Brechts Verhältnis zur Tradition [2. Auflage, Reprint 2022]
 9783112618646, 9783112618639

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Werner Mittenzwei

Brechts Verhältnis zur Tradition

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Werner Mittenzwei

Brechts Verhältnis zur Tradition

Akademie-Verlag • Berlin 1973

2. Auflage Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1972 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/310/73 Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4092 Bestellnummer: 2150/4 • ES 7 E EDV-Nr. 752 105 7

Inhalt

Vorbemerkung

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Revolution und Tradition oder Welcher Weg führt vom Neuen zum Alten?

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Der Tabula-rasa-Standpunkt und die Tradition . . . Die Materialwert-Theorie Neue Sicht auf alte Werke oder Was würde ein Marxist mit dem Wallenstein machen? Die Stellung zum Erbe als politische Frage. — Volksfrontpolitik und Literatur Auseinandersetzung um das Erbe. Brecht—Adorno— Marcuse—Lukäcs • Der Einfluß des historischen Materialismus auf Brechts Erbekonzeption

9 22 39 39 55 76

Wir müssen auf Vorbilder bedacht sein oder Welche Traditionslinie bestimmt das Brechtsche Werk? . . . .

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Das subjektive Moment im Verhältnis zum Erbe . Die Traditionslinie des Brechtschen Werkes . . . . Brecht und die deutsche Klassik

93 115 151

Respekt vor den Klassikern — aber keine Einschüchterung durch Klassizität oder Theorie und Praxis der Brechtschen Erbeauffassung in der Deutschen Demokratischen Republik 186 Neue gesellschaftliche Bedingungen — neue Überlegungen zur Erbeauffassung 186 5

Worin besteht das eigenwillige Verhältnis des Theaters zum Erbe? 208 Die großen Bearbeitungen 218 Anmerkungen

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Auswahlbibliographie

265

Personenregister

293

Vorbemerkung

Mit dem vorliegenden Band, 1971 geschrieben, setze ich meine früheren Arbeiten über Brecht fort. Zugleich ist dieses Buch als ein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über Probleme der Traditionsbewältigung und Erbeaneignung gedacht, mit denen sich das Zentralinstitut für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften seit mehreren Jahren beschäftigt. Die Literatur über Brecht ist im letzten Jahrzehnt in einem kaum übersehbaren Maße angeschwollen. Besonders zahlreich sind die Titel, die Brecht mit anderen Dichtem der Weltliteratur vergleichen. Relativ wenig Analysen gibt es jedoch, die Brechts Verhältnis zur Tradition, zur Weltliteratur insgesamt zu bestimmen versuchen. Noch immer dominiert in der Brecht-Forschung die Meinung, der Dichter habe in seinem Verhältnis zur Tradition eine Außenseiterposition innegehabt. Die vorliegende Arbeit will die falschen Extreme in der Darstellung von Brechts Position zum weltliterarischen Erbe überwinden helfen. Brecht war nicht der Vertreter einer ausgesprochen „plebejischen Tradition", der die Traditionslinie von Goethe, Hegel, Heine zu Marx durch eine andere Traditionsmarkierung zu Marx hin zu ersetzen suchte. Für Brecht war das literarische Erbe aber auch nicht etwas Selbstverständliches, zu dem sich die Menschen bekennen, weil es ihnen zufällt, weil es schließlich durch Größe legitimiert ist. Mehr als das Bekenntnis zur Tradition stellte Brecht die Widersprüche im bürgerlichen humanistischen Erbe heraus wie auch die Schwierigkeiten der Aneignung dieses Erbes. Empfänglich für „große Vorbilder", warnte er jedoch vor jeder Einschüchterung durch Größe, deshalb sann er auf Mittel 7

und Methoden, um Größe auf ihre Brauchbarkeit für neue gesellschaftliche Zwecke zu überprüfen. Auf diese Weise entstanden theoretische Überlegungen und methodische Verfahren, mit denen die marxistisch-leninistische Erbetheorie ausgebaut und weiterentwickelt werden konnte. In dieser Arbeit ging es darum, die einzelnen, oftmals sehr subjektiv anmutenden Bemerkungen und Arbeitsnotizen Brechts in historische und theoretische Zusammenhänge zu stellen. Dabei mußte auf Fragestellungen und Lösungswege eingegangen werden, die über den konkreten Anlaß und Bezug der einzelnen Notizen hinausgehen. Andererseits war es nicht möglich, alle Seiten des Brechtschen Verhältnisses zur Weltliteratur in diesem Buch darzulegen. Wenn sich auch die Untersuchung vorwiegend auf die dramatischen und kunsttheoretischen Arbeiten Brechts erstreckt, so sind doch die wesentlichen Probleme erfaßt, die die Traditionsauffassung Brechts bestimmen. Es war nicht meine Absicht, ein Kompendium über die weltliterarischen Einflüsse auf das Gesamtwerk Brechts zu schreiben. Selbst da, wo ich versuchte, eine Traditionslinie des Brechtschen Schaffens abzustecken, konnte nicht mit der Fülle von Bezügen und Hinweisen aufgewartet werden, die bei monographischen Arbeiten mit dem Thema „Brecht und . . ." möglich sind.' Wichtig hingegen war mir zu zeigen, daß Brecht ein entschiedener Gegner jener Auffassung war, die das Erbe als „affirmativ" verteufelte, daß er aber auch eine Haltung ablehnte, die das Erbe, in dem Bemühen, es zu bewahren, nur pontifikal gebrauchte. Brecht sah den Sinn einer produktiven kritischen Erbeaneignung darin, daß die fortgeschrittenste Klasse — wie Lenin sagte — mit dem Erbe „arbeitet". Berlin, Sommer 1971

Werner Mittenzwei

Revolution und Tradition oder Welcher Weg führt vom Neuen zum Alten?

Der Tabula-rasa-Standpunkt und die Tradition Um Brechts Verhältnis zum weltliterarischen Erbe richtig zu verstehen, muß man einige Gemeinplätze über diesen Dichter aufgeben. Brechts Traditionsverständigung vollzog sich in einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung. Von der viel strapazierten „unterkühlten" Diktion des Dichters kann hier keine Rede sein. Brecht stellte zum Problem des Erbes, der Tradition eine weitgespannte Konzeption zur Diskussion, kühn im Entwurf, befestigt durch eine ganze Reihe methodologischer Verfahren und Vorschläge. Zugleich waren diese Überlegungen nicht frei von hitziger Subjektivität und auch von Rivalität. In der Tradition sah Brecht weder eine erdrückende, fremde Macht noch etwas, was dem Menschen ganz selbstverständlich zufällt und zu dem man sich ebenso selbstverständlich bekennt. Er trat ihr eher wie einer lebendigen Versammlung gegenüber, von der er allerdings annahm, daß sie Grund habe, ihm nicht besonders wohlgesonnen zu sein. Mehr als die literarische Gegenwartsproduktion, die er in den zwanziger Jahren für sehr schwächlich hielt, war für ihn die Tradition das Polemikfeld, auf dem er sich durchzusetzen suchte. Sowenig Pietät er auch der Vergangenheit entgegenbrachte, so groß war doch sein Interesse, seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber. Seine Urteile waren alles andere als ausgewogen und abgeklärt, dienten sie ihm doch zur Formierung, zur Parteibildung innerhalb des literarischen Erbes. Auf diese Weise schloß er Bündnisse, trug er seine Kämpfe aus. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß Brechts Haltung zu den Großen der Weltliteratur verschiedene Phasen durch9

