškin-Kommission,281 bald in den Zirkel der Liebhaber der Bühnenkunst, bald belästigt man mich (als hätten sie sich abgesprochen) mit der Bitte um die Zustimmung zur Übersetzung meiner Werke. Ich muss Absagen schreiben, mich herausreden: doch meine Kräfte sind begrenzt, auch darf ich das Auge nicht überlasten! Denen aber ist es egal, sie wollen nichts davon wissen, dass ich 75 Jahre alt bin, dass ich schon der Vergangenheit angehöre, dass mich mit dem Neuen und Neuesten der Gegenwart schon nichts mehr verbindet. Das liegt alles hinter mir! Erst gestern forderte mich Vejnberg282 (ach, der durchtriebene Vejnberg) schriftlich dazu auf, ich möge meinen Namen hergeben, um ein Telegramm an Boborykin nach Moskau zu unterschreiben, wo man ihm ein Essen geben will. Ich werde ablehnen müssen, und das wird natürlich Missfallen erregen. Niemand versetzt sich in meine Lage, sie zerren an mir herum wie an einer alten Perücke, ganz wie es ihnen passt. Vor allem bedauere ich, dass ich nicht in die Galernaja zu unserer gemeinsamen guten Freundin Ljubov‘ Isaak[ovna] gehen kann.283 Ich versuche allenfalls abends aus dem Haus zu gehen und ein paar Schritte zu laufen, komme aber jedes Mal verfroren zurück, und nachts huste ich dann. Mich in weit entfernt liegende Gegenden vorzuwagen – daran ist augenblicklich nicht einmal zu denken, insbesondere abends nicht. Aus diesem Grund war ich auch nicht beim Jubiläum meines Freundes Pos’et,284 sondern habe ihm nur geschrieben­­­­. Mich[ail] Matv[eevič] und Sof ’ja Al[eksandovna] Nikit[enko] dringen bisweilen zu mir durch, denn mit ihnen brauche ich nicht viel zu reden. Sollten natürlich Sie vorbeikommen wollen, so werden Sie freudig empfangen werden, doch Sie sind so beschäftigt und ich weiß auch nicht, ob Sie überhaupt gesund sind. Zum Neuen Jahr bekam ich einen sehr lieben, netten Gruß von Ljubov‘ Grig[or’evna] Gogel‘.285 Wie gern ich ihr antworten würde, doch sie hat ihre Adresse

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nicht angegeben, ich habe aber ihre Hausnummer vergessen und weiß nicht einmal mehr genau, ob sie in der Znamenskaja oder in der Nadeždinskaja ulica wohnt. Sollten Sie sie sehen, küssen Sie ihr die Hand und übermitteln Sie ihr meinen lebhaftesten Dank dafür, dass sie sich meiner erinnert hat. Noch eine kleine Bitte: morgen, am Tatjana-Tag,286 werden Sie vermutlich (wenn Sie denn gesund sind) am Mosk[auer] Universitäts-Diner teilnehmen: Ihrer Initiative als Freund ist es zu verdanken, dass man dort einst auch meiner gedachte und mir ein Telegramm sandte. Da ich so schwach geworden bin, würde ich Sie bitten (falls Sie und die anderen es vorhaben sollten), dieses Mal meine alten und jungen Studiengenossen an der Universität nicht an mich zu erinnern, denn selbst angenehme Aufregung beunruhigt meine Nerven, auch würde mir eine Danksagung in der Presse schwerfallen. In Erwartung eines Wiedersehens umarme ich Sie vorläufig von ganzem Herzen und wünsche Ihnen ein glückliches Neues Jahr. Immer Ihr Gončarov P. S. Sollte ich beim Spaziergang bis zu Ihnen kommen, bringe ich den Brief selbst vorbei und gebe ihn beim Portier ab, bis oben zu steigen, versage ich mir, meine Beine sind schwach geworden. 57 Christus ist wahrlich auferstanden!287 [St. Petersburg], den 5. April [18]87 Teurer Anatolij Fedorovič! Gerade habe ich Ihren lieben Gruß erhalten und kann Ihnen nicht einmal danken, d. h. ich habe keine Kraft. Mit Haaren, vom Boreas weiß und grauem Bart,288 leider erbeben nicht nur die „Himmel“, sondern wir alle erbeben, besonders ich. Gestern hat er mich fast zugrunde gerichtet, so dass ich nicht mit „Furcht und Zittern“289 zur heiligen Kommunion ging, wie es sich für einen guten Christen gehört, sondern mit bösem Groll gegen diesen heidnischen Boreas. Auch anschließend habe ich den ganzen Tag gegrollt, ich fuhr zum Kaufhof, wo ich mich in den Arkaden ergehen wollte, doch auch dort war es scheußlich und glatt und es zog, schließlich habe ich auch noch die Hoffnung aufgegeben, Sie zu treffen! Mit dieser endlosen Grippe, dem Husten, der Konstipation richtet mich auch der Feiertag zugrunde.

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„Bald wird man“, sagt Je[sus] Ch[ristus] (bei Johannes), „den Vater weder auf diesem Berge noch in Jerusalem anbeten, in Geist und Wahrheit“, „Gott ist Geist, und […] man muss ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“290 Lange ist es her, dass J[esus] Ch[ristus] der Frau aus Samaria dies sagte, und seitdem beten sie Ihn an jenem Tag in Form von Osterkuchen,291 Pascha,292 Wodka und Ähnlichem an und nennen den Tag dann „licht“.293 Wie gern ich ein wenig auf der Straße spazierengehen würde, doch ich habe nur zwei Stunden geschlafen, obwohl ich nicht bei der Frühmesse war, nach all den Unbilden, die mich ereilt haben (und die ich mit meinen fünfundsiebzig Jahren nicht mehr verkrafte), bin ich erschöpft, sehne mich aber so sehr nach einem bisschen frischer Luft. Ich gleiche in diesem Brief sicher einem Hilfspopen, den man beauftragt hat, den Gottesdienst zu zelebrieren und die Predigt zu halten, er aber kann es nicht. Und wohl auch einem Heuchler. Kommen Sie heute lieber nicht vorbei, vielleicht werde ich ein wenig nach draußen gehen oder die ganze Nacht durchschlafen und Sie dann vielleicht wieder nicht sehen, und das wäre sehr bedauerlich. Reservieren Sie mir aber unbedingt einen Besuch. Hätte ich ausgeschlafen, ich würde sogar, wegen des heutigen Sonnenscheins, riskieren, in die Galernaja zu fahren, wohin mich gestern Mich[ail] Matveevič für heute ausdrücklich eingeladen hat, doch vorläufig weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht, wie man sagt. Ich empfange niemanden bei mir, denn dann muss man reden, das aber kann ich nicht – und ich gehe auch nirgendwohin aus. Und plötzlich diese Anspielungen auf das Jubiläum von Polonskij,294 man müsse dabeisein!! Das hat gerade noch gefehlt, dass man mich, der ich fast schon ein Leichnam bin, zu diesem literar[ischen] Hexensabbat295 zerrt! Auf Wiedersehen, teurer Anatolij Fedorovič. Immer und überall Ihr Gončarov 58 [St. Petersburg], den 6. April 1887 Teurer Anatolij Fedorovič! Was für ein Jammer: ich muss mir das Vergnügen versagen, heute Ihren Vortrag zu hören, der mich lebhaft interessiert – und zwar aus einem läppischen Grund! Gestern, nachdem wir uns verabschiedet hatten, konnte ich mich vor Müdigkeit kaum nach Hause schleppen, das Bett war schon bereitet, ich hätte nur noch einschlafen müssen! Plötzlich aber stellte sich heraus, dass die Mieter über mir Musik

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und Tanz veranstalteten!! Das ist das gleiche, als würde dies in meiner Wohnung stattfinden, denn die Wohnungen sind gleich geschnitten, und die Zimmerflucht liegt direkt über meinem Kopf. Meine niedrigen Decken sind deren Fußböden; alles bebte, zitterte, sogar die Tassen auf den Etageren klirrten – und das alles bis vier Uhr! Doch das war noch gnädig, einmal ging es bis sechs Uhr früh. Glücklicherweise kommt es selten vor, doch es kommt vor. Man könnte es ertragen, doch in meiner Lage, bei meiner Schwäche, dem Husten usw., ist es unerträglich! Urteilen Sie selbst, in welcher Verfassung ich gekommen wäre, um Ihre ohne jeden Zweifel geschliffene, einzigartige kritische Analyse der alten, mir bekannten Persönlichkeit nicht nur anzuhören, sondern auch in die Materie einzudringen! Ich will mich vor den anderen Hörern nicht bloßstellen, indem ich in Gegenwart der ganzen Gesellschaft einnicke, noch dazu nach zehn Uhr. Ein weiterer Grund: ich habe gestern, als ich die Idee mit solchem Eifer aufgriff, Ihren Vortrag zu hören, nicht bedacht, d. h. nicht daran gedacht, dass ich überhaupt schlecht höre. Ich würde nicht nur neben Ihnen stehen, sondern Ihnen sogar auf dem Schoß sitzen müssen, ja, sogar in Ihrer Ohrmuschel, um jedes Wort klar und deutlich vernehmen zu können. Anders aber will ich Ihren Vortrag nicht hören. Außerdem könnte ich, wenn ich alles irgendwie undeutlich gehört hätte, nicht einmal mir selbst versprechen, das Manuskript später mit dem Bleistift in der Hand gründlich zu lesen, wie Sie es wünschen, und Ihnen genaue Rechenschaft über meinen Eindruck zu geben. Folgl[ich] wäre ich heute, in Erwartung des mir von Ihnen versprochenen Festtags, mir Ihr fertiges Manuskript zu geben, ein nutzloser, überflüssiger Gast, der noch dazu krank ist! Ich hoffe, Sie stimmen mir in allem zu und kommen vielleicht an den Feiertagen (solange die Kinder hier sind) gegen drei, vier Uhr selbst vorbei. Immer Ihr Gončarov P. S. Heute ist Jakov Karlovič296 bei mir in aller Herrgottsfrüh eingefallen und bezichtigte mich, ich sei gestern bei den Stasjul[evičs] gewesen, folgl[ich] meint er, könne ich auch zum Jubiläum von Polonskij297 kommen usw. Ich bin ihn nur mit Mühe losgeworden. Er kam gerade von Aleks[andra] Vasil[‘evna].298 Sie (Frauen!!) tut bescheiden, hat mich dabei aber fast ins Verderben gestürzt. Diese Frauen!

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59 [St. Petersburg], den 25. April [18]87 Sonnabend-Abend Wie leid es mir tut, teurer Anatolij Fedorovič, dass Sie mich heute nicht haben wecken lassen! Wie lange ich Sie schon sehen wollte, und über wie vieles ich mit Ihnen sprechen möchte! Ob Sie mir vielleicht eine Ihnen passende Stunde schenken wollen, wenn nicht am Vormittag, dann meinetwegen abends: nach zehn Uhr bin ich fast immer zu Hause, insbesondere jetzt, bei diesem windigen und frischen Wetter, verbarrikadiere ich mich in der Wohnung, denn meine Brust und die Nerven weigern sich entschieden, die Kälte auszuhalten. Immer wieder huste ich, nachts kann ich nicht durchschlafen, deshalb schlafe ich tagsüber wie ein Murmeltier und sehe fast niemanden, weder bei mir, noch gehe ich aus. Es wäre aber gut, wenn Sie vorher ankündigten, wann Sie mich besuchen wollen, dann würde ich Sie mit Sicherheit erwarten – und zwar voller Ungeduld. Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, und wie gern man Sie überall zu sehen wünscht, dennoch hoffe ich, dass Sie auch eine halbe Stunde für mich erübrigen können. Tagsüber bin ich gegen zwei, drei Uhr immer zu Hause, dann schlafe ich auch nicht, und abends sitze ich in der Wohnung, mit seltenen Ausnahmen, wenn es sehr warm ist. Es ist mir unangenehm vor den anderen, es sieht ja so aus, als ginge ich den Menschen aus dem Weg, teilweise trifft es allerdings auch zu – der Grund sind das Alter und die Krankheiten. Was soll ich tun: ich bin müde, erschöpft, verausgabt – physisch wie moralisch. Auf Wiedersehen denn also – Ihnen herzlich zugetan I. Gončarov P. S. An die Sommerfrische wage ich nicht einmal zu denken – das ist unmöglich. 60 [St. Petersburg], den 7. Mai [1887], Donnerstag Wie sehr ich Sie sehen möchte und muss, teurer Anatolij Fedorovič, Sie aber haben mir gedroht, am Sonnabend zu verreisen! Könnten Sie mir nicht eine Abendstunde schenken, heute zum Beispiel, ab neun Uhr oder um zehn, wie es Ihnen beliebt, und wenn nicht heute, so vielleicht

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morgen, am Freitag? Es muss auch nicht am Abend sein, wenn es Ihnen nicht passt, es ginge auch um drei oder vier Uhr nachmittags. Ich möchte mich unbedingt über einige von mir entworfene Skizzen Ihrer Meinung versichern: eine davon, höchstens zwei, würde ich Ihnen gern vorlesen, das würde nicht mehr als etwa eine Stunde in Anspruch nehmen. Ich habe sie Sof[‘ja] Al[eksandrovna] Nik[itenko] vorgelesen, und auch Mich[ail] Matv[eevič]299 ist gestern bei mir gewesen, auch ihm habe ich ein wenig vorgelesen – beide billigen sie, doch ich muss auch wissen, was Sie davon halten, das würde den Ausschlag geben. Sollten auch Sie sich zu meinen Gunsten aussprechen, könnte ich das eine oder andere davon einer Zeitschrift anbieten und gleich ein Honorar nehmen,300 denn der Sommer steht vor der Tür und ich muss mich entscheiden, was tun, wohin gehen. Auch in dieser Hinsicht würde ich gern Ihre Meinung und Ihren Rat hören. Lassen Sie mich kurz wissen, ob es möglich ist, ob Sie es schaffen, zu mir zu kommen und wenn ja, wann? Ihr Gončarov 61 [St. Petersburg], den 13. Mai 1887 Lieber und teurer Anatolij Fedorovič. Ich habe von Ihnen eine Nachricht aus Moskau bekommen und beeile mich, sie zu beantworten. Ich habe sehr bedauert, Sie vor der Abreise nicht gebeten zu haben, aufzuschreiben, wo Sie sein werden und was Sie vorhaben. Sie aber sind selbst darauf gekommen – wunderbar, ich danke Ihnen! A[leksandra] I[vanovnas] Expedition nach Narva301 war nicht von Erfolg gekrönt, etwas anderes hatte ich übrigens auch nicht erwartet. Wenn man die Gegend nicht kennt, weiß man nicht, wo man suchen soll. Allerdings hat sie die Marfa Posadnica302 von Hungerburg kennengelernt, d. h. eine gewisse Sofronovna, die dort an der Anlegestelle steht und allen auflauert, die mit dem Dampfer ankommen. Sie empfahl ihr zwei Sommerhäuser, eines von einem gewissen Pel’cer, das 400 Rubel kostet, das andere, wem es gehört, weiß ich nicht, 600 Rubel – außerdem sind viele der Häuser nur notdürftig zusammengezimmert, nicht tapeziert und riechen nach Holz. Pel‘cer war nicht da, die Sofronovna konnte ohne ihn aber nicht sagen, ob er mit dem Preis heruntergeht oder nicht. Aleks[andra] Iv[anovna] hat ihr Geld für ein Telegramm dagelassen und ist abgefahren. Wir haben zwei Tage gewartet und am dritten schließlich kam von der Posadnica ein Telegramm, dass Pel’cer uns das Haus für 300 Rubel überlassen will. Es ist ein einzeln stehendes Haus, in der oberen und unteren Etage gibt es je vier kleine Zimmer, einschließlich Brennholz, Möbel und allerlei Geschirr. Ich habe sogleich

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telegrafiert, dass ich das Haus mieten möchte und dass A[leksandra] I[vanovna] am Donnerstag (morgen) mit der Anzahlung kommen wird. Doch es war eine Illusion, der wir uns vorschnell hingegeben haben. Wir hatten schon darüber nachzudenken begonnen, was wir mitnehmen würden, wann wir fahren wollen usw. Am selben Tag aber kam ein weiteres Telegramm, dass Pel’cer mindestens 375 Rubel haben möchte. Ich habe geantwortet, dass ich für diesen Preis nicht mieten kann. Damit war die Angelegenheit erledigt – und für A[leksandra] I[vanovnas] Fahrt habe ich nun etwa 25 Rubel umsonst ausgegeben. Außerdem haben wir uns bei einer gewissen Frau Polivanova erkundigt, die hier in der Stadt in der Zeitung annoncierte, dass sie ihr Sommerhaus in Hungerburg vermieten will. A[leksandra] I[vanovna] ist zu ihr gefahren und erfuhr, dass das Haus irgendwo abseits liegt; eine Werst von den warmen Wannenbädern entfernt. Es wird von einem Hausmeister verwaltet und hat zwei Etagen. Nur eine Etage zu mieten wäre nicht teuer, beide zusammen aber sehr: das kann ich mir nicht leisten. Nun sitzen wir alle traurig da und wissen nicht, was tun. Das Wetter aber ist wie zum Trotz herrlich, als wolle es uns einen Streich spielen. Ich weiß nicht, was werden soll: die armen Kinder tun mir leid, sie plagen sich mit den Prüfungen und haben außer dem heißen Hof und dem Sommergarten303 nichts in Aussicht! A[leksandra] I[vanovna] ärgert sich natürlich und ist unzufrieden:304 sie wäre auch bereit, sich nach Dubbeln zu schleppen. Doch ich habe keine Kraft mehr, diesen Umzug würde ich nicht aushalten und dort sicher krank werden, wie im letzten Jahr. Auch jetzt plagen mich, wenn ich nach neun Uhr abends ausgehe, in dieser Hitze anschließend Hustenanfälle. Ich habe mich der Menschen entwöhnt und sehe, dass ich mich auch mit der Luft entzweit habe, ich wage nicht, die Fenster zu öffnen und kleide mich auch nicht sommerlich. Außerdem schleicht sich der Schlaganfall an: bald tost es im Ohr, bald muss ich mich auf der Straße, wenn mir schwindlig wird, an einer Hauswand abstützen, um nicht zu fallen, oder meine Beine versagen den Dienst. Den Schlaganfall selbst fürchte ich nicht, also kurzen Prozess, mit einem Hieb, aber ich fürchte seine Begleiterscheinungen, einen Schlaganfall in Raten, was lange dauern kann. Kraevskij305 hat vor kurzem die zweite Vorwarnung erhalten und ist sofort aufs Land geeilt. Doch genug davon. Ich danke Ihnen für Ihre freundschaftliche Reaktion auf meine „neuen Werke“. Ich fürchte nur, dass Sie sich eher von der Freundschaft haben leiten lassen, als dass Sie streng und unvoreingenommen sind. Sie haben mich angespornt, Sof ’ja Al[eksandrovna] ebenfalls, jetzt aber bin ich ein wenig mutlos. Ihr Eindruck, wie jener von Sof ‘ja Aleksandrovna, war unter anderem dadurch erkauft, dass ich sehr gut vorlese, insbesondere die erste Skizze,306 was sie gestern auch bestätigt hat. Davon gewinnt das Werk natürlich beträchtlich. Pisemskij307 zum Beispiel machte gewaltigen Eindruck, wenn er selbst las, gedruckt aber ist er viel blasser. Das gleiche wird vermutlich auch diesen meinen „neuen Werken“ beschieden sein. Ich bin gerade dabei, das vierte und letzte Porträt308 zu beenden: wer weiß, ob ich es noch schaffe. Die

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Geschichte mit dem Sommerhaus, die häuslichen Zwistigkeiten etc., all das belastet mich, raubt mir die Kraft und lässt mich verzagen. Sof[‘ja] Al[eksandrovna] hat gestern gesagt, es sei sogar schade, es in der „Niva“309 abzudrucken, aber wo sonst? Keine Zeitschrift ist imstande, mit der „Niva“ zu konkurrieren. Ich selbst hätte auch lieber unseren „Vestnik“310 bevorzugt, doch leider kann ich die Tausender nicht ausschlagen. Ganz und immer Ihr Gončarov Ich umarme Sie, teurer Anat[olij] Fedoro[vič], auf Wiedersehen! Wenn Sie im Juni zurückkehren, finden Sie mich sicher in meiner hiesigen Höhle vor. 62 Petersb[urg], Mochovaja 3, den 3. Juni 1887 Ich freue mich sehr, dass Sie an mich gedacht haben, teurer Anatolij Fedorovič, ganz allgemein und jetzt besonders deshalb, weil ich Ihnen etwas über meinen Sommeraufenthalt zu berichten habe. Sie haben mir das Feld Ihrer gegenwärtigen Beobachtungen auf dem Gut von Maslovskij so wunderbar skizziert, dass mir die hiesigen Petersburger Probleme und Belange nicht der Rede wert erscheinen, eigentlich interessieren sie mich kaum oder überhaupt nicht, zum Beispiel Brandes311 und anderes. Wie gern ich verreisen möchte, weit weg, irgendwohin, wo es sauberer, gesünder, weitläufiger, frischer ist. So mache ich mich denn übermorgen, am 5. Juni, auf den Weg nach … Hungerburg bei Narva, zum Landhaus der Baronin Pritvic [Pritwitz] in der Merrekküllstrasse. (An diese Adresse belieben Sie mir dann zu schreiben.) Ich erinnere mich und freue mich darauf, dass Sie die Absicht hatten (ich weiß nicht, ob noch immer), einen Teil des Sommers dort zu verbringen. Tauschen Sie diesen guten Vorsatz doch bitte nicht gegen einen anderen ein. Außer Ihrer Eigenschaft, wo immer Sie auch auftauchen, durch Ihre Person die jeweiligen Orte und Menschen zu erfreuen, und mich ganz besonders, baue ich auch wegen des Gelingens meiner neuen literar[ischen] Arbeiten sehr auf Ihre Anwesenheit. Wie sehr Sie mich anspornen könnten, und mit welcher Freude ich Ihnen alles inzwischen noch Geschriebene vorlesen und Ihre so treffenden, teuren Anmerkungen und Ratschläge berücksichtigen würde! Ich habe alles beendet: außer dem, was ich Ihnen vorlas, habe ich noch zwei weitere Druckbögen geschrieben. Das, was Sie bereits gehört haben, ist abgeschrieben, fast ganz fertiggestellt und in einem versiegelt[en] Paket dem Herausgeber und Redakteur der „Niva“ zur Aufbewahrung übergeben, als Sicherheit. Er aber, oder besser sie, das heißt die Herren Kljušnikov,312 der Redakteur, und Marks,313 der Herausgeber, waren bei mir, haben sich alles angehört (außerdem

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auch S. A. Nikitenko und S. A. Tolstaja,314 die Gräfin) und sich, diese wie jene, à peu près wie Sie geäußert. Der Herausgeber brachte mir einen Teil des Honorars als Vorschuss mit, ja, er drängte es mir fast auf, damit ich es mir nicht etwa anders überlege: vermutlich aus diesem Grund, denn ich wollte es nicht annehmen, bevor alles gedruckt ist. Er bat mich allerdings, und auch ich bitte Sie als Freund darum, nicht vor der Zeit darüber zu sprechen, was ich schreibe, und insbesondere, worüber ich schreibe, denn jene Zeitschriften, d. h. die Zeitungsleute, werden sonst etwas mitbekommen und es lange vor der Drucklegung ausplaudern, und das ist aus vielerlei Gründen unangenehm. Deshalb bitte ich Sie noch einmal, es für sich zu behalten. Auch würde ich gern, wenn ich mich in Hungerburg wohl fühle und es dort ruhig sein sollte, noch einige andere Erinnerungen aus der Vergangenheit heraufbeschwören, falls ich dazu aufgelegt bin und das Wetter gut ist, und etwas für die Januarausgabe des „Vest[nik] Evropy“ vorbereiten.315 Aus diesem Grund wäre mir Ihre Anwesenheit sehr wichtig! Auch S. A. Nikit[enko] hat mir deshalb bereits versprochen zu kommen, sie wird bei mir wohnen, ausruhen und sich mit warmen Meerwasserbädern und der Meeresluft kurieren. Ihre Gesundheit im Allgemeinen und die Nerven im Besonderen sind sehr angegriffen, sie benötigt Ruhe und Erholung.316 Falls Sie kommen sollten, hoffe ich auch darauf, dass Sie versuchen werden, mich vor allerlei Bekannten – alten wie neuen – zu schützen, d. h. sie davon abzuhalten, mich zu besuchen oder zu versuchen, sich irgendwo am Strand, im Park, im Kurhaus usw. mit mir „zu unterhalten“. Sie beanspruchen mich, lenken mich von der Arbeit ab, und ich komme zu nichts. Auch ohne Arbeit habe ich mich der Menschen schon entwöhnt, am lästigsten aber sind mir „Unterhaltungen“. Außerdem fällt mir das Sprechen schwer, seit mein Katarrh chronisch geworden ist, bekomme ich anschließend Hustenanfälle. Diesen Grund könnte man angeben, ohne darauf einzugehen, dass ich schreibe, oder man sagt einfach, dass ich in der Urlaubszeit mein häusliches Archiv sichte und auf der Suche nach etwas in der Art meiner „Universitätserinnerungen“ sei, damit sie mich nicht stören. Ich nehme an, dass ich, hätte ich das Vaterunser-Gebet erschaffen, am Ende nach „erlöse uns von dem Bösen“ – „und von den Bekannten“ hinzugefügt hätte! Das Problem mit meinem Sommerhaus hat sich schnell gelöst. Ich schrieb Ihnen ja von Aleks[andra] Ivanovnas erster missglückter Reise: sie fuhr danach ein zweites Mal und mietete das Häuschen der oben erwähnten Baronin für 300 Rubel, einschließlich des Geschirrs, der Möbel, Matratzen und anderen Hausrats. Die Baronin ist bei mir gewesen, hat die gesamte Summe entgegengenommen, mir ein Verzeichnis des Inventars ausgehändigt und ihren dortigen Hausmeister angewiesen, uns als Hausherren zu betrachten. Sie scheint eine sehr nette, anständige Frau zu sein. Zunächst hatte sie Stepanida Sofr[onovna] Lebedeva bitten wollen, das Geld entgegenzunehmen, doch deren erwachsener Sohn ist kürzlich auf einem Schiff in

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eine Luke gefallen, auf scharfkantige Steine, und dabei ums Leben gekommen: sie ist verzweifelt und hat anderes im Kopf. Aleksandra Iv[anovna] ist mit Lenočka und der Köchin schon vorausgefahren, ich bin mit Sanja allein zu Haus. Ich werde am 5. abreisen, am Tag vor meinem Geburtstag, an dem, d. h. am 6., ich fünfundsiebzig Jahre alt werde!!!! Mich[ail] Matv[eevič] war kürzlich hier, in Eile, er hat Sorgen, Ljubov‘ Isaak[ovna] ist an den Röteln erkrankt, vermutlich deshalb schreiben sie nicht. Teilen Sie mir doch bitte mit, ob Sie diesen meinen Brief erhalten haben. Ganz und immer Ihr Gončarov 63 Hungerburg, Ust‘-Narva, Haus Pritvic, den 26. Juni 1887317 Lange habe ich auf eine Nachricht von Ihnen gewartet, teurer Anatolij Fedorovič, nun ist sie endlich da, doch was für eine: Leberschmerzen zwingen Sie, nach Karlsbad zu reisen! Etwas anderes ist es, einfach so ins Ausland zu reisen, zur Zerstreuung und Erholung: nach Ihrer Arbeit im Winter haben Sie das sehr nötig, um wieder zu Kräften zu kommen! Fahren Sie, mein Teurer, und kommen Sie körperlich gestärkt und seelisch erfrischt zurück! Dass meine Wahl in diesem Jahr auf Hungerburg fiel, hing vor allem mit Ihrem günstigen Urteil über den Ort zusammen. Heute sind es genau drei Wochen, dass ich hier bin, und bis jetzt kann ich mich nicht genug freuen. Es grünt überall, der Strand ist unbeschreiblich angenehm, viel besser als der von Dubbeln, er ist breit, schön und endlos! Der Hauptvorzug aber sind die Einsamkeit, Stille und Abgeschiedenheit! Die Abwesenheit der Menschenmenge und der Bekannten gibt mir ein Gefühl von ländlicher Zurückgezogenheit – in meinem geräumigen Landhaus mit den drei Veranden in drei verschiedene Richtungen fühle ich mich ganz wie ein Gutsbesitzer à la vieille façon. Rings ums Haus gibt es einen Garten, nicht der geringste Lärm dringt an mein Ohr, und keine einzige Stimme, außer der der Hähne. Ich murre318 nicht einmal über den kühlen Sommer: tagsüber trage ich einen warmen Mantel und nachts wickle ich mich in mein Plaid und fühle mich so wohl in dieser wundervollen, frischen und gesunden Luft! Lediglich die Ernährung, mit Ausnahme jener durch die Luft, laisse à désirer. Al[eksandra] Iv[anovna] weiß bisweilen nicht, was sie uns vorsetzen soll: einen Markt gibt es nicht, die Händler bringen einem alles ins Haus, und was sie gerade bringen, das muss man essen. Mal bringen sie frischen Lachs, Renken, sogar Spargel, ein andermal trockenes Rindfleisch oder kraftloses Kalbfleisch. Aleks[andra] Iv[a-

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novna] ärgert sich und schimpft wie üblich mit mir, aus diesem Grund und überhaupt. Wir essen viel, aber schlecht. Sie schimpft auch mit mir, weil es keine Beeren gibt, weil die Gurken hier schlecht seien usw.319 Ins Actienhaus gehe ich nicht: nach dem von Dubbeln verspüre ich nicht die geringste Lust. Die Musik ist kümmerlich, ganz wie von leibeigenen Musikern.320 Ich habe sie mir von fern angehört, aber kein Abonnement genommen, vor allem deshalb nicht, weil sie von fünf bis acht Uhr spielen: das ist die Zeit meines Mittagessens321 und außerdem auch, weil sie für diese mickrige Musik 10 Rubel pro Karte von den Männern und 5 Rubel von den Frauen verlangen, genau das Doppelte wie in Dubbeln und für eine Familienkarte berechnen sie 25 Rubel. Excusez du peu! Ich hüte mich auch, dort vorbeizuschauen, um nicht alten Bekannten zu begegnen, und, was noch schlimmer ist, um mir keine neuen einzuhandeln. Dann könnte ich mich nicht mehr zurückziehen: sie würden zu mir kommen oder mich zu sich schleppen. Mein Haus liegt ja im Zentrum, an der Hauptstraße, zwei Schritte vom Actienhaus, von der Post und vom Meer entfernt. Sehr bequem. Vom Baden im Meer habe ich inzwischen Abstand genommen, ich nehme kalte Bäder (20 Gr[ad]) in der Badeanstalt.*322 Die Mädchen haben schon begonnen, im Meer zu planschen, Vasja auch. Alle Kinder und Aleks[andra] Iv[anovna] grüßen Sie voller Ehrerbietung und Freude, werfen Ihnen aber vor, sie um die Hoffnung gebracht zu haben, die ich genährt hatte, Sie hier zu sehen.37 Sie raten mir zu schreiben. Ich schreibe, mein Teurer, jeden Tag schreibe ich zwei, drei Stunden, aber ich schreibe ohne Begeisterung, einfach nur deshalb, weil ich sonst zwischen dem Frühstück und dem Mittagessen nicht wüsste, was ich tun sollte. Ich habe schon 12 Bögen vollgeschrieben, doch, o je, ohne Sinn und Verstand und ohne Hoffnung, dass etwas dabei herauskommt. Es sind nichts weiter als Erinnerungen323 aus meiner Jugend, aus der Zeit nach dem Abschluss der Universität, vor meiner Übersiedlung aus der Heimat nach Petersburg: doch sie sind bruchstückhaft, nichtssagend, dazu persönlich, intim und von keinerlei allgemeinem oder gesellschaftl[ichem] Interesse. Ohne lebhafte Details, typische Figuren oder Szenen (wie in jenen Texten, aus denen ich Ihnen das letzte Mal in Petersburg vorgelesen hatte).324 Es werden wohl kaum zehn Seiten zusammenkommen, die sich für den Druck eignen. Was ich bisher geschrieben habe, braucht überhaupt niemand, nicht einmal ich selbst. Der Leser wird fragen, wie auch ich mich frage, wieso ich das überhaupt geschrieben habe. Diese Blätter zeugen weder von einem Künstler noch von einem Beobachter. Ich wüsste nicht einmal, ob ich sie Ihnen vorlesen sollte. Dies ist also meine Beurteilung des Geschriebenen! In der kommenden Woche erwarte ich Sof ’ja Al[eksandrovna] Nikitenko: sie kommt, um sich zu erholen und ihre angegriffenen Nerven in der Meeresluft zu kräftigen. Ihr werde ich den Text vorlesen. Sie wird mir wie ein erfahrener Gärtner *

Im Original deutsch.

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helfen, mich in meinem literarischen Garten zurechtzufinden, sie liest aufmerksam, mit dem Bleistift in der Hand, wird einige der allzu mit Korrekturen übersäten Bögen ins Reine schreiben und sicherlich entscheiden, ob sich die eine oder andere Seite für den Druck eignet. Ich umarme Sie in Gedanken, Gott stärke Ihre Kraft und gebe Ihnen die völlige Wiederherstellung Ihres Gleichgewichts und frohen Mut. Ihr Gončarov Von der reisenden Freundeskolonie erhielt ich am 24., meinem Namenstag, ein nettes Telegramm, das ich heute mit einem Brief nach Franzensbad beantworten will.325 P. S. Ich freue mich sehr, dass Sie mit dem Gr[afen] Tolstoj in Tula326 zusammengetroffen sind und ich danke Ihnen für die Übermittlung seines Grußes. Ich wollte ihm schon lange schreiben, weiß aber nicht, wie er es aufnimmt, auch kenne ich seine Adresse nicht, d. h. wohin ich schreiben soll.327 64 [Hungerburg], Mittwoch, [den 29. Juli 1887] Heute gibt es Krebse, desgleichen Neunaugen.328 Gestatten Sie mir, Sie um ein Uhr zu erwarten: an den übrigen drei Tagen wird es sich wohl nicht einrichten lassen. Sollte ich Ihnen etwas vorlesen, so nur ein winziges Stück. Ich erwarte Sie Gončarov 65 [Hungerburg], Mittwoch, [den 5. August 1887] Gestatten Sie mir, Sie daran zu erinnern: Krebse, kalter Kalbsbraten, Tee, Zigarren, das III. Kapitel329, Sof ’ja Aleks[androvna], ich und die übrigen – das alles erwartet Sie heute, um ein Uhr, auf der Ihnen bekannten Veranda, enthalten Sie sich deshalb bitte der Speisen im Kurhaus wenn Sie … können. Inkognito

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66 [Hungerburg], Sonnabend, [den 8. August 1887] Riesenkrebse sind besorgt – eigens für Sie. Ich erwarte Sie ab halb eins. Ich schicke Ihnen die franz[ösische] Zeitung. Zola hat die Säulen des Herakles330 einer Poesie von Schweinestall und Sauerei331 erreicht. Bei seinem Talent und seiner Kühnheit ist es möglich, dass er noch weiter geht und noch ein Amerika viehischen Unflats entdeckt.332 Auf Wiedersehen Gončarov 67 Hungerburg, den 14. August [1887] Ihr liebes Brieflein, teurer Anatolij Fedorovič, ist mir außerordentlich wertvoll: ganz allgemein, wie alle Ihre Briefe, und auch deshalb, weil Sie an mich gedacht haben, trotz Ihrer knapp bemessenen Zeit und der täglichen Hast. Das Wetter hier ist ebenso strahlend wie bei Ihnen – Narva bedeckt ja derselbe Himmel wie Petersb[urg]. Allerdings rückt der Herbst schon merklich näher: die Sonne verschwindet früh hinter dem Meereshorizont, die Abende sind frisch, es riecht nach Feuchtigkeit. Das alles greift die Nerven an und es wird einem schwer ums Herz. Die Vormittage dagegen, gestern und heute zum Beispiel, sind herrlich. Von den Hiesigen sehe ich nach wie vor kaum jemanden. Ein, zwei Mal bin ich Kaufman begegnet, Polonskij habe ich am plage* getroffen, weiter niemanden. Tagsüber, nach dem Wannenbad, gehe ich allein spazieren, abends begleiten mich die Kinder, bisweilen auch Aleks[andra] Iv[anovna], auf die ich mich stütze, denn in der Dämmerung sehe ich schlecht, wo ich hintrete.33338 A propos Aleks[andra] Iv[anovna]: Sie hat Neunaugen bestellt, unter anderem auch für Sie, und bittet mich, Sie an Ihr Versprechen zu erinnern, uns zu Nudeln und Kascha ihrer Herstellung zu „beehren“. Ich plane, am kommenden Freitag, den 21., mit Sanja abzureisen, A[leksandra] I[vanovna] und die übrige Mannschaft einen Tag später. Vasja reist morgen allein ab, um rechtzeitig in der Schule zu sein. Ich habe von Sof ’ja Aleks[androvna] ebenfalls einen Brief erhalten. Sie freut sich, dass ich Ihnen, als kompetentem Richter, einige Bögen meiner Chronik vorge*

Im Original französisch.

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lesen habe (ich schrieb es ihr), und vermutet, Ihr Urteil würde mich ermutigen. Und so ist es auch. Sie beide, Sof ’ja Aleksandrovna und Sie, konnten die starken Selbstzweifel, die ich hege, ein wenig zerstreuen, indem Sie sagten, dass sich manches des Geschriebenen für den Druck eignet. Nach Ihrer Abreise habe ich weitergeschrieben und noch etwa fünf Bögen mit meiner mikroskopischen Schrift vollgekritzelt, vielleicht schreibe ich noch etwas, wenn das klare Wetter anhält. Nur „ein Ereignis noch, es ist das letzte“,334 das ich noch aufschreiben muss. Doch ungeachtet Ihrer Ermutigung und jener von S[of ’ja] A[leksandrovna], betrachte ich den Stapel dieser nichtssagenden Blätter mit der Beschreibung von Vorkommnissen und Gestalten, die um meine Person gruppiert sind, mit einem tiefen Seufzer der Nachdenklichkeit und des Zweifels. Wen interessiert das? Die japanischen Gesandten, die bei uns waren, kannte ich alle, ich habe sogar die Bekanntschaft der Frau eines von ihnen gemacht – alles bei Pos’et.335 Ein Botschaftsangehöriger, Ando-san (Herr Ando wie wir sagen würden), der ausgezeichnet Russisch spricht, sehr elegant, mit sämtlichen sprachlichen Feinheiten, ist für ein Jahr nach Japan gereist und hat die „‚Fregat Pallada‘“ mitgenommen, um sie ins Japanische zu übersetzen.336 Ich will natürlich sehr gern zu Ihnen kommen und den Japaner kennenlernen. Mit einiger Angst denke ich an die Reisevorbereitungen und den bevorstehenden Umzug, ich mache mir sogar Sorgen um A[leksandra] I[vanovna] – wird sie ihn verkraften? Statt zu Kräften zu kommen, ist sie in der letzten Zeit schwächer geworden, wegen der unablässigen Sorgen und der Mühe um den gesamten Hausstand, angefangen mit mir, über die Kinder bis zur Köchin. Alles lastet auf ihren Schultern. Da werden unwillkürlich die Nerven angegriffen und Streitsucht bricht sich Bahn. Ich mache ihr das schon lange nicht mehr zum Vorwurf, denn ich sehe die Ursachen. Gerade sind Sanja und Vasja herbeigelaufen gekommen. Als Sanja sah, dass ich Ihnen schreibe, bat sie, Ihnen Grüße auszurichten. „Das wäre aber fein, wenn er herkommen würde!“ fügte sie in ihrer abgehackten Redeweise hinzu. Vasja lächelte dabei insgeheim, sah aber finster und streng drein. Auf ein, wie ich hoffe, baldiges Wiedersehen, lieber und teurer Freund. Jetzt will ich ein Bad nehmen gehen. Ihr Gončarov 68 [St. Petersburg], Mochovaja 3, den 28. August [1887] Nun bin also auch ich vor genau einer Woche zurückgekehrt, teurer Anatolij Fedorovič, und mit mir die ganze Mannschaft.

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Ich habe noch nicht bei Ihnen vorbeigeschaut, da ich entweder fürchtete, Sie nicht anzutreffen oder Sie zu stören. Zu mir will ich Sie jetzt auch nicht bitten, denn ich lebe noch im Biwak: die Tische finden sich auf den Stühlen, die Stühle auf dem Bett, das Bett an der Decke usw. Der Wasserspender337 ist ausgetrocknet, es fließt kein Wasser ins Waschbecken, die Visage ist ungewaschen, die Klingel läutet nicht und lässt keine Gäste vor – kurz, das Übliche nach der Sommerfrische. Unser liebes Hungerburg leerte sich mit jedem Tag mehr, die Abende dort sind jetzt frisch und feucht. Alles reist ab, nur Polonskij338 hat kühn beschlossen, bis zum 15. Sept[ember] zu bleiben, außerdem noch Gan [Hahn], der Ihnen durch mich einen besonders eifrigen Gruß sendet. Die Unordnung in meiner Wohnung zieht sich etwas in die Länge, denn die Gebieterin über meinen Haushalt hat sich infolge der Sorgen überanstrengt und ist geschwächt, ohne sie aber kann kein Teppich verlegt und kein Nagel eingeschlagen werden, und ich erleide vorläufig un mauvais quart d’heure. Sie sendet Ihnen aber dennoch die versprochenen Neunaugen: der Alte General339 will mich begleiten und wird die bewussten Fische bis zu Ihrer Schwelle tragen, denn ich traue dem Portier nicht, er könnte in Versuchung geraten und ein Kriminalverbrechen begehen. Von Mich[ail] Matv[eevič] habe ich einen Brief erhalten, eine Antwort auf meinen. Er hat angekündigt, um den 5. Sept[ember] wieder hier zu sein – dann werden wir uns sicher alle im Hôtel de France sehen, wohin ich jetzt in der achten Stunde zum Mittagessen gehe, bis bei mir zu Hause wieder alles in sein gewohntes Gleis gekommen ist, wann das allerdings sein wird, weiß ich selbst nicht. Auf Wiedersehen, teurer Anatolij Fedorovič, ich umarme Sie Ihr Gončarov P. S. 1. Ich hoffe, dass Sie mein Brieflein aus Hungerburg erhalten haben – die Antwort auf Ihren Brief. 2. Ich habe einige meiner Erinnerungen beendet, die Sie vor Ihrer Abreise so wohlwollend angehört haben. Ich weiß nur nicht, ob man daraus etwas für den Druck wird machen können. 69 [St. Petersburg], den 14. Januar 1888 Teurer Anatolij Fedorovič! Wenn ich Ihnen die zweite „Niva“-Nummer („Anton“340) noch immer nicht habe zukommen lassen, so einzig, weil ich niemanden weiß, den ich vorbeischicken

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könnte. Auch den anderen konnte ich sie noch nicht schicken, also den Herren Utin, Spasovič, K. K. Arsen’ev und Pypin.341 Einen Diener habe ich nicht, wie Sie wissen, aber einen Dienstmann zu beauftragen, dazu kann ich mich nicht entschließen: wer weiß, ob er zuverlässig ist? Könnten Sie deshalb nicht so gut sein, Ihren Kurier zu mir zu schicken, am Sonnabend, übermorgen, gegen zwei Uhr, wenn ich die dritte Nummer bekomme:342 dann kann ich Ihnen beide Nummern zusammen schicken. Das wird Ihnen sicher möglich sein. Außerdem möchte ich Sie noch um Folgendes bitten: Darf ich Ihrem Paket noch zwei Pakete mit diesen beiden Nummern beilegen – für Evg[enij] Is[aakovič] Utin und für V. D. Spasovič. Vielleicht wäre es Ihnen möglich, sie an die Empfänger weiterzuleiten, andernfalls würden sie lange bei mir herumliegen. Ich werde alle Pakete rechtzeitig vorbereiten, so dass sie Ihrem Abgesandten auch ausgehändigt werden können, wenn ich nicht da bin! Ich bin weiterhin zu Hause, nur vormittags gehe ich für zwanzig Minuten nach draußen, um frische Luft zu schnappen, doch der Frost treibt mich in meine Gruft zurück, besonders, wenn es windig ist. Auf Wiedersehen, ich drücke Ihnen die Hand Ihr Gončarov P. S. Um die Weiterleitung der „Niva“-Nummern für A. N. Pypin und K. K. Arsen’ev werde ich Mich[ail] Matveevič bitten.343 70 [St. Petersburg, zwischen der zweiten Januarhälfte bis zum 13. Februar 1888] Mittwochabend Bitter gräme ich mich, dass ich dem Vergessen anheimgefallen bin, teurer Anatolij Fedorovič! Wie lange ich Sie nicht gesehen habe, und auch sonst fast niemanden! Ich habe mich wieder erkältet und bin drei Tage nicht an die Luft gekommen. Heute bin ich zum ersten Mal ausgegangen, doch vor Schwäche kann ich kaum die Beine bewegen und auch nichts essen! Heute kam Ljubov‘ Isaakovna hier vorbei und schickte ihren Diener mit der Nachricht zu mir hinauf, dass Sie dort morgen zu Mittag essen wollen, und lud auch mich ein! Doch ich kann nicht weit fahren, außerdem wollen morgen um sechs Uhr beide Ärzte zu mir kommen: sowohl Majer [Meier?], als auch der Augenarzt Tichomirov.344 Wollen Sie auf dem Weg in die Galernaja nicht kurz bei mir vorbeischauen? Ich müsste eine für mich wichtige Angelegenheit mit Ihnen bespre-

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chen! Geben Sie sich nicht ganz den schönen Damen hin, lassen Sie auch für Ihre Freunde etwas übrig! Ihr Gončarov 71 [St. Petersburg], den 13. Februar 1888 Teurer Anatolij Fedorovič! Seit dem 2. Februar lag Ihr Exemplar von „Na rodine“ verwaist auf der Etagere und wartete auf den angekündigten Kurier, aber leider kam er nicht. Ich will heute das erste Tauwetter nutzen, um es Ihnen selbst zu bringen,345 bis heute habe ich nicht gewagt, meine Spaziergänge weiter als bis zur Pantelejmonovskaja ulica346 auszudehnen. Um die Mittagszeit gehe ich für zwanzig Minuten an die Luft, komme aber jedes Mal vor Schmerzen in der Lunge außer Atem, und verkrieche mich dann den ganzen Tag in der Wohnung. Deshalb war ich zwei Wochen lang auch nicht in der Galernaja. Am Sonntag bin ich gefahren, habe M[ichail] M[atveevič] und L[jubov‘] I[saakovna] bei ihren Nachbarn angetroffen, wo ich zu Mittag gegessen habe (es waren 7 Grad), gegen Abend aber fing es wieder an zu frieren und ich habe es nur mit Mühe nach Hause geschafft. Heute kann ich Gottseidank auch draußen wieder atmen, natürlich nicht lange; ich werde bis zu Ihrem Haus gehen und gleich wieder heimkehren. Den Aufsatz „Na rodine“ haben verschiedene Zugvögel aufgepickt, mir sind noch etwa fünf Ex[emplare] geblieben, außer denen für Sie und für Sof ’ja Aleks[androvna]. Ich bin Ihnen beiden für so vieles dankbar, für die Anteilnahme und die Unterstützung bei meinen letzten Arbeiten. Wären Sie nicht gewesen, ich hätte, bei meinen Selbstzweifeln, die Aufsätze wohl nicht zu Ende geschrieben. Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen, zum Beispiel am Montag in der Galernaja, sollte es nicht kälter als minus 10 Grad sein. Ich drücke Ihnen beide Hände Ihr Gončarov 72 [St. Petersburg], Dienstag, den 16. Febr[uar] 1888 Gestern haben bei den St[asjulevičs] alle vergebens auf Sie gewartet, teurer Anatolij Fedorovič, auch ich. Es waren die habitués da, außerdem Vikt[or] Ant[ono-

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vič].347 Ich hätte mich mit Ihnen unter anderem gern in einer juristischen Angelegenheit beraten, da Sie nicht da waren, habe ich mich an Vladim[ir] Danil[ovič]348 gewandt. Eine Kleinigkeit, etwas ganz Nebensächliches, es geht um die Frage, ob jemand das Recht hat, in der Presse Briefe zu veröffentlichen, außer dem, der sie geschrieben hat, ohne sein Einverständnis.349 Er sagte, nein, das Gesetz billige dem Adressaten das Eigentumsrecht nur am eigentlichen Brief zu, d. h. am Manuskript,350 das Recht der Veröffentlichung aber liege beim Autor. Das ist alles, was ich wissen wollte. Außerdem wollte ich Ihnen für das versprochene Exemplar Ihres Buches351 danken (das ich bei Mich[ail] Matv[eevič] schon gesehen habe) und für das Versprechen, mich am Donnerstag zu besuchen. Wenn Sie zwischen zwei und fünf Uhr zu mir kommen könnten, würde ich mich sehr freuen, Sie zu sehen, unter anderem auch deshalb, weil ich Sie lange nicht gesehen habe und Ihnen etwas über Ihre Traurigkeit sagen möchte (nach dem Erscheinen des Buches), die ich verstehe und völlig teile. Am Donnerstagabend werde ich ausgehen müssen, denn das ganze Haus geht sich die „Pskovitjanka“352 ansehen, das heißt Aleks[andra] Iv[anovna] und die Kinder, und es ist niemand zu Hause, der die Tür öffnen könnte. An allen übrigen Tagen und Abenden sitze ich hinter Schloss und Riegel und gehe nur kurz an die Luft, die mir weiterhin in die Lungen schneidet, sogar bei verhältnismäßig leichtem Frost, etwa bei 8 Grad. Traurig zumute ist Ihnen, wie ich annehme, vor allem deshalb, mein Freund, weil Sie aus Ihrem geheimnisvollen Schatten ins Licht getreten sind und auf einen Schlag die gewaltige Frucht Ihrer Arbeit, Ihrer Kenntnisse, Ihres Talents preisgegeben haben. Diese Traurigkeit wird allmählich vergehen, wenn Sie selbst – und die gesamte russische Gesellschaft – die Bedeutung des durch Sie erwiesenen Dienstes würdigen werden, eines Dienstes für die Gesellschaft, die Wissenschaft, eine Vielzahl heutiger und kommender Generationen, denen beschieden sein wird, aus diesem tiefen und unerschöpflichen Quell zu schöpfen – Materialien, Beobachtungen, Hinweise und Erfahrungen, nicht nur hinsichtlich der Wissenschaft, sondern auch des Lebens. Das alles steckt darin, in diesem fundierten Buch, wie ich, halbblind wie ich bin, bereits flüchtig den Zeitungen entnehmen konnte. Schenken Sie mir keine schön gebundene Ausgabe353 Ihres Buches: ich werde von Zeit zu Zeit darin lesen, soweit es mein einziges, altes Auge erlaubt, und es dann, zusammen mit einigen anderen wertvollen Büchern, meiner Heimat als Geschenk übergeben: der öffentl[ichen] Karamzin-Bibliothek, der ich schon vor langer Zeit alle meine Bücher geschickt habe354 und der ich auch die neu eintreffenden schicke, denn hier zu Hause würden sie nach meinem Tod untergehen. Schenken Sie mir deshalb ein einfaches Ex[emplar], doch mit ihrem Namenszug, damit die Leser in meiner Heimat sehen können, dass ich tatsächlich das Geschenk eines Freundes opfere, und nicht einfach nur ein Buch.

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Ihnen ist traurig zumute, sagen Sie, diese Traurigkeit wird auch deshalb vergehen, weil Sie nicht alles (o, bei weitem nicht alles) gegeben haben, was in Ihnen steckt – Kräfte, Begabungen und eine Arbeit, die teilweise schon fertiggestellt und dazu noch glänzend und mit großem künstlerischen Talent geschrieben ist. Mit der „Akte Z[asulič]“ im Portefeuille dürfen Sie sich keinesfalls der Traurigkeit hingeben, wenn in der Büchse der Pandora eine solche „Hoffnung“ verborgen liegt. Ist es nicht der Überschuss an Kräften und der mutige Schritt, den Sie jetzt getan haben, indem Sie herausbrachten, was Sie so sehr und lange erfüllte, der Ihnen … nicht direkt Traurigkeit einflößt, aber eine gewisse Angst, jene Angst, die ein Seefahrer empfindet, wenn er den schützenden Hafen verlässt und aufs offene Meer hinausfährt! Ich empfinde das gleiche, das heißt genau diese Angst, auch wenn ich ein alter Seefahrer auf allen Wassern des Meeres und unseres Planeten bin. Die Wogen, die von verschiedenen Seiten über uns hereinbrechen, verstören bisweilen auch alte, erfahrene Seeleute, denn Verwirrung355 oder Angst – das ist ein uns Menschen angeborenes Gefühl. Traurigkeit. Haben Sie schon einmal erlebt (natürlich haben Sie es erlebt), dass Sie, nachdem Sie einen teuren Gast hinausbegleiteten, schwermütig ins leere Zimmer zurückkehrten? Sie haben Ihren teuren Gast verabschiedet und sind nun traurig. Das ist natürlich und geht schnell vorbei. Ich aber, auf meine alten Tage, rechne schon nicht mehr damit, meine Angst loszuwerden, ebensowenig wie die literarischen und nichtliterarischen Wogen, die über mir zusammenschlagen. Mit dieser Angst werde ich wohl auch sterben. Das alles hätte ich Ihnen natürlich auch am Donnerstag oder an einem anderen Tag sagen können, wenn Sie mich besuchen kommen oder wenn wir uns sehen, aber ich will nicht so lange warten. Vielleicht sind Sie auch beschäftigt, oder es kommt etwas dazwischen, so nehme ich mir, während ich hier zu Hause sitze, voller Freude eine halbe Stunde, um mit Ihnen zu plaudern. Ihr herzlich ergebener Gončarov 73 [St. Petersburg], den 25. April 1888 Teurer Anatolij Fedorovič! Erst gestern habe ich Ljubov‘ Isaak[ovna] beneidet, als ich Ihren Brief bei ihr sah, heute aber wurde ich selbst durch einen Brief von Ihnen erfreut. Auch ich grüße Sie zum hohen Feiertag mit den Worten: „Christus ist wahrlich auferstanden!“356 und füge hinzu „und seine Feinde mögen weichen!“357

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Sie sind zufrieden, gar fröhlich, dass Sie sich im Schoße der Natur aufhalten, im Kreise guter Freunde, in der Stille der Provinz, wo Sie Frieden und Ruhe genießen. Es scheint Ihnen gar, dass Sie mit diesem Leben eins werden könnten und Sie wollen es nicht wieder lassen … Es ist das beseligende Gefühl der Erholung, die besonders Sie so nötig haben, das aus Ihnen spricht: Sie sind überarbeitet und erschöpft, Ihre Seele und Ihr Geist bedürfen der Ruhe und die Nerven der Entspannung. Das alles ist plötzlich eingetreten, hat Besitz von Ihnen ergriffen, sie haben begonnen zu murren,358 warum Ihnen „das Schicksal ein solches Leben nicht für immer zugedacht hat?“ Dies alles sind flüchtige, vom Augenblick herbeigewehte Gefühle. Der Seemann (alle Seeleute sagen das) begrüßt nach einer stürmischen, langen, gefährlichen Fahrt freudig das Ufer, er ist glücklich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, ergötzt sich an den Düften und dem Anblick der Pflanzen, ergeht sich fröhlich inmitten der Menschenmenge … Nach einigen Tagen „Landgang“ aber wird er nachdenklich, beginnt sich zu langweilen, wird traurig, sehnt sich nach den Wogen, blickt hinaus aufs Meer und kehrt zu ihm zurück, um erneut zu kämpfen, Sturm und Wetter standzuhalten, Neues zu entdecken und kennenzulernen usw. „Die Wogen bestürmen das irdische Meer“ … überall ist das so, auch in der Provinz, dort allerdings würden Sie Stürme im Wasserglas erleben, aber dennoch darunter leiden wie auf dem Ozean! Ja, so ist es tatsächlich: das Leben ist überall Leben. Geziemt es sich für Sie, bei Ihren Kräften, in einem Wasserglas zu segeln! Immer wieder einmal blättere ich in Ihrem Buch (ein mir teures Geschenk), und jedes Mal erfahre ich etwas Neues und lerne dazu! Wäre dieses Buch, so denke ich, vor dem Zasulič-Prozess359 erschienen, so hätte man nicht gewagt, Sie deswegen zu tadeln und zu missbilligen (zumindest jene nicht, die es gelesen hätten). Man hätte verstanden, welchen Lichtstrahl der Humanität360 Sie in Ihre „Anklage“-Reden einfließen lassen. K. K. Arsen’ev hat das in seiner wunderbaren Rezension, die ich von Anfang bis Ende gelesen habe, sehr gut festgestellt und erkannt.361 Hätte ein solches Buch in der Provinz entstehen, reifen und erarbeitet werden können, eine Frucht des so großen Verstandes, großer Kenntnisse und der Kunst ebenso wie des Herzens! Ich denke nicht. Petersburg, das ist eine Arena, eine Schule, ein Strudel von Interessen und Leidenschaften, wo sich große geistige Kräfte und Talente entwickeln und bewähren können! Murren Sie nicht, denn nur in sich zurückgezogen zu leben, das ist unmöglich und darf auch nicht sein, und „wem viel gegeben ist“ und der dennoch nur für sich lebt – das geht auch nicht, Sie wissen das besser als ich. Ich habe im Laufe meines Lebens festgestellt, dass jene, die dieses vermeintlich „gute Teil“362 erwählt haben – in sich zurückgezogen und nur für sich zu leben –, früher oder später vom Schicksal gewaltsam aus dem Sack herausgeholt wurden, in den sie sich eingenäht hatten; die Nähte sind geplatzt und ob sie wollten oder nicht, sie mussten für andere und zum Wohle anderer arbeiten. Nach zwei, drei Monaten würden Sie „der Welt der Stille und dem Schoße der Natur“ selbst entfliehen

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und in der Arena erscheinen, nicht als „Gladiator“, als Kämpfer, zur Belustigung der Menge, sondern als mutiger, von Kopf bis Fuß bewaffneter Streiter, bereit für jeglichen Kampf, und mit der Hoffnung auf den sicheren (künftigen) Sieg. Erholen Sie sich, teurer Freund, und kehren Sie wieder hierher zurück, an Ihren Platz. Hier ist es allerdings kalt: die Newa ist zwar eisfrei, doch hinter Kronstadt sperrt das Eis die Bucht und lässt keine fremden Schiffe nach Petersburg durch. Deshalb denkt man vorerst kaum an den sommerlichen Umzug aufs Land. Ich bin immer noch schwach auf den Beinen, huste, lasse die Zimmer heizen, im Sommergarten möchte schon das Gras herauskommen, kann sich aber nicht entschließen. Draußen, besonders an der Newa, muss man aufpassen, dass man nicht den Mund aufmacht. Gestern habe ich bei unseren Freunden zu Mittag gegessen,363 doch auch dort war es kalt in der Wohnung, trotz des Kamins. Alle sind Ihnen sehr zugetan und denken an Sie: dort, und, wie ich annehme, überall, liebt man Sie sehr. A[leksandra] I[vanovna] und die Kinder danken Ihnen von Herzen. Sie wagten kaum zu glauben, dass Sie an sie gedacht haben, ich musste Ihnen erst Ihre Zeilen zeigen, in denen Sie von ihnen sprechen. Meine Pflegerin364 kann vor (Nerven-) Schwäche und Husten kaum laufen, und ich ebenso, so dass ich gar nicht weiß, ob ich im Sommer irgendwohin gehen werde und wenn, wohin genau. Ich könnte ja auch jeden Augenblick das Zeitliche segnen. Einen Brief zu schreiben, das ist für mich jetzt eine wahre Heldentat, außer jenen Briefen, die sich von selbst schreiben, wie dieser zum Beispiel: das ist die reinste Erholung. Auf Wiedersehen, teurer Anatolij Fedorovič, ich habe mich mit der Antwort beeilt, damit sie Sie noch in Charkov erreicht, und hoffe im Übrigen darauf, dass man Ihnen den Brief nachsendet, sollten Sie schon abgereist sein. Schreiben Sie mir doch bitte kurz, ob Sie ihn erhalten haben. Ich umarme Sie in Gedanken. Immer Ihr I. Gončarov P. S. Verzeihen Sie den Klecks: er ist entstanden, als ich den Brief beendet hatte, zum Abschreiben aber habe ich keine Kraft, außerdem verspäte ich mich sonst. 74 Commerzhotel,365 Riga, den 30. Juni 1888 Genau am 24. Juni erhielt ich Ihren Freundesgruß, teurer, viel geliebter Anatolij Fedorovič und ich danke Ihnen, dass Sie an mich gedacht haben. Sie haben es erraten, von allen mir Nahestehenden ist Mich[ail] Matv[eevič] der einzige gewesen, der noch in der Stadt war, er hat nicht gezögert, zu mir zu kommen, obwohl

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der Johannistag diesmal überaus feucht und finster war, kein Juni-, sondern eher ein Oktobertag. Ich wollte ihn zu Donon oder Cubat366 entführen, doch er hatte Kljark367 versprochen, ihn auf dem Land zu besuchen, an den folgenden drei Tagen aber war ich mit Reisevorbereitungen ins liebe Dubbeln beschäftigt, „en revenant à mes premières amours“! Sollten Sie mir schreiben wollen, adressieren Sie den Brief bitte folgendermaßen: Dubbeln, neben Riga,* Marienbader Straße, Haus Šnecko [Schnetzko], Nr. 20.39 Ich werde mit Sanja noch drei Tage hier in Riga bleiben, ihre Mutter und die übrige Mannschaft kommt mit dem Dampfer und dann auf dem Landweg nach. Ljubov‘ Isaak[ovna] hat nebenbei erwähnt, Sie würden auf dem Rückweg von Kissingen möglicherweise in Dubbeln vorbeischauen: das wäre aber ein Fest! Diesmal würde ich Ihnen Krebse auftischen (und Aleks[andra] Iv[anovna] Kohlsuppe und Grütze), eine Lesung aber droht Ihnen (leider – für mich!) nicht! Ich habe nichts in Arbeit, nicht einmal in Gedanken! Statt dessen all die Kleinigkeiten, diese Unannehmlichkeiten des Lebens, denen ich, wie Sie mir geraten haben, keine Beachtung schenken soll, aber wie soll das gehen, wenn sie, diese Kleinigkeiten und Unannehmlichkeiten, einem in die Hände, die Füße, die Leber, sogar ins Herz beißen wie die Hunde! Geist und Seele sind unruhig, meine Kräfte nicht im Gleichgewicht, und die arme Phantasie, diese zarte, schöpferische Fähigkeit, fliegt fort, wie ein aufgeschreckter Vogel! Ich sehe keinen friedlichen Lebensabend vor mir, „Mühsal und Kummer“368 – ja, sogar nur Kummer, wahrscheinlich ohne Mühsal, greisenhafter, hilfloser Kummer, mit Krankheiten, Mutlosigkeit, und natürlich ohne das geringste „Abschiedslächeln der Liebe“, von niemandem! Erholen Sie sich, kommen Sie zu Kräften, Sie junger, starker Löwe, rüsten Sie sich für einen neuen, kraftvollen, frischen Lebensabschnitt, für den Kampf und die Bewältigung aller Schwierigkeiten, mögen Ihnen viele Früchte Ihrer tätigen, reichen schöpferischen Kraft beschieden sein. Ich vertraue sehr in Ihre weitere Tätigkeit, obwohl ich diese Früchte natürlich nicht mehr erleben werde: mein Leben bemisst sich jetzt nicht mehr in Jahren, sondern in Tagen und, wenn es hoch kommt, in Monaten! Ich umarme Sie und warte auf ein paar Zeilen von Ihnen und, wenn möglich, auch Sie selbst in Dubbeln. Immer und herzlich Ihr Gončarov P. S. Sanja sitzt hier und liest die “Obykn[ovennaja] istorija“ in franz[ösischer] Übersetzung.369 Als sie hörte, dass ich Ihnen schreibe, bat sie mich sehr lieb, Sie zu grüßen, sie freut sich, Sie vielleicht in Dubbeln zu sehen. *

Im Original deutsch.

