Kinder-Mährchen [Neue Auflage, Reprint 2022]
 9783112639023

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Kinde vMähechen. Bon

C. W. Contessa, Friedrich Baron de la Motte Fouque und

C. T. A. Hoffmann.

Neue Auflage.

Mit sechs iUuminirten und sechs schwarzen Vignetten nach Zeichnungen von E. T. A. Hoffmann.

D erlin, gedruckt und verlegt bei G. Reimer.

1839.

Inhalt.

1. Da« Gastmahl. Von E. W. Contessa................... Seite 2. Die kleinen Leute. Von Friedrich Baron de la Motte gouque................................................................... — 3. Nußknacker und Mausekönig. Von E. T. 2C. Hoffmann. — 4. Das fremde Kind. Von E. T. 2L Hoffmann. . . — 5. Das Schwerdt und die Schlangen. Von E. W. Con­ tessa. . — 6. Die Kuckkasten. Von Friedrich Baron de la Motte gouque................................................................... —

1

35 63 146 205 253

1

Das Gastmahl. In einem anmuthigen Thale, nicht weit von dem Fuß eines ho­ hen Gebirges, findet sich ein ansehnliches Freigut, gewöhnlich der

Waldhof

zubenannt,

weil eS

einsam

und

abgesondert an dem

Saume eines mächtigen Waldes liegt, der von dem Gebirge herab­ kommt und zu beiden Seiten des Thals eine gute Strecke hinlauft,

als wollt' er es mit den grünen Armen liebreich umfangen. Dieser Waldhof gehörte vor nicht gar langer Zeit einem wackern Manne, Namens Arnold.

Der lebte hier mit seinem Weibe und

einem Häuflein guter frommer Kinder schon manches Jahr.

Alles

gedieh und blühte unter seinen Händen, und willig hätte man fast diesen Erdenwinkel für ein wohlbewahrtes Stück des verloren ge­

gangenen Paradieses gehalten. Wunsch in seinem Gemüthe,

Auch trug Arnold keinen höhern

als daß alles nur immerfort also

Bestand haben möchte. Doch das war im Himmel anders beschlossen.

kam ins Land.

Der Krieg

Da gings dem armen Arnold gar übel.

Seine

Felder wurden verwüstet, feine, Heerden mit fortgeschleppt,

Haus ward geplündert. —

sein

Zwar gedieh es bald darauf wieder

zum Frieden, und Arnold dachte: was seyn soll, das schickt sich

1

2 wohl! —

Lieh sich eine bedeutende Summe auf sein Gut, und

ersetzte das Verlorne, so gut es gehn wollte; allein der Sonnen­ blick war nur von kurzer Dauer.

Der Krieg schlug von neuem

los, von neuem kam Arnold um all das Seinige, und war nun, bis auf ein Weniges, das er geborgen, ein ganz armer Mann. — Sein harter Gläubiger, dem er keine Zinsen mehr zahlen konnte,

machte Anstalten, ihn von Haus und Hof zu vertreiben;

er sah

mit schwerem Herzen den Tag schon ganz nahe vor der Thür, an welchem

er seinem Paradiese Valet sagen

und

auf immer den

Rücken wenden sollte.

Arnold aber war ein rechter Mann, der sich von keinem Un­ glück, das er nicht selbst verschuldet, gänzlich zu Boden drücken

ließ.

Und so dachte er auch hier bald wieder: was seyn soll, das

schickt sich wohl!

und schaute voll Vertrauen auf Gott, auf sich

und auf die Seinigen in das neue Leben hinaus, welches er jetzt beginnen mußte.

Mit freundlichem Gesicht trat er am vorletzten Tage vor der Abreise in die Stube, wo seine Frau, ihr jüngstes Kind aus dem

Schooße, still vor sich hinweinend in einem Winkel saß, und sprach zu ihr: „Elsbeth, ich bin nun fertig mit dem Leid; nun denk ich mich noch einmal zum Abschied meines Eigenthums und Be­ sitzes zu erfreuen, und will nicht in der Stille und bei Nacht und

Nebel mich von dannen schleichen, als hätt' ich was Uebles ver­ schuldet.

Drum rüste Dich nur immer flink auf Morgen, liebes

Weib: da giebts noch einen tüchtigen Abschiedschmaus.

her, was Du noch hast.

Gieb alles

Wir wollen reines Haus machen."

3 „Wie magst Du jetzt wohl scherzen," sprach Elsbeth ernst,

„und hast Deine armen Kinder doch vor Augen!" —

Sie warf

dabei einen Blick durch das Fenster nach dem Hofe, wo die Kinder

unbekümmert und lustig wie sonst die gewohnten Spiele trieben. „Scherzen?" entgegnete Arnold.

„Mit Nichten, liebe Frau!

Es ist mein wahrer, klarer Ernst mit dem, was ich gesagt.

Ich

gebe morgen einen Abschiedschmaus.

Er ging mit diesen Worten an das Fenster und schaute nach den Kindern.

„Es hat jedes Ding seine Zeit," hub er an.

„Man muß

weder das Leid, noch die Freude gänzlich Herr über sich werden lassen.

Und was die da draußen betrifft, so darf uns, mein' ich,

nicht bange seyn nm sie.

Sie haben von uns beten und arbeiten

gelernt, und werden es fürder lernen: beides zusammen aber macht ein seines Capital zum Anfang in jeglicher Handthierung."

Er öffnete das Fenster und rüste die beiden ältesten von den Kindern herbei.

„Gleich, Vater!" antwortete Wilibald, und legte schnell das

Messer bei Seite, womit er für die jüngern Brüder eben eine Armbrust schnitzte. „Gleich, lieber Vater!" ließ sich Annens Stimme ebenfalls

hören. „Wo steckt das Mädchen denn?" sagte Arnold verwundert,

und sah sich um. — „Ei, schalt doch, Elsbeth," fuhr er fort, und zeigte nach dem

Wipfel einer großen Linde, die mitten im Hofe stand, „da hat sich 1 *

4 unsre stille Anna wieder ein recht feines Plätzchen auserwählt!" — Elsbeth sah hin.

Anna stieg eben auf einer kleinen Treppe, wie

eS schien, die zwischen den Iweigen angebracht war, leicht und

sicher herab. „Das ist wohl recht des Vaters Tochter zu nennen!" sprach

Frau Elsbeth.

„Das Mädchen hat doch von jeher immer etwas

Besonderes haben müssen."

„Laß sie nur!" lächelte Arnold.

„Das ist mitunter auch

nicht übel im Leben, und bewahrt vor manchem.

Ist sie doch gut

und fromm dabei wie ihre Mutter." Die Kinder traten herein. — „Wie bist du da hinaufgekom­ men, Anna?" fragte der Vater.

„Wilibald hat mir eine Treppe hinauf, und oben einen schö­ nen Sitz gebaut!" — entgegnete sie.

„Sie hat sichs so oft gewünscht," fuhr Wilibald fort, „daß

sie da oben sitzen möchte wie ein Vogel — da wollte ich ihr doch noch die Freude machen, ehe wir fortreiscn." grau Elsbeth wandte sich schnell ab und verhüllte ihr Gesicht.

Auch Vater Arnold sah eine Weile ganz ernst drein.

Endlich fuhr

er mit der Hand langsam über die Stirn, setzte sich in fernen Lehn­ stuhl , zog drauf die beidey Kinder zu sich und küßte sie.

Dann

gab er ihnen seinen Auftrag,' und hieß sie bereit seyn, nach Reimers­

hau zu gehn, und dort seine alten Freunde, den Amtmann und den

Oberförster

einzuladen mit Werb und Kind auf Morgen

Abend zum Abschiedschmaus.

Seinen Knecht Gottwalt, fügte er

hinzu, — den einzigen, der ihm noch übrig war — wolle er in-

deß mit gleichem Geheiß hinab ins Städtchen senden zu den bei­ den Vettern. Elsbeth unterbrach ihn und rief: „Die beiden Kinder willst Du durch den Wald schicken, heute, und so ganz allein?" „Warum nicht?" erwiederte Arnold. „Sie machen-ja den Weg nicht zum ersten Male. In einer Stunde sind sie drüben. Die Sonne steht noch hoch am Himmel; so können sie gar bequem wieder hier seyn, ehe sie untergeht." „Es ist morgen Quatember!" rief Elsbeth. Um diese Zeit ist es niemals ganz geheuer in dem Walde." Arnold lächelte. „Die Leute, die dort in dem Walde Hausen, halten gute Nachbarschaft mit uns. Sie werden den Kindern nichts zu Leide thun." Wilibald und Anna waren über indeß schon fröhlich hinaus gesprungen, jener, um Stock und Jagdtasche, diese, um ihr Körbchen zu holen, und traten jetzt, zur Reise gerüstet, freundlich vor die Mutter hin. Frau Elsbeth versorgte kopffchüttelnd Lasche und Körbchen mit dem Veßperbrod, fügte zwei Tücher hinzu, zum Um­ binden in der kühlen Abendluft, und gab dann mit dem Vater den Kindern das Geleit bis vor das Hofthor, wo beide ihnen nach­ schauten, wie sie den Fußsteig über die grüne, sonnige. Wiese rüsch und lustig Hinschritten, bis sie endlich in den Waldschatten traten, und bald darauf hinter den Bäumen verschwanden.

Es war kühl und ergötzlich in dem Walde. Wilibald und Anna gingen mit Lust in die grünen Schatten hinein, und hatten

6 ihre Freude an dem Hellen, halb durchsichtigen Laubgewölbc der

alten Buchen über ihnen, und an den runden goldnen Lichtflecken,

die auf dem Moosteppich zu ihren Füßen hin und wieder spielten. Dazwischen horchten sie, wie die Vögel sangen und wie der Baum­

specht cklopfte, daß es weithin wie die Schläge einer Art durch den Wald schallte.

Auch blieben sie wohl von Zeit zu Zeit stehen, um

das leise Rauschen in den Baumwipfeln zu vernehmen, das ihnen

vorkam, wie die Waldstimme, dir ihnen gern etwas Geheimniß­ volles vertrauen möchte, wenn sie nur die Sprache recht verständen. So schlenderten sie mit einander lustig und rrcht wohlbehaglrch

hin, und wurden es kaum gewahr daß sie schon sehr lange gegan­ gen waren, und der Wald sich noch gar nicht lichten wollte.

Viel­

mehr traten die Bäume immer dichter und näher an den Weg. Wilibald bemerkte endlich zuerst, daß die Sonne schon sehr

tief stand; und als sie nun genauer um sich schauten, wurden sie freilich inne, daß sie auf einem ganz falschen Wege waren.

Nach

Wilibalds Meinung mußten sie zu weit links gegen das hohe Ge­ birge hin gegangen seyn. Sie beschlossen wieder umzukehren, denn die rechte Straße war

unmöglich weit entfernt.

Allein sie gingen und gingen, und je

werter sie gingen, desto rauher wurde der Weg, desto wilder und unbekannter die Gegend.

Keins von ihnen wußte sich zu erinnern,

daß es jemals hier gewesen wäre. Da fing ihnen doch an zu bangen. lich und verlegen an. —

Sie sahen einander ängst­

Wilibald kletterte endlich auf eine hohe

Tanne, und dachte sich dort oben umzusehen und zurecht zu finden.

7 Jedoch er sah von allen Seiten nichts als Wald, und überall Wald, und Wald ohne Ende.

Nicht weit von ihnen aber gewahrte er

eine himmelhohe Felsenwand; die meinte er nun zu ersteigen, und aus dem Gipfel eine Aussicht zu gewinnen.

So kletterte er schnell

wieder hinunter und schritt mit seiner Schwester darauf zu.

Es dauerte auch gar nicht lange, so standen sie davor.

Doch

zwischen ihnen und der Felswand, wie sie nun erst sahen, rauschte

und tobte ein wilder Bergstrom über große Steinblöcke hin.

Ver­

gebens liefen die beiden Kinder an dem Ufer hin und her, um ir­ gendwo eine Stelle zu finden, wo sie hinüber kommen möchten; zu wild und reißend war der Strom, zu weit entfernt von einander

lagen überall die Felsblöcke in seinem Bette.

Ueber dem Hinundwiederlaufen aber hatten sie am Ende auch

den Weg verloren, auf dem sie hergekommen waren.

Alles Suchen

war umsonst; er schien auf einmal ganz verschwunden, und sie stan­

den nun beide recht trostlos an dem Ufer des wilden Baches, und

blickten schweigend hinab in die schäumenden Wogen. Wilibald, der sonst so muthig war, hub endlich mit leiser und

kleinlauter Stimme an und fragte: „was soll nun aus uns wer­ den?"

Dabei sah er seine Schwester traurig an, und die Thränen

stürzten ihm aus den Augen.

Doch Anna streichelte ihm die Wan­

gen und sprach: „Sei nur ganz ruhig, lieber Wilibald, und äng­ stige Dich nicht.

Wir sind überall in Gottes Hand, wie die Mut­

ter sagt, so wird er uns auch hier nicht verlassen in der Einöde, die freilich recht wild und schauerlich ist.

Wir wollen indeß hier

8 an dem Ufer lang dem Wasser nachgehen; das muß uns doch irgend wohin und wieder zu Menschen führen."

„Mir ist nur bange um Vater und Mutter," sagte Wilibald,

indem er sich die Thränen von den Wangen wischte, „daß sie sich ängstigen um uns, wenn es Nacht wird."

Auf einmal, indem sie noch so sprachen, erschallte eS recht ver­

nehmlich von jenseit des Stromes her: pst! pst! —

Sie blieben

stehn und schauten ein wenig bettoffen hinüber, allein kein mensch­

liches Wesen war zu ersehen, und sie wandten sich zum Weitergehn. In dem Augenblick erschallte es noch lauter und vernehmlicher wie­

derum: pst! pst! —

Sie blieben abermals stehen, und schauten

hinüber, und suchten mit den Blicken hin und hex; da wurden sie endlich ein kleines Männchen gewahr, welches aus einem Felsspalt

inmitten der großen Wand wie aus einem Fenster hervorguckte, und ihnen zunickte und winkte, hinüber zu kommen.