lief. Änderte er doch nicht nur seine Meinung zu einzelnen Dichtern, auch sein Verhältnis zur Gesamtheit des humanistischen literarischen Erbes wandelte sich im Laufe seines Lebens. Das ist nur zu verständlich bei einem Dichter, dem die Auseinandersetzung mit dem weltliterarischen Erbe keine rein literarische Angelegenheit war, sondern Teil des politischen Kampfes, der Verständigung über den Charakter der Gesellschaft und den Sinn menschlichen Daseins. Über seine Haltung zur Literatur der Vergangenheit hat sich Brecht in jeder Phase seines Lebens Rechenschaft gegeben. Dabei war er kein Essay-Schreiber, der, wie zum Beispiel Thomas Mann, in Reden und Aufsätzen sein Verhältnis zu den Großen der Weltliteratur darlegte. Auch an literarischen Auseinandersetzungen in Zeitungen und Zeitschriften beteiligte er sich höchst selten, und wenn schon, dann mehr in eigener Sache. Aber Brecht notierte gelegentlich seine Leseeindrücke, vor allem im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit für «ine neue Literatur, für ein neues Theater. Am zahlreichsten und vielfältigsten sind seine Stellungnahmen in der ersten Phase seiner schriftstellerischen Entwicklung. Das ist sicher nicht nur dem Umstand zu danken, daß er sich in seiner Augsburger Zeit als Theaterkritiker betätigte, sondern seiner angestrengten Suche nach einer Position, von der aus er der Literatur seiner Zeit und der Vergangenheit gegenübertreten konnte. Brechts Ansichten über Literatur waren zu dieser Zeit noch nicht genau festgelegt. Er befand sich noch auf der Suche und war zu vielem geneigt, so daß seine Urteile noch keine bestimmte Position erkennen lassen. Der frühe Brecht zeigte sich relativ weitherzig in seinen Kunsturteilen. Er akzeptierte die verschiedensten Richtungen und Stile. So aggressiv, ja grob auch der Ton seiner Augsburger Theaterkritiken war, die polemische Schärfe gegen ganz bestimmte Kunsttraditionen und Kunstrichtungen, die für ihn schon wenige Jahre später kennzeichnend war, fehlte hier noch. Bei aller Originalität war sein Urteil noch nicht frei von konventionellen Ansichten. 1 * In seinen Beschreibungen be* Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die sowohl auf Literatur- oder Quellennachweise hindeuten als auch auf Sachanmerkungen, durch einen Stern gekennzeichnet.

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diente er sich der üblichen Maßstäbe einer bürgerlichen, vorwiegend impressionistisch getönten Kunstkritik. Er gebrauchte noch Wendungen und Kriterien, die er kurze Zeit später verdammte und verhöhnte. Selbst über einen solchen Dichter wie Hebbel, von dem er sich bald verächtlich abwandte, der für ihn geradezu zum Sinnbild für Gips und Stuck in der Literatur wurde, schrieb er: „Wie tief die Empfindung und wie rein und kühn der poetische Wille. Es ist drin viel Deutsches . . ." 2 Für Gides Batbseba fand er Worte, die aus der Sicht des späteren Brecht ironisch, parodistisch anmuten, die aber ernst gemeint waren: „Unerhört schön . . . eine zarte Elfenbeinmalerei mit bestürzend tiefer seelischer Fundierung. Hier ergeben Kultur, Dichtung, Gewissen eine wundervoll reine harmonische Einheit. . ." Georg Kaiser charakterisierte er folgendermaßen: „Hier ist ein Dichter . . . noch in der schweren Elefantiasis des Gewissens . . ." 3 Im Gegensatz zu Hebbel und Gide war die Wertschätzung Brechts gegenüber Georg Kaiser von größerer Dauer, aber was ihn später beeindruckte, war nicht mehr die „Elefantiasis des Gewissens", sondern dessen dramaturgische Technik, die epische Anlage der Kaiserschen Stücke. Interessant ist auch, daß er zu dieser Zeit die Stücke Gerhart Hauptmanns liebte, die er später als wenig aktivierende Mitleidsdramatik verwarf und zu einem bevorzugten Gegenstand seiner Polemik machte. Der Augsburger Theaterkritiker Brecht sah selbst in Rose Bernd ein revolutionäres Werk, das die Arbeiterklasse angeht. Er schrieb: „ . . . aber wir müssen hineingehen, es ist unsere Sache, die in dem Stück verhandelt wird, unser Elend, das gezeigt wird. Es ist ein revolutionäres Stück." 4 Hauptmann war ein Dichter, den Brecht schon als Schüler über alles liebte. Die Veränderung im Verhältnis zu Hauptmann, die später eintrat, war ein wichtiges Anzeichen dafür, daß sich bei Brecht eine neue Vorstellung vom Drama herausbildete, die alte Vorbilder auslöschte, bisherige Wertschätzung aufkündigte. In die Augsburger Zeit fällt auch die bekannte Äußerung Brechts zu Schillers Don Carlos-. „Ich habe den ,Don Carlos', weiß Gott, je und je geliebt. Aber in diesen Tagen lese ich in Sinclairs ,Sumpf' die Geschichte eines Arbeiters, der in den Schlachthöfen Chicagos zu Tod gehungert wird. Es handelt 11

sich um einfachen Hunger, Kälte, Krankheit, die einen Mann unterkriegen, so sicher, als ob sie von Gott eingesetzt seien. Dieser Mann hat einmal eine kleine Vision von Freiheit, wird dann mit Gummiknüppel niedergeschlagen. Seine Freiheit hat mit Carlos' Freiheit nicht das mindeste zu tun, ich weiß es: aber ich kann Carlos' Knechtschaft nicht mehr recht ernst nehmen."5 In dieser Bemerkung wird vielfach der Beginn von Brechts Radikalisierung gegen die Klassiker gesehen. Dieser Lektüreeindruck sollte jedoch nicht überschätzt werden. Denn die eigentliche Periode der Auseinandersetzung mit den Klassikern begann erst von jenem Zeitpunkt an, als sich Brecht über die Ursachen dessen klarzuwerden versuchte, was man in den zwanziger Jahren den „Klassikertod" nannte. Mit ihr kündigte Brecht, wie er selbst einmal formulierte, seine „nachlässige Kampfstellung" gegenüber der Literatur seiner Zeit wie der Vergangenheit auf.6 Brechts Wendung „Ich habe den ,Don Carlos', weiß Gott, je und je geliebt" weckt zudem die Vorstellung, als schlage eine bislang vorbehaltlose Liebe zu Schiller plötzlich in Kritik um. Neuere Forschungen weisen jedoch nach, daß Brecht bereits in seiner Gymnasialzeit gegen Schiller Einwände vorbrachte, die in einem Fall sogar dazu führten, daß die Lehrer erwogen, ihn von der Schule zu verweisen.7 Die zunehmende Radikalisierung gegenüber den Klassikern bedarf hinsichtlich ihrer Ursachen einer näheren Erläuterung. (Zumal die Don-Carlos-Bemerkung darüber nur ungenau Auskunft gibt.) Die kritische Sicht, in die Schiller bei Brecht geriet, erinnert an ähnliche Stellungnahmen sozialistischer Schriftsteller in den frühen Phasen ihrer Entwicklung. Nahe liegt ein Vergleich mit Friedrich Wolfs Aufsatz Kunst ist Waffe, in dem dieser ausführte: „Bitte, sich nicht vor Ekel abzuwenden und zur .Iphigenie' oder zur Erhabenheit gotischer Dome zu flüchten! Es wohnen durchschnittlich in einem Haus in London 8 Personen, in Paris 38 Personen, in Berlin 76 Personen! Was soll uns da der .Wilhelm Teil'?! Was geht uns der Parricida und Geßler an? . . . Gebt den Jungens Arbeit, Brot, Atemraum und ein eigenes Bett! Aber laßt sie mit der Iphigenie und dem Wilhelm Teil in Ruhe, die heute für den Jungarbeiter nichts anderes sind als Dunst, Opium 12