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P. S. Ich bitte Sie, G. P. Nebol’sin, K. K. Grot, Evg[enij] Is[aakovič] Utin und Nadežda Aleks[eevna]370 und meine anderen guten Bekannten, die gerade in Kissingen sind, von mir zu grüßen. 75 Dubbeln, neben Riga,* Marienbader Straße, Haus Stricki [Stritzki], Nr. 35, den 11. [und 17.] Juli 1888

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Ihren lieben Brief habe ich erhalten, teurer Anatolij Fedorovič, und bin unsagbar glücklich, dass Sie mir in Ihren Erinnerungen an Dubbeln eine so schöne Rolle des Trösters während Ihrer damaligen (1880) schweren Heimsuchungen zugestehen. Ich weiß noch, wie ich sagte, dass diese dunkle Wolke vorüberziehen und die Strahlen des Lebens wieder leuchten werden. „Fürchte dich nicht, glaube nur“,371 sagte ich Ihnen damals. Sie vertrauten der Erfahrung des alten Mannes, der nicht wenige schwere Stürme erlebt hat, und erholten und beruhigten sich ein wenig, wie mir schien ... Ich entsinne mich unserer Spaziergänge und Gespräche, auch Sie haben sie also nicht vergessen, das ist mir ein großer Trost. Später haben Sie sich natürlich durch die Erfahrung davon überzeugen können, dass ich das nicht leichthin prophezeit hatte. Wie viel Glanz, Erfolg, vielleicht auch Glück ist Ihnen seitdem zuteilgeworden! Erholen Sie sich, schonen Sie Ihre Kräfte, verschwenden Sie sie nicht auf Nichtigkeiten, damit Sie der Arbeit oder den Arbeiten372 dienen können! Ihnen ist vieles gegeben, folglich wird Ihnen auch vieles abverlangt. Als Nichtigkeiten bezeichne ich nebenbei bemerkt jene Dramen, deren Heldinnen im Leben der Männer die Frauen sind. Frauen spielen natürlich eine sehr große Rolle, doch das ist dann amüsant, bequem und angenehm, wenn die Beziehung zu ihnen einer Komödie gleicht. In diesem Fall verleiht es dem Leben ein air-fixe, Frische, ein spielerisches Element, es lebt sich leicht und stört weder die Arbeit noch die Arbeiten. Aber was für ein Elend, wenn ein Mann die Liebe au serieux nimmt und ‚trostlos und bitter‘ zu lieben beginnt.373 Das kommt auch bei Frauen vor, nicht immer liebt das Frauenherz „heiter“. Empfindsame, nervöse Naturen sind in beiderlei Geschlechtern nicht selten. Ich komme darauf zu sprechen, weil Sie mir in jenem denkwürdigen 1880er Jahr von einem Ihrer derartigen Dramen erzählt haben. Sie sagten damals, sie (die Frau) hätte Ihrem „Leben einen schweren Schlag versetzt“ usw. Genauso ist es, derartige Dramen rauben uns unsere besten Kräfte, man kann sagen, sie entreißen den Kräften die Blüten und lenken von der Arbeit, von der Pflicht und der Berufung ab. Letzteres sage ich über mich selbst: meiner überaus nervösen Empfindsamkeit zufolge bin ich meiner künstl[erischen] Natur nach ein Bewunderer jeder Schönheit, insbesondere der weiblichen, und habe einige solcher Dra*

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men durchgemacht, aus denen ich jedesmal „unrasiert, blass und mager“,374 aber als Sieger, hervorgegangen bin – dank meiner Beobachtungsgabe, der schonungslosen Analyse und meines Humors. Ich wand mich in Krämpfen der Leidenschaft, doch gleichzeitig entging mir nicht, wie dumm und komisch das alles war. Kurz, subjektiv quälte ich mich, betrachtete den ganzen Ablauf des Dramas aber auch objektiv und stellte, nachdem ich es in seine Einzelteile zerlegt hatte, fest, dass es sich um eine Mischung aus Eigenliebe, Langeweile und fleischlicher Unreinheit375 handelte, kam wieder zu mir und alles glitt an mir ab wie das Wasser an der Gans.376 Ärgerlich aber ist, dass durch diese dumme Knechtschaft mitunter Jahre verlorengingen, die besten Tage dahinschwanden, die einer lichten, schönen Aufgabe, einer schöpferischen Arbeit hätten gelten können, kurz, einem normalen, menschenwürdigen Leben. Ich habe derartige Dramen in einer Veröffentlichung einmal als Krankheiten bezeichnet! Ja, es ist eine Art Syphilis, die den Verstand und die Seele zerfrisst und die Nerven für lange schwächt! Das ist ganz und gar keine Liebe, die (d. h. nicht die Leidenschaft, sondern ein echtes gutes Gefühl) ebenso sanft und herrlich ist wie die Freundschaft. Möge Gott Sie vor einem weiteren Drama bewahren, wie jenem, das Sie mir damals anvertrauten! Sie werden sagen, dass Sie jetzt in einem Alter sind … usw. „Ein jedes Alter frönt auf Erden der Liebe“,377 antwortet Ihnen der Dichter aus dem Grab. Mehr als jedem anderen würde es mir um Sie leid tun, hielten Sie solche Bagatellen von Ihrer Pflicht und Ihrer Berufung ab. Verzeihen Sie diese Abschweifung. Sie fragen, wie es mir hier geht: bis jetzt Gottseidank gut! Schon den zweiten Tag haben wir klares, warmes Sommerwetter, es heißt, es sei sogar heiß. Letzteres kann ich nicht bestätigen, vielleicht, weil alten Leuten nie heiß ist. Ich wohne in der unteren Etage, bei mir wird noch geheizt, denn das von mir gemietete Haus steht vor der Sonne verborgen im Schatten von Bäumen, und wäre an den Ufern des Nil oder Indus nicht mit Gold aufzuwiegen, hier aber ist es in der Nacht schon feucht. [Fortsetzung] [Dubbeln, den 17. Juli 1888] Ich bin aus dem Haus, das ich ursprünglich gemietet hatte, ausgezogen. Dort qualmte der Ofen, es gab kein Geschirr und auch keinen sonstigen Hausrat, hier dagegen gibt es alles in Hülle und Fülle, einen großen Garten und eine riesige Veranda. Die „liebe Frau Baggovut“ traf ich just an dem Tag, an dem ich Ihren Brief erhielt, und überbrachte ihr Ihre Grüße. Sie wird von einer erblühten Rose, oder besser gesagt, Lilie, begleitet, ihrer hübschen Tochter, und von ihrem beständigen Begleiter, dem Senator. Ob er wohl vom Justizministerium abkommandiert wurde, um ihr zur Verfügung zu stehen? Ich sehe ihn schon seit Jahren in ihrer Nähe. Die

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Pokrovskijs habe ich nicht gesehen und ich fürchte, ich würde sie bei einer Begegnung auch nicht erkennen, ich weiß nicht mehr, wie sie aussehen! Gestern aber – o Schreck – traf ich, denken Sie nur … P. D. Boborykin. Er ist mit seiner Frau hier, wohnt am anderen Ende von Majorenhof, folgl[ich] ist die Aussicht, ihn häufiger zu treffen, gering! Er klagt, dass sich eines seiner Augen eintrübt, weshalb er, wie er sagt, „in Maßen schreibt und wenig liest“! Das erste glaube ich nicht recht. Unsere deutschen Bekannten sind alle da, auch der gute Rebinin und natürlich viele Juden.378 Ein Konzertabonnement habe ich nicht genommen, um nicht in die Fänge der Bekannten zu geraten. Doch so sehr ich mich auch verstecke, man erkennt mich. Gestern ist eine Dame in der Badeanstalt* sogar in meine Kabine eingedrungen. Ich konnte sie mir erst vom Halse schaffen, als ich mich auszukleiden begann.41 Ich bin völlig untätig: irgendwie ist mir die Lebensfreude abhanden gekommen. Meine Altersgebrechen erinnern mich oft an das memento mori. Bald der Husten, bald Magenkrämpfe, bisweilen Atemnot und dergleichen mehr. Meine Krankheit ist unheilbar: sie heißt 76 Jahre. Die junge Generation um mich herum und ihre Mutter, alle sind glücklich über Ihre Aufmerksamkeit, und dass Sie an sie gedacht haben. „Danken Sie ihm, dass er an uns gedacht hat“, sagt A[leksandra] I[vanovna], „für die Aufmerksamkeit, und dafür, dass er den Kopf nicht hoch trägt!“ Heute waren sie in der Kirche. Sanja trug ein Jäckchen, eine weiße Weste und ein rotes Band im Haar – sie sah sehr nett aus. Der Alte General379 grüßt Sie und schlägt die Hacken zusammen. Er ist fröhlich und gesund und schwimmt im Meer bis zur erlaubten Grenze. Nur manchmal ist er traurig, dass Beneskritov nicht da ist, doch er hofft darauf, dass er noch kommt. Schreiben Sie mir noch einmal, falls Sie Langeweile haben sollten. Und richten Sie bitte Mark Nikol[aevič]380 einen ganz besonders innigen Gruß aus. Ich drücke Ihnen von ganzem Herzen die Hand. I. Gončarov 76 [St. Petersburg], den 4. November 1888 Ihre Zeilen, vielgeliebter und teurer Anatolij Fedorovič, sind gerade jetzt und in Ihrer augenblicklichen Lage, von besonderem, oder besser gesagt, von unschätzbarem Wert. Sie haben auch an mich gedacht, das heißt, Ihre Freundschaft lässt nicht nach, ungeachtet der schweren „Feldarbeit“, die Sie in diesen schwierigen und arbeitsrei*

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chen Tagen leisten. „Gott trägt uns aus den Wogen ans Ufer“ sagen Sie: tatsächlich, so ist es. „Fürchte dich nicht, glaube nur“, diese Worte werden natürlich für immer in Ihrer Seele leben und Ihnen Energie und Hoffnung für die gegenwärtigen Taten spenden. Energie und Hoffnung schöpfen Sie zweifellos auch aus dem Vertrauen der Öffentlichkeit in Ihre Fähigkeiten, in Ihren Verstand, Ihre Seele und Ihr Talent. Nach der kürzlichen Katastrophe381 sind nun die Blicke aller auf Sie gerichtet, man erwartet, dass Sie die Wahrheit, die wirklichen Ursachen herausfinden. Leider ist die Ungeduld so groß, dass nicht nur die Gerüchte, die mündlich im Umlauf sind, der Aufklärung zuvorkommen wollen, sondern auch jene in der Presse, die die Hintergründe der Ereignisse entstellen und auch verdunkeln. Der Eifer, mit dem manche gegen jede Vernunft vorgehen (beispielsweise der „Graždanin“,382 insbesondere im Artikel „Brief an den Ingenieur“), ist wirklich erstaunlich. Das ist der unverschämte Aufschrei eines zur Schau gestellten Pathos. Man nimmt sich bald den einen, bald den anderen Beamten vor, darunter auch leitende Beamte wie Pos’et und Salov383 – und urteilt, rügt sie dreist als jene, die die „Macht haben“, droht, erteilt Verweise („seht her, wie treu ergeben ich bin!“) und nicht etwa wegen des eigentlichen Vorfalls, nicht wegen der Gründe für das Eisenbahnunglück usw., nein, es geht darum, weshalb der eine sich hierhin begeben hat, weshalb der andere nicht da war, sondern dort usw. Man liest es und traut seinen Augen nicht! Und alles schreit auf, ohne die Aufdeckung der Wahrheit abzuwarten, die jetzt in Ihren Händen liegt. Jeder breitet sich in den Zeitungen über die Gründe aus, ohne das Geringste zu wissen: Fachleute – Nicht-Fachleute, alles ist durcheinander und auf Abwege geraten. Kurz, es herrscht das Chaos. Ich habe sowohl Pos’et als auch Salov gesehen. Das Unglück macht ihnen – natürlich nicht physisch – ebenfalls zu schaffen, wie allen anderen. Doch obwohl das Ereignis sie genauso niederdrückt, tragen sie die Last mit Würde. Vas[ilij] Vas[il’evič]384 sagt, wie alle anderen, dass Sie die Wahrheit glaubwürdig aufdecken werden. Allen aber scheint es, und mir ebenfalls, dass es so viele Wahrheiten gibt, die sich zu einer schicksalhaften Ganzheit fügen, die man „Verkettung der Umstände“ nennt, eine gewaltige Elementarkraft, bei der tatsächlich „menschliches Eingreifen unmöglich ist“, zumindest, was die gegenwärtigen Ereignisse betrifft. An ihnen ist, so scheint mir, niemand schuld, oder vielleicht sind es auch alle. Sowohl die Strecke, als auch die Beamten, die Wagen, die schnelle Fahrt, der Regen, alles ist zusammengekommen, um eine der glücklicherweise seltenen, doch ernsten Lehren zu ziehen und Erfahrungen zu sammeln, die allen – den tatsächlich Schuldigen und den schuldlos Schuldigen –­ wenn nicht für immer, so doch für lange, als deutliche Warnung dienen. Sie verstehen und analysieren das alles besser als wir, und werden viele, viele, wenn nicht zurechtweisen, so doch verwarnen. Ich gebe Ihnen hier nur unzusammenhängend wieder, wie viele Hoffnungen man in Ihr Talent, Ihre Erfahrung und

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Ihren Charakter setzt. Sie werden das alles zweifellos meistern und als Sieger hervorgehen. Nur Mut, teurer Freund, gehen Sie direkt auf die Wahrheit zu (wo auch immer sie zu finden ist), wie auf einen Bären: Sie sind gut gerüstet. Die Rückkehr des Herrschers, das heißt sein Eintreffen in Petersb[urg], gemeinsam mit der Kaiserin und dem Thronfolger,385 war etwas Ungewöhnliches und zutiefst Ergreifendes. Es war ein Festtag für alle, eine Osterwoche außer der Reihe – jeder wollte den Osterkuss mit dem Herrscher und der Zarenfamilie tauschen.386 Als alten Studenten rührten mich unsere jungen Kommilitonen. Sie haben natürlich gelesen, wie sie, wie die Kinder, die Equipage des Zaren umringten, wie sie schrien, weinten usw. Ich war zweimal bei Mich[ail] Matv[eevič], dort wurde viel und aufgeregt von Ihnen gesprochen, man ist sich der Schwierigkeit Ihrer Aufgabe bewusst, alle fühlen mit Ihnen und glauben an Sie. Ich freue mich, dass Sie ausgerechnet in Charkov arbeiten und nicht irgendwo anders: Sie lieben die Stadt und haben dort viele Freunde. In der Hoffnung auf Ihre baldige Rückkehr umarme ich Sie Ihr Gončarov P. S. Meine Mannschaft mit A[leksandra] I[vanovna] an der Spitze, „wagt nicht“ (wie sie sagen, d. h., wie A[leksandra] I[vanovna] sagt), Ihnen Grüße zu senden, doch alle danken Ihnen auf das Innigste, dass Sie an sie gedacht haben. 77 [St. Petersburg], Sonnabend, den 7. Januar 1889 Teurer Anatolij Fedorovič! Sie ahnen nicht, wie sehr mich Ihre lieben Zeilen aus Charkov erfreut und gerührt haben, sie erinnerten mich an einen tatsächlich „denkwürdigen“, bedeutenden Tag in meinem Leben, an den 31. Dezember, als mich vor sieben Jahren kleine Gruppen hochgebildeter Freunde meiner Werke mit guten Worten bedachten und mir anlässlich des 50. Jubiläums meiner Autorentätigkeit huldigten.387 Ich habe Ihren Gruß sogleich beantworten wollen, doch wohin? Sie sagten „auf ein baldiges Wiedersehen“, hier aber hörte ich, man erwarte Sie zum Neuen Jahr, doch niemand wusste etwas Genaues. Endlich sind Sie zurück – heute wurde in den Zeitungen bereits über Ihre Rückkehr berichtet. Ich werde nicht danach trachten, Sie bald zu sehen: Ihnen steht der Kopf jetzt weder nach mir, noch nach uns anderen privaten, unbedeutenden Personen. Sie müssen zunächst die schwere Last der Pflicht loswerden, die wie ein Joch auf Ihren

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Schultern lastet und Ihnen vom Zaren, ja gar von einer höheren Macht, auferlegt wurde ... Wenn ich Sie jetzt sehen wollte, wäre das sogar sündhaft: Sie müssen ja vor allem die Freunde und ihre indiskreten Fragen meiden … Ich begreife, in welch schwieriger Lage Sie sich befinden und verstehe jene nicht, die Sie aus Neugier über die Ereignisse ausfragen wollen, über die Sie doch vor allem den zuständigen Stellen Bericht erstatten müssen. Ich gebe zu, eines würde ich mir wünschen: von Ihnen selbst etwas über jene „heilige Minute“ zu erfahren, die Sie in Ihrem letzten Brief so bewegt beschrieben. Doch ich bezähme meine Ungeduld und dränge Sie nicht zu einem baldigen Treffen, ich kann warten, bis Sie die anderen zufriedengestellt haben und mir motu proprio eine freie Viertelstunde schenken. Doch ich kann nicht umhin, Sie auch meinerseits zum Neuen Jahr zu beglückwünschen, und ich bete dafür, dass dieses N[eue] Jahr, wie auch das Ende des alten, die Restauration und Rehabilitation Ihrer so hart beurteilten Vergangenheit und den Beginn der neuen, lichten Zukunft mit sich bringen möge! Ich werde – unter anderem aus Krankheits- und Altersgründen – nicht selbst bei Ihnen vorbeikommen, um Sie in die Arme zu schließen und Ihnen das oben Geschriebene zu sagen. Ich lasse mich fast nirgends mehr blicken. Für morgen, Sonntag, habe ich den Stasjul[evičs] versprochen, bei ihnen zu Mittag zu essen – doch ich weiß noch nicht, ob bei diesem Wetter etwas daraus wird: es ist kalt, aber es liegt kein Schnee, wenn ich mich mit der Droschke auf den Weg mache, werde ich mich erkälten. Ich bin einfach unzurechnungsfähig geworden, man kann sich nicht mehr auf mich verlassen. Ich umarme Sie in Gedanken, drücke Ihnen fest beide Hände und wiederhole: auf Wiedersehen, auf Wiedersehen Ihr Gončarov 78 [St. Petersburg], den 1. [bis 2.] Februar 1889 Mein teurer Anatolij Fedorovič, ich schreibe Ihnen heute mit Hilfe von Sanja, denn ich liege noch immer im Bett, obwohl es mir etwas besser geht.388 Morgen um zwei Uhr kommt Herr Stasjulevič; ich würde mich sehr freuen, wenn es Ihnen möglich wäre, die Korrekturen anzuhören, die er mitbringen wird.389 Ich hoffe, Sie übermitteln dem Herrn Finanzminister Ivan Alekseevič Vyšnegradskij390 meine Ehrerbietung, und versuchen gleichzeitig, obwohl Sie nur Abgeordneter sind, gemeinsam mit ihm für die Waisen391 die 4500 Rubel zu erhalten, die

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die öffentliche Hand nicht reich machen werden, denn ich wage nicht, den Herrscher durch neue Ausgaben zu belasten. Ich wage auch nicht anzunehmen, dass der Herrscher und die Kaiserin mein Buch des Lesens für würdig erachten, doch ich fühle mich verpflichtet, ihnen meine Werke durch Sie oder Herrn Vyšnegradskij überbringen zu lassen. Seine Majestät besitzt acht Bände meiner Werke, dies wird der neunte Band sein, den ihre Hoheiten, die Großfürsten Sergej und Pavel Aleksandrovič,392 die Güte haben werden, den Majestäten zu überbringen. Ich hoffe, dass Sie alles ausführen werden, trotz der Tatsache, dass Sie und M. N. Ljuboščinskij nur Abgeordnete sind. Diesen Brief wird mein Zögling Aleksandra Trejgut überbringen. [Von Gončarovs Hand:] Da haben wir‘s!! Das ist nun der Anfang vom Ende! 2. 2. 89 [Von Konis Hand:] O je! Sehr gut möglich! 2. 5. 89 79 [St. Petersburg. Zwischen Februar und März 1889] Ivan Aleksandrovič Gončarov393 bittet Anatolij Fedorovič durch die Hand von Ljubov‘ Isaakovna ergebenst, ihn am Freitag zur Konsultation bei Junge394 zu begleiten, wie er es versprochen hat. 80 [St. Petersburg], den 23. Juni 1889 Lieber und guter Anatolij Fedorovič! Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, dass Sie an den 6. Juni gedacht haben. Wahrscheinlich werden Sie es morgen, am 24., wieder tun.395 Ihrem Vorbild folgend, brachten mir Mich[ail] Mat[veevič], Ljubov‘ Isaakovna, ebenso wie ihre Nachbarn, der Baron und die anderen, Blumen und verschiedene Geschenke. Doch der Dank gebührt in erster Linie Ihnen. Ich habe ein kleines Sommerhaus gemietet, mit 4 oder 5 Zimmern, in Pavlovsk,396 es liegt noch näher und die Fahrtverbindung ist bequemer als jene nach Merrekküll oder Hungerburg.397 Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, so schreiben Sie in die Galernaja, an Mich[ail] Matveevič: er weiß, wo ich bin. Ihn selbst hält der Filter398 bis zum Sep-

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tember hier auf, Anfang September aber will er nach Wien fahren, um seine Frau abzuholen und auch, um es sich dort gutgehen zu lassen. Vor kurzem war der Doktor bei mir: er hat mir Vichy-Brunnen mit warmer Milch verschrieben,399 weiter nichts. Er sagt, an der Luft würde nicht nur meine Hand völlig hergestellt werden, sondern auch ich selbst wieder ganz zu Kräften kommen. Meine Hand ist jetzt tatsächlich wieder zu gebrauchen, doch ich muss sehr langsam schreiben, dazu fehlt mir aber die Geduld. Dank der Telegrafen, Telefone und anderer Fone400 beginnt jetzt ein neues Leben. Wir haben unseren Idealen gelebt, geglaubt und glauben noch, dass die Menschen keine Engel sind, natürlich, aber auch keine wilden Tiere. Jetzt aber hält man sie für wilde Tiere und sie finden sich mit dieser Weltanschauung ab. Na, meinetwegen! Ich beneide Sie nicht, aber nicht, weil sich mein Leben dem Ende zuneigt, Ihres aber auf dem Höhepunkt ist und Sie einen Vorrat an Kräften und Elan besitzen. Ich beneide Sie deshalb nicht, weil Ihnen Arbeit und Kampf bevorsteht, für die Sie aber gut gewappnet sind. Der erlöschende, augenblicklich hinfällige, Sie aber sehr liebende Alte St. Petersburg P. S. Am 26. oder 27. werde ich (d. h. mit meiner Pflegerin, A[leksandra] I[vanovna]) nach Pavlovsk übersiedeln.401 81 [St. Petersburg], den 6. September 1889 Lieber und guter Anatolij Fedorovič! Ihren zweiten Brief aus der Schweiz konnte ich nicht selbst beantworten, ebenso wie ich auch Mich[ail] Matv[eevičs] Brief aus Dinard402 unbeantwortet lassen musste. Meine Hand kommt einfach nicht in Ordnung, ich habe es auch nicht versucht. Den ganzen Sommer über habe ich nur einen Brief an Sie geschrieben und einen weiteren an S. A. Nikitenko, für den ich statt einer halben Stunde anderthalb Stunden brauchte, so dass ich ganz rot angelaufen bin und Hitzewallungen bekam. Auch jetzt habe ich Sanja die Adresse diktiert. Obwohl ich in den Zeitungen nichts über Ihre Rückkehr aus dem Ausland gelesen habe, müsste Ihr Urlaub nun zu Ende sein, und Sie müssten sich vermutlich wieder an Ihrem Platz befinden. Wenn dem so ist, wollen Sie dann Ihren alten Freund nicht besuchen kommen, der danach dürstet, Sie zu sehen und auch Ihren guten Rat und Ihre Hilfe braucht.403 Ganz und immer Ihr I. Gončarov

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82 [St. Petersburg], den 23. September 1889 Lieber und teurer Anatolij Fedorovič! In Ihrer Nachricht heißt es, es würde völlig genügen, wenn zwei Zeugen meine Unterschrift bestätigten, doch es findet sich kein Wort darüber, ob diese Zeugen (d. h. Sie und noch jemand) meine Erklärung in meiner Anwesenheit unterschreiben müssen oder ob ich, wenn ich in meinem Testament eine Anmerkung mache, diese Ihnen und dem anderen Zeugen geben muss, für den Fall, dass das Bezirksgericht Sie und den anderen Zeugen unter Eid befragen sollte, dass Sie Zeugen meiner Unterschrift gewesen sind. A. G. Polotebnov und M. M. Stasjulevič sind beide gern bereit, meine zweiten Testamentsvollstrecker zu sein. Jetzt geht es nur noch um die Zeugen: können sie in meiner Abwesenheit unterschreiben oder nicht? Bitte entscheiden Sie diese Frage. Daher müssten Sie noch einmal kurz bei mir vorbeikommen. Am Sonntag werde ich von ein Uhr bis vier, wahrscheinlich auch bis fünf, zu Hause sein. Sollten Sie in der dritten, vierten oder fünften Stunde am Montag kommen, werden Sie Sof[‘ja] Al[eksandrovna] Nikitenko bei mir antreffen. Sie ist begeistert über Ihre Reaktion auf das Tagebuch ihres Vaters.404 Dieses Tagebuch hat sie allein herausgegeben. Ich diktiere ihr etwas für die „Niva“, ob dabei allerdings etwas herauskommt, das weiß ich nicht. Ihr Rat wäre mir sehr teuer. Wenn es nicht geht, dann ist nichts zu machen! Ich hätte besser schreiben können, doch in bin in Eile und außerdem sitze ich im Zugwind, auch stört mich die Sonne, und aus dem Nebenzimmer ertönt Aleks[andra] Iv[anovnas] Husten und dergleichen! Von allen Seiten Unheil. Immer und überall Ihr I. Gončarov 83 [St. Petersburg], den 4. November 1889 Ich habe Sie eine ganze Ewigkeit nicht gesehen, teurer und lieber Anatolij Fedorovič! Sie zu stören und zu mir einzuladen, dazu kann ich mich nicht entschließen, denn ich weiß ja, wie beschäftigt Sie sind. Für alle Fälle allerdings habe ich Mich[ail] Matv[eevič] Stasjulevič, in dessen Nachbarschaft, d. h. im Senat,405 Sie sich ja aufhalten, gesagt, dass ich Ihren Rat befolgt habe und in die Kirche gegangen bin, wo zu meinem Glück mein Geistlicher die Messe las. Nach dem Gottesdienst kam er

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zu mir, las Ihre Erklärung, beglaubigte sie sofort durch seine Unterschrift, ohne überhaupt von mir dazu aufgefordert worden zu sein.406 Er sagte, so etwas erlebten Geistliche, auch er, gar nicht selten. Das alles habe ich Michail Matv[eevič] in der Hoffnung erzählt, dass er Sie eher als ich sieht und Ihnen berichtet, dass ich Ihren juristischen Rat befolgt habe. Schlimm ist nur, dass mein Testament vorläufig bei mir in der Schublade liegt. Nach meinem Tod soll Aleksandra Iv[anovna] dann machen, was sie für richtig hält! Vorläufig gebe ich es noch niemandem heraus, weder Mich[ail] Matveič noch Polotebnov, nicht einmal Ihnen, in den Senat. Es wird auch niemand entgegennehmen wollen. Die ersten beiden fürchten ebenfalls einen Brand, und Sie werden den Sommer über irgendwohin reisen, ohne Sie würde man es im Senat vermutlich nicht herausgeben. Es ist wirklich schlimm. Leben Sie wohl, lieber Anatolij Fedorovič oder auf Wiedersehen, sollten Sie eine freie Minute finden, gegen drei, vier oder fünf jedes beliebigen Tages! Ganz Ihr I. Gončarov 84 [St. Petersburg], den 1. Januar 1890 Ivan Aleksandrovič Gončarov407 umarmt den guten und lieben Anatolij Fedorovič, wünscht ihm ein glückliches Neues Jahr und glückliche weitere Lebensjahre! Ehre wem Ehre gebührt! 85 [St. Petersburg], den 23. Mai 1890 Ivan Aleksandrovič Gončarov408 umarmt den lieben und guten Anatolij Fedorovič und verabschiedet sich von ihm, vermutlich bis zum Herbst. Morgen früh siedelt er ins Sommerhaus nach Staryj Peterhof um, in der Hoffnung, dass die frische Luft dazu beitragen möge, seine Existenz zu verlängern, auf die er nebenbei gesagt, keinen großen Wert legt.409 Doch er wünscht von Herzen, dass Anat[olij] Fed[orovičs] Kräfte wiederhergestellt werden und üppige Blüten und Früchte tragen.

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86 Staryj Peterhof. Ecke Oranžerejnaja/Manežnaja Straße. Haus Nr. 13 des Priesters Sokolov, den 22. Juni 1890 Ich kann nicht in Worte fassen, lieber und guter Anatolij Fedorovič, wie teuer mir die Tatsache ist, dass meine Freunde, darunter in erster Linie Sie, an meinen Namenstag gedacht haben! Ihr Brief ist dem 24. Juni410 um zwei Tage vorausgeeilt, umso besser: so kann ich darauf hoffen, dass das Geschreibsel meiner Feder Sie noch in Teplice411 erreicht. Ich freue mich sehr, dass Sie und Michail Matv[eevič] das Glück hatten, in dieser Stadt die Bequemlichkeit, Ruhe und Erholung zu finden, die zur Wiederherstellung Ihrer Kräfte so notwendig sind! Sie sind sehr lebhaft und empfänglich für Eindrücke, in Ihnen wohnen zwei Wesen – der Künstler und Schriftsteller und der Richter, doch vor allem der Schriftsteller! Bis heute erinnere ich mich an Ihren Aufsatz, den Sie mir in Hungerburg vorgelesen haben und den Sie der Öffentl[ichen] Bibliothek übergeben wollten. Gegenwärtig ist es auf keinen Fall möglich, ihn zu veröffentlichen, aber in zwanzig oder dreißig Jahren, wenn die Hauptakteure von der Bühne abtreten, dann ja! Ihn aber nicht zu veröffentlichen, das ist ausgeschlossen!412 Gebe Gott, dass Ihre Leiden, die „Überanstrengung“ – meiner Meinung nach sind es die Hämorrhoiden und die sitzende Tätigkeit sowie verschiedene Unannehmlichkeiten sowohl wegen Ihrer Stellung als auch wegen Ihres Charakters –, vorübergehen mögen, in unserem lieben Vaterland wie im Ausland! Mein Sommerhaus hat sich als gute Wahl erwiesen – ein recht großer Garten gehört dazu, eine Veranda, auf der man ein Bankett für 50 Pers[onen] geben könnte und ein Pavillon. Ich bewohne unten vier Zimmer mit Parkettböden und Aleks[andra] Iv[anovna] und die Kinder haben oben vier oder fünf Zimmer. Den Hausherrn und die Hausherrin haben wir bisher nur einmal gesehen. Übrigens: Aleksandra Iv[anovna] und die Kinder senden Ihnen ehrerbietigste Grüße und danken für die Aufmerksamkeit und dass Sie an sie denken. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen vor der Abreise schon erzählt habe, dass Sanja ihre Ausbildung im Pädagogisch[en] Institut beendet hat und für würdig befunden wurde, das Diplom aus den Händen des Kurators, des Großfürsten,413 entgegenzunehmen, und Lenočka ist in die letzte Gymnasialklasse versetzt worden. Vasja wollte in den Militärdienst eintreten, doch seine Sehkraft und sein Gehör haben sich dafür als zu schwach erwiesen, jetzt bereitet er sich bei Oberst Mireckij auf eine andere Stellung vor. Ich bin schwach geworden und kann mich kaum auf den Beinen halten. Wenn Aleksandra Iv[anovna] nicht wäre, würde es sehr schlecht um mich bestellt sein. Doch schlimm ist, dass auch sie sich kaum bewegen kann, das heißt, sie läuft nur mit Mühe von oben nach unten und umgekehrt! Ihre Kinder wachsen heran, vorerst funktioniert sie noch.414 Sollte sie umfallen, bliebe ich als hilflose Waise zurück! Auf

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meine Verwandten kann ich kaum hoffen: einer ist ein übler Bursche und Schwätzer (ein Liebling von Kulomzin)415 und die anderen416 sind auch nicht viel besser: einer hat sich dem Trunk ergeben, ein anderer ist dem Nihilismus zugeneigt und alle sind darauf erpicht, Nutzen aus mir zu ziehen. Doch der Mensch denkt und Gott lenkt. Ich halte mich an dieses Sprichwort! Ich umarme Sie, teurer Anatolij Fedorovič und verbleibe Ihr tief ergebener I. Gončarov Sanja und Lena erholen sich, jeden Vormittag gehen sie in den Park von No[vyj] Peterhof, zu den Springbrunnen, und sie kommen ewig nicht zurück. 87 [St. Petersburg], den 22. Dezember 1890 Ich danke Ihnen, lieber Anatolij Fedorovič, für die Frage nach meiner Gesundheit: Gottseidank bin ich gesund, allerdings schwach – das liegt am Doktor, an den Arzneien, an der unfreiwilligen Diät, vor allem aber am unbeständigen Wetter und an meinem Alter! Doch bis zu den Feiertagen versuche ich, mich ganz zu erholen und ein Ausbund an Gesundheit zu sein! Das, noch dazu kalte, Selterswasser hat mir den Rest gegeben! Immer Ihr Freund und Verehrer I. Gončarov 88 [St. Petersburg], den 30. April 1891 Teurer Anatolij Fedorovič! Ich fühle mich Ihnen gegenüber sehr schuldig, und jetzt, da Sie, wie ich annehme, nach Petersburg zurückgekehrt sind, halte ich es für meine Pflicht, diese Schuld wiedergutzumachen. Vor allem bereue ich, dass ich Ihnen zwar meine Broschüre417 geschickt, Ihnen aber nicht zu Ihrem Geburtstag gratuliert habe: Sie hatten mir ja selbst mitgeteilt, dass sie an diesem Tag in Ihr 48. Lebensjahr eintraten. Hiermit nun hole ich dieses Versäumnis meiner Feder nach. Zweitens fand ich zwischen den unzähligen russischen Aleksandrs418 den Namen des Großmärtyrers Anatolij419 und habe es nicht geschafft, Ihnen zum Tag Ihres Engels420 zu gratulieren – gestatten Sie, dass ich es jetzt tue!

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Und schließlich hat die Ihnen seit ihrer Kindheit bekannte Sanja Trejgut gestern, am Montag, den 29. April, ihren Musiklehrer Rezvecov geheiratet, mit dem sie gleich gestern an die Wolga abgereist ist.421 Er ist Pianist und Geiger, hat eine Stelle im Orchester der russischen Oper, ist sehr bewandert in der Musiktheorie und dergleichen mehr. Ich hoffe, diese Nachricht wird Ihnen nicht unangenehm sein, Sie haben ja seit ihrer Kindheit an ihrem Leben Anteil genommen. Ihr Ihnen herzlich und aufrichtig zugetaner Iv. Gončarov 89 Staryj Peterhof, Ecke Manežn[aja]/Oranžer[ejnaja] ulic, Haus Nr. 13 des Geistl[ichen] Sokolov, den 27. Juni [1891] Teurer Anatolij Fedorovič! Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für das Telegramm anlässlich meines Geburtstags danken soll, das ich ebenfalls mit einem Telegramm beantwortet habe, und jetzt für Ihren lieben Brief anlässlich meines Namenstags. Ich habe zahlreiche Telegramme aus dem Ausland und aus Russland erhalten, darunter auch aus Teplice von Mich[ail] Matv[eevič]422 und aus Elster423 von Ljubov‘ Isaak[ovna] und dem Baron Gincburg. Erlauben Sie mir auch meinerseits, Ihnen zur Ernennung zum Senator424 zu gratulieren, wovon ich aus den Zeitungen erfuhr, wie auch von Ihrer Abreise ins Ausland. Vom „Schlachtfeld haben Sie sich in die ‚Zitadelle‘ zurückgezogen“, möge man Sie doch für die Stelle Arakins als stellvertretenden Minister vorsehen, durch dessen Tod der Posten vakant geworden ist (vor allem ich wünsche mir das), und mit der Zeit auch als Minister. Ich danke Ihnen für die Frage nach Sanja. Sie und ihr Mann werden am 20. August hier eintreffen, bis dahin waren sie in Moskau, in Jaroslavl’, auf der Wolga, in Kazan‘ und in Simbirsk unterwegs. Augenblicklich sind sie bei einem der Brüder Potechin425 zu Gast, einem Arzt, in Kinešma,426 auf seinem Gut. Lena möchte das Konservatorium besuchen und Vasja ist bei Oberst Mireckij, in seinem Landhaus, in Poklonnaja gora.427 Da Sie immer so lieb und gut zu diesen Kindern waren, habe ich ausführlicher über sie berichtet. Aleksandra Iv[anovna] erwidert Ihre Grüße voller Ehrerbietung, sie hat Sie hier mit einer Kulebjaka,428 mit Forellen, Dickmilch und anderem erwartet.429 Ich komme nicht aus meinem Garten heraus und war kein einziges Mal beim Konzert. Irgend etwas ist mit meinem Bein geschehen, wahrscheinlich will jetzt

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auch das Bein, wie zuvor der Arm, seinen Dienst einstellen, d. h. die ganze rechte Körperhälfte. Ich bin jetzt immerhin im 80. Jahr! Grüßen Sie A. V. Pletneva und K. K. Arsen’ev von mir. Ich rate Ihnen, in Wildbad430 im Hotel Klump abzusteigen, wo die Wirtinnen431 das Dessert selbst an der frischen Luft anrichten. Man speist dort vorzüglich. Er ist außerdem auch Bankier. Allerdings darf man nach dem Bad nicht schlafen, sondern sollte sich nur ins Bett legen. Diese Bäder werden Sie beruhigen. Wildbad ist ein zauberhafter Ort im Schwarzwald. Ich habe – an Sie adressiert – auch einen kurzen Brief nach Dresden geschrieben, lassen Sie sich ihn von dort nachsenden. Ganz Ihr I. Gončarov 90 Staryj Peterhof, Ecke Oružejnaja432/Manežnaja ulica, Haus Nr. 13 des Geistlichen Sokolov, 8. Juli [1891] Teurer Anatolij Fedorovič! Ich habe Ihnen nach Dresden (kurz) und nach Wildbad poste restante ausführlicher geschrieben. Ich weiß nicht, ob Sie die Briefe erhalten haben? Erst kürzlich erfuhr ich aus den Zeitungen, dass man nach Deutschland und Österreich unsere 10-Kopeken-Marken aufkleben muss, nach Frankreich und England sogar noch mehr. Von Mich[ail] Matv[eevič] habe ich allerdings aus Teplice eine Antwort erhalten, obwohl ich den Brief nur mit einer blauen Marke frankiert hatte. Jetzt will ich sicherheitshalber zwei, ja 2 ½ Marken aufkleben, vielleicht antworten Sie mir kurz, wenn Sie tatsächlich in Wildbad sein sollten. Es ist der zauberhafteste Ort im Schwarzwald und ich rate Ihnen, bei Klump abzusteigen, sollten Sie zum ersten Mal dort sein. Man speist bei ihm vorzüglich und die Zimmer sind gut. Er ist auch Bankier und wechselt alle möglichen Währungen. Die dortigen Bäder werden Ihnen helfen – das steht außer Frage. Sie sind wohl elektrisch geladen, das Wasser sickert ständig aus dem Boden. Nach dem Bad muss man eine Stunde ausgekleidet im Bett liegen, aber man darf nicht schlafen! Ich danke Ihnen für Ihren lieben Brief zu meinem Namenstag: ich habe ihn erhalten und sogleich beantwortet. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer neuen Ernennung, Sie werden nicht lange Senator sein: viele (auch ich) möchten Sie als stellvertretenden Minister sehen und sogar noch höheren Ortes! Ich danke Ihnen sehr für die Frage nach Sanja. Sie ist mit ihrem Mann noch immer auf Reisen. Er hat ihr Moskau und die Umgebung gezeigt, dann seine Heimat Jaroslavl’, danach Kazan‘, Simbirsk, Nižnij und die Wolga. Jetzt sind sie auf dem Gut eines der Brüder Potechin zu Gast, einem Arzt, im Gouvernement Kostr[oma]. Ob

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sie glücklich ist, fragen Sie: weiß der Himmel! Ihren Briefen zufolge – ja! Ich habe deshalb so ausführlich über sie berichtet, weil Sie zu ihr und zu all diesen Kindern immer lieb und gut waren! Ende August werden beide zurück sein. Ihre Mutter, Aleksandra Iv[anovna], dankt Ihnen ergebenst, dass Sie an sie gedacht haben. Sie fragen, ob ich selbst gesund bin. Man sollte mich achtzigjährigen Greis lieber nicht danach fragen! Ich lebe, so lange Gott meine Sünden erträgt! Meine Beine sind sehr schwach geworden, ich gehe nirgendwohin mehr aus und sehe niemanden! Leben Sie wohl, teurer Anatolij Fedorovič. Ganz Ihr I. Gončarov

3. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Briefe an Aleksandra Karlovna Trejgut1 1 Dienstag, den 13. März [1884] Meine liebe Sanja,2 deine3 Mama bittet mich, dir zu schreiben, dass du sie morgen nicht erwarten sollst. Kvel‘ hat gesagt, dass das Korsett nicht an diesem, sondern am nächsten Mittwoch endgültig fertig sein wird: sag das, wenn man dich in der Schule danach fragt. Wahrscheinlich wird dir Aleksandra Ivanovna4 erlauben, statt morgen am Mittwoch kommender Woche für zwei Stunden in die Maksim[ilian-]Heilanstalt5 zu gehen. Und an diesem Sonntag bringt sie dich zur zweiten Anprobe. Einen Kuss für dich und Lenočka,6 und gebt euch beide Mühe beim Lernen. Damit werdet ihr Mama das beste Ostergeschenk7 bereiten. Eure Tante Katja, die jetzt bei Mama zu Besuch ist, wird diesen Brief in die Schule bringen und beim Pförtner abgeben, der ihn dir zusammen mit einigen Apfelsinen für euch beide übergeben wird. Bring diese Nachricht am Sonntag zurück nach Hause.8 2 Freitag, den 22. Febr[uar 1885] Gestern spät am Abend erhielt ich deine Nachricht, meine liebe Sanja: du hattest es wohl recht eilig, denn nur mit Müh und Not und mit Hilfe deiner Mama konnte ich begreifen, was du möchtest! Lies dir doch immer noch einmal durch, was du schreibst, liebes Kind, so wie ich es dir beigebracht habe: dann gäbe es keine Auslassungen und keine Wiederholungen, zum Beispiel findet sich in deiner kleinen Nachricht drei Mal das Wort wahrscheinlich. Du wirst doch nicht gerade die Wahrscheinlichkeitstheorie durchnehmen? Es gibt eine solche Theorie, das wirst du später von deinen Lehrern erfahren. Jetzt will ich etwas von Mama und Lenočka berichten: Mama ist zwar noch schwach, doch sie spaziert schon durch das Paradezimmer9 und durch das Schlafzimmer; heute wollte sie auch bei mir vorbeischauen, aber ich habe sie nicht eingelassen: bei mir ist es kälter als bei ihr. Lenočkas Nase tut immer noch weh, aber weniger, auch die Mandeln schwellen langsam ab.10 Gestern hat ihr der Doktor eine Mixtur gegen die Bauchschmerzen

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gegeben, falls sie wieder anfangen sollten. Bete zu Gott, dass beide gesund werden! Beide küssen dich inniglich. Mama ist traurig, dass sie dich und Vasja nicht sehen kann.11 Ihr dürft jetzt aber auf keinen Fall kommen und müsst euch gedulden. Auch wenn Vasja murrt, so müsstest du langsam vernünftig sein!12 Ich habe gerade Sof ’ja Aleks[androvna]13 geschrieben, sie möge deinen Wunsch erfüllen, d. h., sie soll an diesem Sonntag niemanden schicken, um dich abzuholen, statt dessen am kommenden Freitag, für zwei Tage. Schreibe ihr am Mittwoch doch selbst ein paar nette Zeilen und benachrichtige sie, dass du am Freitag frei nehmen kannst, und wenn sie so gut ist, damit einverstanden zu sein, sage ihr, dass sie sich nicht selbst bemühen soll, sondern besser ihr Mädchen bittet, dich abzuholen usw. Ich sende dir in diesem Brief Briefmarken mit und rate dir, deine Briefe eurer guten Anna Iv[anovna], der Lazarettdame,14 zu geben, sie wird jemanden schicken, der sie in den Briefkasten steckt: das ist sicherer. Frage aber Sof ’ja Aleks[androvna] wirklich nur in dem Falle, dass dein Ohr nicht wehtut, und wenn es bei Euch keine neuen Scharlachfälle gibt. Solltest du aber feststellen, dass du aus irgend einem Grund nicht zu ihnen fahren kannst, dann schreibe ihr am Mittwoch trotzdem, dass du nicht kommen kannst: damit sie sich nicht umsonst bemüht oder jemanden schickt. Über die neuen Scharlachfälle bei Euch15 in der Schule schreibe oder sage ihr nichts. Sollten sie aber zunehmen, so benachrichtige sie, damit sie nicht kommt. Ich hoffe, du wirst dich als gewissenhaftes und kluges Mädchen so verhalten, wie deine Mama und ich es von dir erwarten, d. h. mit Herz und Taktgefühl. Zeige diesen Brief niemandem dort, bewahre ihn auf, stecke ihn zum Andenken an mich in deine Schreibmappe (mit dem Vögelchen).16 Ich habe dort schon jenen Brief hineingelegt, den du durch Sof[‘ja] Aleks[androvna] geschickt hattest. Ich will gleich an A. I. Markel[ova]17 schreiben, damit sie dich übermorgen, am Sonntag, wieder besucht und sie bitten, dir deinen Rubel auszuhändigen. Sage mir durch sie, ob du etwas brauchst. Ich werde am Sonntagabend bei ihr sein, wenn es die Grippe erlaubt. Sollte dir die Lazar[ett]-Anna-Iv[anovna] wieder Hühnchen und Beefsteak auftischen, so schreib es mir, vergiss es nicht, sage ihr aber nichts davon, damit ich ihr die Auslagen erstatten kann. Ich habe noch vergessen, nach der Konfitüre zu fragen: hast du sie bekommen und hat sie dir geschmeckt? P. S. Grüße Eure Anna Iv[anovna], schreibe, wenn du Zeit hast, und vergiss auch nicht, ein Wort über dein Ohr zu sagen. Ich umarme dich von ganzem Herzen, mein liebes Kind! Dein Alterchen

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3 27. Febr[uar 1885] Deinen Brief habe ich erhalten, liebe Sanja. Anna Ivanovna war heute noch nicht da und wird wohl auch nicht mehr kommen, es ist bald drei Uhr. Sollte sie bis sechs Uhr nicht hier sein, schicke ich diese Nachricht mit der Post. Mama und Lenočka geht es Gottseidank besser. Vorgestern ging es Mama am Abend plötzlich schlecht, wir haben nach dem Doktor geschickt, er gab ihr eine Chinin-Mixtur, gestern ging es ihr besser und heute auch. Sie ist aufgestanden, war auch schon in meinen Zimmern, ist aber immer noch geschwächt. Lenočka geht es besser, nur die Nase tut ihr noch ein bisschen weh; der Doktor hat ihr außerdem ein Bad verordnet, Mar’ja hat aber starkes Rheuma in der Hand, eine schmerzhafte Geschwulst, sie kann fast gar nicht arbeiten und kommt gerade so mit einer Hand zurecht, folglich haben wir niemanden, der das Badewasser warm machen könnte. Gottseidank ist die Kinderfrau da; sie heizt auch die Öfen, kümmert sich um die Kranken und hilft auch mir. Gott gebe ihr Gesundheit! Sie liebt dich sehr, wie mir scheint, ich soll dich von ihr grüßen. Schicke ihr in deinem Brief an mich doch auch einen lieben Gruß. Mama sagt, dass du auch in dem alten Kleid zu Sof[‘ja] Al[eksandrovna] fahren könntest: dort achtet niemand darauf, sonst hast du, sagt sie, in der Osterwoche nichts anzuziehen; Gott weiß, wann sie etwas Neues nähen kann. Tu, was du für richtig hältst. Und denke daran, dass du nur in dem Falle zu Sof ’ja Aleks[androvna] fahren kannst, wenn du keine Ohrenschmerzen hast und wenn es Anna Iv[anovna] erlaubt, dass du nach draußen gehst. Hast du noch Schmerzen in der Herzgrube? Und isst du auch keinen Plunder wie Halwa und dergleichen? Sei vorsichtig und gib auf dich acht: du bist zwar noch ein Kind, aber nicht mehr klein! Sollte Anna Iv[anovna] heute oder morgen zu uns kommen, so schicke ich dir Tee und Zucker und auch schw[arze] Joh[annisbeer]konfitüre; stürze dich aber nicht darauf, sondern iss maßvoll. Anna Iv[anovna] hat dir unnötigerweise Konfekt mitgebracht, es ist für den Magen gar nicht bekömmlich. Ich will die Lazarett-Anna Iv[anovna] bitten, dir ab und zu ein Beefsteak oder ein Hühnchen zubereiten zu lassen, je nachdem, worauf du Appetit hast, und werde ihr dafür Geld geben. Zu Sof ’ja und Ekat[erina] Aleksandrovna18 sei freundlich und liebenswürdig: daran werden sie erkennen, dass du ihnen für ihre Güte und Liebe dankbar bist. Anna Iv[anovna] Markel[ova] hat mir gesagt, dass du die beiden letzten Male zu ihr sehr freundlich und gesprächig warst: das hat ihr offenbar sehr gefallen. Bleib immer so, mein Kind, und lerne mit den Menschen umzugehen.

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Vasja ist an den drei freien Tagen nach Hause gekommen, wir haben ihn aber nicht weiter als bis zur Küche vorgelassen. Mama und wir alle danken dir für die Hostie,19 d. h. für deine Gebete für uns. Lenočka sagt, sie würde in der Karwoche wieder gern in die Schule gehen und dort mit dir fasten. Auch Mama wünscht sich das, damit sie, wenn ihr beide nicht da seid, so Gott will, gesund werden, zu Hause alles in Ordnung bringen und für den Feiertag putzen kann. Ich sende Dir zusammen mit dem Tee und dem Br[ief ]papier auch einige meiner Federn; sollte Anna Iv[anovna] aber heute oder morgen nicht vorbeikommen, so bringe ich alles am Freitag oder Sonnabend zu den Nikit[enkos], in der Hoffnung, dich dort zu sehen. Mama und Lenočka küssen dich und ich auch. Dein Alterchen P. S. Wie bist du mit dem Geschichtsunterricht zurechtgekommen? Zeige auch diesen Brief niemandem, sondern bringe alle Briefe mit nach Hause und bewahre sie in Deiner Mappe auf. Auf Wiedersehen, mein Kind! A. I. Mark[elova] hat mir deinen Brief gebracht. Ich lege zwei Briefmarken bei. 4 Sonntag, [den 3. März 1885] Die gute Anna Ivanovna hat uns Deinen Brief, die Hostie und die Pjatački20 gebracht: wir alle danken dir dafür. Mama wiederholt immer nur das eine: „Bete zu Gott, lerne und lass dich nicht von der Arbeit ablenken!“ Sie sagt, du hättest gut daran getan, dass du gestern nicht zu Sof[‘ja] Al[eksandrovna] gefahren bist, die Kälte hätte deinem Ohr und dem Ausschlag noch mehr geschadet. Höre auf Anna Ivanovna, sie meint es gut mit dir. Versuche, dich mit Karbolseife zu waschen, vielleicht geht der Ausschlag dann weg; noch besser aber wäre es, wenn du ihn dem Doktor zeigst. Wenn nötig, geht Anna Iv[anovna] mit dir zum Ohrenarzt. Lenočka hatte gestern wieder einen Abszess im Ohr, sie hat vor Schmerzen geweint; der Doktor hat ihr heiße Umschläge verordnet, heute ist er geplatzt und jetzt geht es ihr wieder besser. Mama und Lenočka sitzen einander gegenüber, manchmal spielen sie Karten. Mama ist aber noch sehr geschwächt, sie beginnt langsam wieder Bouillon und Fleischklößchen zu essen, aber ohne Appetit. Als Gegengeschenk für deine Pjatački schickt dir Lenočka ihre Apfelsinen und Mama ein Glas deiner Lieblingskonfitüre. Ich schicke dir nichts, außer Chininwasser21 für deine Haare, denn ich habe gestern A. I. Markel[ova] gebeten, dich heute zu besuchen und dir die Apfelsinen zu bringen: sie hat das sicher getan.

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Sof[‘ja] Al[eksandrovna] hat mir einen Rub[el] für dich gegeben, und ich schicke dir für deine Pjatački mit Anna Iv[anovna] jetzt noch 50 Kop[eken], das muss vorläufig reichen, solltest du etwas brauchen, so schreibe, ich lege noch 2 Umschläge und Briefmarken bei. Höre, mein Kind: sollte dein Ohr nicht besser werden, so fahre auch am kommenden Sonntag nicht, nicht für drei Tage, wenn man Euch nach dem Besuch der Zarin frei gibt – beweise allen, dass du kein Kind mehr bist, sondern ein vernünftiges, erwachsenes junges Mädchen! Denke zum Beispiel daran, dass auch ich die Langeweile ertrage, nirgendwohin gehe und niemand bei mir vorbeischaut; ich gehe mit Mar’ja in den Laden, um Fleisch für die Klopse zu kaufen, das erschöpft mich schon sehr. Wenn du für Mama, Lena und Vasja betest, so schließe auch mich in dein Gebet ein. Gott gebe mir die Kraft und die Gesundheit, all diese Sorgen auszuhalten! Was bleibt mir auch übrig, ich muss sie ertragen! Falls Du zum Ohrenarzt gehst, so teile mir mit, was er sagt. Mama meint, du sollst das Korsett tragen. Lenočka hat schon ein Bad genommen, sie wird noch eines nehmen müssen, gerade jetzt hat sie Herzschmerzen. Sobald es ihr und Mama besser geht und beide wieder gesund sind, teile ich es dir mit, bis dahin aber werden wir uns über Sof[‘ja] Al[eksandrovna] und die beiden Anna Iv[anovnas] unterhalten. Auf Wiedersehen, liebes Kind. Dein Alterchen 5 Dienstag, den 4. Febr[uar 1886] Wir senden dir 6 Paar neue Strümpfe, liebe Sanja. Reiße aber die Bleisiegel nicht ab, sondern probiere zuerst ein Paar, sollten sie nicht passen, bewahre sie bis zum Sonntag auf und gib sie Anna Iv[anovna] Markelova mit, wir tauschen sie dann um. Sage in dem Falle nur, was für welche du brauchst, größere oder kleinere. Sollten sie aber passen, so schreibe mit der Stadtpost. Heute will ich dir das Handtuch kaufen und ich werde An[na] Iv[anovna] Markelova bitten, es Dir zu bringen. Eure Anna Iv[anovna] war heute noch nicht bei uns: sollte sie morgen kommen, so wird sie dir diese Nachricht und die Strümpfe mitbringen. Lenočka fühlt sich Gottseidank besser, Schmerzen hat sie keine. Morgen kommt der Doktor. Mama hat schreckliche Kopfschmerzen. Sie segnet und küsst dich und ich ebenfalls. Ich schicke Dir zwei Briefmarken und Umschläge. Gott schütze Dich, mein Kind! Das Alterchen

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6 27. Dezember 188422 Am 5. Dezember 1884 habe ich bei Vintergal‘ter23 [Winterhalter] eine goldene Damenuhr gekauft (Nr. 71787), mit einer goldenen Kette, und meinem Zögling, der Schülerin des Kolomensker Gymnasiums, Fräulein Aleksandra Trejgut, anlässlich des Weihnachtsfests am 25. Dezember 1884 geschenkt.24

4. Michail Matveevič Stasjulevič: Ivan Aleksandrovič Gončarov (Nachruf )1 I. A. Gončarov starb nach kurzer, etwa dreiwöchiger Krankheit in der zwölften Stunde des 15. September. Das Ende trat so sachte ein, dass die Anwesenden zunächst annahmen, er sei, unmittelbar nachdem sich die Ärzte zurückgezogen hatten, eingeschlafen, wie das zuvor schon häufiger der Fall gewesen war. Wir hatten Ivan Aleksandrovič in seinem Sommerhaus in Peterhof zum letzten Mal am 25. August [1891] besucht und ihn in einem so befriedigenden Gesundheitszustand angetroffen, wie schon lange nicht mehr.2 Von einer beträchtlichen Wiederherstellung seiner Kräfte während des Sommers konnte man sich schon allein dadurch überzeugen, dass er uns nicht nur erzählte, wie viel er den Sommer über „geschafft“ hatte, er nahm sogar die Mühe auf sich, uns eine der drei Skizzen vorzulesen,3 die er im Laufe der Sommermonate diktiert hatte.4 Auch wenn er uns bezüglich dieser Manuskripte sogleich seine Wünsche mitteilte – „für den Todesfall“ –, und eigenhändig dasselbe auf dem Umschlag des Manuskripts wiederholte, so konnten wir darin keinerlei Vorahnung erkennen, denn ähnliche Bemerkungen hatte es von ihm in den letzten Jahren schon öfter gegeben. Natürlich konnte die kleinste Unvorsichtigkeit in seinem Alter – für seine Umgebung völlig unerwartet – die schwersten Folgen nach sich ziehen. Und so geschah es denn auch. Zwei Tage später, am 27. August, erkrankte er so schwer an einer heftigen, in jedem anderen Alter aber keineswegs gefährlichen Krankheit,5 dass man auf eine unverzügliche Katastrophe gefasst sein musste; die Heftigkeit der Krankheit ließ dann zwar nach, nahm aber unwiederbringlich seine letzten Kräfte mit sich. Dies war auch der eigentliche Grund seines Todes, dennoch kämpfte der Organismus des Verstorbenen zwölf Tage mit dem Tode. Am 6. September wurde es wegen einer leichten Besserung sogar möglich, den Kranken vom Sommerhaus in seine Stadtwohnung zu transportieren, wo die medizinische Versorgung leichter zugänglich war. Drei Tage vor seinem Tod wurde während einer Konsultation der Ärzte, zu der man auch Doktor L. V. Popov6 zuzog, erneut eine gewisse Besserung im Vergleich zu den Vortagen festgestellt, nur seine schwache Herztätigkeit bei erschwerter Atmung kündete ungeachtet der Besserung von einem möglichen schnellen Ende. In jenen wenigen Tagen, die auf den Tod folgen, ergreift die Öffentlichkeit stets die Gelegenheit, sogleich ihre Haltung gegenüber den Verdiensten eines derartigen Talents zu bekunden, wie es Ivan Aleksandrovič Gončarov besaß. Ungeachtet der Tatsache, dass durch das hohe Alter des Verstorbenen zwischen dem Tag seines Todes und dem Zeitpunkt des Erscheinens seines letzten großen literarischen Werks mehr als zwanzig Jahre liegen, versammelten sich im Laufe der folgenden vier Tage, einschließlich des Tages der Beisetzung am 19. September, auf dem Friedhof der

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Aleksandr-Nevskij-Kirche,7 in der Wohnung des Verstorbenen, in der Mochovaja,8 in der er etwa dreißig Jahre gelebt hatte und die eher der Zelle eines Einsiedlers glich, Unmengen von Besuchern, die sein Andenken durch die lebhaftesten Sympathiebekundungen ehrten.9 Die Jahrzehnte, die seit dem Erscheinen der besten Werke I. A. Gončarovs vergangen sind und ihm dauerhaften Ruhm und einen Ehrenplatz in unserer zeitgenössischen Literatur beschert haben, konnten in der Öffentlichkeit offenbar jenen Eindruck nicht abschwächen, den sie damals, vor dreißig, vierzig Jahren, hinterlassen hatten. In der Tat, als letztes Werk seines literarischen Schaffens muss man den Roman „Obryv“10 ansehen, der 1869 in unserer Zeitschrift11 erschien, als sein Autor gerade einmal siebenundfünfzig Jahre alt war. Natürlich erwartete man von ihm damals nicht so schnell ein neues Werk, da er ja offensichtlich den Rat des Horaz beherzigte, die Arbeit neun Jahre ruhen zu lassen, bevor man sie der Öffentlichkeit präsentiert:12 zehn Jahre waren seit dem Erscheinen des „Oblomov“ vergangen (1868),13 dem die „Fregat ‚Pallada‘“ (1857) vorangegangen war und wiederum zehn Jahre zuvor hatte er die „Obyknovennaja istorija“ herausgebracht (1847). Nach „Obryv“ aber vergingen zehn, ja zwanzig Jahre, der Roman blieb jedoch ohne Nachfolger. Jeder allerdings, der den Verstorbenen näher kannte, wird bestätigen können, dass diese Unterbrechung, oder besser gesagt, dieser Wandel im literarischen Schaffen des „Oblomov“-Autors, keineswegs das Ergebnis auch nur des geringsten Nachlassens seiner schöpferischen Kräfte bedeutete; im Gegenteil, alle, die ihn häufig trafen, erinnern sich sehr gut, dass er derselbe kluge, vielseitig und hoch gebildete, bisweilen fröhliche und in höchstem Maße aufmerksame Gesprächspartner geblieben war, als den sie ihn kannten. Nichts schien der Tatsache im Wege zu stehen, dass er die Feder zur Hand nähme, um etwas Neues zu schaffen, das des Autors des „Oblomov“ würdig gewesen wäre. Eine solche, offenbar unnormale Erscheinung zu erklären, kann wohl nur Aufgabe eines künftigen Biographen sein, der die Möglichkeit erhält, sämtliche Details des Innenlebens des Verstorbenen und seiner literarischen Bezüge zu erforschen. Gewöhnlich heißt es, ihm sei viel „oblomovščina“ zu eigen gewesen, weshalb ihm der Oblomov so gut gelungen sei; dies aber konnte nur jenen so erscheinen, die seinen Alltag nicht kannten oder sich davon hinreißen ließen, dass Gončarov tatsächlich gern bei anderen den Gedanken an eine Ähnlichkeit mit seinem Kind nährte. Dabei war er ein überaus tätiger, arbeitsliebender Mensch und alles andere als ein Oblomov. Ständig war er von dem Gedanken beseelt, etwas Neues zu schaffen; dies wurde in den persönlichen Gesprächen deutlich, wobei er immer auf absoluter Geheimhaltung bestand. Kurz vor seinem Tod jedoch, 1888, platzte er, vermutlich aus Unachtsamkeit, öffentlich mit der Nachricht über etwas heraus, das er stets sorgsam verborgen gehalten hatte, und zwar in einem seiner Briefe an uns. Dieser Brief erreichte uns im Ausland, und wir sehen uns jetzt in der glücklichen Lage, daraus zitieren zu können, ohne den „Willen“ des Verfassers „zu missachten“, denn wir haben diesen Brief bereits zu Lebzeiten des Autors, im Januar 1888, in Aus-

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zügen veröffentlicht, folglich mit seinem ausdrücklichen Einverständnis. Gončarov schrieb ihn im August 1887, in Ust‘-Narva, wo er den Sommer verbrachte. In seinem Brief wiederholte er jene Frage, die wir ihm während unserer Begegnungen oft gestellt hatten: „‚Was ich mache‘, fragen Sie mich aus Ihrer herrlichen Ferne,14 von den Ufern des Atlantischen Ozeans“, so schrieb uns Gončarov. „Nichts, hätte ich gesagt, wie in früheren Jahren.“ Und tatsächlich, mit diesem Wort begann er stets seine Antwort, kam dann aber jedesmal begeistert ins Reden, so wie auch jetzt in diesem Brief. „Ich nehme warme Meerwasserbäder, spaziere am Strand entlang, esse, trinke und weiter nichts“ (mit einem Wort, ergänzen wir, Oblomov, wie er leibt und lebt). „Doch das stimmt nicht ganz: ich mache doch noch etwas, weiß aber vorläufig selbst nicht recht, was … Erinnern Sie sich: als ich Ihnen aus meinem häuslichen Archiv die Universitätserinnerungen zeigte, interessierten Sie sich dafür und versicherten mir, dass man sie drucken könne … Ich sehe die Papiere jetzt mit der Feder in der Hand durch und mache mir Notizen. ‚Aber wofür?‘, habe ich mich gefragt und ich frage es mich immer noch. Würde ich prahlen wollen wie Chlestakov“,15 hier beginnen sich seine Gedanken wie immer in eine andere Richtung zu bewegen, „könnte ich sagen: ‚Ich sitze am menschenleeren Ufer und singe meinen Schwanengesang zu Ende.‘ Doch ich habe nie gesungen und werde folglich auch nichts zu Ende singen; Spötter würden mich wohl auch eher als Gans denn als Schwan ansehen, oder mich vielleicht fragen, ob ich meine Bedeutung in der Literatur etwa vergrößern und etwas Neues, Gewichtiges vorlegen wolle. Und das in meinem Alter, was soll das! Warum ich die Feder übers Papier führe, hat einen einfachen, prosaischen Grund, nämlich: neben den Spaziergängen, Meerwasserbädern, dem Mittagessen, dem Frühstück, dem untätigen Herumsitzen im Schatten auf der Veranda, bleiben mir an den Vormittagen immer noch drei Stunden, mit denen ich nichts anzufangen weiß …“16 Diese Zeilen schrieb ein bereits fünfundsiebzigjähriger alter Mann, der gerade eine schwere Krankheit überstanden hatte, die mit dem Verlust des rechten Auges endete; doch bereits zwanzig Jahre zuvor hatte er schon Ähnliches gesagt, und zwanzig Jahre später bekannte er sozusagen unabsichtlich, dass er auch mit fünfundsiebzig Jahren „doch noch etwas“ mache, außer an den Erinnerungen zu arbeiten. So war es auch tatsächlich; nie konnte er das ihm angeborene schöpferische Talent verleugnen, und er tat es auch nicht; erschien sein Name in der Presse unter einem Artikel, der einer anderen literarischen Kategorie zuzurechnen war, so betrachtete er dies irgendwie als Verrat an seiner Bestimmung. Nach der Veröffentlichung von „Obryv“, 1869, erschien drei Jahre später in unserer Zeitschrift sein berühmter kritischer Essay anlässlich der Benefizvorstellung von „Gore ot uma“17 des Schauspielers Monachov18 (1872). Nach der Aufführung hatte Gončarov im vertrauten Kreis lange und ausführlich über Griboedovs Komödie gesprochen, und zwar so, dass einer der Anwesenden, von seinen wunderbaren Worten hingerissen, zu ihm sagte: „Sie sollten das alles zu Papier bringen, Ivan Aleksandrovič, es ist sehr interessant.“

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Diesmal versprach er, den Wunsch zu erfüllen, allerdings nicht ohne die für ihn in derartigen Fällen typischen Einwände und die typische Abwehr. Der Abdruck dieses Essays aber brachte ungeheure Schwierigkeiten mit sich, unserer Meinung nach genau aus den oben erwähnten Gründen. Hier sei nur festgestellt, dass der Artikel bereits einmal gesetzt war und wieder auseinandergenommen werden musste; beim Drucken hatte sich herausgestellt, dass der Artikel in den Korrekturen nur mit dem Anfangsbuchstaben G. gezeichnet war und auch das war nur nach einigen Kämpfen möglich gewesen; in der gedruckten März-Ausgabe standen unter dem Artikel bereits zwei Buchstaben: I. G.; auf dem Umschlag der Zeitschrift erschienen dann alle drei Buchstaben: I. A. G.; und erst am Ende des Jahres konnte im alphabetischen Index für das Jahr 1872 in der Dezemberausgabe der Titel des Artikels mit dem vollen Namen des Autors aufgeführt werden. Hier ist nicht der Ort und der Zeitpunkt zu berichten, wie es dazu kam, obwohl es in höchstem Grade charakteristisch war; es genügt festzustellen, dass Ivan Aleksandrovič, nachdem diese Geschichte zur allgemeinen Zufriedenheit zu Ende gegangen war, selbst gern darüber sprach und gutmütig darüber lachte. „Welchen treffenden Titel ich für diesen Essay gewählt habe: ‚Mil’on terzanij‘!“19 sagte er dann. „Es waren ja in der Tat eine Million Qualen – für mich wie für Sie; der Leser aber errät nicht, was es mit diesem Titel auf sich hat!“20 Dies und Ähnliches erschien, oberflächlich betrachtet, als Launenhaftigkeit Gončarovs, doch es waren ganz und gar keine Launen. Auch damals, 1872, machte er vermutlich „doch noch etwas“, und der Gedanke, dass sein Name unter einem Beitrag erscheinen sollte, den er nicht als echte Arbeit betrachtete, war ihm unerträglich. Doch auch als Kritiker erwies er sich als großer Meister, im Lob anlässlich von „Mil’on terzanij“ sah er allerdings eine – nur in seiner Vorstellung existierende – Beleidigung seiner Person, als wolle man ihm raten, das literarische Schaffen an den Nagel zu hängen und sich besser der Kritik zu widmen! Auf diese Weise konnte man ihn bisweilen kränken, obwohl man doch etwas Angenehmes hatte sagen wollen. Doch all dies, wir wiederholen uns, entsprang keinem schwierigen, launenhaften Charakter, sondern resultierte aus seiner inneren, ureigensten Geschichte und aus den bereits angeführten Gedanken Gončarovs, seiner wahren Berufung, seinem Talent, treu bleiben zu wollen, so wie er selbst, völlig zu Recht, sein Talent verstand. Ende der achtziger Jahre, 1887, 1888 und 1889, erschienen bei uns seine „Universitetskie vospominanija“21 (im April 1887), „Na rodine“, Erinnerungen und Skizzen22 (im Januar und Februar 1888), und 1889 (im März) veröffentlichten wir in unserer Zeitschrift zu guter Letzt sein sozusagen literarisches Vermächtnis unter dem Titel „Narušenie voli“,23 das allen noch gut in Erinnerung ist. Es schloss mit den Worten: „Ich verfüge und bitte meine direkten und indirekten Erben, alle Adressaten und Adressatinnen,24 ebenso die Verleger von Zeitschriften und Sammelbänden, die sich der Vergangenheit widmen, nichts (kursiv vom Autor) zu publizieren, was ich nicht veröffentlicht oder wofür ich nicht die Druckgenehmigung erteilt und was ich zu Lebzeiten nicht selbst veröffentlicht habe, darunter natürlich auch

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Briefe. Mögen meine Briefe Eigentum jener bleiben, an die sie gerichtet sind und nicht in andere Hände übergehen, und später der Vernichtung anheimfallen. […] Ich habe eine Art pudeur, in der Öffentlichkeit mit diesem Plunder zum Gespött zu werden. Und ich bitte, dieses Gefühl, das heißt die pudeur, zu respektieren. Mögen gute, anständige Menschen, die Gentlemen der Feder, den letzten Willen eines Schriftstellers erfüllen, der seinen Beruf ernst genommen hat, und nichts drucken, wie ich oben sagte, was ich zu Lebzeiten nicht selbst veröffentlicht und was ich nicht für den Druck nach meinem Tod bestimmt habe. Auch verfüge ich nicht über Papiere, die sich zum Druck eignen. Die Erfüllung dieses meines Wunsches soll die Anerkennung für meine Arbeit sein und ist der beste Kranz auf meinem Grab.“ Wir haben dieses literarische Vermächtnis damals gern bei uns publiziert, es hinderte uns allerdings nicht, natürlich überaus freundschaftlich, über die vom Autor aufgeworfene Frage über eine „Missachtung des Willens“ zu debattieren. Vor allem bestanden wir darauf, Partei für seinen eigenen Einwand zu ergreifen, der in diesem Artikel zum Ausdruck kommt. Über die Herausgabe der Briefe Kavelins und Kramskojs ohne ihr Einverständnis und unmittelbar nach ihrem Tod hatte er sich ja selbst positiv geäußert, und auch hinzugefügt, dass man ihm einen derartigen gravierenden Widerspruch in seinem Artikel nachweisen könne; und er gab auch gleich eine Antwort auf eine solche, ganz natürliche Entgegnung, indem er schrieb: „Auch hier“, das heißt im Hinblick auf den Einwand, „wiederhole ich, dass man nichts Unnötiges aus Briefen veröffentlichen soll, was für die Mehrheit wenig interessant ist.“ Dies ist es folglich, was den Kern der Gončarovschen Überlegungen ausmacht, und man kann dem nur zustimmen, wie ja übrigens der ganze Artikel durch den ungenierten Umgang mit dem Andenken verstorbener Literaten und Nichtliteraten in unserer Presse jener Jahre ausgelöst worden war; wenn man im Artikel auf Überspitzungen trifft, so sind sie durch eine gewisse Schrankenlosigkeit eben dieser Ungeniertheit, die bisweilen die Säulen des Herakles überschritt, durchaus gerechtfertigt. Nun haben offenbar auch wir selbst den engen Rahmen dessen, was man Nachruf nennt, verlassen und uns unwillkürlich dem augenblicklich noch nicht aktuellen Feld der persönlichen Erinnerungen an den Verstorbenen genähert, einer, wie wir sagten, in vielerlei Hinsicht recht schwierigen, doch interessanten und dankbaren Aufgabe für seinen künftigen Biographen. In seinem Privatleben bereicherte Ivan Aleksandrovič Gončarov sein einsames Dasein, indem er die nach dem Tode ihres Vaters, der in seinen häuslichen Diensten gestanden hatte,25 zufällig in seinem Hause zurückgebliebenen fremden Kinder in seine Obhut nahm, sie aufzog und ihnen eine gute Bildung ermöglichte, so dass man von ihm mit den Worten Berangers sagen kann: „Heureux celui qui pouvait faire un peu de bien dans son petit coin“, er vollbrachte diese kleine, stille Tat in seinem wahrlich kleinen Winkel und war durchaus glücklich. In einem an uns adressierten versiegelten Brief vom 9. Oktober 1886,26 der in seinem Schreibtisch lag, erläutert

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er unter anderem auch sämtliche seiner postumen Anordnungen; da er der Ansicht war, welch schlechten Dienst er der „Troika der Kinder“, wie er sich ausdrückte, erwiesen hätte, würde er ihnen eine solide mittlere Ausbildung ermöglicht haben ohne sich gleichzeitig darum zu kümmern „ihnen die ersten Schritte im Leben zu erleichtern“, hinterließ ihnen Ivan Aleksandrovič sein Geldvermögen und das Mobiliar, mit Ausnahme des Arbeitszimmers „mit dem darin enthaltenen Inventar“, über das er gesonderte Anordnungen traf; unter diesem Inventar befindet sich, wie er im Brief schreibt, nichts Wertvolles im materiellen Sinne. So tat der Verstorbene nicht nur Gutes, sondern er verstand sich auch darauf, jenen Wohltätigkeitseinrichtungen ein gutes Beispiel zu geben, die jegliche Sorge um ihre Zöglinge einstellen, sobald diese ihre Frist in den Mauern der Einrichtung absolviert haben – und das ist bisweilen im Alter von zwölf Jahren der Fall.