Da es aber

bald einsehn mochte, daß dies den beiden Kindern nicht möglich war, so machte es sich gleich selber auf den Weg, stieg ans Ufer

herab, setzte mit einigen flinken Sprüngen grad über dm Strom, und stand freundlich nickend vor ihnen. Wilibald konnte sich kaum des Lachens enthalten, als er die

wunderliche Gestalt genauer ansah.

Das ganze Männlein war etwa drei Fuß hoch;

die Halste

dieser Höhe nahm beinahe der ungeheure Kopf für sich hinweg, und schien eben so wie die beiden mächtigen Fäuste gar nicht zu

den übrigen spärlichen Gliedmaßen zu gehören.

Besonders war

kaum zu begreifen, wie es die zwei dünnen Sichelbeinchen anfingen,

9



um die Last zu tragen. Zwei große tellerförmige Augen stierten weit aus dem Kopfe heraus. Ein unförmlicher, scharlachrothcr Fleischklumpen stellte die Nase vor, und war, als wie zur Zierde, mir großen Warzen besetzt, die so durchsichtig schimmerten und Wilibalden grade so vorkamen, wie die Granaten in Mutter ElSbethS Halsband. Die Kleidung des kleinen Mannes bestand auS einem grauen Bergmannskittel. In der Hand führte er einen star­ ken Spitzhammer. „Nun, meine Kinder," hub er mit gellender Stimme an, nachdem sie sich gegenseitig eine Weile betrachtet hatten, „woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?" Wilibald berichtete ihm, wohin sie gingen, was der Vater ihnen aufgetragen, und wie sie auf eine unbegreifliche Weise vom rechten Wege ab, und in diese Wildniß gekommen wären. Der Kleine lächelte, wiegte den großen Kopf von einer Schul­ ter zur andern, und sprach: „Nach Reimershau kommt ihr doch heut nicht mehr. Auch ist mirs nicht gelegen, und ich verbiet' eS euch. Auf daß es aber euerm Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen." Mit diesen Worten ging er ins Gebüsch hinein und winkte den Kindern, ihm zu folgen. Nach wenigen Schritten standen sie vor einem schmalen Fußpfade. Diesem hieß er sie nur immer nachgehen, er werde sie grad und sicher nach Hause führen. „Doch," fügte er hinzu, „so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, sagt ihm kein Wort von dem, was euch begegnet, son­ dern sprecht nur, die Gäste wären eingeladen."

10 Die großen Augen funkelten, indem er dieses sprach, so selt­

sam , und seine Stimme gellte so gebieterisch,

daß Wilibald und

Anna kein Wort zu erwiedern wagten, sondern schnell auf dem an­

gewiesenen Fußsteige fortschritten.

Als sie nach

einer Weile sich

umsahen, war das Männlein verschwunden.

Sie überlegten noch mit einander, wer der Kleine wohl ge­

wesen sei,

und ob sie seinen Worten gehorchen sollten, da hörten

sie zu ihrer Rechten ein dumpfes Rauschen, und als sie gleich darauf

aus den Bäumen traten, sahen sie einen See zu ihren Füßen vor

sich liegen, der auf drei Seiten von hohen, hohen Bergen umgeben

war.

Die Bäume oben an den Gipfeln der Berge standen golden

in den letzten Strahlen der Abendsonne;

unten aber an dem Ufer

des Sees begann es schon zu dämmern.

Leichte Nebel stiegen aus

den Schluchten, doch schaute klar und freundlich noch der blaue

Himmel aus der dunkeln Flut herauf. Anna faßte Wilibalds Arm und flüsterte ihm zu: „Das ist gewiß der Bergsee, von dem uns der Vater oft erzählt! ” — Indem

gewahrte Wilibald eine Frau, die mitten auf der grünen Wiese unten am Ufer faß.

„Laß uns hinunter gehn!" sprach er.

„Viel­

leicht kann uns die Frau berichten, ob es noch weit bis Reimers­ hau, und wo der Weg zu finden ist, daß wir des Vaters Gebot

doch noch vollbringen." Sie liefen hinab und wunderten sich beim Näherkommen gar sehr, als sie nicht eine Bäuerin, wie sie vermuthet, sondern eine gar

stattliche und schöne Frau im Grase sitzend fanden, die ihre langen blonden Haare mit einem Kamm von Gold und Perlmutter strählte.

11 „Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier, ihr hübschen Kin­ der?" begann die Frau, als sie beide verlegen vor ihr standen. Wilibald erzählte,

wie es ihnen ergangen, und brachte bescheiden

sein Begehr vor.

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Nach Reimershau," sprach

sie, „ kommt ihr doch heut nicht mehr. und ich verbiet' es euch.

Auch ist mirs nicht gelegen,

Auf daß es aber euerm Vater nicht an

Gasten fehle, so werd ich morgen Abend selbst mich bei ihm ein­

stellen." —

Darauf zeigte sie ihnen die Berg^chlucht, wodurch ihr

Weg sie führte, und hieß sie unverweilt sich nach Haus begeben.

„Doch," setzte sie hinzu, „so lieb euch euer und eures Vaters Leben ist, sagt ihm kein Wort von dem, was euch begegnet, sondern

sprecht nur, die Gäste wären eingeladen."

Damit winkte sie ihnen

zu gehen, und Wilibald und Anna neigten sich höflich vor ihr

und gingen. „Das ist doch wohl sehr seltsam!" sprach Wilibald, als sie an die Bcrgschlucht kamen, und sah sich noch einmal nach der Frau

um, die aber nicht zu sehen war. —

„Wer sind die gestrengen

Herrschaften denn, die uns hier befehlen wollen?

Und warum sol­

len wir denn durchaus nicht nach Reimershau?"

„Daran haben sie nun wohl für heute nicht ganz Unrecht," siel Anna ein; „denn sieh doch nur, wie finster es schon wird!

Wir können ja lieber Morgen früh hingehen.

Allein warum wir

dem Vater nichts sagen sollen —"

„Da ist ein Licht!" riefWilibald.

„Nun werden wir ja zu

vernünftigen Menschen kommen, mit denen sich ein Wort reden läßt."

12 Es schimmerte in der That ein Licht durch die Bäume, und bald noch eins und wieder eins, und immer mehrere, je weiter sie

gingen.

„Das ist ein großes Dorf!" sagte Anna.

Sie schritten munter darauf zu.

Bald standen sie im Freien.

Die Schlucht erweiterte sich.

Allein da war weit und breit kein

Haus, viel weniger ein Dorf zu sehen.

Wohl aber erblickten sie

seitwärts auf einer Wiese eine große Menge kleiner, blauer Flämmchen, die lustig hin und her und durch einander sprangen.

„Das sind Irrlichter!" flüsterte Wilibald.

„Laß uns nur

wohl aus den Weg merken, daß sie uns nicht irre führen." Indem sonderte sich eins der Flämmchen von den andern ab,

und kam husch! husch! über die Wiese her auf sie zu.

Je näher

r6 aber kam, desto mehr dehnte es sich aus, und ward immer

größer, doch zugleich auch immer unscheinbarer, bis es auf einmal dicht vor ihnen auf dem Wege stand; und da sahen sie nun deut­ lich, daß es gar kein Flämmchen oder Irrlicht war, sondern ein

wirklicher Mann von geringer Statur und bleichem Aussehn, da­ bei von einer so außerordentlichen Hagerkeit, Dünne und Schmäch­

tigkeit der Glieder, daß es fast schien, als ob er sich vor dem Winde, der ziemlich'scharf über die Wiese strich, nicht recht aus den Beinen erhalten könne.

Wenigstens war er in beständiger

Bewegung, und hüpfte und wankte vor den Kindern herüber und

hinüber, ohne jedoch die Füße vom Boden zu erheben.

Mit einer sehr seinen und leisen Stimme begann er gleich­

falls wieder das alte Sprüchlein: „Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?"

13 Wilibald mußte

zwar ein wenig lächeln über das

gar

zu

dünne und gefüge Herrlein, doch gab er ihm geziemenden Bescheid auf seine Fragen.

„Possen! Possen!" wisperte es darauf, schnell hin und her springend.

„Possen! mit euerm Reimershau!

nun einmal heut nicht mehr, auch morgen nicht.

gelegen, und ich verbiet' es euch.

Dahin kommt ihr

Es ist mir nicht

Auf daß cs aber euerm Vater

nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen."

„Dacht ichs

doch gleich," murmelte Wilibald, „daß es so

kommen würde!" „Doch fuhr jener fort, und hob den langen weißen Zeige­

finger drohend empor, „so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist,

sagt ihm kein Wort von dem was euch begegnet,

sprecht nur, die Gäste wären eingeläden." —

sondern

Damit sprang er

flink über den Graben zur Seite des Weges, und lief schnell neben den Kindern her, die auf dem Fußsteige fortgingen, indem er sagte,

er wolle ihnen das Geleit geben bis an die Weiden dort. Als sie an die Weiden kamen, rief er: „He! he! Herr Nach­

bar!

Wie stehts?

morgen Abend? „Wohl!

stimme.

Wollt Ihr

noch mit von der Partie

senn

Ich denke es soll lustig hergehn."

wohl!

gehe mit,"

antwortete eine dumpfe Baß­

Sie schien den Kindern aus einem alten Weidenstamm

herzukommen, auf den sie zugingen; wie sie aber näher traten,

fing der Stamm an fich zu bewegen, und sie sahen nun, daß es

ein starker, untersctzter Mann war, der vor ihnen stand, mit ei-

14 nem langen Mantel um die Schultern und einer Krone auf dem Haupte.

„Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?" rief er die Kin­ der gleichfalls an. Wilibald brachte zum vierten Male seine Geschichte vor, ob­

wohl mit einigem Stottern, denn die Baßstimme hatte ihn doch

etwas erschreckt. Reimershau!

Als er geendigt, brummte jener wieder:

Heut nicht,

Selber zu Gaste kommen.

umdrehen.

morgen

nicht!

Nichts

Mills nicht haben.

Aber nichts plaudern!

Sonst Hals

Punktum! Marsch!"

Das ließen sich Wilibald und Anna nicht zweimal sagen.

Sie

setzten sich vielmehr auf der Stelle, und mit großer Hast in Be­ wegung, und sahen sich nur unterweilen um,

ob der gestrenge

Herr Marschkommissarius ihnen nicht etwa auf den Fersen sey.

„ Nun wird mirs doch beinah zu toll! ” hub Wilibald endlich an,

und begann langsamer zu gehen. Volk hier im Gebirge.

„Das ist ja ganz absonderliches

Wer mochte der grobe Gesell wohl seyn?"

„Schweig nur ganz still!" sagte Anna. wären bald zu Hause.

hand.

Ich wollte,

wir

Die Finsterniß nimmt ja mit Macht über­

Was soll das werden, wenn wir noch durch jenen Wald

müssen?" Ihr Weg führte sie aber richtig grade auf den Wald zu.

Doch ehe sie ihn erreichten, kam noch eine andre Straße von der

Seite her, durchschnitt die ihrige, und schien links an dem Saum

des Waldes hinzugehen.

Da war nun guter Rath nicht wohlfeil,

welcher von den beiden sie folgen sollten.

15 Und als sie noch so überlegend auf dem Kreuzweg standen, da ward es plötzlich laut im Walde!

Hundegebell und Jagdruf und

Hörnerklang ließ sich von weitem vernehmen, und kam näher und

näher und war jetzt ganz nahe bei ihnen, und rechts und links brach eS mit Macht durch das-Gebüsch, und zog an ihnen mit entsetzlichem

Getöse vorüber.

Sie konnten dabei nichts weiter sehen und unter­

scheiden, als ein Gewimmel grauer Schatten, das sich in einiger Entfernung über und neben ihnen dahin wirbelte. Endlich kam ein Reiter auf einem schwarzen Rosse mit lau­ tem Hallo aus dem Walde gesprengt, hielt dicht vor ihnen still,

und schnarrte sie an: „Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?" — Wilibald hub an und wollte ihm berichten, allein die Erzählung

blieb ihm in der Kehle stecken; denn der Reiter hatte in seiner ausländischen Tracht mit der hohen Mütze auf dem Kopfe etwas gar Besonderes und Unheimliches, und die Augen des schwarzen

Rosses funkelten durch die Nacht wie glühende Kohlen.

Da nahm

Anna das Wort, und that ihm freundlich und gelassen kund, was

er zu wissen begehrte. „Ho, ho! Hallo!" schrie er, nachdem sie geendet.

„Wenn

ich euch rathen soll, so denkt nur nicht mehr an Reimershau, auch morgen nicht.

Ich wills nicht haben.

Auf daß es aber euerm

Vater nicht an Gästen fehle, so werd' ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen.

Hussa! Hallo!"

Er spornte sein Roß an.

In geringer Entfernung aber hielt

er noch einmal still und rief: „Doch merkts euch wohl, so lieb euch euer und euers Vaters Leben ist, so plaudert nicht!"

Und

16 damit jagte er über den Anger hin, seiner tollen Jagd nach, die

sich noch von weitem vernehmen ließ.

Sie sahen ihm lange nach; endlich sprach Wilibald: „Hättest Du ihn nicht fragen können, welches der rechte Weg nach dem Waldhof ist?"

„Der Herr sah mir nicht aus wie Antworten!" erwiederte Anna.

„Laß uns nur in Gottes Namen immer gradaus gehen.

Das wird wohl das Beste seyn." —

ohne sich weiter

zu besinnen,

Und so gingen sie denn,

in Gottes Namen in den Wald

hinein.

In dem Walde aber war es mit der Finsterniß in der That

recht arg, und wurde immer ärger, je tiefer sie hinein geriethen. —

Bald hatten sie ganz den Weg verloren,

liefen mit der Nase

überall an die Bäume, und wußten gar nicht mehr, wohin sie sich

wenden sollten.

In diesem Angenblick der größten Noch zeigte sich

auf einmal an den alten Baumstämmen hin

und her flatternd

ein schwacher Lichtschimmer, der bald verschwand, bald wiederum

zum Vorschein kam.