und Phrase! Zustimmung Arno Holz: , . . . Dem Elend dünkt ein Stückchen Butter/Erhabener als der ganze Faust.'" 8 Eine solche Haltung zu den deutschen Klassikern findet man auch bei Johannes R. Becher, Egon Erwin Kisch, Oskar Kanehl, Rudolf Braune und vielen anderen. Sie war in den zwanziger Jahren in den verschiedenen proletarischen Kulturorganisationen weit verbreitet. Wolfs Haltung war durchaus kein Einzelfall; sie war vielmehr Ausdruck einer Zeitstimmung. Über diese Zeit zwischen 1918—1933 schrieb Friedrich Albrecht, der sich mit dem Verhältnis von sozialistischer Literaturbewegung und deutscher Klassik befaßte, daß sie dem klassischen Erbe keine solche Aufmerksamkeit gewidmet habe wie die deutschen Linken in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Zwar seien Anfang der zwanziger Jahre noch Ansätze zur Weiterführung der Mehringschen Tradition vorhanden gewesen, aber zwischen 1924 und 1929 seien in der kommunistischen Presse viel sporadischer als vorher Beiträge erschienen, die sich intensiver mit der klassischen Literatur beschäftigten. Erst ab 1929/30 ändere sich dann das Bild allmählich. 9 Die Gründe dafür sind sicher vielfältig. Albrecht nannte einen wichtigen Grund: „Sehr oft nämlich stellt es sich bei näherer Betrachtung heraus, daß die Ursache für oppositionelle Stimmungen gegenüber der Klassik in der Ablehnung jener Seiten ihres Weltbildes liegen, die ohne kritische Korrektur nicht übernommen werden konnten . . . " 1 0 Becher sprach von dem „dumpfen, sich selbst verzehrenden Haß" auf die Tradition einer Klasse, die ihr progressives Erbe zum Verschmieren der Klassenwidersprüche, zum „frommen Betrug" gebrauchte. 11 Hier war die Negation der Klassik ein Moment des Übergangs fortschrittlicher bürgerlicher Intellektueller auf die Position der Arbeiterklasse. Diese Intellektuellen empfanden die Tradition als eine Last, als einen Alpdruck, von dem sie sich auf radikale Weise zu befreien suchten. Für Friedrich Wolf und die proletarischen Schriftsteller war die Haltung zur Klassik Ausdruck des Protestes, der Opposition. Solange Not und Elend herrschten, sollte nicht von Schönheit gesprochen werden, sollte nicht der Kunstwert, sondern der Kampfwert einer Dichtung im Mittelpunkt stehen. Die proletarische Opposition gegenüber der deutschen 13

Klassik unterschied sich in ihren Motiven wie in ihren Äußerungen von modernistischen Antiklassikpositionen, wie zum Beispiel der der Berliner Dadaisten. Die Dadaisten verulkten Goethe unter der Devise „Kunst ist Scheiße".12* Dieser Antiklassik-Position lag aber mehr eine Bilderstürmerhaltung als eine sozial motivierte Einstellung zugrunde. Brecht läßt sich in keine dieser Oppositionsbewegungen richtig einreihen. Seine Beweggründe sind andere. Er wandte sich weder vom Standpunkt der materiellen Not und des Elends der arbeitenden Klasse wie Friedrich Wolf noch im Namen einer neuen Ästhetik wie die Berliner Dadaisten gegen die Klassik. Die Motive, die Brecht veranlaßten, sich gegen die Klassik zu wenden — Klassik hier im weitesten Sinne des Wortes —, sind außerordentlich aufschlußreich im Hinblick auf die neue weltanschauliche und ästhetische Position, zu der sich Brecht hinentwickelte. Zunächst war er in seiner Argumentation weit weniger edel und sozialdenkend als Friedrich Wolf, aber auch weit weniger ästhetisch argumentierend als die Dadaisten. Brecht brachte im Prinzip gegen die Klassik wie überhaupt gegen den größten Teil des literarischen Erbes die gleichen Argumente ins Spiel wie gegen zeitgenössische bürgerliche Literatur: Sie diene keinem großen gesellschaftlichen Interesse und spiegele hauptsächlich den „Glauben an die Persönlichkeit" wider. Vorerst soll hier nicht untersucht werden, inwieweit Brecht einem Irrtum unterlag. Vielmehr geht es darum, wie seine Gründe zu verstehen sind. Da Brecht gerade in dieser Zeit sprunghaft in seinem Denken war, sich verschiedenen Möglichkeiten verschrieb und sich nicht selten auch widersprach, sind diese Gründe nicht leicht zu erkennen. Die vergangenen Kunstperioden überblickend, stellte Brecht in bezug auf das Theater 1927 fest, daß es „irgendwann ein Theater gegeben hat, das mit dem Leben in einem ganz anderen Kontakt stand". 13 Ein solches Theater war für ihn das Theater Shakespeares. Diesem Dramatiker war er immer bereit, einen, „gewissen Kredit" einzuräumen. Bei den deutschen Klassikern, so fand Brecht, war dieser Kontakt zum gesellschaftlichen Leben bereits nicht mehr vorhanden. Die Klassiker, so vermerkte Brecht, „können weit eher auf philosophische 14

Vorbildung hinweisen als auf einen philosophischen Gehalt ihrer Stücke". Hierin sah er geradezu das Elend der deutschen dramatischen Literatur. Eine solche „unglückliche Tradition" habe dazu geführt (hier zitiert Brecht Alfred Döblin), daß man aus einem Drama niemals das Leben, sondern nur den Geisteszustand des Dramatikers erfahren könne. Insbesondere die Entwicklung von Friedrich Schiller zu Friedrich Hebbel zeige, daß, wo die deutschen Dramenschreiber zu denken anfingen, sie auch zu konstruieren begännen. „Shakespeare", hob er dagegen hervor, „hat das Denken nicht nötig." 1 4 Unstimmig, zu leeren Konstruktionen erstarrt, empfand Brecht den größten Teil der bürgerlichen Dramatik schon deshalb, weil er in ihr die Persönlichkeit, den menschlichen Charakter als eigentliche Triebfeder aller historischen Vorgänge beschrieben sah. Daß etwas in dieser Welt durch außergewöhnliche Charaktere und große Persönlichkeiten verändert oder bewerkstelligt werden könne, hielt Brecht angesichts der E r fahrungen des ersten Weltkrieges und der großen Klassenschlachten der Nachkriegsjahre schlechthin für Aberglauben. Die historischen Vorgänge hatten ihn belehrt, in welcher Weise das Individuum noch eine Rolle zu spielen vermochte: als Teil der Masse. Die Demonstration durch den historischen Prozeß empfand Brecht so überzeugend, daß er die individuumsbetonte Erzählweise der alten Literatur für ein Hindernis auf dem Wege zu einer neuen Kunst hielt. Dabei war die Zerstörung der Legende von der alles bewirkenden Kraft der „großen Individuen" freilich auch mit dem Verlust dialektischer Einsicht in die echten Möglichkeiten des Menschen verbunden. Zunächst aber war Brecht fasziniert von der neuen Erkenntnis: „Der einzelne als solcher erreichte eingreifende Wirkungen nur als Repräsentant vieler. Aber sein Eingreifen in die großen ökonomisch-politischen Prozesse beschränkte sich auf ihre Ausbeutung. Die .Masse der Individuen' aber verlor ihre Unteilbarkeit durch ihre Zuteilbarkeit. Der einzelne wurde immerfort zugeteilt, und was dann begann, war ein Prozeß, der es keineswegs auf ihn abgesehen hatte, der durch sein Eingreifen nicht beeinflußt und der durch sein Ende nicht beendet wurde." 1 5 15

Mit solchen Auffassungen stand Brecht nicht allein. Nach dem ersten Weltkrieg, insbesondere unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Erschütterungen und der großen Klassenschlachten, entwickelten bürgerliche Ideologen verschiedene Persönlichkeitskonzeptionen, die sich auf den Abbau der alles bewirkenden Macht der großen Persönlichkeiten richteten. Diese Konzeptionen stellten vor allem das „versachlichte", abstrakte Individuum heraus, das seiner eigentlichen menschlichen Wesenskräfte beraubt sei. Der Mensch empfände sich nur mehr als winziges Teilchen innerhalb eines riesigen, aber völlig sinnlosen Mechanismus. Ernst Schumacher charakterisierte diese Auffassung sehr treffend mit dem Satz: „Das .Menschenmaterial' des Weltkriegs begann die Materialität der Welt als eigenes Wesen zu empfinden." 16 Zwar zeugten diese Konzeptionen von einem schärferen Blick für die Wirklichkeit, aber sie erfaßten dennoch nur die Oberfläche menschlicher Entfremdung, nicht die wirklichen gesellschaftlichen Ursachen. Die Abrüstung des Individuums, der Persönlichkeit geschah mit dem Hinweis auf die Abhängigkeit des Menschen von „übermächtigen", „blindwirkenden" Kräften. „An die Stelle des Glaubens an ein persönliches, mit der Wesenheit des Menschen in geheimer Kongruenz stehendes Schicksal tritt das Bewußtsein einer starken Bedingtheit durch sinnlose und zufällige äußere Faktoren." 17 Von diesen irrationalistischen Auffassungen muß man die Persönlichkeitskonzeption des jungen Brecht abtrennen. Selbst zu einer Zeit, als Brecht die wirklichen Zusammenhänge noch nicht zu durchschauen vermochte, war er weit davon entfernt, die Abhängigkeit des Menschen in „übermächtigen" oder „zufälligen" Faktoren zu suchen. Die Abhängigkeit des Individuums interessierte ihn nur im Zusammenhang mit den Einflußmöglichkeiten der Massen. Von den ersten Überlegungen zu diesem Problem bis zu den gründlichen Studien über die Dialektik von Individuum und Masse in den dreißiger Jahren ging er stets von einer gesellschaftlichen Fragestellung aus und unterschied sich auf diese Weise sehr deutlich von den bürgerlichen Persönlichkeitskonzeptionen, die nur die Oberfläche der kapitalistischen Entfremdung berührten. 16