5. Anatolij Fedorovič Koni: Ivan Aleksandrovič Gončarov1 Vor hundert Jahren, in der Ära von Donner und Blitz des Vaterländischen Krieges, wurden bei uns zwei Menschen geboren, die in unserer Literatur eine herausragende Rolle spielen sollten. Beide liebten Russland innig, jeder auf seine Weise. Der eine, fest in seinen Ansichten über Russlands Berufung und Nöte und standhaft in der Umsetzung seiner Überzeugungen, versprühte wie ein Feuerstein bei jeder Berührung mit der Wirklichkeit Funken von Verstand, Talent, Liebe und Empörung … Das war Gercen. Der andere aber war jener, zu dessen Ehren wir heute und hier zusammengekommen sind und dessen wir gedenken wollen. Bemerkenswert ist, dass in England im selben Jahr Dickens geboren wurde, den Generationen seiner zeitgenössischen russischen Leser so lieben und der seiner Art und Weise und dem Umfang seines Schaffens nach in vielem Gončarov gleicht. Soeben hat auf diesem Podium das Mitglied der Akademie Ovsjaniko-Kulikovskij2 zu uns gesprochen, über den großen Künstler und Beschreiber des Alltags, der so treffend in der Lage war, eine unserem Leben derart innewohnende Erscheinung wie die oblomovščina darzustellen. Doch in untrennbarem Zusammenhang mit dem Schaffen des Schriftstellers steht seine Persönlichkeit. Auf sie möchte ich vor allem eingehen, wenn auch nur in einer kurzen Skizze. Die langjährige Bekanntschaft mit Gončarov berechtigt mich dazu, den ich zum ersten Mal bereits kurz nach der Rückkehr von seiner Weltreise sah und sprach. Zu Beginn der siebziger Jahre traf ich ihn erneut, wir kamen einander recht nahe und ich genoss im Laufe seiner letzten fünfzehn Lebensjahre seine freundschaftliche Zuneigung. In meiner Wohnung bewahre ich ein dickes Päckchen seiner Briefe auf, die von lebhafter, tiefer Anteilnahme zeugen, und von den Wänden blicken Vera, Mark Volochov und Marfinka auf mich herab, Originalzeichnungen Trutovskijs,3 mit einer Widmung für den Autor des „Obryv“,4 die mir Letzterer testamentarisch hinterlassen hat. Mit dem Gedanken an Gončarov sind dankbare Erinnerungen an die Eindrücke meiner jungen Jahre verknüpft, in jener für die russische Literatur unvergesslichen Zeit, als sich Ende der fünfziger Jahre wie aus einem Füllhorn einzigartige belletristische Werke ergossen – als „Dvorjanskoe gnezdo“5 und „Nakanune“6 erschienen, „Tysjača duš“7 und „Oblomov“,8 „Gor’kaja sud’bina“9 und „Groza“.10 Ich kann allerdings nicht umhin, die Natur, die Bedingungen und den Inhalt seines Schaffens zu berühren. Was die Natur des letzteren betrifft, so muss sein extremer Subjektivismus erwähnt werden, das heißt jener persönliche Charakter, von dem es gänzlich erfüllt ist. Gončarovs Werke spiegeln vor allem seine eigenen Erlebnisse wider und bilden sie ab. Er selbst sagte: „Was nicht in mir gewachsen und gereift ist, was ich nicht selbst erlebt habe, das ist meiner Feder unzugänglich;

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ich schrieb über mein Leben und über das, was in ihm Wurzeln geschlagen hat.“11 Deshalb ist seine Persönlichkeit eng mit seinem Schaffen verbunden und in diesem spiegelt sich schrittweise all das wider, was seine Seele berührte, sei es eine warme Erinnerung, prägnante Einzelheiten der Wirklichkeit oder ein seine Gedanken und seine Aufmerksamkeit fesselndes Bild. An Valuev schrieb er einmal über Tolstoj, Tolstoj werfe ein großes Netz auf das Leben und finge darin die verschiedenen Erscheinungen und eine Vielzahl von Personen ein.12 Doch das gleiche kann man auch über ihn selbst sagen. Scharfsichtig betrachtete er die Bilder, genau lauschte er den Tönen des Lebens, die in ihm „Wurzeln geschlagen“ hatten, durchlebte sie in seiner Seele, weshalb man in seinen Werken ebenso viel von des „Herzens tiefstem Leid“ spürt wie den „Unmut bittrer Lebensglossen“;13 unter dem durchscheinenden Gewebe der Dichtung kommen deshalb, wie auch bei Tolstoj, häufig autobiographische Details zum Vorschein. Will man überhaupt nach Vergleichen zwischen Gončarov und anderen großen russischen Schriftstellern suchen, so gleicht Gončarov mehr als alle anderen Tolstoj, und wie auch bei Tolstoj mangelt es ihm fast völlig an Humor.14 Da er das Leben darstellte, blieb es natürlich nicht aus, dass er auch jene Menschen nicht aussparte, die ihm auf seinem Lebensweg begegneten und die einen lächeln oder lachen machen, auch ihnen verlieh er in seinen Werken Gestalt. Der Oblomovsche Zachar, die Ordonnanz auf der „Pallada“,15 die „Diener“16 enthalten Züge unverfälschter Komik. Doch dies ist lediglich die Frucht der Gončarovschen genauen Beobachtungsgabe. Dort, wo er komplexe komische Situationen schildern wollte, ist es ihm nicht gelungen. Es genügt, sich die in künstlerischer Hinsicht schwache, beinahe karikierte Gestalt der Krickaja in „Obryv“ in Erinnerung zu rufen. Gončarov schrieb die große humoristische Erzählung „Ivan Savič Podžabrin“,17 distanzierte sich aber später davon und gestattete ihren Abdruck in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke nicht. Wie auch bei Tolstoj (dem Tolstoj der ersten Hälfte seines Schaffens) finden sich in seinen Werken keine politischen oder gesellschaftlichen Fragen, die vom Autor aufgeworfen oder gelöst würden. Und dies, weil Tolstoj vor allem die allgemeine sittliche Natur des Menschen interessierte, unabhängig von den Bedingungen, unter denen es ihr beschieden ist, in Erscheinung zu treten, während Gončarov bestrebt war, die nationale Natur des russischen Menschen darzustellen, seine Volkseigenschaften, unabhängig von der einen oder anderen gesellschaftlichen Situation.18 Aus diesem Grund verstand man Gončarov vermutlich im Ausland weniger als andere herausragende russische Schriftsteller, und erst viele Jahre nach seinem Tode machte der talentierte Schriftsteller Evgenij Zabel19 das deutsche Publikum auf ihn aufmerksam, in den letzten Jahren befasst sich nun auch die italienische Kritik voller Begeisterung mit ihm.20 Vielleicht lässt sich jenes besonders warme Gefühl, mit dem Tolstoj in Jasnaja Poljana 1887 mit mir über Gončarov sprach und mich bat, ihm herzliche Grüße und den Ausdruck seiner besonderen Sympathie zu übermitteln, auch wenn er persönlich kaum mit ihm bekannt war, durch die gewisse Ähnlichkeit in ihrem Schaffen erklären.

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Eine weitere Besonderheit, die für Gončarovs Schaffen charakteristisch ist, ist die Ausgereiftheit seiner Werke, die dadurch zustande kam, dass er am „Oblomov“ und am Roman „Obryv“, insbesondere an letzterem, viele Jahre schrieb, beide erschienen zunächst in Form einzelner, in sich geschlossener Auszüge. So ging dem „Oblomov“ einige Jahre zuvor der „Son Oblomova“ voraus21 und „Obryv“, ebenfalls viele Jahre zuvor, „Sof ’ja Nikolaevna Belovodova“.22 Gončarov folgte exakt dem Rezept des wunderbaren Malers Fedotov:23 „In Sachen der Kunst muss man sich Zeit zum Rasten lassen; beim beobachtenden Künstler ist es wie mit einer Flasche Likör: Alkohol ist vorhanden, Beeren sind ebenfalls da, man muss nur zur rechten Zeit abgießen.“ Dem bedächtigen,24 doch schöpferischen Geist Gončarovs war das hektische Bedürfnis fremd, sich möglichst schnell zu äußern, dies erklärt in gewissem Maße auch den sehr viel geringeren Erfolg von „Obryv“ im Vergleich zu seinen beiden ersten Romanen: das russische Leben war ausschlaggebend für die bedächtige Reaktion des Künstlers. Er durchlitt stets schwere Qualen bei der Geburt seiner Werke. Häufig zweifelte er an sich, verlor den Mut, verwarf das Geschriebene und begann dasselbe Werk von Neuem, bald misstraute er seinen Kräften, bald fürchtete er, dass die Phantasie mit ihm durchgehen könne. So schrieb er 1868 an M. M. Stasjulevič: „In moralischer Hinsicht haben Sie meine Arbeit (‚Obryv‘) verstanden, seine Bedeutung vorhergesagt und damit in gewisser Weise die bisherigen Selbstzweifel zerstreut, mein Vertrauen in das Geschriebene bestärkt und mich ermutigt, weiterzugehen. Jetzt sehe ich kühner nach vorn, was zur Folge hat, dass in meinem Kopf alles fertig dasteht, als käme das, was so lange in mir verborgen war, plötzlich zum Vorschein, wie ein Ekzem. Ach, wenn es im Laufe des Sommers doch gänzlich platzen würde und alles zum Ausbruch käme. Wie nötig das ist! Dann wäre auch mein langes Schweigen vor dem Publikum gerechtfertigt.25 Jetzt liegt die Perspektive ganz vor mir, bis zum künftigen Grab Rajskijs mit einem eisernen, schlehenumwundenen Kreuz.“26 Und im selben Jahr schrieb er ihm: „Rajskijs Träume, Wünsche und Gebete enden bei mir, wie in der Musik, mit einem feierlichen Akkord, einer Apotheose der Heimat, Russlands, der Gottheit27 und der Liebe. Es ist einfach so, dass ich diesen bei mir nie dagewesenen Ansturm der Phantasie fürchte, fürchte, dass meine kleine Feder dem nicht standhält und sich nicht zu den Höhen meiner Ideale aufschwingen wird.“28 Doch er kannte den Preis dieser Schaffensqualen. Als ihm Mitte der achtziger Jahre das Ehrenmitglied der Akademie, K. R.,29 mitteilte, er mühe sich mit einem großen Poem, das ihn unglaubliche Kraft koste, aber gleichzeitig auch frohe Momente beschere, ebenso wie verzweifelte Minuten,30 antwortete er ihm: „Diese verzweifelten Minuten sind gerade das Unterpfand für das Schöpfertum! Es freut mich zutiefst. Gäbe es sie nicht, sondern nur das Gute und Schöne, sollte man die Feder besser aus der Hand legen.“31 Zu Gončarovs Schaffensbedingungen ist außer seiner Bedächtigkeit die Belastung zu zählen, die die Arbeit selbst mit sich brachte. Die Zweifel des Autors betrafen nicht nur das Wesen32 seiner Werke, sondern auch die Form in ihren kleinsten

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Einzelheiten. Davon zeugen seine Autorenkorrekturen, die, wie die Korrekturen Tolstojs, den Redakteuren wahre Qualen bereiteten. Umfangreiche Textteile wurden eingefügt oder gestrichen, bestimmte Ausdrücke mehrmals umformuliert, Wörter umgruppiert und die schon zum Druck freigegebene Korrektur wegen einer erneuten Durchsicht von ihm plötzlich zurückbeordert. Der Arbeitsprozess selbst fiel ihm deshalb schwer. „Ich diene der Kunst wie ein Ochse im Joch“, schrieb er Turgenev. Im Rückblick sagte er 1880 über seine literarische Tätigkeit zu mir: „Sie wissen doch, was der alte Zigeuner bei Puškin zu Aleko sagt: ‚Du liebst voll Mühsal, voller Schmerz. Das Frauenherz liebt nur im Scherz‘;33 genau so schreibe ich – voll Mühsal und Schmerz, anderen aber ist Leichtigkeit gegeben.“ Um erfolgreich zu sein, bedurfte es für ihn bei dieser Arbeit „voll Mühsal und Schmerz“ besonderer Umstände. Einerseits war er als durch und durch russischer Mensch unfähig zu regelmäßiger, in Portionen aufgeteilter Arbeit – soundso viele Seiten pro Tag, wie es zum Beispiel Zola tat; andererseits aber, wenn sich die äußeren Umstände und die persönliche Verfassung harmonisch gestalteten, war er imstande, in einem Zug zu schreiben, ohne Atem zu holen. Aus einem 1868 aus Kissingen geschriebenen Brief an S. A. Nikitenko geht hervor, dass er, nachdem er sich nach verschiedenen Zweifeln an die „Obryv“-Arbeit gesetzt hatte, mit seiner gedrängten, kleinen Schrift innerhalb zweier Wochen zweiundsechzig Seiten vollschrieb, was zwölf bis vierzehn Druckbögen entspricht. Dabei benötigte er allerdings absolute Stille. „Für meine Arbeit“, so schrieb er aus Marienbad an Stasjulevič, „brauche ich ein einfaches Zimmer mit nackten Wänden, damit nicht einmal das Auge abgelenkt wird, und vor allem, dass kein einziger Laut von Außen hereindringt und ringsum Grabesstille herrscht, damit ich mich in das vertiefen und dem lauschen kann, was in mir vorgeht, um es aufzuschreiben. Ja, unbedingte Stille, und nichts sonst.“34 Dann teilte er Stasjulevič mit, gegenüber habe sich eine „teuflische Puppe“ einquartiert, die ihn durch ihr fast ununterbrochenes Klavierspiel im Laufe des Tages zu völliger Untätigkeit verdammt hätte. Zu den Bedingungen des Gončarovschen Schaffens muss auch gezählt werden, dass er für seine literarische Arbeit keine uneingeschränkte Freiheit besaß. Er war materiell nicht abgesichert wie Tolstoj und Turgenev, die literarische Arbeit aber konnte ihm nicht einmal auf dem Höhepunkt seines Schaffens die Sicherung eines bescheidenen Lebensstandards gewährleisten. Es spricht für sich, dass er Mitte der achtziger Jahre für die Abtretung seiner Autorenrechte an seinen sämtlichen Werken gerade einmal sechzehntausend Rubel erhielt. Die heutigen Honorare von Schriftstellern, die bei weitem nicht die Bedeutung Gončarovs besitzen, wären zu jener Zeit völlig märchenhaft erschienen. Deshalb war er genötigt arbeiten zu gehen und folglich einen bedeutenden Teil seiner Zeit dem Staatsdienst zu widmen. Er sah sich veranlasst, den Posten eines Zensors auszuüben, als Redakteur der offiziellen „Severnaja počta“35 zu fungieren und sein Arbeitsleben mit einer bescheidenen Pension und dem Titel eines Mitglieds der Hauptverwaltung für Druckerzeugnisse36

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zu beenden. Seine dienstlichen Verpflichtungen versah er als Mann der Pflicht im Hinblick auf die Arbeit überaus gewissenhaft und mit hochherziger Eigenständigkeit in seinen Ansichten, die stets der Verteidigung von Gedanken, Begabungen und der Wahrheit galten. Das war nicht leicht und bedurfte auch einer intensiven schriftlichen Arbeit. In den Aufzeichnungen von Nikitenko37 finden sich in eben diesem Sinne immer wieder Hinweise auf seine Tätigkeit. Seine in letzter Zeit veröffentlichten Berichte in der Hauptverwaltung zeigen, welch beharrliche Überzeugungskraft und Kunstfertigkeit er aufbringen musste, um die literarische Flur davor zu bewahren, sich in ein „Feld zu verwandeln, das mit toten Knochen übersät ist“.38 Seine Gedanken wie seine Seele zog es indessen zum schriftstellerischen Schaffen. Er selbst sagt über seine ersten Eindrücke in diesem Bereich: „Das Lesen und Schreiben (für mich selbst) schulte meine Feder und brachte mir unbewusst schriftstellerische Methoden und die Praxis des Schreibens näher. Das Lesen war meine Schule, die literarischen Zirkel jener Zeit vermittelten mir die Praxis, das heißt, ich bekam Einblick in Ansichten, Richtungen usw. Erst hier, und nicht im Lesen in der Abgeschiedenheit und auch nicht im Hörsaal, sah ich, nicht ohne Kummer, welch grenzenloses, tiefes Meer die Literatur ist, und begriff mit Schrecken, dass ein Literat, wenn er kein Dilettant sein will, sondern ernsthafte Bedeutung anstrebt, beinahe alles von sich selbst einbringen muss, und zwar ein ganzes Leben lang.“39 Schließlich hatten auch körperliche Leiden Auswirkungen auf sein Schaffen. Nervöse Empfindlichkeit, die notgedrungen sitzende Lebensweise und eine starke Neigung zu Erkältungen beeinflussten seine Stimmung bisweilen außerordentlich stark. Welche Ausmaße dies annahm, ist aus einem seiner Briefe an Stasjulevič von 1868 aus Kissingen ersichtlich: „Es wurde kalt“, schreibt er, „Wolken zogen auf und das alles legte sich mir aufs Gemüt, und wieder stieg der trübe Bodensatz an die Oberfläche, wieder legte ich die Feder beiseite, ließ den Kopf hängen, mich verfolgten schlechte Träume, wieder verwandelten sich die Gesichter der Freunde in Feinde, die mir aus den Ecken zunickten. Wieder bekam ich keine Luft und ich wollte ins Wasser gehen, und ins Feuer, in die Neue Welt fliehen und sogar völlig ins Jenseits verschwinden. Soll ich überhaupt weiterschreiben?“40 Wenn wir nun zum Inhalt seines Schaffens übergehen, so sehen wir darin eine gänzliche Bestätigung dessen, was Gončarov erklärte, nämlich, dass er nur das beschrieb, was er erlebte, was er fühlte, was er selbst aus der Nähe gesehen hatte und was er kannte.41 Aus diesem Grund haben die wichtigsten seiner Werke nichts Relatives, Verallgemeinertes oder Phantastisches an sich und überhaupt nichts oder fast nichts Erdachtes. Es sind sämtlich künstlerische Reaktionen auf das Leben, auf seine Erscheinungen, geschöpft aus der realen Wirklichkeit. Sie enthalten zunächst persönliche Erlebnisse – die „Obyknovennaja istorija“; dann wird eine typische Erscheinungsform des russischen Lebens dargestellt – die „oblomovščina“; und schließlich, im „Obryv“, entfaltet sich ein umfassendes Bild des Alltags mit aus dem Leben gegriffenen Personen, die um die „Großmutter“ gruppiert sind, hinter

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der der Autor eine andere erhabene Großmutter42 sieht – Russland. Der Inhalt der „Obyknovennaja istorija“ ist unkompliziert, nicht zufällig ist sie eine obyknovennaja [gewöhnliche]. Ein Muttersöhnchen, Idealist und Romantiker, kämpft, nachdem er bei seinem prosaischen und abgeklärten Onkel in Petersburg aufgetaucht ist, glühend für ein Leben, wie er es sich vorgestellt hat, allerdings mehr mit Worten als mit Taten, und gegen das Leben, das ihm in der Realität begegnet. Gegen Ende gibt er sich nicht nur geschlagen, sondern er lacht gemeinsam mit dem Onkel über seine Irrtümer. Der Streit mit dem Onkel geht recht schnell in ein einträchtiges Duett über, dessen Harmonie lediglich durch die traurige Gestalt der Frau des Onkels gestört wird, die in einer Atmosphäre von Luxus und seelenloser Zufriedenheit mit den trügerischen Gütern des Lebens dahinwelkt und erlischt. Stellt dieser Roman nicht – besonders in seinem ersten Teil – persönliche Erlebnisse Gončarovs dar und dessen, was in seinem Leben Wurzeln geschlagen hat? Auch er wurde ja in einem friedlichen Winkel geboren, in dem das Leben träge und fast lautlos dahinfloss. „Schon das Äußere meiner Heimatstadt“, schreibt er in seinen Erinnerungen, „bot nichts als ein Bild des Schlafs und des Stillstands. Dieselben, mit der Zeit grau gewordenen Häuser und Häuschen, meist aus Holz, mit ihren Dachgeschossen, den kleinen Gärten, bisweilen mit Säulen, umgeben von dicht mit Wermut und Brennesseln zugewucherten Gräben und die endlosen Zäune; dieselben hölzernen Trottoire mit den fehlenden Brettern; dieselbe Leere und Stille auf den mit dichten Staubmustern bedeckten Straßen. Die ganze Straße hört, wenn in einer Werst Entfernung ein Leiterwagen vorüberfährt oder ein Passant mit seinen Stiefeln über das Holzpflaster poltert. Wie gern man angesichts dieser Reglosigkeit, der schläfrigen Fenster mit den herabgelassenen Vorhängen und Jalousien, der schläfrigen Physiognomien der in den Häusern sitzenden oder einem auf der Straße begegnenden Menschen selbst einschlummern würde. ‚Wir haben nichts zu tun!‘ denkt wohl gähnend ein jeder dieser Leute und mustert dich träge. ‚Wir haben es nicht eilig, wir leben, haben unser Stück Brot und lassen den lieben Gott einen guten Mann sein!‘“ (Gončarov, 1986, 147). Denselben Erinnerungen können wir auch entnehmen, wie seine Lehrjahre in Moskau verliefen, ebenso still, ohne Zwischenfälle oder Hindernisse. Alles war patriarchalisch und schlicht, man ging in die Universität wie zur Quelle nach Wasser, versorgte sich mit Wissen, ein jeder wie er konnte, und ging, nachdem die Zeit um war, wieder auseinander. Die Winkel Moskaus und die abseits von Lärm und Getriebe gelegenen stillen Gassen gewährleisteten, dass die Studenten ihr eigenes Leben lebten, ohne sich durch äußere Einflüsse vom Lernen ablenken zu lassen … Und danach ging es zurück ins heimatliche Oblomovka. „Wie Dampf hüllte mich“, erzählt Gončarov, „die liebevolle Fürsorge der Meinen ein. Viele der Leser haben natürlich schon selbst erlebt, welche Wonne es ist, nach langer Trennung zu den Seinen heimzukehren, und werden verstehen, dass ich mich in der ersten Zeit ganz der Seligkeit des Umhegtseins und der Aufmerksamkeit hingab. Ich kam nicht dazu, einen Wunsch auszusprechen: alles war seit langem

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bereit und vorherbedacht. Außer der Familie lasen mir die alten Diener, allen voran die Kinderfrau, alles von den Augen ab, sie erinnerten sich meiner Vorlieben und Gewohnheiten, wussten, wo mein Schreibtisch stand, auf welchem Sessel ich am liebsten saß und wie ich das Bett gerichtet haben wollte. Der Koch erinnerte sich meiner Lieblingsspeisen und niemand konnte sich sattsehen an mir“ (Gončarov, 1986, 137). Dort, in dieser Umgebung, im anspruchslosen dolce far niente, hätte Gončarov das wenige, was er theoretisch gelernt hatte, vergessen, sich träge Träumen à la Manilov43 hingeben und ins übliche Geleise der oblomovščina geraten können … Doch seine hochbegabte, edle, energische und lebendige Natur konnte sich damit nicht abfinden. Er lechzte nach Neuem und spürte, dass „die Ferne ruft“. Diese Ferne war zunächst Petersburg, eine Stadt, in der, einem deutschen Schriftsteller zufolge, „die Gassen feucht, die Herzen trocken sind“,44 eine Stadt, die einer riesigen Schmiede glich, in der man sich fast unweigerlich entweder verbrannte oder besudelte. Hier musste Gončarov notgedrungen das ungebundene Leben aufgeben, das er aus seinen heimatlichen Gefilden kannte. Es erwies sich als erforderlich, von Neuem zu lernen, umzulernen, in der neuen Umgebung und den neuen Bezügen zu bestehen. In seinen Briefen und Erinnerungen aus jener Zeit klingt mitunter an, dass die Hauptstadt für ihn die Rolle Aduevs des Älteren spielte. Aus diesem Grund ergriff er, der sich in Petersburg bereits eingelebt hatte und schon einen angesehenen Platz in der Literatur einnahm, freudig die Gelegenheit, die Stadt zu verlassen und seine Eindrücke aufzufrischen, als sich ihm die Möglichkeit bot, eine Weltreise zu unternehmen. Die „Obyknovennaja istorija“ war in gewisser Weise das Epos einer Persönlichkeit, die mit der Prosa des Lebens kollidiert. Das russische Leben aber, erwacht aus langem Schlaf und Stillstand, offenbarte nicht nur prosaische Seiten. Aus seinen Tiefen erklang der Ruf nach Entwicklung dieser Persönlichkeit, nach Tätigkeit, nach Kampf mit der Stagnation. Diesen Ruf des Lebens beantwortete Gončarov mit einem neuen Werk, nun bereits in einem erweiterten Rahmen – dies war „Oblomov“. Doch das Leben schritt voran. Der Kampf des Alten mit dem Neuen war im Gange, man spürte einen Umbruch, und es war offensichtlich, dass das alte Leben verging. Gončarov hat die dunklen Seiten dieses Lebens nie verleugnet, doch er schätzte und liebte auch seine guten patriarchalischen Seiten, so verwundert es nicht, dass der vor seinen Augen sich vollziehende Umbruch einen liebevollen Abschiedsblick auf jenes Gute bewirkte, das unwiederbringlich aus dem russischen Alltag entschwand. Auch konnte sein „Netz“ nicht untätig bleiben, so entschloss er sich, es in dem ihm vertrauten heimatlichen Winkel auszuwerfen. Über „Obryv“ sagt er selbst: „Viele Pygmäen im winzigen See45 empfanden das Brodeln, das Russland erfasst hatte, und den Kampf des Alten mit dem Neuen. Ich beobachtete die Widerspiegelung dieses Kampfes in dem mir vertrauten Winkel, bei mir vertrauten Menschen.“ Die wahre Heldin des Romans ist natürlich Vera, neben ihr, angesichts

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ihres Bildnisses, verblasst die zentrale Figur der Erzählung – Rajskij. In der Gestalt der Vera kommt die Lebenserfahrung des Autors selbst zum Ausdruck. Zwischen dem Petersburger Fräulein jener Jahre, als Gončarov in die Hauptstadt kam und mit seinen Beobachtungen begann, und der Vera der sechziger Jahre liegt ein ganzer Abgrund. Die eine, Naden‘ka aus der „Obyknovennaja istorija“, ist ein Zierpüppchen und hübscher „Käfer“, die sich willenlos der Lebensart und den Weisungen der Älteren unterordnet; die andere ist, nach Aussage des Autors selbst, „Opfer im Kampf des alten Lebens mit dem neuen, die weiß, dass sie das alte Leben hinter sich gelassen hat und sich nach einem neuen, sinnvollen Leben und nach einer neuen Wahrheit sehnt“. Die eine lebt in der Routine der Vergangenheit, die andere an der Schwelle zu einer unbekannten, doch lockenden Zukunft, und zwischen ihnen – in Gestalt der Ol’ga aus dem „Oblomov“ – das reine und stolze Geschöpf mit dem fruchtlosen Opfer und dem feierlichen „niemals!“, das an Il’ja Il’jičs Willensschwäche46 zerbricht. In der erhabenen Gestalt der Vera, die bedingungslos zu einem Opfer bereit ist und mit all der Kraft ihrer Liebe eine auf eine bestimmte „Frist“ begrenzte Liebe vehement ablehnt, hat Gončarov sein Ideal der russischen Frau geschaffen. Er war ein aufrechter und leidenschaftlicher Verfechter der Gleichberechtigung in der Liebe und in der Bewertung dessen, was man mit dem Begriff „gefallene Frauen“ bezeichnet. In einem wenig bekannten Aufsatz, der 1895 in der Zeitschrift „Russkoe obozrenie“ erschien,47 erläutert Gončarov ausführlich diese Seite seines Romans „Obryv“: „Schon lange, seit meiner Jugend, beschäftigte mich eine der wichtigen und in ihrer Ungerechtigkeit empörenden Fragen – die Frage der sogenannten moralischen Verfehlung der Frauen.48 Ich war immer verwundert: erstens über die grobe Wortwahl, mit der diese Verfehlung beschrieben wurde, und zweitens über die Ungerechtigkeit und Härte, mit denen man über Frauen wegen jeglicher Verfehlung herfällt, ganz gleich, welche Umstände sie begleiten, während doch von den Verfehlungen der Männer überhaupt nie die Rede ist […] Die Verfehlung der Frauen bestimmt man gewöhnlich durch ein gewisses Faktum, ohne die vorangegangenen Umstände zu berücksichtigen: weder das Alter noch die Erziehung oder die Situation oder überhaupt das Schicksal des schuldig gewordenen Mädchens. Die zarte Jugend, ein Waisenschicksal, fehlende Führung oder eine Exaltation des Nervenkostüms – nichts wird als Entschuldigung für das Opfer herangezogen, und die Frau verliert für das ganze Leben all ihre Rechte und gleitet nicht selten hoffnungslos und verzweifelt weiter ab auf diesem Weg. Indessen ist die Gesellschaft übervoll von Frauen, die sich aus Angst vor den Gefängnisgittern, vor den unerbittlichen, strengen Zügeln, oder bisweilen, was noch schlimmer ist, aus Berechnung, d. h. im Hinblick auf Vorteile, vor dem Faktum in Acht nehmen, die aber tausende Male schon vor der Eheschließung und während der Ehe Verfehlungen begingen, indem sie all ihre weiblichen Gefühle dem Erstbesten zukommen ließen, im aufreizenden Spiel der Koketterie, des Leichtsinns, des müßigen Zeitvertreibs, geheuchelter Zärtlichkeiten, Blicke usw., wofür sie alles einsetzen, was an ihnen klug, feinfühlig, ehrlich

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und wahrhaftig ist. Auch die Männer ihrerseits haben ihren Anteil daran, sie vergeuden ihre Jugend im Rausch der Ausschweifungen und Leidenschaften und jeder Art von Trunkenheit und treten dann stolz vor den Traualtar, mit ihrem kranken oder verlebten Organismus, mit dessen Folgen sie ihre jungfräuliche Freundin und ihre Nachkommenschaft bedenken, als sei für uns, das starke Geschlecht, sittliche Reinheit keineswegs verpflichtend.“ Somit wurde bereits in den sechziger Jahren die Frage über die voreheliche Keuschheit der Männer, die von den skandinavischen Schriftstellern, insbesondere von Bjørnstjerne Bjørnson in seinem „Handschuh“,49 ausgearbeitet worden war, etwa vierzig Jahre früher in der russischen Literatur von Gončarov aufgeworfen. Außer diesen wertvollen Beiträgen für unsere Literatur, wie „Obyknovennaja istorija“, „Oblomov“ und „Obryv“, sind in andere literarische Werke Gončarovs außergewöhnlich lebendige Erinnerungen eingestreut, voller praller Farben und lebendiger Beobachtungsgabe. So beispielsweise „Slugi“ und insbesondere „Fregat Pallada“. Auf einer Stufe mit ihnen steht die brillante kritische Analyse von „Gore ot uma“ –„Mil’on terzanij“, die in ihrer Subtilität und Tiefe eine bis dahin von niemandem übertroffene Bewertung des Čackij enthält, der „gebrochen ist durch die Übermacht der alten Kräfte, denen er mit einer qualitativ neuen, frischen Kraft den Todesstoß versetzt“. Doch selbst wenn Gončarov nur allein den „Oblomov“ geschrieben hätte, wäre auch das ausreichend, um ihm das unanfechtbare Recht auf einen der bedeutendsten Plätze in der ersten Reihe der russischen Schriftsteller zuzubilligen. Sein Oblomov ist ebenso unsterblich wie Čičikov,50 und ebenso wie dieser wechselt er sein Aussehen und die Situation und bleibt doch immer derselbe. Der heutige Čičikov hat natürlich schon längst, und vermutlich sehr vorteilhaft, seine Kalesche verkauft und sich von Selifan getrennt. Er reist im Erster-Klasse-Coupé im Schnellzug, ist Mitglied einer Handelsfirma oder einer Kreditgesellschaft und handelt nicht mit toten Seelen, sondern mit künstlich in die Höhe getriebenen Aktien zur Einrichtung eines fiktiven Gesellschafterkapitals einer „Gesellschaft der Beteiligung an fremdem Eigentum“, wie sich der verstorbene Gorbunov51 ausdrückte. Auch Oblomov liegt nicht mehr auf dem Diwan und liefert sich keine Wortgefechte mehr mit Sachar. Er thront auf einem Sessel der Legislative oder der Bürokratie und bewirkt durch seine Apathie, die Angst vor jeglicher Initiative und sein träges Dem-Bösen-Nichtwiderstehen,52 dass er die Lösung der brennendsten Anforderungen des Lebens und der Bedürfnisse des Landes verhindert; oder aber er hat sich auf seinem ziel- und sinnlos angehäuften Reichtum niedergelassen, ohne das geringste Bedürfnis zu verspüren, die Entwicklung der Produktivkräfte seiner Heimat voranzutreiben, die kontinuierlich der Ausbeutung durch das Ausland anheimfallen. Muss noch von Gončarovs wunderbarer, farbiger, starker und kraftvoller Sprache gesprochen werden? Vergliche man Schriftsteller mit Malern, so erinnert der breite Pinsel Gončarovs wohl vor allem an Rubens, so wie Turgenevs zarte, bezau-

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bernde Konturen an Raffaels Handschrift denken lassen, die klaren Bilder Tolstojs dagegen an „Licht und Schatten“ bei Rembrandt. Das literarische Schaffen Gončarovs erfuhr unterschiedliche Bewertung. Er erlebte sowohl beinahe enthusiastische öffentliche Anerkennung wie kalte Ignoranz und einfältiges Unverständnis, und auch das, was man succès d‘estime nennt. Von Belinskij, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, begrüßt, wurde der Autor der „Obyknovennaja istorija“, des „Oblomov“ und der „Fregat Pallada“ zum Liebling der Leser, sowohl wegen seiner Werke als auch wegen jenes dem Oblomov innewohnenden Sinns, auf den Dobroljubov hingewiesen und den er näher erläutert hatte.53 „Sof ’ja Nikolaevna Belovodova“54 aber wurde kühl aufgenommen, und der Roman „Obryv“ stieß bei der Kritik auf eine in vielen Fällen an Grausamkeit grenzende Enttäuschung, die der Autor absolut nicht verdiente. Es gab Rezensenten, die sich befleißigten, dem „ehrwürdigen“ Autor zu verstehen zu geben, dass sich der Tarpejische Fels55 unweit des Kapitols befände. Er musste nicht mehr, wie Turgenev im Falle von „Otcy i deti“ und Dostoevskij wegen „Prestuplenie i nakazanie“, dumme und bösartige Vorwürfe über sich ergehen lassen, er hätte die junge Generation verleumdet – das war Ende der sechziger Jahre bereits ein recht überholtes Vorgehen –, doch er musste sich anhören, er sei ein Verfechter der Leibeigenschaft, würde weder die russischen Menschen noch das russische Leben verstehen oder überhaupt kennen, und gleichzeitig wurde er mit dem tiefsinnigen Vorwurf konfrontiert, er sei bei der Darstellung seiner „Großmutter“ so weit gegangen, „nicht einmal ihr ehrwürdiges Alter geschont zu haben.“ Zu diesen äußerlichen Dornen, die seine sensible Seele verletzten („bei einer Natur wie der meinen“, schrieb er an Stasjulevič,56 „kann ich keine Brennesseln des Spotts gebrauchen und auch keine groben Hiebe allermöglichen Peitschen“), kamen noch andere, innere, die in der überempfindlichen Struktur dieser Seele wurzelten. Vor allem sei hier seine, wenn nicht direkt feindliche, so doch zumindest überaus misstrauische Einstellung gegenüber Turgenev erwähnt, in der eine diffuse Angst mitschwang. Über die Gründe des Zerwürfnisses der beiden namhaften russischen Künstler existieren zahlreiche Legenden, doch nicht eine davon erklärt die eigentliche Ursache dieses Zerwürfnisses. Von Neid konnte hier keine Rede sein: jeder von ihnen repräsentierte eine eigenständige Größe, auch leugnete Gončarov Turgenevs großes Talent nicht. Einige vermuteten, das Zerwürfnis habe damit begonnen, dass Gončarov im Bazarov eine Vorwegnahme der in ihm reifenden Gestalt des Mark Volochov gesehen habe, von dem er Turgenev Ende der fünfziger Jahre erzählt hatte, als sie sich noch freundschaftlich im Ausland trafen. Von diesem Zeitpunkt an hätten Gončarovs Klagen begonnen, Turgenev kundschafte direkt oder durch Bekannte die Sujets der von ihm erdachten Werke aus und nutze sie für sich und seine ausländischen literarischen Freunde. Eine derartige, mehr als merkwürdige Begründung für das Zerwürfnis hätte allerdings schon lange vor dem Erscheinen von „Otcy i deti“ aufkommen müssen, denn bereits 1860 erschien in der „Iskra“ (Nr. 19 vom 20. Mai) ein Gedicht des Obličitel’nyj poėt57

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(D.  Minaev) „Parnasskij prigovor“,58 in dem ein russischer Schriftsteller „kraftlos, träge und unbeweglich wie Oblomov, von einer Wolke von Zwergen umgeben, schweigend und finster“ vor die Götter tritt, um ihnen eine Klage gegen einen seiner Kollegen vorzutragen und spricht: „Er ist ein alter Schriftsteller, so wie ich, und hat kürzlich einen Roman veröffentlicht, dessen Gegenstand und Entwurf er mir schmählich gestohlen hat … Mein Held hat die Schwindsucht; bei ihm – dasselbe Bild; bei mir gibt es eine Elena; bei ihm ebenfalls eine Elena. Auch seine Helden gehen, trinken, reden, schlafen und lieben wie in meinem Roman …“ Das Gericht des Parnass beschließt, den Schuldigen zu verurteilen, die stumme Rolle des Kaufmanns im ‚Revizor‘ zu spielen (im Winter 1859/1860 war Turgenev in den Aufführungen, die vom Literaturfonds in der Passage veranstaltet wurden, tatsächlich in der Gruppe Kaufleute aufgetreten, zu denen der Stadthauptmann – Pisemskij – sagt: „Was ist, ihr Krämer und Samovarniki, wollt ihr euch beschweren?“), der Kläger wird verurteilt, eine Weltreise zu unternehmen, damit er unterwegs neue Werke verfassen kann. Hieraus wird ersichtlich, dass die Klagen Gončarovs über Turgenev bereits Anfang 1860 bekannt waren. Vielleicht datierte diese eifersüchtige Einstellung gegenüber den Werken Turgenevs bei Gončarov aus noch früherer Zeit, denn in einem der Briefe an Nikitenko deutet er an, dass die Großmutter Tat’jana Markovna im „Obryv“ viel früher erdacht war als die Tante von Liza, Marfa Timofeevna, im „Dvorjanskoe gnezdo“. Im Brief an Turgenev vom 28. März 1859 heißt es: „Der Szene von Großmutter und Enkelin haben Sie so freundschaftlich und großherzig die recht schwache Szene Ihres Romans geopfert.“59 Demzufolge begann das eifersüchtige Zerwürfnis mit Turgenev lange zuvor, und auch ohne jegliche Grundlage, denn gleichartige Erscheinungen des Lebens, von eigenständigen Künstlern wahrgenommen, können ja in ihrer Seele dem Wesen nach ähnliche, in ihrer äußeren Erscheinungsform aber unterschiedliche Bilder erzeugen. Und angesichts der Größe ihres Talents und ihres schöpferischen Potenzials hatte es keiner der beiden nötig gehabt, beim anderen etwas zu entlehnen. Bekanntlich ließ Turgenev wegen gewisser, nicht ganz fassbarer Besonderheiten und seines extrem weichen Charakters einige Zeitgenossen an seiner Aufrichtigkeit zweifeln und brachte sie dadurch gegen sich auf. Man denke nur an Dostoevskijs gehässiges Pamphlet in den „Besy“,60 an den Streit zwischen Turgenev und Tolstoj61 und an Daudets Reaktion auf ihn in „Trente ans de Paris“.62 Vermutlich hatte er auch Gončarov durch eine dieser Eigenschaften unbewusst verletzt, auf dieser Grundlage entwickelte sich bei letzterem die sogenannte fixe Idee, ähnlich jener, unter der, wie wir heute wissen, auch der Dramatiker Strindberg litt. Eine derartige Idee tritt bekanntlich zunächst nur vorübergehend in Erscheinung, da sie noch vom Verstand besiegt wird, später aber hört der Verstand auf, dagegen anzukämpfen, und sie ergreift völlig Besitz vom Bewusstsein seines Opfers und schafft eine Art Kreislauf von Wahnvorstellungen, dem sich nun alles unterordnet und dessen Einflüsterungen die Oberhand behalten ... So war es auch bei Gončarov, der ohnehin misstrauisch war.63 Dieser Zustand erreichte 1868

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seinen Höhepunkt, wie den Briefen an Nikitenko zu entnehmen ist, als er im Ausland unter dem Einfluss von Begegnungen mit gewissen russischen Familien, die seinen wunden Punkt erahnten und mit ihren Andeutungen bei ihm alte Wunden aufrissen, „zu ihrem Vergnügen das Feuer wieder entfachten, das ein wenig abgeklungen war“. Er wollte sogar die Veröffentlichung von „Obryv“ aufgeben, da der Inhalt des Romans angeblich bereits an Auerbach64 weitergegeben worden sei und von jenem für seinen nächsten Roman genutzt werden würde. Unter dem Einfluss dieses Zustands schrieb er 1868 an Stasjulevič: „Sie wissen, was ich mit meinem Werk ausdrücken wollte, von welchen ehrlichen Gedanken und guten Absichten ich mich leiten ließ und wie viel innige Zuneigung zu den Menschen und zu meinem Land in diesem meinem phantastischen Winkel Russlands, in seinen Menschen usw. steckt. Und plötzlich schlägt mir noch vor Erscheinen des Werks nicht nur Teilnahmslosigkeit, sondern hämisches Lachen und dumme Feindseligkeit statt Güte und Anteilnahme entgegen. Ich möchte alles so schnell wie möglich beenden und Ihnen übergeben, damit jene zumindest ein wenig erröten, die nicht das Geringste von mir verstehen und die keinen ungewöhnlichen Charakter65 dulden und die zu nichts anderem fähig sind als zu bösartiger, grober Häme, und die mich dem Gespött fremder Menschen ausliefern und mich ihnen lebendig zum Fraß vorwerfen.“66 Und in einem anderen Brief schreibt er: „Im Rajskij möchte ich all das ausdrücken, was ich Ihnen über mich selbst gesagt habe. Sie wissen ja, wie sonderbar,67 wie verrückt ich bin … – und dabei bin ich krank, in die Enge getrieben, gehetzt, von allen unverstanden und erbarmungslos gekränkt von den nahestehendsten Menschen, sogar von den Frauen, vor allem von ihnen, denen ich doch so viel Lebenskraft und so viele Werke gewidmet habe …68 Trost erhoffe ich mir nur durch meine Arbeit: wenn ich sie beendet habe, werde ich zur Ruhe kommen, dann werde ich verschwinden, mich in irgendeinen Winkel zurückziehen und dort sterben. Leider hat mir das Schicksal keinen eigenen Rückzugsort beschert, und wenn er noch so klein wäre; ich habe kein Nest, weder ein Adels- noch ein Vogelnest und weiß nicht, wohin ich gehen soll …“ 69 Einen letzten Widerhall dieses Zustands sah auch ich, als ich ihn im Sommer 1882 in Dubbeln überzeugen wollte, seine Gesammelten Werke herauszugeben, indem ich darauf verwies, wie schwierig und teuer es sei, den schon zur Rarität gewordenen „Oblomov“ käuflich zu erwerben. „Einen solchen Rat“, sagte Gončarov darauf mit finsterer Miene, „erwarte ich an sich nur von einem Feind: wollen Sie etwa, dass man mich bezichtigt, ich hätte Turgenev bestohlen?!“ Mir wurde damals klar, dass sich die fixe Idee vollendet hatte. Nach Turgenevs Tod legte sich das krankhafte Misstrauen. Gončarov sprach nun nicht mehr in Gleichnissen von Turgenev und ließ ihm in seinen Beurteilungen Gerechtigkeit widerfahren. So schrieb er bereits ein Jahr nach Turgenevs Tod an das Ehrenmitglied der Akademie K. R.:70 „Turgenev hat wie kein zweiter in den ‚Zapiski ochotnika‘71 die russische Natur und den Alltag auf dem Land beschrieben.“72 Und 1887 schrieb er, als er vom „endlosen, unerschöpflichen Ozean der Poesie“ sprach, an denselben,

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man müsse „diesen Ozean genau betrachten, ihm mit angehaltenem Atem lauschen und Gleichnisse der Poesie daraus ableiten, in Versen oder Prosa, das ist einerlei: denken Sie nur an Turgenevs ‚Gedichte in Prosa‘“.73 Jene, die Gončarov nur selten trafen, oder in ihm eine lebendige Verkörperung einer seiner eindrucksvollsten Figuren zu finden vermuteten, setzten ihn nur zu gern mit Oblomov gleich, umso mehr, als seine massige Gestalt, der langsame Gang und der ruhige, leicht apathische Blick seiner schönen, graublauen Augen dazu einen gewissen Anlass boten. Tatsächlich aber war dies ganz und gar nicht der Fall. Hinter Gončarovs ruhigem Äußeren verbarg sich vor den indiskreten oder aufdringlich-neugierigen Blicken eine nervöse74 Seele. Von Oblomovs charakteristischen Eigenschaften – nachdenklicher Trägheit und trägem Nichtstun – war bei Ivan Aleksandrovič nicht die geringste Spur zu finden. Während seines gesamten Erwachsenenlebens bewältigte er ein immenses Arbeitspensum. Seine Briefe könnten Bände füllen, denn er korrespondierte oft und gewissenhaft mit guten Bekannten, wobei seine Briefe wunderbare Beispiele jener Kunst des Briefeschreibens darstellen, wie sie Menschen der dreißiger und vierziger Jahre eigen war. Es war dies das besonnene Gespräch eines Menschen, der nicht nur den Wunsch hatte, ausführlich und aufrichtig seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen und zu erzählen, was in ihm vorging, sondern seine Gesprächspartner mittels einer Reihe anteilnehmender Fragen und harmloser Scherze zu einem ebensolchen Bericht zu bewegen. Der Mensch von heute kennt derartige Briefe kaum noch. Alles ist auf sachliche Kürze und einen Telefon- oder besser Telegrammstil reduziert, um, wie man sagt, „Fakten zu konstatieren“. Inmitten der Arbeitshast und des nervenaufreibenden Lebens hat niemand mehr Zeit und der alte „Gedankenaustausch“ ist durch lakonische Postkarten ersetzt worden. Einer meiner Bekannten, ein großer Anhänger dessen, was man in der Kunst l’elimination du superflu nennt, entwarf im Scherz sogar eine Postkarte, die er allein mit der Diminutivform seines Vornamens beschriftet an Freunde, Verwandte und Bekannte sandte. Er dachte folgendermaßen: von wann und woher das Schreiben stammt, ist aus dem Stempel ersichtlich; dass der Absender an den Adressaten gedacht hat, erkennt man daran, dass er ihm schreibt; daraus wiederum sieht man, was er tat, als er das Schreiben aufsetzte; das seinerseits lässt den Rückschluss zu, dass er gesund ist, denn nur die Nachricht über eine schwere Krankheit wird die Nahestehenden in Aufregung versetzen, und schließlich sollte die ihnen vertraute Diminutivform des Vornamens zeigen, dass sich an seinen guten Gefühlen für sie nichts geändert hat. Ganz anders waren Gončarovs Briefe. Geschrieben mit seiner kleinen Schrift, mit unzähligen Zusätzen, zeichneten sie in ihrer Gesamtheit das Bild Gončarovs mit all den Facetten seiner komplizierten geistigen Natur und kosteten ihn natürlich viel Zeit und Kraft. Nicht zu reden von seiner alltäglichen, schweren und ermüdenden Arbeit als Zensor, die er mit der ihm eigenen gewissenhaften Sorgfalt versah.75 Er las viel und aufmerksam, und seine gesprächsweise geäußerten Urteile über bedeutende Werke der schöngeistigen, bisweilen auch der wis-

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senschaftlichen Literatur, zeugen von jenem tiefen Einfühlungsvermögen, mit dem er nicht selten das Gelesene einer Überprüfung unterzog, bevor er darüber seine stichhaltige Meinung abgab. Muss noch auf seine Werke eingegangen werden, von denen die wichtigsten innerhalb von zwanzig Jahren entstanden, zwischen 1847 und 1867, und die acht mehrmals von Anfang bis Ende überarbeitete dicke Bände füllen? Ebenso falsch ist die Vorstellung eines etwaigen Gončarovschen Quietismus. Die äußerliche Ruhe und die Liebe zur Zurückgezogenheit gingen bei ihm einher mit tiefer innerer Anteilnahme an verschiedenen Erscheinungen des gesellschaftlichen und privaten Lebens. Anspruchsvoll in der Wahl seiner Freunde, war er nicht sehr erpicht auf eine schnelle Annäherung und auch nicht darauf bedacht, unserer wenig rühmlichen und zu bitteren Enttäuschungen führenden Gewohnheit zu folgen, beinahe jedem Erstbesten sein Innerstes preiszugeben. Er wusste, dass man nur mit größter Vorsicht Besucher in die Kathedrale der eigenen Seele einlassen darf, um zu verhindern, dass sie, wenn sie mit kalter Neugier eintreten, dort schmutzige Spuren hinterlassen und ihre Zigarettenkippen fortwerfen. Oft zitierte er in seinen letzten Lebensjahren vielsagend die Worte Puškins, wenn er neuen und zufälligen Bekanntschaften aus dem Weg ging: „Doch Vorsicht ist des Alters Tugend, und Misstraun gehet ihr zur Seit.“76 Für die Freuden und Nöte jener aber, an deren Freundschaft er glaubte, empfand er lebhaftes Mitgefühl, fand stets ein Wort aufrichtigster und nachhaltiger Ermutigung und nahm feinfühlig Anteil an ihren seelischen Problemen, indem er sie bewertete und beleuchtete. Im freundschaftlichen, intimen Gespräch lebte er auf und war wie verwandelt. Schweigsam und wortkarg in großer Gesellschaft, wurde er gesprächig, wenn man allein mit ihm sprach, seine lebhafte, bildliche und elegante Rede floss dann frei und ungehemmt. Alles Laute und Aufdringliche jedoch, alles, was den schlecht verborgenen Charakter des Ausfragens trug, reizte und ängstigte ihn und führte dazu, dass er sich schnell wieder in sich zurückzog und den Gesprächspartner durch allgemeine Floskeln eilig loszuwerden trachtete. Vor der aktiven Beteiligung an Feierlichkeiten jeglicher Art schreckte er stets zurück und hielt sie sich durch alle möglichen Mittel vom Leibe. So lehnte er die Teilnahme an den Feierlichkeiten in Moskau und Petersburg ab, die 1880 anlässlich der Einweihung des Puškin-Denkmals in Moskau stattfanden, obwohl er den großen Dichter nicht weniger als Turgenev77 verehrte und voller Ehrfurcht sein Andenken in Ehren hielt. Ich vergesse nie, wie er mir während eines unserer langen abendlichen Spaziergänge am Rigaer Strand in eben jenem Jahr 1880 eine seiner Erinnerungen anvertraute: „Zum ersten Mal habe ich Puškin in Moskau gesehen“, sagte er, „in der Kirche des Nikitskij monastyr‘.78 Ich hatte eben erst begonnen, seine Werke zu lesen und betrachtete ihn wohl eher mit Neugier denn einem anderen Gefühl. Einige Jahre später, als ich schon in Petersburg lebte, traf ich ihn beim Buchhändler Smirdin.79 Er sprach ernst mit ihm, ohne zu lächeln, mit geschäftlicher Miene. Sein Gesicht –

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matt, nach unten schmaler werdend, mit dunkelblondem Backenbart und einer Flut lockiger Haare – prägte sich mir ein und zeigte mir später, wie wahrheitsgetreu ihn Kiprenskij in seinem bekannten Gemälde dargestellt hat.80 Puškin war damals alles für die Jugend: jegliche Zuversicht, sämtliche insgeheimen Gefühle, tugendhaftesten Impulse, alle harmonischen Saiten der Seele, die gesamte Poesie der Gedanken und Empfindungen – alles ging auf ihn zurück und ging von ihm aus … Ich erinnere mich auch an die Nachricht von seinem Tod. Ich war damals ein kleiner Beamter, ‚Übersetzer‘ im Ministerium für Finanzen. Es gab wenig zu tun, so schrieb, übersetzte und studierte ich die Dichter und Ästheten, nur für mich, ohne jedes Ziel. Besonders interessierte mich Winckelmann.81 Doch über allem thronte er. In meinem bescheidenen Amtsstübchen standen auf dem Bücherregal an vorderster Stelle seine Werke – alles darin hatte ich studiert, jede Zeile nachempfunden und durchdacht … Und plötzlich hieß es, er sei getötet worden, es gäbe ihn nicht mehr … Ich war damals im Amt, ging hinaus auf den Korridor, konnte mich nicht beherrschen, wandte mich zur Wand, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte bitterlich … Der Schmerz schnitt mir wie ein Messer ins Herz und die Tränen strömten, obwohl ich noch nicht glauben wollte, dass es ihn nicht mehr gab, dass es Puškin nicht mehr gab! Ich konnte nicht begreifen, dass jener, vor dem ich innerlich niederkniete, leblos dalag. Und ich weinte bitterlich und untröstlich, wie man weint, wenn man vom Tod der geliebten Frau erfährt … Nein, das stimmt nicht – vom Tod der Mutter. Ja! Der Mutter! … Drei Tage später erschien unter der Überschrift ‚Das Feuer auf dem Altar ist erloschen‘ ein Bild Puškins.82 Zensur und Polizei aber beeilten sich, es zu verbieten und zu vernichten …“ Ivan Aleksandrovič jedoch hatte eines dieser Bilder aufbewahrt, dessen gefährliche Überschrift er hinter einem alten Rahmen verbarg. Er schenkte es mir, mit einer Widmung auf der Rückseite, und ich stiftete dieses Porträt dem Museum des Lyzeums, das Puškins Namen trägt. Im selben Jahr, 1880, veranstalteten die Mitglieder des Rigaer russischen Literatur- und Sängervereins „Bajan“ ihren üblichen feierlichen Ausflug nach Dubbeln und nutzten die Gelegenheit, dass Gončarov, P. D. Boborykin und ich ebenfalls dort waren, uns zu ihrem feierlichen Diner mit Musik und Reden einzuladen. Diese Einladung brachte Ivan Aleksandrovič völlig aus dem Gleichgewicht, er schrieb den Vorstehern einen Brief, in dem er sie inständig bat, ihn „zu verschonen und zu entschuldigen“, am Morgen des Tages, als „Bajan“ aus Riga abreiste, telegrafierte er noch einmal das Gleiche, in der Sorge, der eingeschriebene Brief könne nicht angekommen sein, und als der mit Flaggen geschmückte Dampfer mit den Teilnehmern des „Ausflugs“ auf dem Fluss Aa sichtbar wurde, lief er, in der Befürchtung, man könne kommen und ihn zu überreden versuchen, eilig zum Strand und wanderte dort allein umher, bis die vom auslaufenden Schiff abgefeuerten Raketen anzeigten, dass die für ihn gefährliche Feierlichkeit beendet war. Als der Gedanke an sein literarisches Jubiläum aufkam, bemächtigte sich Gončarovs krankhafte Aufregung, und er begann mit Nachdruck und beharrlich

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all jene, die mit der Organisation dieser Feier zu tun haben könnten, zu bitten, jeglichen Gedanken daran aufzugeben und drohte damit, entgegen seiner Gewohnheit Petersburg für den Winter zu verlassen und zu reisen, „wohin das Auge reicht“, und somit die Jubiläumsfeier ohne den Mittelpunkt der Feierlichkeit zurückzulassen. Erst nach zahlreichen Versuchen und unter großen Mühen gelang es, ihn zu überreden, den engsten Kreis seiner Freunde aus dem „Vestnik Evropy“ zu empfangen, die ihm eine marmorne Tischuhr mit der bronzenen Darstellung der Marfinka aus dem Roman „Obryv“ überreichten und sich, um den alten Mann zu schonen, jeglicher Festansprachen enthielten. Und dieser „ungesellige Griesgram“, wie er sich selbst nannte, war lebhaft, geistreich und sogar fröhlich, wenn man mit ihm zu zweit oder im allerkleinsten Kreis zusammen war. So erinnere ich mich an ihn während unserer langen Spaziergänge am Rigaer Strand und in Ust‘-Narva, als der Zauber seiner farbigen Erinnerungen und Erzählungen seinen Begleiter alle Müdigkeit vergessen ließ. Unter diesen Erinnerungen waren auch zahlreiche, die nicht in die „Fregat ‚Pallada‘“ Eingang gefunden hatten. In ihnen blitzte lebhafte Beobachtungsgabe; sie waren durchdrungen von zärtlicher Liebe für den russischen Menschen und von tiefem Verständnis für seine guten, ureigensten Eigenschaften. Besonders eingeprägt hat sich mir seine Erzählung über unsere Matrosen, die sich vor Lachen bogen und mit den Fingern auf die nackten Knie zweier reglos vor einem der Londoner Schlösser stehenden Wachen in schottischem Gewand zeigten, die rot vor Zorn waren, sich aber der Disziplin fügten. „Was tut ihr hier“, fragte sie Gončarov. „Worüber lacht ihr?“ „Sieh doch bloß, euer Wohlgeboren, die Königin hat ihnen keine Hosen gegeben!“83 Oder eine andere Geschichte darüber, wie er in der Umgebung von Kapstadt auf eine Gruppe von Matrosen zutrat, die etwas interessiert betrachteten, und auf der Handfläche des einen von ihnen einen riesengroßen Skorpion erblickte, der vergeblich versuchte, mit seinem giftigen Schwanz die dicke Hornhaut der Hand zu durchdringen, die daran gewöhnt war, in den Wanten zu klettern . „Was tust du da? Wirf ihn fort!“ rief Gončarov. „Sein Stich ist tödlich!“ „Er sticht?“ fragte der Matrose ungläubig und sah den Skorpion misstrauisch an. „Was für ein Mistvieh! Pfui!“ Und er warf den Skorpion zu Boden und zertrat ihn mit dem, der Abkühlung halber, nackten Fuß. Unter seinen Erzählungen war auch eine, die wegen der Bescheidenheit und Zurückhaltung der Protagonisten offenbar in der Geschichte des Krimkriegs keine Spuren hinterlassen hat. Als Admiral Putjatin84 im fernen Japanischen Meer auf der ‚Pallada‘ die Nachricht erhielt, Frankreich und England hätten Russland den Krieg erklärt, rief er Pos’et85 (den Kommandeur der Fregatte) zu sich in die Kajüte, und, so weit ich mich erinnere, Lesovskij86 (den ersten Offizier), und erklärte ihnen in Anwesenheit von Gončarov, wobei er alle zur Geheimhaltung verpflichtete, er habe angesichts der Unmöglichkeit, mit einer Segelfregatte siegreich gegen die eisernen Schraubenschiffe des Feindes zu kämpfen oder vor letzteren zurückzuweichen, beschlossen, an einem von ihnen festzumachen und die Fregatte in die Luft zu sprengen.