Wilibald sprang hoch auf vor Freuden, um­

armte seine Schwester,

und fing dann aus Leibeskräften an zu

schreien und zu rufen. Da ließ sich deutlich eine Stimme hören, die ihm antwortete, und gleich darauf kam ein großes Licht um eine Bergecke herum

gehuscht, und schnell auf sie zu. Im Anfang hielten es Wilibald und Anna für einen Mann

mit einer großen Laterne; dann däuchte es ihnen wie ein bren­ nendes Strohbund, und endlich, als es ihnen mehr zur Seite war,

17 sahen sie, wie es ganz die Gestalt eines dicken Mannes hatte, nur

daß er über und über leuchtete wie ein Johanniswurm, das breite

Gesicht ausgenommen, welches aber an sich von einer so hochrothen

Farbe war, daß es gleichfalls beinah aussah, als ob es brennte. „Guten Abend, guten Abend, meine Kinderchen!" rief ihnen der Mann über einen Bach herüber zu, den sie nun erst in ihrer

„Woher? wo hinaus? was wollt ihr hier?"

Nähe bemerkten.

Wilibald erzählte wieder, und bat dann,

er möchte ihnen

doch ein wenig leuchten, damit sie durch diese Finsterniß den Weg nach Hause fänden.

„Recht gern, recht gern, meine Kinderchen!" sagte der dicke Johanniswurm.

„Wir werden bald da seyn.

Aber den einfäl­

tigen Gang nach Reimershau gebt nur ganz auf. nicht gelegen. hen denn heut.

Der ist mir

Es möchte euch wohl auch morgen nicht besser ge­ Auf daß es aber

euerm Vater nicht an Gästen

fehle, so werde ich morgen Abend selbst mich bei ihm einstellen."

Während dieses Gesprächs war er immer, ohne sich aufzu­

halten, flink weiter geschritten; und obwohl die beiden Kinder im Anfang ein leises Grauen anwandclte vor der wunderlichen Er­ scheinung, so beruhigte sie doch bald wieder sein freundlich zutrau­

liches Wesen, und sie folgten ihm dreist und munter nach, beson­

ders da sie hörten, daß es nicht mehr weit nach Hause sey. Sie hatten auch wirklich kaum einige hundert Schn'tte noch

zurückgelegt, da traten sie aus dem Walde heraus auf einen freien Plan, den sie alsbald in höchster Freude für die große Wiese hin­

ter ihrem Hause erkannten.

L

18 „Nun, meine Kinderchen/' rief ihr Begleiter, „nun braucht ihr mich nicht mehr.

so

Gute Nacht!

Doch laßt es euch gesagt seyn,

lieb euch euer und euers Vaters Leben ist,

kein Wort von

dem was euch begegnet! sondern sprecht nur, die Gäste wären ein-

gelahen. Er

drehte

sich um,

und war

bald

mit

einigen

tüchtigen

Sprüngen im Walde verschwunden. Wilibald und Anna eilten nun auf das Haus zu; doch wur­ den sie unterwegs noch einig, den Eltern wenigstens vor der Hand ihre Abenteuer zu verschweigen.

Denn, meinte Anna, so ungern sie

es auch thue, so sey dcch mit dem wunderlichen Volk im Walde wohl nicht gut zu spaßen. Ahr« Ankunft brachte in dem Waldhof gar große Freude mit.

Man war bei der einsinkenden Nacht schon sehr in Sorge gewesen um sie, und eben hatte der Vater die Laterne angezündet und seine

Büchse

über die Schulter gehängt,

und wollte ausgehn sie zu

suchen. Von allen Seiten wurden sie nun mit Fragen bestürmt, warum

und wo sie so lange sich aufgehalten hätten, und was der Ober­ förster und der Amtmann denn gesagt?

Doch Anna nahm ihren

Vater bei der Hand und bat ihn leise, er möchte sie nur heut nichts

weiter fragen, denn sie könnten ihm doch nicht antworten; er werde alles schon zu seiner Zeit erfahren.

Arnold schaute seiner Tochter verwundert in die Augen; da sie ihn aber so bittend ansah, küßte er sie schweigend auf die Stirn, wandte sich dann zur Mutter und sprach:

„Die Kinder sind sehr

19 müde, liebe Mutter.

Laß sie zu Bette gehen.

Sie werden uns ja

das Alles morgen wohl erzählen."

Am andern Morgen, da es nun doch einmal nicht anders sein

sollte, war Mutter Elsbeth schon sehr frühzeitig bei der Hand, und rührte sich geschäftig, auf daß sie mit dem Abschiedschmaus noch Ehre einlegen möchte bei den werthen Gästen. Es ward Kuchen gebacken von zweierlei Art und Gestalt z das

wenige Geflügel, das sich erhalten hatte auf dem Hofe, mußte ohne Barmherzigkeit sein Leben lassen, und da dies nicht hinreichend schien, ward Vater Arnold mit der Flinte hinausgeschickt, um schnell noch

einen Braten in die Küche zu schaffen, überdies das ganze Haus vom Boden bis zum Keller überall durchstöbert, um alles noch

etwa Brauchbare in Beschlag zu nehmen für das Fest. Ueber diesen Geschäften aber vergaß Frau Elsbeth die Fragen

ganz, die sie für Wilibald und Anna noch seit gestern in Bereit­ schaft hatte.

Von Reimershau war heut nicht weiter die Rede: sie

setzte die Ankunft des Amtmanns und des Oberförsters als gewiß

voraus, und hatte keine andere Sorge, als daß Gottwalt, der

Knecht, bis jetzt noch immer vergeblich auf sich warten ließ, ob er gleich außer der Nachricht von den Vettern noch verschiedenes an

Gewürz, Citronen und dergleichen aus der Stadt mitbringen sollte. Wilibald und Anna sahen den festlichen Anstalten, wie die

andern Kinder, mit Vergnügen zu, und legten treulich mit Hand

an, wo sie konnten. wenig zu klopfen,

Dennoch begann ihnen jedesmal das Herz ein sobald sie an den Abend sammt dem Ausgang

2*

20 dachten, den dies Alles nehmen würde, und sie warfen einander oft verstohlen bedeutende Blicke zu.

Unter diesem Treiben rückte endlich der theils herbeigewünschte, theils gefürchtete Abend wirklich heran.

Der Wald warf schon

sehr lange Schatten' über die Wiese, die fernen Berggipfel standen

in violettem Schimmer; in der Küche loderte und knackte das Feuer auf dem Heerde schon seit zwei Stunden, und Vater Arnold war

schon zweimal auf dem Hügel hinter dem Hause gewesen und hatte

mit Verlangen ausgeschaut nach den Gästen.

Aber die Gäste ka­

men noch nicht.

Und schon lagen Wiese und Wald in tiefen Schatten, schon

bedeckte ein grauer Nebeldust das ferne Thal, und die Berggipfel leuchteten noch mit dunkelrothem Schein herüber;

auch Mutter

Elsbeth hatte schon dreimal den Kopf zur Thüre hereingesteckt und versichert, daß der Braten ganz verbrennen würde, wenn die Gäste

nicht bald kämen.

Aber die Gäste kamen noch immer nicht.

Endlich war es ganz Nacht geworden. Lisch.

Die Magd deckte den

Die jüngern Kindern fragten ungeduldig einmal über das

andere nach dem Essen.

Arnold befahl die Lichter anzuzünden, in­

dem er verdrüßlich in der Stube auf und nieder ging, und Frau Elsbeth wollte eben, aus der Küche kommend, Wilibalden und seine Schwester ernstlich vernehmen, auf welche Weise sie ihren Auftrag gestern ausgerichtet, und was der Amtmann und der Oberförster denn eigentlich darauf erwiedert hätten; — da gings auf einmal

an der Thür ganz leise: poch, poch, poch! — Wilibald und Anna

sahen sich ängstlich an, und das Herz hämmerte ihnen gewaltig an

ri die Brust.

Und als der Vater: Herein! rief, und hineilte, die

Thür zu öffnen, da trat ein kleines Männchen herein mit einem mächtig großen Kopfe, welches die beiden Kinder sogleich erkannten, trotz der zierlichen Perücke von Steinflachs*), die es aufgestülpt

hatte.

Außer dieser trug es heut auch ein braunes Röcklein mit

großen goldnen Knöpfen, und seine Weste war ein wahres Pracht­ stück,

gleichfalls von Asbest künstlich

verfertigt,

und

statt der

Knöpfe mit einer doppelten Reihe kostbarer Steine besetzt.

Der Kleine

begrüßte Arnolden und

seine Frau mit einem

freundlichen: Glückauf! gab sich als den Oberberg- und Hütten­

inspektor Bergmann

zu

erkennen,

und bat,

die Dreistigkeit

zu entschuldigen, mit der er so gradezu hereintrete z er habe sich verirrt in dem Gebirge, sei von der Nacht überfallen worden, und

herzlich froh gewesen, als er hier endlich Licht und eine menschliche Wohnung entdeckt, allwo er jetzt um gütige Aufnahme bitten wolle.

Arnold hieß ihn freundlich willkommen, und ersuchte ihn, sich indeß auf der Ruhbank niederzulassen, welche die eine Seite des

Zimmers einnahm. Er hatte sich aber kaum niedergesetzt, da ging es wiederum

an der Thür ganz leise: poch, poch, poch! und als Arnold: Herein! rief, und hineilte, sie zu öffnen, da trat eine stattliche Frau herein, vom Kopf bis zu den Füßen in einen faltenreichen Schleier gehüllt,

die Wilibald und Anna gleichfalls auf den ersten Blick erkannten. Sie neigte sich höflich gegen Arnold und Elsbeth, kündigte

[) Amianth, biegsamer Asbest.

LL sich du eine Frau von Wasserleben an,

welcher auf der Reise

nach dem Bade nicht weit von hier der Wagen zerbrochen sei, und bat um Erlaubniß, so lange hier verweilen zu dürfen, bis derselbe nothdürfcig wieder hergestellt worden sei.

Arnold hieß sie freundlich willkommen, bot seine Dienste bei

dem zerbrochenen Wagen an, und da sie diese durchaus ablehnte, ersuchte er sie,

unterdessen auf der Ruhebank neben dem Herrn

Oberberg- und Hütteninspektor Platz zu nehmen. Sie hatte sich aber, nach höflicher Begrüßung des Letzter»

kaum neben ihm niedergelassen, da gings von neuem an der Thür

ganz leise: poch, poch, poch!

und als Arnold: Herein! rief, und

mit einiger Verwunderung hinging, sie zu öffnen, da huschte flink und g^chmridig ein gar dünner und schmächtiger Herr ihm ent­

gegen, sprang mit vielen seltsamen Bücklingen vor ihm und seiner

Frau hin und her, und bat mit einer sehr feinen Stimme um Ver­

zeihung, daß er so gradezu gehe,, er sei der Professor Irrlicht,

habe sich beim Botanisiren im Gebirge ein wenig verspätigt, nehme sich die Freiheit, um

und

eine kleine Erfrischung zu ersuchen,

da et noch einen weiten Weg vor sich habe. Wilibald und Anna erkannten auch diesen Freund von gestern

auf den ersten Blick, ob er sich gleich, dem Fest zu Ehren, wie es schien,

auf eine ganz besondere Weise herausgeputzt hatte. —

Er

trug einen leberfarbenen Rock mit silbernen Knöpfen, eine himmel­

blaue Weste, und schwefelgelbe Beinkleider, in der einen Hand einen

langen Stock, in der andern, so wie vor der Brust im Knopfloche, einen großen Strauß von allerhand Sumpfpflanzen,

und von sei-

23 nem Kopfe stieg ein hohes, wunderlich in einander gewirrtes Tou­

pet, einer Flammenspitze ähnlich, in die Lust empor. Arnold mußte selber lächeln über die seltsame Gestalt, doch hieß er den Herrn Professor freundlich willkommen, ersuchte ihn

indeß neben der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberbergund Hütteninspektor Platz zu nehmen, und gab seiner Frau einen

Wink, für die unvermutheten Gäste Sorge zu tragen. Der Herr Professor hatte sich aber noch nicht niedergcsetzt, und Frau Elsbeth das Zimmer noch nicht verlassen, da ging es

schon wieder an der Thür, doch diesmal sehr laut und vernehmlich:

Poch, poch, pochl —

Und als Arnold: Herein! rief, und mit

einem leisen Kopfschütteln hinging, zu öffnen, da kam von einer tiefen Baßstimme ein lautes: guten Abend!

durch die Thür, und

hinterdrein ein starker, untersetzter Mann von etwas verwildertem

Ansehn, in einem grauen Rock mit mächtigen, goldbrokatenen Auf­ schlägen nach uralter Mode, auf dem Kopf eine große ziemlich

zerzauste Allongenperücke und einen kleinen dreispitzigen Treffenhut. An der Baßstimme und an der langen Habichtsnase erkannten Wilibald und Anna mit einig-m Schreck den gestrengen Herrn Marsch-

kommissarius von gestern Abend, obgleich Krone und Mantel fehlten.

Er begrüßte Arnolden mit einem herablassenden Kopfnicken, kündigte sich als den pensionirten General Erlkönig an, und gab

in kurzen Worten den Wunsch zu erkennen,

auf seiner Reise hier

zu übernachten. Arnold hieß ihn, trotz seiner steigenden Verwunderung über den zahlreichen Besuch, doch recht freundlich willkommen, und bat,

24 sich indeß neben dem Herrn Professor, der Frau von Wasserleben und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor niederzulassen. Der General schritt langsam auf die Ruhebank zu.

Wilibald

und Anna wichen seinem Marsch von weitem aus, und zogen sich auf die Mutter zurück.

Kaum aber hatte der neue Gast Platz genommen,* da gingS

abermals und zum fünften Male an der Thüre: Poch, poch,' poch! — Und als Arnold halb lachend, halb ungeduldig: Herein! rief: da

that sich die Thür weit auf, und herein schritt ein langer Mann in grünem Jagdkleide, den Hirschfänger über die Hüften geschnallt; die schwarzen Haare hingen ihm wild um das bleiche Gesicht. —-

Wilibald und Anna ahneten, daß dies der tolle Jäger von gestern Abend sehn möchte, und Wilibald zog sich hinter den Ofen; Frau

Elsbeth aber stand ganz starr vor Erstaunen, die Hände unter der Brust gefaltet, mit halb offnem Munde.