Die neue Erkenntnis war für Brecht so wesentlich und wichtig, daß sie für ihn zum beherrschenden Maßstab wurde. Er wandte sie auf eine Art und Weise an, daß selbst die großen Werke der Vergangenheit vor seinem Urteil keinen Bestand hatten. Dabei übersah er allerdings den urwüchsigen Materialismus vieler großer literarischer Werke der Vergangenheit und leitete aus der individuumsgebundenen ästhetischen Struktur der Werke eine geschichtsidealistische Haltung ab, einen Glauben an die Macht des Individuums. Eine solche Tendenz war aber weniger im Stoff selbst als mehr in der Erzählweise der Fabel oder einfach in der Tatsache zu suchen, daß eine dramatische Geschichte vom Helden her erzählt wurde. Hier vermischte sich seine Kritik am literarischen Erbe mit den Prinzipien einer neuen, prozeßorientierten Erzählweise, die ihm damals vorschwebte und die er zu etablieren suchte. Er kritisierte somit die Kunst der Vergangenheit von der Position einer Kunst, die er erst durchzusetzen beabsichtigte. Auf diese Weise stellte er aber das literarische Erbe nicht nur in eine kritische Sicht, vor der es nicht bestehen konnte, er machte es auch mehr oder weniger zum direkten Gegenpol der neu zu schaffenden Kunst. Das hatte zur Folge, daß er den alten Werken oftmals mehr Schwächen anlastete, als sie entwicklungsbedingt aufwiesen. Über die konträren Gesichtspunkte einer Literatur, die von der Rolle der Persönlichkeit ausgeht, und einer Literatur, die ihren Stoff vom historischen Prozeß her organisiert, entwickelt Brecht seine Vorstellung von der epischen Erzählstruktur. Die undifferenzierte, pauschale Kritik an der alten Literatur war somit eine Art Selbstverständigungsprozeß über die Eigenschaften einer neuen, im Entstehen begriffenen Literatur. Bei einem solchen Verfahren, das dem Historiker verwehrt, dem Künstler aber erlaubt ist, war eine differenzierte Wertung des klassischen Erbes nicht möglich. Brecht ging es letzten Endes jedoch auch nicht um eine solche historische Analyse. Er versuchte, neue gesellschaftliche Erfahrungen für seine Kunst dienstbar zu machen, indem er zunächst die positiven Merkmale dieser neuen Kunst durch Kritik an den alten Werken herauskristallisierte, indem er sich Klarheit über die Vorzüge der einen durch die Erhellung — und auch Entstellung — der anderen verschaffte. 2

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Aus diesem Gedanken wird deutlich: Noch bevor Brecht seine Vorstellung vom epischen Theater realisierte, trat er als Kritiker des bisherigen Theaters, der bisherigen Kunst auf. Er kritisierte die alte Kunst von den gesellschaftlichen Unstimmigkeiten her, die ihm zunächst noch unklar, noch nicht in allen Ursachen und Zusammenhängen bewußt waren. Er konfrontierte seine aus Krieg und Klassenkämpfen gewonnenen gesellschaftlichen Erfahrungen mit den Werken des klassischen Erbes und fand es nur folgerichtig, daß diese Kunst ihr Publikum verlor. Bei der weiteren Ausarbeitung seiner Vorstellung vom epischen Theater ging Brecht immer mehr dazu über, das literarische Erbe wie die gesamte bisherige Kunstentwicklung aus der Sicht seiner neuen Kunstvorstellungen zu kritisieren. Das führte zu weiteren Widersprüchen. Sie zeigten sich insbesondere in der Haltung zu Shakespeare. Einerseits gewährte er Shakespeare weiterhin „Kredit". Er gab ihn als Vorbild nicht preis. Hin und wieder spielte er ihn positiv gegen die deutsche Klassik und die schwächliche modernistische Gegenwartsproduktion aus. Andererseits aber fand Brecht gerade in den Stücken des großen Briten den „Glauben an die Persönlichkeit", die Amokläufe der „großen Individuen" gestaltet. Jedoch erwies Brecht im Verhältnis zu Shakespeare mehr historischen Sinn als gegenüber den deutschen Klassikern. „Das elisabethanische Drama", schrieb Brecht, „hat eine mächtige Freiheit des Individuums etabliert und es großzügig seinen Leidenschaften überlassen . . . Diese Freiheiten mögen unsere Schauspieler ihr Publikum weiterhin auskosten lassen. Aber zugleich, in ein und derselben Gestaltung, werden sie nunmehr auch die Freiheit der Gesellschaft etablieren, das Individuum zu ändern und produktiv zu machen." 1 8 In dieser Erklärung versuchte Brecht, die Eigenart des elisabethanischen Theaters mit jenem Fortschritt zu verbinden, den er mit dem neuen epischen Theater zu erbringen suchte. Brecht zeigte den Fortschritt des einen Zeitalters, um auf den Fortschritt hinzulenken, der von seinem Zeitalter erwartet wurde. Ansonsten sind die meisten der frühen ShakespeareEinschätzungen jedoch kritisch gegen die „großen Charaktere" gerichtet. „Wir finden im alten Theater eine ausgebildete 18

Technik vor", schrieb Brecht auch über Shakespeare, „die es gestattet, den passiven Menschen zu beschreiben. Sein Charakter wird aufgebaut, indem gezeigt wird, wie er seelisch auf das reagiert, was ihm geschieht.. . Die Menschen handeln zwangsmäßig, ihrem .Charakter' entsprechend, ihr Charakter ist ,ewig', unbeeinflußbar, er kann sich nur zeigen, er hat keine den Menschen erreichbare Ursache. Es findet eine Meisterung des Schicksals statt, aber es ist die der Anpassung; die ,Unbill' wird ertragen, das ist die Meisterung. Die Menschen strecken sich nach der Decke, es wird nicht die Decke gestreckt." 19 In diesen Fragen gab Brecht Shakespeare keinen Kredit. Vom Standpunkt einer Dramatik, die an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert ist, lehnte er die Tragik der Rose Bernd ebenso ab wie die des König Lear. Das wird deutlich, wenn man seine Einwände gegen Hauptmanns Rose Bernd und Ibsens Gespenster mit der Kritik an Shakespeare König 'Lear vergleicht. „Nehmen wir an, ich sehe im Theater ,Rose Bernd' oder die .Gespenster'. . . warum empfinde ich nichts dabei? . . . weil ich hier etwas tragisch finden soll, was man ohne weiteres oder mit weiterem durch einige zivilisatorische Maßnahmen oder auch ein wenig Aufklärung . . . aus der Welt schaffen kann." 20 Und zu Shakespeares Stück bemerkt er: „Nehmen wir noch einmal den Lear, führen wir ihn vor Verhaltensforschern auf. Meint man, die tragische Wirkung tritt ein, wenn der Zuschauer sich fragt, ob denn das Essen, das Lear von seiner Tochter für 100 Höflinge verlangt, da ist, woher es gegebenenfalls zu schaffen wäre?" 21 In der Polemik mit unzeitgemäßen, unstimmigen Darstellungsverfahren der alten Kunst wie der bürgerlichen Gegenwartskunst, in seinem Bemühen, neuen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnissen Eingang in die Literatur zu verschaffen, verfiel Brecht selbst einer unhistorischen Betrachtungsweise. Brecht täuschte sich, wenn er meinte, daß die tragische Wirkung einer Situation aus der Vergangenheit durch den entsprechenden Fortschritt in der Gegenwart aufgehoben werde. Die Einsicht des heutigen Menschen wie seine „zivilisatorischen" Möglichkeiten heben nicht die tragische Wirkung auf, die aus der Darstellung von Situationen entsteht, in denen diese Einsichten und Hilfen nicht zur Verfügung 2*