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Auch während unserer üblichen Mittagessen zu zweit im Hôtel de France unweit des Policejskij most, und ebenso im Kreise der Mitarbeiter des „Vestnik Evropy“ während der wöchentlichen Mittagessen beim verstorbenen Stasjulevič, war Gončarov ein nicht minder liebenswürdiger Gesprächspartner. Hier konnte er sich, durch nichts geniert und von der Atmosphäre herzlicher Freundschaft erwärmt, der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer sicher sein, wenn er bisweilen Exkurse in die Literatur oder Kunst unternahm. Dann verschränkte er die Finger seiner schönen Hände, blickte freundlich in die Runde, lebte auf, und in seine Augen kehrte der lange erloschene Glanz zurück. Dies ging viele Jahre so, doch nicht ohne Unterbrechungen. Diese Unterbrechungen fielen mit Turgenevs Petersburg-Aufenthalten zusammen, während derer Gončarov es vermied, bei Stasjulevič zum Essen zu erscheinen. Einmal, während einer solchen Pause, antwortete er auf meine Frage, wann wir uns in der Galernaja87 wiedersehen, etwas verlegen: „Ich kann mich irgendwie nicht aufraffen, etwas hindert mich immer.“ Da er aber offenbar begriff, dass eine derartige Erklärung seinem üblichen und gleichmäßigen Leben widersprach, fügte er hinzu: „Der Tschetschene schleicht am Fluss entlang!“88 Gončarov sprach nicht gern über das, was in der Vergangenheit in seinem Inneren vorgegangen war, doch daraus, dass er stets sein Leben beschrieb und das, was in ihm Wurzeln geschlagen hat,89 kann man schließen, dass er in vollem Maße jene Gefühle durchlebt hat, die ihn zu Ol’ga und Vera inspirierten, jene meisterhafte Versinnbildlichung dessen, was Goethe „Das ewig Weibliche“90 nannte. Er war wohl weder ein Märtyrer seiner Liebe wie Turgenev,91 noch wird er ein in dieser Beziehung schweres Drama durchlitten haben … Zumindest sagte er, dass in den Worten des Puškinschen Mephistopheles, der Faust Vorwürfe macht, weil er „listig in der einfältigen Jungfer Träume des Herzens erweckt“ habe,92 ein lehrreiches Vermächtnis für jeden ehrlichen Mann stecke. Doch Stürme hat es in diesem Leben zweifellos gegeben.93 Mehr als einmal bezeichnete er das Leben als schwere Prüfung, zitierte aus diesem Anlass oft Puškins Wort von den „quälenden Träumen“ und wiederholte: „Kein schwankend Zelt kann uns verstecken vor den Tragödien, voller Wucht verfolgt das Schicksal jedermann, und niemand ihm entrinnen kann“(Puschkin, 1985, S. 193).94 Zu jener Zeit jedenfalls, als ich ihn näher kennenlernte, Anfang der siebziger Jahre, war das Leben seines Herzens schon zum Stillstand gekommen. Sein Herz jedoch war zartfühlend und liebevoll. Es war dies ein Kapital, das nicht ungenutzt bleiben konnte, es musste in Umlauf gebracht werden. Der Mensch muss unbedingt der Schwermut der Einsamkeit, dem Rand des finsteren Abgrunds tiefer Enttäuschung von den Menschen oder von sich selbst entfliehen und eine Bindung eingehen. So geschah es auch mit Gončarov. Viele Jahre lang diente ihm ein ehrlicher und fleißiger kurländischer Kammerdiener und führte seinen Haushalt. Ende der sechziger Jahre starb er völlig unerwartet, und Ivan Aleksandrovič, der mit der Witwe und den drei kleinen Kindern Mitleid empfand, behielt die Witwe als Hausangestellte bei sich, stellte ihr ein klei-

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nes Zimmer zur Verfügung, das im Treppenhaus seiner Wohnung gegenüber lag, ersetzte den verstorbenen Ehemann durch sie und trug ihr die Sorge um seinen kleinen Junggesellenhaushalt auf. Mit den Jahren, als die Kinder heranwuchsen, antwortete Ivan Aleksandrovičs Herz auf ihre unschuldige Zuneigung, und er schloss sie tief und rührend ins Herz, besonders das älteste Mädchen. Seinen Sorgen, Bitten, materiellen Zuwendungen und den mündlich und schriftlich vorgetragenen Gesuchen verdanken diese Kinder ihre Erziehung und mittlere Schulausbildung, die er äußerst aufmerksam verfolgte. Dass er es ihnen ermöglichen konnte, auf dem Land oder am Meeresstrand reine Luft zu atmen und die Kräfte zu stärken, freute den alten Mann von Herzen, dabei halfen ihm häufig auch die Töchter seines alten Freundes A. V. Nikitenko. Und in dieser völlig uneigennützigen Liebe ging Gončarov bis an die äußersten Grenzen. Die Sorgen um die Kinder, ihre Gedanken, Gefühle, Gewohnheiten, die Besonderheiten ihrer Persönlichkeit, scherzhafte, zärtliche Spitznamen, die er ihnen gab, all das erfüllte sein Leben und spiegelte sich in seinen Gesprächen wider. Ihre Aufmerksamkeit und Sanjas (so hieß das älteste der Kinder) Zuneigung erfüllten ihn mit großer Dankbarkeit. Allmählich hinterließ ihr Leben in seinem Dasein starke, dauerhafte Wurzeln. Ab Mitte der achtziger Jahre neigte sich Gončarovs Leben sichtlich dem Ende zu, insbesondere, nachdem er infolge einer Blutung, die ihm heftigste Qualen bereitete, auf einem Auge erblindet war. Er magerte ab, sah blass aus, seine Schrift wurde zwar größer, doch unleserlicher, wochenlang kam er nicht aus seiner wenig gemütlichen und dunklen Wohnung in der Mochovaja heraus, in der er dreißig Jahre lang lebte. Für den Sommer tauschte er das weit entfernte, geliebte Dubbeln gegen das näher gelegene Ust‘-Narva ein, später dann gegen Peterhof: den erlöschenden Autor der „Fregat ’Pallada‘“ zog es weiterhin ans Meer. Doch seit der Tod, der ganz offensichtlich nahte, seine schwarzen Flügel über ihm ausgebreitet und durch seinen Atem sein Augenlicht verdunkelt und später sein Gehör geschwächt hatte, erhellte sich sein Geist, und er betrachtete alles voller Nachsicht und Verzeihen, als wolle er kein schwer auf seiner Seele lastendes Gefühl mit ins nahe Grab nehmen. In seinem Unglück war er anrührend, mit den Worten seines Lieblingsdichters ausgedrückt „einfach und gütig, mit sanfter Seele“.95 In dieser Einsamkeit, in der er nur einige nahe Bekannte empfing, wartete er, ganz den Sorgen um die Zukunft der von ihm verwöhnten Familie hingegeben, auf das Ende – mit der Ruhe eines des Lebens müden und gläubigen Menschen. „Gerührt betrachte ich“, schrieb er mir 1889,96 „jene gebrochenen und vom Leben gezeichneten alten Männer und Frauen, die an Kirchenmauern gekauert oder in ihren Kämmerchen vor dem Heiligenbild still und klaglos ihre Bürde tragen und im Leben und hoch über dem Leben nur das Kreuz und das Evangelium sehen, einzig daran glauben und darauf hoffen! ‚Das sind Selige, die da geistlich arm sind‘, sagen die klugen Denker. Nein – es sind Menschen, jene, denen das zugänglich ist, was den Klugen und Vernünftigen verschlossen bleibt.“ 1889 erlitt er einen leichten Schlaganfall, von dem er sich, allerdings mit

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Mühe, wieder erholte, in der Nacht zum 15. September 1891 aber verlosch er still nach einer Lungenentzündung, die er nicht mehr hatte überstehen können. Der tiefe Glaube an ein anderes Leben begleitete ihn bis zum Schluss. Ich besuchte ihn einen Tag vor seinem Tod. Als ich die Hoffnung ausdrückte, er könne wieder gesund werden, sah er mich mit seinem gesunden Auge an, in dem noch das Leben funkelte und flackerte, und sagte mit fester Stimme: „Nein, ich werde sterben! Heute Nacht habe ich Christus gesehen, und er hat mir vergeben …“ Auf dem neuen Friedhof des Aleksandr-Nevskij-Klosters fließt ein kleiner Fluss, dessen eines Ufer steil nach oben ansteigt. Als Ivan Aleksandrovič Gončarov entschlafen war, als ihm die für uns alle unausweichliche gewöhnliche Geschichte widerfuhr, wählten seine Freunde – Stasjulevič und ich – einen Platz am Rande dieses Steilufers aus, und dort ruht nun der Autor des „Oblomov“ … am Rande des Abhangs …97

Editorische Notiz Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um eine eigens für die Reihe „Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte“ zusammengestellte, übersetzte und kommentierte Originalausgabe. Die einzelnen Ausgangstexte erschienen verstreut in russischen Publikationen, auf die Quellen wurde jeweils in den Anmerkungen verwiesen, sie werden hier erstmals auf Deutsch vorgelegt. Der Band versteht sich als Beitrag zur Erschließung von Werk, Biografie und Persönlichkeit Gončarovs für das deutschsprachige Publikum, in dem die Lebensumstände und Gedankenwelt des zurückgezogen lebenden Junggesellen während seines letzten Lebensjahrzehnts beleuchtet werden sollen. Mit * gekennzeichnete Anmerkungen stützen sich auf die Kommentare von T. I. Ornatskaja und V. I. Mel’nik im Band „I. A. Gončarov, Literaturnoe nasledstvo 102, IMLI RAN, Nasledie. Moskva, 2000“, bzw. auf die Ausgabe „I. A. Gončarov. Očerki. Stat’i. Vospominanija. Moskva, 1986“. Sämtliche übrige Anmerkungen wurden von der Herausgeberin erarbeitet. In die Kommentare wurden ergänzend zahlreiche Zitate aus Schreiben Gončarovs an andere Briefpartner (vollständig oder in Auszügen) aufgenommen; es kann sich dabei nur um Beispiele handeln, die die jeweiligen Umstände in einigen Punkten zusätzlich illustrieren sollen, sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wurden, ebenso wie Zitate aus erwähnten Werken Gončarovs oder anderer Autoren, wenn nicht anders gekennzeichnet, für diese Ausgabe erstmals übersetzt. Zitiert wurde nach den Primärquellen, lediglich in einigen wenigen Fällen wurden die Zitate Sekundärquellen entnommen, um den Lesern den Zugang zu den entsprechenden Passagen zu erleichtern. Die überwiegende Anzahl der Briefe Gončarovs ist bis jetzt unveröffentlicht. Die Originale dieser Briefe befinden sich zum größten Teil im Archiv des Instituts für russische Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften (Puškin-Haus), St. Petersburg (IRLI RAN). Abschriften der Briefe lagen der Herausgeberin als Arbeitsgrundlage vor, aus ihnen konnte aus rechtlichen Gründen jedoch nur in Ausnahmefällen zitiert werden. Um Fehlinterpretationen bei der Übersetzung mehrdeutiger Passagen zu vermeiden, und um der Genauigkeit halber, wurde in Einzelfällen in den Anmerkungen das Bedeutungsspektrum bestimmter russischer Begriffe im Deutschen näher erläutert. Unklare oder nicht eindeutig verständliche Äußerungen, die sich nur den Briefpartnern erschlossen, wurden im russischen Originalwortlaut in eckigen Klammern hinzugefügt. Die Angabe der Daten in den Brieftexten folgt dem Original, sie beziehen sich auf den Julianischen Kalender, der sich im 19. Jahrhundert um zwölf, im 20./21. Jahrhundert um 13 Tage vom „neuen Stil“, dem Gregorianischen Kalender, unterscheidet. Wenn beide Daten angegeben wurden, so folgt diese Angabe ebenfalls

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dem Originalwortlaut der Briefe. Fehlende Monats-, Jahres- oder Ortsangaben in den Originalbriefen wurden in eckigen Klammern hinzugefügt, in Anlehnung an die von T. I. Ornatskaja und V. I. Mel’nik vorgenommenen Ergänzungen in der russischen Erstpublikation dieser Briefe. Ergänzende bzw. erläuternde Zusätze der Herausgeberin wurden ebenfalls in eckige Klammern gesetzt. Gončarovs Interpunktion wurde beibehalten, einschließlich der häufig gebrauchten Doppelpunkte. Sämtliche Hervorhebungen (z. B. Kursivierungen oder in Anführungszeichen gesetzte Passagen) stammen ebenfalls von Gončarov. Bei der Wiedergabe der kyrillischen Namen und Begriffe wurde die Transliteration gewählt. Wenn aus Quellen mit Dudenumschrift (Transkription) zitiert wurde, so wurde diese beim Zitat beibehalten. Dies kann gelegentlich dazu führen, dass es im selben Zusammenhang z. B. heißt: „ironisch auf Zachar bezogen: ‚Sachar hatte die Fünfzig schon überschritten‘“, oder „Diese Überlegungen erinnern an eine Oblomov-Szene: ‚Oblomow brach ab und las das Geschriebene durch.‘“ Das gilt ebenso z. B. für Gogol/Gogol‘ bzw. Gontscharow/Gončarov. Im deutschen Sprachgebrauch eingebürgerte geografische Eigennamen wie St. Petersburg, Moskau, Newa, Wolga, Peterhof usw. wurden in der geläufigen Duden-Umschrift wiedergegeben. Begriffe wie Wodka u. ä. wurden ebenfalls mit der Duden-Umschrift wiedergegeben. Personennamen, wenn sie deutscher, baltischer oder französischer Herkunft, aber bereits „russifiziert“ sind, wurden nach ihrer russischen Schreibung transliteriert und in eckigen Klammern mit der tatsächlichen oder vermuteten ursprünglichen Schreibung wiedergegeben. Die in den Texten erwähnten Personen wurden, wenn möglich, in den Anmerkungen erläutert, sofern sie ermittelt werden konnten. Falls Personen oder Umstände nicht geklärt werden konnten, wurde dies nicht besonders kenntlich gemacht. Sehr bekannte Namen bzw. literarische Figuren, wie z. B. Puškin, Gogol‘, Čičikov usw., wurden nicht ausführlicher erläutert. Die erwähnten russischen Buchtitel wurden im Originalwortlaut angegeben, in den Anmerkungen wird auf deutschsprachige Ausgaben der jeweiligen Werke verwiesen bzw. wird der Titel übersetzt. In das Literaturverzeichnis wurden nur jene Titel aufgenommen, aus denen – vor allem im Kommentar – zitiert wird. Es wurde versucht, in der Übersetzung so weit wie möglich auf Fremdwörter zu verzichten, sofern Gončarov sie nicht selbst gebraucht hat, während Fremdwörter, die Gončarov ausdrücklich verwendete, beibehalten wurden. Dieses Vorgehen stützt sich auf meine Analyse der Lexik des Romans „Oblomov“, aus dem sich Gončarovs Fremdwortgebrauch gut ableiten lässt. Wenn er z. B. jemanden als „talantlivyj“ bezeichnet, so wurde dies mit „talentiert“ wiedergegeben (und nicht mit „begabt“) oder wenn es heißt „v nadežde, čto ėto im radikal’no pomožet“– „in der Hoffnung, dass es ihnen radikal hilft“. Wo Gončarov den Terminus „Vozrožde-

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nie“ gebraucht, heißt es in der Übersetzung „Wiedergeburt“ im Gegensatz zum von Gončarov einige Sätze später im selben Sinnzusammenhang verwendeten „Renaissance“, das er in lateinischen Buchstaben schreibt. Auf diese Weise lässt sich ansatzweise die Wortwahl Gončarovs nachvollziehen. Der Abdruck der Illustrationen im vorliegenden Band erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Russische Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften (IRLI RAN, Puškin-Haus) in St. Petersburg, das die Druckvorlagen zur Verfügung stellte.

Anmerkungen Anmerkungen zu 1. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Missachtung des Willens 1 Originaltitel: Narušenie voli, in: I. A. Gončarov, Sobranie sočinenij v 8 tomach, tom 8, 1955, S. 114ff. Zuerst erschienen in: Vestnik Evropy, 3, 1889. 2 Konstantin Dmitrievič Kavelin (1818–1885), Historiker, Soziologe und Rechtsgelehrter. Stand in seiner Jugend Vissarion Belinskij und Aleksandr Gercen nahe, näherte sich später den Slawophilen an. 3 Ivan Nikolaevič Kramskoj (1837–1887), Maler. Einer der Begründer der Künstlerbewegung der „Peredvižniki“. 4 Wie wichtig Gončarov dieser Text war und welche Zweifel er hegte, lässt sich aus seinem Brief vom 13.01.1889 an seinen langjährigen Freund Michail Stasjulevič ersehen, den Herausgeber der Zeitschrift „Vestnik Evropy“ (in der „Narušenie voli“ 1889 in der Märzausgabe erschien): „Lieber alter Herr [im Original deutsch]! Mein unbeholfenes Manuskript ist fertig, d. h. abgeschrieben und schon wieder derart mit meinen Korrekturen vollgeschmiert, dass sich außer den Setzern wohl niemand darin zurechtfinden wird, nicht einmal der Teufel. Ich wollte es Ihnen schon heute schicken, d. h. am 13., statt am von Ihnen festgelegten 20., habe aber gezögert, weil ich an der Zuverlässigkeit der Boten zweifle, und ich denke auch, dass man den Artikel sicherlich nicht bis zum Montag wird setzen können. Am Montag haben wir ja auch erst den 15., demzufolge ist noch genug Zeit. Ich bitte darum, beide Fahnenkorrekturen lesen zu können, und die dritte, bereits fertige, im Umbruch zumindest überfliegen zu dürfen, im Falle eines unpassenden Worts oder falschen Kommas u. ä. Ich hätte gern, dass es folgendermaßen vonstatten geht: unmittelbar nach dem Satz der ersten Korrektur würde ich alles durchsehen und korrigieren und dann könnte nach der Ausführung meiner Korrekturen der zweite Korrekturdurchgang gleichzeitig an die Herren Arsen’ev, Pypin, an Sie und noch einmal an mich gesandt werden, mit der ergebensten Bitte, an den Rändern Anmerkungen zu machen, und ebenfalls an Anatolij Fed[orovič] Koni, den ich bereits darum gebeten habe, er war sehr angetan, als er erfuhr, dass ich einen Artikel über diese alle bewegende Frage geschrieben habe. Anschließend könnten sämtliche Korrekturen mit den Anmerkungen an mich geschickt werden, ich würde sie dann entsprechend den Anmerkungen mit meinen Korrekturen zusammenfügen und Ihnen diese zweite Korrektur endgültig zurückschicken. Sollte es Ihnen an Zivilcourage mangeln, sollten Sie kleinmütig geworden sein oder eine Verzögerung befürchten, so könnten Sie auch schon die erste Korrektur an mich und die übrigen Herren in alle Himmelsrichtungen hinausschicken, damit wir gleichzeitig Korrektur lesen können, beim zweiten Korrekturdurchgang könnten dann alle Bögen mit den Anmerkungen bei mir zusammentreffen. Außerdem bitte ich Sie und das gesamte ehrenwerte Kollegium, folgende Punkte zu bedenken: 1.) Ist ein derartiger Artikel mit dieser Überschrift überhaupt möglich, d. h. kann eine solche Frage aufgeworfen werden, noch dazu in der Weise, wie ich es getan habe, also kategorisch? Vielleicht wird man meinen, ich sollte pia desideria äußern, nicht aber Forderungen auf irgendwelche Rechte erheben usw. 2.) Gehe ich nicht allzu ernst,

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weitschweifig, schwerfällig und ungeschickt an die Sache heran? 3.) Was für gewichtige Einwände sind zu erwarten? Und 4.) bitte ich, mich auf Widersprüche, Wiederholungen, Unzutreffendes und Ungenauigkeiten hinzuweisen. Sehen Sie nur, was für eine Unmenge von Fragen sich aus diesem nichtigen Problem ergibt! Doch es berührt vieles und viele, so dass mir am Ende nicht nur Eier- und Zitronenschalen entgegenfliegen werden, sondern vermutlich Schlimmeres! Ihnen macht das nichts, aber was ist mit mir! Vielleicht sollte ich meinen Namen nicht daruntersetzen! Sollen sie doch die Redaktion bombardieren! Ich gehe jetzt weniger als je zuvor aus dem Haus und weiß deshalb nicht, wann ich Ljubov‘ Isaakovna [Stasjulevičs Frau] sehen werde. Ich will versuchen, mich am Sonntag oder Montag zu Ihnen zu schleppen, aber es ist noch nicht sicher und hängt vom Wetter, meiner Stimmung und dem Grad der Nerven- und Geisteszerrüttung ab. Ach, was für ein Unglücksmensch ich doch bin! Richten Sie ihr bitte meinen Gruß aus! Wenn ich zu Ihnen kommen sollte, bringe ich den Artikel selbst mit, wenn aber nicht, könnten Sie vielleicht Ihrem Bürodiener einen Auftrag in unserer Gegend übertragen? Ab morgen (Sonnabend) wird der Umschlag mit dem Artikel zur Übergabe an einen Boten bereitliegen. Immer Ihr ergebener junger Herr [im Original deutsch] Gončarov P. S. Bitte bewahren Sie diesen Brief wegen der in ihm ausgeführten Punkte 1.), 2.), 3.) und 4.) auf, die ich A. N., K. K. und Ihnen selbst gehorsam zur Kenntnis zu bringen bitte. Anatolij Fed[orovič] benachrichtige ich selbst, wenn ich von Ihnen erfahre, wann er die Korrekturfahnen erhält“ (Gončarov, 1912, S. 208f.). 5 Kurz zuvor (1882) waren in Russland die ersten Telefone eingeführt worden. 6 Benjamin Disraeli (1804–1881), seit 1876 Earl of Beaconsfield, britischer Staatsmann und Romanschriftsteller. Zwei Mal, 1868 und 1874 bis 1880, bekleidete er das Amt des britischen Premierministers. 7 Petr Andreevič Vjazemskij (1792–1878), Dichter, Literaturkritiker, enger Freund Aleksandr Puškins. Später auch zeitweilig hoher Staatsbeamter. 8 Sergej Aleksandrovič Sobolevskij (1803–1870), Dichter, Bibliograph, Freund Puškins. 9 Vasilij Andreevič Žukovskij (1783–1852), Dichter, Übersetzer, Literaturkritiker, Freund und Förderer Nikolaj Gogol‘s. 10 Gončarov verwendete in seinen Briefen und Werken immer wieder das Bild vom archimedischen Hebel, so z. B. im „Oblomov“ – „und [er] kam zu der Überzeugung, dass die Liebe kraft des archimedischen Hebels die Welt bewegt“ (Gontscharow, 2012, S. 678). 11 Viktor Pavlovič Gaevskij (1826–1888), Literaturhistoriker und Kritiker. Unter seiner Redaktion erschien die erste Ausgabe der Briefe Ivan Turgenevs (1884). 12 Jakov Petrovič Polonskij (1819–1898), Dichter und Prosaiker. 13 Vladimir Vasil’evič Stasov (1824–1906), Musik- und Kunstkritiker, Kunsthistoriker. Mitbegründer der Komponistengruppe „Mogučaja kučka“ und einer der Initiatoren sowie Chronisten der „Peredvižniki“. 14 Die Kaiserliche öffentliche Bibliothek (Imperatorskaja publičnaja biblioteka), heute Russische Nationalbibliothek (Rossijskaja nacional’naja biblioteka), wurde 1795 auf Geheiß der Zarin Ekaterina II. in St. Petersburg gegründet und 1814 eröffnet. Älteste öffentliche und erste Nationalbibliothek Russlands. 15 Der Aphorismus „Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen“ wird laut Georg Büchmann verschiedenen Urhebern zugeschrieben: Talleyrand, Voltaire, Young, Dionysius Cato, Plutarch (Büchmann, 1880, 379f.).

184 Anmerkungen 16 Gončarov bezieht sich hier auf das Gedicht Michail Lermontovs „Poslednee novosel’e“ (1841), geschrieben anlässlich der Überführung der Überreste Napoleons von St. Helena nach Paris, in dem es u.a. heißt: „Но годы протекли, и ветреное племя Кричит: ‚Подайте нам священный этот прах! Он наш; его теперь, великой жатвы семя, азы Зароем мы в спасенных им стенах!‘ И возвратился он на родину; безумно, Как прежде, вкруг него теснятся и бегут И в пышный гроб, среди столицы шумной, Остатки тленные кладут. Желанье позднее увенчано успехом! И краткий свой восторг сменив уже другим, Гуляя, топчет их с самодовольным смехом, Толпа, дрожавшая пред ним“ (Lermontov, 1954, S. 182f.). 17 Sergej Semenovič Uvarov (1786–1855) – Altertumswissenschaftler, von 1833–1949 Minister für Volksbildung.

Anmerkungen zu 2. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Briefe an Anatolij Fedorovič Koni 1 Die Übersetzung basiert auf dem Abdruck der Briefe im Band: I. A. Gončarov, Literaturnoe nasledstvo 102, IMLI RAN, Nasledie. Moskau, 2000 a, S. 441ff. Mit * gekennzeichnete Anmerkungen lehnen sich an den Kommentar der russischen Ausgabe der Briefe (Moskau 2000a) von T. I. Ornatskaja und V. I. Mel’nik an, alle übrigen stammen von der Herausgeberin. 1 2 Der Vater von Anatolij Fedorovič Koni (1844–1927), Fedor Alekseevič Koni (1809–1879), der an der Moskauer Universität zunächst Medizin studiert hatte und später an die philologische Fakultät überwechselte, war ein russischer Theaterautor, -kritiker und -historiker. Das erwähnte Album, das Gončarov bei Anatolij Koni ausgeliehen hatte, wird ausführlich beschrieben in: Mazon, André, Un maître du roman russe: Ivan Gontcharov, 1812–1891. Paris, Champion, 1914. 3 Die Schauspielerin Marija Dmitrievna L‘vova-Sineckaja (1795–1875) unterhielt in Moskau einen Salon, in dem neben I. A. Gončarov u. a. auch Literaten wie I. A. Krylov, N. I. Gnedič, A. S. Griboedov, P. A. Vjazemskij, S. T. Aksakov und M. P. Pogodin verkehrten. 4 Anspielung auf A. S. Puškins „Evgenij Onegin“ (Erstes Buch, XVIII). „Тam, tam pod seniju kulis mladye dni moi neslis‘.“ 5 Aleksandr Egorovič Varlamov (1801–1848), Komponist für Theatermusik an den Imperatorskie moskovskie teatry (Kaiserliche Theater in Moskau), schuf etwa 200 Romanzen und Lieder. 6 Nikolaj Ivanovič Nadeždin (1804–1856), Literaturkritiker und Professor der schönen Künste und der Archäologie an der Moskauer Universität, einer der Hochschullehrer Gonča-

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rovs (siehe die Erinnerungsskizze „V universitete“, in: I. A. Gončarov, Očerki, stat’i, pis’ma, vospominanija sovremennikov. Moskau, 1986, S. 114). 7 Semen Martynovič Ivaškovskij (1774–1850), Philologe, Professor der Moskauer Universität, bei dem Gončarov ebenfalls Vorlesungen hörte. 8 Seit 1878 erschütterte eine Reihe von Attentaten die russische Öffentlichkeit. Am 13. März 1879 war es in St. Petersburg zu einem erneuten Anschlag auf den Chef der Dritten Abteilung der geheimen Kanzlei des Zaren und Leiters der politischen Polizei des Russischen Reichs, Aleksandr Romanovič Drentel’n, durch den damals neunzehnjährigen Lev Filippovič Mirskij (1859–1920) gekommen. Drentel’n blieb beim Attentat unverletzt. Gončarov verwendet hier den Begriff der Skopcen, einer religiösen Sekte, die als Geheimbund aus der Tradition der Flagellantensekte der Chlysten hervorging und sich durch völlige Askese, Verstümmelungen usw. auszeichnete. 2 9 Der Wortlaut dieses Testaments von 1879 lässt sich nicht mehr rekonstruieren, es ist verloren gegangen. Als Testamentsvollstrecker konnte Gončarov zunächst den Senator Mark Nikolaevič Ljuboščinskij (1816–1889) gewinnen. 1883 verfasste Gončarov ein neues Testament (siehe u. a. den Brief 42, Anm. 202). Nach Ljuboščinskijs Tod wurde Aleksej Gerasimovič Polotebnov (1838–1907), Professor der Dermatologie, als 2. Testamentsvollstrecker gewonnen. Hintergrund für dieses und das spätere Testament war der Tod des Dieners Karl Ljudvig Trejgut [Karl Ludwig Treugut] im Juni 1878 (das genaue Datum ist nicht bekannt). Er hinterließ eine Familie, für deren Lebensunterhalt sich Gončarov verantwortlich fühlte: die Witwe Aleksandra Ivanovna Trejgut (? –1917) und die Kinder Aleksandra Karlovna (1869–1928), Vasilij Karlovič (1871–1913) und Elena Karlovna (1873–1943) – die Lebensdaten entsprechen dem neuesten Stand der Forschung und weichen von früher veröffentlichten ab. Bereits im April 1878 hatte Gončarov seiner Schwester Anna Aleksandrovna Muzalevskaja (1818–1898) anlässlich der Krankheit seines Dieners geschrieben: „Sollte er sterben, so hinterlässt er eine kranke Witwe mit drei kleinen Kindern, deren ältestes, meinen Liebling, ich schon irgendwie unterbringen könnte, für alle aber reichen weder meine Mittel noch meine Kräfte! Ich werde einen neuen Diener einstellen müssen, aber wohin mit ihnen!“ (Alekseev, 1960, S. 229). Am 4. Juni 1878 sendet Gončarov seiner guten Freundin und Vertrauten Ekaterina Aleksandrovna Nikitenko (1837–1900) folgenden programmatischen Brief: „Wieder ist ein ganzes Paket zusammengekommen – Bürsten, Schwämme, Haarwaschmittel für Sanja [d. h. Aleksandra Trejgut, siehe oben], auch verschiedene Bücher, doch ich weiß nicht, wann ich sie vorbeibringen kann. Ihre Mutter hat augenblicklich keine Zeit zu fahren, ich aber werde zuerst nach Carskoe Selo fahren müssen, und von dort dann zu Ihnen, doch mit dem Paket dorthin und dann nach Pavlovsk [die Familie von Aleksandr Vasil’evič Nikitenko – siehe Anm. 19 – verbrachte die Sommerzeit regelmäßig in Pavlovsk], das wird beschwerlich. Sie hat aber alles, was sie braucht, deshalb kann sie warten. Sollte ich am Freitag oder Sonnabend doch vorbeikommen, dann mit leeren Händen, aber auch das ist noch nicht sicher, denn mir geht es wegen des Wetters jetzt zwar besser, aber nur etwas […] Unterdessen, damit ich es bei unserem Wiedersehen nicht vergesse, möchte ich Ihnen jetzt schon einiges in Ergänzung jenes Gesprächs sagen, das sich auf dem Weg zum Bahnhof zwischen uns entspann, das wir aber nicht beendet haben. Ich bin sehr froh, dass Sie diesen Gegenstand berührt haben, es lag mir schon lange auf der Seele, Ihnen meine Gedanken mitzuteilen, da Sie seit geraumer Zeit

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die größte und edelste der Pflichten eines Menschen auf sich genommen haben, die Erziehung der Jugend im frühen Alter zu leiten. Es gibt wohl kaum jemanden, der fähiger wäre, ein Kind, ein Mädchen, ins Leben einzuführen. Verzeihen Sie, wenn ich mich ein wenig gegen die gemeinsame Erziehung von Mädchen und fremden Jungen, also nicht Brüdern, ausspreche. Ihre Worte, dass der einzige und beste Weg dorthin die Liebe zu den Kindern ist, waren wie Musik für mich. Dies habe ich stets allen gepredigt, die mich anhören wollten, unter anderem auch den Eltern meines Lieblings Sanja [d. h. dem Dienerehepaar Trejgut], die mir vorwarfen, dass ich sie verwöhne, ebenso ihren Bruder und ihr Schwesterchen. Ich habe darauf hingewiesen und tue es noch immer, dass ein Verwöhnen von allen Seiten, noch dazu ein dummes, à la Madame Prostakova im ‚Nedorosl‘‘ [aus Denis Fonvizins Komödie ‚Nedorosl‘‘, in deutscher Übersetzung bekannt als „Der Landjunker“], natürlich verderblich ist, doch ein kluges, feinfühliges, gütiges Verwöhnen von irgendeiner Seite ist notwendig: dies ist auch kein Verwöhnen, sondern Liebe. Sanjas Vater [Gončarovs kurz zuvor verstorbener Diener Karl Ljudvig Trejgut] war ein gleichgültiger und grober Vater: die Kinder waren ihm eine Last, er hielt sie sich vom Leibe, bisweilen ohrfeigte er sie auch. Die Mutter ist eine kluge, fürsorgliche und von Liebe für die Kinder erfüllte Mutter, doch es ist eine Liebe, die sie erst im Erwachsenenalter schätzen werden. Sie kocht ihnen Suppe, näht, wäscht, sie arbeitet von früh bis spät, sie zu verwöhnen hat sie keine Zeit und auch keine Mittel, nicht einmal für Zärtlichkeiten reicht es. Doch ein Strahl warmer, ungetrübter Liebe muß doch von irgendwoher auf die Kinderköpfchen fallen, sie wie ein Sonnenstrahl im Morgenrot ihres Lebens wärmen, ohne die Nerven durch frühe Stürme zu erschüttern, und die Keime der körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte zur Entfaltung bringen! Was für gütige, zärtliche Hände braucht es, besonders im allerfrühesten Alter, damit aus den Kindern keine eingeschüchterten, verängstigten Feiglinge oder erniedrigte, beleidigte, kleinmütige, unaufrichtige Menschen werden, sondern aufrechte, ehrliche, mutige, im Leben standhafte, dabei gütige, zur Erfüllung jeglicher Pflicht erzogene Männer und Frauen? Ihre Hände sind, so weit ich das sehen kann, wie geschaffen dafür. Mir scheint, Sie haben Ihre Berufung gefunden: wenn aus Ihren Händen auch nur zwei, drei oder vier (je mehr desto besser natürlich) Kinder hervorgehen, haben Sie Ihre Lebensaufgabe vortrefflich erfüllt. Bei Ihnen ist alles, wie ich sehe, von Liebe geleitet: sie hilft auch der Wissenschaft, bewahrt die Gesundheit, entwickelt, läßt wachsen und ersetzt alles, sogar die Rute, denn Liebe ist allmächtig […] Sie machen sich große Sorgen um die wichtigste, die grundlegende Seite, die Entwicklung und Unterstützung des religiösen Gefühls bei den Kindern. Voller Entsetzen sieht man, dass nicht selten gütige, besorgte, in ihrer Seele auch selbst religiöse Eltern hinsichtlich der unablässigen Unterstützung der Religiosität bei den Kindern irgendwie schwach und gleichgültig sind (das Französische tiedes umschreibt es besser), sie denken, dass später, wenn die Kinder herangewachsen sind, die Zeit kommen wird, gleichsam den Geist der Religion aufzunehmen, ohne dem Buchstaben zu folgen […], was bewirkt, dass sie sich in den Kirchen herumdrücken, Kerzen aufstellen, über schwere Sünden klagen und darüber seufzen, Fastenspeisen essen und dies für Religion halten (usw.) … Als wir nach dem Regen gemeinsam durch die Pfützen liefen, berührte ich in der Eile flüchtig dieses Thema und war glücklich darüber, dass Sie meine Gedanken teilen. So weit ich mich erinnere, sagte ich, dass es unmöglich ist, unter Umgehung des Buchstabens zum Geist eines Gesetzes vorzudringen, und dass man Kindern nicht beibringen kann, die Wahrheiten des Evangeliums auf dem Wege des richtigen und ununterbrochenen Studiums der Heiligengeschichte in Form der Dogmen der Kirche zu erkennen und aufzunehmen, […] indem man

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Kirchen besucht, und die Kinder demzufolge nach und nach auch vom Geist abbringt. Wir sind nicht allein aus Geist geschaffen, sondern sind auch materiell, folglich verläuft die Entwicklung des religiösen Geistes zu Anfang auch auf materiellem Wege, d. h. mittels Heiligenbildern, Personifizierungen, Sinneswahrnehmungen usw. Und dann bildet dies alles in seiner Gesamtheit in der Seele jenes allesbeherrschende Element, das eben die Religion ist, deren Endziel beinhaltet, Gott zu verehren, im Geist und in der Wahrheit. Wie also den Buchstaben vernachlässigen! […] Von jenen, die nicht glauben, ist hier nicht die Rede. Was haben wir beide mit ihnen gemein? Ich weiß, dass sie mich seit langem auslachen. Einer dieser neuen Menschen nannte mich und Vera [aus dem Roman „Obryv“] zurückgeblieben. Meinetwegen! Nicht zu glauben, das ist ja am leichtesten. Wenn man nicht glaubt, verpflichtet das zu nichts, es erlegt einem nichts auf, keinerlei Verpflichtung, keine Arbeit an sich selbst. Es ist viel leichter, die Mütze zu nehmen, auf die Straße zu laufen und zu sagen ‚ich glaube nicht‘ und sich dann vom Wind treiben zu lassen, wohin es einen verschlägt, nicht selbst Erarbeitetes zu essen und nichts und niemanden anzuerkennen. So hält es die Mehrheit der Taugenichtse, Faulpelze, Halbgebildeten usw. ohne Glauben. Und wenn daraus nichts wird, erschießen sie sich: auch das Leben bedeutet ihnen nichts. […] Da wollte ich Ihnen, Ekat[erina] Aleks[androvna], ein paar Worte schreiben und bin derart ins Reden gekommen. Der Grund dafür ist natürlich Ihre und meine Sympathie für die Kinder. Glauben Sie aber bitte nicht, dass ich mich, als ich schrieb, wie angenehm es mir ist, dass wir gedanklich in einigen wichtigen Erziehungsfragen übereinstimmen, von der egoistischen Sorge um meinen kleinen Liebling habe leiten lassen, den Sie sich mit einer solchen Güte einverstanden erklärt haben, den Sommer über bei sich aufzunehmen … Was meine kleine Sandril’ona [d. h. franz. Cendrillon, Aschenbrödel] betrifft, so fürchte ich, dass sie, in ihrer Lage und bei meinen geringen Mitteln, die Wohltat Ihrer Fürsorge nicht bis zum Ende wird in Anspruch nehmen können. Ich weiß nicht, was das Schicksal für sie bereithält, obwohl es so aussieht, als hätte die Natur selbst ihr einen Ausweg aus ihrer Lage gewiesen, indem sie ihr Verstand mitgab, eine gute Auffassungsgabe, Taktgefühl und ein zartes Nervenkostüm. In einer rohen Umgebung, der Handwerkersphäre, bei grober Arbeit, wird sie einfach eingehen. Doch das ist Zukunftsmusik und liegt in Gottes Hand, jetzt aber ist Sie, Ihnen sei Dank, an der frischen Luft, in lieber Gesellschaft und in Ihren Händen. Ich danke Ihnen“ (der Brief wird hier zitiert nach Loščic, 2004, S. 320ff., das Original befindet sich im CGALI – Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv Literatury i Iskusstva Sankt-Peterburga). Soviel bekannt ist, arbeitete die unverheiratete Ekaterina Nikitenko nicht als Erzieherin o. ä., wie nach Kenntnis des Briefs zu vermuten ist, sie widmete sich vielmehr der Erziehung der Kinder ihres verstorbenen Bruders. Und am 11. Juni 1878 heißt es in einem Brief an die Gräfin Aleksandra Andreevna Tolstaja (1817–1904): „P. S. Ich habe neuen Kummer: mein Diener ist gestorben und plötzlich habe ich die Verantwortung für eine ganze fremde Familie: eine kranke Witwe und drei kleine Kinder! Ich ertrinke buchstäblich in den Wogen des Lebens“ (Gončarov, 2000 a, S. 419). Am 1. August, ebenfalls an Ekaterina Aleksandrovna Nikitenko: „Ich habe diesen Schritt [die älteste Tochter des Dieners im Gymnasium unterzubringen] aus Zuneigung für das liebe Kind getan, und noch mehr vom Wunsch geleitet, ihrer armen Mutter, die buchstäblich unter der Belastung durch die drei Kinder zusammenbricht, einige Sorgen abzunehmen. Es ist ein schweres, beinahe unmögliches Opfer für mich, aber vielleicht wird man Sanja mit Gottes Hilfe im Laufe der Zeit … vom Schulgeld befreien“ (Alekseev, 1960, S. 231f.). Zwei Wochen

188 Anmerkungen später (am 14. August) teilte er Ekaterina Nikitenko mit, dass er dem Verleger Ivan Il’ič Glazunov (1826–1889) die Rechte an der Ausgabe seines Buches „Fregat Pallada“ abgetreten habe, „einzig deshalb, um mit dieser Summe Sanjas Ausbildung bis zum Abschluss gewährleisten zu können“ (ebenda, S. 232). 10 Diese Überlegungen erinnern an eine „Oblomov“-Szene: „Oblomow brach ab und las das Geschriebene durch. ‚Wie holprig das klingt‘, sagte er, ‚zweimal hintereinander dass, und dort zweimal welche.‘ Er murmelte vor sich hin und stellte die Wörter um: nun war es so, dass welchem sich auf das Stockwerk bezog – wieder unschön. Irgendwie korrigierte er so gut es ging und überlegte, wie er die beiden dass umgehen könnte. Bald strich er ein Wort aus, bald fügte er es wieder ein. Dreimal stellte er das dass um, doch es kam entweder Unsinn heraus oder die Nachbarschaft mit einem anderen dass. ‚Dieses andere dass werde ich ja nie im Leben los!‘ sagte er ungeduldig. ‚Ach! zum Teufel mit dem Brief ! Sich wegen solcher Lappalien den Kopf zu zerbrechen! Ich bin aus der Übung gekommen, Geschäftsbriefe zu schreiben‘“ (Gontscharow, 2012 a, S. 120). 11 Mark Nikolaevič Ljuboščinskij, siehe Anm. 9. 12 Als Zeugen für das 1879 aufgesetzte Testament fungierten der Ministerialdirektor im Verkehrsministerium und Dichter Vladimir Michajlovič Žemčužnikov (1830–1884) und der Publizist Nikolaj Fedorovič Kruze (1823–1901). 3 13 Im russischen Original hier „kartočka“. Es handelt sich um eine Fotografie. Porträtfotos wurden auf Karton geklebt und zwischen Freunden und Bekannten ausgetauscht – ähnlich wie Visitenkarten – und in Alben gesammelt. Die von Gončarov erwähnten „Kabinettkarten“ hatten ein bestimmtes Format (Kabinettformat) – ca. 5,5 x 9 cm. 14 Gončarov schreibt hier „mnogouvažaemejšij“ – was sich im Deutschen schwer wiedergeben lässt. 15 Im russischen Original heißt es: „Ėto daže ne kartočka, a kartinka.“ 16 In diesem Haus in St. Petersburg (Furštadskaja ul. 27) wohnte A. Koni von 1877, nach anderen Quellen 1878 bis 1885 (statt der Hausnummern gab man den Namen des Besitzers an). 17 Den Entwurf des Testaments, siehe Brief Nr. 2, Anm. 9. 18 Die Familie Trejgut. 19 Es handelt sich um die Schwestern Ekaterina Aleksandrovna (1837–1900) und Sof ’ja Aleksandrovna Nikitenko (1840–1901), Töchter des Kollegen und Freundes Gončarovs, des Literaturhistorikers Aleksandr Vasil’evič Nikitenko (nach Nikitenkos eigenen Angaben 1804 oder 1805–1877), der, als Leibeigener geboren, eine berufliche Laufbahn als Journalist, (liberaler) Zensor im St. Petersburger Zensurkomitee, Professor der Petersburger Universität und Mitglied der Akademie der Wissenschaften durchlief und mit seinem dreibändigen, 2004 neu aufgelegten Tagebuch („Dnevnik“) ein wertvolles kulturgeschichtliches Zeugnis hinterließ, das die gesellschaftspolitische Situation des 19. Jahrhunderts in Russland lebendig werden lässt. Mit den Nikitenko-Schwestern verband Gončarov eine langjährige Freundschaft. Sof ’ja Nikitenko war u. a. als Übersetzerin tätig, sie war Gončarov eine große Hilfe bei seinen literarischen Arbeiten, schrieb seine Manuskripte ab, beriet ihn auch inhaltlich und verwahrte große Teile seines Handschriftenarchivs. Sie war seine „literarische Agaf ’ja Matveevna“, wie er Stasjulevič schrieb (Gončarov, 1912, S. 9). In einem ausführlichen Brief aus Berlin vom 29. Mai 1868 legte er Sof ’ja Nikitenko dar, dass er vier Agaf ’ja Matveevnas [Oblomovs für-

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sorgliche Hauswirtin] besitze, die dritte davon „das sind Sie. Sie sind die beneidenswerteste Ag. M. – Sie sind die Fürsorgerin meiner sittlichen Seite. […] Wir haben auch gemeinsame geistige Interessen – Sie sind die Agaf ’ja Matv. meiner Hefte – niemandem sonst möchte ich sie anvertrauen, um sie zu sortieren, zu korrigieren, in Ordnung zu bringen. Seien Sie doch für mich und der Literatur zuliebe […] meine njan’ka“ (zitiert nach der Abschrift des Originals, Archiv des IRLI RAN). Sof ’ja Nikitenkos Schwester Ekaterina Nikitenko unterstützte ihn, zusammen mit ihrer Schwester, bei der Erziehung der Trejgut-Kinder. 4 20 Im Restaurant des St. Petersburger Hôtel de France (Inhaber L. Croissante, Naberežnaja Mojki 51/Bol’šaja Morskaja 6) unweit der Wohnung in der Mochovaja ulica 3 gelegen, aß Gončarov viele Jahre lang zu Mittag. Hier traf er sich auch häufig mit Kollegen. Anatolij Koni schrieb später in seinen Erinnerungen (Peterburg. Vospominanija starožila): „Von der Bassejnaja kommend […] lassen wir die Mochovaja ulica, die im 18. Jahrhundert Chamovaja hieß, rechterhand liegen. An ihrem Ende, im Haus Nr. 3, hatte sich in den fünfziger Jahren Ivan Aleksandrovič Gončarov niedergelassen. Oft konnte man den berühmten Schöpfer des ‚Oblomov‘ und des ‚Obryv‘ sehen, wie er um die Mittagszeit langsam zum Hotel ‚Francia‘ an der Mojka oder zur Redaktion des ‚Vestnik Evropy‘ in der Galernaja ging. Bisweilen saß auch sein geliebtes Hündchen an seiner Brust geborgen unter dem Mantel. Der apathische Gesichtsausdruck und die halb geschlossenen Augen des Spaziergängers konnten zu der Annahme verleiten, er sei selbst die Verkörperung seines berühmten Helden, dessen Name zu einem Begriff geworden ist. Doch das stimmte nicht. Unter dieser äußeren Erscheinung verbarg sich lebhafte, schöpferische Kraft, eine heißblütige, hingebungsvolle, anhängliche Seele und in seinen Augen leuchtete bisweilen hell sein scharfer Verstand und seine feine Beobachtungsgabe. Als alter Junggeselle lebte er dreißig Jahre lang in einer kleinen, mit Erinnerungsstücken an die Fregatte ‚Pallada‘ angefüllten Wohnung im unteren Stockwerk, deren Fenster zum Hof gingen. Selten fanden sich dort Besucher ein, doch manchmal hörte man die fröhlichen Stimmen und das Lachen der Kinder seines verstorbenen Dieners, um die er sich mit rührender Liebe und hingebungsvoll kümmerte“ (Koni, 2011, S. 12f.). Über seine Wohnung in der Mochovaja ulica schreibt Gončarov am 25. August 1873 an Konstantin Pos’et in der für ihn typischen selbstironischen Manier und mit einem schwer zu übersetzenden Sprachspiel, das auf den Namen seiner Straße anspielt: „Wohin ich einmal wie ein Stein gefallen bin, dort liege ich, mit Moos [mchom] bewachsen, angefangen mit dem Moos [Mochovoj] meiner Wohnung, in der ich schon 18 Jahre lebe, bis zum grauen Moos [mcha] am Kinn“ (Katalog, 1997, S. 157). 6 21 Im Ostseebad Dubbeln bei Riga (heute Dubulti-Jūrmala, Lettland), verbrachte Gončarov seit 1879 zahlreiche Sommer (1880; 1881; 1882; 1883; 1884; 1885; 1886 und 1888). Eine der Straßen trägt bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts seinen Namen (heute Gončarova iela). Über Dubbeln heißt es in einer zeitgenössischen Publikation: „In Dubbeln liegen die meisten Wohnungen der Badegäste so, dass man nach einigen hundert Schritten am Ufer ist. Berücksichtigt man nun noch, dass dieser kurze Weg größtenteils durch schattigen Wald oder auf bequemen Fußsteigen geht, so wird man zugeben müssen, dass in dieser Hinsicht unser Badeort vor mehreren anderen bevorzugt ist. Nicht so bequem ist das Baden von Majorenhof

190 Anmerkungen und Bilderlingshof aus, denn hier liegen die Wohnungen wohl eine Viertelmeile und weiter noch vom Meere“ (Sodoffsky, 1839, S. 59). Dubbeln war einer der zahlreichen Badeorte am Rigaer Strand (heute Jūrmala), einem ca. 30 km langen Küstenabschnitt, hier wurde 1834 das erste Hotel und 1848 das erste Kurhaus errichtet. 22 Das Ehepaar Stasjulevič. Michail Matveevič Stasjulevič (1826–1911), ein enger Freund Gončarovs, Historiker, Publizist, von 1866–1908 Herausgeber der Zeitschrift „Vestnik Evropy“. Im „Vestnik Evropy“ veröffentlichte Gončarov zahlreiche Werke, u. a. den Roman „Obryv“, „Mil’on terzanij“, „Iz universitetskich vospominanij“, „Na rodine“, „Narušenie voli“. Auch mit Ljubov‘ Isaakovna Stasjulevič (geb. Utina, ?–1917) verband Gončarov eine enge Freundschaft. 23 Das Actienhaus war ein 1877/78 an Stelle des abgebrannten Dubbelner „Gesellschaftshauses“ erbautes Hotel. 24 Aleksandra (Sanja) Trejgut. Diese Zuneigung nährt bis heute abenteuerliche Spekulationen, das Mädchen könne Gončarovs Tochter gewesen sein (vgl. z. B. M. Ch. Valkin, Tajna velikogo pisatelja. A. I. Gončarov i A. K. Trejgut. Ul‘janovsk, 2006). Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, die dies belegen, im Gegenteil, zahlreiche Äußerungen Gončarovs, u. a. auch in den vorliegenden Briefen, geben Auskunft über seine Beweggründe, sich der Kinder anzunehmen. Die Liebe zu ihnen gab seinem Leben in den letzten Lebensjahren einen Sinn, half ihm „wenigstens teilweise, ein wenig die Last des Lebens zu tragen und bis zum Ende zu erdulden“ (siehe den hier abgedruckten Brief Nr. 43 vom 14. Juni 1883). Er folgte darin ganz offensichtlich auch dem Vorbild seines Paten, Nikolaj Nikolaevič Tregubov (1774–1849), eines Junggesellen, der sich in Simbirsk nach dem frühen Tod von Gončarovs Vater Aleksandr Ivanovič Gončarov (1754–1819) ebenfalls liebevoll der vier Gončarov-Geschwister angenommen hatte. Gončarov hat Tregubov mit der Gestalt des Petr Andreevič Jakubov in der autobiografischen Skizze „Na rodine“ ein Denkmal gesetzt. 25 Černaja rečka (finnisch Vammelsuu, heute Serovo) – im 19. Jahrhundert ein Vorort am gleichnamigen Fluss und dem Finnischen Meerbusen vor den Toren St. Petersburgs, „mit überaus zahlreichen Landhäusern, die dicht aneinander gebaut sind und, obgleich billig, bei den Petersburgern in schlechtem Ruf stehen, wie auch ‚Černaja rečka‘ selbst“ (siehe Vladimir Michnevič, Hrsg., Peterburg ves‘ na ladoni. St. Peterburg, 1874/2003, S. 66). 26 Siehe Anm. 12. 7 27 * Abgewandeltes Zitat aus dem Gedicht „Burcovu: Prizvanie na punš“ von Denis Vasil’evič Davydov (1784–1839), in dem es u. a. heißt: „Burcov, era, zabijaka, sobutyl’nik dorogoj! Radi boga i … araka poseti domiško moj! V nem net niščich u porogu, v nem net zerkal, vaz, kartin, i chozjain, slava bogu, ne velikij gospodin.“ 28 * Hier spielt Gončarov auf den gemeinsamen Bekannten Petr Dmitrievič Boborykin an (siehe Anm. 37), der sich in jenem Sommer ebenfalls in Dubbeln aufhielt. 29 Es ist nicht eindeutig ersichtlich, ob Arak (ein ungesüßter Anisschnaps, vor allem im Nahen Osten verbreitet) oder Arrak gemeint ist. Vermutlich Arrak, der auch im o. g. Gedicht von Davydov eine Rolle spielt, ein aus Palmsaft und Reismaische oder Zuckerrohr und Reismaische destillierter Schnaps, der in Südostasien und auch Russland verbreitet war und ist, eine der fünf traditionellen Zutaten von Punsch, einem im 19. Jahrhundert sehr beliebten Getränk. 30 Gemeint ist Gončarovs Haushälterin, die Witwe des Dieners Karl Ljudvig Trejgut, Aleksandra Ivanovna Trejgut.

Anmerkungen

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31 Ofen – die deutsche Bezeichnung von Buda, einem Stadtteil von Budapest. 32 Die Schwan-Apotheke im Zentrum von Riga existierte 270 Jahre, bis 1944. 33 Wohl der Rakoczy-Heilquell aus Bad Kissingen gemeint (nach dem ungarischen Nationalhelden Ferenc II. Rákóczi benannt). Der Brunnen reguliert u. a. die Säureproduktion im Magen und wird auch bei Gallen- und Lebererkrankungen unterstützend angewendet. Gončarov hatte den Rakoczy-Brunnen während seiner Aufenthalte in Kissingen getrunken: „Bis dahin werde ich […] Rakoczy trinken, auch heute habe ich schon ein Glas getrunken. Das Wasser ist fast genauso wie in Marienbad“, heißt es in einem Brief vom 4./16. Juni 1868 aus Kissingen (seit 1883 Bad Kissingen) an Michail Stasjulevič (Gončarov, 1912, S. 11). 8 34 Die Novellensammlung „Les Soirées de Médan“ war kurz zuvor – im April 1880 – in Paris erschienen. Sie enthält sechs Novellen der Autoren Émile Zola, Guy de Maupassant, Joris-Karl Huysmans, Henry Céard, Léon Hennique und Paul Alexis („L’Attaque du Moulin“ von Émile Zola, „Boule de Suif ” von Guy de Maupassant, „Sac au dos“ von Joris-Karl Huysmans, „La Saignée“ von Henry Céard, „L’Affaire du Grand 7“ von Léon Hennique und „Après la bataille“ von Paul Alexis) und gilt als programmatisch für die naturalistische Schule. 35 Auch die „Histoire de la société française pendant la revolution“ von Edmond de Goncourt und Jules de Goncourt war soeben (1880) erschienen. 36 Der „Vestnik Evropy“ (Europäischer Bote) war eine Monatszeitschrift, die von 1866 bis zum Frühjahr 1918 in St. Petersburg erschien. Von 1866 bis 1908 war Gončarovs Freund Michail Matveevič Stasjulevič Herausgeber und Chefredakteur (siehe auch Anm. 22), von dem in den vorliegenden Briefen immer wieder die Rede ist. 9 37 Petr Dmitrievič Boborykin (1836–1921), Schriftsteller und Journalist. In seinen Erinnerungen an Gončarov, „Tvorec ‚Oblomova‘. Iz ličnych vospominanij“ („Der Schöpfer des ‚Oblomov‘. Aus persönlichen Erinnerungen“), beschreibt Boborykin u. a. auch die Zeit in Dubbeln. Über das Jahr 1880 heißt es dort: „Ich war im Actienhaus abgestiegen und fand mich sofort im Kreise russischer Bekannter wieder. In einem Häuschen unweit des Kurhauses verbrachte auch Gončarov den Sommer. […] Zusammen mit einem gemeinsamen guten Bekannten [A. F. Koni] bildeten wir einen kleinen Kreis, aßen auf der Terrasse des Kurhauses zu Mittag, abends gingen wir am Strand spazieren […] und führten lange Gespräche. Gončarov war damals bereits 68 Jahre alt, doch er sah keineswegs aus wie ein hinfälliger alter Mann: seine Haare waren noch nicht völlig ergraut, nur über der Stirn zurückgewichen, sein Gesicht hatte noch eine gewisse Frische bewahrt, und er war auch noch nicht so füllig wie im Alter; er schritt sehr munter aus, mit großen, energischen Schritten und hielt sich gerade. Nur seine Stimme war schwächer geworden und er begann damals bereits über einen Katarrh der Atemwege zu klagen. Er klagte auch über eine Augenerkrankung, die sich bald verschlimmern sollte, ihm in der Folge stärkste Schmerzen bereitete und mit dem Verlust des Sehvermögens in diesem kranken Auge endete. Es war eine innere Erkrankung, eine Erkrankung des Sehnervs und der Netzhaut. Doch dies geschah später, zu jener Zeit aber war er noch ein recht wagemutiger Badegast und die Unterhaltung mit ihm gestaltete sich lebhaft und abwechslungsreich. Sein hohes Alter äußerte sich bisweilen in jähen Gefühlsausbrüchen, ob-

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wohl jeder seiner Gesprächspartner bemüht war, in seiner Anwesenheit gewisse Namen nicht auszusprechen und bestimmte heikle Themen nicht zu berühren. Generell war Gončarov gegenüber unserer Belletristik und den jungen Schriftstellern aufgeschlossen und wohlwollend eingestellt. Er vermied persönliche Angriffe und gestattete sich auch damals nicht, was wir literarisches Generalsgehabe nennen. Jeder seiner jungen Kollegen konnte die ungewöhnlich ganzheitliche Weltanschauung eines Künstlers bei ihm beobachten, der gegenüber den höchsten Anforderungen der Moral und Menschlichkeit nie gleichgültig blieb. Dieser Schriftsteller konnte sich mit seinem Bekenntnis eines Autors, ‚Lučše pozdno, čem nikogda‘ [‚Lieber spät als nie‘] mit vollem Recht erlauben, auf die Fruchtlosigkeit der Wortgefechte hinzuweisen, die um die Formel von der Kunst um der Kunst willen kreisen. Er war natürlich nie ein seelenloser Ästhet, doch in ihm lebte ein Puškinist reinsten Wassers […] Gončarov konnte auch als Siebzigjähriger ein sehr angenehmer Gesprächspartner sein. Als ich ihm in jenem ersten Sommer, den wir gemeinsam in Dubbeln verbrachten, zuhörte, vergaß ich oft völlig seinen wunden Punkt, den man besser nicht berührte, das heißt Turgenev. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich einmal versehentlich auf ihn zu sprechen kam, ich erinnere mich aber noch sehr deutlich an jenen Teil eines Gesprächs, das wir gleich nach dem Essen im Park des Actienhauses führten, in dem Gončarov selbst, als er über die Fähigkeiten eines Schriftstellers sprach, in seinen Werken große Bereiche des Lebens zu erfassen, folgenden charakteristischen Satz sagte – und dies ohne die geringste Gereiztheit: ‚Nehmen Sie beispielsweise Turgenev. Er liefert eine Reihe anmutigster Bilder. Ein Garten voller Blumen und schöner Pflanzen ersteht vor Ihrem Auge. Einen großen englischen Park aber wird er Ihnen nicht anlegen!‘ Dies sagte er vier Jahre nachdem Turgenevs umfangreichster Roman ‚Nov’‘ [Neuland] erschienen war. Ob viele dieser Einschätzung beipflichten, weiß ich nicht, doch es schwang nicht die geringste unangenehme Note mit. Auch den ganzen Sommer über hörte ich von Gončarov keinerlei Diatribe, die seinem Rivalen galt. Aber während des Essens oder während unserer Strandspaziergänge äußerte er sich einige Male bereits mit einem gewissen Altersstarrsinn und immer beinahe ablehnend über den französischen Naturalismus und die Romane von Zola und seiner Schule. Gončarov sprach ihnen Talent nicht ab; doch er konnte das, was sie zur künstlerischen Darstellung des modernen Lebens beitragen, nicht unvoreingenommen anerkennen […] ‚Es ist bitter‘, sagte er einmal, auch am Strand, ‚würde es ihnen an Talent mangeln … Aber nehmen Sie einen wie Gaboriau [Émile Gaboriau, 1832–1873]. Er hat Talent, aber er ist ein Tier! Da hat er einmal den Nerv des Publikums getroffen und wälzt sich immer weiter scham- und gewissenlos im Schmutz!‘ Den ganzen Sommer 1880 ging es Gončarov blendend, er war außergewöhnlich gesellig, lud uns zu sich zum Frühstück ins Dachgeschoß des Häuschens ein, in dem er wohnte“ (Boborykin, 1986, S. 497ff.). 11

38 Der Originalwortlaut dieser auf einer Visitenkarte notierten Nachricht in scherzhafter Orthografie lautet: „Съредъ А. Ръ Овно водин Надъ ца Тьча СО въвасожи Даю тъ Яиракъ и. гонъ-Чаръо-Въ.“ („Sreda. Rovno v odinnadcat‘ časov Vas ožidajut ja i raki. Gončarov.“ Mittwoch. Genau um elf Uhr erwarten Sie die Krebse und ich. Gončarov.)

Anmerkungen

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39 Gemeint ist das älteste der Trejgut-Kinder, Aleksandra, siehe Anm. 24. 40 * Sof ’ja Aleksandrovna Boborykina (1845–1925), die Ehefrau von Petr Boborykin, Übersetzerin, Prosautorin und Schauspielerin. 41 Siehe Anmerkung 37. 42 * In einer Vorlesung, die Boborykin 1876 hielt („Von Griboedov bis Ostrovskij“), hatte er Gončarovs Essay „Mil’on terzanij“ als „Wendepunkt in der Bewertung von ‚Gore ot uma‘“ bezeichnet. 43 * Der Baltendeutsche Ljudvig Švejnfurt (Ludwig Schweinfurt) war Inhaber einer Rigaer Handelsfirma für „Einheimische und ausländische Schaumweine“. 44 * Vera Petrovna Venedisova, eine gemeinsame Bekannte Konis und Gončarovs in Dubbeln. 45 * Matilda Goracievna Gartman (Hartmann), von Gončarov liebevoll Matilda Ljubovna genannt (ljubov‘ = Liebe), die Tochter des Bankiers Goracij Osipovič Gincburg (Horazi Ginzburg), Freund und Nachbar der Stasjulevičs (siehe auch Anm. 132). 46 Sanja, der Kosename von Aleksandra Trejgut. 47 Aleksandra Ivanovna Trejgut war mit den beiden anderen Kindern (Elena/Lena und Vasilij/ Vasja) noch in Dubbeln geblieben. 48 Wie fast alle Zeitgenossen verwendet Gončarov hier das pejorative „židy“. In den Briefen geht er immer wieder geringschätzig auf die zahlreichen Juden ein, die in Dubbeln anzutreffen seien (z. B. „Myriaden von Juden“ – siehe z. B. Brief 34), wobei er jeweils unterscheidet zwischen „dem einfachen Volk“ und gebildeten Juden der „besseren Kreise“ (die er auch nie als „židy“ sondern „evrei“ bezeichnet), über die er sich kaum je abfällig äußerte, im Gegenteil, mit denen er teilweise auch freundschaftlich verkehrte. In einem Brief an den Großfürsten Konstantin Konstantinovič, vom 27. Juni 1884, ebenfalls aus Dubbeln, heißt es: „Von meinem Balkon aus aber sehe ich durch die Bäume, wie all diese Völker vorbeihuschen, vor allem Letten und Juden [evrei], nicht einmal Juden, sondern einfach židy“ (Gončarov, 1994, S. 181). 14 49 * Vasilij (Vasja) Trejgut wurde 1880 zunächst, bis zur Erreichung des entsprechenden Alters für die Aufnahme in die Großfürst-Nikolaj-Handwerksschule, in eine Schule des Komitees aufgenommen, das sich der Förderung Mittelloser widmete. 50 Auf Empfehlung der Ärzte badete man, nach Geschlechtern getrennt, vor allem nackt, da dem Bad gesundheitsfördernde Wirkung zugeschrieben wurde. Die Badeanstalt befand sich an der Newa, am Gagarin-Ufer (Gagarinskaja naberežnaja, heute Naberežnaja Kutuzova) in Höhe der Brücke Litejnyj most, unweit der Wohnung in der Mochovaja 3. 51 Für die drei Kinder hatte Gončarov Spitznamen erdacht, die in den Briefen immer wieder auftauchen. Vasilij (Vasja) nannte er wahlweise „poganen’kij“ (der Garstige; der Ungenießbare) oder „počtennyj“ starik (ehrwürdiger Alter) und Elena (Lena, Lenočka) „šarik“ (Kugel), „utka“ (Ente) oder „ljaguša“ bzw. „ljaguška“ (Frosch; Fröschlein). 52 Im Original heißt es hier „i sdelali li Vy ej obeščannogo petucha?“ – hier kennen wir die Zusammenhänge nicht. 53 Ekaterina Aleksandrovna und Sof ’ja Aleksandrovna Nikitenko – siehe Anm. 19. 54 Es handelt sich um den Aleksandr-Garten (Aleksandrovskij sad) in Carskoe Selo. Thronfolger war Großfürst Aleksandr Aleksandrovič, ab 1881 Zar Aleksandr III.; der Alek-

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sandr-Palast (Aleksandrovskij dvorec) in Carskoe Selo war Sommerresidenz der Thronfolger. Nachdem Aleksandra (Sanja) Trejgut 1878 im Gymnasium aufgenommen worden war, hatte Gončarov zunächst die Kosten übernommen. In der Folge bemühte er sich, Unterstützer für die Finanzierung zu gewinnen und konnte erreichen, dass ein großer Teil der Kosten für ihre weitere Ausbildung von den Großfürsten Sergej Aleksandrovič und Pavel Aleksandrovič (Söhne Aleksandrs II.) übernommen wurde. * Aleksandra Vasil’evna Pletneva (1826—1901), Witwe des Dichters und Kritikers Petr Aleksandrovič Pletnev. Der Sommergarten (Letnij sad), ein unter Zar Petr I. im Zentrum von St. Petersburg angelegter Park, unweit der Gončarovschen Wohnung in der Mochovaja ulica 3. Osip Mandel’štam schrieb in seinen autobiographischen Skizzen „Šum vremeni“ über die 1890er Jahre: „Der Eingang in den Sommergarten von der Quaistraße her, wo der Gitterzaun und die Kapelle stehen, und genau gegenüber der Ingenieursschule, wurde von medaillendekorierten Wachtmeistern bewacht. Sie bestimmten, ob ein Mensch anständig angezogen war oder nicht, und jagten Leute in Russenstiefeln fort, ließen Schirmmützen und ärmliche Kleider nicht hinein“ (Mandelstam, 1989, S. 14). Der Schriftsteller Dmitrij Vasil’evič Grigorovič (1822–1899). * Es handelt sich um die Konzentrierung sämtlicher Sicherheitsorgane unter dem Dach des Ministeriums für Inneres unter Minister Michail Tariėlovič Loris-Melikov (1825–1888). 15

60 Koni hatte Gončarov seinen Aufsatz „O pričinach razvitija volnenij meždu molodež‘ju“ geschickt (siehe Alekseev, 1960, S. 243). 61 * Koni wies in seinem Aufsatz anhand konkreter Beispiele nach, dass eine Vielzahl Beschuldigter im „Prozess der 193“ (ihr Durchschnittsalter betrug 19 Jahre) ohne jede Grundlage Repressalien von Seiten der Regierung ausgesetzt war. 62 * Anspielung auf Loris-Melikov, auf dessen Initiative die Reorganisation des Ministeriums des Inneren angeordnet worden war. 63 Angesichts der bald darauf einsetzenden Entwicklungen im 20. Jahrhundert eine weitsichtige Analyse. 64 Hier gebraucht Gončarov im russ. Original den Begriff „Vozroždenie“ im Gegensatz zum einige Sätze später gebrauchten „Renaissance“ – siehe nächste Anm. 65 Hier verwendet Gončarov das Wort „Renaissance“ – in lateinischen Buchstaben. 66 Die berüchtigte „Dritte Abteilung Seiner kaiserlichen Majestät höchsteigenen Kanzlei“ (III. otdelenie Sobstvennoj Ego Imperatorskogo Veličestva kanceljarij). Sie wurde nach dem Dekabristenaufstand von Nikolaj I. 1826 als Instrument zur möglichst lückenlosen politischen Überwachung der Bevölkerung eingerichtet; 1880 aufgelöst und 1881 als „Ochrana“ (der „Sicherheitsabteilung“, einem Zusammenschluss verschiedener Geheimdienste) neu gegründet. 67 * Auguste Ambroise Tardieu (1818–1879), französischer Rechtsmediziner. Das hier erwähnte Buch, „Etude Médico-Légale sur les Attentats aux Mœurs“ (1857), befasst sich mit Kindesmissbrauch. 68 Der soeben (1879 als Fortsetzungsroman und 1880 als Buchausgabe) erschienene Roman “Nana” von Émile Zola (1840–1902).