Der Jäger ging auf Arnolden zu, begrüßte ihn kurzweg, und sprach: er sei der Oberjägermeister von Hackelnberg *), denke

morgen eine große Jagd zu machen im Gebirge, und bitte daher

um Nachtquartier auf dem Waldhof, als wohin er sein Gefolge

morgen früh beschieden. Arnold hieß ihn freundlich willkommen, versicherte, sein ganzes Haus stehe zu seinen Diensten, und ersuchte ihn, unterdeß sich dort neben dem Herrn General, dem Herrn Professor, der Frau von

*) Unter diesem Namen ist der sogenannte wilde Iäger in einem gror ßen Theil von Deutschland bekannt.

25 Wasserleben, und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor nieder-

zulaffen. Er hatte aber kaum ausgesprochen, da gings zum sechsten Male an der Thüre: Poch, poch, poch! — rufen konnte,

Und ehe Arnold: Herein!

schob sich, schniebend und schnaubend ein dicker Herr

in die Stube, mit einem breiten, feuerrothen Gesicht, in

einen

langen Ueberrock auf englisch gekleidet, neigte sich sehr höflich gegen Arnold und seine Frau, und meldete sich als den Kammerrath und Laternenkommissarius Feuer mann an, der schon längst viel Gutes

von Herrn Arnold vernommen und gewünscht habe, seine werthe Bekanntschaft zu machen. Arnold dankte verbindlichst für die ihm erzeigte Ehre, und

bat, er möchte indessen neben dem Herrn Oberjägermeister, dem

Herrn General, dem Herrn Professor, der Frau von Wasserleben,

und dem Herrn Oberberg- und Hütteninspektor Platz nehmen.

Das geschah; und indem jetzt Arnold die sechs wunderlichen Bilder so in einer langen Reihe neben einander sitzen sah, steif und ohne Bewegung — den Professor ausgenommen, der ein wenig mit

den Beinen bammelte — die Augen alle starr auf ihn gerichtet,

die mittelsten vier Gesichter bleich, fast leichenhaft, das Gesicht auf dem rechten Flügel und die Nase auf dem linken dagegen leuchtend in übernatürlichem Karfunkelschimmer, — da kam ihm die ganze

Gesellschaft doch sehr sonderbar, und fast ein wenig unheimlich vor. Als ein Mann, der zu leben wußte, ließ er sich jedoch nichts da­ von merken, sondern erhob seine Stimme und sprach:

26 „Ich habe Herren !

eine Bitte an euch,

verehrte Frau und werthe

Da ich morgen dieses Haus und diese Gegend verlasse, so

dachte ich heut meinen Abschiedschmaus zu geben;

wider Verhof-

fen aber, und zu unserer nicht geringen Verwunderung sind cingeladenen Gäste ausgeblieben.

die

Daher ergehet mein freundliches

Gesuch dahin, daß es euch sämmtlichen gefallen möge,

an deren

Stelle zu treten, mit uns fürlieb zu nehmen, und mir meinen Ab­

schied feiern zu helfen." Da verneigten alle sechs Bilder zu gleicher Zeit sich gegen ihn, der Oberberg- und Hütteninspektor aber nahm das Wort, und er­

klärte im Namen Aller, wie sie es sämmtliche sich für eine Ehre schätzten, die Gäste eines so wackern Mannes zu seyn, zugleich aber

auch sämmtliche verhofften, er werde es sich in dieser Gegend noch

länger gefallen lassen. Arnold antwortete darauf bloß mit einem Achselzucken, und

Frau. Elsbeth lief schnell nach der Küche, das Essen anzurichten, zwar immer noch voll Staunen und Verwunderung, doch aber im

Herzen froh darüber, daß sie ihre Back- und Kochkunst nun doch nicht umsonst aufgewendet haben sollte.

Und als das Essen kam, setzte

und seinen Gästen an den Tisch.

sich Arnold mit den Deinigen Die jüngern Kinder, die jetzt

erst die Gäste zu sehn kriegten, schienen sehr große Freude zu ha­

ben an den seltsamen Gesichtern und Gestalten, und Frau Elsbeth hatte nur genug zu winken und zu steuern, daß die Freude nicht allzulaut ward.

S7 Bei

der

übrigen Gesellschaft ging

es

indessen

im Anfang

ziemlich still und einsylbig her, wie dies zu geschehen pflegt unter

Leuten, die einander nicht recht kennen. nig, und

Die Gäste sprachen we­

aßen auch wenig; ja zu Frau Elsbeths großem Ver-

druffe berührten sie die Speisen kaum, und thaten nur als ob sie

äßen.

Allein als der Wein kam, ließen sie sich nicht lange nöthi­

gen, sondern kippten fleißig aus, und da Arnold immer fleißig wieder einschenkte, zeigte sich gar bald Leben und Feuer von allen

Seiten.

Die Gäste singen an gesprächig zu werden, theils mit

ihren Wirthen, doch mehr noch unter einander, wobei sie sich aber öfters zu vergessen schienen, indem sie die Unterhaltung in einer Sprache führten, die Arnolden so gänzlich

fremd und unbekannt

war, daß er sich nicht erinnern konnte, je in seinem Leben nur etwas Aehnliches vernommen zu haben.

Auch war es kaum eine

Sprache zu nennen; denn es bestand mehr aus einem ganz be­

sonderen Zischen, Blasen, Pfeifen und Schnalzen, als aus wirk­ lichen Worten.

Arnold und seine Frau hörten dem Schariwari mit dem größ­

ten Erstaunen zu, und die Kinder konnten sich des lauten Lachens darüber gar nicht länger erwehren. Die rechte Lust ging aber erst an, als am Ende der Mahl­

zeit Mutter Elsbeth einen mächtigen Napf voll warmen Punsch auf die Lasel setzte, und die dampfenden Gläser fleißig angestoßen

und aus dem Vollen geleert wurden.

Die Fremden tranken auf

die Gesundheit des braven Wirthes und der angenehmen Wirthin,

auf ncch langen Besitz des Waldhofs, und, was Arnold freilich

28 nicht recht verstand,



auf fortgesetzte gute Nachbarschaft.

Dabei

fingen ihre Augen, je länger, je mehr, auf eine seltsame Weise,

beinah wie die Augen der Katzen im Finstern, zu leuchten und zu

strahlen an; ihr Gespräch unter einander ward immer lebhafter; dazwischen brachen fie oft in lautes Gelächter aus, und machten

die allerpossirlichsten Gebärden und Bewegungen dazu.

Frau Els­

beth sah ihren Mann bedenklich an, und Vater Arnold selbst schüt­ telte mit Befremden den Kops.

Nun traf es sich indem, daß die Frau von Wassereleben zu

trinken verlangte, und die Magd mit dem verlangten Wasser ein wenig zögerte; da faßte jene einen Zipfel ihres Schleiers auf, und preßte daraus das klarste Wasser in ein Glas.

Elsbeth hatte es mit Schrecken bemerkt, und wußte nicht, was fie davon denken sollte, und als sie in der Verwirrung dar­

über eine Lichtscheere ergriff, das Licht zu putzen, und es ausputzte, streckte der Kammerrath Feuermann, ihr Nachbar, schnell mit einer

verbindlichen Miene die Hand aus dem langen Aermel hervor, und

zündete das Licht auf der Stelle mit seinem Finger wieder an.

Das ging nun der guten Frau Elsbeth über den Scherz. Ein plötzliches Grauen

ergriff sie vor den unbekannten Gästen.

Sie schob erschrocken ihren Stuhl zurück und stand auf;

und die Kinder folgten ihr.

Arndld

Die Gäste aber schienen ihr Ent­

setzen gar nicht zu bemerken, oder nicht darauf zu achten, son­

dern wurden nur immer lauter, schnitten dazu immer häßlichere Fratzen und Gesichter, Zimmer wären.

und thaten ganz,

als ob sie allein im

29 Die Stubenuhr schlug jetzt eben zwölf.

Da sprang^Pröfeffor

Irrlicht endlich auf, schoß mit großer Behendigkeit einen Burzelbaum, und krähte: „Musik, Musik, ihr lieben Leute!

bei!

Nun wollen wir eins tanzen."

Musik her­

Der Oberjägermeister erhob

sich, lief nach dem Fenster, riß es auf, und schrie: „Hup! hup!"

nach Jägerart

hinaus.

Sogleich

ließ

sich

draußen

ganz

nahe

Hundegebell und Hörnerklang vernehmen; die Fenster flogen auf,

verschiedene Eulen und Uhus setzten sich in die Oeffnungen, und begleiteten mit ihrem

draußen aufspicltcn.

angenehmen Gesänge

die Musikanten,

die

Nun erhob sich auch die übrige Gesellschaft,

und fing nach dieser höllischen Musik munter zu tanzen an. Und mit jedem Augenblick wilder ward der Tanz, und immer

ausgelassener wurden die Tänzer.

Der Oberberg- und Hütteninspektor warf jauchzend seine Pe­ rücke an die Decke, wo sie, zur großen Freude der Andern, an

einem Nagel hängen blieb: Professor Irrlicht sprang

sehr flink

und gelenk auf allen Bänken, Tischen und Schränken herum, und

seine Gestalt dehnte sich wunderbarer Weise bald zu einer unge­ bührlichen Länge aus, bald schrumpfte sie wieder unter das ge­

wöhnliche Maaß

zusammen;

der Kammerrath

Feuermann

aber

knöpfte unterweilen seinen Ueberrock auf, und es war recht ent­

setzlich anzusehen, wie er dann jedesmal einen glühenden Feuer­

regen auf die Tänzer schüttelte.

Doch schien dieser letzte Scherz

denselben besonders zu gefallen, und begeisterte sie zu immer wü-

thenderm Jubel.

Sie fingen an, einander in der Stube herum

zu jagen und zu Haschen, und dieser oder jener nahm unversehens

30 eins von seinen Beinen in die Hand, und schlug damit wacker zu, oder warf auch wohl einem andern seinen eignen Kopf in den

Rücken, und setzte ihn dann gelassen wieder auf, als ob es ein Hut wäre.

Dabei wurden alle Stühle unt Bänke umgeworfen,

Gläser, Flaschen und Teller von dem Tisch heruntergerissen.

Mut­

ter Elsbeth schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Arnold hieß sie die Kinder in das Nebenzimmer bringen,

doch in dem Augenblicke sprang der General Erlkönig auf sie zu, und rief: „Kinder dalassen!

seyn!"

Kinder mitnehmen!

Kinder 'mein

Darüber begannen die Kinder zu weinen und zu schreien,

und verkrochen sich hinter die Mutter; und Arnold trat entrüstet den Popanz an, und beschwerte sich über das ungeziemende Be­

tragen, womit sie seine Gastfreiheit vergölten.

Doch jener ant­

wortete ihm darauf bloß: „Psch— schw — schw — glapp!" *) und

mischte sich wieder unter die Gesellschaft. Da indessen eben der Oberberg - und Hütteninspektor vorüber­

sprang, den Arnold noch für den Vernünftigsten hielt, so machte er sich an diesen, und bat ihn, dem Unwesen doch ein wenig zu steuern, und zu bedenken, daß sie sich hier nur als Gäste befänden.

Allein der schnitt ihm eine abscheuliche Fratze entgegen, antwortete ihm bloß: „Pfü-------- wisch!"**)

und sprang gleichfalls wieder

unter die Uebrigcn.

Der tolle Wirbel drehte sich immer rascher und unbändiger. Die Lichter löschten aus. *)

Der Kammerrath, der seinen Ueberrock

Ad libitum des Vorlesers vorrutragen. Item wie oben.

31 ganz abgeworfen hatte, erleuchtete nun mit seiner feurigen Gestalt allein die ganze Scene, und sprühte einen solchen Funkenregen um

sich her, daß Arnold »in der

größten Angst schwebte,

ihm daß Haus über dem Kopf anzünden.

er werde

Am Ende mischten sich

auch die Sänger darunter, die an den Fenstern saßen; selbst die Musikanten von draußen schienen an dem Feste Theil nehmen zu wollen, denn Hundcge ell und Hörnerklang erschallte bald mitten

in der Stube auf

eine

ohrenzerreißende Weise!

meister feuerte seine wüthende Jagd mit Hussa! immer mehr an,

und

dazwischen

ließ

sich

der Oberjäger­

und Hallo!

noch

General Erlkönigs

Baßstimme vernehmen: „Kinder her! Kinder mitnehmen! Kinder mein seyn!"

In

diesem höllischen Sabbath gingen Arnolds

noch immer steuern und vermahnen wollte, verloren.

Worte,

der

gänzlich unter und

Ja mit einem Male faßte ihn der rasende Knäuel selber;

er mußte wider seinen Willen sich mit drehen, ward tüchtig hin

und her gestoßen, und dankte Gott,

als er endlich athemlos sich

wie die Andern in das Nebenzimmer retten konnte.

Dort war Alles indeß in größter Angst und Noth.

Die Kin­

der heulten und schrieen; Frau Elsbeth stand zitternd und hände­

ringend; die Magd kniete vor dem Bette, und hatte den Kopf hinein gesteckt,

um nichts mehr zu sehen und zu hören.

„Hätten wirs doch gestern dem Vater gesagt!" sprach Wilibald weinend zu seiner Schwester, „so hätte der Vater das ab­ scheuliche Volk heut gar nicht ins Haus gelassen."

3L Aber Anna, die eine Weile still vor sich hin geschaut hatte,

sprang jetzt schnell hinaus, und bald darauf, als eben der Lärm

dort, und die Angst hier aufs Allerhöchste gestiegen war, daß Va­ ter Arnolden selber fast der Kopf ansing zu drehen, und er gar

nicht mehr wußte, was er beginnen sollte, da trat sie plötzlich in

die Thür des Vorderzimmers, wo die wilde Jagd tobte, indem sie

etwas unter der Schürze verborgen trug,

und rief mit lauter

Stimme: „Wohl aufgeschaut'. Der Morgen graut; Der Tanz hat nun ein Ende!" Und mit diesen Worten wickelte sie die Schürze aus einander,

und der große Haushahn, den sie darunter verborgen getragen

hatte, flatterte hervor, flog alsbald auf einen Kleiderschrank, schüt­ telte sich, und fing aus Leibeskräften an zu krähen.