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stehen konnten. Im Kunstgenuß vollzieht der Mensch nämlich das historische Feld der Möglichkeiten mit, wenn der entsprechende Vorgang vom Dichter als ein gesellschaftlicher, historisch gegebener dargestellt wird. Der Stoß, den Brecht gegen alle bisherige Kunstentwicklung führte, sollte frontal sein, sie als Ganzes treffen. Es ging ihm nicht um den Einzelfall, nicht um diese und jene Schwäche im Werk des einen oder anderen Dichters. Die Schwäche aller bisherigen Kunst aber sah Brecht darin, daß sich die Vielzahl ihrer Gestaltungsmittel und Darstellungsverfahren auf den einzelnen richteten und wiederum Wirkungen beim einzelnen, vor allem im Bereich des Seelischen, auszulösen versuchten. Die bisherige Kunst habe sich nur imstande gesehen, das Leben des einzelnen zu gestalten. Der „Charakter" mit all seinen mächtigen Leidenschaften und seinen feinen Stimmungen sei zur zentralen Kategorie der Literatur geworden. Und ihren Endzweck sehe diese Literatur wiederum in der Auslösung von Stimmungen und seelischer Beruhigung. Durch die „Charaktergestaltung", durch die Kultivierung von Darstellungsverfahren, mit denen Leidenschaften vorgeführt werden konnten, sei die Kunst ruiniert worden. Die bürgerliche Klasse habe die Literatur und Kunst, so fand Brecht, auf die Stufe von „Charaktergemälden" heruntergewirtschaftet. Die gesamte Entwicklung sah er in einer Sackgasse. Aber gerade eine solche Situation könne zu ganz neuen Wegen veranlassen, wenn man sich bewußt werde, daß man sich in einer Sackgasse befinde. Aus diesem Grund hielt er jeden Versuch, dem menschlichen Charakter noch eine neue seelische Nuance, noch eine psychische Besonderheit, noch eine nicht bekannte Leidenschaft abzugewinnen, nur für geeignet, sich weiter in der Sackgasse zu verrennen. Deshalb war seine Losung: Weg mit dem „Charakter"! — Her mit den gesellschaftlichen Prozessen! Nicht das Individuum, sondern das Kollektiv sei der Ausgangspunkt der Kunst. „Kunst ist nicht Individuelles. Kunst ist, sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre Wirkung betrifft, etwas Kollektivistisches." 2 2 Die Situation, in der sich Brecht damals befand, wie auch der eigentliche Sinn der ganzen Auseinandersetzung wird nicht verständlich, wenn man Brechts Kunstbetrachtungen nur am

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Sinn für historische Gerechtigkeit mißt. Das würde nur zu Kopfschütteln darüber führen, wie ungerecht und historisch unsachgemäß viele Große der Vergangenheit von Brecht behandelt wurden. Brecht unterlag bei seinen Betrachtungen einer doppelten Optik. Er ging von dem zeitgenössischen Zustand, der von der spätbürgerlichen Ästhetik beherrscht wurde, aus. Diese Ästhetik hatte aber tatsächlich alle Wirklichkeit-Kunst-Beziehungen psychologisiert, hatte den „Charakter", das „Seelische" zum Drehpunkt der Kunst gemacht. Aus der Kunst und Literatur waren mehr oder weniger alle Elemente des wirklichen Lebens, alles, was die Entwicklung der Gesellschaft tatsächlich beeinflußt, ausgeschlossen. Den von hier aus gewonnenen polemischen Standpunkt übertrug Brecht auch auf die Literatur weiter zurückliegender Phasen und Epochen, ohne sich allzu eingehend mit den konkreten historischen Bedingungen zu befassen. Die Auseinandersetzung mit den „schwächlichen" Produkten der bürgerlichen Gegenwartsliteratur hielt Brecht für keinen seinem Anliegen angemessenen Gegenstand. Große Veränderungen wollte er nicht an kleinen, wenig aussagekräftigen Vorgängen demonstrieren. Deshalb richtete sich seine Aufmerksamkeit mehr auf die Literatur vergangener Epochen als auf die zeitgenössische. Die Übertragung der aus dem Zustand der spätbürgerlichen Ästhetik abgeleiteten Polemik auf das breite Feld des weltliterarischen Erbes führte dann zu einer Radikalität, die mit der bisherigen Literaturentwicklung fast tabula-rasa machte. Diese Tabula-rasa-Haltung kam vor allem zum Ausdruck, als er Mitte der zwanziger Jahre auf die Rundfrage „Was halten Sie für Kitsch?" schrieb, man möge da ruhig den ganzen Kürschner abdrucken. Die paar Namen, die er gestrichen haben wolle, könne er in einem Drei-MinutenGespräch telefonisch durchsagen. 23 Wenn man bei der Analyse der Brechtschen Haltung auch den vorbedachten ironischen, provokanten Ton in Rechnung stellen muß, so sollte man sich aber nicht darüber täuschen, daß es Brecht mit seiner Meinung ernst war. Von der „nachlässigen Kampfstellung" erfolgte der Umschlag in eine Haltung gegen alles, was nicht wenigen Menschen seiner Zeit lieb und teuer war. In einer späteren Tagebuch-Notiz wies Brecht 21

einmal darauf hin, daß man die Tabula-rasa-Situation, das Beginner-Gefühl brauche, wenn man etwas Neues schaffen wolle. Diese Bemerkung ist bei Brecht nicht im Sinne der Liquidation, des Verwerfens alles Bisherigen zu verstehen. Aber die tatsächliche, die dialektisch verstandene Aufhebung führt immer über das Moment der Negation hinaus. Innerhalb des historischen Prozesses, im Leben des einzelnen wie in der Gesamtheit der Gesellschaft, tritt dieses Moment in vielfältiger Gestalt, in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Wie widerspruchsvoll dieser Prozeß im Leben Brechts verlief, geht schon daraus hervor, daß er unmittelbar zu dem Zeitpunkt, als er von der „nachlässigen Kampfstellung" zu der Tabula-rasa-Haltung überwechselte, nach Tradition verlangte. Bei aller Radikalität war er nicht bereit, auf Tradition zu pfeifen. „Handelt es sich jedoch um wirkliche, revolutionäre Fortführung", vermerkte er, „so ist Tradition nötig."24 Tabula-rasa machen und auf Tradition bestehen, das ist ein schwer erklärbarer Widerspruch. Aber Widersprüche dieser Art sind es, die große Entwicklungen auslösen. Im Zusammenhang mit seiner radikalen Kritik an der bisherigen Kunstentwicklung begann Brecht, eine Traditionslinie aufzubauen, die nicht schlechthin von Werken markiert wurde, die er besonders schätzte, sondern die den Versuch darstellte, eine Ahnenreihe des epischen Theaters ausfindig zu machen. Sie war weit gespannt. Sie reichte vom „asiatischen" Vorbild über Shakespeare bis zu Georg Kaiser, der für Brecht „am Ende dieser Tradition" stand.25