Anmerkungen

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69 Im Original „mnogouvažaemejšij“. 70 Die Patriotische Gesellschaft für Frauenbildung (Patriotičeskoe obščestvo, auch St. Peterburgskoe ženskoe patriotičeskoe obščestvo oder Imperatorskoe ženskoe patriotičeskoe obščestvo genannt) war die älteste und einflussreichste Wohltätigkeitseinrichtung Russlands (gegründet 1812), zu deren Bestand Schulen mit angeschlossenem Internat, Schulen für Tagesschüler, Kindergärten usw. gehörten. 71 Elena Karlovna Trejgut war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt. In der Folge ermöglichte ihr Gončarov – wie den beiden anderen Trejgut-Kindern – eine Ausbildung. Sie beendete ebenso wie ihre Schwester Aleksandra das Kolomensker Gymnasium und die höheren pädagogischen Kurse (Ivanovskie vysšie pedagogičeskie kursy). 72 Das Michajlovskij zamok im Zentrum St. Petersburgs (Sadovaja ul. 2), erbaut im Auftrag des Zaren Pavel I. (hier wurde er 1801 ermordet), trug seit 1823 nach der dort untergebrachten Ingenieursschule auch die Bezeichnung Ingenieursschloss (Inženernyj zamok). 73 L. Croissante, der Inhaber des Hotel-Restaurants Hôtel de France – siehe Anm. 20. 74 Sanja verbrachte die Ferien bei den Schwestern Nikitenko, Siehe Anm. 19. 17 75 Die Zauberin Armida – Gestalt aus Torquato Tassos Epos „La Gerusalemme liberata“ („Das befreite Jerusalem“), das zahlreichen Opern zugrunde liegt, u. a. der Oper von Gioachino Rossini „Armida“. 76 Vera Petrovna Venedisova, siehe Anm. 44. 77 Gončarovs Buch „Fregat ‚Pallada‘“. 19 78 Die Polizeibrücke (Policejskij most, auch Zelenyj most – Grüne Brücke – genannt), die über den Mojka-Kanal führt, liegt im Zentrum von St. Petersburg, über die Brücke verläuft der Nevskij Prospekt. 79 Michail Matveevič Stasjulevič, siehe Anm. 22 und 36. 80 * Anatolij Fedorovič Konis Bruder Evgenij Fedorovič Koni (1843–1892), Friedensrichter in Warschau, war 1879 der Veruntreuung beschuldigt worden, versuchte sich der Verfolgung zu entziehen, bekannte sich aber später auf Betreiben des Bruders schuldig und wurde zur Verbannung zunächst nach Tobol’sk, später nach Tjumen verurteilt. 20 81 Die Schriftstellerin Nadežda Dmitrievna Chvoščinskaja-Zajončkovskaja (1822/24?–1889) schrieb unter verschiedenen (männlichen) Pseudonymen (V. Krestovskij, V. Porečnikov, N. Vozdviženskij usw.) Nachdem Ende der 1850er Jahre der Schriftsteller Vsevolod Vladimirovič Krestovskij ebenfalls mit literarischen Werken an die Öffentlichkeit getreten war, veröffentlichte sie unter dem Namen Krestovskij-psevdonim. 82 Den Schwestern Nikitenko war Gončarov seit 1860 freundschaftlich verbunden.

196 Anmerkungen 21 83 Die Schwestern Nikitenko lebten mit ihrer Mutter, Kazimira Kazimirovna Nikitenko (?– 1893), der Witwe Aleksandr Vasil’evič Nikitenkos (siehe Anm. 19), im selben Haus wie Anatolij Koni. 22 84 * Nach dem Tod des Vaters (1879) wuchsen Konis Halbschwestern aus der zweiten Ehe des Vaters, Ol’ga (geb. 1865) und Ljudmila (geb. 1866), bei ihm auf. 85 Sanjas Spitzname lisica-pod’jačicha geht zurück auf eine Gestalt aus dem russischen Volksmärchen. 23 86 * In Konis Antwortbrief vom 31. Dezember 1880 heißt es u. a. „Ihre liebe Sendung hat mich sehr gerührt. Weder ich noch meine armen Waisen haben derartiges verdient. Sie haben Sie sehr liebgewonnen und zu mir gesagt: ‚Wie seltsam das ist – er ist so berühmt und dabei so einfach und so gut ...‘ Ich will Ihnen in ihrem Namen sehr herzlich danken und Sie zugleich um etwas bitten. Sie teilen alles und sind überhaupt unzertrennlich. Zwei Exemplare der ‚Fregat Pallada‘ zu besitzen, wäre ein zu großer Luxus für sie. Das wäre ja beinahe ein ganzes Geschwader, umso mehr, als ich ihnen, nachdem ich die Ehre hatte, sie Ihnen vorzustellen, mein Exemplar geschenkt habe, das ich gleich nach Erscheinen des Buches gekauft hatte. Deshalb würde ich Sie bitten, wenn Sie schon zwei Exemplare entbehren wollen, auf dem weißen ‚Ol’ga und‘ zu schreiben und das andere mir zu geben (o, der Egoismus!), indem Sie Ol’ga durch Anatolij ersetzen, da ich den Wunsch nach einer ‚glücklichen Fahrt‘ nicht weniger gebrauchen kann als die beiden Schifflein, denen die Reise noch bevorsteht ... Ein Exemplar mit einer Widmung von Ihrer liebenden Hand zu besitzen, ist mir überaus teuer“ (Gončarov, 2000 a, S. 462). 87 Sanjas Spitzname, siehe auch Anm. 85, lisica-pod’jačicha. Im alten Russland war der kaznačej der Schatzmeister, der im Dienste der Fürsten, Bojaren u. a. die Finanzen verwaltete. 24 88 Vermutlich ebenfalls aus Puškins „Skazka o medvediche“. 89 Am Tag zuvor, am 6. Juni (nach dem Gregorianischen Kalender am 18.06.), hatte Gončarov seinen 69. Geburtstag gefeiert. 90 Wer mit dieser Abkürzung (Star.) gemeint ist, läßt sich nicht mehr ermitteln. Ornatskaja und Mel’nik vermuten, dass es sich um den Juristen Egor Pavlovič Starickij gehandelt habe. 91 In der Oekonomischen Encyklopädie von J. G. Krünitz heißt es unter dem Stichwort: Strohstuhl: „Eine Art Stühle, deren Sitz, anstatt mit Rohr, mit Stroh beflochten ist. Es gibt zu dieser Arbeit besondere Leute, welche die Stühle mit Strohsitzen beflechten. Solches geschieht aus starkem und geradem Strohe, woraus zusammengedrehte Bänder gemacht werden, mit welchen der Sitz hernach beflochten wird.“ 92 Eine Anspielung auf Ivan Andreevič Krylovs Fabel „Lan‘ i derviš“ („Der Hirsch und der Derwisch“), in der es heißt: „Mladaja Lan‘, svoich lišas‘ ljubeznych čad, ešče soscy mlekom imeja otjagčenii.“

Anmerkungen

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93 Gemeint ist das Großfürstentum Finnland, das Teil des Russischen Reiches war, jedoch weitgehende politische Autonomie genoss. 1917 erklärte Finnland seine Unabhängigkeit. 94 Die Heilquellen des bayerischen Staatsbades sind seit dem 9. Jahrhundert bekannt. Im 19. Jahrhundert erfreute sich Kissingen beim russischen Adel und wohlhabenden russischen Kreisen großer Beliebtheit. Gončarov unterzog sich hier 1868 und 1869 einer Brunnenkur. Auch Oblomov sollte auf Rat seines Arztes nach Kissingen gehen: „‚Fahren Sie nach Kissingen oder nach Ems‘, begann der Doktor, ‚bleiben Sie den Juni und Juli über dort; trinken Sie den Heilbrunnen‘“ (Gontscharow, 2012 a, S. 125). 95 In Marienbad hielt sich Gončarov neun Mal auf (1857, 1859, 1860, 1861, 1865, 1866, 1867, 1870 und 1872). 96 Im Original hier: „spjačka“ – ein schwer im Deutschen wiederzugebender Begriff, der Phlegma, völlige Untätigkeit, Stillstand, auch (Winter-)Schlaf bedeuten kann. 97 Siehe Anm. 80. 98 Gončarov schreibt Uliss (Улисс), nach der lateinischen Schreibung, statt, wie im Russischen üblich, Odissej (Одиссей) – Odysseus. 99 Penelope, Heldin der Odyssee von Homer, Frau des Odysseus und Muster einer treuen Ehefrau. Gončarov spielt auf das Leichentuch an, das sie vorgibt, für ihren Schwiegervater Laertes zu weben und in der Nacht jeweils wieder auftrennt, um die lästigen Freier abzuwehren, die sie bedrängen. 100 Statt der Hausnummer wurde gewöhnlich der Name des Hauseigentümers angegeben. So lautete Gončarovs Adresse in Dubbeln: Herren-Straße, Haus Possel‘. 101 Majorenhof (heute Jūrmala-Majori), westlich von Riga neben Dubbeln (heute Dubulti) gelegenes Seebad, siehe auch Anm. 21. 102 Von Dezember 1874 bis November 1882 war Alexander Karl Abraham Freiherr von Uexküll-Güldenband (auch Alexander Karl Abraham Freiherr von Üxküll-Gyllenband – 1840– 1912) Gouverneur des Gouvernement Livland. Hier (wie u. a. auch im „Oblomov“) verwendet Gončarov das damals im Russischen eher ungebräuchliche Wort „Gentleman“ – „džentl’men“. In seinen Erinnerungen „Na rodine“ (deutsch „In der Heimat“), 1888, heißt es über seinen Paten Nikolaj Tregubov (unter dem verfremdeten Namen Jakubov): „Er war ein Muster an Redlichkeit, Ehrgefühl, edler Gesinnung und jener seelischen Gradlinigkeit, durch die sich Seeleute auszeichnen und er besaß ein gutes, mitfühlendes Herz. All dies kommt treffend im englischen Wort ‚Gentleman‘ zum Ausdruck, das es damals im russischen Wortschatz noch nicht gab“ (Gončarov, 1986, S. 141f.). 103 Heute Ķemeri, Ortsteil des Badeorts Jūrmala (Rigaer Strand). 104 Ljudvig Švejnfurt (Ludwig Schweinfurt), siehe Anm. 43. 105 * Es handelt sich um den Direktor des St. Petersburger Aleksandr-Lyzeums, Nikolaj Nikolaevič Gartman (Hartmann), der die Schule von 1877–1892 leitete. 106 Gončarov verwendet hier das pejorative „židy“. 107 Ivan Maksimovič Sorokin (1833–1917), Professor der Gerichtsmedizin und Toxikologie an der Kaiserlichen Militärmedizinischen Akademie in St. Petersburg. 108 Vasja Trejguts Spitznamen – „general“, „Starik-general“, „počtennyj staričok“ und „poganen’kij staričok“. 109 Anatolij Koni war zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt.

198 Anmerkungen 26 110 Der Alte, d. h. Vasja Trejgut; das Fröschlein, d. h. Elena Trejgut. 111 Heute Naberežnaja Kutuzova (Kutuzov-Ufer) auf der linken Newa-Seite. Siehe auch Anm. 50. 112 Zitat aus Aleksandr Puškins „Evgenij Onegin“, Erster Teil, Kap. XXXIII: „Kak ja zavidoval volnam, beguščim burnoj čeredoju s ljubov’ju leč‘ k ee nogam!“ 113 Der russischsprachige „Rižskij vestnik“ („Rigaer Bote“) erschien von 1869–1917 in Riga. 114 Koni war zu jenem Zeitpunkt Vorsitzender des St. Petersburger Bezirksgerichts (Okružnoj sud, auf einer zeitgenössischen Postkarte auch als Tribunal d‘ Arrondissement bezeichnet). 115 Die Tageszeitung „Porjadok“ erschien nur ein Jahr (1881 bis Anfang Januar 1882) in St. Petersburg, herausgegeben von Michail Stasjulevič, in enger Zusammenarbeit mit seiner Zeitschrift „Vestnik Evropy“. 116 Russ. parket, von franz. le parquet, im juristischen Sinne – die Staatsanwaltschaft. 117 Famusov aus Aleksandr Griboedovs Komödie „Gore ot uma“ (in deutscher Übersetzung bekannt unter den Titeln „Verstand schafft Leiden“, „Geist bringt Kummer“ bzw. „Wehe dem Verstand“). 118 Finnland – siehe Anm. 93. 119 Ein nach dem legendären russischen Barden Bojan benannter Rigaer Sängerverein, der jährliche Ausflüge nach Dubbeln veranstaltete, siehe auch die Briefe 33 und 34. 120 Siehe Anm. 102. 121 Siehe Anmerkung 102. 122 * Es handelt sich um Nikolaj Gartman und seine Frau, siehe auch Anm. 105. 123 Auch wenn Gončarov Gartman als seinen „Bekannten“ bezeichnet, so verwendet er dennoch im Brief an Koni die herabsetzende Formulierung „s mužem-židkom“ („mit ihrem Mann, dem Jüdlein“). 124 Bei der Charakteristik der Frau von Gartman gebraucht Gončarov im selben Satz sowohl das Wort „evrejka“ als auch das herabsetzende „židovka“: „A supruga ego iz tonen’koj, milovidnoj evrejki stala tetechoj-židovkoj.“ 125 Hier: evrejki. 27 126 Das Ehepaar Boborykin. 127 * Koni war Mitglied des Rates der Leitung der Einrichtungen der Großfürstin Elena Pavlovna (Sovet Upravlenija učreždenij velikoj knjaginy Eleny Pavlovny). 128 Im „Oblomov“ heißt es über Oblomovka: „Nie las man dergleichen in den Zeitungen über diesen gottgesegneten Winkel. Es wäre überhaupt nie etwas gedruckt worden oder über diese Gegend nach draußen gedrungen, hätte die Bauerswitwe Marina Kulkowa mit achtundzwanzig Jahren nicht vier Babys auf einmal zur Welt gebracht, was beim besten Willen nicht verschwiegen werden konnte“ (Gontscharow, 2012 a, S. 151). 129 Abdur Rahman Khan (1844–1901), von 1880–1901 Emir von Afghanistan („der eiserne Emir“ oder auch „Bismarck von Afghanistan“). Sardar Mohammed Ayub Khan (1857–1914), 1880 interimistischer Regent Afghanistans, erlangte Bekanntheit durch einen Sieg während des Zweiten Britisch-Afghanischen Kriegs (am 27. Juli 1880). Nach seiner Niederlage in der „Schlacht von Kandahar“ am 1. September 1880 wurde Abdur Rahman Khan sein Nachfolger als neuer Emir.

Anmerkungen

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130 Léon Gambetta (1838–1882), von 1879 bis 1881 Präsident der französischen Abgeordnetenkammer, von November 1881 bis Januar 1882 französischer Premierminister. 131 Heinrich Karl Freiherr von Haymerle (1828–1881), seit 1879 Außenminister von Österreich-Ungarn. 132 Der jüdische Bankier und Mäzen Baron Goracij Osipovič Gincburg (Horazi Ginzburg, auch Naftali Herz Günzburg, 1833–1909) war ein Freund und Nachbar der Eheleute Stasjulevič. Gincburg war Direktor der von seinem Vater gegründeten Bank und führte u. a. die Finanzgeschäfte des Großherzogs Ludwig III. von Hessen-Darmstadt, der ihn zum Generalkonsul in Russland ernannte (1868–1872) und ihm den Titel Baron verlieh. Es war dies das einzige Mal, dass die russische Regierung der Ernennung eines Juden zum Konsul zustimmte. 1889 ernannte die russische Regierung Gincburg wegen seiner Verdienste ihrerseits zum Staatsrat. Gincburg war ein Förderer wissenschaftlicher, kultureller und öffentlicher Einrichtungen und unterstützte u. a. Schriftsteller, Maler und Musiker. Bei ihm verkehrten außer Gončarov auch die Schriftsteller Turgenev und Saltykov-Ščedrin, der Maler Kramskoj und andere. Er trat für die Rechte der Juden in Russland ein und leitete nach dem Tod seines Vaters Evzel‘ Gincburg (1812–1878) die von diesem gegründete „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden Russlands“ (Obščestvo dlja rasprostranenija prosveščenija meždu evrejami v Rossii). Gincburg führte 40 Jahre lang die jüdische Gemeinde von St. Petersburg, engagierte sich für die Abschaffung antisemitischer Gesetze und war Abgeordneter der Stadt-Duma (Stadverordnetenversammlung), die er verließ, nachdem 1892 der Beschluss ergangen war, Juden aus der Stadtverwaltung von St. Petersburg auszuschließen (siehe Kratkaja evrejskaja ėnciklopedia, 1982, Spalten 133–134). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Gončarov im Kreise der Gincburgs verkehrte, sich andererseits aber immer wieder herablassend über die „židy“ äußerte. 133 Michail Matveevič Stasjulevič. 134 Das Mittagessen wurde gewöhnlich am frühen Abend eingenommen. Im Brief vom 26. Juni 1887 schreibt Gončarov aus Hungerburg an Koni: „… weil sie [die Musiker] von fünf bis acht Uhr spielen: das ist die Zeit meines Mittagessens.“ Im Langenscheid-Band „Land und Leute in Russland“ heißt es in diesem Zusammenhang: „Das Frühstück wird zwischen 12 und 3 Uhr, das Diner zwischen 5 und 7 Uhr eingenommen“ (Langenscheids Sachwörterbücher 1909, S. 415). 135 Ljubov‘ Isaakovna Stasjulevič. 136 „… ничего не вижу, кроме Х.“ = Христос (Christus). 137 Irina Semenovna Koni (1811–1891), die Mutter von Anatolij Koni, Schauspielerin und Schriftstellerin. 28 138 Auf Anraten der Ärzte ging Gončarov viel zu Fuß. So heißt es u. a. in einem Brief an seinen Bruder Nikolaj: „Viel Zeit geht für Spaziergänge drauf: um den Blutandrang im Kopf zu vermeiden, soll ich mindestens drei Stunden pro Tag spazieren gehen, manchmal gehe ich auch länger“ (Brief vom 20. November 1858, Quelle: Archiv des IRLI RAN). Die Entfernung von Gončarovs Wohnung in der Mochovaja 3 zur Wohnung der Stasjulevičs in der Galernaja 20 beträgt ca. 4,5 km und führt fast 3 km am Newa-Ufer entlang, über die prachtvollen Uferstraßen Dvorcovaja naberežnaja und Anglijskaja naberežnaja. 139 Sirena, der Spitzname von Ljubov‘ Isaakovna Stasjulevič.

200 Anmerkungen 29 140 Die Nikitenkos wohnten im selben Haus wie Anatolij Koni. 30 141 Ekaterina Aleksandrovna Nikitenko, siehe Anm. 19. 142 Einer der ersten Hinweise auf die Erkrankung, die ein Jahr später zum Verlust des Sehvermögens seines rechten Auges führte. 143 „Und er sprach zu seinen Jüngern: Euer Herz erschrecke nicht! Glaubet an Gott und glaubet an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“ (Evangelium nach Johannes, Kap. 14.1) bzw. „Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“ (Kap. 14.27). 31 144 Elena Trejgut, um deren Schuleintritt es hier geht, war damals 9 Jahre alt. 145 Hier das deutsche Lehnwort „bombardirovat‘“. 32 146 Hier drängt sich eine Parallele zur Figur der Anis’ja und ihrer „sprechenden Nase“ im „Oblomov“ auf: „Sie hatte eigentlich gar kein Gesicht: nur die Nase war zu sehen; obwohl sie nicht groß war, ragte sie aus dem Gesicht hervor oder war irgendwie ungeschickt angebracht, zudem war ihr unterer Teil nach oben gestülpt, weshalb man das Gesicht dahinter gar nicht bemerkte: es war so schlaff und verblichen, dass man schon längst eine Vorstellung von der Nase hatte, das Gesicht aber immer noch nicht wahrnahm […] Oblomow ließ seinen Blick entsetzt über die Wände gleiten und richtete ihn auf Anissjas Nase, denn es gab nichts anderes, worauf er ihn hätte richten können. Auch schien ihm, als sagte sie das alles nicht mit dem Mund, sondern mit der Nase. […] Unter diesen Worten verschwand die sprechende Nase hinter der Tür“ (Gontscharow, 2012 a, S. 324; 489f.). 147 In Moskau fand damals auf dem Chodynskoe pole (Chodynkafeld) die Allrussische Industrie- und Kunstausstellung statt, in deren Umfeld es auch zahlreiche Konzerte, Vorträge usw. gab. Neben Exponaten aus Handwerk, Industrie, Landwirtschaft und Militärtechnik galt die Aufmerksamkeit den Bereichen Architektur, Parkgestaltung, Musik, Theater, Ballett, Skulptur und Malerei. Die Maler M. M. Antokol’skij, P. A. Brjullov, V. M. Vasnecov, V. V. Vereščagin, N. N. Ge, I. N. Kramskoj, I. E. Repin, V. D. Polenov u. a. stellten ihre Werke aus. Die vier Monate währende Ausstellung zog mehr als eine Million Besucher an. 148 Im russischen Original hier „vokzal“. Ob tatsächlich der kleine Bahnhof von Dubbeln gemeint ist (die Bahnstrecke zwischen Riga und Dubbeln und der Bahnhof in Dubbeln existieren seit 1877) oder ein Vergnügungslokal nach dem Vorbild der Londoner „Vauxhall Pleasure Gardens“, lässt sich nicht mehr mit Gewissheit sagen, alten Postkarten zufolge ist schwer vorstellbar, dass auf dem Bahnhof Konzerte stattfanden. Möglicherweise ist ein Konzertpavillon gemeint, in Anlehnung an das „Vauxhall“ genannte Gelände in Pavlovsk, wo sich in Nachbarschaft des Bahnhofs mondäne Konzertpavillons, Wandelhallen etc. etabliert hatten. Auch in Moskau entstanden „Vauxhalls“. Die Bezeichnung „Vauxhall“ ging in Russland später auf Bahnhöfe ganz allgemein über (Bahnhof – russ. vokzal). 149 Hier: „židy“.

Anmerkungen

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150 Anna Michajlovna Evrejnova (1844–1919), Juristin und Publizistin, die erste russische Frau, die einen Doktortitel erwerben durfte (1875 von der Universität Leipzig promoviert). 151 Ivan Maksimovič Sorokin, siehe Anm. 107. 152 Evgenij Isaakovič Utin (1843–1894), Rechtsanwalt und Notar, Publizist, Mitarbeiter des „Vestnik Evropy“, Bruder von Ljubov‘ („Sirena“) Isaakovna Stasjulevič. 153 Im Original deutsch (mit Bindestrich). Die „Badeanstalt“ befand sich in einem Gebäude am Strand. Straßennamen, Geschäftsbezeichnungen usw. waren in den baltischen Städten bzw. Badeorten zweisprachig angegeben. So heißt es z. B. auf einer zeitgenössischen Postkarte „Рижское взморье. Дуббелнъ. Купальня. Rigaer Strand. Dubbeln. Badeanstalt“. 1893 betrug der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung in Riga, der Hauptstadt des russischen Gouvernements Livland, laut Meyers Konversations-Lexikon 46 Prozent, weitere 20 Prozent waren Russen, 20 Prozent Letten, „den Rest bilden Esten und andere Nationalitäten. Der Konfession nach sind 64 Proz. Protestanten und Reformierte, 18 Proz. Griechisch-Katholische (inkl. Sekten), 6 Proz. Römisch-Katholische, 12 Prozent Juden“ (Meyers Konversations-Lexikon, Vierzehnter Band, 1896, S. 759). 33 154 Der 24. Juni war Gončarovs Namenstag, der Ivanov den‘ ( Johannistag), im Kirchenkalender der Gedenktag der Geburt Johannes des Täufers. Die Namenstagsfeier hatte in Russland einen hohen Stellenwert, der eigentliche Geburtstag wurde selten gefeiert. 155 Gončarov vergleicht den Rigaer Kaufmann F. A. Rebinin mit den bis heute bekannten Brüdern Eliseev und ihrer „Handelsgesellschaft der Brüder Eliseev“ in Moskau und St. Petersburg, denen die besten Delikatessen- und Weingeschäfte der Stadt gehörten. 156 Am 26. Juni 1882 schrieb Gončarov an Michail Stasjulevič: „Ihr und Ljubov‘ Isaakovnas liebes Komplott, sehr geehrter Michajlo Matveevič, anlässlich des Johannistags, hätte nicht besser gelingen können. Jene, mit denen ich immer so gern beisammen bin, haben mir gemeinsam die Aufwartung gemacht, zur gleichen Zeit, und mein Herz mit viel Fröhlichkeit und Freude erfüllt. Ich hatte zwei männliche Gäste und einen weiblichen Gast [dva gostja i gost’ja], und gerade als wir uns um ein Uhr auf der Veranda zur Namenstagspirogge setzten, kam im Vorgarten meiner prächtigen Villa durch die Markise eine Hand zum Vorschein, und streckte mir zwei Briefe entgegen: von Ihnen und von Anatolij Fedorovič. Was für ein Geschenk! Von Petersburg aus hätte man die Ankunft des Briefes noch auf den Tag genau berechnen können, ja vielleicht auch die Stunde: doch das aus dem Ausland abzuschätzen, das konnten nur Sie fertigbringen“ (Gončarov, 1912, S. 148f.). 157 Der 1863 in Riga gegründete russische Sängerverein „Bajan“ (Russkoe obščestvo penija i izjaščnogo govorenija ‚Bajan‘“) veranstaltete jährlich in Dubbeln Konzerte. Zu seinem Repertoire gehörte russische Volksmusik wie auch russische und europäische Opernklassik. Der Verein bestand bis 1940, bis zu jenem Zeitpunkt, da das seit 1918 unabhängige Lettland 1940 von der Sowjetunion besetzt und der UdSSR angegliedert wurde. Seit 1990 ist die Republik Lettland wieder ein unabhängiger Staat. 158 * 1880 hatte Anatolij Koni auf der Festveranstaltung des „Bajan“-Vereins eine Rede gehalten. 159 Nikolaj Avksent’evič Manasein (1834?/35?–1895), seit 1880 Senator und von 1885–1894 Justizminister. Von 1882–1883 hielt er sich zur Revision in den Ostseeprovinzen auf, in deren Folge das Livländische und das Kurländische Gouvernement die Autonomie einbüßten. 160 Nikolaj Ivanovič Stojanovskij (1821–1900), Senator, eine Zeitlang stellvertretender Justizminister, seit 1882 Vorsitzender der Kommission zur Erarbeitung eines bürgerlichen Ge-

202 Anmerkungen setzbuchs, neben anderen Funktionen auch Mitglied der Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Schriftsteller und Wissenschaftler in St. Petersburg. 161 Siehe Anm. 101. 162 Im Dubbelner Kurpark befand sich, wie in Seebädern üblich, ein Musikpavillon. 163 Der Badeort Edinburg (heute Dzintari, Ortsteil von Jūrmala), benannt nach dem britischen Prinzen Alfred Herzog von Edinburgh, dem Ehemann der Großfürstin Marija Aleksandrovna Romanova, einer Tochter von Aleksandr II. 164 Carlsbad (heute Pumpuri, Ortsteil von Jūrmala), benannt nach Carl Firks, der den Badeort begründet hatte. 165 * Es handelt sich um Konis Lehrbuch für Studenten der Rechtswissenschaft „Ugolovnoe sudoproizvodstvo. Lekcii 1882–1883“, St. Petersburg 1883. 166 * Diese Erinnerungen wurden erst ein Vierteljahrhundert später publiziert – „Očerki i vospominanija sudebnogo dejatelja“, abgedruckt seit 1907 in der Zeitschrift „Russkaja starina“. 167 Siehe Anm. 160. 168 Hier verwendet Gončarov wieder die pejorativen Bezeichnungen „židy“ und „židovki“. 169 Im Russischen hier der schöne und im Deutschen nur schwer wiederzugebene Ausdruck „svoj čelovek“: „Anatol[ij] Fed[orovič] – u Vas vse ravno čto svoj čelovek!“ 170 Hier verwendet Gončarov das aus dem Arabischen stammende Wort „kejf “. 34 171 Im russ. Original „iz koich pervy esm‘ az“ – „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offenbarung des Johannes“, 22.13). 172 Hier gibt uns Gončarov einen Anhaltspunkt für eine Veranlagung zu depressiven Verstimmungen. 173 „Devjatyj val“ – „Die neunte Woge“ (1850) – Titel des wohl berühmtesten Gemäldes des Marinemalers Ivan Konstantinovič Ajvazovskij (1817–1900), das Schiffbrüchige zeigt, die sich an einen im Wasser treibenden Mast klammern, während sich die „neunte Woge“ über ihnen auftürmt. 174 Reminiszenz an Gončarovs Weltreise 1852–55 mit der Fregatte Pallada (Pallas). 175 Der elfjährige Vasilij Trejgut wurde in die Handwerksschule (Remeslennoe učilišče cezareviča Nikolaja) aufgenommen (siehe auch Anm. 49). Am 1. März 1882 hatte sich Gončarov in einem Brief mit der Bitte an Minister Petr Valuev gewandt, die Unterbringung seines Schützlings zu unterstützen (siehe Alekseev, 1960, S. 252). In dieser 1875 gegründeten Schule für Kinder vor allem aus armen Schichten wurden u. a. folgende Fächer unterrichtet: Religion, russische Sprache, Arithmetik, Geometrie, Geschichte, Geografie, Grundlagen der Mechanik und Physik, Baustoffkunde, Buchhaltung, technisches Zeichnen, Gesang, Sport sowie verschiedene Gewerke. 176 Ivan Gončarovs Bruder, der Gymnasiallehrer für russische Sprache und Kirchenslavisch, Nikolaj Aleksandrovič Gončarov (1808–1873), starb am 6.12.1873 in Simbirsk. Mit „Atemnot“ (russ. odyška) wurde umgangssprachlich das Krankheitsbild der Angina pectoris umschrieben. Wegen der starken, krampfartigen und stechenden Schmerzen ist es dem Kranken nicht möglich, tief einzuatmen. Unbehandelt verstärken sich die Symptome und können zum Herzinfarkt und plötzlichen Tod führen (ich danke Ingrid Kästner für die Informationen). 177 Gončarov schreibt: “christianskoj, mirnoj i nepostydnoj končiny“ – ein Passus aus dem täglichen Gebet: „Christianskoj končiny života našego, bezboleznennoj, nepostydnoj, mirnoj, u Gospoda prosim.“

Anmerkungen

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178 Vasja Trejgut. 179 Auch hier „židy“. Die immer wieder durchscheinende Geringschätzung spiegelt den „Zeitgeist“ und sämtliche Vorurteile gegenüber den Juden wieder, nicht nur in Russland. So schreibt z. B. Theodor Fontane fast zur selben Zeit (am 17. August 1882) und ebenfalls aus einem Seebad an seine Frau Emilie Fontane als Fazit seines Badeaufenthalts in Norderney: „Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in Rawicz oder Meseritz ein Jahr lang Menschen betrogen, oder, wenn nicht betrogen, eklige Geschäfte besorgt hat, hat keinen Anspruch darauf, sich in Norderney unter Prinzessinnen und Komtessen mit herumzuzieren. Wer zur guten Gesellschaft gehört, Jude oder Christ, darf sich auch in der guten Gesellschaft bewegen; wer aber 11 Monate lang Kattun abmisst oder Kampfer in alte Pelze packt, hat kein Recht, im 12. Monat sich an einen Grafentisch zu setzen“ (Fontane, 1980, S. 72). Auch in Gončarovs Briefen an Michail Stasjulevič (dessen Frau und gute Freundin Gončarovs, Ljubov‘ Isaakovna, ebenfalls jüdischer Herkunft war) finden sich derartige Ausfälle gegen die Juden unter den Badegästen, wobei er offenbar wie Fontane eine Ausnahme für Juden der „gehobenen Kreise“ machte, wie man aus seinem Umgang z. B. mit Goracij Gincburg (siehe Anm. 132) schlussfolgern kann. So schreibt er am 13. Juni 1884 aus Dubbeln an Stasjulevič: „Es sind wenige Gäste hier, dafür wimmelt es in den Straßen und am Strand von Juden [hier das neutrale „evrei“] wie von Kakerlaken, denen sie mit ihren alttestamentarischen Kopfbedeckungen und den langen schwarzen Kitteln auch gleichen. Ich meine damit die einfachen Juden [evrei]: die besseren Kreise reisen kaum hierher“ (Gončarov, 1912, S.  159). Am 10. Juni 1885 heißt es, ebenfalls aus Dubbeln: „Ich will Ihnen sagen, mein Gebieter, Michajlo Matveevič, was es von hier Wichtiges zu berichten gibt: strahlender Himmel, plätscherndes Meer, die Luft vibriert, die Käfer summen, die Bäume wachsen und gedeihen, und die Freude wäre vollkommen, gäbe es die Juden [„židy“], die Hähne und die Musikanten nicht! Sie machen denen das Leben zur Qual, die ihre Ruhe wollen, darunter auch einem alten Mann wie mir. Es sieht so aus, als hätte ein neuer Moses versehentlich die ersteren, d. h. die Juden, hierher geführt statt ins Gelobte Land. Sie haben sämtliche vorhandene Bänke besetzt und fast unter jedem Baum neue errichtet. Das wäre alles halb so schlimm, aber sie kleiden sich schlecht, auf alttestamentarische Art, damals hatten sie wohl keine anständigen Schneider. Auch das wäre zu ertragen, wenn ihre Kleidung und sie selbst nicht so riechen würden!“ (ebenda, S. 162). Und am 6. Juni 1886 schreibt er, wieder aus Dubbeln, an Stasjulevič: „Die Jüdlein [„evrejčiki“] kommen wie die Kakerlaken aus den benachbarten Ritzen gekrochen, aus Dinaburg, Vitebsk, Plock“ (ebenda, S. 169). Am 8. Juli 1886, wieder aus Dubbeln: „Man kann unmöglich baden, nur die Waghalsigsten tun dies, vor allem Letten und Juden der untersten Kategorie, die sich aber um nichts in der Welt sauber waschen können. Die jüdischen Damen und Herren geben sich gesittet“ (ebenda, S. 170). Osip Mandel’stam (1891–1938) beschrieb in seinen autobiografischen Skizzen „Šum vremeni“ (in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel „Das Rauschen der Zeit“) die Atmosphäre am Rigaer Strand, etwa zehn Jahre nach den Sommeraufenthalten Gončarovs: „Der Rigaer Strand ist ein Land für sich. Berühmt ist er für seinen verblüffend feinen und reinen gelben Sand (in keiner Sanduhr gibt’s ein solches Sändlein!) und seine löchrigen Uferwege aus einem Brett oder aus zweien, welche über diese zwanzig Kilometer weite, mit Sommerhäuschen bepflanzte Sahara angelegt waren. Die Ausmaße der Rigaer Sommerhäuschenkolonie lassen sich mit keinem anderen Badeort vergleichen. Bretterwege, Blumenbeete, Vorgärtenzäunchen und Glaskugeln ziehen sich hin wie eine endlose Riesenstadt, und

204 Anmerkungen das alles auf einem kanariengelben, von Kindern zum Spielen sehr geschätzten, wie Weizenmehl feingemahlenen Sand. Die Letten trocknen und stapeln in ihren Hinterhöfen Flundern, diese einäugigen, grätenreichen, wie eine breite Handfläche platten Fische. Kinderweinen, Klaviertonleitern, Patientengestöhne bei den zahllosen Zahnärzten, Geschirrklappern von den kleinen Gasthaustischchen, Gesangsläufe und die Ausrufe der Hausierer kommen nie zum Verstummen in diesem Labyrinth von Küchengärtchen, Bäckerläden und Stacheldrahthecken. Und auf dem Sanddamm, auf dem Schienenhufeisen laufen, soweit das Auge reicht, kleine Spielzeugzüge, vollgestopft mit blinden Passagieren, die während der Fahrt aufspringen, vom gestelzten deutschen Bilderlingshof bis zum enggedrängten jüdischen Dubbeln mit seinen Windeldüften. […] Die ganze Gegend gehörte einem monokeltragenden Baron mit Namen Firks. Seinen Boden hatte der in ein judenfreies und ein nicht-judenfreies Gebiet abgeteilt. Auf dem judenfreien Gebiet saßen die Burschen der Studentenkorps und nützten die Tischchen ab mit ihren Bierkrügen. Auf dem Judengebiet hingen die Windeln und überstürzten sich die Klaviertonleitern. In Majorenhof, bei den Deutschen, spielte eine Musik – ein Symphonieorchester im Muschelgehäuse des Pavillons – ‚Tod und Verklärung‘ von Richard Strauss. […] In Dubbeln, bei den Juden, schluchzte ein Orchester die ‚Pathétique‘ von Tschaikowskij“ (Mandelstam, 1989, S. 44ff.) 35 180 * Anatolij Koni führte zu jener Zeit eine Revision des Novgoroder Gouvernementsgerichts durch. 181 parquet – im juristischen Sinne – die Staatsanwaltschaft. 182 Am 22. Oktober 1882 wurde Gončarov in der Zarenresidenz in Gatčina (45 km südlich von St. Petersburg) von Aleksandr III. zu einer Audienz empfangen. „Die wiederholten Fahrten Gončarovs nach Gatčina hingen wohl mit den Bemühungen des Schriftstellers um eine Erhöhung seiner Pensionsbezüge zusammen. Bekanntlich erhielt Gončarov 1882 eine Pension in Höhe von 3500 Rubel pro Jahr, davon für die literarische Tätigkeit 1750 Rubel, die andere Hälfte für den Staatsdienst“ („Teatr“, 1912, Nr. 1043, zitiert nach Aleksseev, 1960, S. 254). 183 Am 3. November 1882 schloss er mit dem Verleger und Buchhändler Ivan Il’ič Glazunov einen Vertrag über die Ausgabe seiner Gesammelten Werke ab, die 1884 erschien (vgl. Alekseev, 1960, S. 254). Am 30. Oktober 1882 schreibt Gončarov, wie so oft in freundschaftlich-scherzhaftem Ton, an Michail Stasjulevič: „Gestern war ich bei Gl[azunov], allergnädigster Herr [milostivejšij Gosudar‘], Michajlo Matveevič, und ich beeile mich, Ihnen etwas über das Ergebnis der Unterredung mitzuteilen. Mit bebenden Lippen sprach er von gewissen Ergänzungen betreffend der ursprünglichen Bedingungen, denen ich mit bebenden Ohren lauschte. Heraus kam, dass er wohl einen Vorschuss zahlen will, in Form einer Zulage, doch dafür zahlt er von der Gesamtsumme im März nur 2/3, 1/3 will er auf 21/2 Jahre aufteilen. Was blieb mir übrig: ich habe zugestimmt, fürchte nun aber, dass er, sollte der Absatz nicht so erfolgreich sein wie Sie vorhersagen, bei der Zahlung des letzten Drittels stark die Stirn runzeln wird“ (Gončarov, 1912, S. 152f.). 184 Die Ausgabe der Gesammelten Werke in 8 Bänden erschien am 7. Dezember 1883, unter der Jahresangabe 1884 (im Verlag von I. I. Glazunov, St. Peterburg, 1884) – siehe Alekseev, 1960, S. 262. 185 Nach dem Fiasko, das Gončarov mit dem Roman „Obryv“ erlitten hatte, der bei der Kritik durchgefallen war, schrieb er am 18. September 1869 an Stasjulevič: „Ob ich etwas tue, nein,

Anmerkungen

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ich tue nichts, ich wehre sogar die zudringlichen Überfälle der Phantasie ab, die mir listig und gegen meinen Willen neue Charaktere, Gesichter und Szenen eines neuen, mir selbst noch unbekannten Romans vor Augen führt. Doch ich wende mich ab und denke traurig, dass es zu spät ist: der Antrieb, der Ehrgeiz, alles ist mir abhanden gekommen, weshalb, weiß ich nicht, aus Altersgründen wahrscheinlich. Ich denke auch nicht daran, Altes zu drucken, das habe ich nicht vor, denn ich fürchte mich vor jemandes mir unverständlicher Feindschaft, vor einer literarischen und nicht literarischen Missgunst“ (Gončarov, 1912, S. 84). Baron Goracij Gincburg, siehe Anm. 132. Fürst Dmitrij Nikolaevič Certelev (1852–1891), Dichter, Publizist, Literaturkritiker. Im Oktober 1832 war in der Zeitschrift „Teleskop“ (Nr. 15) als erste Veröffentlichung des damals zwanzigjährigen Studenten Gončarov die Übersetzung zweier Kapitel aus dem 5. Band des Romans „Atar Gull“ von Eugène Sue erschienen (Kap. II und III), siehe Alekseev, 1960, S. 18. In deutscher Übersetzung bekannt als „Eine alltägliche Geschichte“. Der erste Teil des Romans wurde 1847 in der Märzausgabe des „Sovremennik“ abgedruckt, siehe Alekseev, 1960, S. 26. Am 27. Oktober 1882 heißt es in einem Brief an Michail Stasjulevič: „Nachdem Sie gestern gegangen waren, allergnädigster Herr [milostivejšij Gosudar‘] Michajlo Matveevič, bin ich in tiefes Nachdenken versunken, darüber, warum Sie in der Öff[entlichen] Bibl[iothek] in den Zeitschriftenarchiven eine Übersetzung aus dem Französischen ausfindig machen wollen. ‚Hat sich‘, dachte ich, ,in seinem (d. h. in Ihrem) Kopf etwa der Verdacht festgesetzt, ich habe mit meiner Erwähnung des Kuriosums meines quasi fünfzigsten Jahrestags während der Plauderei bei Tisch mit Ihnen und Anatol[ij] Fed[orovič] auf Ovationen oder dergleichen anspielen wollen? Und ob Sie dann etwa, nachdem Sie die Information aus der Bibl[iothek] erhalten hätten, darüber in Ihrer Zeitschrift etwas veröffentlichen wollten, so und so, da gibt es einen Alten, der schmiert seit dann und dann allerlei zusammen‘ … Pfui! Wie grauenvoll! Ich habe Sie damals ja noch gewarnt und gesagt, Sie mögen mit niemandem darüber sprechen, ‚sonst wird noch‘ usw. Mit diesem ‚usw.‘ meinte ich eine Zeitungsindiskretion oder etwas Ähnliches! Und nun stellen Sie selbst Nachforschungen an! Weshalb? Vielleicht habe ich mich geirrt oder aufgeschnitten (was sagt man bei Tisch nicht alles!); vielleicht ist sie auch in einem anderen Jahr gedruckt worden, oder vielleicht überhaupt nicht gedruckt, sondern nur eingereicht aber nicht angenommen worden, da die Publikation des Romans ja nicht genehmigt war. Ich habe das inzwischen alles vergessen! So bin ich nun zu dem Schluss gekommen, Sie dringend zu bitten, keine weiteren Nachforschungen in dieser Angelegenheit mehr anzustellen – weder in den Zeitschriften noch sonst irgendwo, und weder selbst etwas zu unternehmen noch andere in diese Angelegenheit einzubeziehen. Da ich es aber nur Ihnen und Anat[olij] Fed[orovič] gegenüber erwähnt habe, so werde ich Verlautbarungen in dieser Angelegenheit und daraus sich möglicherweise ergebende Folgen als Verrat betrachten. Der Alte braucht für seine Gesundheit äußerste, absolute Ruhe, weshalb er mich sehr bittet, und ich bitte Sie inständig, über seinen fünfzigsten Jahrestag weder in der Presse, noch sonst irgendwo etwas zu verlautbaren, denn das macht ihn nur noch kränker und bereitet ihm keineswegs Freude […]“ (Gončarov, 1912, S. 152). Und am 30. Oktober 1882, ebenfalls an Stasjulevič: „Zum Schluss mein letztes Wort, wieder über dasselbe, worüber wir gestern sprachen. Ich möchte, dass jeder Gedanke an meinen 70., 50. und 35. Jahrestag aufgegeben wird. Mögen diese meine traurigen Jahrestage, ohne dass ihrer mit einem Wort oder Gruß gedacht werde, weder in gedruckter Form noch mündlich, in der Ewigkeit versinken, in der auch ich selbst gern versinken würde, doch die Erde nimmt

206 Anmerkungen mich nicht auf ! Kurz, ich bitte von Herzen und im vollen Ernst, dass die Erinnerung an diese, nur für mich allein denkwürdigen Jahrestage, spurlos und still vorübergehen möge, als hätte es sie nie gegeben und besonders ohne jeden Jubiläumstrubel, nicht einmal im engen Kreis. Das ist mein Wunsch – ihn zu missachten bedeutete, ein scherzhaftes Tischgespräch in eine öffentliche, ernste Angelegenheit zu verwandeln, was ich absolut nicht möchte“ (ebenda, S. 153). Stasjulevič antwortete darauf am 31. Oktober 1882: „[…] Bitte beunruhigen Sie sich nicht wegen Ihrer ‚Jahrestage‘: ohne Ihr Einverständnis wird man nichts unternehmen. Ich meinerseits verspreche, stumm zu sein wie ein Fisch; was aber die Tatsache betrifft, dass Sie 1832, als ich noch im Kittelchen herumlief, im ‚Teleskop‘ Eugène Sue übersetzt haben, so habe ich davon nicht nur von Ihnen gehört, sondern es heute auch Ihrer Biografie entnommen, die in der Bauman-Ausgabe enthalten ist, im 3. Band, S. 59 [gemeint ist die von A. O. Bauman in Sankt Petersburg herausgegebene Ausgabe „Russkie sovremennye dejateli: Sbornik portretov zamečatel’nych lic nastojaščego vremeni, s biografičeskimi očerkami“, SPb, 1878]. Wie Sie sehen, können auch andere davon erfahren, und dies nicht von mir. Andererseits gebe ich zu, dass ich sehr gern Gelegenheit hätte, Ihnen noch viele weitere Jahre zu wünschen. Ich denke, ich werde folgenden Plan verfolgen: im Mittelalter wurden Verbrecher im Falle ihrer Abwesenheit in effigie hingerichtet; könnte man das im vorliegenden Fall nicht folgendermaßen abwandeln: ich nehme ihre Büste mit, lade Koni und Certelev ein und gemeinsam begeben wir uns ins Hôtel des France. Sollten Sie sich zieren, so werden wir mit Ihnen eben in effigie dinieren. Sie werden zugeben, das ist keine schlechte Idee“ (ebenda, S. 153f.). 191 * Stasjulevič vermutete die Veröffentlichung der übersetzten Romankapitel im „Moskovskij telegraf “ statt im Moskauer „Teleskop“ (siehe Anm. 188). 192 * Der Publizist und Herausgeber der Zeitschrift „Otečestvennye zapiski“, Andrej Aleksandrovič Kraevskij (1810–1889), war einer der Initiatoren der Feier, siehe nächste Anm. 193 Nach allerlei Diskussionen wurde das Jubiläum schließlich am 31. Dezember 1882 im engsten Kreis begangen. „A. F. Koni, A. A. Kraevskij, J. P. Polonskij, A. N. Pypin, V. D. Spasovič, M. M. Stasjulevič, E. I. Utin und Fürst D. N. Certelev überreichten dem Jubilar eine mit einer Büste der Marfinka [Figur aus dem Roman ‚Obryv‘] geschmückte Tischuhr auf einem Marmorsockel“ (Alekseev, 1960, S. 256). Am 2. Februar 1883 besuchte eine Abordnung russischer Frauen Gončarov, um ihm zum 50. Jahrestag seiner literarischen Tätigkeit zu gratulieren. In der Grußadresse heißt es u. a.: „Sie zu lesen, bereitet nicht nur Genuss, man lernt auch etwas: von der Großmutter Lebensweisheit, von Ol’ga, zu lieben und Enttäuschungen mit Würde zu tragen und von Vera, ‚nach bitteren Erfahrungen und Fehlern, bedingt durch Stolz und Unwissenheit‘, nicht den Mut zu verlieren, nicht zu verzagen, sondern‚ ‚auf den Weg eines klugen, bewussten Lebens zurückzukehren‘. Außer der Grußadresse überreichten sie Gončarov zwei Vasen“ (Alekseev, 1960, S. 258). In Gončarovs Antwort auf die Grußadresse der russischen Frauen, veröffentlicht im „Vestnik Evropy“ (1883, 3), heißt es: „Sie haben erraten, dass der Autor mit der Großmutter und mit Vera litt, dass er Rajskijs Qualen teilte, mit Ol’ga um Oblomov trauerte, mit Oblomov um diesen, kurz, dass er, indem er diese Abbilder schuf, ihr Leben lebte und ihre Tränen weinte!‘“ (ebenda, S. 258).

Anmerkungen

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194 In Meyers Konversationslexikon von 1893 heißt es unter dem Stichwort „Blutentziehung“ über künstliche Blutegel: „Die zu Heilzwecken vorgenommene künstliche Verminderung der Blutmenge des Körpers. Die direkte (örtliche) B. wird durch Ansetzen von Blutegeln, durch Schröpfköpfe, durch kleine Einschnitte (Skarifikationen) oder durch kompliziertere Instrumente (künstliche Blutsauger) vorgenommen. Bei den künstlichen Blutegeln von Heurteloup wird mittels eines Locheisens eine wenig schmerzhafte, stark blutende, ringförmige Wunde erzeugt, aus der man mittels eines Glascylinders und eines in diesem auf und ab beweglichen Stempels leicht und schnell eine große, genau zu bemessende Blutmenge heraussaugen kann“ (Meyers Konversationslexikon, Dritter Band, 1893, S. 138). 37 195 * Die Nachricht wurde auf einer Visitenkarte geschrieben, die den Aufdruck trägt: Ivan Gončarov. Mochovaja, 3. 38 196 * Auch diese Nachricht wurde auf einer Visitenkarte geschrieben. Ivan Aleksandrovič Gončarov – Text auf der Visitenkarte. 197 Gemeint ist die kleine Jubiläumsfeier, siehe Anm. 193. 39 198 * Marija Gavrilovna Savina (1854–1915), Schauspielerin, Primadonna am St. Petersburger Aleksandrinskij teatr. 40 199 * Victor Laferté, Alexandre II. Détails inédits sur sa vie intime et sa mort. Génève, 1882. Autorin dieses Werks war Ekaterina Michajlovna Jur’evskaja, die unter dem Pseudonym Victor Laferté aus ihrer Sicht Einblicke in ihr Leben als morganatische Ehefrau des Zaren gab. 200 * Gräfin Aleksandra Andreevna Tolstaja (1817–1904), Hofdame der Tochter des Zaren Nikolaj I., Marija Nikolaevna, mit ihr (einer entfernten Verwandten und Vertrauten Lev Tolstojs) war Gončarov gut bekannt. Siehe auch Gončarovs Briefe an sie in Gončarov, 2000 a, S. 406ff. Aleksandra Tolstaja war mit einer scharfen Kritik in der Presse gegen Lafertés Erinnerungen aufgetreten. 41 201 * Diese Nachricht wurde auf einer Visitenkarte geschrieben. Ivan Aleksandrovič Gončarov – Text auf der Visitenkarte.

208 Anmerkungen 42 202 Vom 22. Mai 1883 datiert das Testament, in dem Gončarov seine gesamten Ersparnisse und sein sonstiges Eigentum der Familie Trejgut hinterlässt (siehe Alekseev, 1960, S. 259f.). Unter anderem heißt es darin über eine größere, in Wertpapieren angelegte Summe: „Sie ist in drei gleiche Teile aufzuteilen, von denen zwei vom Testamentsvollstrecker in der Staatsbank auf den Namen der Zöglinge Aleksandra und Elena Trejgut hinterlegt werden sollen, um von den Prozenten ihre Erziehung und Ausbildung bis zum achtzehnten Lebensjahr zu bestreiten; nach Erreichung ihres fünfundzwanzigsten Lebensjahres soll das Geld in ihre völlige Verfügung übergehen. Der dritte Teil ist in zwei gleiche Teile aufzuteilen, von denen der eine in der Staatsbank auf den Namen des Zöglings Vasilij Trejgut zu hinterlegen ist, um von den Prozenten bis zur Erreichung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres seine Erziehung und Ausbildung zu bestreiten, worauf das Geld in seine völlige Verfügung übergeht; der zweite Teil ist der Mutter der Zöglinge, A. I. Trejgut, auszuhändigen“ (ebenda, S. 259f.). Des Weiteren verfügt er, dass sein Kapital in Höhe von 10 000 Rubeln und die entsprechenden Zinsen ebenfalls auf die Kinder und ihre Mutter aufzuteilen sind wie auch das bewegliche Eigentum mit Ausnahme der Möbel, Bücher, Bilder usw., die sich im Arbeitszimmer befinden. Diese sind Michail Stasjulevič zu übergeben. Auch die Schwestern Sof ‘ja und Ekaterina Nikitenko werden bedacht. „Das mir 1885 von den Gebrüdern Glazunov für die Gesamtausgabe meiner Werke zustehende Honorar in Höhe von insgesamt 3400 Rubeln ist zu gleichen Teilen unter S. A. und E. A. Nikitenko aufzuteilen, für ihre Hilfe bei der Ausgabe meiner Werke und für die Unterstützung bei der Erziehung und Ausbildung der Zöglinge“ (ebenda, S. 260). 203 Am 1. Juni reiste er nach Dubbeln in die Sommerfrische ab. 43 204 Dort wohnte das Ehepaar Stasjulevič. 205 In einem Brief an das Ehepaar Stasjulevič hatte Gončarov am 8. Juni 1883 geschrieben: „Liebe und gute Freunde, Michajlo Matveevič und Ljubov‘ Isaakovna! Nach dem Essen am Dienstag bei Ihnen bin ich weder am Mittwoch noch am Donnerstag usw. abgereist, sondern noch eine Woche dageblieben und habe mit einer starken Grippe darniedergelegen, jetzt ist noch eine Bronchitis dazugekommen! Ich bin am selben Tag abgereist wie Evgenij Isaak[ovič Utin, siehe Anm. 152], den ich in der Eisenbahn getroffen habe. Hier quäle ich mich nun schon den siebenten Tag mit meiner Krankheit ab, die noch dadurch Nahrung erhielt, dass das Wetter umgeschlagen ist – von gutem zu schlechtem Wetter! Es war heiß, nun ist es zwar nicht kalt, aber feucht, was mir nicht bekommt! Ich kann jetzt nicht einmal mehr etwas hinzufügen, mein Kopf und die Feder sind aufs Papier gesunken und das Papier unter den Tisch! Wenn ich mich ein wenig erholt haben werde, schreibe ich Ihnen dreien (damit meine ich auch Anatolij Fedor[ovič], wenn Sie zu dritt zu Mittag essen werden), einen gemeinsamen Brief, jetzt aber bitte ich vorerst um Nachrichten, möglichst angenehme, von Ihnen und über Sie“ (Gončarov, 1912, S. 155). 206 Michail Stasjulevič, seit 1881 Abgeordneter der St. Petersburger Stadt-Duma (Stadtverordnetenversammlung), hatte sich um das Amt des stellvertretenden Stadtoberhaupts beworben. 207 * „Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“ (Evangelium nach Matthäus, 6. 34). 208 Gončarov hielt sich vom 4. bis 11. Dezember 1859 in Moskau auf. Nachdem es im Januar 1860 nicht zu seiner geplanten Ernennung zum „Sondervorsitzenden“ [„osobyj predse-

Anmerkungen

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datel‘] des Petersburger Zensurkomittees gekommen war, reichte er aus gesundheitlichen Gründen („chronischer Rheumatismus in den Schläfen und im ganzen Gesicht“) seinen Abschied als Zensor ein und schied am 21. Januar 1860 nach vierjähriger Tätigkeit aus dem Dienst der Zensurbehörde aus (vgl. Alekseev, 1960, S. 102ff.). Nach vorübergehendem Ruhestand 1863 erneuter Eintritt in den Dienst der Zensurbehörde (im Innenministerium), endgültiges Ausscheiden und Pensionierung im Dezember 1867 (vgl. ebenda, S. 167). 209 Černaja sotnja – so wurde im 19. Jahrhundert umgangssprachlich die Partei der wenig gebildeten Abgeordneten in der Duma bezeichnet („partija neintelligentnych glasnych v Dume“), in Anlehnung an die althergebrachte Einteilung der Novgoroder Einwohner in Hundertereinheiten, das „schwarze Hundert“ stand für die unterste Schicht der unqualifizierten Arbeiter für grobe Arbeiten (černyj narod), vgl. Michel‘son, 1896–1912. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr der Begriff einen Bedeutungswandel, nun Bezeichnung monarchistisch-chauvinistisch eingestellter, aggressiver Kreise, die sich als Organ der Selbstjustiz verstanden, berüchtigt für antisemitische Pogrome. 210 Gončarov verwendet das Fremdwort „kloaki“. 211 Stasjulevič war zum Zeitpunkt des Briefes 57 Jahre alt. 1909 (zwei Jahre vor seinem Tod) wurde ihm auf Antrag der Stadt-Duma die Ehrenbürgerschaft von St. Petersburg verliehen. 212 Koni war zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt. 213 „Und ihr werdet gehasst werden von jedermann um meines Namens willen. Wer aber bis ans Ende beharrt, der wird selig werden“ (Evangelium nach Matthäus, 10.22). 214 Über diese Unterkunft im Haus Possel‘ schreibt Gončarov zwei Jahre später, am 11. Juni 1885, an Ekaterina Nikitenko: „Anhand der oben angegebenen Adresse können Sie ersehen, dass ich das selbe Sommerhaus genommen habe, im Haus Possel‘: es ist grässlich, Frau Possel‘ ebenso, aber die Gewohnheit ist stärker. Ich bewohne zusammen mit Vasja, der noch nicht da ist, das gesamte Obergeschoß; ich habe sechs Zimmer, in einem steht das Bett, im zweiten der Schrank mit der Kleidung, im dritten der Waschkrug, im vierten habe ich meine Tabaksdose und das Taschentuch, im fünften Vasja und im sechsten die Stiefel. Unten, in den vier Paradeappartements, ist die Weiblichkeit untergebracht“ (zitiert nach der Kopie dieses Briefes von Michail Fedorovič Superanskij, Standort RGALI, Moskau, der mir von Aleksandra Romanova, IRLI RAN, St. Petersburg, freundlichwerweise zur Verfügung gestellt wurde). 215 Ein Jahr später, am 6. Juli 1884, heißt es in einem Brief an Stasjulevič aus Dubbeln über die Behandlung seines Augenleidens: „Und plötzlich bekam ich eine schwere Augenentzündung. Eigentlich habe ich gar kein Auge mehr: es ist eine blutrote Masse, bedeckt mit einer Eiterschicht – kurz, ein Hornhautgeschwür, das aussieht, als hätte jemand kräftig ausgespuckt! Das würde mir nichts ausmachen, aber es tut sehr weh, so dass ich nachts nicht schlafen kann, ich wache oft auf, manchmal schreie ich laut vor Schmerz, der bis in die Stirn und den Nacken ausstrahlt. Der Rigaer Augenarzt, Doktor Mandel’štam, sagte, dieses Geschwür könne drei Wochen bestehen bleiben, dann verkleinere sich das Auge, d. h., wenn das Geschwür aufgehe, flössen die Lebenssäfte ab und es welke wie eine Blume; dann hätte man wohl auch keine Schmerzen mehr: es gäbe ja nichts, wo sie sich einnisten könnten. Wenn es doch so käme! Er hat mir vorerst heiße Umschläge mit Kamille verordnet und auch angeordnet, Piroggen aus Leinsamen, Milch und Öl auf das Auge zu legen, ebenfalls heiß. Meine Pflegerin macht sie sehr geschickt, doch sie sollte besser Piroggen für die Suppe machen, statt für das Auge!“ (Gončarov, 1912, S. 160f.). 216 Boborykin schreibt in seinen Erinnerungen an Gončarov: „Wir trafen uns noch zwei Mal an derselben baltischen Küste, wohnten aber in verschiedenen Orten, und sahen uns viel seltener. Damals litt Gončarov bereits unter der Augenkrankheit und Anfällen eines Lungen-

210 Anmerkungen leidens. Äußerlich glich er nun einem Greis, hatte sich einen grauen Bart wachsen lassen, war weniger gesprächig, klagte häufiger über seine Krankheiten und lebte mehr der Luft als des Badens wegen am Strand. Sein Junggesellendasein wurde von der zärtlichen Sorge um die fremden Kinder verschönert, die er erzog und versorgte. In seinem letzten Lebensjahrzehnt besuchte ich ihn auch in Petersburg, in seiner Wohnung in der Mochovaja, obwohl es immer schwerer wurde, zu ihm vorzudringen. Gewisse seelische Besonderheiten traten damals viel deutlicher im Gespräch zutage, man musste immer aufpassen, dass man nicht auf heikle Themen zu sprechen kam. […] Bei Gončarov äußerte sich das vorgerückte Alter vor allem in der übertriebenen Abgrenzung seiner Person und als Schriftsteller entschieden von allem, was ihn gegenüber Publikum und Kritik in eine verantwortliche Stellung hätte bringen können“ (Boborykin, 1986, S. 501). 44 217 * Wie aus einer Notiz in Konis Archiv hervorgeht, hatte Gončarov seine ursprüngliche Absicht, den an beide gerichteten Brief an Koni zu adressieren (siehe Brief Nr. 43), geändert und ihn stattdessen an Stasjulevič gesandt. 218 Okroška – eine kalte Sommersuppe aus fein geschnittenem Gemüse (Radieschen, frischen Gurken, gekochten Kartoffeln) und Kräutern wie Dill, Petersilie, Lauch, hartgekochten Eiern und Gurkenlake und je nach Region mit Kwas oder Kefir; kann auch mit Fleisch oder Fisch serviert werden. Auch im „Oblomov“ wird die okroška erwähnt: „Dann, wenn die große Hitze nachlässt, würden wir einen Leiterwagen mit dem Samowar und dem Dessert ins Birkenwäldchen schicken, oder aufs Feld hinaus, auf eine gemähte Wiese, zwischen den Heuschobern würden wir Teppiche ausbreiten und bis zur Okroschka und dem Beefsteak in Glückseligkeit schwelgen“ (Gontscharow, 2012 a, S. 269f.). 219 Erinnert an eine Episode aus dem „Oblomov“, wo die geschilderte Situation quasi vorweggenommen worden ist – „Ilja Iljitsch frühstückte, hörte Mascha ab, die französisch vorlas, saß bei Agafja Matwejewna im Zimmer, sah zu, wie sie Wanitschkas Jacke flickte, wobei sie sie zehnmal bald auf die eine, bald auf die andere Seite wendete und zwischendurch immer wieder in die Küche lief, um nachzusehen, ob der Hammelbraten für das Mittagessen auch schön schmorte und ob es nicht an der Zeit sei, die Fischsuppe aufzusetzen“ (Gontscharow, 2012 a, S. 648). 220 Gončarovs Namenstag, der Johannistag (Ivanov den‘). 221 Zum Namenstag wurde (und wird) traditionell ein Kuchen in Form eines Kringels (einer Brezel) gebacken. 45 222 Mit dieser scherzhaften Formulierung ist Vasja Trejgut gemeint. 46 223 Am 22. August 1883 (am 3. September nach dem Ggregorianischen Kalender) war im französischen Bougival Ivan Turgenev gestorben. Das ironische „Bacchanalien“ lässt erkennen, dass der Konflikt mit Turgenev, ungeachtet der 1864 anlässlich des Begräbnisses von Aleksandr Vasil‘evič Družinin (1824–1864) erfolgten Aussöhnung, noch immer schwelte. Mit Turgenev hatte Gončarov eine kollegiale Freundschaft verbunden, die zerbrach, als Gonča-

Anmerkungen

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rov Turgenev 1860 öffentlich des Plagiats bezichtigte und ihm u. a. vorwarf, dieser habe für seine Werke „Dvorjanskoe gnezdo“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Das Adelsnest“) und „Nakanune“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Am Vorabend“) Motive des ihm 1855 in Gesprächen anvertrauten Konzepts seines Romans „Obryv“ verwendet. Der Konflikt kulminierte 1860 und wurde durch ein Ehrengericht beigelegt, das die Plagiats-Beschuldigung entkräftete und feststellte, die Übereinstimmung sei auf die zeittypische Problematik zurückzuführen. In den siebziger Jahren weitete Gončarov im zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskript „Neobyknovennaja istorija“ („Eine ungewöhnliche Geschichte“) die Plagiatsvorwürfe auch auf Gustave Flaubert und Berthold Auerbach aus. Die „Neobyknovennaja istorija“ wurde zuerst 1924 veröffentlicht und ist abgedruckt im Band „Literaturnoe nasledstvo, I. A. Gončarov, Novye materialy i issledovanija“, pod red. S. A. Makašina und T. G. Dinesmana, Moskau 2000; siehe I. A. Gončarov 2000 a. 224 * Der Dichter Arsenij Arkad’evič Goleniščev-Kutuzov (1848–1913). 47 225 Aleksandr Nikolaevič Gončarov, einer der Söhne von Nikolaj Aleksandrovič, dem Bruder Gončarovs. Aleksandr Nikolaevič Gončarov hatte sich nach dem Tod seines Onkels mit einem bösartigen, verleumderischen Schreiben an Michail Stasjulevič gewendet und darum gebeten, seinen Brief im „Vestnik Evropy“ zu veröffentlichen, was Stasjulevič aber nicht tat – siehe auch „Pis’mo A. N. Gončarova k M. M. Stasjuleviču“, herausgegeben und kommentiert von A. V. Romanova, in: Romanova, 2008, S. 558–564. 226 Gončarov verwendet das deutsche Lehnwort „kamerdiner“. 227 Im zuerst 1888 in der Zeitschrift „Niva“ veröffentlichten Zyklus „Slugi starogo veka“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Dienstboten vergangener Tage“) spielen diese „Verluste“ im Kapitel „Matvej“ eine zentrale Rolle. 228 Zitat aus Aleksandr Puškins Gedicht „Rodoslovnaja moego geroja“: „Gordjas‘ (kak obščej pol’zej drug), krasoju sobstvennych zaslug, zvezdoj dvojurodnogo djadi“ (Puškin, 1959, S. 465). 229 Siehe Gončarovs Brief an Michail Stasjulevič im vorliegenden Band, Kap. 4, Anm. 26, dieser Brief datiert zwar von 1886, d. h., er wurde 3 Jahre später geschrieben, es finden sich hier jedoch weitere Informationen über Gončarovs Einstellung zu den beiden Söhnen seines Bruders. 230 Evgenij Isaakovič Utin, siehe Anm. 152. 48 231 * Diese Nachricht wurde auf einer Visitenkarte notiert. 49 232 Einen weiteren Einblick in Gončarovs Dubbeln-Aufenthalt 1884 und seine diesbezüglichen Gedanken gewährt ein Brief an den damals sechsundzwanzigjährigen Großfürsten Konstantin Konstantinovič Romanov (1858–1915). Unter den Initialen R. K. veröffentlichte dieser Lyrik und Übersetzungen, seit 1889 war er Präsident der Akademie der Wissenschaften und bekleidete verschiedene militärische und zivile Ämter. Johannes von Guenther (1886– 1973), der baltendeutsche Übersetzer und Herausgeber russischer Literatur und Übersetzer