Da ward es auf einmal ganz still in dem Zimmer, und alle

standen und horchten auf.

.

Und der Hahn krähte zum zweiten Mal.

Da flogen die Eulen

und Uhus schnell zum Fenster hinaus; die unsichtbare wilde Jagd folgte ihnen mit entsetzlichem Getöse; die übrige Gesellschaft lief

in Verwirrung erschrocken durch einander.

Und zum dritten Male krähte der Hahn. alles wie weggeblasen und weggestoben.

Da war auf einmal

Anna stand ganz allein

im Zimmer, und friedlich und freundlich schaute der Mond vom klaren Himmel durch die Fenster.

33 Arnold hatte ihrem Beginnen aus der Nebenstube zugesehen,

sprang jetzt herbei, und herzte und küßte seine muthige und kluge Tochter.

Auch die Andern wagten sich nun wieder aus ihrem Ver­

steck hervor.

Arnold befahl Licht anzuzünden.

Und als das Licht

gebracht wurde, da sahen sie alle mit Erstaunen drei große Beutel auf dem Tische stehen, und drei große Zettel hingen daran, und aus dem ersten Zettel stand: „Ium Dank für freundliche Bewirthung!”

Auf dem zweiten: „ Noch langer Besitz des Waldhofs."

Auf dem dritten endlich: „Fernere gute Nachbarschaft!" Und als Arnold die Beutel öffnete, fand er sie voll eitel alter

harter Thaler.

Auf dem Fußboden aber waren noch überdies eine

Menge Goldstücke verstreut, die allem Anschein nach der Feuer­ mann ausgesaet hatte, und auf Tischen und Schränken, überall

wo der Professor Irrlicht hingesprungen, lagen ansehnliche Häuf­ lein blanker Silberpfennige. Die Freude über diesen Fund war groß,

und so geschah es,

daß Anna erst ganz zuletzt ein kostbares Halsband von sehr schönen Perlen an ihrem Halse gewahr wurde.

Sie wußte selber nicht,

wie sie dazu gekommen war, doch hielt es Mutter Elsbeth wohl

nicht mit Unrecht für ein Geschenk der Frau von Wasserleben.

So war nun Arnold durch die Freigebigkeit seiner wunder­ lichen Gäste auf einmal wieder ein reicher Mann geworden. Und er säumte nicht, seine Schulden zu bezahlen, brachte sein

Hauswesen wieder in Ordnung auf das Beste, hatte auch bald die

Freude zu sehen, daß alles gedieh und blühte unter seinen Händen, 3

34 mit zuvor, und lebte also mit den Seinigen in Glück und Frieden

noch manches Jahr, Das Perlenhalsband aber wird noch -jetzt in der Familie auf­ bewahrt, zum Andenken an das wunderbare Gastmahl. Auch blieb

des Oberberg- und Hütteninspectors steinflachsene Perücke an der

Decke hängen, und ihr könnt sie heutiges Tages noch hängen sehen, wenn ihr einmal nach dem Waldhof kommt.

o

35

8.

Die kleinen Leute. Der kleine Fritz — er mochte wohl noch nicht einmal vier Jahr alt seyn, und sprach keinesweges deutlich, und noch minder dachte

er so klug, als verständige Leute pflegen — hatte sich im Spielen und Blumensuchen ein Bischen von der Hütte seines Vaters ent­

fernt.

Sein Vater aber war ein Förster, und dessen Wohnung

lag in der finstersten Gegend eines tiefen, von den mehrsten Men­ schen für gänzlich unwegsam und unbewohnbar gehaltnen Forstes.

Fritzchen hätte wohl gelacht, wenn ihm Jemand dergleichen hätte

vorreden wollen.

Denn er wußte recht gut,

daß außer seinem

Vater noch Leute hier im Walde ihren ganz anständigen Wohn­

sitz hatten.

Zwar kannte er von diesen Leuten nur einen Einzigen,

aber der konnte auch für Zehne gelten, und erzählte alle Tage

von mehr als Zehnen seines Gleichen, ob er gleich zufälligerweise

niemals einen Einzigen bei sich zu haben pflegte.

Er selbst war

nicht viel größer, aber vermuthlich viel älter als Fritz, und nannte

sich Puppedenzke, und ich dächte, das wäre ein ganz hübscher Name. Wenigstens dem kleinen Fritz kam er sehr niedlich und sehr ver­ ständig vor, indem Fritz gewohnt war, die Puppen seiner Schwe3*

36 stern auf eine ganz eigne Weise tanzen zu lassen, und ihm also Puppedenzke nicht anders erschien, als ein nahe verbrüderter Freund

und Schulgefahrt.

Mit ihrer Schulgefährtschaft hatt es auch wirklich seine Rich­

tigkeit.

Denn meistens wenn der Förster — Waidhart war er

geheißen —

seinem

kleinen Fritz und

dessen

zwei

etwas

ältern

Schwestern, Julchen und Jettchen, Unterricht im Schreiben und

Lesen gab (wozu er sich wohl alle Monate zwei bis drei Stunden abzumüssigen pflegte), kam der kleine Puppedenzke zur Thür her­

ein,

zog das

grüne Käppchen sehr höflich von seinen blonden,

krausen Locken, und sagte jedes Mal mit einem tiefen Bücklinge:

„Ich wollte ganz ergebenst gebeten haben, diesem gelehrten

Unterrichte mit beiwohnen zu dürfen, ausnehmend reich ist,

indem mein Vater zwar

aber es doch zu solch einer vortrefflichen

Anstalt in seinem Hause niemals hat bringen können." Das erste Mal, daß er diese Anrede vorbrachte, sagte der För­

ster Waidhart auf eine mürrische WeiseHause kommt, Patronl

„mach' Er, daß er zu

Er hat hier nichts zu schaffen!"

Und

Julchen und Jettchen lachten den Kleinen mit seiner wunderlichen Höflichkeit ganz unmäßig aus.

Da war es fast, als wolle Puppe­

denzke sein etwas seltsam lächelndes Gesichtchen zum Weinen ver­

ziehen. chen im

Aber Fritz trat vor die Schwestern hin, ballte die Fäust­

recht ernsthaften Zorne,

Puppedenzke nicht weinen!

und sagte: „nicht

auslachen!

Fritz das absolut nicht leiden will."

Und es schien ordentlich, als fürchteten sich die Schwestern vor dem drolligen Jungen.

Der aber bat den Vater in seinem kleinen,

37 stammelnden Kauderwelsch herzinnig, er möge doch den Puppedenzke mitlernen lassen, und brachte dabei vor, wie Puppedenzke

ihm öfters Blumen in den Garten bringe, und andre schöne Spiel­

sachen, und das Alles zwar immer wieder mit sich hinwegnehme,

aber es seien doch die hübschesten Dinge von der Welt. —

„Ge­

liehen ist auch geschenkt!” sagte der ernsthafte Förster nach eini­

„Mein Sohn ist Dir Dank schuldig, Puppe­

gem Ueberlegen.

denzke, und Du sollst an meinem Unterrichte Theil nehmen.

Sieh

nun selbst zu, wie viel Du davon behalten kannst." Und damit ging es los: „AB ab, BA ba," und immer so

fort, daß dic Fenster dröhnten, und absonderlich schrie dabei der

kleine Puppedenzke bisweilen so eifrig los, daß die Bäume im Forst sich ordentlich vor Schrecken zu schütteln anfingen. ihm aber Förster

Waidhart diese Ungebür verwies,

Sobald

begab fich

Puppedenzke an ein sittigeres Sprechen, und so besuchte er den

Unterricht wohl ein halbes Jahr lang, immer mit derselben höf­ lichen Anrede, und mit vielem Nutzen, denn nach dieser Zeit konnte

er ziemlich fertig buchstabiren, so daß es ihm wohl manchmal ge­

lang, seinen eigenen Namen ohne auffallende Fchler zusammen zu setzen.

Jettchen und Julchen waren ihm derweile auch gut gewor­

den, denn er brachte ihnen zuweilen bunte Glasstückchen mit, die ganz wunderlieblich

glänzten, und niemals entzwei gingen,

wie

oft man sie auch an die Erde fallen ließ; ja auch dann nicht, als Julchen

einmal

des Vaters,

im

lustigen

Uebermuth mit dem Mahlhammer

von dem sonst wohl

die gewaltigsten Eichen tiefe

Narben empfingen, auf das blanke Flitterwerk schlug.

38 Der kleine Fritz nun — wie ich Euch schon vorhin erzählte —

war

eines

schönen Abends

einigen

fernleuchtenden Blumen

und

spaßhaften Schmetterlingen so lange nachgerannt, daß er sich end­

lich gar nicht mehr recht darauf besinnen konnte, ob die Förster­ wohnung vorwärts oder rückwärts liege, oder rechts, oder links. — „ Puppedenzke wird schon kommen, und mich nach Hause bringen,"

dachte er, legte sich ganz geruhig auf eine moosbedeckte Steinplatte nieder, und schlief ein. Es dauerte gar nicht lange, da war es ihm,

als komme

Puppedenzke durch den Wald geritten, auf einem kleinen hübschen

Pferdchen, Pferden

von ganz schneeweißer Farbe,

nur darin

unterschied, daß ihm

das sich

von

andern

ein kleines, goldhelles

Waldhorn aus der Stirn hervorgewachsen war.

Wenn der Wind

in dessen Mündung hineinblies, lockte er ganz wunderliche, aber

sehr hübsche Klänge daraus hervor; bald traurige, bald lustige, aber, wie gesagt, immer sehr hübsch.

will auch

Puppedenzke!"

lallte der

und rieb sich die schlaftrunknen Augen.

Als aber

„Auch reiten! kleine Fritz,

reiten,

sein Freund — wie es schien, in sehr tiefen Gedanken — weiter zog, ohne sich nach ihm umzusehen, ward Fritz betrübt und ärger­

lich, und fing recht aus Herzensgründe laut zu weinen an.

Da

sahe sich Puppedenzke nach ihm um, und sagte: „ach, halten Sie mir es doch ja zu Gute, verehrter Sohn meines gelehrten Wohl­ thäters, und mir ein unaussprechlich theurer Schulgefährt, daß

ich Ihnen nicht gleich meinen schuldigen Gruß ausrichtete; aber

39 ich habe in diesem Augenblick über so wichtige, so unendlich Vieles entscheidende Dinge nachzudenken, daß —" „Sollst

mich

mitnehmen!"

unterbrach

ihn Fritz.

„Will

nach Hause reiten auf Deinem Waldhornpferdchen." „Verehrter Freund, das geht heute nicht," entgegnete Jener

mit sichtlicher Verlegenheit.

„Zudem — Ihr Herr Vater schlafen

wohl ohnehin bereits, und haben dero Haus verschlossen, denn es

geht schon sehr stark auf Mitternacht." „Will aber mit!

Will aber durchaus mit!" rief Fritz, und

stampfte ungeduldig gegen den Boden.

»Ich schlag' es Ihnen ja so sehr, sehr ungern ab," betheuerte Puppedenzke, „und doch — wie kann, wie darf Ich aKderSl Wahr­

haftig, sie warten gewiß schon Alle auf mich. lieber junger Freund,

und schlafen Sie gesund.

Leben Sie wohl,

Ich will Ihnen

auch einige lebendige Nachtlämpchen besorgen!" Dabei faßte er ins hohe Gras, und fischte eine ganze Menge

Johanniswürmchen heraus;

die streute er in einem zirkelruttdrü

Kreise rings um den Kleinen her, und sang dazu leise/ leise, mit überaus anmuthiger Stimme:

„Ihr Lichterchen, Ihr kleinen, Sollt hübsch zu Nacht hier scheinen;

Und Fritz, hör' auf zu weinen. In jedem Lichtchen steckt ein Traum, Der fliegt hervor aus blankem Saum,

Und sprützt Dich an mit süßem Schaum;

Da siehst Du schöne Sachen,

40 Da sollst noch im Erwachen So recht von Herzen lachew; Und morgen komm' ich hier heran,

Und führ' Dich heim, — ein Wort ein Mann! — Und wiedrum geht die Schule an."

Aber Fritz rief in seinem Zorn: „Nicht mehr Schule!

Sollst

gar nicht mehr in die Schule kommen, wenn Du mich nicht gleich

mitnehmen willst!" Da ward Puppedenzke ganz blaß, und sagte: „O Verehrter, drohen Sie nicht so schrecklich! O, was soll daraus werden!

kommen Sie denn.

So

Nach der Wohnung Ihres Herrn Vaters kann,

ich Sie jetzt nicht führen.

Ich darf Ihnen nur anbieten, mich auf

meiner. Reise zu begleiten."

„Will mit! Will absolut mit," rief Fritz in Einem fort, und Puppedenzke schwang ihn vor sich auf den Sattel.

Sie waren schon ein Paar hundert Schritte fortgetrabt, und

das

goldene Waldhörnchen an des Rößleins Stirne klang gar

fröhlich drein, daß alle Forstbewohner — als da waren Hirsche, Bären, Haasen, Wölfe und Eber — mit sehr höflichem Verneigen Platz machten; ja bisweilen kam es dem kleinen Fritz vor, als

thäten uralte Bäume das Gleiche, und darüber hätte er sich doch

beinah ein Bischen verwundert.

Ihr habt wohl schon eher gesehn,

wie vor blasenden Postillionen die Kutschen und Wagen und Reiter auswichen.

Ungefähr eben so ging es auch hier zu.

Da kam ur­

plötzlich ein kleiner närrischer Kerl durch den Wald gesprungen, fast noch kleiner, als Puppedenzke, und trug eine recht gepuderte

41 Perücke in der Hand, rufend: die Krone nicht vergeben!

mach' fort.

„Puppedenzke, Du siehst, noch ist

Aber wenn Du sie haben willst, so

Jenseit ringen, und springen sie schon, daß es

Lust zu sehen ist."

eine

Puppedenzke stach sein Waldhornpferdchen zum

schnellern Laufe an; da sagte der kleine Perückenbote: „nein, wenn

Du erst den ganzen Berg hinunter, und dort wieder hinaufreiten

willst, und dazwischen noch über den großen Fischweiher, kommst Du wirst Dich nun schon durch den

Du auf alle Weise zu spät.