Die Materialwert-Theorie Im Messingkauf spricht der Philosoph davon, daß man dem Dichter nur soweit folgen solle, wie er der Wahrheit und den öffentlichen Interessen diene, sonst aber, schlägt der Philosoph vor, wäre der Dichter zu verbessern. Darauf antwortet der Dramaturg: „Ich frage mich, ob du wie ein kultivierter Mensch sprichst."26 Wenn man die literaturtheoretische Entwicklung der letzten Jahrzehnte übersieht, so ist die Antwort des Dramaturgen eigentlich noch heute die Antwort der Litera22

turwissenschaft auf Brechts Materialwert-Theorie. Die marxistische Germanistik, lange Zeit ausgerichtet nach den Theorien Georg Lukäcs', hat es sich mit Brecht stets schwer gemacht und sich nur schrittweise zu seinen Theorien und methodologischen Verfahren bekannt. Gegenüber der MaterialwertTheorie ist sie bis heute abweisend geblieben. Sie bildete sozusagen die äußerste Grenze, an die man mit Brecht zu gehen bereit war. Weitaus mehr Widerhall fand diese Theorie dafür in der künstlerischen Praxis, insbesondere im Theater. Die Art und Weise, wie dort gelegentlich von ihr Gebrauch gemacht wurde, hat aber das Ansehen dieser Theorie nicht gehoben. Die Widersprüche traten eher noch schärfer hervor. Der gegenwärtige Stand der Brecht-Forschung drängt die Frage auf: Muß man die Materialwert-Theorie Brechts nicht einfach als einen Irrtum des jungen Brecht bezeichnen, der von ihm selbst überwunden wurde? Wozu dann einen toten Hund ausgraben? Wer die theoretischen Schriften Brechts kennt, ist sich klar darüber, daß es in dieser Frage eine Entwicklung gegeben hat. Aber eine historische Wertung im Sinne des historischen Materialismus kann sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß ein Standpunkt durch einen besseren, nützlicheren überwunden wurde. Der tatsächliche Vorgang ist komplizierter. Zunächst ist zu klären, welche Gründe Brecht zu dieser Theorie veranlaßten und in welcher Situation sie entstand. Auf die Materialwert-Theorie kam Brecht in einer Zeit, in der die Darstellungsform der Klassik auf dem Theater in eine Krise geraten war. Nach dem ersten Weltkrieg trat ein großer Teil des Publikums seinen Klassikern, wenn auch nicht immer mit Mißtrauen, so doch mit einer veränderten Einstellung gegenüber. Diese Veränderung der Zuschauergewohnheit, des Publikumsgeschmacks war alles andere als rein literarisch, sie erwies sich als ein Resultat historischer Vorgänge. Selbst dem apolitischen Zuschauer blieb die große gesellschaftliche Krise nicht verborgen. Auch er machte seine gesellschaftlichen Erfahrungen. Die Krise der Klassikerdarstellung stand im direkten Zusammenhang mit der Gesellschaftskrise. Der Theaterkritiker Herbert Jhering formulierte damals aus seiner Sicht: „Die Bewegung gegen die Klassiker ist international. Die Zer23

trümmerung traditioneller Werte hat in Rußland begonnen wie in Deutschland. Wenn England, Frankreich und Amerika noch zurückbleiben, so nur deshalb, weil Amerika keine Tradition hat, weil England und Frankreich konservative Theaterländer sind, langsamer in Bewegung geraten und kaum bei Reinhardt stehn." 2 7 Brecht, dessen radikale Position schon beschrieben wurde, faßte die Frage weit globaler. Seine Kritik richtete sich nicht nur gegen die gegenwärtige Darstellungsform der klassischen Stücke, sondern auch gegen die Klassiker selbst. (Nur im Dialog mit Jhering suchte Brecht seine Auffassung hinsichtlich der Kritik an der Darstellungsweise der klassischen Stücke und an den Klassikern zu differenzieren.) Um das ganze Problem noch auf die Spitze zu treiben, umgab Brecht seine Materialwert-Theorie selbst mit dem Fluidum der Anrüchtigkeit, indem er sie ganz offen mit den Praktiken der Vandalen verglich, die von der Kunst ihrer Vorgänger nur den Materialwert schätzten. Denn dafür wußten sie noch eine Verwendung, während der inhaltlich-ideologische Aussagewert ihnen nutzlos erschien, weil er sich nicht mit ihren gesellschaftlichen Interessen deckte. Sie hielten sich an die Nützlichkeit des Materials. Brechts Formulierungen waren sehr bewußt auf Provokation und zugleich als Bekenntnis zu den Anführern des „Vandalentums auf dem Theater", nämlich zu Jessner und Piscator, angelegt. Die Krisis der klassischen Darstellungsform war allgemein. Sie war beredter Ausdruck für die Unstimmigkeiten, für das Mißverhältnis zwischen bürgerlicher Kunstausübung und dem tatsächlichen gesellschaftlichen Leben. Der Verfall der klassischen Darstellungsform ging einher mit dem Verfall der bürgerlichen Literaturwissenschaft. Die Ausführungen von Jessner und Piscator waren in dieser Situation nicht Ausdruck des Verfalls einer großen Literaturtradition, sie waren nur die kritische Reaktion auf diesen Verfall. Sie stellten den aussichtslosen Versuch dar, der Krise durch radikale Regielösungen beizukommen. In der Sicht des verkehrten Bewußtseins erschienen aber gerade die als Verderber, die die Verderbnis erkannt hatten. "Als verkommen galten die, die die Verkommenheit des bürgerlichen Traditionsbewußtseins aufzudecken versuchten.

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Obwohl das spätbürgerliche Theater der zwanziger Jahre im starken Maße wissenschaftsfeindlich war, war es mit der Entwicklung der Literaturwissenschaft, insbesondere der Germanistik, oftmals eng verbunden. In einem ausgesprochenen Bildungstheater, wie es das deutsche war, spiegelte sich die Tendenz dieser Wissenschaft ganz unmittelbar wider. Wenn es auf dem spätbürgerlichen Theater zu einer immer breiteren Privatisierung und immer stärkeren Psychologisierung aller großen gesellschaftlichen Vorgänge kam, so war die Entwicklung der Literaturwissenschaft von Scherer zu Dilthey und seinem populären literaturtheoretischen Vertreter Gundolf daran nicht schuldlos. Durch diese Entwicklung wurde ein großer Teil des theoretischen Arsenals zur Privatisierung der Klassiker bereitgestellt. 1916 erschien Friedrich Gundolfs Goethe-Buch, das, wie Paul Rilla schrieb, in kurzer Zeit zum „Hausbuch der gebildeten Familie" werden sollte: „Denn die bürgerliche Bildung hatte Fortschritte gemacht. Nicht einmal mit biographischen Intimitäten konnte man ihr mehr imponieren, sie waren zu realistisch. Womit man ihr imponieren konnte, war ein Pathos, das weder gedanklich noch stofflich zu kontrollieren, sondern nur vermittels irrationaler Zündungen zu erspüren war . . . Goethe als Kraft (ohne Stoff), Goethe als Wirkung (ohne Ursache), Goethe als Ereignis (ohne Folge) — es lief immer auf dasselbe hinaus: Goethe als Mythos ohne Geschichte. Denn Geschichte, Entwicklung,. Fortschritt sollte es nicht mehr geben . . . Aus dem luftleeren Raum des bloß noch zu seiner eigenen Unwirklichkeit entschlossenen Zeitgeistes erschuf Gundolf das Goethe-Bild, in dem ein Bildungsbürgertum, das längst von seiner eigenen Tradition abgefallen war und keine Geschichte mehr hatte, sich noch einmal als ästhetische Instanz bestätigt fühlen konnte." 28 Der Positivismus mit seiner fatalen gedanklichen Bindung der Klassiker an die Geschichte und das Vorbild der Hohenzollern wurde abgelöst durch den Irrationalismus Gundolfs. Die methodologische Basis der Scherer-Schule mit ihrem „Drei-Schritt-Schema" vom „Ererbten, Erlernten, Erlebten" wurde durch das „Urerlebnis" der Gundolf-Schule ersetzt. An die Stelle von Biographie und Einflußtheorie rückte das Bewegungsgesetz der Erschütterung durch die „innere 25