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des Versepos des Großfürsten, „Vozroždennyj Manfred“ (1910 in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel „Der erlöste Manfred“), schildert in seinen Lebenserinnerungen „Ein Leben im Ostwind“ anschaulich mehrere Begegnungen mit Konstantin Konstantinovič, die einen gewissen Einblick in dessen Persönlichkeit geben (siehe Guenther, 1969). Gončarov war bereits mit dem Vater des Großfürsten, Großfürst Konstantin Nikolaevič (1827–1892), bekannt, der den Schriftsteller sehr schätzte und ihn 1873 bat, seine Kinder in russischer Sprache und Literatur zu unterrichten. 34 Briefe Gončarovs an den Großfürsten Konstantin Konstantinovič sind erhalten. Am 27. Juni 1884 schrieb Gončarov an ihn u. a.: „Eure kaiserliche Hoheit! Nun sind schon etwas mehr als drei Wochen vergangen, seit ich hierher übergesiedelt bin, in diesen deutsch-polnisch-jüdisch-lettischen Winkel, meine Penaten, d. h. in meine Trägheit, Ungeselligkeit und Zurückgezogenheit, und bis jetzt habe ich die Erlaubnis noch ungenutzt gelassen, Eurer Hoheit zu schreiben. Das hat unfreiwillige Gründe. Zuerst war es kalt, es waren die reinsten Meere, die über den Himmel zogen und sich erbarmungslos sowohl über die Erde als auch das Wasser ergossen, so dass ich mich in meinem ofenlosen Palazzo in ein Plaid hüllen musste. Dann begann die Hitzeperiode: der Körper schmolz dahin wie Butter, man meinte eine Pelzmütze auf dem Kopf zu haben, die Gedanken gerannen wie Sahne in der Hitze. Hinzu kam, dass ich in meinem kranken, blinden Auge sowohl bei Hitze als auch Kälte das Gefühl von brennenden Kohlen hatte. Wenn man nun noch das Trinken des Marienbader Brunnens bedenkt, bei dem man, wie die Ärzte sagen, das Lesen und Schreiben unterlassen soll, und auf die hartherzigen Augenärzte hört, denen zufolge man nicht rauchen darf ! Ich aber habe gegen all dies rebelliert, habe den Marienbader Brunnen aufgegeben, die stärkste Zigarre angezündet und den größten Bogen Briefpapier zur Hand genommen und will jetzt, mit Ihrer Erlaubnis, mit dem größten Vergnügen mit Eurer Hoheit plaudern. Ich schreibe geradeheraus, ohne Vorbereitung, ohne Konzept, ohne Entwurf: würde ich das alles tun, käme ein literarischer, für eine Zeitschrift geeigneter, vielleicht effektvoller Artikel heraus: doch fehlen würde ihm, was das Beste an einer Korrespondenz zwischen zwei Menschen ist – Aufrichtigkeit und Intimität. Für alle zu schreiben, bedeutet sich in Acht zu nehmen, schön zu tun, vorsichtig und nicht man selbst zu sein. Ich aber will vor Ihnen au naturel erscheinen. Ich hoffe, Sie belieben mir beizupflichten. Verzeihen Sie mir diese lange, geschwätzige Einleitung […] Jetzt müsste ich etwas über diesen Landstrich hier sagen: doch das kann ich eigentlich gar nicht. Es gibt viele offizielle Verlautbarungen, noch häufiger schreibt man darüber in den Zeitungen, meist Unterschiedliches und Widersprüchliches. Aber das kann auch nicht anders sein. Der Landstrich gärt und wird wohl noch lange nicht zur Ruhe kommen. Das Amalgam aus Deutschen, Letten, Juden, Polen und anderen ist noch nicht zu einer Masse verschmolzen. Vorläufig sind alle für sich. Die Deutschen, so hat man mir gesagt, sind bestrebt, in ihren Besitzungen den Letten nichts abzugeben, die Letten aber sind bestrebt, sich alles zu nehmen, und die Juden [židy] wollen sowohl von den einen wie den anderen so viel wie möglich nehmen usw. Das alles ist nur natürlich und wird überall praktiziert, wo Menschen sind. Und die lutherischen Pastoren leisten Widerstand, wenn Letten zur orthodoxen Religion konvertieren wollen und bedrücken unsere Geistlichen und jene, die es gewagt haben, zur Orthodoxie zu konvertieren. Kurz, es ist der ‚Kampf um die Existenz‘, wie überall! Gebe Gott, dass das russische Element als Sieger daraus hervorgeht! Diese ‚Politik‘ kenne ich nur aus Erzählungen, von meinem Balkon aus aber sehe ich durch die Bäume, wie all diese Völkerschaften vorbeihuschen, vor allem Letten und Juden [evrei], nicht einmal Juden, sondern einfach židy [vgl. Anm. 48]. Die Letten sind so zahlreich wie die Meereswellen. Angst und bange wird einem zumute, wenn man sich unter ihnen wiederfin-

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det, die reinsten Papuas, Untertanen des Kaisers Miklucho-Maklaj [Nikolaj Miklucho-Maklaj, 1846–1888, Anthropologe und Ethnograf ] oder Kariben! Ein unsympathisches, störrisches, durchtriebenes Volk, und dem Wodka nicht abgeneigt! Man sagt, die Deutschen würden sie unterdrücken: ist das nicht übertrieben? Man kann sie wohl gar nicht so schnell unterdrücken: sie verteidigen nicht nur ihre Rechte, sondern auch das, worauf sie überhaupt keine Rechte besitzen! Ist es nicht eher so, dass die Deutschen sie als Mehrheit fürchten und deshalb versuchen, sie zu beherrschen, wo sie können, sogar, wie es den Anschein hat, mit Hilfe der Regierung! Ich weiß es nicht. Vielleicht sind das nur Gerüchte böser Zungen – aus den Zeitungen und von anderswo! Was allerdings die feindlichen Ausfälle der lutherischen Pastoren gegen die russische Geistlichkeit und die orthodoxen Letten betrifft, so ist das wohl keinesfalls übertrieben: davon hört man auf Schritt und Tritt reden. Es ist merkwürdig: die Lutheraner sind ganz und gar nicht fanatisch in religiösen Dingen, folglich muss es einen anderen Grund geben, wenn die Pastoren unserer Geistlichkeit hier ablehnend begegnen, vermutlich ist es das Sinken ihrer Einnahmen, das mit der Verbreitung der Orthodoxie einhergeht. Darüber hinaus teilen sie mit den Baronen auch eine gewisse, übrigens gegenseitige, Feindseligkeit zwischen der deutschen und der slawischen Rasse, die bei den Baltendeutschen [Gončarov schreibt „ostzejskie“ – Ostseedeutschen] noch durch ihre politische Abhängigkeit von Russland genährt wird. Es kränkt sie vermutlich (wie auch die Polen), von einem starken, großen, ihrer Meinung nach aber weniger kulturvollen Land abzuhängen, als … wer? Die deutsche Kultur und Intelligenzija ist natürlich älter, umfassender und möglicherweise höherstehender als die russische; doch sie ist eine allgemein europäische Errungenschaft, und dazu zählen sowohl die französische, die englische, als auch andere Kulturen, unter anderem auch die russische, die einen bedeutenden Beitrag zur allgemeinen Schatzkammer der europäischen Zivilisation geleistet hat und noch immer leistet! Und was hat die Rigaer, Mitauer und Revaler Kultur zu letzterer beigetragen? Wohl nichts Besonderes. Alles kommt von jenseits des Neman – sie bildet sich aber ein, dass sich in jedem Rigaer, Revaler oder Mitauer unbedingt ein Kant, Humboldt oder Goethe verbirgt! Ach, diese guten, naiven Provinzler! Was wollen sie denn? Sich mit Deutschland vereinen: Gott behüte! Mit Händen und Füßen sträuben sie sich dagegen! Dort ist ja, ungeachtet des Parlamentarismus, das Regime Friedrich II. noch nicht ausgestorben, die lieben Barone würde man bald auf einen Nenner bringen! Sie wissen das sehr gut und wollen es nicht. Nein, sie leben hier, bei uns, unter den Fittichen des Russischen Zaren, ungebunden, ehrenvoll und einträglich! Sie möchten den status quo bewahren und ihren Winkel, unter dem sicheren Schutz der russischen Macht leben, mit ihren feudalen Privilegien, Ämter bekleiden, Orden und Geld erhalten, ohne mit Russland zu verschmelzen, weder mit dem Glauben, noch der Sprache, sie wollen ihre Bedeutung beibehalten, ihre Sitten und Gebräuche des mittelalterlichen Ritterstandes und dabei insgeheim die Russen verachten, und sei es wegen der Kulturlosigkeit. Nein, das stimmt nicht, es ist keine Verachtung, sondern Abneigung, wie ich oben schon sagte, der Schwachen gegenüber den Starken, was nicht selten vorkommt. Doch von Seiten der Schwachen ist es sehr kulturlos, den Starken mit Feindseligkeit zu begegnen, wenn letztere nachsichtig sind und sie hätscheln! Ich habe einige der deutschen Barone kennengelernt, auch Nicht-Barone, und mir ist, ehrlich gesagt, nicht nur keinerlei Feindseligkeit aufgefallen, im Gegenteil: sie erschienen mir als sehr anständige, gebildete, zuvorkommende Gentlemen. Sie treffen sich mit uns, den Russen, im Park, bei den Konzerten, spielen mit uns Karten, sprechen annehmbar Russisch, ‚manche, wie die Skalozubschen Offiziere, auch französisch!‘ – [Oberst Skalozub aus A. S. Griboedovs Komödie „Gore ot uma“, der im 2. Akt, 6. Aufzug sagt: „I oficerov vam nač-

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tem, Čto daže govorjat, inye, po-francuzki.“] Mir scheint, es gibt die Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit besinnen, jeglichen Antagonismus vergessen und uns Russen im Gegenzug für alle von Russland und aus Russland erhaltenen Wohltaten ihre tatsächlich beneidenswerten Stammeseigenschaften lehren werden, die den Slawischen [im Original hier großgeschrieben] Rassen fehlen, wie persévérance in jeglicher Angelegenheit (ich kann persévérance nicht übersetzen – Anm. von Gončarov) und Systematik. Mit diesen Eigenschaften ausgerüstet werden wir dann, und nur dann, zeigen, über welche angeborenen Kräfte und über welchen Reichtum Russland verfügt! Etwas anderes brauchen wir vorläufig von den baltischen Kultur-Herren [kul’tur-cherov] nicht zu lernen und wir müssen auch nichts entlehnen. Riga versorgt uns mit seinen gepriesenen Zigarren: doch wie schlecht sind sie nicht nur im Vergleich mit den Havannas, sondern sogar mit den gepflegten deutschen Zigarren ausländischer Produktion! Dies habe ich selbst erprobt, indem ich mit Müh und Not ein Rigaer Produkt geraucht habe (denn die Havannas kann ich mir nach heutigem Kurs nicht leisten). Es will mir scheinen, vielleicht aus Patriotismus, dass unsere Petersburger nicht schlechter sind! Als schönste Perle der Rigaer Kultur gilt der Kümmel, ja, der Doppel-Kümmel, der nach ganz Europa und sogar nach Amerika geliefert wird! Ich entsinne mich des Doppel-Kümmels: vor sechs Jahren  wollte ich diese Herrlichkeit Rigas probieren und nahm ein Gläschen zu mir: sogleich fiel mir König David und seine Sanftmut ein [Anspielung auf das Gebet: „Pomjani, Gospodi, Davida carja i vsju krotost‘ ego“ – ein Gebet, das um die Gabe der Sanftmut, Geduld usw. bittet]! Das ist das Gleiche, als würde man Nägel schlucken. Wie sich dieses Gift mit dem guten Bier in den deutschen Mägen verträgt, verstehe ich nicht! Die Juden [židy] sind hier, wie es ihre Gewohnheit ist, überall eingesickert. Es ist eine Art weltweiter Zement, doch kein festigender, wie es sich für Zement gehört, sondern einer, der die Fundamente der Gebäude zerfrisst! Sie sind Schlosser und Schneider und Schuhmacher und handeln mit allem, was ihnen unterkommt, natürlich zum Schaden nicht nur der lettischen, sondern auch der deutschen Industrie! Ach, ich fürchte, man wird sie hier noch verprügeln! Es sind viele, allein in Riga mit seinen zweihunderttausend Einwohnern zählen sie an die dreißigtausend! Außerdem kommen sie aus Vitebsk, Dinaburg und Plock hierher gekrochen, als Gäste in der Sommersaison. Schöne Gäste! Wenn sie sich während der Badestunden am Strand ausgezogen und auf eine ganze Werst ihre alttestamentarischen Lumpen ausgebreitet haben, weiß man nicht, wohin mit der Nase und den Augen. Was habe ich angerichtet! Ist das etwa ein Brief: weiß der Himmel, was das ist! Zwei vollgeschriebene Bögen! Nehmen wir an, ich habe in diesem schriftlichen Gespräch meinem Herzen Luft gemacht und mich von meinem unfreiwilligen Nichtstun erholt!  Doch ich habe zwei Vergehen begangen: eines gegen Eure Hoheit, indem ich dies schrieb: doch ich erhebe keinen Anspruch darauf (wie ich schnell hinzufügen möchte), dass Sie geruhen, es bis zu Ende zu lesen. Das andere Vergehen: gegen mein krankes Auge! Es beginnen schon gelb-grüne Flecken über das Papier zu springen, und aus dem Auge tropft vor Anstrengung eine ungebetene Träne. Verzeihen Sie, es wird nicht mehr vorkommen! Es ist eine Sünde, die für den ganzen Sommer reicht![…]“ (Gončarov, 1994, S. 179ff.). Der aus Mitau stammende Johannes von Guenther (1886–1973), im 20. Jahrhundert einer der wichtigen Vermittler russischer Literatur in Deutschland (er übertrug Werke von Čechov, Dostoevskij, Gogol’, Lermontov, Leskov, Puškin, Tolstoj, Turgenev u. a. ins Deutsche), beschreibt in seinen Erinnerungen die Situation folgendermaßen: „Indes, die drei Ostseeprovinzen Kurland, Livland und Estland, blieben zunächst unter russischer Oberhoheit rein deutsch, obwohl die eigentliche Bevölkerung des größeren südlichen Teils aus

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Letten, die des kleineren nördlichen aus Esten bestand. […] Man sprach bis in meine Zeit hinein nie, oder fast nie, russisch: meine Mutter konnte nicht russisch, um nur ein Beispiel zu nennen. Der junge baltische Adel ging zwar nicht ungern nach Petersburg: wie viele russische Minister, Kammerherren, Hofchargen, Generäle waren Balten! Man könnte fast sagen, dass die Balten Russland mitregiert hätten, obwohl ein wirklich nahes Verhältnis kaum bestand […] Man pflegte bei uns, wenn jemand nach Petersburg oder Moskau fuhr, zu sagen: ‚Er fährt nach Russland.‘ Ich glaube nicht, dass man um die gleiche Zeit von einem Bayern, der nach Berlin fuhr, gesagt haben mag: ‚Er ist nach Deutschland gefahren… ‘ Die im neunzehnten Jahrhundert einsetzende Russifizierungstendenz bewirkte natürlich, dass lange vor der Jahrhundertwende der Unterricht in den Staatsschulen in russisch erteilt wurde, aber die Bevölkerung sprach entweder deutsch (Adel, Bürgertum, Kaufleute) oder lettisch (die Bauern, die Arbeiter) […] Die russischen Beamten in den Ostseeprovinzen gehörten nicht zur Gesellschaft; man verkehrte mit ihnen nicht, und so waren sie gesellschaftlich auf ihre Kollegen angewiesen; aber auch die deutsch-baltischen Beamten verkehrten nicht mit den russischen Beamten, so dass hier ebenso wenig eine Verständigung stattfand. Die Balten lebten überhaupt ziemlich abgeschlossen: Stand verkehrte mit Stand: der Adel verkehrte wenig mit den sogenannten ‚Literaten‘ – so bezeichneten sich alle, die studiert hatten: Pastoren, Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer; Schriftsteller gab es nicht. Und die ‚Literaten‘ ihrerseits verkehrten nicht mit den Kaufleuten. Mit Letten verkehrte man prinzipiell nicht. So gab es lauter abgeschlossene Zirkel“ (Guenther, 1969, S. 10ff.). Am 13. Juni 1884 heißt es an Stasjulevič: „ … habe ich den Wunsch, Sie, das silberne Brautpaar, d. h. Sie und Ljub[ov‘] Isaak[ovna], noch mit einigen Segenswünschen und Warnungen für unterwegs auszustatten, zum Beispiel mit dem Rat, den Magen vor dem Brunnen nicht mit Würstchen zu beschweren, wie Sie es einmal taten, als Sie nach Kissingen kamen, genau an den Unterschied zwischen Hammel und Gans zu denken und dergleichen mehr, und sich unter anderem auch nicht blindlings auf Anatolij Fed[orovičs] Vorhaben zu verlassen, wenn er beispielsweise beabsichtigt, nach Holland zu reisen und von dort übers Meer nach Riga. Das kann durchaus bedeuten, dass er sich statt in Riga irgendwo in Aranjuez wiederfindet, oder in Venedig und dort in einer ‚geheimnisvollen Gondel mit Venedigs holder Maid im Arm‘ [siehe Anm. 235] umherfahren wird usw. Deshalb wiege ich mich nicht in der Hoffnung, ihn am hiesigen plage zu treffen“ (Gončarov, 1912, S. 159). Aranjuez, 47 km südlich von Madrid, seit dem 16. Jahrhundert einer der Sommersitze der spanischen Königsfamilie. Höchstwahrscheinlich spielt Gončarov hier auf Friedrich Schillers „Don Carlos, Infant von Spanien“ an, dessen erster Satz lautet: „Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.“ „Evgenij Onegin“ – 1. Buch, Kap. XLIX. Am 8. Juni 1884 aus Dubbeln an Stasjulevič: „Hier ist es nur tagsüber warm, abends aber wird es kühl, besonders nachts, in den mangels Öfen den Winter über nicht geheizten Räumen. Plaids, Schlafröcke, Decken, selbst Mäntel – alles muss man zu Hilfe holen, doch es belastet mehr als dass es wärmt! Diejenigen, die sich auskennen, sagen, dass es in diesem Jahr überhaupt nicht warm werden wird! Deshalb solle man im Sommer besser in der Stadt bleiben und sich mit der Hauswirtschaft befassen, d. h., mit Fensterputzen, dem Vorbereiten eines Holzvorrats für den Winter, dem Ausklopfen der Pelze und der Reparatur der Öfen, als sich mit blauen Nasen schlotternd in Kurorten und am Meeresstrand herumzutreiben! Ich war auch früher mehr oder weniger dieser Ansicht, d. h. dass man im Sommer lieber über die beste Art der Vorbereitung auf das Leben im Herbst und Winter nachdenken solle, als müßig unter Bäumen zu sitzen. Ich habe noch eine Beschäftigung: vorgestern, gerade an

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meinem Geburtstag, trank ich auf mein Wohl das erste Glas Marienbader Kreuzbrunnen; als alter Bekannter schmeckte er mir sehr gut! Ob er wirken wird, weiß ich nicht. Schlimm ist, dass sich mein krankes Auge noch in Petersburg gerötet hat und jetzt schmerzt und tränt es. Ich habe beim Auskleiden mit voller Wucht mit der Hose dagegengeschlagen, bin mit dem Metallknopf direkt gegen die Pupille geraten, das ist übel ausgegangen! Ich weiß nicht, ob es sich bessern wird. Zwei Augenärzte, der hiesige und der Petersburger, haben mir zwei verschiedene Umschläge verordnet. Was werden wird, weiß ich nicht! Ich habe noch niemanden gesehen, es sind auch noch nicht alle eingetroffen, viele Wohnungen stehen leer. Vorgestern wurde die Saison eröffnet (an meinem Geburtstag, dem 6. Juni), mit Musik im Park. Anatolij Fed[orovič] hat man hier mit Bestimmtheit erwartet: er hatte es, wie üblich, versprochen, und ist, ebenfalls wie üblich, nicht gekommen! Noch im April hatte er gesagt, dass er kommen würde, dann aber ist er weiß der Himmel wohin gefahren! Grüßen Sie ihn schön von mir, und schimpfen Sie ihn Ihrerseits schön aus, dass er alle hinters Licht führt! Sagen Sie ihm, dass das nicht gut ist“ (Gončarov, 1912, S. 158f.). Im Brief heißt es: „I chozjaeva plačut ili plakajut, kak govorit odin ne to nemec, ne to poljak“, ein unübersetzbarer Grammatikfehler: „Und die Inhaber weinen oder plakajut, wie einer von ihnen, ein Deutscher oder Pole, sagt.“ Gončarov verwendet hier das im Russischen damals eher ungebräuchliche Wort „kottedž“, das er bereits im „Oblomov“ gebraucht: „Sie [Ol’ga und Stolc] hatten sich in einem stillen Winkel an der Küste niedergelassen. Bescheiden und klein war ihr Haus […] Ein Gewirr von Weinranken, Efeu und Myrten bedeckte das Cottage“ (Gontscharow, 2012 a, S. 675f.). Hier wieder das pejorative „židy“. * Vera Petrovna Venedisova, siehe Anm. 44. 50

241 Zur Zeit des Mittagessens, siehe Anm. 134. 242 Hier gibt Gončarov das Datum sowohl nach dem Julianischen als auch nach dem in Russland damals nicht üblichen Gregorianischen Kalender an. Der in Europa schon lange gültige Gregorianische Kalender wurde in Russland erst 1918 eingeführt. Zum verabredeten Treffen ist es wohl nicht gekommen, denn Gončarov schrieb am 5. September 1884 an Stasjulevič: „Sehr geehrter Odissej Matveevič! Sie sind der listigste aller Odysseuse [hier schreibt Gončarov „Odissej“ – vgl. Anm. 98]. Sie haben sogar am 1. des Monats Verrat geübt, diesem Ihnen seit langem heiligen Datum! Sie sind im Hôtel de France nicht zum verabredeten Rendezvous erschienen, ich aber war da! Doch nicht darin besteht mein Verdienst, denn ich gehe von alters her [Gončarov verwendet hier das kirchenslavische Wort „zane“] an allen Tagen dorthin, sondern darin, dass ich, der seit der Rückkehr fast noch nie dort war – unheilbar an Grippe und Katarrh, fortschreitendem Alter und allerlei anderen Gebrechen erkrankt –, mich an diesem Tag, dem ersten, extra hingeschleppt habe. Gestern nun erfuhr ich vom Portier, dass Sie statt am 1. am 3. dort waren! Und ich habe vereinsamt meine Bouillon gegessen, nicht ohne vorher Chinin-Pillen eingenommen zu haben! Dies tue ich Ihnen kund! Und füge hinzu, dass es mir sehr schlecht geht, ich kann buchstäblich kaum laufen und noch buchstäblicher nichts essen und hasse alles! Ich soll mich wohl auch auf den Weg ohne Wiederkehr vorbereiten, in einen der Petersburger Vororte! Doch ich hoffe, Sie bis dahin noch zu sehen, und vielleicht sogar auch Ljubov‘ Isaakovna. In Erwartung dessen grüße ich Sie böse. Ihr Gončarov.

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P. S. Bisweilen gehe ich dennoch, wegen der Motion, bis zu meinem Hotel und tue so, als ob ich zu Mittag äße“ (Gončarov, 1912, S. 161f.). 243 Vermutlich handelt es sich um die europäische Cholera-Epidemie der Jahre 1884–1887. Die russischen Zeitungen veröffentlichten anlässlich dieser Epidemie regelmäßig Bulletins. Wie aus einem Brief Gončarovs vom 6. Juli 1884 an Stasjulevič hervorgeht (Gončarov, 1912, S. 161), befanden sich die Stasjulevičs im Juli 1884 in Karlsbad. Auch einem Brief Michail Saltykov-Ščedrins an Nikolaj Belogolovyj ist die Unruhe zu entnehmen, die die Cholera verbreitete: „Ich fürchte, Ihre Absicht bis Ende September in Wiesbaden zu bleiben, wird sich nicht verwirklichen lassen, denn die Cholera ist schon in Genf und sie macht offenbar schnelle Fortschritte. Auch ist es von Lyon nicht weit bis Paris, wo sie ebenfalls grassiert“ (Saltykov-Ščedrin, 1977, S. 68). 51 244 Koni war vom Justizminister Dmitrij Nikolaevič Nabokov (1827–1904, Großvater des späteren Schriftstellers Vladimir Nabokov) für den Posten des Oberstaatsanwalts des Kassationsgerichtshofs des Senats (Ugolovnyj kassacionnyj departament Senata) vorgeschlagen und im Januar 1885 ernannt worden. 245 Siehe das Kapitel 3 im vorliegenden Band, Gončarovs Brief vom 22. Februar 1885 an Aleksandra (Sanja) Trejgut. 246 In der Galernaja ulica 20 (da es ein Eckhaus war, auch Konnogvardejskij bul’var‘ 17) wohnten die Stasjulevičs, siehe auch Anm. 138. 52 247 Die Wochenzeitung „Nedelja“ (1866–1901) galt als Organ des liberalen Narodničestvo (der Bewegung der Volkstümler). 248 Michail Aleksandrovič Jazykov (1810/11?–1885), Direktor der Kaiserlichen Glaswerke in St. Petersburg. Er stand dem Kreis um die Zeitschrift „Sovremennik“ („Der Zeitgenosse“) nahe und war mit Gončarov befreundet, der Taufpate seines Sohnes Andrej war. 249 Der Schriftsteller und Historiker Nikolaj Michajlovič Karamzin (1766–1826) hatte seinem Freund, dem Übersetzer Aleksandr Andreevič Petrov (1760er Jahre–1793), die Elegie in Prosa „Cvetok na grob moego Agatona“ gewidmet. 250 Der sprichwörtlich gewordene Ausdruck vom „Ritter ohne Furcht und Tadel“ bezieht sich auf den französischen Feldherrn Pierre du Terrail, Chevalier de Bayard (1476–1524). Nach seinem Tod verfasste du Terrails Leibarzt und Sekretär, Symphorien Champier (genannt Le Loyal Serviteur) seine Biographie „Les gestes ensembles la vie du preux Chevalier Bayard“. Im „Oblomov“ heißt es ironisch auf Zachar bezogen: „Sachar hatte die Fünfzig schon überschritten. Er war kein direkter Nachfahre jener russischen Calebs mehr, dieser Ritter ohne Furcht und Tadel aus der Lakaienstube, die ihren Herren bis zur Selbstverleugnung ergeben waren, sich durch sämtliche Tugenden auszeichneten und keinerlei Laster besaßen. Dieser war ein Ritter sowohl mit Furcht als auch mit Tadel“ (Gontscharow, 2012 a, S. 100). 251 Gončarov zitiert hier leicht abgewandelt Zeilen aus der von Vasilij Žukovskij nachgedichteten Ballade „Das Siegesfest“ von Friedrich Schiller: „Spjaščij [Gončarov schreibt mertvyj] v grobe, mirno spi, žizn’ju pol’zujsja, živuščij.“ Es sind die letzten Zeilen der Schillerschen Ballade „Das Siegesfest“, die im deutschen Original lauten: „Morgen können wir‘s nicht mehr, darum lasst uns heute leben!“

218 Anmerkungen 252 Seit Gogol‘s „Revizor“ ist die Redewendung sprichwörtlich geworden. Im „Revizor“ sagt Ammos Fedorovič im 5. Akt, 7. Szene: „Bol’šomu korablju – bol’šoe plavanie.“ 253 Im Psalter heißt es im Ersten Buch (36. 4): „Alle ihre Worte sind falsch und erlogen.“ 254 Der alttestamentarische Prophet Samuel war der letzte der Richter Israels (siehe das erste und zweite Buch Samuel). 53 255 Ivan Gončarov litt zeitlebens unter Migräne, ein Leiden, das von seinen Zeitgenossen wenig ernst genommen wurde. In zahlreichen Briefen klagt er über Wetterfühligkeit, bzw. die damit zusammenhängenden Kopfschmerzen, z. B. am 12./24. Juni 1868 an Stasjulevič: „Vergessen Sie bitte nicht, dass ich ein Barometer bin, dass es in meiner Natur, physisch wie psychisch, merkwürdige, unglaubliche und unerklärliche Besonderheiten, Extreme, Widersprüche, Anfälle, Unvorhersehbares usw. gibt, wundern Sie sich deshalb nicht, wenn ich sage, dass ich am nächsten Tag, nach einem Abend, der mit einem Gewitter endete, plötzlich wieder auflebe“ (Gončarov, 1912, S. 20). Oder an denselben, einen Tag später: „Ich bin kränker, als jene denken, die sagen: ‚Aber Sie sind doch gesund’, wenn sie mir begegnen und sehen, dass ich dick bin, munter ausschreite ohne zu schwanken, esse. Sie ahnen ja nicht, dass ich in diesen Momenten manchmal vor Schmerzen umfallen könnte“ (ebenda, S. 23). In den Erinnerungen der Nichte Gončarovs, Evdokija Petrovna Levenštejn, heißt es: „Hin und wieder war mein Onkel düster und gereizt und sagte, er leide unter Kopfschmerzen, vor allem quälte ihn häufig der tic douloureux [die Trigeminusneuralgie], was er besonders schmerzlich vor schlechtem Wetter oder vor Gewittern empfand“ (Utevskij, 2000, S. 166). 54 256 Im russ. Original „otkrytoe pis’mo“ (im Russischen heute verkürzt zu: „otkrytka“), um Missverständnisse zu vermeiden („offener Brief “), hier als „offenes Schreiben“ wiedergegeben (auch bekannt als Correspondenz-Karte). Seit 1871 gab es in Russland derartige Postkarten. In Preußen waren sie zunächst wegen sittlicher Bedenken abgelehnt worden, da die Nachrichten ungeschützt lesbar waren. 257 Bad Merrekküll, estnisch Meriküla, heute Estland. Ende des 19. Jahrhunderts beliebte Sommerfrische an der Ostsee. 258 Konis St. Petersburger Adressen im für unseren Band relevanten Zeitraum, 1877–1885: Furštadskaja ul. 27; 1885–1887: Stremjannaja ul. 6; 1886 oder 1887–1892: Karavannaja ul. 20. 259 Anatolij Dmitrievič Baturin (1835–1906), seit 1881 Senator. 260 Peter und Paul (Den‘ Petra i Pavla), christlicher Feiertag, Gedenktag an die Apostel Petrus und Paulus, begangen am 29. Juni. 261 Der Finnische Meerbusen (russisch Finskij zaliv; finnisch Suomenlahti; estnisch Soome laht) – langgestreckte Bucht der Ostsee, die sich west-östlich in Richtung Newa-Mündung erstreckt. Anrainerstaaten sind Finnland, Estland und Russland. 262 Gončarov verwendet hier vier Mal quasi ironisch und in gewisser Weise anklagend das Verb izvinit‘ – „izvinite velikodušno“, „izvinite“, „izvinite nakonec“, „izvinite že“. 263 * Abgewandeltes Zitat („skuka, cholod i pesok“) aus Puškins Gedicht „Gorod pyšnyj, gorod bednyj“, in dem es über St. Petersburg heißt: „Skuka, cholod i granit.“ 264 Im Original deutsch mit kyrillischen Buchstaben.

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265 * Gemeint ist der Sohn Vera Petrovna Venedisovas (siehe Anm. 44), Mitrofan bezieht sich auf die Hauptgestalt in Denis Ivanovič Fonvizins (1745–1792) Komödie „Nedorosl‘“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Der Landjunker“). 266 Unter einem Vorreiter ist ein Reitknecht zu verstehen, der dem Wagen voranritt, um Platz zu schaffen. 267 „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich“, siehe das Evangelium nach Matthäus, 5. 3. 268 „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen“, siehe das Evangelium nach Matthäus 5. 9. 269 Die russische Redewendung lautet: „Kuda kon‘ s kopytom, tuda i rak s kleščej.“ 270 Gončarov schreibt: „čeloveki“, die kirchenslavische Pluralform. 271 Zitat aus Nikolaj Gogol‘s „Tote Seelen“: „‚Ganz wie es Euer Gnaden beliebt‘, antwortete der mit allem einverstandene Selifan, ‚wenn Sie mich auspeitschen wollen, dann peitschen Sie mich aus; ich habe rein gar nichts dagegen. Weshalb nicht auspeitschen, wenn man’s verdient hat? Das liegt in der Hand der Herrschaft. Auspeitschen ist richtig, der einfache Mann wird sonst übermütig, Ordnung muss sein. Wenn man’s verdient hat, immer drauflos; weshalb denn nicht auspeitschen?‘“ (Gogol, 2010, S. 54). 272 Siehe Anm. 301. 273 Bis heute halten sich durch nichts zu beweisende Gerüchte, das älteste der Trejgut-Kinder, Aleksandra (Sanja), sei eine leibliche Tochter Gončarovs gewesen (siehe z. B. Valkin, 2006). Unter anderem die hier nachzulesende Äußerung legt die Unhaltbarkeit dieser These nahe. 274 Das Murren – russ. ropot – spielt auf das biblische „Murren“ an, ein immer wiederkehrender Topos bei Gončarov, auch im „Oblomov“ thematisiert (4. Teil, Kap. 8), ebenfalls im Roman „Obryv“. 275 Die göttliche „Vorsehung“ korrespondiert hier mit dem biblischen „Murren“. 276 Hier verwendet Gončarov das Wort „sočinitel‘“. 277 *Anspielung auf ein Puškin-Gedicht von 1829 („Brožu li ja vdol‘ ulic šumnych“): „Mne vremja tlet‘, tebe cvesti.“ 278 Aus dem Jahr davor (1885) datieren einige Briefe Gončarovs an Aleksandra (Sanja) Trejgut, siehe Kapitel 3 im vorliegenden Band. Sie illustrieren die Zuneigung, die Gončarov für die drei Kinder empfand. 279 Aleksandr Vasil‘evič Golovnin (1821–1886), von 1861–1866 Minister für Volksbildung, Gončarov und Koni waren mit ihm bekannt, im Dezember 1880 hatte Golovnin ein Essen gegeben, bei dem neben Gončarov, Stasjulevič, Koni u. a. auch der Marinemaler Ivan Konstantinovič Ajvazovskij (1817–1900) zugegen war (siehe Alekseev, 1960, S. 244). 55 280 Siehe Anm. 248, dem Ehepaar Jazykov (Michail Aleksandrovič Jazykov und Ekaterina Aleksandrovna Jazykova, geb. Belavina) war Gončarov in jahrzehntelanger Freundschaft verbunden, siehe auch seine Briefe an beide wie auch an Ekaterina Aleksandrovnas Schwester, Ėllikonida Aleksandrovna Belavina, von der Weltreise mit der Fregatte Pallas (deutsch in: „Iwan Gontscharow, Briefe von einer Weltreise, ergänzt durch Texte aus der ‚Fregatte Pallas‘, herausgegeben und übersetzt von Erich Müller-Kamp). In seinem Vorwort beschreibt der Herausgeber des Bandes, wie eng Gončarov Jazykov jahrzehntelang verbunden war: „Das Manuskript [von „Obyknovennaja istorija“] hatte Gontscharow 1845 an seinen Freund Michail Alexandrowitsch Jasykow gegeben. Jasykow war leitender Angestellter der Staatli-

220 Anmerkungen chen Glasmanufaktur in Petersburg, aber zugleich literarisch sehr interessiert. Er gehörte zum Freundeskreis von Bjelinskij und gründete gemeinsam mit dessen Freund N. N. Tjutschew eine Art Kommisionsbuchhandlung, die sich die Belieferung der Provinz mit Literatur zum Ziel setzte. Jasykow fand Gontscharows Roman langweilig. Er ließ das Manuskript bei sich liegen. Gontscharow, der ohnehin kein Zutrauen zu sich selbst hatte, verlangte es nicht zurück. Erst nach einem Jahr gab es Jasykow an Nekrassow weiter […] Sein Erscheinen ‚machte furore‘“(Gontscharow, 1990, S. 11f.). 56 281 Die Puškin-Kommission hatte sich in Vorbereitung des 50. Todestages des Dichters gegründet. In einem Brief an Stasjulevič vom 5. Januar 1887 bittet Gončarov darum, seine Absage weiterzuleiten: „Guter, wohltätiger alter Herr [„alter Herr“ im russ. Original deutsch geschrieben], Michajlo Matveevič. Ich bin in schrecklicher Bedrängnis wegen dieser unglückseligen Puškin-Kommission. Nachdem Sie bei mir waren, habe ich wieder feuchte Luft geschluckt und musste den ganzen Tag das Bett hüten; ein böser Husten hat mir, wie ein Räuber, buchstäblich einen Schlag versetzt. Ich bewege mich nur mühselig vorwärts, esse kaum etwas und kann nicht schlafen. Steht mir der Sinn unter solchen Umständen nach der Kommission? Heute habe ich A. A. Kraevskij einen Brief geschrieben, in dem ich ‚jede – sowohl persönliche als auch nominelle – Teilnahme an den Sitzungen und vorgesehenen Ehrungen des Andenkens Puškins‘ ablehne. Ich habe ihn gebeten, morgen, d. h. bei der Sitzung am 6. Januar, meine Absage […] und meine Motive bekanntzugeben, d.  h. meine starke Unpässlichkeit. Ich weiß nicht, ob er das tun wird, oder nicht davon Kenntnis nimmt, das ist seine Sache. Er sagte mir, er (und nicht Stojanovskij) sei der Vorsitzende, folglich ist es auch seine Aufgabe. (Wenn wir uns sehen, sagen Sie mir doch, wie er sich verhalten hat, ja?) Ich jedenfalls werde nirgendwo hingehen, weder zu Sitzungen, noch zu irgendwelchen Ehrungen, höchstens zur Messe in der Konjušen[naja] Kirche, sollte ich bis zu diesem Datum nur etwas zu Kräften kommen. Meine flehentliche, dringliche Bitte an Sie besteht in Folgendem: 1. Vor der Kommission meine äußerste Unpässlichkeit und Schwäche zu bezeugen (da Sie mich gesehen haben und wissen, wie sehr meine Nerven zerrüttet sind und wie mutlos ich bin), besonders, wenn Kraevskij dies nicht tut. 2. Unter keinen Umständen meine Äußerungen über Puškin wiederzugeben, über seine Bedeutung (insbesondere den Vergleich mit dem Denkmal Krylovs), Sie wissen ja, all das, was wir während unseres Treffens besprochen haben und was Sie so gern auf der morgigen Sitzung in meinem Namen erklären wollten! Um Gottes willen, nein! Es ist jetzt ganz unnötig, gar schädlich. 1. möchte ich keine „Gänse aufschrecken“ [in Anspielung auf die letzten Zeilen aus Krylovs Fabel „Gusi“ – „Basn‘ ėtu možno by i bole pojasnit‘ – da čtob gusej ne razdraznit‘.“], und 2. würde diese Ihre Erklärung in meinem Namen bedeuten, dass ich mindestens mittelbar in der Kommission mitwirke: in meinem heutigen Brief an Kraevskij aber habe ich jegliche Teilnahme daran abgelehnt! Sollte es Ihnen genehm sein, so erklären Sie es vielleicht in Ihrem eigenen Namen! Im Brief an Kraevskij bitte ich außerdem all jene, die mich in die verschiedenen Versammlungen, Sitzungen und dergleichen schleppen wollen, gnädig mein vorgerücktes Alter, meine Augenschwäche und Schwerhörigkeit zur Kenntnis nehmen zu wollen, mir Frieden und Ruhe zu gönnen und mich alten Mann nicht zu quälen!

Anmerkungen

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Ich konnte feststellen, dass viele dieser Herren gar nicht Puškin und seinen Ruhm, sondern ihren eigenen Ehrgeiz im Sinn haben. Was bleibt mir, einem kranken, schwachen alten Mann übrig, als dem fernzubleiben und mich in meinem Winkel zu verkriechen! Das werde ich auch tun – andernfalls können mich allein diese Aufregungen – neben der Krankheit – ins Grab befördern. Setzen zumindest Sie sich für mich ein, als Freund, und bestätigen Sie, wie krank ich bin, dass ich jetzt nichts anderes tue, als zu husten und die Neujahrspillen [novogodnye piljuli] zu schlucken, dass ich vormittags nur für etwa eine halbe Stunde an die frische Luft gehe, nichts esse und schlecht schlafe. Ich hoffe, dass Sie meine untertänigsten Wünsche ehrlich, akkurat und freundschaftlich ausführen werden. Sollten Sie die Muße haben, so schreiben Sie mir doch ein paar Worte zu meiner Beruhigung, dass Sie diesen Brief erhalten haben und auch, dass Sie tun, was ich wünsche. Ich grüße Sie und Ljubov‘ Isaakovna. Leider kann ich, zu meinem Bedauern, lange, lange nirgends mehr hingehen, um nicht bettlägerig zu werden und gefährlich zu erkranken. Ich bin so erkältet und geschwächt, dass ich Sie bitte, sich nicht über mich zu beklagen! Wenn Sie zu mir kommen, werden Sie es natürlich sehen. Sonst empfange ich niemanden: ich darf nicht sprechen“ (Gončarov, 1912, S. 180f.). 282 Petr Isaevič Vejnberg (1831–1908), Literaturwissenschaftler, Übersetzer, Dichter. Im Dezember 1886 hatte Vejnberg Gončarov besucht und ihn gebeten, in der Kommission zur Vorbereitung der Feierlichkeiten anlässlich des 50. Todestages Puškins mitzuarbeiten (siehe Alekseev, 1960, S. 278 und vorige Anmerkung). 283 Am 30. Dezember 1886 hatte Gončarov Ljubov‘ Isaakovna Stasjulevič anlässlich des Todes ihres Bruders Lev Isaakovič Utin kondoliert. In diesem Brief heißt es u. a.: „Mein guter Freund [dobryj drug] Ljubov‘ Isaakovna! Ihren Familienkreis hat ein weiterer Verlust ereilt: aus den Zeitungen erfuhr ich vom Tod Ihres Bruders Lev Isaakovič. Seine letzten Lebensjahre waren kein Leben mehr, sondern nichts als Qual: ich wage anzunehmen, dass dieses traurige Ereignis bei Ihnen allen, den nahen Angehörigen, auch einen Seufzer der Erleichterung bewirkte, dass die Marter des Dulders ein Ende hat! Verzeihen Sie, dass ich, der ich Sie und Sof ’ja Isaakovna gut kenne und an allem Anteil nehme, was Sie betrifft, es mir erlaube, mir Ihre Gefühle derart zu erklären! […] Nehmen Sie den Ausdruck meiner lebhaften Anteilnahme an Ihrer familiären Trauer entgegen und geben Sie ihn bitte auch an Sof ’ja Isaak[ovna] weiter!! […] Vorläufig kann ich nicht zu Ihnen kommen (und auch zu niemand sonst), erst, wenn ich wieder völlig zu Kräften gekommen bin. Es ist mir regelrecht verboten, mich, insbesondere abends, auf einen weiten Weg zu machen. […] Wenn ich es schaffe, werde ich versuchen, mich heute zu Kraevskij zu schleppen, der in der Nähe wohnt [siehe Anm. 192, Kraevskij wohnte zu jener Zeit unter der Adresse: Litejnyj prospekt 36, einer Parallelstraße der Mochovaja ulica, in der Gončarov wohnte], wenigstens für eine halbe Stunde, um mich der Kommission zu erklären. Ich hoffe, dort auch Mich[ail] Matv[eevič] zu sehen, worüber ich mich sehr freuen würde. […] Würden Sie bitte auch Ihren Nachbarn meine herzlichen Grüße übermitteln: Baron Oras Osipovič [Goracij Osipovič Gincburg, siehe Anm. 132] und seiner gesamten lieben und guten Familie. Ich gratuliere ihm durch Sie zum Neuen Jahr und wünsche allen von Herzen Gesundheit und Wohlergehen. Richten Sie ihm doch bitte aus, dass ich zu meinem großen Bedauern in diesen Tagen weder selbst zu ihnen kommen noch jemanden bei mir empfangen kann. Meine Dienerin kränkelt auch“ (Gončarov, 1912, 179f.). 284 Gončarov hatte Konstantin Nikolaevič Pos‘et (1819–1899) während der Expedition mit der Fregatte „Pallas“ nach Japan kennengelernt, an der Pos’et im Rang eines Kapitänleut-

222 Anmerkungen nants teilgenommen hatte. Von 1874–1888 war Pos’et Verkehrsminister und seit 1882 Admiral. 285 Ljubov‘ Grigorev’na Gogel‘ (?– 1899) eine enge Vertraute Konis. 286 Am 12. Januar (nach heutigem Kalender am 25. Januar) wurde, und wird seit 2005 wieder, der „Tatjana-Tag“ [Tat’janin den‘] begangen, zunächst als Gedenktag anlässlich der Gründung der Moskauer Universität am 12. Januar 1755, dem Tag der heiligen Tatjana, später als Tag der Studenten und Absolventen. Gončarov hatte von 1831–1834 an der Moskauer Universität studiert. 57 287 Die Grußformel am Ostersonntag bzw. während der gesamten Osterwoche: „Christos voskres!“ – „Voistinu voskres!“, bei der persönlichen Begegnung folgt der dreimalige Osterkuss. 288 Boreas (gr. Βορέας – der Nördliche), in der griechischen Mythologie die Personifikation des winterlichen Nordwinds. In Gončarovs zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichtem Feuilleton von 1875, „Roždestvenskaja elka“ (siehe Gončarov, 1953 a, S. 99ff.), heißt es: „Von, gde-to v Morskoj ili Karavannoj, staričok ves‘ v snegu, Borej, čto li, s bumažnym derevom, ves‘ obvešan raznymi veščami.“ In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. November 2013 erschien diese Skizze in neuer deutscher Übersetzung und erstmals vollständig: „Da steht doch irgendwo, war’s in der Karawannaja oder in der Morskaja, in einem Schaufenster ein Alter, ganz mit Schnee bedeckt, das soll wohl Boreas sein, mit einem Papierbaum, an dem die verschiedensten Sachen hängen!“ (Gontscharow 2013 a). Bei den Gedichtzeilen handelt es sich um ein Zitat aus Gavriil Romanovič Deržavins (1743–1816) Gedicht „Na roždenie v severe porfirorodnogo otroka“ (1779) – „S belymi Borej vlasami i s sedoju borodoj, potrjasaja nebesami, oblaka sžimal rukoj.“ 289 „Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern“, mit diesen Worten reicht der Geistliche den Kelch zur Kommunion (Brief des Paulus an die Philipper, 2, 12.). 290 Zitat aus dem Johannesevangelium (4. 21), wo es heißt: „Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.“ „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (4. 24). 291 Ein Osterkuchen (kulič) ist ein meist rundes, hohes Osterbrot, eine der traditionellen Osterspeisen. Auf dem Zuckerguss wird häufig der Schriftzug „ХВ“ angebracht (Christos voskres – Christus ist auferstanden). Am Karsamstag oder am Ostersonntag werden kulič und pascha (siehe nächste Anm.) in der Kirche geweiht und später beim Fastenbrechen verzehrt. „In der Nacht zum Ostersonntag nehmen die Dienstboten oder eines der Mitglieder der Familie Kuchen und Eier zur Kirche mit, wo innerhalb oder außerhalb des Gotteshauses lange schmale Tische errichtet sind, auf denen kulič, pascha und Eier aufgestellt werden“ (Langenscheidts Sachwörterbücher, Land und Leute in Russland, 1909, S. 363). Nach der Beschreibung des Mitternachtsgottesdienstes heißt es weiter, „alsdann treten die Priester zu den Tischen und weihen die auf ihnen befindlichen Kuchen und Eier“ (ebenda, S. 364). 292 Die pascha ist ebenfalls ein unabdingbarer Bestandteil des Osterfests, eine Süßspeise aus Quark, Sahne, Butter, Zucker, Eiern und Gewürzen. 293 Svetloe Christovo Voskresenie – Lichte Auferstehung Christi. 294 Jakov Petrovič Polonskij (1819–1898), Dichter und Prosaautor. Polonskij hatte 1878 Vera Zasulič nach dem Prozess (siehe Anm. 359) das Gedicht „Uznica“ („Die Gefangene“) gewidmet. Er veranstaltete in seiner Petersburger Wohnung seit den 1860er Jahren bis zu sei-

Anmerkungen

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nem Tod „Freitagsgesellschaften“ („Pjatnitsy“), zu denen sich auch I. A. Gončarov, A. N. Majkov, N. S. Leskov, V. M. Garšin, I. S. Turgenev, I. K. Ajvazovskij, I. P. Repin, P. I. Čajkovskij, S. V. Rachmaninov, A. G. Rubinštejn u. a. einfanden. Am 10. April 1887 wurde der 50. Jahrestag seiner literarischen Tätigkeit in St. Petersburg begangen. In seinem unter dem Titel „Aus der Literatenwelt“ 1996 veröffentlichten Tagebuch beschreibt Friedrich Fiedler einige dieser jours fixes (Fiedler, 1996, S. 63ff.). 295 Im russischen Original: literaturnyj šabaš. 58 296 Jakov Karlovič Grot (1812–1893), Sprachwissenschaftler. Am selben Tag (6. April 1887) hatte Gončarov an Stasjulevič geschrieben: „Heute Vormittag beispielsweise kam Jakov Karlovič in der elften Stunde hereingestürmt: er war, stellen Sie sich vor, bei A. V. Pletneva, und überführte mich, ich hätte gestern bei Ihnen zu Mittag gegessen (dieses Schmeichelkätzchen hat keine Hemmungen gehabt, ihm alles zu berichten, was sie bei Ihnen gesehen und gehört hat) und er, Hals über Kopf zu mir“ (Gončarov, 1912, S. 183). 297 Jakov Petrovič Polonskij, siehe Anm. 294. 298 Aleksandra Vasil’evna Pletneva, siehe Anm. 56. 60 299 Es handelt sich um den Zyklus „Slugi starogo veka“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Dienstboten vergangener Tage“), siehe Alekseev, 1960, S. 283. 300 Am 27. Mai 1887 erhielt Gončarov vom Verleger Adol’f Fedorovič Marks (1838–1904) einen Vorschuss in Höhe von 2000 Rubel für die für seine wöchentlich erscheinende populäre Zeitschrift „Niva“ vorgesehenen beiden Skizzen „Valentin“ und „Anton“ aus dem „Diener“– Zyklus, siehe Alekseev, 1960, S. 283. 61 301 Aleksandra Ivanovna Trejgut war nach Ust‘-Narva gefahren, um dort ein Sommerhaus zu finden. Der baltische Badeort (heute Estland) mit seinem sieben Kilometer langen Sandstrand, der auch den deutschen Namen Hungerburg trug (russ. Gungerburg, heute estnisch NarvaJõesuu), hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Kurort entwickelt. Sommergäste waren u. a. I. E. Repin, I. I. Šiškin, N. S. Leskov, P. I. Čajkovskij und viele andere. In Meyers Konversations-Lexikon (Neunter Band, 1895, S. 67) heißt es: „Hungerburg (russ. Ust-Narowa), Flecken und Badeort (seit 1876) am finnischen Meerbusen, an der Mündung der Narowa, etwa 13 km von Narwa entfernt, jährlich von ca. 3000 Badegästen besucht.“ (Das deutsche Ostseebad Heringsdorf hatte zu jener Zeit jährlich ca. 9000 Badegäste.) 302 Marfa Boreckaja (? – 1503?; bekannt als Marfa Posadnica – Marfa, Frau des Posadnik, Statthalter von Novgorod, eine streitbare Anführerin der Partei der Bojaren der Novgoroder Republik im Kampf gegen Moskau. 1802 veröffentlichte Nikolaj Karamzin die Erzählung „Marfa-Posadnica ili Pokorenie Novagoroda, istoričeskaja povest‘“, in deutscher Übersetzung 1803: Nikolai v. Karamsin, „Marfa Possadniza oder die Bezwingung Nowgorods“, herausgegeben von Johann Richter, Leipzig 1803. 303 Die Mochovaja ulica, in der sich Gončarovs Wohnung befand, liegt unweit des Sommergartens.

224 Anmerkungen 304 Über die Kapricen der Haushälterin siehe Balakin, 2012, S. 97ff. Aus vielen der Briefe ist ersichtlich, dass Gončarov mehr als üblich auf die Befindlichkeit seiner Haushälterin Rücksicht nahm. Ob daraus aber, wie gelegentlich vermutet wird, eine Art familiärer Gemeinschaft abgeleitet werden kann, oder ob Gončarov einfach „seine Ruhe“ haben wollte (der Charakter von Aleksandra Trejgut wird vielfach als zänkisch, hysterisch usw. beschrieben), gehört ins Reich der Spekulation. 305 Andrej Kraevskij, siehe auch die Anmerkungen 192 und 281, war etwa gleichaltrig mit Gončarov. 306 Das Kapitel I, „Valentin“, aus dem Zyklus „Slugi starogo veka“. 307 Aleksej Feofilaktovič Pisemskij (1821–1881), Schriftsteller. 308 Das Kapitel IV, “Matvej“. 309 Siehe Anm. 312 und 317. 310 Siehe u. a. Anm. 22 und 36. 62 311 * Der dänische Literaturkritiker und Philosoph Georg Brandes (1842–1927) hatte 1887 St. Petersburg besucht und dort Vorlesungen über russische und französische Literatur gehalten. 312 Der Schriftsteller, Journalist und Übersetzer Viktor Petrovič Kljušnikov (1841–1892). Von 1870 bis 1892 war er, mit Unterbrechungen, Chefredakteur der Zeitschrift „Niva“. 313 Siehe Anmerkung 300. 314 Vermutlich Sof ’ja Andreevna Tolstaja (1824–1895), die Schwester Aleksandra Andreevna Tolstajas (1817–1904), der Hofdame der Großfürstin Marija Nikolaevna, der Tochter des Zaren Nikolaj I. Mit Aleksandra Andreevna Tolstaja (einer entfernten Verwandten und Vertrauten Lev Tolstojs) war Gončarov gut bekannt. Lev Tolstojs Frau hieß ebenfalls Sof ’ja Andreevna, ist hier aber nicht gemeint. 315 Hinweis auf die Arbeit an „Na rodine“, siehe u. a. Anm. 323. 316 Siehe Balakin, Odnim letom v Gungerburge, 2012 a. 63 317 Am 21. Juni 1887 schreibt Gončarov aus Hungerburg an den Großfürsten Konstantin Konstantinovič Romanov u. a.: „Der Namenstag [tezoimenitstvo] des kleinen Fürsten [Ioann Konstantinovič, 1886–1918] fällt zu meinem großen Vergnügen mit meinem Namenstag zusammen, ich hätte im Kreise meiner Freunde und Bekannten gern das Weinglas auf die Gesundheit des Namenstagskindes und seiner Eltern erhoben, gäbe es hier denn Freunde, Bekannte … und Wein. Doch hier gibt es nichts dergleichen: Bier, Kwas, Essig usw., so viel man will, Wodka ebenfalls, Wein aber nicht. Ich klage nicht darüber, auch nicht über die Abwesenheit der Bekannten: sie würden nur den tiefen Frieden und die Stille des hiesigen am Meer gelegenen Dorfs stören. Es liegt ganz in einem Kiefernwald versteckt. Die Häuser und Häuschen sind, wie die Vorwerke in Kleinrussland (die ich nie gesehen habe) von Gärten und Gärtchen umgeben. Tiefste Stille! […] Der Name Gungerburg (Hungerburg) klingt ein wenig bedrohlich: in Ermangelung eines Marktes ernähren sich die Bewohner von Lebensmitteln, die durch die Händler direkt in die Häuser geliefert werden. Würden sie aus irgend einem Grund beschließen, nicht zu erscheinen, so müsste man womöglich Hunger [im Original deutsch] leiden. Doch die hiesige Geschichtsschreibung berichtet darüber nichts. An ‚Hun-

Anmerkungen

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gersnöte‘, ‚Erdbeben‘ oder die ‚Sintflut‘ erinnert sich niemand hier, ‚Feuer‘ aber kommen vor: im vergangenen Jahr hat ein Brand die Hälfte des Ortes vernichtet, doch man verlor nicht den Mut, hat ihn beherzt wieder aufgebaut und vermietet jetzt die ungestrichenen und nicht tapezierten Holzhäuser. […] Ich will mich brüsten, dass auch ich etwas zustande gebracht habe: genauer gesagt, habe ich einige Erzählungen oder Skizzen geschrieben, die ich bereits in Petersburg begonnen hatte. Ich habe sie einigen ‚Sachverständigen‘ vorgelesen, denn Selbstbetrug ist mir fremd, im Gegenteil, ich habe kein Selbstvertrauen, bis zum Kleinmut. Die ‚Sachverständigen‘ fanden die Skizzen ‚sehr lebendig‘, sie würden, wie sie sagten, an meine ‚früheren Arbeiten erinnern‘. Das sind nicht meine, sondern ihre Worte, weshalb ich sie auch in Anführungszeichen gesetzt habe. Diese Erzählungen sind für die Illustrierte Niva gedacht, für den Januar [es handelt sich um die Dienerskizzen]. Sie sollen die Kosten für das Sommerhaus und meinen gesamten Sommeraufenthalt decken“ (Gončarov, 1994, S. 197f.). Siehe Anm. 274. Siehe Balakin, 2012 a. Siehe das Kapitel „Krepostnye aktery i muzikanty“ in: Andrej Jacevič, Krepostnoj Peterburg puškinskogo vremeni, Puškinskoe obščestvo. Leningrad 1937. In seinen Erinnerungen beschreibt Aleksandr Nikitenko ebenfalls ein leibeigenes Orchester zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Nikitenko, 2005, S. 59f.). Mittagessen – siehe Anm. 134. Im Original deutsch. Die Gebäude, Straßennamen, Ladenschilder usw. in den Ostseegouvernements waren zweisprachig beschriftet – russisch und deutsch. Es handelt sich um die Skizze „Na rodine“ („In der Heimat“), die 1888 im „Vestnik Evropy“ in zwei Folgen (1 und 2) erschien. In der Vorbemerkung heißt es u. a.: „Warum ich die Feder über das Papier führe, hat einen einfachen, prosaischen Grund, nämlich: neben den Spaziergängen, Meerwasserbädern, dem Mittagessen, dem Frühstück, dem untätigen Herumsitzen im Schatten auf der Veranda, bleiben mir an den Vormittagen immer noch drei Stunden, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Hier in Ust‘-Narva lebt es sich still, zurückgezogen und ungestört. Die Sommerhäuser sind bald von kleinen, bald von großen Gärten umgeben, so dass die Sommerfrischler nicht wissen, was bei den Nachbarn vorgeht. Man kann sich bei der Musik treffen, zu der sich das Publikum einfindet, oder am Meer während der Badestunden [Männer und Frauen badeten zu verschiedenen, fest geregelten Tageszeiten] oder auch bei den abendlichen Spaziergängen am Strand. Da ich weder zur Musik gehe, noch im offenen Meer bade, treffe ich meine wenigen Bekannten lediglich abends am Strand, sofern einem der stürmische Wind nicht den Hut vom Kopf reißt und keinen Sand in die Augen weht. So kommt es, dass die Sommerfrischler nicht auf Schritt und Tritt zusammentreffen und einander nicht stören, wie es beispielsweise in der Rigaer Gegend und an anderen belebten Stränden der Fall ist. In diesen drei freien Stunden also ziehe ich die Vorhänge zu, um meine kranken Augen vor der Sonne zu schützen, und krame mit der Feder in der Hand in meinen Papieren. Auf diese Weise hat sich allmählich, Tag für Tag, ein ordentlicher Stapel beschriebener Blätter angesammelt. […] Ust‘-Narva, den 11. August 1887“ (Gončarov, 1986, S. 128ff.). Am 9. März 1888 heißt es in einem Brief an Lev Tolstoj: „Ich hatte Sie in meinem Brief gebeten, nur das Vorwort zu den ‚Slugi‘ zu lesen (in der ‚Niva‘), das freimütig erklärt, weshalb ich nichts über das Volk und für das Volk schreiben konnte, dessen Lebensweise, Gebräuche, Bedürfnisse, Angelegenheiten und Leidenschaften ich nur vom Hörensagen kenne. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Vorwort überflogen haben und ob Sie mir Recht geben oder nicht. Doch

226 Anmerkungen unerwartet für mich haben Sie im ‚Vestnik Evropy‘ auch meine Erinnerungen ‚Na rodine‘ gelesen – und Sie billigen sie. Ich denke mir, ob Sie das nicht vielleicht nur aus Güte und aus Nachsicht mit dem alten Mann tun. Viele andere äußern sich ebenfalls lobend, ich selbst aber habe mich ein wenig geniert, in der Presse mit so blassen und nichtssagenden Erzählungen zu erscheinen. Es taugt nichts. Und es riecht auch nach altem Plunder: ganz so als würde Großvater [im Original deutsch] dasitzen und der Jugend beim Tanz zuschauen, es aber plötzlich nicht mehr aushalten, an früher denken und das Tanzbein schwingen. Natürlich wird man ihm applaudieren. Im ‚Journal de St. Petersbourg‘ heißt es unter allerlei Komplimenten, ‚so schreibt man heute nicht mehr.‘: dies ist ein zweischneidiges Kompliment, es bedeutet wohl auch, dass man so nicht mehr schreiben soll. Sie sagen, ich solle meine Erinnerungen fortsetzen: ich danke Ihnen für die guten Worte. Eine Fortsetzung ist aber schwierig, denn weiter folgen frischere, unserer Zeit nähere Erinnerungen. Ich würde das berühren müssen, was noch nicht vorbei und noch lebendig ist. Es gibt noch Zeugen der nahen Vergangenheit. Dies alles zu berühren ist unpassend. Ich will aber schauen, ob ich nicht doch noch etwas finde, und wenn ich die Lust und Kraft habe, werde ich es versuchen“ (Gončarov, 1955, S. 498f.) 324 „Slugi starogo veka“ – siehe Anm. 227 und 299. 325 Am 27. Juni 1887 schrieb er an Stasjulevič u. a.: „Sie klagen, dass Ihnen dort angenehme Bekannte fehlen: klagen Sie nicht, bald kommt der Allerangenehmste, um den sich Dubbeln, Hungerburg, Karlsbad und viele andere Kurorte streiten. Anatolij Fedorovič macht sich zu Ihnen auf den Weg. Gestern schrieb er, dass er Leberschmerzen habe und man ihn in Ihre Gefilde schickt und dass er Anfang Juli abreisen wird. […] Ich habe hier nun wirklich keine Bekannten mehr – und das ist gut, ach, wie gut das ist! Es kommt niemand zu mir und nötigt mich zum Gegenbesuch. Ich fühle mich wie jener König, wandele durch meine drei Obergemächer, über die drei Veranden und am Meeresufer entlang [„Er – der König der Moabiter – aber saß in dem kühlen Obergemach, das für ihn allein bestimmt war“, Buch der Richter, 3. 20; im Russ.: „car‘ sidel odin v verchnej komnate svoego letnego dvorca.“]. Aus dem Zugabteil hätten Sie mich eigentlich sehen können, aber vermutlich haben Sie mich wegen des Sommerhuts nicht erkannt. Bekannte bringen außer Verlusten auch noch die Unbequemlichkeit mit sich, dass sie womöglich vormittags zu mir kommen und mich stören würden, das Papier vollzukritzeln. Jeden Tag schreibe ich noch immer drauflos, habe schon viele Bögen vollgeschrieben, doch das alles braucht niemand, es ist für niemanden von Interesse, nicht einmal für mich selbst. Würde man etwas davon im Vestn[ik] Evr[opy] veröffentlichen, so würden auf meinen und Ihren Kopf Eier- und Nussschalen niederprasseln“ (Gončarov, 1912, S. 191f ). Am 16. Januar 1888 nimmt er noch einmal darauf Bezug und schreibt an Stasjulevič: „Bisher hat man Sie und mich wegen der Rodina Gottseidank noch nicht mit Schalen beworfen. Gestern strich man mir in der Novoe Vremja sogar über den Kopf. Wer weiß, was sie über den zweiten Teil sagen werden. Vielleicht … nehmen sie nun Bratäpfel!“ (ebenda, S. 198). 326 Koni hielt sich im Juni 1887 einige Tage lang in Jasnaja Poljana auf. Als Resümee schrieb er später in seinen Erinnerungen, er habe die Begegnungen mit Lev Tolstoj (der weitere folgten) stets als eine „Desinfektion der Seele“ empfunden, auch wenn er nicht in allem mit ihm einer Meinung gewesen sei. Tolstoj wurde durch Koni zu seinem Roman „Voskresenie“ („Auferstehung“) angeregt, dessen Sujet auf einen Fall aus Konis Gerichtspraxis zurückgeht, von dem dieser Tolstoj während des Besuchs im Juni 1887 erzählt hatte.

Anmerkungen

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327 Offenbar teilte Koni Tolstojs Anschrift mit, worauf Gončarov Lev Tolstoj am 22. Juli 1887 einen ersten Brief sandte, dem, nachdem ihm Tolstoj postwendend geantwortet hatte, weitere folgten. 64 328 Neunaugen, auch als Lampreten bezeichnet, ein heute vom Aussterben bedrohtes fischähnliches Wirbeltier. „Das Fleisch der Lamprete ist“, laut Oekonomische Encyklopädie von J. G. Krünitz, „von einem außerordentlich feinen Geschmacke.“ 65 329 Im III. Kapitel von „Na rodine“ wird Petr Andreevič Jakubov näher charakterisiert. Unter dem Namen Jakubov beschrieb Gončarov seinen Patenonkel, Nikolaj Nikolaevič Tregubov (1774–1849), „er vertrat Vaterstelle bei uns und verwöhnte uns“ (Gončarov 1886, S. 139, 141). 66 330 Auch im „Oblomov“ verwendet Gončarov im Ersten Teil, Kap. 6, das Bild der Säulen des Herakles: „So verbrachte Oblomow seine Studienzeit. Das Datum, an dem er seine letzte Vorlesung gehört hatte, markierte die Heraklessäulen seiner Gelehrsamkeit“ (Gontscharow, 2012a, S. 93). 331 Im russischen Original heißt es hier wörtlich: „Zola došel do Gerkulesovych stolbov poezii chleva i svinstva.“ 332 Zola und den Naturalismus lehnte Gončarov ab. 67 333 Außer der Unsicherheit beim Gehen in der Dämmerung gab es offenbar einen weiteren Grund, warum er sich in der Öffentlichkeit ungern mit der Hausangestellten sehen ließ: den der öffentlichen Meinung. Darüber berichtet Anatolij Koni in einem kürzlich von A. Ju. Balakin publizierten, bis dahin unveröffentlichten Erinnerungsfragment: „‚Sie sollten spazieren gehen, sich ein wenig zerstreuen, dann würde es Ihnen besser gehen‘“, sagte Koni zu Aleksandra Ivanovna. „Sie winkte ab. ‚Nein, wie sollte ich, meine Situation ist doch sonderbar: mit Ivan Aleksandrovič ist es unpassend, allein aber, das geht auch nicht‘“ (Balakin, 2012, S. 101). 334 Mit diesem Zitat aus Puškins „Boris Godunov“ („Ešče odno poslednee skazan’e, i letopis‘ okončena moja“ – „Nur ein Ereignis noch, es ist das letzte, und dann ist meine Chronik abgeschlossen“) endet die Vorbemerkung zu „Na rodine“ – siehe Anm. 323. 335 Konstantin Nikolaevič Pos‘et – siehe Anm. 284. 336 Kensuke Andō (1854–1924). Die Übersetzung von „Fregat Pallada“ ins Japanische kam nicht zustande. Erst 1898 erschien ein Auszug aus „Russkie v Japonii“ („Russen in Japan“), die vollständige Übersetzung des Kapitels „Russkie v Japonii“ und der Epilog „Čerez dvadcat‘ let“ („Zwanzig Jahre später“) erschien 1930. Eine vollständige Übersetzung des Werks „Fregat Pallada“ ins Japanische steht noch aus (vgl. Sawada, 1998, S. 80–90).