Fußsteig arbeiten müssen." — „ Meinetwegen," sagte Puppedenzke. „Sitze Du nur mit hinten auf. und trägt uns gern alle Drei." —

Das Rößlein ist stark und willig,

Der kleine Perückenkerl schwang

sich auf des Pferdchens Rücken, und lachte so herzlich dabei, Puppedenzke,

den er mit beiden Armen umfaßte,

daß

ganz und gar

von dem Pcrückenpuder beworfen ward, und aussah wie ein Müller.

Zugleich scharrte das weiße Roß sehr ämsig den Boden, und der that

sich auf,

und alle vier kleinen Gestalten '— nämlich Fritz,

Puppedenzke, der kleine Perückenkerl und das Waldhornpferdchen — sanken recht bequem in den Erdenschooß hinunter.

Darüber wun­

derte sich Fritzchen abermals ein Bischen, doch nicht allzusehr, denn

die Töne des goldnen Hörnleins klangen recht lustiglich und hell dazu. Fast noch hübscher war es,

daß kleine Leute rechts und links

am Wege saßen, und allerhand Spielwerk zurecht machten; an­

fangs aus glatten Steinen, weiterhin aus blankem Stahl, endlich gar aus Silber und Gold;

zuletzt kamen welche vor, die leiteten

beim Glanze rothheller Steinchen ein Bächlein nach dem andern

durch goldne Pfeifen, und so wurden kleine Wafferorgeln daraus;

42 die tönten noch viel anmuthiger als des weißen Röffeleins Horn, und übertönten es nach und nach ganz.

Da sprachen Pirppedenzke und der kleine Perückenkerl heim­

lich mitsammen.

Dann hielten sie den Schimmel an, streichelten

Fritzchen die Wangen und Schläfe sehr freundlich, und wanden ihm

bei der Gelegenheit ein seidenweiches Luch um die Augen, davor er auch nicht das Mindeste sehen konnte.

Fritzchen.

„Blindekuh spielen?" sagte

„Müßt auch hübsch rufen: brennt, brennt! wenn Fritz

wo anlaufen will, an hübsche Spielsächelchen oder Helle Musikdinger.

Wär' ja Schade sonst drum.

Nicht wahr?" —

er etwas ängstlich zu schreien an:

mich ja auf'n Kopf!"

Aber plötzlich hub

„Puppedenzke, Unart!

Stellst

Da nahm ihm Puppedenzke die Binde von

den Augen, sprechend: „zürnen Sie nicht, verehrtester Schulgenoß, das ist nur ein Mittelchen wider den Schwindel.

Sehn Sie, mein

junger, gelehrter Freund, nun bekommen wir sehr guten Weg." — Der kleine Perückenkerl aber lachte, und sang:

„Ei Puppedenzke, närr'sches Ding, Was renkst Du so die Worte?"

Puppedenzke sang zurück: „Nur nicht mit Spott so'überflink! Komm' erst wie ich, Du dummes Ding,

Bon hoher Schulen PforteDann pfiffst Du nicht nach Finkenart, Dann sprächst Du hoch- und tiefgelahrt:

„AB, AB, BA."

Und das heißt: „Ab" und: „Ba!"

43 Davor ward der kleine Perückenkerl ganz scheu und still, und machte

ein so tief ehrerbietiges Compliment, daß er beinah vom Pferdchen

heruntergefallen wäre.

Das Pferdchen aber schritt während dieser

Unterhaltung rüstig nach aufwärts, in ganz entgegengesetzter Rich­

Anfangs klangen noch viele Wafferorgeln, dann

tung, als vorhin.

wurden sie still, oder tönten nur fernher aus der Liefe herauf;

doch sprudelten sie in reichen Springbrunnen Goldsand aus ihren Pfeifen neben den Reisenden her, immer nach oberwärts, so daß

sich Fritz ganze Händchen davon fing, um cs gleich darauf lustig wieder fortzustreuen, indeß der kleine Perückenkerl sich viele Mühe

gab, behutsam den Goldstaub von der Perücke fortzublasen, damit das weiße Pudermehl hübsch obenauf bleibe.

Jetzt stand der Schimmel, und klopfte mit dem Waldhörnlein —

man konnte nun dessen lustige Musik deutlich wieder vernehmen — tönend an ein finstres Thor, das über dem Haupte der Reisenden wie eine verschlossene Fallthüre lag, und draus etwas wie Fasern

und Spinnengeweb um Fritzchens Angesicht spielte.

Er faßte dar­

nach, aber Puppedenzke sagte bittend: „Lassen wir das, mein Hoch­

verehrter.

Es

sind die Wurzeln von kleinen

schönen Blumen,

welche bei diesen Versuchen nicht sonderlich an Wachsthum und

Farbe gewinnen möchten." —

schönen Blumen;"

„Nichts zu Leide thun den kleinen,

lächelte der freundliche Knabe, und verhielt

sich still» Wieder klopfte das Waldhornrößlein an die Pforte, und ein blondlockiges Knabenangesicht

guckte durch

eine aufgethane Luke,

und zwischen ihm und Puppedenzke erhob sich folgendes Gespräch:

44 „Wie viel sind Euer vor der Thüre?"

„Vier."

„Wie seyd Ihr alle Vier genannt?" „Schimmel, Fritzchen, Puppedenzke und Schalk aus Brabant." „Was hat Schimmel dabei zu sagen?"

„Schimmel hat uns hierher getragen."

„Und Fritzchen?

Von was für'nem Regiment?"

„Fritzchen ist ein gelehrter Student."

Der Fragende bückte sich sehr tief gegen Fritzchen.

Dann fuhr

er fort:

„Puppedenzke, wie willst du dich gebehrden?"

„König werden." „Und was bringt uns Schalk aus Brabant?"

„Der bringt ja die Kron' in seiner Hand."

„Raus!" rief der kleine, goldlockige Pförtner, ordentlich wie es

die Soldaten am Thor machen,

kommt.

wenn ein General geritten

Und die Thüre ging weit auf, und hervor an das goldne

Mondenlicht tanzte das Waldhornrößlein mit seinen drei Reitern,

und in schönen, blanken Harnischen standen gereiht von beiden Sei­

ten viel kleine Menschlein, und trommelten und trompeteten, und

senkten ihre goldnen Lanzen.

Man sah jedoch wohl, daß all' diese

Ehre nur dem kleinen Perückenkerl galt, den sie hier Schalk aus Brabant hießen, oder vielmehr der Perücke, die er in Händen trug. Die neigte er bisweilen rechts und links, und Alle, welche davon

bestäubt wurden, freuten sich ausnehmend, und wußten sich etwas rechtes damit.

45 Man kam nun in einen großen, mondhellen Wald, mit so wunderlichen, ganz riesighohen Bäumen und Blumen, als Fritz in

seinem Leben nicht gesehn hatte, weshalb er auf den seltsamen Ein­

fall gerieth, am Ende sey das Alles wohl gar nur ein Traum. Aber da pflückte Puppedenzke im Vorbeijagen ein Ding, wie einen

goldnen Apfel vom Baum, löste es mit einem silbernen Mefferlein

schnell und appetitlich aus der Schaale, und steckte es in Fritzchens

Mund.

Wie nun Fritzchen des süßen Geschmackes inne ward, klopfte

er sich behaglich den kleinen Magen, und wußte von da an mit

voller Sicherheit, er träume nicht.

Und Schimmel rannte und rannte, so schnell er nur irgend konnte, bis er mit seinen drei Reitern in die Mitte eines ganzen

Gewimmels von kleinen, schöngeputzten Leuten kam.

Die rangen

und schwangen, und ritten und glitten, und hüpften im Tanzen

und warfen mit Lanzen, kurz, trieben jeglich Ritterspiel, und ward ihnen nimmermehr zu viel.

Da winkte ein kleiner alter Mann, mit schlohweißen, glatten Haaren, der auf einem blanken Sitze über all das festliche Trei­

ben emporragte, den Puppedenzke zu sich heran, sahe etwas ver­ drießlich aus, und sprach:

„Mein Puppedenzke, sage mir, Wo kommst Du her?

Was willst Du hier?

Und Du, mein Schalk, Du aus Brabant, Thu' mir in Treuen das bekannt, Was liefst Du weg von diesem Ort,

Und nahmst die Krone mit Dir fort?"

46 Der kleine Perückenkerl antwortete für Beide, und zwar fol­ gendergestalt: „Herr Richter, 's wird bekannt Euch seyn,

Die Krone hier ist rechtlich mein,

Bis sich ein würd'ger König findet, Dem man damit den Kopf umwindet.

Da holt' ich Puppedenzken her,

Ob das vielleicht der Rechte wär', Um uns mitsammen zu regieren;

Und Schimmel rannt' auf allen Vieren, So schnell es ging, den Fußsteig 'rauf.

Nun, denk ich, sind wir all zu Häuf, Und wird noch in den nächsten Stunden

Ein tücht'tzer König aufgefunden." Der kleine Mann strich mit einem goldnen Fiedelbogen auf

einer silbernen Baßgeige, und sah dazu ganz vorzüglich feierlich aus.

Da liefen alle die kleinen Menschen windschnell um dessen

Sitz zusammen, und standen in einem großen Kreise wie hübsche Puppen regungslos still.

Der Richter aber gebot, daß Schalk

aus Brabant, oder Perückenkerl, nochmals erzähle, wie er zu der

weißmehligen Krone gekommen sey, und dieser hub seinen Spruch in folgenden närrischen Worten an: „Ich ging einmal auf der Gränze spatzieren, um mich ein

wenig zu erlustieren.

Ihr wisset, ich hause gewöhnlich in Bra­

bant, und das liegt ganz hart an dem drolligen, kollrigen, wun­

derlich kunterbunten Franzosenland.

'Nüber hab' ich mich niemals

47 gemacht, denn es wird da mehr gegrinzt, als gelacht, und ich lache

so recht von Herzen gern.

Nun stand ich denn auch- und besah

es von fern, das lustige Elend, und die pudelnärrischen Leute.

Plötzlich — mir ist noch, als geschäh es heute — kommt Euch ein Paar Franzosen anmarschirt, schnarrt und schmatzt und schnalzt

und parlirt — was? — Ja/Gott hat sie hoffentlich verstanden,

ich aber nicht.

Mir kamen fast die Ohren abhanden vor dem

verrückten Gequik,

und

ging mir beinah der Kopf in Stücke.

Aber jeder trug eine excellente Perücke, — so nennen sie dorten dies respektable Ding.

Ich dacht' auf einen Pfiff, wie ich rasch

und flink so 'nen Mehlkasten an mich zückte —” Der Richter sah wiederum höchst verdrießlich aus, und strich

die silberne Baßgeige, daß sie einen tiefen, zornigen Ton angab. Schalk aus Brabant verneigte sich halb lachend, halb ernsthaft,

und sprach weiter:

„ Ich rede ja schon mit Respect.

Wie 'ne verrückte, verdutzte,

beschmutzte Tracht kams mir freilich vor.

Doch Euch siehts wie

'ne Krone aus, und ich bin nur ein Thor.

Nun, die zwei fran­

zösischen Kavaliere verzürnen sich auf einmal bei ihrem Parlieren,

zieht jeder, um recht gewaltig zu streiten, 'ne Art Stricknadel von feiner Seiten, und nun geht Euch der Spektakel los: „Ha! ho!

ho! ha!" bei jedem Stoß!

Es war ein Geschrei, kann ich Euch

sagen, vollkommen genug, um hunderttausend Mann bei todtzu­

schlagen.

Wißt Ihr noch, wie vor alten Jahren der hörnerne

Siegfried kam gefahren, und uns zu großem Zorn und Gram die

schönen Nebelkappen nahm?

Ihr meint, da wäre mit Schall und

48 Hall gestritten?

Freunde und Herrn, auf allen seinen Krieges­

ritten — sie zusammengerechnet und in eins gebracht — hat der

Siegfried kein solches Spektakel gemacht, und kein so ganz mord­ als meine zwei Perückenfranzosen.

mäßiges Tosen,

kam auch was rechtes zu Stand. die Hand;

Dafür aber

Der Eine ri-tzte sich wahrhaftig

ob er sich nun am eignen Gefäße verletzte, ob ihm der

Andre mit der Stricknadel was versetzte, — ich habe nicht ordent-

lich Acht gegeben.

So viel ist gewiß, sie blieben Beide am Leben,

und sagten, nun wäre gerettet die Ehr', und

küßten sich über die

Maaßen sehr; und das geschah mir zum großen Glücke, denn dabei verlor der Eine die Perücke.

Ich husch damit unter die Erde hin­

ein — Ihr meint nun, es soll'ne Krone seyn.

mirs gern gefallen.

Auch das.

Ich laß'

Schalk aus Brabant lacht ja doch zu Allem."

Damit stimmte er wirklich ein ganz ausgelassenes Gelächter an, aber auf einen sehr tiefen Baßgeigenstrich des Richters bezähmte

er sich einigermaaßcn.

Alsbald erhub der kleine, alte, verdrieß­

liche Mann seine Summe, lobte die gepuderte Krone sehr, und er­ klärte, noch in dieser Nacht müsse sichs entscheiden, wer am besten

verdiene, sie zu tragen, und die Königswürde über dies ganze mäch­ tige Volk zu behaupten.

Drei schöne, blondlockige Ritter, nicht größer als Puppedenzke, traten hervor.

Sie hatten schon den Ucbrigen im Ringen und

Schwingen, und in allen möglichen Heldenkünsten den Preis abge­ wonnen, und forderten nun den Puppedenzke heraus, darzuthun,

ob er ein besserer Mann sey, als sie, oder nicht. Es wollten dabei viele Zuschauer große Wetten eingehn auf

49 das Nicht, und diese schienen auch vollkommw Recht zu behalten, denn so schön auch das Waldhornrößlein bei allen Uebungen, wozu

es kam, seine Schuldigkeit that, so erbärmlich that Puppedenzke die seinige.