Struktur" des Menschen. Dieser Verinnerlichungskult führte auf dem Theater zu noch einer größeren Verschmutzung der Klassiker als durch den Positivismus und die BiographieManier der Scherer-Schule. Durch die Aushöhlung der gesellschaftlichen Grundlagen der klassischen Literatur wurde diese Dichtung handhabbar für die Lebenshaltung einer parasitären Bourgeoisie und eines verängstigten, apolitischen Kleinbürgertums. Aus Tradition wurde, wie Jhering sich ausdrückte, einfach nur „Verbrauch". Jhering beschrieb diesen Einbruch in die klassische Tradition folgendermaßen: „Die Schule entzog den Klassikern das Leben, indem sie jede Wechselwirkung ausschaltete. Die Schule enteignete die Klassiker, in dem sie den Nationalbesitz als Privatbesitz behandelte und als P r i v a t s t o l z gegen Dichter anderer Nationen ausspielte... Die Germanisten schwatzten von Goethes Liebschaften, von Goethes Lebenshaltung, spreizten sich mit unwichtigen, auch im Komplex Goethe unwichtigen Einzelheiten, und draußen bereiteten sich Ereignisse vor, vor denen jedes persönliche Schicksal wesenlos, jede Betonung des Privaten lächerlich wurde . . . Diese Zuschauer, soweit sie sich scheinbar jeder zusammenschließenden Begeisterung öffneten, wurden in ihren P r i v a t g e f ü h l e n bestärkt. Sie wurden durch das Theater erst recht Privatpersonen, gesteigerte Privatpersonen, die sich vor anderen mit ihrem künstlerischen Erlebnis wichtig machten." 29 Diese Ausführungen zeigen, daß die Tendenzen der Literaturwissenschaften auch auf dem Theater zu finden waren. Hier gewannen sie in ihrer enttheorisierten Form sogar erst ihre breitere Wirkung. So abweisend sich das Theater auch gegenüber der Wissenschaft vdrhielt, die Bühne sog den ideologischen Extrakt der spätbürgerlichen Wissenschaftsentwicklung auf und trug wesentlich dazu bei, daß er vom Publikum als „Lebensgefühl" wahrgenommen wurde. Die sogenannten naiven, „blutvollen" Theaterleute, wie etwa Max Reinhardt, kamen als Gegengewicht gar nicht in Betracht. Indem sie sich, wie Reinhardt, auf das bloße Spiel der Phantasie, auf Farbe, Form und ästhetische Reize orientierten, trugen sie nur auf andere Weise zur Deformierung des klassischen Erbes bei. Max Reinhardts Inszenierungsstil förderte sogar die Privatisierung der Klassiker. Über die künstlerische Eigenart 26

dieses Regisseurs schrieb Herbert Jhering: „Er sah die Rollen, die Szenen. Er sah die Farbe, die Stimmung, die Atmosphäre. Er berauschte sich am Klang, an der Nuance, am ästhetischen Reiz. Es war keine Zeit der kritischen Untersuchung, keine Epoche der Wesensüberprüfung. Es war eine Zeit der gläubigen Hinnahme — zum letztenmal." 30 Auf die Zerstörung der „gläubigen Hinnahme" zielten die Experimente Jessners und Piscators. Allerdings beabsichtigten diese weniger die Aufhellung des gesellschaftlichen Inhalts der klassischen Stücke als mehr die Aktualisierung bestimmter Vorgänge und einzelner Figuren durch provokative Änderungen. So baute zum Beispiel Piscator in seiner Räuber-Inszenierung Karl Moor als Helden ab und dafür Spiegelberg als bewußten Revolutionär auf. Eine neue, nicht auf Pietät beruhende Einstellung zur Klassik sollte dadurch erreicht werden, daß man zeigte, wie fremd den heutigen Menschen die Vorgänge in den klassischen Stücken geworden sind. Mit den provozierenden Änderungen wollte man den Abstand unterstreichen. Nach Brecht, und eine ähnliche Bemerkung steht in Piscators Buch Das politische Theater, soll Piscator über seine "Räuber-Inszenierung gesagt haben, er habe erreichen wollen, daß die Leute im Theater merkten, daß 150 Jahre keine Kleinigkeit seien.31 Das war der Zustand, in dem Brecht das klassische Repertoire vorfand. Im Jahre 1928 führte Brecht mit Herbert Jhering ein Gespräch über die Klassik. Ihm ging es darum, was sie für die Menschen der zwanziger Jahre bedeutet, welchen Platz sie in der Gesellschaft einnimmt und einnehmen könnte. Das Gespräch ist nicht nur deshalb aufschlußreich, weil es Übereinstimmung und Unterschiede in der Haltung Brechts und Jherings aufzeigt, sondern weil es eine allgemeine Zeitstimmung, insbesondere unter der progressiven Intelligenz wiedergibt. Es ist ein Zeitdokument über die Wirkung des klassischen Erbes in einer genau bestimmbaren gesellschaftlichen Situation. An diesem Gespräch fällt zunächst auf, daß Brecht mehr verwarf, schärfer argumentierte als Jhering. Aber Brecht zeigte auch deutlichere Lösungswege. Er suchte die Fragestellung zu radikalisieren, sie unter einen ganz bestimmten 27

Aspekt zu stellen, als er auf Jherings Broschüre einging: „Als ich Ihre Broschüre dann las, sah ich, daß Sie nicht mordeten, sondern lediglich feststellten, daß die Klassiker schon gestorben sind. Wenn sie nun gestorben sind, wann sind sie gestorben? Die Wahrheit ist: sie sind im Kriege gestorben. Sie gehören unter unsere Kriegsopfer . . ." 32 Nun nannte Jhering allerdings seine Broschüre Reinhardt, Jessner, Piscator oder Klassikertod?, aber in ihr selbst ist eigentlich weniger vom „Klassikertod" als vom „Klassikerschlaf" die Rede — wie ein anderer bekannter Kritiker der Zeit, Bernhard Diebold, die Situation charakterisierte. Für Jhering waren nicht die Klassiker, sondern ihre bisherige Darstellungsform tot. Er analysierte im wesentlichen die Krise der Darstellungsweise. 33 Brecht ging zwar im Laufe des Gesprächs auf Jherings Argumentation ein, indem er bekannte: „Ich will gleich zugeben, daß nicht die Klassiker daran schuld zu sein brauchen, wenn ihre Wirkung aufhört..." Er forderte dann aber Jhering sofort auf „ . . . mehr von den Klassikern [zu] reden, also auch von der Schuld, die die Klassiker am Aufhören ihrer Wirkung haben". 34 Dieser Vorstoß offenbart die unterschiedliche Position Jherings und Brechts in der Frage nach den Ursachen der Krise. Jhering sah die Ursachen hauptsächlich in der Schule, im gesamten gesellschafdichen Erziehungssystem, das eine falsche Vorstellung von den Klassikern geschaffen habe. Durch die Privatisierung der Klassiker sei eine große Literatur zum Verbrauch für den Spießer präpariert worden; die Literaturwissenschaft habe die Klassik unter falschen Gesichtspunkten vorgestellt. Brecht akzeptierte diese Gründe. Vor allem stimmte er Jhering darin zu, daß die Klassiker durch falsche Ehrerbietung ramponiert worden seien. Geradezu befriedigt stellte er fest, daß sich diese ehrerbietige Haltung an den Klassikern gerächt habe. Allerdings interessierte Brecht der Einfluß der Literaturwissenschaft von der Scherer-Schule bis zur Gundolf-Schule auf die Klassikerdarstellung — von Jhering nicht zu Unrecht sehr wichtig genommen — überhaupt nicht. Im Unterschied zu Jhering stellte er die Klassiker vor allem „als Kriegsopfer" dar. Nach den Erfahrungen des letzten Krieges und der großen Klassenschlachten, so meinte Brecht, hätten die Klassiker dem Theaterzuschauer nichts mehr zu sagen. Wie schon 28