228 Anmerkungen 68 337 Ein wasserspendendes Gefäß aus Metall mit einem darunter befindlichen Waschbecken, unter dem sich wiederum ein Eimer für das Schmutzwasser befand. 338 Siehe Anm. 294. 339 Vasja Trejgut. 69 340 Im Januar 1888 war in der Nr. 2 der Zeitschrift „Niva“ das Kapitel II, „Anton“, aus dem Dienerzyklus erschienen (siehe Alekseev, 1960, S. 290). Im Katalog „Izdanija s darstvennymi nadpisjami iz sobranija biblioteki Puškinskogo Doma“ sind Gončarovs Widmungen für Koni in den Niva-Ausgaben des Diener-Zyklus aufgelistet (Beljaev, 2014, S. 118). 341 Evgenij Isaakovič Utin, siehe Anm. 152, Vladimir Danilovič Spasovič (1829–1906), Jurist und Literaturwissenschaftler, Konstantin Konstantinovič Arsen’ev (1837–1919), Schriftsteller und Rechtsanwalt und Aleksandr Nikolaevič Pypin (1833–1904), Literaturwissenschaftler, gehörten zum Kreis des „Sovremennik“. 342 Das spätere Kapitel IV, „Matvej“. Das dritte Kapitel des Dienerzyklus, „Stepan s sem’ej“ („Stepan und seine Familie“), wurde von Gončarov erst später in Druck gegeben, es erschien in der Nr. 18 (April 1888). 343 Am 16. Januar 1888 schrieb Gončarov in dieser Angelegenheit an Stasjulevič: „16. Januar 1888. Allerliebster Michajlo Matveevič. Gestern stellte mir Anatolij Fedorovič seinen Kurier zur Verfügung, der Ihnen auf sein Geheiß die Nummern 2 und 3 der Niva in je zwei Exemplaren vorbeibringen wird (für Sie und für Ljubov‘ Isaak[ovna]) und außerdem je ein Exemplar beider Nummern für A. N. Pypin und K. K. Arsen’ev, adressiert an Sie, doch in gesonderten Umschlägen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, sie an ihren Bestimmungsort zu befördern. Die Exemplare für E. I. Utin und V. D. Spasovič will der Kurier selbst abgeben, da sie in Ihrer Nachbarschaft wohnen! Wie Sie wissen, habe ich niemanden, den ich schicken könnte, Gott weiß, wie lange die Niva bei mir auf eine passende Gelegenheit gewartet hätte. Sie haben jetzt Hochbetrieb und sind auch nicht in der Lage, einen Bürodiener zu schicken, noch dazu bei dieser Kälte und in diese Entfernung. Le jeu ne vaut pas la chandelle“ (Gončarov, 1912, S. 197f.). 70 344 Vermutlich Nikolaj Ivanovič Tichomirov (1843–?), der im Band „Vračebnye tajny doma Romanovych“ von Boris Aleksandrovič Nachapetov als Arzt „i ego sem‘i […] po glaznym boleznjam“ [es handelt sich um Aleksandr III.] bezeichnet wird und an anderer Stelle als „okulist imperatricy“. 71 345 Die Zeitschrift (Vestnik Evropy, 1888, 1, janv.–fevr.) trägt folgende Widmung Gončarovs: „Für Anatolij Fedorovič Koni, den Taufpaten dieses Schriftstücks, das am Meeresufer von Ust‘-Narva im Sommer 1887 zur Welt kam, vom für seine freundschaftliche Zuneigung für seine Feder dankbaren Autor, am 2. Februar 1888“ (Beljaev, 2014, S. 117f.). 346 Die Pantelejmonovskaja ulica in St. Petersburg (heute ul. Pestelja) kreuzt die Mochovaja ulica.

Anmerkungen

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347 * Der Senator Viktor Antonovič Arcimovič (1820–1893). 348 * Vladimir Danilovič Spasovič, siehe Anm. 341. 349 Siehe den ein Jahr später publizierten Text „Narušenie voli“ („Missachtung des Willens“), abgedruckt im vorliegenden Band. 350 Hier gebraucht Gončarov das Fremdwort „manuskript“ (statt „rukopis‘“). 351 * Es handelt sich um das Buch „Sudebnye reči. 1868–1888“ („Reden vor Gericht. 1868– 1888“) von Anatolij Koni, das soeben erschienen war. 352 „Pskovitjanka“ („Das Mädchen aus Pskov“) – die erste Oper von Nikolaj Rimskij-Korsakov (1844–1908). 353 Bücher wurden bis ins 19. Jahrhundert in Broschur, mit unbeschnittenen Druckbögen und einem einfachen Deckblatt (Papierumschlag) produziert und später vom Käufer oder Autor mit einem höherwertigen, schmückenden Einband versehen. Gončarov, der schon zu Lebzeiten viele seiner Bücher nach der Lektüre nach Simbirsk schickte, als Geschenk für die Karamzin-Bibliothek, legte keinen Wert auf die äußere Hülle eines Buches. Die meisten der erhalten gebliebenen Exemplare dieser Büchergaben an die Karamzin-Bibliothek in Ul‘janovsk-Simbirsk sind denn auch einfache broschierte Ausgaben. 354 Siehe den Katalog der Lenin-Bibliothek in Ul‘janovsk (Ul‘janovskaja naučnaja biblioteka imeni V. I. Lenina): I. A. Gončarov, Dar v Simbirskuju Karamzinskuju obščestvennuju biblioteku. Ul‘janovsk 2012. 355 Russ. hier „smuščenie“, was Unruhe, Aufregung, Befangenheit, Betroffenheit, Bestürzung, Verwirrung bedeuten kann. 73 356 Siehe die Anmerkungen 287, 291, 386. 357 Die Formel „Da voskresnet Bog i rastočatsja vrazi Jego“ – „Der Herrgott möge auferstehen, und Seine Feinde mögen weichen“ ist Bestandteil der russisch-orthodoxen Osterliturgie. In einer „Pour et contre. Kapitel aus einem Roman“ überschriebenen Liebeserklärung in Briefform an Elizaveta Vasil’evna Tolstaja (1827–1877) hatte Gončarov 1855 diese Formel quasi als Bannspruch in Liebesdingen bereits gebraucht: „‚Isčezni, isčezni okajannyj’, načal on skorogovorkoj, begaja po komnate – ‚čur menja, čur menja, Gospodi, Gospodi! Da voskresnet Bog i rastočatsja vrazi Ego!!! Ja bolen eju, pošli poskorej za lekarem‘“ (Gončarov, 1913, S.  228). „‚Weiche von mir, weiche von mir, du Verfluchter!‘, sprudelte er heraus und lief durchs Zimmer. ‚Verschone mich, verschone mich, Herr im Himmel! Der Herrgott möge auferstehen, und seine Feinde mögen weichen!!! Ich bin ihr verfallen, lass schnell einen Arzt kommen“ (Gontscharow, 2013, S. 87). 358 Siehe Anmerkung 274. 359 Vera Ivanovna Zasulič (1849–1919), Anhängerin der Narodniki, hatte 1878 ein Attentat auf das Stadtoberhaupt von St. Petersburg, F. F. Trepov (1809 oder 1812–1889), verübt, das dieser schwer verletzt überlebte. Anlass war Trepovs Befehl, den politischen Gefangenen A. S. Bogoljubov auspeitschen zu lassen, weil dieser während eines Hofgangs vor Trepov nicht die Mütze abgenommen hatte. (Seit 1863 waren körperliche Züchtigungen in Russland gesetzlich verboten.) Vera Zasulič wurde in einem sensationellen Prozess, dem der damals vierunddreißigjährige Koni vorsaß, freigesprochen. Anatolij Koni wurde damit zum Vorbild der demokratischen Bewegung.

230 Anmerkungen 360 Gončarov verwendet hier, wie z. B. auch im „Oblomov“, das deutsche Wort „gumanitet“, nicht das im Russischen übliche „gumannost‘“. Im „Oblomov“ heißt es „net togo, čto tam u vas nazyvaetsja gumanitetom“ (Gončarov, 2000, S. 27). 361 * Es handelt es sich um Konstantin Arsen‘evs (siehe Anmerkung 341) Rezension des Buches von Anatolij Koni „Sudebnye reči. 1868–1888“, die unter dem Titel „Russkoe sudebnoe krasnorečie“ erschien. 362 „Maria hat das gute Teil erwählt“, Evangelium nach Lukas 10, 42. 363 Ein Brief vom 4. Mai 1888 an Ljubov‘ Stasjulevič mag noch einmal die enge, freundschaftliche Verbundenheit Gončarovs mit dem Ehepaar Stasjulevič illustrieren: „Ich danke Ihnen, herrlichste Ljubov‘ Isaakovna, für Ihre liebenswürdige Frage nach meiner Gesundheit. Ihr Diener kam, als ich gerade schlief. Was soll ich sagen? Es geht allmählich mit mir zu Ende, vermutlich lässt das endgültige Ende nicht mehr lange auf sich warten. Sollte Mich[ail] Matv[eevič] fragen, was los ist, wie es mir geht, so sagen Sie ihm (und den anderen, wen es interessiert): ‚moriturus te salutat‘. Morgens gehe ich noch irgendwie unsicheren Schrittes in der Nähe meines Hauses spazieren, doch nach dem Frühstück schlafe ich ein, wo ich gerade sitze. […] Ich grüße Sie, Ihre lieben Nachbarn, sowohl die direkten als auch die weiter entfernten, womit ich Sof ’ja Isaakovna und ihren husband and all her honorable family meine. Ihr altes, Sie sehr liebendes Alterchen“ (Gončarov, 1912, S. 201). 364 Wie häufig, schreibt er hier „njan’ka”. 74 365 Das Rigaer Commerzhotel (auch Hôtel de Commerce) befand sich auf dem Theaterboulevard 13 (Teatral’nyj bul’var 13). 366 Das Restaurant Donon, benannt nach seinem Inhaber George Donon, Naberežnaja Mojki 24. Hier verkehrten u. a. Minister, Großfürsten, die künstlerische Boheme, Schriftsteller, es war eines der luxuriösesten Restaurants Petersburgs, bekannt für seine erlesenen Speisen und Getränke. Jean-Pierre Cubat, zunächst Chef-Koch am Zarenhof von Aleksandr II. und Aleksandr III., eröffnete 1886 in St. Petersburg das „Pariser Café“ in der Bol’šaja Morskaja ul. 16, das er ein Jahr später zum Luxusrestaurant „Cubat“ ausbaute (vgl. Peterburgskie traktiry i restorany. Azbuka-klassika. St. Petersburg, 2006). 367 Aleksandr Filippovič Klark – Gončarov schreibt Kljark – (1821–1906), ein Verwandter und Nachbar der Stasjulevičs (siehe Alekseev, 1960, S. 333). 368 Zitat aus Puškins Elegie “Bezumnych let…“: „Sulit mne trud i gore […] No ne choču, o drugi, umirat‘, […] I možet byt‘ – na moj zakat pečal’nyj, blesnet ljubov‘ ulybkoju proščal’noj.“ 369 1887 war die „Obyknovennaja istorija“ in Paris unter dem Titel „Simple histoire“ in französischer Übersetzung erschienen (übersetzt von I. D. Gal‘perin-Kaminskij). 370 Nadežda Aleks[eevna] Utina, Ehefrau von Evgenij Isaakovič Utin, dem Bruder von Ljubov‘ Isaakovna Stasjulevič (siehe Anm. 152). 75 371 372 373 374

Evangelium nach Markus 5, 36. Im Deutschen schwer wiederzugeben: „služit‘ delu ili delam“. Zitat aus Aleksandr Puškins Poem „Cigany“ („Die Zigeuner“). Bezieht sich vermutlich auf Puškins Gedicht „N. N.“ („Ja uskol’znul ot Ėskulapa, Chudoj, obrityj – no živoj“).

Anmerkungen

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In einem Brief Gončarovs aus dem Ausland an Michail Stasjulevič vom 07./19. Juni 1868 heißt es in diesem Zusammenhang: „Vergebens wartete ich, dass mich jemand verstand, beruhigte, freundlich zu mir war, vergebens wandte ich mich an die Frauen – sie verstanden es nicht und versetzten mir unbarmherzige Hiebe, ohne zu begreifen, das dies dasselbe ist, wie einen Blinden zu schlagen oder ein Kind. Diese Hiebe und das gehässige, rohe Lachen haben in mir unauslöschliche Spuren hinterlassen. Nun suche ich allein in meiner Arbeit Trost: wenn ich sie zu Ende bringe, werde ich zur Ruhe kommen, nur allein dadurch – dann werde ich mich zurückziehen, mich in einem Winkel verstecken und dort sterben. Unglücklicherweise hat mir das Schicksal keinen eigenen Winkel beschert, nicht einmal einen kleinen; ich habe kein Nest, weder ein Adelsnest noch ein Vogelnest, und weiß selbst nicht, wohin mit mir. Ständig außerhalb Russlands zu leben, wie es Turg[enev] tut, das kann ich nicht: ein Jahr, das ginge vielleicht, im nächsten aber würde es mich vermutlich heimwärts ziehen, obwohl ich kein sogenanntes home besitze“ (Gončarov, 1912, S. 16). 375 Im Russischen hier „plotskaja nečistota“. 376 Da Gončarov sein Privatleben sorgsam abschirmte und am Ende seines Lebens auch fast alle persönlichen Schriftstücke vernichtete, ist uns lediglich die romantische Verklärung Elizaveta Tolstajas aus den Jahren 1855/56 bekannt, nachdem 1913 ein Briefkonvolut von 32 Briefen bzw. kurzen Billets Gončarovs an Tolstaja auftauchte, das im gleichen Jahr in der Zeitschrift „Golos minuvšego“ erschien. Diese Briefe Gončarovs, die von seiner unerwiderten Liebe zeugen, wurden, ergänzt durch andere Materialien, 2013 unter dem Titel „Herrlichste, beste, erste aller Frauen“ in deutscher Übersetzung publiziert (siehe Gončarov, 1913; Gontscharow, 2013). Sämtliche andere Gončarov nachgesagte Affären, die es zweifellos gab, betreffen das Reich der Spekulation. 377 Puškin, „Evgenij Onegin“, 8. Buch, XXIX („Ljubvi vse vozrasty pokorny“). Zitiert nach A. Puschkin. Gedichte. Poeme. Eugen Onegin, Berlin 1947 a, übersetzt von Th. Commichau. 378 Hier „židy“. 379 Vasja Trejgut. 380 * M. N. Ljuboščinskij, siehe Anm. 11. 76 381 Am 17. Oktober 1888 war es in der Nähe des Bahnhofs Borki bei Charkov zu einem Eisenbahnunglück gekommen, bei dem der Zug des Zaren Aleksandr III. entgleiste und einen Abhang hinunterstürzte. Es gab zahlreiche Todesopfer, auch der Wagen des Zaren wurde schwer beschädigt, der Zar und seine Familie blieben jedoch unverletzt. In seiner Eigenschaft als Oberstaatsanwalt des Kassationsgerichtshofs des Senats war Koni mit der Untersuchung der Ursachen beauftragt worden. 382 „Graždanin“ („Der Bürger“), war eine konservative politisch-literarische, dem Hof nahestehende Zeitschrift, die von 1872–1879 und 1882–1914 in St. Petersburg erschien. 383 Der Verkehrsminister Konstantin Pos’et, siehe Anm. 284. Im November 1888 wurde er als verantwortlicher Minister in den Ruhestand versetzt; Vasilij Vasil’evič Salov (1839–1909) war im Verkehrsministerium für die Inspektion der Eisenbahn zuständig. 384 Vasilij Vasil’evič Salov. 385 Thronfolger Nikolaj Aleksandrovič, der spätere letzte russische Zar Nikolaj II. (1868– 1918). 386 Im Russischen hier „pochristosovat’sja“. Das „Russisch-deutsche Wörterbuch“ von I. Pawlowski erläutert unter dem Stichwort „christosovat’sja“: „sich küssen am Osterfeste; den am

232 Anmerkungen Osterfeste Entgegenkommenden mit den Worten begrüßen: Christos voskres‘! (Christus ist auferstanden!) worauf jener erwidert: vo istinu voskres‘! (er ist wahrhaftig auferstanden!) u. ihn darauf dreimal küssen“ (Pawlowski, 1960, S. 1706). Bei Hofe tauschte der Zar mit seinem gesamten Gefolge den Osterkuss, angefangen beim Hofstaat, über die Geistlichkeit bis zu den Soldaten und dem Gesinde. Diese Zeremonie dauerte wegen der tausenden Menschen, die mit dem Zaren den Osterkuss tauschen wollten, drei Tage (siehe Belovinskij, 2007, S. 732). 77 387 Siehe Anm. 193 – der 50. Jahrestag seiner literarischen Tätigkeit 1882. 78 388 Im Januar 1889 hatte Gončarov einen Schlaganfall erlitten (siehe Alekseev, 1960, S. 298). 389 * Es handelt sich um den Text „Narušenie voli“, der im Vestnik Evropy, 3, 1889 erschien und den wir im vorliegenden Band in deutscher Übersetzung abdrucken. 390 Ivan Alekseevič Vyšnegradskij (1831–1895), von 1887–1892 russischer Finanzminister. 391 Gemeint sind die drei Trejgut-Kinder. 392 Die Großfürsten Sergej (1857–1905) und Pavel Aleksandrovič (1860–1919). Band neun (Ergänzungsband) der Gesamtausgabe (Polnoe sobranie sočinenij), siehe Alekseev, 1960, S. 298. 79 393 * Diese Nachricht wurde auf einer Visitenkarte geschrieben. Ivan Aleksandrovič Gončarov – Text auf der Visitenkarte. 394 Der kurländische Augenarzt Ėduard Andreevič Junge (1831–1898), Professor in St. Petersburg. 80 395 Am 24. Juni, Gončarovs Namenstag, schrieb Stasjulevič an seine Frau, die sich zur Kur in Franzensbad aufhielt: „Du weißt ja schon, dass ich heute beim Namenstagsdiner bei Gončarov war. Es gab eine (ausgezeichnete) Kulebjaka und eine (wunderbare) Suppe, eine (Riesen-)Forelle usw., bis zur luftigen Pirogge einschließlich. Kurz, unser Alter hat mich aufs vortrefflichste bewirtet. Morgen fährt er nach Pavlovsk, ich habe versprochen, ihn in Pavlovsk am Peter- und Paulstag zu besuchen“ (Gončarov, 1912, Anmerkung zur S. 209). 396 25 km vom St. Petersburger Zentrum entfernte Sommerresidenz der Zaren und beliebte Sommerfrische. 397 Hungerburg, siehe Anm. 301 und 317. 398 Was mit dem „Filter“ gemeint ist, lässt sich nicht eindeutig feststellen, es handelte sich vermutlich um eine Vorrichtung zur Filtrierung des Trinkwassers, das lange Zeit ungereinigt aus der Newa entnommen worden war. Erst in den 1880er Jahren wurden erstmals Filter eingesetzt. In zahlreichen Briefen Gončarovs an Stasjulevič wird der „Filter“ erwähnt, so z. B. im Brief vom 16. September 1887: “Vergangenen Sonntag waren Sie so mager, blass und be-

Anmerkungen

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sorgt, ganz so, als sei bei Ihnen der Filter geplatzt, oder als habe sich die Gesellschaft [der Petersburger Wasserleitungsbetriebe] geweigert, die Arbeiten zur Beendigung desselben zu Ende zu führen“ (Gončarov, 1912, S. 194); im Juli 1888 tituliert er Stasjulevič als „sozdatel‘ velikogo fil’tra“ (ebenda, S. 202) und kurz darauf spricht er vom „Wasserleitungsfilter“ (vodoprovodnyj fil’tr) (ebenda, S. 205). Mit diesem modernen „Filter“, der Stasjulevič offenbar sehr beschäftigte, hat Gončarov ihn in den Briefen immer wieder liebevoll aufgezogen. 399 Eine zu jener Zeit nicht unübliche Verordnungsweise – siehe Ingrid Kästner, „Die Natur nachahmen und übertreffen: Die Mineralwasseranstalten des Dr. Friedrich Adolph August Struve“ (Kästner, 2014). 400 Im russ. Original heißt es hier: „Novaja žizn‘ nastupaet blagodarja telegrafam, telefonam i raznym fonam.“ 401 Der Suche nach einem Sommerhaus war ein Briefwechsel mit dem Großfürsten Konstantin Konstantinovič vorausgegangen. Dieser hatte am 11. Juni 1889 aus Pavlovsk geschrieben: „Teurer Ivan Aleksandrovič, beim letzten Mal, als wir uns sahen, tat es mir sehr leid, als ich Ihren Worten entnahm, dass Sie der Möglichkeit beraubt sind, den Sommer auf dem Land zu verbringen. Ich habe Erkundungen eingezogen und meine Suche war von Erfolg gekrönt: hier in Pavlovsk hat sich ein Sommerhaus gefunden, das unbewohnt ist, mit fünf Zimmern und einem Badezimmer. Über dieses Sommerhaus verfügt unsere Pavlovsker Verwaltung, weshalb es an jeden, den wir vorschlagen, unentgeltlich abgegeben werden kann. Gestatten Sie mir, es Ihnen zu Ihrer Verfügung anzubieten. Wenn es mir gelänge, Ihnen zu einem stillen Winkel zu verhelfen, in dem Sie den Sommer angenehm und ruhig verbringen könnten, wäre ich sehr glücklich. Gestatten Sie mir darauf zu hoffen, dass Sie mir das Vergnügen nicht versagen und meinen Vorschlag, zu uns nach Pavlovsk überzusiedeln, annehmen werden. Telegrafieren Sie mir nach Krasnoe Selo, dass Sie einverstanden sind und auch den Tag, an dem Sie zu kommen beabsichtigen, damit ich die nötigen Vorkehrungen treffen lassen kann und bei Ihrer Ankunft alles bereit ist. Ich hoffe, dass Sie dieses Angebot annehmen, drücke Ihnen fest die Hand und bitte Sie, mich – nach altem Brauch – nicht zu vergessen. Konstantin“ (Gončarov, 1994, S. 232f.). Gončarovs Antwort vom 13. Juni 1889:   „Das geneigte Angebot Eurer Kaiserlichen Hoheit, mir ein Sommerhaus zur Verfügung zu stellen, das Ihrer Schlossverwaltung in Pavlovsk untersteht, rührt mich alten Invaliden zu Tränen. Meine Ihnen bekannte Pflegerin, Aleksandra Ivanovna, ist gestern dorthin gefahren, um hauswirtschaftliche Erkundungen einzuziehen, die nur einer Frau in den Sinn kommen können (über die Anzahl der Matratzen, des Geschirrs usw.), von denen ich als Mann nicht die geringste Vorstellung habe: doch bevor sie überhaupt zurück war, hatte ich bereits beschlossen, dass ich mir Ihr liebenswürdiges Angebot in der Weise versagen werde, dass ich wohl ein Haus in Merrekküll bei Narva mieten werde, wohin heute die Mädchen, meine Zöglinge, aufgebrochen sind, zur Geheimrätin Fr[au] Nikitenko, der Witwe des Akademiemitglieds, Professor Nikitenko und zu ihren Töchtern, zwei in die Jahre gekommenen Mädchen. Sollte mir das nicht gelingen, so werde ich in Pavlovsk oder in Carskoe Selo etwas mieten“ (ebenda, S. 233). 81 402 Dinard – Seebad in der Bretagne. 403 Dies bezieht sich auf das Testament, siehe den nächsten Brief.

234 Anmerkungen 82 404 Aleksandr Vasil’evič Nikitenkos Tagebuch erschien von 1888–1892, nach anderen Angaben 1893 in der Zeitschrift „Russkaja Starina“, herausgegeben von seiner Tochter Sof ’ja Aleksandrovna Nikitenko, die zweite, ergänzte Auflage, erschien nach Sof ’ja Nikitenkos Tod, 1904, in der Redaktion von Michail Konstantinovič Lemke. 2005 erschienen die Tagebücher unter dem Titel „Zapiski i dnevnik“ in einer dreibändigen Ausgabe erneut. 83 405 Koni war von 1885–1891 Oberstaatsanwalt des Kassationsgerichtshofs des Senats. 406 Es handelt sich um eine Erklärung im Zusammenhang mit dem Testament. 84 407 * Ivan Aleksandrovič Gončarov – Text auf der Visitenkarte, auf der dieser Gruß geschrieben wurde. 85 408 * Ivan Aleksandrovič Gončarov – Text der Visitenkarte, auf der dieser Gruß geschrieben wurde. 409 Einen Tag später, am 24. Mai 1890, schrieb Gončarov aus demselben Anlass an Stasjulevič u. a.: „Vor meiner Abreise ins Sommerhaus nach Staryj Peterhof, wohin ich mich heute Vormittag auf den Weg begebe, will ich mich doch noch von Ihnen und von Ljubov‘ Isaakovna verabschieden. Die Fuhren mit dem Hausrat sind schon losgeschickt, und heute fahre ich selbst. Ich will Sie nicht dorthin einladen, zwar nehme ich Wein mit, aber die finnische Köchin kann nicht kochen, ich werde Ihnen nichts vorsetzen können! Außerdem haben Sie zu tun – mit den Filtern, mit der Duma, dem Unterrichtskomitee und dem Juniheft des Vest[nik] Evropy – und wer weiß, womit noch! Sollte ich im Sommer sterben, so lesen Sie, was Hamlet über Polonius sagt (den er selbst erdolcht hat), dass man ihn nämlich (d. h. Polonius) „wittern“ wird, d. h. er wird stinkend vermodern. So wird es auch mir ergehen“ (Gončarov, 1912, S. 211). Bei Shakespeare heißt es: „Wo ist Polonius? Hamlet: Im Himmel. Schickt hin, laßt nachsehn. Wenn Euer Bote ihn da nicht findet, so sucht ihn selbst an dem andern Orte. Aber wahrhaftig, wo Ihr ihn nicht binnen dieses Monats findet, so werdet Ihr ihn wittern, wenn Ihr die Treppe zur Galerie hinaufgeht“, Vierter Akt, Dritte Szene, übersetzt von A. W. Schlegel. 86 410 Am 24. Juni feierte Gončarov seinen Namenstag. 411 Teplice (deutsch Teplitz), eines der westböhmischen Bäder. 412 Es lässt sich nicht mehr feststellen, um welchen Aufsatz es sich handelt. Die Herausgeber der russischen Ausgabe der vorliegenden Briefe, T. I. Ornatskaja und V. I. Mel’nik, vermuten, dass es sich um Konis Erinnerungen an den Fall der Vera Zasulič gehandelt habe („Vospominanija o dele Very Zasulič“), die erstmals 1933 erschienen.

Anmerkungen

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413 Großfürst Konstantin Konstantinovič war seit 1889 Ehrenkurator der Pädagogischen Kurse an den St. Petersburger Frauengymnasien. Am 7. Oktober 1890 schrieb er Gončarov: „Teurer Ivan Aleksandrovič, meine Frau und ich haben beide Sehnsucht nach Ihnen, schon lange habe ich nichts von Ihnen gehört. Jetzt sind Sie sicherlich für den Winter nach Petersburg zurückgekehrt und erwarten voller Angst den Anbruch der dunklen und kalten Tage. Wie gern würde ich wissen, wie es Ihnen geht, ob Sie einen angenehmen Sommer in Peterhof hatten und wann Sie in die Stadt zurückgekehrt sind. Ich weiß, dass Ihnen das Schreiben schwerfällt, vielleicht kann aber Fräulein Trejgut, einstige Hörerin der Pädagogischen Kurse, nach Ihrem Diktat einige Zeilen zu unserer Beruhigung aufschreiben. Wenn wir ins Marmorpalais zurückkehren, will ich versuchen, einen freien Augenblick zu finden, um bei Ihnen in der Mochovaja vorbeizuschauen“ (Gončarov, 1994, S. 235f.). 414 Im russ. Original hier „poka ona ešče dejstvuet“. 415 Anatolij Nikolaevič Kulomzin (1838–1923), hoher Beamter im Komitee der Minister, das dem 1905 gegründeten Ministerrat vorausgegangen war. Es handelt sich hier um den Neffen Aleksandr Nikolaevič Gončarov, siehe auch Anm. 225). 416 Gončarov hatte vier Neffen – Aleksandr Nikolaevič (1843–1907) und Vladimir Nikolaevič Gončarov (1844–1889), Viktor Michajlovič (1834–1912) und Vladimir Michajlovič Kirmalov (1840–1906). 88 417 Im Januar 1891 war in der Zeitschrift „Russkoe obozrenie“, Nr. 1, Gončarovs Skizze „Po Vostočnoj Sibiri. V Jakutske i v Irkutske“ erschienen („Durch Ostsibirien. In Jakutsk und in Irkutsk“), Gončarov schickte Koni am 29. Januar 1891 ein Exemplar dieser Publikation (siehe Alekseev, 1960, 305). Die Widmung lautet: „Dem sehr verehrten und teuren Anatolij Fedorovič zum Andenken vom Autor. 29. Jan. 1891“ (Beljaev, 2014, S. 118). 418 Im russischen Heiligenkalender finden sich 37 Aleksandr-Gedenktage. 419 Der 6. Mai (23. April nach alter Zählung) ist der Gedenktag des Märtyrers Anatolij. 420 Der Namenstag wird im Russischen auch als „Tag des Engels“ („den‘ angelja“) bezeichnet. 421 „Diese Ehe [mit Aleksandr Dmitrievič Rezvecov] war zunächst sehr glücklich. Sie hatten vier Kinder, die Familie lebte sehr einträchtig zusammen. Sanja erhielt von Ivan Aleksandrovič eine sehr gute Mitgift und ein Erbe und hatte ein gut abgesichertes und interessantes Leben. […] Es sei daran erinnert, welche herausragenden Menschen in ihrem Haus verkehrten: Glazunov, Rimskij-Korsakov, Veržbilovič, A. F. Koni“ (aus einem Brief von N. N. Rezvecova, zitiert nach dem Katalog des Gončarov-Museums in Ul’janovsk, 1997, S. 89). Über das weitere, tragische Schicksal der Familie Rezvecov unter der Sowjetmacht siehe M. B. Ždanova, Z. A. Rezvecova-Šmidt (K istorii sem’i Trejgutov), in I. A. Gončarov, 1998, S. 326ff. 89 422 Am 6. Juni 1891 hatte Gončarov Stasjulevič u. a. geschrieben: „Von ganzem Herzen danke ich Ihnen, herrlichste Ljubov‘ Isaakovna und großherzigster Michajlo Matveevič, für das Telegramm anlässlich meines Geburtstages. Ich bin sehr gerührt, dass Sie daran gedacht haben. Ich habe meinerseits nicht mit einem Telegramm geantwortet, weil ich gerade vom telegraf[ischen] Apparat zurückgekommen war, von wo ich ein Telegramm abgeschickt hatte. Es ist recht weit dorthin. Danken Sie ebenfalls dem Baron Orac Gincburg und beglückwün-

236 Anmerkungen schen Sie in meinem Namen Aleksandr Gincburg [1862–1948]: dem ersten danken Sie für die Einladung zur Hochzeit, und dem zweiten meinen Glückwunsch zur Eheschließung, in Hamburg am 12./24. Juni dieses Jahres, d. h. genau an meinem Namenstag, den ich übrigens nicht mehr zu erleben hoffe. Es genügt, dass ich heute das achtzigste Jahr erlebt habe“ (Gončarov, 1912, 214). 423 Der sächsische Badeort Bad Elster nahe der böhmischen Grenze. In Meyers Lexikon von 1894 heißt es u. a. „Die Quellen von E. finden sehr mannigfaltige Verwendung, besonders bei Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane, Blutarmut und Affektionen des Nervensystems“ (Meyers Lexikon, 1894, S. 721). 424 Auf eigenen Wunsch war Koni von seiner Funktion als Oberstaatsanwalt des Kassationsgerichtshofs des Senats entbunden und zum Senator ernannt worden. 425 Gončarov war mit Aleksej Antipovič Potechin (1829–1908) bekannt, einem russischen Dramatiker und Romanautor; es ist anzunehmen, dass er, besorgt wie er um seine Pflegetochter war, an der Planung der Reiseroute ihrer Hochzeitsreise tätigen Anteil genommen und Kontakte zu seinen Bekannten hergestellt hatte, die die Eheleute aufnahmen. Wie aus dem Katalog des Fonds des Gončarov-Museums in Ul’janovsk ersichtlich ist, stattete Gončarov Sanja anläßlich ihrer Eheschließung auch mit einer Aussteuer aus (Katalog, 1997, S. 33). 426 Kinešma – Stadt am rechten Wolgaufer, 400 km nordöstlich von Moskau gelegen. 427 Poklonnaja gora – gemeint ist hier (im Unterschied zum gleichnamigen Hügel in Moskau) ein in der Umgebung von St. Petersburg gelegener Vorort mit Sommerhäusern (heute im Petersburger Stadtgebiet). Hier erholten sich Gogol’, Turgenev, Dostoevskij, Leskov und viele andere. 428 Kulebjaka – eine kompliziert mit verschiedenerlei Fleisch- oder Fischschichten und anderen Ingredienzien wie Reis, Eiern, Gemüsen usw. gefüllte Pirogge. 429 Am 25. Juni 1891 hatte er Stasjulevič u. a. geschrieben:      „Meines hohen Titels als Namenstagskind ging ich gestern Abend verlustig, eine Kulebjaka mit Renke, Forellen und Champagner standen um zwei Uhr auf dem Frühstückstisch, doch außer dem Hauswirt und seiner Frau und noch einer Dame aus Petersburg war niemand da. Nicht einmal A. N. Pypin erwies mir an meinem Festtag die Ehre seiner Anwesenheit, ihn einzuladen aber wäre anmaßend gewesen. Ich weiß gar nicht, ob er in Peterhof ist und wo er wohnt. Meine Zunge klebt mir am Gaumen, aber nicht, weil ich niemanden hätte, mit dem ich sprechen könnte, wie mit Ihnen, sondern weil mir der Doktor verboten hat, viel zu reden. Ich komme buchstäblich nie aus meinem Garten heraus und war kein einziges Mal beim Konzert. Aleksanda Iv[anovna] hat mich einmal in den Park ausgeführt, hat sich aber sehr erschrocken, denn meine Beine versagten mir den Dienst, so dass ich nur mit Müh und Not nach Hause gelangte, seitdem rühre ich mich nicht aus meinem Garten. Ich bin schon sehr schwach geworden“ (Gončarov, 1912, S. 214 f.). 430 Bad Wildbad bei Baden-Baden. Im Hotel Klumpp (Gončarov schreibt „Klump“) hatte Gončarov 1864 einige Sommerwochen verbracht. 431 Hier im russischen Original: „… gde samy chozjajki gotovjat na čistom vozduche desert“ – weshalb es heißt „chozjajki“ erschließt sich nicht. 90 432 Hier hat sich Gončarov offenbar verschrieben, statt Oranžerejnaja heißt es im Brief Oružejnaja.

Anmerkungen

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Anmerkungen zu 3. Ivan Aleksandrovič Gončarov: Briefe an Aleksandra Karlovna Trejgut 1 Die russische Abschrift der Briefe wurde mir von Aleksandra Romanova, Institut für Russische Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften (Puschkin-Haus), St. Petersburg zur Verfügung gestellt, die die Textvorlage verifiziert hat. Sie wurden, mit gewissen Abweichungen, zuerst abgedruckt im Band: I. A. Gončarov, Nimfodora Ivanovna. Povest‘. Izbrannye pis’ma, herausgegeben von O. A. Marfina-Demichovskaja und E. K. Demichovskaja. Pskov, 1992. 1 2 Aleksandra (Sanja) Karlovna Trejgut (1869–1928) war, wie ihre Schwester Elena Karlovna (Lenočka; 1873–1943), auf Betreiben und mit Unterstützung Gončarovs als Schülerin der Ivanovsker Mädchenschule in St. Petersburg (später dem Kolomensker Gymnasium eingegliedert) in der Torgovaja ulica 16 aufgenommen worden. Die Schule (Kolomenskaja ženskaja gimnazija) stand unter dem Patronat der Zarin Marija Fedorovna (1847–1928). Unterrichtet wurden: Englisch, Französisch, Mathematik, Zeichnen, Physik, Geschichte, Geographie, Naturkunde, Anatomie und Physiologie des Menschen, Rechtswesen, Schönschreiben, Singen, Tanz, Handarbeit. Die 8. Klasse galt der Vorbereitung der Schülerinnen auf eine Tätigkeit als Lehrerin in Privathäusern bzw. Mittelschulen. Folgende Fächer wurden im letzten Schuljahr unterrichtet: Geschichte der russischen Sprache, Pädagogik und Didaktik, Rechtswesen, französische Sprache und Literatur, weibliche Hygiene und Methodik der russischen Sprache. 3 Im Gegensatz zu seinen Briefen an Freunde, Bekannte oder andere Korrespondenten, in denen Gončarov die Anredeform „Sie“ oder „Du“ in Großbuchstaben verwendet, schreibt er in den Briefen an Sanja durchgängig „du“ bzw. „dich“ usw. in Kleinschreibung. 4 Sanjas Mutter, Aleksandra Ivanovna Trejgut (gest. 1917), die Witwe von Karl Ljudvig Trejgut, Gončarovs letztem Diener, der 1878 gestorben war. Nach dem Tod seines Dieners beschäftigte Gončarov die Witwe, die mit ihren drei Kindern in seinem Haushalt lebte, als Haushälterin und sorgte sich um Erziehung und Ausbildung der minderjährigen Kinder. Über eine über das Anstellungsverhältnis hinausgehende Beziehung zwischen beiden, gar eine gewisse Abhängigkeit Gončarovs von Aleksandra Ivanovna, kursieren zahlreiche Gerüchte, die sich nicht mehr nachvollziehen lassen, zumal Gončarov sein Privatleben strikt vor der Öffentlichkeit abschirmte. Dass er seiner „Pflegerin“ dankbar war, steht außer Frage, doch die zahlreichen Briefstellen, in denen sie erwähnt wird, legen weitergehende Vermutungen nicht nahe. 5 Die Petersburger Heilanstalt (benannt nach dem Stifter, Herzog Maximilian Joseph Eugène Auguste Napoléon de Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg) war die erste Poliklinik in Russland zum Nutzen aller Kranken, unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer Standeszugehörigkeit (eröffnet 1850). Besonderes Augenmerk galt Ohrenerkrankungen. Bedürftige bekamen unentgeltliche Behandlung und Medikamente. Heute Gorodskaja poliklinika, No. 81 (vgl. Michnevič, 2003, S. 439f.). 6 Die Schwester Elena Trejgut (siehe Anm. 2). 7 Im russischen Original hier: „Ėto i budet mame krasnoe jaičko ot Vas.“ Zu Ostern schenkt man einander rot gefärbte Eier.

238 Anmerkungen 8 In den überlieferten und hier publizierten Briefen an Aleksandra Trejgut findet sich immer wieder die ausdrückliche Bitte Gončarovs, seine Briefe im Pensionat niemandem zu zeigen, sie gut zu verwahren bzw. sie unbedingt nach Hause mitzubringen. Dies und die besondere Aufmerksamkeit für das älteste der drei Kinder hat immer wieder Spekulationen um eine eventuelle Vaterschaft Gončarovs genährt. In seinem im vorliegenden Band abgedruckten Essay „Narušenie voli“ äußert sich Gončarov ausführlich über seine Gründe, Privatbriefe strikt vor den Augen Dritter abzuschirmen. 2 9 Gončarov schreibt wörtlich „krasnaja komnata“, d. h. das „schöne“, das Paradezimmer. Eventuell könnte es auch das „rote Zimmer“ sein. 10 Lenočka hatte Scharlach, wie Gončarov in seinem Brief (Nr. 51) vom 2. Januar 1885 Koni mitteilt, siehe S. 103. Vor der Entdeckung und dem späteren Einsatz der Antibiotika war Scharlach als Infektionskrankheit mit hoher Sterblichkeitsrate sehr gefährlich. Auch gab es nicht selten Folgeerkrankungen wie Herz- und Nierenschäden. 11 Vasilij (Vasja) Karlovič Trejgut (1871–1913). Im Brief Nr. 51 (siehe voriges Kapitel) heißt es: „Sanja und Vasja sind nicht da; Sanja hat die letzten Tage bei den Nikitenkos verbracht und der Alte ist in der Schule.“ Vasja war von Gončarov in der Nikolaevskoe remeslennoe učilišče untergebracht worden (siehe z. B. auch Briefe Nr. 14, vom 10. August 1880 und Nr. 34 vom 20. Juli 1882 an Anatolij Koni): „In diesem Jahr habe ich es eilig mit der Heimkehr, denn in der Handwerksschule sind für Anfang August die Aufnahmeprüfungen angesetzt. Man hat mir versprochen, Vasja auf eine kostenlose Vakanz aufzunehmen, Gott sei‘s gedankt, wenn sie ihr Versprechen halten! Deshalb muss ich ihn Anfang August zur Prüfung bringen.“ Wegen der Ansteckungsgefahr und der dementsprechenden Quarantäne konnten die Kinder nicht wie gewohnt an den schulfreien Tagen aus ihren Internaten nach Hause fahren. 12 Aleksandra (Sanja) war das älteste der drei Kinder. 13 Sof ’ja Aleksandrovna Nikitenko (1840–1901), enge Freundin und Vertraute Gončarovs, die ihn in seiner literarischen Arbeit durch Abschrift der Manuskripte, Rat u. a. und bei der Erziehung der Kinder unterstützte. 14 Im Original hier: „Vašej dobroj Anne Iv., lazaretnoj dame.“ Gemeint ist Anna Ivanovna Guvenius (die Vorsteherin der Ivanovskoe devič’e učilišče), siehe Alekseev 1960, S. 264, Gončarov nennt sie „Lazarettdame“ (in Anspielung auf die Scharlachfälle), um eine Verwechslung mit Anna Ivanovna Markelova – siehe Anm. 17 – auszuschließen. 15 Euch hier im Original großgeschrieben (im Gegensatz zu du/dich usw.). 16 Am 30. Mai 1884 hatte Gončarov Sanja anlässlich einer erfolgreich bestandenen Prüfung eine Schreibmappe geschenkt (vgl. Alekseev, 1960, S. 266). 17 Anna Ivanovna Markelova (1822–1903), eine langjährige Bekannte Gončarovs, Witwe des Vize-Direktors des Postdepartements Dmitrij Dmitrievič Markelov (gest. 1864), mit dem Gončarov ebenfalls bekannt war. 3 18 Ekaterina Aleksandrovna Nikitenko (1837–1900), die ältere Schwester Sof ’ja Aleksandrovna Nikitenkos. Mit den Töchtern des Literaturhistorikers Aleksandr Vasil’evič Nikitenko (1804 oder 1805–1877), verband Gončarov eine langjährige enge Freundschaft.

Anmerkungen

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19 Im russ. Original hier „prosvirka“ – Oblate, Hostie. Während des Gottesdienstes werden die Hostien gesegnet, es wird um die Gesundheit und das Wohlergehen der Angehörigen gebetet, man isst ein Stück der geweihten Hostie und übergibt das übrig gebliebene Stück den Angehörigen zu Hause, damit auch sie am Segen teilhaben. 4 20 Hier ergibt sich eine Verständnis- und demzufolge Übersetzungsschwierigkeit. „Pjatački“ sind 5-Kopekenstücke. Möglicherweise schickt Sanja ihr erspartes Geld der Familie als Ostergeschenk. Es gibt eine weitere Bedeutung – laut „Tolkovyj slovar‘ velikorusskogo jazyka“ von Dal‘ versteht man unter pjatačok „das runde Ende eines Schweine- oder Bärenrüssels“. Somit könnte auch ein Gebäck o. ä. gemeint sein. 21 Chininwasser – aus der Gattung der Chinarindenbäume (Cinchona) hergestellte Mixtur, wurde im 19. Jahrhundert zur Kräftigung der Haare verwandt. 6 22 Diese Notiz befindet sich im Besitz der Familie Rezvecov in Moskau (den Nachkommen von Aleksandra Trejgut) und wird hier übersetzt nach O. A. Marfina-Demichovskaja und E. Demichovskaja, I. A. Gončarov, Nimfodora Ivanovna. Povest‘. Izbrannye pis’ma. Pskov 1992, S. 194. 23 Das Geschäft von E. Vintergal’ter (Winterhalter) befand sich (1874) in der Vladimirskaja ulica 5 (siehe Michnevič 2003, S. 519), später auf dem Nevskij prospekt, ab 1895 schmückte sich die Firma mit dem Prädikat „Hoflieferant“. 24 Am 25. Dezember 1884 heißt es in einem Brief an Stasjulevič: „Ich hatte vor, zu Hause zu essen, mit meiner kleinen Truppe, die vollzählig versammelt ist, doch Sie haben mich so lieb eingeladen, noch dazu zu einem Krankenbesuch (mir schien, Sie seien krank!), dass ich mich von den Kinderchen, vom Kalbsbraten und vom Gänseklein losreiße, und gegen sieben Uhr mit Tränen der Dankbarkeit, dass Sie an den garstigen, einäugigen Alten gedacht haben, den niemand braucht, zur Galernaja schleppen werde. Ihr Gončarov“ (Gončarov 1912, S. 162). A. D. Alekseev bezieht sich auf diese Nachricht (s.o.) und vermerkt in der Chronik: „War mit den Zöglingen zum Weihnachtsfest bei M. M. und L. I. Stasjulevič“ (Alekseev 1960, S. 268). Dies ist offenbar ein Fehler.

Anmerkungen zu 4. Michail Matveevič Stasjulevič: Ivan Aleksandrovič Gončarov (Nachruf ) 1 Der Übersetzung zugrunde liegt die Ausgabe: I. A. Gončarov. Očerki. Stat’i. Pis’ma. Vospominanija sovremennikov. Moskau, 1986, zuerst erschienen in „Vestnik Evropy“, 10, 1891, gezeichnet M. S. 2 Siehe Gončarovs letzten Brief an Michail Stasjulevič aus Peterhof vom 29. Juli/9. August 1891. Wie in allen seinen Briefen an Stasjulevič ist auch hier noch ein Abglanz jenes scherzhaften Tonfalls zu spüren, der ihre umfangreiche Korrespondenz über Jahre kennzeichnete. Es sind ca. 200 Briefe Gončarovs an Michail Stasjulevič und/oder seine Frau erhalten (von

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1868–1891), veröffentlicht in Gončarov, I. A., Pis’ma k Stasjuleviču, M. M., Stasjulevič i ego sovremenniki v ich perepiske, pod red. M. K. Lemke. St. Petersburg, 1912. „Ihren Brief, verehrtester und liebenswürdigster Michajlo Matveevič, habe ich erhalten und wüsste nun auch meinerseits gern mit Bestimmtheit, ob der meine in Ihre Hände gelangt ist, weshalb ich Sie ergebenst bitte, mich darüber zu informieren. Wie Sie sehen, gebe ich mich nicht mit einer Postkarte zufrieden, sondern sende Ihnen, zusammen mit einem Gruß an Sie beide, d. h. an Sie und Ljubov‘ Isaakovna, eine eigenhändige Antwort. [Wegen eines im Januar 1889 erlittenen Schlaganfalls und der Erblindung des rechten Auges fiel ihm das Schreiben zunehmend schwerer.] Die französischen Seeleute habe ich nicht gesehen, von meinem Sommerhaus aus hörte ich nur den Lärm ihrer und unserer Geschütze und himmlischen Lärm dazu! Jetzt aber ist wieder alles ruhig: das franz[ösische] Geschwader ist ausgelaufen, der serbische König ebenfalls abgereist oder er wird nach Österreich abreisen, und alles ist wieder still wie zuvor. Alles, was Sie beschreiben, haben wir auch hier: sowohl sonnige Tage, als auch regnerische Abende. Der Park liegt ganz in der Nähe unseres Hauses, genau wie das Meer. Doch ich komme fast nie aus meinem kleinen Garten heraus, alles auf der Welt ödet mich an. Ich erwarte Sie Ende August, Aleksandra Iv[anovna] ebenfalls – mit Schüsseln voller Dickmilch. Ich bitte Sie aber, Ihren Besuch am Abend zuvor anzukündigen, denn außer der Dickmilch werden Sie noch eine Vinaigrette mit Fleisch oder Fisch über sich ergehen lassen müssen. [Im Russischen wurde der Begriff Vinaigrette auf einen bis heute sehr beliebten Salat aus feingeschnittenem gekochtem Gemüse übertragen]. Ich bin erst zweimal nach draußen gegangen und habe V. V. Salov getroffen. Er ist gestern angekommen, war irgendwo zum Essen eingeladen, heute isst er bei Al. Filippovič, in dessen Sommerhaus. Von Anatolij Fed[orovič Koni] kam ein Brief aus Wildbad. Die warmen Wannenbäder haben ihm geholfen, er wird von dort in die Schweiz weiterreisen, sollte ihn der Gesundheitszustand seiner Mutter nicht vorzeitig nach Moskau rufen. Aber vermutlich hat er Ihnen das selbst geschrieben. Ich grüße Sie beide freundschaftlich, ebenso Baron Gincburg und seine Familie, sollten sie da sein. Immer Ihr I. Gončarov“ (Gončarov, 1912, S. 215f.). Auch das Lesen fiel ihm wegen seines Augenleidens zusehends schwerer. Es handelt sich um die Erzählungen „Maj mesjac v Peterburge“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Ein Monat Mai in Petersburg“), „Prevratnost‘ sud’by“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Die Launen des Schicksals“) und „Ucha“ (in deutscher Übersetzung bekannt als „Die Fischsuppe“), die postum veröffentlicht wurden. Er hatte sie Elena Trejgut diktiert, der er die Manuskripte dieser Erzählungen auch schenkte (siehe Alekseev, 1960, S. 306). Eine Lungenentzündung. Lev Vasil’evič Popov (1845–1906), Leibarzt des Hofes, Professor der Militärmedizinischen Akademie. Beerdigt wurde Ivan Gončarov unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit auf dem Friedhof der Aleksandro-Nevskaja lavra (Aleksandr-Nevskij-Kloster, auf dem dortigen Novoe Nikol’skoe kladbišče des Klosters). Als der Friedhof 1956 aufgelöst wurde, überführte man Gončarovs sterbliche Überreste auf den Volkovskoe kladbišče (auch Volkovo kladbišče). In einem Brief des Malers Il‘ja Efimovič Repin (1844–1930) vom 21. September 1891 an Elizaveta Grigor‘evna Mamontova (1847–1908) heißt es: „Vorgestern war ich auf der Beisetzung von Gončarov, die recht bescheiden verlief. Es wäre ganz still geblieben, doch als die Studenten gerade harmonisch ‚Svjatyj bože …‘ sangen, sprengte wütend und energisch ein

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berittener Polizist in ihre Mitte und forderte sie auf, den Gesang einzustellen. [Größere Ansammlungen von Studenten standen per se im Verdacht der Opposition.] Sie verstummten, nachdem er jedoch fort war, begann der Gesang von neuem. Wieder kam der Polizist angeprescht, und mit welchem Eifer! Der Gesang wurde nicht mehr aufgenommen, die Menge löste sich auf und zur Beisetzung versammelten sich am Grab nur noch einige Wenige“ (Repin 1949, S. 54). Der Schriftsteller Dmitrij Narkicovič Mamin-Sibirjak (1852–1912) schrieb am 22. September 1891 in einem Brief an seine Mutter: „Die vergangene Woche hätte man bei uns als ‚Gončarov-Woche‘ bezeichnen können, alle Welt, auch die Zeitungen, hatten nur ein Thema. Der alte Mann wurde sehr pompös beigesetzt, obwohl es eigentlich niemandem um ihn leid tat, er war ja schon sehr alt, und die Öffentlichkeit hat ihn auch vergessen. Trotzdem tönte die Presse eine ganze Woche lang auf alle mögliche Weise. Das Bemerkenswerteste, was ich über ihn hörte, war, dass er dreißig Jahre lang in ein und derselben Wohnung gelebt hat. Ich war auch bei der Beisetzung. Er wurde nicht auf dem Volkovo-Friedhof beigesetzt, wo die russischen Literaten ruhen: Dobroljubov, Pisarev, Saltykov, Šelgunov, Pomjalovskij, Rešetnikov, sondern im Aleksandr-Nevskij-Kloster, wo nur Generäle und Kaufleute der Ersten Gilde beerdigt werden. Zur Beisetzung versammelte sich denn auch ein aristokratisches Publikum, sogar Großfürst Konstantin Konstantinovič war da, den ich vor lauter Zerstreutheit gar nicht bemerkt hatte, erst später erfuhr ich davon aus den Zeitungen“ (D. N. Mamin-Sibirjak, 1958, Brief Nr. 36). Vladimir Mel’nik schreibt in seiner Gončarov-Biographie, Gončarovs Seelsorger, Vater Vasilij, habe berichtet, Gončarov hätte darum gebeten, als „einfacher Christ“ im Aleksandr-Nevskij-Kloster beerdigt zu werden und nicht mit literarischem Pomp auf dem Volkovo-Friedhof (vgl. Mel’nik, 2012, S. 332). 8 „‚Die beiden kleinen Zimmer konnten die Besucher nicht fassen, so stand eine lange Schlange draußen in der Einfahrt … Neben dem Sarg lagen Kränze der Redaktionen zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften‘ … Am Sarg hatten sich eingefunden: M. M. Stasjulevič, A. F. Koni, A. N. Pypin, V. D. Spasovič, A. G. Polotebnov, A. K. Šeller-Michajlov, P. A. Gajdeburov, A. M. Skabičevskij, S. V. Maksimov, V. A. Manasein, G. K. Gradovskij, N. S. Tagancev, V. I. Nemirovič-Dančenko, V. O. Michnevič und viele andere (Aus Petersburger Zeitungen), siehe Aleksejev 1960, S. 307. 9 Der sechsundzwanzigjährige, damals am Beginn seiner literarischen Karriere stehende Schriftsteller Dmitrij Sergeevič Merežkovskij (1865–1941) notierte in seinem Notizbuch: „Ich komme gerade von der Seelenmesse für Gončarov […] Wie doch jetzt, vom Tod befreit, das tief in seinem Herzen Verborgene in dem blassen, verjüngten und zur Ruhe gekommenen Gesicht zu Tage trat, das, was die Vera und Oblomovs taubengleiche Reinheit geschaffen hatte. Und plötzlich spürte ich, dass ich diesen fremden, mir unbekannten Mann schon immer geliebt hatte, mit einer reinen, selbstlosen Liebe, wie man auf Erden nur lieben kann, nicht wie einen Vater, nicht wie einen Bruder, nicht wie einen Freund, nicht einmal wie einen Lehrer, sondern wie einen Menschen, dessen Seele meiner Seele das Erhabene und Schöne eröffnet hat, weshalb er mir näher war als ein Bruder, ein Vater, Freund oder Lehrer. Er tat mir nicht leid, mir war weder traurig zumute noch überkam mich Angst vor dem Tod; im Gegenteil, ich freute mich für ihn, dass Stille und Frieden, die seine schöpferischen Triebkräfte gewesen waren, jetzt sein ganzes Wesen erfüllten […] Kindliche Reinheit, Unschuld und Ruhe ließen dieses tote Gesicht so jung und schön erscheinen, dass man die Augen nicht abwenden konnte: so still schlafen nur Kinder“ (zitiert nach Mel’nik, 2012, S. 329). 10 In deutschen Übersetzungen bekannt als „Der Absturz“, „Die Schlucht“ bzw. „Der Abgrund“.

242 Anmerkungen 11 Von 1866–1908 war Michail Stasjulevič Herausgeber und Chefredakteur der monatlich erscheinenden Zeitschrift „Vestnik Evropy. Žurnal istoriko-političeskich nauk“ („Europäischer Bote. Zeitschrift für historisch-politische Wissenschaften“). 12 „Nonum prematur in annum.” – “Bis ins neunte Jahr werde es (ein Werk) zurückgehalten“, Horaz (Ars poetica, 388). 13 Hier muss es sich um einen Schreibfehler in der russischen Originalausgabe dieses Nekrologs handeln, denn „Oblomov“ erschien 1859 und „Fregat ‚Pallada‘“ (in deutschen Übersetzungen bekannt als „Fregatte ‚Pallas‘“ bzw. „Briefe von einer Weltreise ergänzt durch Texte aus der ‚Fregatte Pallas‘“) zunächst in Auszügen in Zeitschriften 1855–1857, vollständig dann 1858. 14 Im russischen Original „iz Vašego prekrasnogo daleka“, hier denkt man unwillkürlich an das zum geflügelten Wort gewordene Gogol’sche: „Rus‘! Vižu tebja, iz moego čudnogo, prekrasnogo daleka, tebja vižu“ („Russland! Ich sehe dich, aus meiner wunderbaren, herrlichen Ferne sehe ich dich“, siehe Nikolai Gogol, 2010, S. 275). 15 Ivan Aleksandrovič Chlestakov, sprichwörtlich gewordene Gestalt aus Nikolaj Gogol’s Komödie „Revizor“ (deutsch „Der Revisor“). 16 Siehe auch den Brief an Anatolij Koni vom 26. Juni 1887, S. 121 f. 17 Aleksandr Sergeevič Griboedovs (1795–1829) Komödie erschien in deutscher Übersetzung unter den Titeln „Geist bringt Kummer“, „Verstand schafft Leiden“ und „Wehe dem Verstand“. 18 Ippolit Ivanovič Monachov (1841–1877), verkörperte im Stück den Čackij. 19 „Mil’on terzanij“ (1872, deutsch „Eine Million Qualen“). 20 Über eine weitere der derartigen „Qualen“ für beide Seiten gibt Gončarovs Brief an Stasjulevič vom 1. März 1872 Auskunft, aus dem ersichtlich wird, wie bisweilen ein falsch gesetztes Interpunktionszeichen den Sinn einer Aussage verändern und den Autor quälen kann: „!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!!! !!!!!!!!!!! !!!!!!!!!! !!!!!!!! !!!!!!! !!!!!! !!!!! !!! !! !

Anmerkungen

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Diese Millionen von Ausrufezeichen sind für Sie, nicht-liebenswürdiger Michajlo Matveevič, im Gegenzug für das eine, unnütz nach mil’on terzanij in der Überschrift gesetzte. Es ist Čackij, der dies ausruft, nicht ich. Ich zitiere in der Überschrift nur seine Worte, als Motiv, vorherrschenden Ton, Ausdruck seines Leids, das den Inhalt des Stücks bildet. Ich habe keinen Grund, etwas auszurufen, deshalb stand bei mir auch ein Punkt. In der nächsten Ausgabe könnten Sie das in der Rubrik Druckfehler folgendermaßen erläutern: dies ruft nicht der Autor des Artikels aus, sondern der Redakteur, und zwar, weil letzterer bei der Zusammenstellung jeder Ausgabe ‚mil’on terzanij!‘ [eine Million Qualen!] erleidet. Und dies ist die Schrift, die ich für die Überschrift gern hätte: wie in der Korrespondenz aus Paris (S. 409, V. E. [d. h. Vestnik Evropy]), vielleicht ein wenig größer. Ihre Kursivschrift ist zu groß und unschön (Gončarov, 1912, S. 117f.). In deutscher Übersetzung „Erinnerungen. An der Universität“. In deutscher Übersetzung „Erinnerungen. In der Heimat“. „Missachtung des Willens“ – in dieser Ausgabe zum ersten Mal in deutscher Übersetzung (siehe die Seiten 25–43). Gončarov verwendet im Plural sehr häufig beide Formen, wenn es um Personen geht, hier sei nur exemplarisch darauf hingewiesen. Gončarovs letzter Diener, Karl Ljudvig Trejgut. Das Kuvert des erwähnten, versiegelten Briefs trägt die Aufschrift: „An seine Exzellenz Michail Matveevič Stasjulevič. Von Gončarov, eigenhändig verfasst, nach meinem Tode zu öffnen.“ Der Wortlaut: „St. Petersburg, den 9. Oktober 1886. Sehr geehrter Michajlo Matveevič! Sie waren, wenn Sie sich erinnern, gemeinsam mit M. N. Ljuboščinskij, so gut, mir zu gestatten, Sie beide als die Vollstrecker meines Testaments einzusetzen, das Mark Nikolaevič [Ljuboščinskij] bei sich verwahrt. Ich rechne vorläufig noch nicht mit einem baldigen Ende, doch die vierundsiebzig Lebensjahre lassen mich bisweilen unwillkürlich daran denken, weshalb ich es – für alle Fälle – nicht für verkehrt halte, in meinem Schreibtisch diesen an Sie adressierten Brief aufzubewahren, in dem ich einige Erläuterungen zu gewissen Punkten meines Testaments geben möchte. Zum Beispiel: 1.) Im Testament habe ich mein Arbeitszimmer zu Ihrer völligen Verfügung gestellt, ‚mit dem darin enthaltenen Inventar‘ wie es dort wohl heißt (ich erinnere mich nicht mehr genau, habe das Originaltestament nicht zur Hand). Dieses ‚Inventar‘, d. h. der Tisch, der Bücherschrank und anderes, hat keinerlei Wert, alle diese Kleinigkeiten, Nippes, bibelots, wie man sagt, können Sie meinen mir mehr oder weniger nahestehenden Bekannten als Andenken schenken, ebenso wie die an den Wänden (des Arbeitszimmers und des Salons) hängenden Bilder und Stiche – ganz nach Ihrem Gutdünken. Sie kennen sie ja alle. Ich würde mir wünschen, dass Sie für sich selbst unter anderem das Album aus Asien an sich nehmen würden (aus Turkestan oder Taschkent), das mir Vereščagin [V. V. Vereščagin 1842–1904] geschenkt hat, es enthält, wie mir scheint, 16 erstklassige fotograf[ische] Aufnahmen seiner allen bekannten Bilder. Diese Bilder sind in einer großen geschnitzten Holzkiste mit einem extra Gestell untergebracht. Sie könnten in Ihrer Wohnung eine ganze Wand füllen. 2.) Die Möbel in meinem Arbeitszimmer, d. h. der Schreibtisch, der große Pâtée-Divan, der Bücherschrank, die beiden Etageren und noch allerlei, auch der runde Tisch und der kleine Aktenschrank im Salon – all das sind Arbeiten des einst berühmten Gambs [der deutsche Kunsttischler Heinrich Gambs, 1765–1831, ein Schüler David Roentgens; Hoflieferant]: vielleicht findet sich ein Käufer dafür. In diesem Falle sollte die erzielte Summe jenen zugute kommen, für die auch all meine Groschen bestimmt sind, d. h. der Witwe Trejgut und den

244 Anmerkungen Kindern. Wenn sie aber niemand kauft, so können Sie sie zum Andenken an mich verteilen, an wen immer Sie es für richtig erachten [Teile dieser Einrichtung befinden sich heute im Literaturmuseum der AdW, Puškin-Haus in St. Petersburg, und im Gončarov-Museum in Ul‘janovsk]. 3.) Unter den Dingen in meinem Arbeitszimmer befinden sich drei, die von besonderem Wert für mich sind und mir viel bedeuten. Das erste und wichtigste davon ist das mir vom Herrscher, dem Zaren [Aleksandr III., 1845–1894], anlässlich der Volljährigkeit des Thronfolgers [des späteren Zaren Nikolaj II., 1868–1918] verehrte silberne, emaillierte Tintenfass mit zwei ebensolchen Leuchtern und einer Feder. Das zweite – die Tischuhr auf dem Marmorpiedestal, mit der Marfinka-Figur (aus dem Roman ‚Obryv‘). Diese Uhr ist Ihnen und den anderen acht Personen, die sie mir anlässlich meines fünfzigjährigen literarischen Jubiläums geschenkt haben, sehr gut bekannt. (Anm. Ich würde mir auch sehr wünschen, wenn diese Personen eine Kleinigkeit zum Andenken an mich erhielten.) Drittens, zwei Vasen, die mir einige Damen zusammen mit Blumen ebenfalls aus Anlass des Jubiläums geschenkt haben. [Bei Alekseev heißt es aus diesem Anlass: „2. Februar 1883: Eine Delegation russischer Frauen besucht Gončarov, um ihm zum 50. Jahrestag seiner literarischen Tätigkeit zu gratulieren. In ihrem Grußschreiben heißt es: ‚Wer Sie liest, empfindet nicht nur Vergnügen, sondern lernt auch etwas: von der Großmutter Lebensweisheit, von Ol’ga, zu lieben und mit Würde Enttäuschungen zu ertragen, von Vera, nach bitteren Erfahrungen, Fehlern, die von Stolz und Unwissenheit herrühren, nicht den Mut zu verlieren, nicht zu verzagen, sondern auf dem Weg eines vernünftigen, bewussten Lebens zu wachsen.‘ Außer diesem Schreiben wurden Gončarov zwei Vasen überreicht. […] Am 5. Februar beantwortet er das Grußschreiben der russischen Frauen. ‚Sie haben erraten, dass der Autor mit der Großmutter und mit Vera litt, dass er Rajskijs Qualen teilte, mit Ol’ga um Oblomov trauerte und mit Oblomov um diesen, kurz, dass er, indem er diese Abbilder schuf, ihr Leben lebte und ihre Tränen weinte!‘“ (Alekseev, 1960, S. 257f.). Der erste Gegenstand, d. h. das Tintenfass, das mir der Herrscher verehrt hat, sollte eigentlich in der Familie vererbt werden, doch ich habe weder Familie noch Nachkommen, obwohl es zwei Neffen gibt, die meinen Namen tragen. Da ich ihnen aber kein Erbe hinterlasse, wäre es seltsam, würde ich ihnen das Tintenfass vererben. Sie hatten die Idee, es der Öffentlichen Bibliothek zu übergeben: das ist ein gute Idee, sollte sie ausführbar sein, so möge es dort bewahrt und ausgestellt werden, falls Sie nicht einen passenderen Verwendungszweck dafür finden. (Anm. Sollte der Literaturfonds eines Tages einen eigenen ständigen Sitz bekommen, so könnten der Schreibtisch, das Tintenfass, die Uhr und die Vasen, d. h. alle drei genannten Dinge, dort ein Zuhause finden. Der Schreibtisch ist so groß, dass er gut und gern für die Komiteesitzungen geeignet wäre. Das ist allerdings eine müßige und natürlich unpassende Überlegung, denn die Sitzungen des Komitees finden in der Wohnung des Komiteevorsitzenden statt, der Fonds hat ja keine eigenen Räume.) Papiere, das heißt Manuskripte, besitze ich überhaupt keine, insbesondere nichts, das sich zum Druck eignet. Es bleibt ein Haufen persönlicher Briefe an mich, die für Außenstehende nicht den geringsten Wert besitzen. Ich würde Sie bitten, Sof ’ja Aleksandrovna Nikitenko zu ersuchen, meine Papiere und Briefe durchzusehen und nachzuschauen, ob sich unter den Briefen und den anderen Papieren nicht noch irgendwelche Dokumente oder Verträge befinden (zum Beispiel im Schränkchen mit den Akten), die aufbewahrt werden müssten. Alles Übrige bitten Sie sie zu verbrennen und niemandem auszuhändigen: es ist alles unwich-

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tig. In meinem Schreibtisch befinden sich in einer extra Schachtel: 1.) Zwei Anteilscheine der Staatsbank über ein Kapital aus Obligationen der 2. Ost-Anleihe – 30 Obligationen à 1000  Rubel pro Stück, also über insgesamt 30-tausend Rubel und 2.) das Einzahlungsheft derselben Bank über nicht termingebundene Einlagen in Höhe von 10-tausend Rubel (zum jetzigen Zeitpunkt, im Oktober 1886); 3. Anteilscheine über den 1. und 2. Gewinnanteil der Anleihe – insgesamt 14 Scheine (5 der ersten und 9 der zweiten). Dort befindet sich auch mein Pensionsauszahlungsheft. Alle diese Dokumente habe ich im Testament unter Angabe von Zahlen und Nummern aufgeführt. Eine kurze Notiz darüber trage ich in meiner Brieftasche stets bei mir. Des Weiteren bitte ich, alle in meiner Wohnung befindlichen Möbel, Gegenstände, Kleidung, Wäsche, alles Silber, Geschirr, alle Gefäße, die Pelze, kurz, alles, außer dem oben Erwähnten, wie in meinem Testament bestimmt, meiner Ihnen bekannten Haushälterin und Pflegerin, Aleksandra Ivanovna Trejgut und ihren Kindern zu überlassen. Meine goldene Uhr mit ebensolcher Kette bitte ich, ihrem Sohn Vasilij auszuhändigen. [Diese Uhr der Schweizer Firma Tobias befindet sich heute im Gončarov-Museum in Ul‘janovsk, sie wurde dem Museum von den Nachkommen der Trejguts übergeben.] Vielleicht wünscht Sof ’ja Aleksandrovna Nikitenko etwas von meinen Sachen oder Bildern zum Andenken an mich zu erhalten, oder zum Beispiel die Etagere mit den Nippes oder irgendwelche Bücher – ich hoffe, Sie lassen ihr darin freie Hand. Mein ältester Zögling, Sanja, gab mir einige Dinge, die ich für sie in meinem Schreibtisch aufbewahren soll. Sie wird sagen, welche es sind. Ich habe oben meine Neffen erwähnt: es sind zwei – Aleksandr Nikolaevič und Vladimir Nikolaevič Gončarov, die Kinder meines verstorbenen Bruders. Ihnen hinterlasse ich nichts, denn ich halte dies weder für nötig noch für gerecht. Die Gründe dafür habe ich ausführlich in einem Brief an Mark Nik[olaevič] Ljuboščinskij dargelegt, der meinem Testament beigefügt ist. Meine Neffen sind nicht nur erwachsen, sondern beinahe schon alte Männer. Der ältere ist bereits über vierzig. Ich habe meine Heimat vor mehr als fünfzig Jahren verlassen, mein Bruder hat dort geheiratet, auch meine Schwestern haben sich verheiratet – wie komme ich dazu, auf Nachkommen von ihnen zu warten, für die ich mich verantwortlich fühlen soll? Ich kenne sie ja kaum, habe sie selten gesehen und plötzlich soll ich ihnen meine wenigen ersparten Groschen geben: das ist nicht nur ungerecht, sondern auch sinnlos. Im Übrigen hoffe ich, dass sie als anständige Menschen dies auch selbst verstehen und nicht herumschnüffeln werden, ob ich ihnen nicht ein paar Groschen hinterlassen habe. Sie sind in der Lage, selbst auf die Beine zu kommen und ihren Weg zu finden, was sie wohl auch schon getan haben. [Hier irrte Gončarov. Einer der beiden Neffen, Aleksandr Nikolaevič – Vladimir Nikolaevič war 1889 gestorben –, wandte sich als Reaktion auf Stasjulevičs Nachruf mit einem bösartigen, verleumderischen Schreiben an diesen, in dem es auch um das Erbe ging, und bat darum, seinen Brief im „Vestnik Evropy“ zu veröffentlichen, was Stasjulevič jedoch nicht tat, siehe Romanova, 2008, S. 140–163]. Ich aber habe mich, aus Altersgründen und aus Langeweile, der Troika der drei fremden Kinder gewidmet, die mir zufällig in die Hände gefallen war, habe sie in Schulen gegeben und halte es für meine Pflicht, ihnen nach Abschluss der Ausbildung das wenige Geld zu vererben, das ich hinterlasse, um ihnen die ersten Schritte im Leben zu erleichtern. Das ist alles, was ich in diesem ergänzenden Brief zu meinem Testament sagen wollte. Ich hoffe, Sie und Mark Nikolaevič werden nicht allzu viele Scherereien mit meinen Angelegenheiten haben. Es muss lediglich das Geld abgeholt und auf den Namen der Trejgut und ihrer Kinder überwiesen und die Wohnungseinrichtung übergeben werden – das ist alles.