Alle Augenblicke lag er an der Erde, ja, schon vor

dem kühnen Blicke seiner Gegner schien er bisweilen auszugleiten und umzufallen, so daß bald ein allgemeines Zischen und Gelächter

den verunglückten Kronenwerber aus den Goldschranken des Spieles

jagte.

Auch der alte, kleine, verdrießliche Richter legte sein wun­

derliches Antlitz einigermaßen zum Lachen zusammen, und Fritzchen

verkroch sich hinter einigen Büschen, denn er schämte sich des un­ geschickten und feigen Gefährten gar zu sehr.

Zu seinem Trost

wuchs do-rt etw-s Don den schönen Goldäpfeln, derengkichen ihm

Puppedenzke vorhin einen in den Mund gesteckt hatte.

Da fing

er tüchtig an zu essen, und empfand eine große Beruhigung.

Puppedenz-ke verweile hatte sich mit seltsamer Geschicklichkeit aus alten, umherliegenden Brettern ein Ding zusammengebaut, wie

eine Art von Häcksrlladez das stellte er aufrecht, kroch hinan, und sprach von da aus folgende Worte:

„Liebe, noch etwas rohe, aber dennoch meinem Herzen unend­

lich theure LandeSgenoffen und Herren!

Meine Aufopferungen für

die Wissenschaften haben meinen Leibeskräften und Leibesgdschicklichkeiten, ja auch wohl dem, was ihr im übermüthigen Sinne mit

dem Namm Tapferkeit zu benennen pflegt, einigen gelinden Schaden zugefügt, aber —"

Da unterbrach ihn wiederum ein allgemeines Lachen, und das

ganze Volk sang wie aus Einer Kehle:

50 „ Puppedenzke ist toll geworden!

Gebt ihm doch ’nen Tollmannsorden!” Tiefer und tiefer kroch Fritzchen hinter das Gesträuch, und er­ gab sich in seiner Beschämung demauf eine immer gewal­

tigere Weise,

aber Puppedenzke wußte von Beschämung nichts.

Vielmehr zog er mit unzerstörbarer Ruhe eine alte Fibel hervor, die ihm Fritz und dessen Schwestern einstmalen geschenkt hatten,

schlug sie auf, und hielt sie dem ganzen Kreise mit feierlichen Ge­ bärden offen entgegen.

Da wurden die kleinen Leute allzumal ganz stumm und starr, und endlich singen sie an, wie von der ernsthaftesten Ehrfurcht be­ fangen, ausnehmend tiefe Verbeugungen zu machen, die allertiefsten

der alte verdrießliche Richter.

Aber dieser kam dennoch zuletzt mit

einigen Zweifeln hervor, ob auch Puppedenzke das an und für sich

vortreffliche Werk auf solche Weise zu benutzen und

auszulegen

verstehe, daß davon alle Mitbürger dieses mächtigen Staates klug würden, als woraus es doch nur einzig und allein abgesehn sey. Und sogleich sing Puppedenzke mit gewaltiger Stimme zu lesen an: „AB Ab, BA Ba,” und immer so fort, bis Alle sich aufs

neue im ehrerbietigen Staunen verneigten.

Aber der kleine alte

Richter war ein hartnäckiges Ding in seiner Verdrießlichkeit.

Nun

fiel es ihm wiederein, ob auch PuppedenzkesLesekunst die richtige

sey, und ob man es nicht etwa auf der hohen Schule, deren er sich rühme, ganz anders treibe. —

„Verehrter,” sagte Puppedenzke,

mir hat das Schicksal gegen Ihren etwas überfeinen Scharfsinn

eine ganz vortreffliche Waffe an die Hand gegeben; einen jungen

51 Studenten nämlich, der so gefällig war, diesen Ritt auf meinem

Pferde mitzumachen, und der Ihnen zeigen wird, ob man am ge­

hörigen Orte das vortreffliche A B Ab, so wie auch das beinah noch nützlichere BA Ba im mindesten anders vorträgt, als ich." Und

sogleich

von Puppedenzke auf die Häcksellade gehoben,

machte Fritzchen seine Schule nach besten Kräften durch, und ein betäubender Beifall erscholl, und Puppedenzke ward alsbald zum König ausgerufen, ohne daß von den drei kleinen tapfern Rittern

im mindesten mehr die Rede war.

Fritzchen aber hatte diese um

so besser im Auge behalten, denn ihn lästerte ausnehmend, etwas von ihren schönen Ring-, Schwing - und Springstücken zu erlernen,

nur daß er sich vorhin nicht an sie traute, weil sie ihm gar zu schön und herrlich vorkamen. sie kümmerte,

Jetzt, da sich Niemand mehr um

und sie ganz beschämt und traurig in den Hinter­

grund zurückgetreten waren, konnte er kaum das Enöe seines AB Ab erwarten, und mit der letzten Sylbe sprang er von der Häcksel­

lade, rannte zu ihnen hin, und stammelte seine Bitte her, daß sie ihm ein Bischen zeigen möchten, wie man sich zu solchen lustigen

Spielen anstelle. Die drei Ritterlein waren dem Fritz gern zu Gefallen.

Mit

einem Wettelauf hub das Spiel an, und weil der kleine Fremde

Anfangs gar zu weit dahinten blieb, und wohl sein Gesichtchen darüber etwas weinerlich verzog,

gaben

sich die Ritterlein viele

Mühe, ihm alle Vortheile des Laufens beizubringen, als da sind:

Brust heraus, Arme zurück, nicht Athem durch den Mund geholt,

und solcher guten Lehren mehr.

Fritzchen lief auch alsbald um

4*

52 einen guten Theil schneller und leichter, und konnte sich nun schon

eher mit seinen freundlichen Meistern messen.

Dann kam es ans

Klettern, ans Ringen, ans Schwingen, ans Fechten, und immer

waren die guten Ritterlein sehr besorgt, daß der Fritz nicht zu Schaden komme, aber dennoch in möglichster Eil möglichst viel

von all den schönen Künsten begreife.

auf eine recht wundersame Weise.

Und das geschah denn auch

Nach etwa dreiviertel Stunden

war Fritzchen schon so weit, daß man ihm Puppedenzkes Waldhorn-

rößlein vorführte, und ihn im Reiten gar kunstmäßig zu unter­

richten ansing.

Eben trabte er seinen Kreis in gehöriger Stall­

meisterstellung, die Zügel und Schenkel sehr verständig brauchend,

um die erfreute» Ritterlein her, und schon war es an dem, daß er de» Schimmel im Gallop ansprengen sollte, — da lenkte ein ganz

gewaltiges Jubelgeschrei die Blicke des Schülers, so wie auch die der drei Meister, nach einem Rasenhügel hin, wo jetzt eben des neuenvählten Fürsten Krönung vor sich gehen sollte.

Sehr stolz und feierlich erschien eben Puppedenzke, aber den­ noch tonnten sich Fritz und die Ritterlein gar nicht des Lachens er­ wehren, und auch Schalk aus Brabant gesellte sich zu ihnen, und lachte recht aus ganzem Herzen mit.

Denn um die Perückenkrone

desto würdiger und ungehinderter zu tragen, hatte sich Puppedenzke

sein blondes Lockenhaar ganz ratzenkahl abscheeren lassen, und sah nun unaussprechlich toll und spaßhaftiglich aus.

Aber die Uebn'gen

schienen das kaum zu merken, oder wenn irgend einmal ein Kichern allgemein werden wollte, brauchte Puppedenzke nur aus der Fibel

abzuschreien: „BA Ba!" und Alles war wie durch einen Zauber-

53 spruch in ehrerbietiges Schweigen versteintz nur immer Fritzchen, die drei Ritterlein, und Schalk aus Brabant ausgenommen, wobei

es auch ordentlich war,

als

hätte das Waldhornpferdchen gern

mitgelacht, wenn es gekonnt hätte.

Der alte kleine Richter sah

bisweilen mit vermehrter Verdrießlichkeit nach der Lachgesellschaft hin, aber gütig und huldvoll entschuldigte sie Puppedenzke sämmt­

lich damit: bei Fritzchen seyen es Studentenmanieren, wie man auch schon an dem unnöthigen Fechten sehen könne, und ohne Zweifel habe er die Ritter, den Schalk und den Schimmel — sonst lauter

wohlgesinnte Personen — ein Bischen damit angesteckt.

Leutseelige

Herren, meinte er, müßten über solche Lappalien schon wegsehen.

Deshalben pries ihn der Richter ausnehmend, und setzte ihm mit einer höchst erhabnen Rede die Perücke auf, welche den kleinen

König mit ihren langen Puderlocken fast über und über, wie ein ungeheurer Mantel, bedeckte.

Nun kam er erst der Versammlung recht ehrwürdig vor, und

absonderlich dem Richter; ja, als dieser dem neuen König ein Lebe­ hoch bringen sollte, war es ihm, als ob für eine so herrliche Per­ son der Name Puppedenzke viel zu geringfügig und kindisch sey, weshalb er dem versammelten Volke vorschlug, man solle dm ge­ lehrten Herrscher lieber auf eine weit schicklichere Weise Puppedanz

benennen.

Der Antrag gefiel Jedermann, und alsbald brauste

von allen Seiten der Zuruf durch die Lüfte: „Vivat Puppedanz

der Erste!

Puppedanz der Erste, Vivat hoch!"

Schimmel, Fritzchen, Schalk und die drei Ritter wären vor Lachlust und Lachen beinah umgekommen.

54 Da zog es am Himmel herauf wie ein rother Morgenstrcif, und Puppedanz der Erste bewies sogleich, daß er des Guten, wel­ ches ihm als Puppedenzke zu Theil geworden war, keinesweges

vergessen habe, denn er entblödete sich nicht, mit augenscheinlicher Gefahr seiner Perückenkrone, Fritzchen in die Arme zu nehmen, ihn

durch einige wundersame Lieder einzusingen, und dann in höchst­ eigner Person mit dem halb träumenden Knaben den nächsten Weg

nach der Försterwohnung auf dem treuen Waldhornrößlein hinunter und hinauf zu traben,

wollte.

so rasch es sich nur irgend thun lassen

Fritzchen fühlte sich wie in einer Wiege, und schlief end­

lich zur tiefsten Ruhe und Behaglichkeit ein. Beim Erwachen fand er sich in seinem Bettchen.

Die Sonne

blickte schon ganz hell und hoch durch die Fenster; Julchen und Jettchen standen neben ihm , und lachten den kleinen Langschläfer

aus.

Da sagte Fritz: „ nicht Langschläfer!

Gar nicht Langschläfer!

Viel geritten, viel gefochten, viel gelacht!"

an den

Und in Erinnerung

zum König Puppedanz gewordnen Puppedenzke fing

er

abermals herzlich zu lachen an, und die Schwestern sprangen aus

dem Zimmer, um dem Vater von dem wunderlichen kleinen Träu­ mer zu erzählen. Aber Förster Waidhart war der Spur eines Ebers nachgegangen, und wollte erst gegen Mittag wieder zu Hause seyn.

Als nun Fritzchen vor die Thüre herauskam, hielten ihm die Schwestern ihre Puppen entgegen, und riefen ihm zu: „Laß sie

tanzen! Laß sie tanzen."

Der Kleine hingegen wandte sich un­

willig ab, und sagte: „Ach, nichts da!

muß Reitschule halten."

Habe mehr zu thun;

Da. fingen Zulchen und Jettchen wieder

55 sehr an zu lachen über den wunderlichen Jungen, der reiten wollte,

und hatte ja doch kein Pferd. Verweile lockte Fritz einen großen Ziegenbock, der schon lange

in dem Försterhofe wohnte, mit Brot heran, und hui, eh es sich zog er einen Strick durch des Thieres

irgend Jemand versah,

Maul,

Rücken.

und schwang sich mit einem

kecken Sprunge auf dessen

Das fing nun voll Schrecken und Ungeduld zu bäumen

und zu bocken an, und die zwei kleinen Mädchen weinten ängstlich über ihres Brüderchens Gefahr.

Fritz nahm die Sache ganz spaß­

haft, und hielt sich lange mit vieler Sicherheit und Kraft auf seinem ungezähmten und ganz unbändigen Reitpferde fest.

End­

lich aber sprang es so kerzengrade in die Höhe, und so steilrecht wieder hinunter, daß der kleine Ritter über die Hörner weg auf den Rasen hinflog. —

„DummesBockpferd," murmelte er.

hornpferdchen ging besser, viel besser." chen

hindern konnten,

„Wald­

Und bevor es die Mäd­

hatte er den Ziegenbock wieder bestiegen,

und hammecke ihn nun dermaßen mit den Füßen zusammen, daß

demüthig ward und ganz lenksam

das

Recht und die Obergewalt seines kleinen Reiters anerkannte.

Die

der gehörnte Gaul ganz

Schwestern schlugen in froher Verwunderung ihre Händchen über dem Kopf zusammen, als Fritz sein bezwungnes Thier bald im regelrechten Kreise um sie hertraben ließ, bald in geschickten Wen­

dungen ihn schlängelnd hin und wieder lenkte.

Nun sprang er ab, nahm den Zaum aus seines Reitpferds

Munde, und streichelte es freundlich.