dargelegt, argumentierte Brecht damit, daß in ihren Stücken wie in ihrem Weltbild alles auf den „großen Einzelnen", auf das Individuum hinauslaufe, während durch Krieg und Klassenkämpfe gerade deutlich geworden sei, daß der einzelne, das Individuum, nur als Masse etwas zu bewirken vermöge. Dabei betonte er, daß die Klassiker nicht die Welt zeigten, sondern sich selber. „Persönlichkeiten für den Schaukasten. Worte in der Art von Schmuckgegenständen. Kleiner Horizont, bürgerlich. Alles mit Maß und n a c h Maß." 3 5 Das Gespräch blieb Fragment. Vielleicht kam deshalb der Haupteinwand Brechts, die Ausrichtung der Klassiker auf die Rolle der Persönlichkeit, nicht so zentral zur Sprache, obwohl er für ihn der Kern der Sache war. Wenn man die schonungslose Argumentation Brechts liest, muß man sich immer vor Augen führen, daß die Polemik, ja die Ablehnung der Klassik in der revolutionären Bewegung der zwanziger Jahre keine Seltenheit war. Unterschiede gab es in den Gründen wie in den Schlußfolgerungen. Über die unterschiedlichen Motive der Ablehnung wurden hier schon Angaben gemacht. Aber auch die Schlußfolgerungen waren verschieden. Während sich zum Beispiel Friedrich Wolf in den zwanziger Jahren für die Klassiker, insbesondere die deutschen Klassiker in engerem Sinne, kaum interessierte, war Brecht nicht bereit, die Klassiker „rechts" liegenzulassen, oder überhaupt kein Interesse an ihnen zu bekunden. E s wäre eine eklatante Fehleinschätzung, würde man seine vernichtende Kritik an den Klassikern als Desinteresse deuten, als eine ausschließliche Orientierung auf das Gegenwartsdrama, wie das bei Friedrich Wolf der Fall war. Selbst in der Phase, als er im Gespräch mit Jhering die Klassiker für tot erklärte, waren sie ihm wichtig. Die Gründe freilich, mit denen er sein Interesse bekundete, klangen sehr pragmatisch. Brecht argumentierte in erster Linie als Praktiker des Theaters: „Wie soll man denn ein Repertoire aufbauen können, wenn man diese Sachen (die klassischen Stücke — W. M.) durch Argumente zerstört und als Ganzes ablehnt?" 3 6 Für die Möglichkeiten einer nützlichen Hinwendung und Anwendung der Klassiker führte Brecht zwei große Gesichtspunkte ins Feld. Zwei Verfahren empfahl er auszuprobieren. 29

D a s erste Verfahren bestand darin, einen Bearbeitungsund Inszenierungsstil zu entwickeln, der, wie Jhering formulierte, das alte D r a m a „näherbringt, indem man es entfernt". 3 7 Die Art und Weise eines solchen Stils erläuterte Jhering anhand der Marlowe-Bearbeitung von Eduard. II. durch Brecht und Feuchtwanger. Im Vordergrund stand dabei jener Gedanke, auf den Brecht bereits bei der Piscator-Inszenierung von Schillers Räuber aufmerksam gemacht hatte: D e r Zugang, zu einem Stück sollte durch die Fremdheit des vorgeführten Geschehens freigelegt werden. Indem man die Fremdheit ihrer Stoffe zur heutigen Wirklichkeit hervorhob, hoffte man die Klassiker verständlicher und aussagekräftiger zu machen. Diesen Gesichtspunkt baute zunächst Jhering theoretisch aus. In Brechts eigenen Überlegungen spielte er nicht die zentrale Rolle, obwohl er mit seiner Bearbeitungspraxis dazu den Anlaß gegeben hatte. E r s t später entwickelte er aus seinen praktischen Einsichten das methodologische Prinzip des Historisierens. Für Brecht bedeutete dieses Verfahren zunächst einen A u s w e g ; denn er ermöglichte nicht nur die Polemik gegen die traditionelle Klassikdarstellung, sondern hatte außerdem noch den Vorzug, daß man mit ihm aktuelle Wirkungen ohne äußerliche Aktualisierung erreichen konnte. Jhering jedoch entwickelte diesen bei Brecht aus der praktischen Arbeit resultierenden Gesichtspunkt in eine ganz andere Richtung. E r sprach v o m „Auskälten" 3 7 alter Stoffe und rückte Brechts Marlowe-Bearbeitung in die N ä h e von Strawinskys ödipus Rex. Dieses „Auskälten" oder „Auf-EisL e g e n " ist aber etwas ganz anderes als jene Methode der Distanzierung, an der Brecht damals noch laborierte und die er dann in der Emigration zur Methode der Historisierung weiterentwickelte. Hanns Eisler hat den Unterschied später bei einer anderen Gelegenheit einmal klargestellt, indem er betonte: „ E r (Brecht — W. M.) ist aber nicht in dieselbe M o d e einzurechnen — wie zum Beispiel nach dem ersten Weltkrieg die Periode in der französischen Musik —, die gewissermaßen die Musik auf E i s legen wollte. Sie (der Gesprächspartner D r . Bunge — W. M.) erinnern sich an die gewissen Perioden bei Strawinsky." 3 8 Der zweite Hauptvorschlag Brechts, sich mit Nutzen der 30

Klassiker zu bedienen, lief darauf hinaus, sich an den Materialwert der großen Stücke zu halten. Seine Vorstellung übet den Materialwert alter Stücke entwickelte Brecht anläßlich einer Rundfrage zu dem Thema „Stirbt das Drama?", welche die Vossische Zeitung am 4. April 1926 veranstaltet hatte.39 Diese Rundfrage war jedoch mehr der äußerliche Anlaß. Beschäftigt hat sich Brecht mit dieser Frage in seiner gesamten frühen Phase. Man ist sehr schnell geneigt, aus allen Bemerkungen Brechts über die Klassiker eine gewisse Schnoddrigkeit, ja Barbarei herauszulesen. Analysiert man aber seine Haltung genauer, so wird man finden, daß er sich zwischen Bewunderung und Verwerfung hin- und hergerissen fühlte. Mit diesem Moment wäre vorerst nur die psychologische Begründung für die Entwicklung gegeben, die zur Materialwert-Theorie führte. Die großen Stücke wie Wallenstein und Faust, erklärte Brecht unverfroren, enthielten neben ihrer Brauchbarkeit „für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialwert . . ."«> Was verstand er nun unter Materialwert? Zunächst den stofflichen Vorgang, die Geschichte. Was Brecht schätzte, waren die großen Fabeln der alten Stücke. Dabei liebte er vor allem die Fabel pur, das heißt, so wie sie mit wenigen Worten erzählt werden konnte. Diese Eigenschaft spielte später in seiner Fabeltheorie eine bedeutende Rolle. Aber gerade die Fabel pur wurde im spätbürgerlichen Kunstbetrieb, wo alles auf die Nuance, die Farbe, die Stimmung, die Atmosphäre abgestellt war, wenig geschätzt. In dem Maße, wie in der bürgerlichen Kunst die Orientierung auf den Inhalt verlorenging, ging auch der Sinn für die Fabel pur verloren. Den Materialwert in der Fabel zu sehen war also so barbarisch nicht. Denn hier kam die Wertschätzung gegenüber der unverlierbaren Substanz eines Kunstwerkes zum Ausdruck. Für Brecht waren die alten großen Fabeln über Faust, Don Juan, Falstaff usw. etwas, was über den einzelnen Erzähler und Bearbeiter hinauswies, weil es „Material" der Volksphantasie war. In dieser Hinsicht war er einer Meinung mit Maxim Gorki. Unter dem Stichwort Materialwert denkt man zunächst an das Ausschlachten einzelner Teile. Die Fabel ist nun zwar nur ein Element des gesamten Werkes, aber doch eigentlich der orga31

nisierende Teil des Ganzen. Von ihm hängt oftmals die Einheit und Harmonie des Kunstwerks ab. Außerdem war der Zugriff zur Fabel ein in der Geschichte der Literatur legitimes Verfahren. Von der Antike bis zur Gegenwart wurden immer wieder alte Fabeln neu geformt. Gerade die Größten in der Literaturgeschichte benötigten diesen Materialwert für ihre Werke. Materialwert erblickte Brecht auch in der Methode, in der Technik, in der die alten Fabeln überliefert wurden. Hier sah er wesentliche Fingerzeige für die zeitgenössische Produktion. In diesem Gesichtspunkt unterschied sich Brecht von den sogenannten Avantgardisten, die wenig Sinn für alte Schreibweisen, für Techniken vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte hatten, weil sie etwas ganz und gar „Neues" wollten. Brecht mokierte sich über das „Herumneuern" der bürgerlichen Avantgardisten. „Ich weiß nicht", schrieb er, „warum