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Tun Sie dies – im Andenken an mich – mit der Ihnen eigenen Sorgfalt, ich werde Ihnen dafür dankbar sein, bis in den Tod und darüber hinaus. Leben Sie wohl. Sie werden diesen Brief lesen, wenn ich nicht mehr bin. Immer Ihr, wie ich es hier war, so auch dort, ergebener Ivan Gončarov“ (Gončarov, 1912, S. 173ff.).

Anmerkungen zu 5. Anatolij Fedorovič Koni: Ivan Aleksandrovič Gončarov 1 Der Übersetzung zugrunde liegt die Ausgabe: I. A. Gončarov. Očerki. Stat’i. Pis’ma. Vospominanija sovremennikov. Moskau. 1986. Die Erinnerungen Konis basieren auf einem Vortrag, den er im April 1912 anlässlich des bevorstehenden hundertsten Geburtstags Gončarovs in der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg hielt. Zehn Jahre später heißt es über Gončarov in Konis Erinnerungen („Peterburg. Vospominanija starožila“): „Wenn man die Bassejnaja durchquert und von der Litejnaja zum Simeonovskij pereulok geht, liegt rechterhand die Mochovaja ulica, die im achtzehnten Jahrhundert Chamovaja hieß. An ihrem Ende, im Haus Nummer 3, hatte sich in den fünfziger Jahren Ivan Aleksandrovič Gončarov niedergelassen. Oft konnte man den berühmten Schöpfer des ‚Oblomov‘ und des Romans ‚Obryv‘ sehen, wie er zur Mittagszeit langsamen Schritts zum Hotel ‚Francia‘ an der Mojka oder zur Redaktion des ‚Vestnik Evropy‘ in der Galernaja ging. Bisweilen saß unter dem Mantel an seiner Brust sein geliebtes Hündchen. Der apathische Gesichtsausdruck und die halbgeschlossenen Augen konnten zu der Annahme verleiten, er sei selbst die Verkörperung seines berühmten Helden, dessen Name mittlerweile zu einem Gattungsbegriff geworden ist. Doch dem war nicht so. Unter dieser äußeren Erscheinung verbarg sich eine lebhafte schöpferische Kraft, eine leidenschaftliche, zu selbstloser Hingabe fähige Seele, und in den Augen leuchteten bisweilen hell sein großer Verstand und seine feine Beobachtungsgabe. Der alte Junggeselle lebte dreißig Jahre in einer kleinen Wohnung im unteren Stockwerk, deren Fenster zum Hof gingen; sie war angefüllt mit materiellen Erinnerungen an die Fregatte ‚Pallada‘. Selten kamen Besucher vorbei, doch mitunter hörte man fröhliches Stimmengewirr und das Lachen der Kinder seines verstorbenen Dieners, denen er rührende Liebe und innige Aufmerksamkeit entgegenbrachte“ (Koni, 2011, S. 12f.). 2 Dmitrij Nikolaevič Ovsjaniko-Kulikovskij (1853–1920), Literaturwissenschaftler. 3 Konstantin Aleksandrovič Trutovskij (1826–1893), illustrierte u. a. Werke von Gogol‘, Lermontov, Krylov. 1870 hatte Trutovskij Gončarov zwei Sepiazeichnungen geschenkt (eine mit der Darstellung von Mark Volochov und Vera, die andere zeigt Marfinka), sie hingen in Gončarovs Arbeitszimmer und befinden sich heute im Museum des IRLI RAN (Institut russkoj literatury Rossijskoj Akademii nauk – Institut für russische Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften, Puschkin-Haus, St. Petersburg). 4 Die Zeichnung mit der Darstellung von Vera und Mark trägt folgende Widmung: „Als schwacher Ausdruck des großen Genusses, den mir […] die Lektüre von ‚Obryv‘ bereitet hat“ (Alekseev, 1960, S. 196). 5 „Dvorjanskoe gnezdo“ von Ivan Turgenev, 1859, in deutscher Fassung bekannt als „Ein Adelsnest“.

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6 „Nakanune“ von Ivan Turgenev, 1860, in deutscher Fassung bekannt als „Vorabend“. 7 „Tysjača duš“ von Aleksej Pisemskij, 1858, in deutscher Fassung bekannt als „Tausend Seelen“. 8 „Oblomov“ – erschien 1859. 9 „Gor’kaja sud‘bina“ von Aleksej Pisemskij, 1859, in deutscher Fassung bekannt als „Das bittere Los“. 10 „Groza“ von Aleksandr Ostrovskij, 1859, in deutscher Fassung bekannt als „Das Gewitter“. 11 Verkürztes Zitat aus Gončarovs Essay „Lučše pozdno, čem nikogda“ („Lieber spät als nie“) von 1879, der mit den Worten endet: „Das, was nicht in mir gewachsen und gereift ist, was ich nicht gesehen, nicht beobachtet, wofür ich nicht gelebt habe, das ist meiner Feder unzugänglich! Ich habe (oder hatte) mein Wirkungsfeld, mein Fundament, wie man seine Heimat, die vertraute Atmosphäre, Freunde und Feinde hat, seine Welt der Beobachtungen, Eindrücke und Erinnerungen, und ich beschrieb nur das, was ich erlebte, was ich dachte, fühlte, liebte, was ich aus der Nähe gesehen und erfahren habe, kurz, ich beschrieb auch mein Leben und das, was in ihm Wurzeln geschlagen hat“ (Gončarov 1986, S. 342). Da Koni die Quellen nicht angibt und seine Zitate aus Briefen und anderen Quellen nicht immer exakt sind (bisweilen sind auch mehrere Quellen zusammengefasst), wird hier nur dann auf sie verwiesen, wenn sich die Zitate ermitteln ließen. 12 Am 6. Juni 1877 heißt es in einem Brief Gončarovs an Petr Aleksandrovič Valuev (1815– 1890), zu jener Zeit Minister für Staatsvermögen (ministr gosudarstvennych imuščestv), über Lev Tolstoj: „Wie ein Vogelfänger sein Netz breitet er einen großen Rahmen über die Menschenmenge, von der Oberschicht bis zur Unterschicht, und nichts, was in diesen Rahmen gerät, entgeht seinem Blick, seiner Analyse, seinem Pinsel“ (Gončarov, 1986, S. 435). 13 Aus dem Motto von Puškins Evgenij Onegin, „Uma cholodnych nabljudenij i serdca gorestnych zamet“, zitiert nach der Übersetzung von Theodor Commichau. In der Übersetzung von Rolf-Dietrich Keil lauten diese Zeilen: „Verstandes kalter Registrierung und Herzens schmerzlichem Gewinn.“ 14 Versteht man unter Humor die „Fähigkeit, auch die Schattenseiten des Lebens mit heiterer Gelassenheit u. geistiger Überlegenheit zu betrachten“ (Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 2002), so finden sich z. B. im „Oblomov“ zahlreiche Stellen, die u. a. Oblomovs Tun bzw. Nichtstun mit Humor, bisweilen Ironie beschreiben, ebenso in den hier abgedruckten Briefen. Die Diagnose, Gončarovs Schaffen sei humorfrei, lässt sich demnach leicht widerlegen. 15 Der Matrose Faddeev. 16 „Slugi starogo veka“, in deutscher Fassung bekannt als „Dienstboten vergangener Tage“. 17 „Ivan Savič Podžabrin“ war zuerst 1848 im „Sovremennik“ veröffentlicht worden. In die Gesammelten Werke wurde der Text erst 1896, nach Gončarovs Tod, aufgenommen. 18 Dieser Einschätzung Konis zu widersprechen, ist hier nicht der Ort, doch Gončarovs Absichten gingen sicher weit darüber hinaus, ging es ihm doch auch um die Natur des Menschen an sich. 19 Eugen Zabel (1851–1924), deutscher Reiseschriftsteller, Dichter, Autor von Romanen und Theaterstücken und Übersetzer. Die 1885 erschienene Übersetzung des „Oblomow“ von Gustav Keuchel erschien mit einer Vorrede von Eugen Zabel. 20 Inzwischen hat Gončarovs bekanntestes Werk, der Roman „Oblomov“, einen weltweiten Siegeszug angetreten, der Roman wurde bisher in 47 Sprachen übersetzt, allein ins Deutsche acht Mal. Als der Roman anlässlich des 200. Geburtstags seines Autors 2012 in neuer deutscher Übersetzung erschien (im Hanser Verlag, München) fand er in der deutschsprachigen Presse, im Rundfunk und im Fernsehen ein überwältigendes Echo und 2014 erschien im Ber-

248 Anmerkungen liner Parlando Verlag ein deutsches Hörbuch mit der vollständigen Fassung des Romantextes (Gontscharow, S. 2014 a). 21 „Son Oblomova“ („Oblomovs Traum“, im Roman „Oblomov“ Kap. IX) erschien 1849 im „Sovremennik“, zehn Jahre vor der Veröffentlichung des Romans, 1859. 22 Der Roman „Obryv“ erschien erstmals 1869, der Vorabdruck „Sof ’ja Nikolaevna Belovodova. Pjat‘ glav iz romana. Epizody iz žizni Rajskogo“ („Sof ’ja Nikolaevna Belovodova. Fünf Kapitel aus dem Roman ‚Episoden aus dem Leben Rajskijs‘“) erschien im „Sovremennik“ 1860. 23 Pavel Andreevič Fedotov (1815–1852), einer der bedeutendsten Vertreter der russischen Romantik, Begründer des Realismus in der russischen Malerei. 24 Russisch medlitel’nyj – bedächtig, langsam, zögerlich. 25 Aus dem Brief an Michail Stasjulevič vom 4./16. Juni 1868 aus Kissingen (Gončarov, 1912, S. 12). 26 Hier zitiert Koni ungenau, der letzte Satz vom „schlehenumwundenen Grab“ findet sich in einem anderen Brief Gončarovs an Stasjulevič vom 30. Mai 1868 aus Berlin (ebenda, S. 8). 27 Im Russischen hier božestvo. 28 Auch hier zitiert Koni ungenau. Im Brief an Stasjulevič vom 7./19. Juni 1868 heißt es: „Die Träume, Wünsche und Gebete Rajskijs enden bei mir, wie ein feierlicher Akkord in der Musik, mit der Apotheose der Frauen, dann der Heimat, Russlands, schließlich der Gottheit und der Liebe … Ich fürchte mich, fürchte diesen bei mir nie dagewesenen Ansturm der Phantasie, fürchte, dass meine kleine Feder dem nicht standhalten und sich nicht zu den Höhen meiner Ideale und meiner künstlerisch-religiösen Gemütslage aufschwingen wird“ (ebenda, S. 17). 29 Großfürst Konstantin Konstantinovič Romanov (1858–1915), der unter den Initialen K. R. Gedichte, Poeme und Theaterstücke publizierte. Eine anschauliche Schilderung der „Zweiteilung“ des Großfürsten in den Staatsmann und den Dichter gibt Johannes von Guenther, der Poeme von R. K. ins Deutsche übersetzt hat, in seinen Erinnerungen „Ein Leben im Ostwind“, z. B. auf den Seiten 250, 277ff., 320ff. 30 Konstantin Konstantinovič Romanov hatte am 7. Oktober 1890 an Gončarov u. a. geschrieben: „Ich schreibe weiterhin Gedichte, wenn mich die Inspiration erleuchtet, nach Erscheinen meines Büchleins habe ich zwanzig kleine lyrische Gedichte geschrieben und seit einiger Zeit mühe ich mich mit einem Poem. Ich gebrauche das Wort mühen, denn große Werke (es versteht sich, dem Umfang nach, nicht der Güte) wie mein Sebastian kosten mich ungeheure Anstrengungen, viel Zeit und bescheren mir eine Reihe froher Augenblicke, wenn das Erreichte erfolgreich erscheint oder auch Momente der Verzweiflung, wenn man den Glauben an seine Kräfte verliert und sich vergebens müht, die Hindernisse zu überwinden“ (Gončarov, 1994, S. 235). 31 In seinem Antwortbrief vom 8. Oktober 1890 hatte Gončarov dem Großfürsten u.  a. geschrieben: „Sie arbeiten an einem großen Poem, das Sie, Ihren Worten zufolge, ungeheure Anstrengung kostet, Ihnen aber auch frohe Augenblicke und auch Momente der Verzweiflung beschert … Diese „Momente der Verzweiflung“ sind ja gerade das Unterpfand des Schöpfertums (das sagen Sie auch selbst). Es freut mich zutiefst! Gäbe es sie nicht, sondern nur das Gute und Schöne, sollte man lieber die Feder aus der Hand legen“ (Gončarov, 1994, S. 236). 32 Im russischen Original hier suščestvo. 33 Die Zeile aus Puškins Poem „Cigany“ lautet: „Ty ljubiš gorestno i trudno, a serdce ženskoe – šutja.“ 34 Klagen über Lärm finden sich immer wieder in Gončarovs Briefen. Im von Koni zitierten Brief an Stasjulevič vom 9./21. Juni 1868 aus Kissingen (nicht, wie Koni schreibt, aus Marienbad) heißt es: „Für meine Arbeit aber brauche ich ein einfaches Zimmer mit einem Schreib-

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tisch, einem Sessel und nackten Wänden, damit nicht einmal das Auge abgelenkt wird, und vor allem, dass kein einziger Laut von Außen hereindringt und ringsum Grabesstille herrscht, damit ich mich in das vertiefen und dem lauschen kann, was in mir vorgeht, um es aufzuschreiben. Ja, unbedingte Stille, weiter nichts. Dies aber habe ich nicht, nein, und ich sehe auch nichts dergleichen in der Zukunft. Ich habe nie jemanden um etwas beneidet, doch in derartigen Momenten denke ich voller Neid an jene großen Häuser, in denen es fensterlose Zimmer gibt, die von oben beleuchtet werden und in die, wie in ein Grab, keinerlei Lärm von Außen dringt. Wollen Sie es sich nicht vielleicht einmal anhören, wie mir in diesem Augenblick von gegenüber […] eine teuflische Puppe mit dem scheußlichen Geklimper der Klaviertriller und einem langgezogenen Geheul, mit dem Kater die Katzen aufs Dach rufen, von zehn bis zwei Uhr, d. h. gerade dann, wenn ich arbeiten kann, nicht in den Ohren, sondern in der Seele gellt und mir die Kehle abschnürt. Das ist schrecklich! […] Wo finde ich bloß ein Zimmer ohne Geräusche von Außen?“ (Gončarov, 1912, S. 18ff.). Zum Thema „Lärm und Stille im Leben und Werk Gončarovs siehe auch Bischitzky, 2013 a. „Severnaja počta“ – offizielles Presseorgan des Ministeriums für Inneres, erschien von 1862– 1868. Die Hauptverwaltung für Druckerzeugnisse (Glavnoe upravlenie po delam pečati) bestand von 1865–1917 und war die höchste Zensurinstanz, die die Oberaufsicht über die Zensurkomitees, die einzelnen Zensoren der Inlands- wie Auslandszensur, die Druckereien u. a. innehatte. Es ist vermutlich das Tagebuch von Aleksandr Nikitenko (1804 oder 1805–1877) gemeint (siehe Nikitenko, 2005). Siehe auch den 2014 erschienen Band 10 der Gesammelten Werke Gončarovs, Materialy cenzorskoj dejatel’nosti (Gončarov, 2014 a). Zitat aus Puškins „Ruslan i Ljudmila“ („O pole, pole, kto tebja usejal mertvymi kostjami?“). Das Zitat entstammt einem Brief an den Großfürsten Konstantin Konstantinovič vom Januar 1884 (ohne konkrete Datumsangabe), darin heißt es außerdem: „Seit ich vierzehn, fünfzehn Jahre alt war, las ich, ohne in mir irgendein Talent zu vermuten, alles, was mir in die Hände geriet, und schrieb auch selbst unentwegt. Weder Spiele, noch später als Student oder danach im Dienst die Freundeskreise oder Gespräche konnten mich von den Büchern ablenken. Romane, Reisebeschreibungen, histor[ische] Werke, vor allem Romane, bisweilen alte, törichte (Radcliffe, Cottin u. a.), alles verschlang ich mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit und Gier. Dann begann ich sehr viel zu übersetzen, Goethe zum Beispiel, allerdings nicht Gedichte, an die ich mich nie gewagt habe, sondern viele seiner Prosaarbeiten, Schiller, Winckelmann u. a. Und dies alles ohne praktisches Ziel, einfach aus der Neigung heraus, zu schreiben, zu lernen, etwas zu tun, in der vagen Hoffnung, dass etwas dabei herauskommt. Später habe ich mit den Papierstapeln den Ofen geheizt. Das Lesen und Schreiben (für mich selbst) schulte meine Feder und brachte mir unbewusst schriftstellerische Methoden und die Praxis des Schreibens näher. Das Lesen war meine Schule, die literarischen Zirkel jener Zeit vermittelten mir die Praxis, das heißt, ich bekam Einblick in Ansichten, Richtungen usw. Erst hier, und nicht im Lesen in der Abgeschiedenheit und auch nicht im Hörsaal, sah ich, nicht ohne Kummer, welch grenzenloses, tiefes Meer die Literatur ist, und begriff mit Schrecken, dass ein Literat, wenn er kein Dilettant sein will, sondern ernsthafte Bedeutung anstrebt, beinahe alles von sich selbst einbringen muss, und zwar ein ganzes Leben lang“ (Gončarov, 1994, S. 178f.). In diesem Brief aus Kissingen an Stasjulevič, aus dem Koni ungenau zitiert, heißt es u. a.: „Gestern wehte Kälte herbei, Wolken zogen auf und das alles legte sich mir aufs Gemüt, wieder stieg der trübe Bodensatz an die Oberfläche, wieder legte ich die Feder beiseite, ließ den Kopf

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hängen und hatte schlechte Träume, die mich im Wachen verfolgten; wieder verwandelten sich die Gesichter der Freunde in Feinde, die mir aus den Ecken zunickten, mich mit Schmutz bewarfen, an den Pranger stellten und nicht im Geringsten daran dachten, meine vielgestaltige Natur, meine Phantasie und meine Art zu Schreiben zu verstehen. Wieder schnürte es mir die Luft ab, ich wollte ins Wasser gehen, und ins Feuer, in die Neue Welt fliehen und sogar völlig ins Jenseits verschwinden. Das wirkte sich auch auf das letzte Kapitel, das ich gestern beendete, und auf meinen Helden aus, das Muster der Leidenschaft ist zu Ende skizziert, doch ich habe plötzlich halt gemacht: soll ich überhaupt weiterschreiben?“(Gončarov, 1912, S. 24f.) Siehe Anm. 11. Im Russischen hier velikaja babuška. Gestalt aus Gogol’s „Mertvye duši“ („Tote Seelen“). Siehe Julius von Eckhardt (1836–1908), Aus der Petersburger Gesellschaft, Leipzig, 1873. Das Zitat konnte nicht ermittelt werden. Das Bild von den „Pygmäen“ verwendet Gončarov auch in einem Brief an Sof ’ja Nikitenko vom 21. August/2. September 1866: „Und wir Pygmäen kommen mit unseren Idealen nicht zurecht, deshalb finden sich bei uns nur Andeutungen. Und deshalb bleibt Rajskij bei mir im Nebel“ (Gončarov, 1955, S. 366). Hier nravstvennaja drjablost‘. Es handelt sich um den 1876 geschriebenen Artikel „Namerenija, zadači i idei romana ‚Obryv‘“ („Absichten, Aufgaben und Ideen des Romans ‚Obryv‘“), veröffentlicht in der Zeitschrift „Russkij vestnik“, 1895, 1, abgedruckt im Band 8 der Gesammelten Werke, Gončarov 1955, S. 208–220, das Zitat findet sich auf den Seiten 216f. Im Original „padenie ženščin“, hier mit „moralische Verfehlung“ wiedergegeben, da sich das Gemeinte mit „Fall“ schlecht wiedergeben lässt. Bjørnstjerne Martinius Bjørnson (1832–1910), „En Hanske“, Schauspiel 1883 („Ein Handschuh“, 1888). Hauptfigur aus Gogol’s „Mertvye duši“ („Tote Seelen“). Ivan Fedorovič Gorbunov (1831–1895), Schriftsteller und Schauspieler, von ihm stammt die Erzählung „Obščee sobranie obščestva prikosnovenija k čužoj sobstvennosti“ (1883). Hier im Russischen: lenivym neprotivleniem zlu – siehe Matthäus, 5. 39: „dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel“. Siehe Lev Nikolaevič Tolstojs „neprotivlenie zlu nasiliem“ (dargelegt in: „Ispoved“ und „V čem moja vera?“)... Laut Ėnciklopedičeskij slovar‘ krylatych slov i vyraženij (V. Serov), wird der Ausdruck in der Regel ironisch gebraucht, um einen verweichlichten Menschen zu bezeichnen, der seine Interessen nicht durchzusetzen wagt. Nikolaj Aleksandrovič Dobroljubov (1836–1861), „Čto takoe oblomovščina?“ Zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift „Sovremennik“, 5, 1859. Ein Vorabdruck aus dem Roman „Obryv“ in der Zeitschrift „Sovremennik“, 2, 1860. Im antiken Rom wurde die südliche Spitze des Kapitolhügels als Tarpejischer Fels bezeichnet. Von hier wurden Todesurteile durch Hinabstoßen vom Fels vollstreckt, womit angedeutet werden sollte, dass es nur ein Schritt sei vom Ruhm zum Fall. Am 13./25. Juni 1868 aus Kissingen (siehe Gončarov, 1912, S. 22f.) obličitel’nyj poėt – anklagender Dichter. „Das Urteil auf dem Parnass“. Hinter dem Pseudonym obličitel’nyj poėt verbarg sich Dmitrij Dmitrievič Minaev (1835–1889), der Titel des erwähnten satirischen Gedichts lautet „Parnasskij prigovor“ (1860). Hier zitiert Koni ungenau. Im erwähnten Brief an Ivan Turgenev vom 28. März 1859 heißt es: „Sie [E. Majkova] war zu Tränen gerührt von jener Szene zwischen Großmutter und Enkelin, derzuliebe Sie so freundschaftlich und großherzig die dieser Szene so ähnliche, doch recht

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schwache Szene Ihres Romans geopfert haben, um Ähnlichkeiten zu vermeiden“ (Gončarov, 1955, S. 310). 60 In deutschen Übersetzungen bekannt als „Die Dämonen“; „Die Teufel“; „Die Besessenen“ bzw. „Böse Geister“. In der Gestalt des Semen Egorovič Karmazinov sieht die Literaturwissenschaft eine Karikatur Turgenevs. 61 Zu einem Zerwürfnis zwischen Ivan Turgenev und Lev Tolstoj war es 1861 gekommen, den Anlass gab eine Auseinandersetzung über Erziehungsfragen, die auch Turgenevs Tochter Polina (auch Pelageja, 1842–1919) betrafen, über die sich Tolstoj negativ geäußert hatte. 62 Siehe „Trente ans de Paris“ von Alphonse Daudet (1840–1897). 63 Siehe Gončarovs zwischen 1875 und 1878 entstandene „Neobyknovennaja istorija“ („Eine ungewöhnliche Geschichte“), deren Manuskript er 1883 Sof ’ja Nikitenko zur Aufbewahrung übergeben hatte, die es später an Anatolij Koni weitergab. Zuerst 1924 publiziert, erschien erst im Jahr 2000 eine wissenschaftlich-kritische, kommentierte Ausgabe dieser Aufzeichnungen (Gončarov, 2000 a, S. 184–304). 64 Berthold Auerbach (eigentlich Moses Baruch Auerbacher, 1812–1882). Es handelt sich um Auerbachs Roman „Das Landhaus am Rhein“ (1869), von dem Gončarov annahm, es sei ein Plagiat auf der Grundlage des Sujet seines Romans „Obryv“, das Turgenev an Auerbach weitergegeben habe. 65 Im russischen Original isključitel’nost‘ v nature. 66 Konnte nicht ermittelt werden. 67 Im russischen Original kakoj ja dikij – dikij hat mehrere Bedeutungsnuancen – sonderbar, wild, ungezähmt, auch menschenscheu. 68 Hier zitiert Koni ungenau und fasst Zitate aus zwei Briefen an Michail Stasjulevič zusammen – vom 13./25. Juni 1868: „Im Rajskij möchte ich all das ausdrücken, was ich Ihnen über mich selbst gesagt habe und was ich jetzt sage, siehe oben, und was ich in diesem Brief später noch sagen werde. Sie werden darüber nicht lachen, denn Sie wissen jetzt, wie sonderbar, wie verrückt und welch ein Schürzenjäger [volokita] ich bin – und dabei bin ich krank, in die Enge getrieben, gehetzt, von allen unverstanden und erbarmungslos gekränkt von den nahestehendsten Menschen, sogar von den Frauen, vor allem von ihnen, denen ich doch so viel Lebenskraft und so viele Werke gewidmet habe“ (Gončarov, 1912, S. 22). Und vom 7./19. Juni 1868, siehe nächste Anmerkung. 69 Diese zweite Passage datiert vom 7./19. Juni 1868 (Gončarov, 1912, S. 16). 70 Großfürst Konstantin Konstantinovič, siehe Anm. 29. 71 „Zapiski ochotnika“ (1852), in deutscher Fassung bekannt als „Aufzeichnungen eines Jägers“. 72 Siehe Gončarovs Brief an den Großfürsten Konstantin Konstantinovič Romanov vom Januar 1884, aus dem Koni ungenau zitiert: „Auch Turgenev hat mit Gedichten begonnen, schrieb ein Poem, das keinen Erfolg hatte, wechselte von der Poesie zur Prosa und gab in dieser wie jener das wirkliche Leben wieder, wie er es in den ihm vertrauten Sphären beobachtete, zunächst auf dem Land und besang, d. h. beschrieb, die russische Natur und den Alltag auf dem Land in kleinen Bildern und Skizzen (‚Zapiski ochotnika‘), wie kein zweiter“ (Gončarov 1994, S. 176f.).   73 Koni zitiert hier aus dem Brief an den Großfürsten vom 1. April 1887. 74 Trevožnaja duša – trevožnyj – rastlos, nervös, aufgeregt, beunruhigt, unsicher. 75 Vom 5. März 1856 bis zum 1. Februar 1860 und von Juni 1863 bis zum 29. Dezember 1867 versah Gončarov seinen Dienst bei der Zensurbehörde, zunächst (1856–1860) als Zensor im Petersburger Zensurkomitee, später (1863–1867) als Mitglied des Rats beim Minister des Inneren in Sachen des Buchdrucks (Sovet ministra vnutrennych del po delam knigopečata-

252 Anmerkungen nija) und des Rats der Hauptverwaltung für Druckerzeugnisse (Sovet Glavnogo upravlenija po delam pečati), vgl. Gončarov, 2014, S. 417. Seiner Aufsicht unterstanden zunächst die periodisch erscheinenden Zeitschriften „Panteon“, „Žurnal dlja čtenija vospitannikam voenno-učebnych zavedenij“, „Žurnal Ministerstva vnutrennych del“, „Žurnal konnozavodstva i ochoty“, „Moda“, „gleichzeitig begutachtete er die Manuskripte von Büchern, Artikeln sowie Noten- und illustrativen Materialien unterschiedlicher Thematik. Ungeachtet des immensen Arbeitsumfangs (von 1856 bis 1860 zensierte er 49 106 ¼ Maunuskriptseiten und 4548 Druckbögen [pečatnych listov], erfüllte Gončarov die Arbeit gewissenhaft, ohne von den Instruktionen abzuweichen, war dabei aber bemüht, dennoch den Autoren das Recht zuzugestehen, frei ihre Gedanken darzulegen und offen ihre Meinung zu sagen, wenn dies natürlich die Grenzen des Gesetzes, des gesunden Menschenverstands und des Anstands nicht überschritt“ (Gončarov 2014, S. 431). 1863 wurde ihm die regelmäßige Durchsicht folgender Publikationen übertragen: „Sovremennik“, „Podsnežnik“, „Nuvellist“, „Sobranie inostrannych romanov“, „Kartinnye galerei Evropy“, „Severnoe sijanie“, „Zvezdočka“, „Zabavy i rasskazy“, „Jasnaja Poljana“, „Raduga“, „Den‘“, „Istoričeskaja kartinnaja galereja“, „Ėnciklopedičeskij slovar‘“, „Ėpocha“. Außerdem oblag ihm „auch die Beobachtung der Zeitschrift ‚Russkoe slovo‘, was Gončarov zusammen mit der Prüfung des ‚Sovremennik‘ eine in jener Zeit besondere Verantwortung gegenüber der Obrigkeit wie der Literatur auferlegte“ (Gončarov, 2014, S. 436). 76 „A starost‘ chodit ostorožno i podozritel’no gljadit“– zu einem geflügelten Wort gewordenes Zitat aus Puškins «Poltava» (1829). „Doch Vorsicht ist des Alters Tugend und Misstraun gehet ihr zur Seit“ (übers. von A. Ascharin und F. Bodenstedt). 77 Das Denkmal war am 6. Juni 1880 in Moskau eingeweiht worden, u. a. Turgenev und Dostoevskij hielten anlässlich der anschließenden mehrtägigen Feierlichkeiten Reden. 78 Das Moskauer Frauenkloster Nikitskij monastyr‘ existierte von 1582 bis 1929 und wurde Anfang der 1930er Jahre wegen des Baus eines Umspannwerks für die Moskauer Metro abgerissen (heute ulica Bol’šaja Nikitskaja 7/10). 79 Aleksandr Filippovič Smirdin (1795–1857) – Moskauer Buchhändler und Verleger. Gab u. a. die Werke von Karamzin, Žukovskij, Puškin und Krylov heraus. Begründer der Zeitschrift „Biblioteka dlja čtenija“, die Wegbereiter der „dicken“ Zeitschriften („tolstye“ žurnaly) wurde. 80 Orest Adamovič Kiprenskij (1782–1836), 1827 schuf er das erwähnte Puškin-Porträt. 81 Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) – deutscher Archäologe, Kunsthistoriker. 82 „Potuch ogon‘ na altare“, Zitat aus „Evgenij Onegin“, 6. Buch, Kap. XXXI, über den Tod von Lenskij. 83 In der deutschen Fassung von „Fregat ‚Pallada‘“ heißt es: „Beim Anblick der wachestehenden schottischen Soldaten in ihrer leuchtend bunten Uniform, das heißt im Röckchen aus kariertem schottischem Stoff, aber ohne Hose und deshalb mit nackten Knien, brach er [Faddejev] in schallendes Gelächter aus. ‚Die Königin ist böse auf sie, darum gibt sie ihnen keine Hosen‘, sagte er lachend und wies auf die nackten Beine der Soldaten“ (Gontscharow, 1990, S. 31). 84 Efimij Vasil’evič Putjatin (1803–1883), Admiral, unterzeichnete 1855 das erste Freundschafts- und Handelsabkommen mit Japan. 85 Konstantin Nikolaevič Pos‘et (1819–1899), Kommandeur der Fregatte „Pallas“ im Rang eines Kapitänleutnants. Von 1874–1888 war Pos’et Verkehrsminister und seit 1882 Admiral. 86 Stepan Stepanovič Lesovskij (1817–1884), Kapitänleutnant, später Flottenadmiral. 87 In der Galernaja ulica befand sich die Wohnung der Stasjulevičs.

Anmerkungen

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88 Eine Anspielung auf Puškins „Kavkazskij plennik“: „Kazak ustalyj zadremal, sklonjas‘ na kopie stal’noe. Ne spi, kazak: vo t’me nočnoj Čečenec chodit za rekoj.“ Die Wohnung der Stasjulevičs befand sich ebenfalls am Fluss (an der Newa). 89 Siehe Anm. 11. 90 „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; das Unzulängliche, hier wirds Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist es getan; das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“ ( J. W. von Goethe, Faust II, Chorus mysticus – Schlussverse). 91 Siehe Turgenevs vierzig Jahre währende tragische Liebe zu Michelle Pauline Viardot-García (1821–1910). 92 Mephistopheles sagt bei Puškin: „Kak chitro v deve prostodušnoj Ja grezy serdca vozmuščal!“ (Puškin, 1947, S. 437). 93 Gončarov schirmte zeitlebens sein Privatleben sorgsam vor den Augen der Öffentlichkeit ab, am Ende seines Lebens vernichtete er fast alle persönlichen Schriftstücke. Lediglich über seine Gefühle für Elizaveta Tolstaja gibt ein 1913 aus ihrem Nachlass veröffentlichtes Briefkonvolut Aufschluss, das 2013 unter dem Titel „Herrlichste, beste, erste aller Frauen“ in einer deutschsprachigen Ausgabe erschien (siehe Gončarov, 1913; Gontscharow 2013). 94 „I vsjudu strasti rokovye I ot sudeb zaščity net“ – die Schlusszeilen aus Puškins „Cigany“. 95 Im Russischen hier „prost i dobr dušoj nezlobnoj“. Bei Puškin in den „Cigane“ heißt es „Alt an Jahren, doch jung und lebendig, mit sanfter Seele“: „On byl uže letami star, no mlad i živ dušoj nezlobnoj (S. 166). In deutscher Nachdichtung von Brigitte Struzyk: „Sein Haupt steckt schon im Altersrahmen, doch war er jung, ganz unverstellt war seine Seele, konnt er singen!“ (Puschkin, 1985, S. 178). 96 Gončarov schrieb diesen Brief nicht 1889, sondern am 30. Juni 1886 aus Dubbeln, siehe Brief 54 im vorliegenden Band. Koni hat hier den Satz „Weshalb sind wir nicht so!“ gestrichen, die zitierte Briefstelle lautet vollständig: „Gerührt betrachte ich jene gebrochenen und vom Leben gezeichneten alten Männer und Frauen, die an Kirchenmauern gekauert oder in ihren Kämmerchen vor dem Heiligenbild still und klaglos ihre Bürde tragen und im Leben und hoch über dem Leben nur das Kreuz und das Evangelium sehen, einzig daran glauben und darauf hoffen! Weshalb sind wir nicht so! ‚Das sind Selige, die da geistlich arm sind‘, sagen die klugen Denker. Nein – es sind Menschen, jene, denen das zugänglich ist, was den Klugen und Vernünftigen verschlossen bleibt. Ihrer ist das Himmelreich und sie werden Gottes Kinder heißen! Sie werden sagen: was faselt der alte Esel da! Will er vielleicht in die Fußstapfen des Grafen Tolstoj treten.“ 97 Hier „na kraju obryva“ – in Anspielung auf den Roman „Obryv“ (deutsch Abhang, Absturz, Steilwand, steil abfallendes Ufer). Die deutsche Wiedergabe des Romantitels mit „Die Schlucht“ ist nicht ganz korrekt. Ivan Gončarov wurde auf dem St. Petersburger Friedhof Novoe Nikol’skoe kladbišče des Aleksandr-Nevskij-Klosters beigesetzt. 1956 wurden die sterblichen Überreste auf den Volkovo kladbišče (Volkovo-Friedhof ) umgebettet.

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Im Band erwähnte Werke Ivan Aleksandrovič Gončarovs Im Folgenden werden die in den vorliegenden Texten wie in den Kommentaren erwähnten Werke Gončarovs in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, im Originalwortlaut und mit ihren deutschen Titeln (kursiviert, falls in deutscher Übersetzung bereits erschienen, und mit der in den deutschen Ausgaben verwendeten Umschrift) oder für diese Ausgabe übersetzt. Fregat Pallada (Fregatte Pallas) 22, 60, 62, 108, 124, 155, 161, 168, 169, 175, 177, 188, 189, 195, 196, 202, 219, 221, 227, 242, 246, 252 Ivan Savič Podžabrin (Iwan Sawitsch Podshabrin) 161, 247 Lučše pozdno, čem nikogda (Lieber spät als nie) 192, 247 Maj mesjac v Peterburge (Ein Monat Mai in Petersburg) 20, 23, 154, 240 Mil’on terzanij (Eine Million Qualen) 157, 168, 190, 193, 242, 243 Namerenija, zadači i idei romana „Obryv“ (Absichten, Aufgaben und Ideen des Romans „Obryv“) 167, 168, 250 Na rodine (In der Heimat) 20, 119, 121, 122, 124, 125, 127, 156, 157, 165, 166, 190, 197, 224, 225, 226, 227, 243 Narušenie voli (Missachtung des Willens) 18, 25, 138, 157, 158, 182, 190, 229, 232, 238 Neobyknovennaja istorija (Eine ungewöhnliche Geschichte) 11, 211, 251 Oblomov (Oblomow) 8, 9, 12, 13, 14, 15, 17, 83, 155, 156, 160, 161, 162, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 178, 180, 183, 188, 189, 191, 197, 198, 200, 206, 210, 216, 217, 219, 227, 230, 241, 242, 244, 246, 247, 248, 250 Obryv (Die Schlucht) 17, 18, 19, 155, 156, 160, 161, 162, 163, 164, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 175, 187, 189, 190, 204, 206, 211, 219, 244, 246, 248, 250, 251, 253 Obyknovennaja istorija (Eine alltägliche Geschichte) 84, 132, 155, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 205, 219, 230 Po Vostočnoj Sibiri. V Jakutske i v Irkutske (Durch Ostsibirien. In Jakutsk und Irkutsk) 144, 235 Polnoe sobranie sočinenij v 8 tomach (Gesammelte Werke in 8 Bänden) 23, 83, 139, 161, 171, 204, 208, 232, 250 Prevratnost‘ sud’by (Launen des Schicksals) 23, 154, 240 Roždestvenskaja elka (Der Weihnachtsbaum) 222 Slugi starogo veka (Dienstboten vergangener Jahre) 20, 116, 117, 118, 119, 121, 125, 126, 161, 168, 211, 223, 224, 225, 226, 228, 247 Sof ’ja Nikolaevna Belovodova. Pjat‘ glav iz romana. Ėpizody iz žizni Rajskogo (Sof ’ja Nikolaevna Belovodova. Fünf Kapitel aus einem Roman. Episoden aus dem Leben Rajskijs. Vorabdruck aus Obryv) 162, 169, 248, 250

260

Im Band erwähnte Werke Ivan Aleksandrovič Gončarovs

Son Oblomova (Oblomovs Traum. Vorabdruck aus Oblomov) 162, 248 Ucha (Die Fischsuppe) 20, 23, 154, 240 V universitete. Kak nas učili pjat’desjat‘ let nazad (An der Universität. Wie man uns vor fünfzig Jahren unterrichtete) 119, 157, 185

Personenregister Im Personenregister werden die in den Texten und Kommentaren erwähnten Personen (mit Ausnahme von Ivan Gončarov selbst) jeweils mit ihren Vornamen bzw. mit Vor– und Vatersnamen verzeichnet, soweit diese ermittelt werden konnten, bzw., falls dies nicht möglich war, mit einem Attribut (Baron, Graf, Frau usw.). Die Mitglieder der Zarenfamilie wurden – mit Ausnahme der Zaren selbst – unter dem Stichwort Romanov eingeordnet. Wenn Personen im Text indirekt genannt werden (wie Zar, Großfürst, Haushälterin, Diener, Mutter, Kinder usw.), wurden sie ebenfalls mit ihren Namen ins Register aufgenommen. In den zitierten Quellen im laufenden Text wurde, sofern sie bereits ins Deutsche übersetzt sind, für die Namen bisweilen auch die Dudenumschrift verwendet, dies wurde im Register nicht besonders kenntlich gemacht. Abdur Rahman Khan 71, 198 Ajvazovskij, Ivan Konstantinovič 202, 219, 223 Aksakov, Sergej Timofeevič 184 Aleksandar Obrenović, König von Serbien 240 Aleksandr II. Nikolaevič (Zar) 14, 202, 207, 230 Aleksandr III. Aleksandrovič (Zar) 83, 137, 138, 139, 193, 204, 228, 230, 231, 244 Alexis, Paul 191 Alfred von Sachsen–Coburg und Gotha, Herzog von Edinburgh 202 Andō, Kensuke 124, 227 Annenkov, Pavel Vasil’evič 18 Antokol’skij, Mark Matveevič 200 Arcimovič, Viktor Antonovič 127, 229 Arsen’ev, Konstantin Konstantinovič 126, 130, 146, 182, 228, 230 Ascharin, Andreas (auch Andrej Aleksandrovič Ašarin) 252 Auerbach, Berthold 171, 211, 251 Baggovut, Frau 106, 134 Balakin, Aleksej Jur’evič 224, 227

Banza 66, 69, 76 Baturin, Anatolij Dmitrievič 106, 218 Beaconsfield, Earl of, siehe auch Disraeli 27, 183 Belavina, Ėllikonida Aleksandrovna 219 Belinskij, Vissarion Grigor’evič 169, 182, 220 Belogolovyj, Nikolaj Andreevič 217 Beneskritov, A. E. 97, 98, 108, 135 Bernhardt, Sarah (eigentlich Marie Henriette Rosine Bernhardt) 32 Bjørnson, Bjørnstjerne Martinius 168, 250 Bljaze 101 Boborykin, Petr Dmitrievič 50, 52, 53, 56, 64, 71, 72, 95, 102, 111, 135, 174, 190, 191, 192, 193, 198, 209, 210 Boborykina, Sof ’ja Aleksandrovna 53, 64, 71, 72, 95, 193, 198 Bodenstedt, Friedrich von 252 Böll, Heinrich 15 Bogdanov, Familie 54 Bogoljubov, Aleksej Stepanovič siehe auch Emel’janov 229

262 Personenregister

Brandes, Georg 118, 224 Brjullov, Pavel Aleksandrovič 200 Buslaev, Fedor Ivanovič 14 Byron, George Gordon Noel 37 Cassirer, Bruno 7, 8 Céard, Henry 191 Certelev, Dmitrij Nikolaevič 83, 205, 206 Champier, Symphorien 217 Chvoščinskaja–Zajončkovskaja, Nadežda Dmitrievna (Krestovskij-Pseudonym) 61, 62, 195 Commichau, Theodor 231, 247 Conrad, Barbara 8 Cottin, Sophie 249 Croissante, L. 59, 189, 195 Cubat, Jean–Pierre 132, 230 Čajkovskij, Petr Il’ič 223 Čechov, Anton Pavlovič 10, 14, 15, 214 Čičerin, Boris Nikolaevič 14 Danilevskij, Rostislav Jur’evič 12 Daudet, Alphonse 170, 251 Davydov, Denis Vasil’evič 190 Deržavin, Gavriil Romanovič 222 Diederichs, Eugen 7 Disraeli, Benjamin, Earl of Beaconsfield 27, 183 Dobroljubov, Nikolaj Aleksandrovič 169, 241, 250 Donon, George 132, 230 Dostoevskij, Fedor Michajlovič 7, 14, 20, 169, 170, 214, 236, 252 Drentel’n, Aleksandr Romanovič 185 Družinin, Aleksandr Vasil’evič 210 Ekaterina II. Alekseevna (Zarin) 183 Eliseev, Grigorij Petrovič 201 Eliseev, Stepan Petrovič 201

Emel’janov, Archip Petrovič 229 Evrejnova, Anna Michajlovna 77, 201 Fedotov, Pavel Andreevič 162, 248 Fiedler, Friedrich 223 Firks, Carl 202, 204 Flaubert, Gustave 9, 211 Fol’vort 63 Fontane, Theodor 203 Fonvizin, Denis Ivanovič 186, 219 Friedrich II. (König von Preußen) 213 Gaboriau, Émile 192 Gaevskij, Viktor Pavlovič 32, 183 Gajdeburov, Pavel Aleksandrovič 241 Gal‘perin–Kaminskij, Il‘ja Daniilovič 230 Gambetta, Léon 71, 199 Gambs, Heinrich 243 Gartman, Matilda Goracievna (auch Matilda Ljubovna) 54, 66, 69, 193, 198 Gartman, Nikolaj Nikolaevič 66, 69, 197, 198 Garšin, Vsevolod Michajlovič 223 Ge, Nikolaj Nikolaevič 200 Gercen, Aleksandr Ivanovič 160, 182 Gerngross, Familie 77, 79, 82 Gincburg, Aleksandr Goracievič 236 Gincburg, Evzel‘ Gavriilovič 199 Gincburg, Goracij Osipovič 72, 83, 127, 139, 145, 193, 199, 205, 221, 235, 240 Glazunov, Aleksandr Konstantinovič 235 Glazunov, Il’ja Ivanovič 23 Glazunov, Ivan Il’ič 22, 83, 188, 204, 208 Gnedič, Nikolaj Ivanovič 184 Goes, Albrecht 16

Personenregister

Goethe, Johann Wolfgang von 9, 10, 13, 176, 213, 249, 253 Gogel‘, Ljubov‘ Grigor’evna 111, 222 Gogol‘, Nikolaj Vasil’evič 7, 8, 31, 108, 180, 183, 214, 218, 219, 236, 242, 246, 250 Goleniščev–Kutuzov, Arsenij Arkad’evič 98, 211 Golovnin, Aleksandr Vasil’evič 109, 219 Gončarov, Aleksandr Ivanovič 22, 190 Gončarov, Aleksandr Nikolaevič 99, 211, 235, 244, 245 Gončarov, Nikolaj Aleksandrovič 81, 199, 202, 211, 245 Gončarov, Vladimir Nikolaevič 235, 244, 245 Goncourt, Edmond de 191 Goncourt, Jules de 191 Gorbunov, Ivan Fedorovič 168, 250 Gor’kij, Maksim 7, 8 Gotskaja 66, 69 Gradovskij, Grigorij Konstantinovič 241 Griboedov, Aleksandr Sergeevič 156, 184, 193, 198, 213, 242 Grigorovič, Dmitrij Vasil’evič 56, 98, 194 Grot, Jakov Karlovič 114, 223 Grot, Konstantin Karlovič 133 Guenther, Johannes von 211, 212, 214, 215, 248 Guvenius, Anna Ivanovna 149, 150, 152, 238 Haass, Friedrich Joseph 15 Habermas, Jürgen 12 Hahn, Josef 8 Haymerle, Heinrich Karl Freiherr von 72, 199 Hennique, Léon 191

263

Hesse, Hermann 7, 8, 10 Hielscher, Karla, 23 Homer 197 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 155, 242 Humboldt, Gebrüder 213 Huysmans, Joris–Karl 191 Ivaškovskij, Semen Martynovič 44, 185 Jazykov, Andrej Michajlovič 110 Jazykov, Michail Aleksandrovič 104, 109, 217, 219, 220 Jazykov, Sergej Michajlovič 110 Jazykova, Ekaterina Aleksandrovna 110, 219 Junge, Ėduard Andreevič 139, 232 Jur’evskaja, Ekaterina Michajlovna 207 Kästner, Ingrid 202, 233 Kant, Immanuel 13, 213 Karamzin, Nikolaj Michajlovič 217, 223, 252 Karpeeva, Ol’ga Engelevna 12 Kataev, Vladimir Borisovič 10 Kaufman 123 Kavelin, Konstantin Dmitrievič 25, 28, 33, 42, 158, 182 Keil, Rolf–Dietrich 247 Keuchel, Gustav 247 Kiprenskij, Orest Adamovič 174, 252 Kirmalov, Viktor Michajlovič 235 Kirmalov, Vladimir Michajlovič 235 Klark, Aleksandr Filippovič 132, 230 Klark, Sof ’ja Isaakovna 221, 230 Kljušnikov, Viktor Petrovič 118, 224 Koni, Anatolij Fedorovič 11, 12, 14, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 23, 44–147, 182, 184, 188, 189, 191, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 204, 206, 209, 210, 217, 218, 219,

264 Personenregister

222, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 234, 235, 236, 238, 240, 241, 242, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 253 Koni, Evgenij Fedorovič 15, 61, 195 Koni, Fedor Alekseevič 14, 44, 103, 184, 196 Koni, Irina Semenova 73, 78, 199, 240 Koni, Ljudmila Fedorovna 62, 63, 196 Koni, Ol’ga Fedorovna 62, 63, 196 Kopelev, Lev Zinov’evič 15 Korolenko, Vladimir Galaktionovič 8 Kostomarov, Nikolaj Ivanovič 14 Kraevskij, Andrej Aleksandrovič 84, 117, 206, 220, 221, 224 Kramskoj, Ivan Nikolaevič 25, 28, 33, 34, 35, 37, 42, 158, 182, 199, 200 Krestovskij, Vsevolod Vladimirovič 195 Krestovskij-Pseudonym, siehe auch Chvoščinskaja-Zajončkovskaja 61, 62, 195 Kruze, Nikolaj Fedorovič 45, 47, 188 Krylov, Ivan Andreevič 184, 196, 220, 246, 252 Kulomzin, Anatolij Nikolaevič 99, 144, 235 Kulomzina, Frau 99 Kutuzov, Arsenij Arkad’evič, siehe auch Goleniščev–Kutuzov 98, 211 Laferté, Victor, siehe auch Jur’evskaja 86, 207 Lazarev 101 L’chovskij, Ivan Ivanovič 12 Lebedeva, Stepanida Sofronovna 119 Lemke, Michail Konstantinovič 234, 240 Lermontov, Michail Jur’evič 184, 214, 246 Leskov, Nikolaj Semenovič 214, 223, 236

Lesovskij, Stepan Stepanovič 175, 252 Levenštejn, Evdokija Petrovna 218 Ljangevic 76 Ljuboščinskij, Mark Nikolaevič 45, 48, 135, 139, 185, 188, 231, 243, 245 Loris–Melikov, Michail Tariėlovič 194 Ludwig III. von Hessen–Darmstadt 199 L’vova–Sineckaja, Marija Dmitrievna 44, 184 Macor, Laura Anna 14 Majdel‘, Baronin 101 Majer, Arzt 126 Majkov, Apollon Nikolaevič 223 Majkova, Ekaterina Pavlovna 250 Maksimov, Sergej Vasil’evič 241 Mamin-Sibirjak, Dmitrij Narkicovič 241 Mamontova, Elizaveta Grigor’evna 240 Manasein, Nikolaj Avksent’evič 78, 201 Manasein, Vjačeslav Avksent’evič 241 Mandel’štam, Osip Emil’evič 194, 203, 204 Mandel’štam, Augenarzt 209 Mann, Thomas 10 Marija Fedorovna (Zarin) 137, 139, 152, 237 Markelov, Dmitrij Dmitrievič 238 Markelova, Anna Ivanovna 22, 149, 150, 151, 152, 238 Marks, Adol’f Fedorovič 118, 119, 223 Maslovskij 118 Matisen 96 Maupassant, Guy de 191 Mel’nik, Vladimir Ivanovič 18, 179, 180, 184, 196, 234, 241 Merežkovskij, Dmitrij Sergeevič 241 Meyerbeer, Giacomo 63 Michajlovskaja, Frau 100 Michajlovskij, P. B. 100

Personenregister

Michels, Volker 7 Michnevič, Vladimir Osipovič 190, 237, 239, 241 Miklucho–Maklaj, Nikolaj Nikolaevič 213 Minaev, Dmitrij Dmitrievič 170, 250 Mirskij, Lev Filippovič 185 Mohammed Ayub Khan 71, 198 Monachov, Ippolit Ivanovič 156, 242 Müller, Claus Peter 10 Müller, Georg 7 Müller–Kamp, Erich 219 Muzalevskaja, Anna Aleksandrovna 185 Nabokov, Dmitrij Nikolaevič 217 Nabokov, Vladimir Vladimirovič 217 Nadeždin, Nikolaj Ivanovič 44, 184 Napoleon Bonaparte 184 Nekrassov, Nikolaj Alekseevič 220 Nemirovič–Dančenko, Vasilij Ivanovič 241 Nikitenko, Aleksandr Vasil’evič 19, 141, 164, 170, 171, 177, 185, 188, 196, 225, 233, 234, 238, 249 Nikitenko, Ekaterina Aleksandrovna 12, 15, 19, 22, 55, 61, 62, 68, 73, 75, 97, 104, 151, 185, 187, 188, 189, 193, 195, 196, 200, 208, 209, 233, 238 Nikitenko, Kazimira Kazimirovna 62, 73, 75, 97, 104, 151, 196, 200, 233, 238 Nikitenko, Sof ’ja Aleksandrovna 12, 15, 17, 19, 21, 55, 61, 62, 68, 73, 74, 75, 87, 97, 102, 104, 111, 116, 119, 121, 140, 141, 151, 163, 188, 189, 193, 195, 196, 200, 208, 233, 234, 238, 244, 245, 250, 251 Nikolaj I. Pavlovič (Zar) 194, 207, 224

265

Ornatsjaka, Tamara Ivanovna 18, 179, 180, 184, 196, 234 Ostrovskij, Aleksandr Nikolaevič 193, 247 Ovsjaniko-Kulikovskij, Dmitrij Nikolaevič 160, 246 Pavel‘ I. Petrovič (Zar) 195 Pel’cer 116, 117 Petr I. Alekseevič (Zar) 194 Petrov, Aleksandr Andreevič 217 Piper, Reinhard 7 Pisarev, Dmitrij Ivanovič 241 Pisemskij, Aleksej Feofilaktovič 117, 170, 224, 247 Pletnev, Petr Aleksandrovič 194 Pletneva, Aleksandra Vasil’evna 56, 114, 146, 194, 223 Pogodin, Michail Petrovič 184 Pokrovskij, Familie 135 Polenov, Vasilij Dmitrievič 200 Polonskij, Jakov Petrovič 32, 113, 114, 123, 125, 183, 206, 222, 223 Polotebnov, Aleksej Gerasimovič 141, 142, 185, 241 Pomjalovskij, Nikolaj Gerasimovič 241 Popov, Lev Vasil’evič 154, 240 Pos’et, Konstantin Nikolaevič 111, 124, 136, 175, 189, 221, 222, 227, 231, 252 Possel‘ 48, 52, 64, 75, 77, 93, 94, 96, 100, 106, 197, 209 Potechin (Brüder) 145, 146, 236 Pritvic, Baronin 118, 120 Prochorov, Michail Dmitrievič 23 Puškin, Aleksandr Sergeevič 18, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 37, 39, 42, 58, 98, 111, 134, 163, 173, 174, 176, 180, 183, 184, 196, 198, 211, 214, 218, 219, 220, 221, 225, 227, 230, 231, 247, 248, 249, 252, 253

266 Personenregister

Putjatin, Efimij Vasil’evič 175, 252 Pypin, Aleksandr Nikolaevič 126, 182, 206, 228, 236, 241 Rachmaninov, Sergej Vasil’evič 223 Radcliffe, Ann 249 Raffael (Raffaelo Santi) 169 Rákóczi, Ferenc II. 191 Rebinin, F. A. 77, 78, 135, 201 Rembrandt (Rembrandt Harmenszoon van Rijn) 169 Repin, Il’ja Efimovič 200, 223, 240, 241 Rešetnikov, Fedor Michajlovič 241 Rezvecov, Aleksandr Dmitrievič 145, 146 Rezvecov, Familie 235, 239 Richter, Johann 223 Rimskij–Korsakov, Nikolaj Andreevič 229, 235 Romanov, Aleksandr Aleksandrovič (Thronfolger, siehe auch Aleksandr III.) 193 Romanov, Ioann Konstantinovič 224 Romanov, Konstantin Konstantinovič (Großfürst, auch R. K.) 19, 143, 162, 171, 193, 211, 212, 224, 233, 235, 241, 248, 249, 251 Romanov, Konstantin Nikolaevič (Großfürst) 212 Romanov, Nikolaj Aleksandrovič (Thronfolger) 137, 231, 244 Romanov, Pavel Aleksandrovič (Großfürst) 139, 194, 232 Romanov, Sergej Aleksandrovič (Großfürst) 139, 194, 232 Romanova, Aleksandra Vladimirovna 209, 211, 237, 245 Romanova, Elena Pavlovna 71, 198 Romanova, Marija Aleksandrovna (Großfürstin) 202

Romanova, Marija Nikolaevna (Großfürstin) 207, 224 Rossini, Gioachino 195 Rothe, Hans 9 Rousseau, Jean–Jacques 37 Rubens, Peter Paul 168 Rubinštejn, Anton Grigor’evič 223 Salov, Vasilij Vasil’evič 136, 231, 240 Saltykov, Graf 101 Saltykov–Ščedrin, Michail Efgrafovič 199, 217, 241 Sand, George (eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil) 37 Savina, Marija Gavrilovna 85, 86, 207 Schiller, Friedrich von 13, 215, 217, 249 Schöne, Albrecht 10 Shakespeare, William 234 Siegel, Holger 10, 14 Simanskij 96 Skabičevskij, Aleksandr Michajlovič 241 Skopin 54 Smirdin, Aleksandr Filippovič 173, 252 Sobolevskij, Sergej Aleksandrovič 29, 183 Sofronovna 116 Solov’ev, Sergej Michajlovič 14 Sorokin, Ivan Maksimovič 66, 76, 77, 81, 109, 197 Spasovič, Vladimir Danilovič 126, 128, 206, 228, 229, 241 Starickij, Egor Pavlovič 196 Stasjulevič, Ljubov‘ Isaakovna 19, 49, 72, 73, 74, 77, 82, 83, 93, 94, 95, 96, 97, 101, 109, 111, 114, 120, 126, 127, 129, 131, 132, 138, 139, 145, 183, 190, 193, 199, 201, 203, 208,

Personenregister

215, 216, 217, 221, 228, 230, 232, 234, 235, 239, 240, 252, 253 Stasjulevič, Michail Matveevič 12, 15, 18, 19, 21, 23, 49, 61, 72, 74, 77, 82, 83, 84, 90, 93, 94, 96, 97, 98, 100, 101, 103, 108, 111, 113, 114, 116, 120, 125, 126, 127, 128, 131, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 146, 154, 162, 163, 164, 169, 171, 176, 178, 182, 183, 188, 190, 191, 193, 195, 198, 199, 201, 203, 204, 205, 206, 208, 209, 210, 211, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 223, 226, 228, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 239, 240, 241, 242, 243, 245, 248, 249, 251, 252, 253 Stasov, Vladimir Vasil’evič 34, 35, 183 Stojanovskij, Nikolaj Ivanovič 78, 79, 201, 220 Strauss, Johann 63 Strauss, Richard 204 Strindberg, Johan August 170 Struve, Friedrich Adolph August 233 Struzyk, Brigitte 253 Sue, Eugène 205, 206 Superanskij, Michail Fedorovič 209 Suppé, Franz von 63 Suvorin, Aleksej Sergeevič 42 Šaf 76 Šelgunov, Nikolaj Vasil’evič 241 Šeller–Michajlov, Aleksandr Konstantinovič 241 Šepfer 63 Šiškin, Ivan Ivanovič 223 Šnecko 132 Švejnfurt, Ljudvig 79, 96, 193, 197 Tagancev, Nikolaj Stepanovič 241 Tardieu, Auguste Ambroise 59, 194 Terrail, Pierre du, Chevalier de Bayard 217

267

Thiergen, Peter 7, 9, 12, 13, 23 Tichomirov, Nikolaj Ivanovič 126, 228 Time, Galina Al’bertovna 12 Tjutčev, Nikolaj Nikolaevič 220 Tolstaja Aleksandra Andreevna 187, 207, 224 Tolstaja, Elizaveta Vasil’evna 229, 231, 253 Tolstaja, Sof ’ja Andreevna 119, 224 Tolstoj, Lev Nikolaevič 7, 14, 20, 107, 122, 161, 163, 169, 170, 207, 214, 224, 225, 226, 227, 247, 250, 251, 253 Tregubov, Nikolaj Nikolaevič 22, 190, 197, 227 Trejgut, Aleksandra Ivanovna 22, 23, 48, 49, 50, 51, 54, 55, 60, 64, 67, 68, 70, 76, 78, 79, 81, 82, 84, 91, 97, 99, 101, 103, 108, 109, 116, 117, 120, 123, 124, 125, 131, 132, 135, 137, 140, 141, 142, 143, 145, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 176, 185, 186, 187, 190, 193, 208, 209, 221, 223, 224, 227, 233, 237, 240, 243, 245 Trejgut, Aleksandra Karlovna 19, 22, 23, 48, 49, 50, 54, 55, 59, 60, 62, 63, 66, 67, 68, 70, 72, 73, 75, 76, 78, 79, 81, 82, 84, 85, 87, 91, 92, 96, 97, 101, 104, 108, 109, 120, 121, 123, 124, 131, 132, 135, 138, 139, 140, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 176, 177, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 193, 194, 195, 196, 208, 217, 219, 233, 235, 237, 238, 239, 244, 245 Trejgut, Elena Karlovna 19, 22, 23, 48, 49, 50, 54, 55, 59, 67, 68, 75, 77, 78, 79, 81, 82, 84, 87, 91, 96, 97, 101, 103, 108, 120, 121, 124, 131, 132, 135, 138, 143, 144, 145, 147,

268 Personenregister

148, 149, 150, 151, 152, 176, 177, 185, 187, 189, 190, 193, 195, 198, 200, 208, 232, 233, 237, 238, 240, 244 Trejgut, Karl Ljudvig 21, 22, 99, 176, 177, 185, 186, 187, 189, 190, 237, 243, 246 Trejgut, Vasilij Karlovič 19, 22, 23, 48, 49, 50, 54, 55, 67, 68, 72, 76, 78, 79, 81, 82, 84, 87, 91, 96, 97, 101, 104, 108, 121, 123, 124, 125, 131, 132, 135, 138, 143, 145, 147, 149, 151, 152, 176, 177, 185, 187, 189, 190, 193, 195, 197, 198, 202, 203, 208, 209, 210, 228, 231, 232, 237, 238, 244, 245 Trejgut, Familie 21, 22, 23, 46, 49, 70, 177, 185, 187, 188, 208, 235, 239, 245 Trepov, Fedor Fedorovič 229 Trutovskij, Konstantin Aleksandrovič 160, 246 Turgenev, Aleksandr Ivanovič 10 Turgenev, Ivan Sergeevič 7, 8, 9, 18, 20, 25, 27, 28, 29, 32, 33, 36, 37, 39, 42, 98, 163, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 176, 183, 192, 199, 210, 211, 214, 223, 236, 246, 247, 250, 251, 252, 253 Turgeneva, Pelageja Ivanovna (Polina) 251 Uexküll–Güldenband, Alexander Karl Abraham Freiherr von 66, 69, 78, 197 Utin, Evgenij Isaakovič 100, 126, 133, 201, 206, 208, 211, 228, 230

Utin, Lev Isaakovič 221 Utina, Nadežda Alekseevna 133, 230 Utina, Vera Michajlovna 77 Uvarov, Sergej Semenovič 41, 184 Valkin, Mark Charitonovič 190, 219 Valuev, Petr Aleksandrovič 17, 161, 202, 247 Varlamov, Aleksandr Egorovič 44, 184 Vasnecov, Viktor Michajlovič 200 Vejnberg, Petr Isaevič 111, 221 Venedisova, Vera Petrovna 54, 60, 63, 65, 66, 67, 70, 71, 102, 107, 193, 195, 216, 219 Vereščagin, Vasilij Vasil’evič 200, 243 Veržbilovič, Aleksandr Valerianovič 235 Viardot-García, Michelle Pauline 253 Vjazemskij, Petr Andreevič 29, 42, 183, 184 Vortman 76 Vyšnegradskij, Ivan Alekseevič 138, 139, 232 Winckelmann, Johann Joachim 13, 174, 249, 252 Wolf, Baron 70, 107 Zabel, Eugen 161, 247 Zasulič, Vera Ivanovna 20, 129, 130, 222, 229, 234 Zola, Émile 123, 163, 191, 192, 194, 227 Žemčužnikov, Vladimir Michajlovič 45, 47, 50, 188 Žukovskij, Vasilij Andreevič 10, 30, 183, 217, 252

BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE, REIHE A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN HERAUSGEGEBEN VON DANIEL BUNČIĆ, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH UND BODO ZELINSKY

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE REIHE B: EDITIONEN HERAUSGEGEBEN VON ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH, BODO ZELINSKY UND DANIEL BUNČIĆ



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