Da baten Jettchen und Jul-

chen: „Mehr, lieber Fritz! Reite doch noch ein Bischen mehr auf

56

dem närrischen Ziegenbock." Aber Fritz erwiederte sehr verständig : „Pferdchen jetzt müde ist, Pferdchen jetzt auf die Weide muß." Und alsbald ließ er es in eine kleine, umhegte Wiese hineinlaufen. Um indeß seinen Schwestern auf eine andre Art zu Willen zu seyn, machte er ihnen von den übrigen Kunststücken, die ihm zu Rächt die Ritterlein gelehrt hatten, allerlei Lustiges vor, so daß die Mädchen gar nicht aus der Freude kamen. Man geriech dabei um ein gutes Stück in die Waldung hinein, und Jettchen meinte, da könne ihnen wohl etwas Gefährliches aufstoßen; besser sey eS, wieder nach der Hütte umzukehren. — „I, was soll uns denn hier eben Großes begegnen?" erwiederte Julchen. „Sind wir ja doch in dem Thale, durch welches Vater zurückkommen muß." Da ließ es sich denn Jettchen auch gefallen, und wirklich hörte man bereits aus der Ferne das laute Ja^n der Försterhunde, im fröhlichen Wiederhall von den Felsen zurückprallend. Aber plötzlich voll schäumender Wildheit brach ein angeschos­ sener Eber durch das Gebüsch, und fuhr auf die hülflosen Kinder rin. Aus großer Weite nur folgten die Hunde; vvn einem schrof­ fen Felsen sahe der Förster die Gefahr des Liebsten, was er auf dieser Erde hatte. Sein wohlgezielter Schuß streifte den Eber zum zweiten Mal, aber ohne ihn zu fallen. Rur rachedurstiger raste das Thier; die Kinder schienen verloren. Da sprang Fritzchen ganz seitwärts von den flüchtenden Schwe­ stern ab, und wie er es wohl schon den Vater hatte thun sehn, reiztt er den zürnenden Verfolger mit einem lauten „Husu! Husu!" grade auf sich heran. Blitzschnell fuhr der Eber nun

57 auf ihn ein, aber Fritzchen war noch um vieles schneller einen

glatten Tannenbaum hinauf geklettert, und während die schäu­

mende Bestie unten in

fruchtloser Wuth an den Wurzeln hieb

und wühlte, lachte des Knaben lächelndes Gesicht fast wie ein ro­

thes Aepfelchen zwischen den schwarzgrünen Zweigen hervor,

die

im Winde schwankend und rauschend ihren kleinen Gast anmuthig

aus und niederwiegten.

den Eber gepackt,

Nicht lange, so hatten die treuen Hunde

und

ein kräftiger Waidmesserstoß des herbei­

geeilten Försters warf ihn leblos in die Gräser. glitt Fritzchen vom Baume nieder,

Lustig singend

und hüpfte schmeichelnd um

seinen Vater her. Dem schwoll das wackre Herz von Dank gegen Gott und von

Entzücken über seine geretteten Kinder,

vor Allem

muthigen, an Leib und Seele starken Sohn.

über seinen

Er ließ sich nicht

so ganz damit heraus gegen den Knaben, aber kein Auge konnte

er auf dem Heimwege von ihm abwenden, und fragte dabei immer

wieder auf ihn hinein, wie ihm zu Muthe gewesen sey, und wie ihm der kräftigkühne Gedanke den Sinn durchblitzt habe. Der Kleine stammelte das verständlich genug heraus,

und

dabei kam denn natürlich die Geschichte von Puppedenzke und von

den drei Ritterlein und von Schalk aus Brabant und all' den

wunderlichen Dingen der vergangenen Nacht

mit

zur Sprache.

Sehr freudig und. sehr nachdenklich hörte Förster Waidhart zu,

doch gab er mit keinem Worte seine Meinung kund. Am nächsten Morgen hielt er wieder Schule mit seinen Kin­ dern, und sah immerfort

dabei voll sichtlicher Erwartung

nach

58 der Lhür.

Was er gewünscht zu haben schien, ließ zwar etwas

länger auf sich warten, als gewöhnlich, aber es kam doch endlich:

nach etwa drei Viertelstunden trat Puppedenzke sehr eilfertig und

mit vielen Bücklingen herein.

In lautes Gelächter brachen die

drei Kinder aus, und auch der ernste Förster konnte nicht umhin,

ein ganz klein wenig mit einzustimmen, so gar toll und wunder­

lich war Puppedenzke anzusehn mit seinem ganz kahl geschornen Kopf.

„Solltet ihn erst mit der Puderkrone sehn, mit der Puder­

krone!" schrie der ausgelassene Fritz dazwischen.

„Wenn er Pup-

pedanz heißt! ' Da ist 'mal rechter Spaß bei!" Puppedanz der Erste war doch in

einige Verlegenheit ge­

rathen, und suchte seinen Aerger über das wilde Auslachen mit möglichster Fassung und Selbstüberwindung niederzudrücken.

Da

winkte ihm Förster Waidhart sich nach aus her Lhür, und die Kinder sahen, wie Beide unter den Rüstern eines nahen Hügels

sehr ernsthaft im ämsigen Gespräche mitsammen auf und nieder gingen.

Endlich blieben sie stehn, gaben sich feierlich, wie zu einem

wichtigen gegenseitigen Versprechen, die Hände, und gingen sodann mit vielen freundlichen Grüßen aus einander.

Förster Waidhart zeigte

sich von nun an ganz ausnehmend vergnügt, ja sogar ostmalen scherz­

haft, und eine gewisse dunkle Wolke, die bis dahin über seinen Augen­

braunen zu ruhen pflegte, war so gut als gänzlich verschwunden. Fritzchen ward seit diesem Lage gewöhnlich um

die dritte

oder vierte Nacht in das Reich der kleinen Leute abgcholt, über

welches Puppedanz als König herrschte.

Anfangs kam dieser fast

immer selbst, und schickte nur selten einen der drei Ritterlein an

59 seiner Stelle;

zuletzt aber mochte ihm das Regieren zu viele Zeit

wegnehmen, auch ritt er mit jeder Nacht erbärmlicher und un­ sichrer, so daß Fritz beständig in Gesellschaft eines Ritterleins reiste,

auch jenseit des wunderlichen Erdfußsteiges ausschließlich nur mit seinen drei Meistern verkehrte, die ihm ganz wunderbar herrliche Kampf- und Ringerkünste beibrachten.

Wenn er so was dann

seinem Vater wieder vormachte, glühte dieser in Freuden Hochauf,

daß er fast anzusehen war wie ein mächtiger, halbversteinter Eich­

baum in den Lichtern des frühesten Morgengefunkels.

Etwas ver­

drießlich sahe man den Förster nur an den Tagen, wo Puppe-

denzke — immer noch mit glattgeschornem Kopfe,

bisweilen auch

gar mit der Perücke drüber — in den Frühstunden mühsam heran­ gewandelt kam, sein jetzt sehr breit aussehendes Antlitz mit einem Tuche fächelnd, und AB Ab, BA Ba unter Waidharts Anleitung absingend, oder — wie Jettchen und Julchen es zu Puppedenzkes großem Aerger zu nennen pflegten, — abblökend.

Vater Waid­

hart gewann aber seine jetzige heitre Laune immer bald wieder, und pflegte zuletzt aus voller Brust zu lachen, sprechend:

„Hab' es denn Jeder, wie er es haben will.

Der Tauschhandel

von meiner Seite ist ehrlich, und die etwas dumme Mühseeligkeit,

die es mir kostet, soll sich in Erdenseeligkeit und Himmelsseeligkeit

an Fritz und seinen Kindern und Kindeskindern schon vergelten." Fritzchen bemerkte indeß nach geraumer Zeit, daß die kleinen Leute, wenn er einmal zu öffentlichen Festen bei ihnen eintraf, nur

wenig mehr sprangen und wettliefen und ritten, sondern fast die

ganze Zeit mit dem Abschreien ihres mühsam eingelernten AB Ab,

60 BA Ba verbrachten.

Und wenn es denn auch endlich einmal an

die schönen Ritterübungen kam, erwiesen sich jetzt beinah Alle so ausnehmend ungeschickt darin, daß man wohl sah, in kurzer Zeit

würden

sie vollends um die ganze

edle Kunst gekommen

seyn.

Fritzchen übte sich nur mit seinen drei Meistern, denn die Andern waren ihm viel zu schwach, ungelenkig und mattherzig.

Aber so­

gar die drei Ritterlein schienen nach und nach an der altedlen Kraft und Kampfeslust zu verlieren.

Zum Theil sah es wohl deshalb so

aus, weil Fritz recht schnell und stark emporwuchs, und gewaltig viel in der freudigen Schule lernte, doch lag es unbezweifelt auch

an den drei Ritterlein selbst. Es war schon mehrere Jahre so fortgegangen, und Fritz konnte bereits die wilden Rosse des Waldes zähmen, und sie im eben so

geflügelten als gezügelten Lauf thalunter sprengen und bergauf,

da kamen einstmalen an einer dunklen, fernabgelegnen Stelle des Forstes die drei Ritterlein zu ihm, und hielten ihm folgende Rede:

„Du bist nun unser Schüler nicht mehr, Du kecker Fritz; Du bist nun unser Waffenfreund und Genosse.

Weil wir also Dir nichts

mehr lehren können, wirst du auch nichts dawider haben, daß wir einstweilen Abschied von dir nehmen, um auf unsre eigne Hand Abenteuer in der Welt zu suchen.

Ueberhaupt geht nun der ganze

Vertrag zu Ende, weil auch König Puppedanz der Erste von Dei­ nem Vater das AB Ab und BA Ba so hinlänglich gelernt hat, als es Dein Vater selbst versteht.

Schlimm ist es nur, daß jemS

gelehrte BA Ba unserm ganzen Volke in die Glieder geschlagen

ist, wie Du es ohne Zweifel schon seit langer Zeit bemerkt haben

61 mußt.

Sie können nicht ringen, nicht springen, nicht schwingen,

nicht singen; sie können nicht reiten, nicht streiten, — kaum schrei­ ten; — kurz: es sind eben lauter Bahkerle geworden, und sogar

uns hat das verwünschte AB Ab entsetzlich herunter gebracht.

Weil

wir nun ohnehin darin nicht sehr weit gekommen find, und Puppedanz der Erste uns deshalb für sehr rohe, unbequeme,

und wohl

gar höchst gefährliche Unterthanen halt, hat er uns den Urlaub auf

ein Stücker drei Jahrhunderte mit Freuden bewilligt. men also Abschied von Dir, Du lieber kecker Fritz.

Wir neh­

Den Fußsteig

nach unserm Lande brauchst Du nicht wieder zu suchen; — beiläu­ fig gesagt: das Ding liegt in Amerika — denn in Puppedanz des Ersten Reichen giebt es nun gar keinen Spaß mehr, indem auch

Schalk aus Brabant aus Langerweile von den A B Absleuten wegge-

lauscn ist; aber wir treffen wohl irgend einmal anderwärts Eins das Andre an, und dann wollen wir recht lustig seyn, und uns als gute Waffen-undSpaß - und Lachbrüder gehörig vor aller Wett beweisen." Fritz war ordentlich recht betrübt, daß seine ehemaligen Meister

fortzogen, aber er konnte und wollte nichts dawider einwenden, wohl merkend, daß sie das beste Theil ergriffen hätten.

Nur selbst

noch lange in dem Walde zu bleiben, kam ihm nach der Trennung von den drei Ritterlein abscheulich langweilig vor, und das sagte

er bei der Heimkehr seinem Vater auch ganz frei heraus.

Dieser erwiederte nach einigem Besinnen: ,, Ziehe hin, lieber Fritz! in Gottes Namen.

Du sollst wissen, daß ich mich eigentlich

in diese öde Waldung begeben habe, weil mich die Menschen, die draußen wohnen, allzusehr ärgerten.

Die haben es nämlich grade

62 so gemacht, wie Puppedanz der Erste und seine Unterthanen. haben vor

Sie

lauter AB Ab und BA Ba die edlen Nitterkünste in

Grund und Boden verderben lassen, und sehen größtentheils aus wie Jammerbilder.

Doch denke ich nun, wenn Einer unter sie

kommt, der so ist wie Du — den dreien Ritterlein sey es zu vie­

len tausend Malen gedankt — könnte er vielleicht eine Menge von ordentlichen Kerlen neben sich aufziehn, und so die ganze Geschichte wieder in Gang bringen.

Ich bin zu alt, und wohl auch zu ver­

drießlich, um mich auf die rechte Manier damit abzugeben. Reise Du

also allein.

Wenn es aber erst draußen einigermaßen vernünftig

aussieht, so komm wieder und hole mich und deine Schwestern nach. Da zog der Fritz recht frisch und fröhlich in die Welt, und

richtete Alles ganz tüchtig aus, wie es ihm der Vater aufgetragen hatte, und dann kam er wieder, und holte die Andern.

Er war

ein großmächtiger General geworden, und trug schöne Rittersterne auf seiner Brust.

Julchen und Jettchen sollen mit der Zeit sehr

herrliche Prinzen geheirathet haben, und wohl gar Königinnen ge­ worden seyn, und wenn sie nicht todt sind, leben sie noch.

Nussknacker Ullfl

ITauseköni».

63

» Nußknacker und Mausekönig.

Der Weihnachtsabend. Am vier und zwanzigsten December dursten die Kinder des Medizinalraths Stahlbaum den ganzen Tag über durchaus nicht in

die Mittelstube hinein, viel weniger in das daran stoßende Prunk­

zimmer.

In einem Winkel des Hinterstübchens zusammengekauert

saßen Fritz und Marie, die tiefe Abenddämmerung war eingebrochen und es wurde ihnen recht schaurig zu Muthe, als man, wie es gewöhnlich an dem Tage geschah, kein Licht hereinbrachte.

Fritz

entdeckte ganz insgeheim wispernd der jüngern Schwester (sie war eben erst sieben Jahr alt geworden) wie er schon seit früh Morgen

es habe in den verschlossenen Stuben rauschen und rasseln, und leise pochen hören.

Auch sey nicht längst ein kleiner dunkler Mann

mit einem großen Kasten unter dem Arm über den Flur geschlichen, er wisse aber wohl, daß es niemand anders gewesen als Pathe

Droßelmeier.

Da schlug Marie die kleinen Händchen voll Freude

zusammen und ries:

„Ach was

für uns Schönes gemacht haben.

wird

nun Pathe Droßelmeier

Der Obergerichtsrath Droßel­

meier war gar kein hübscher Mann, nur klein und mager, hatte

64 viele Runzeln im Gesicht, statt des rechten Auges ein großes schwar­

zes Pflaster und auch gar keine Haare, weshalb er eine sehr schöne weiße Perücke trug, die war aber von Glas und ein künstliches Stück Arbeit.

Ueberhaupt war der

Pathe selbst auch ein

sehr

künstlicher Mann, der sich sogar auf Uhren verstand und selbst welche machen konnte.

Wenn daher eine von den schönen Uhren

in Stahlbaums Hause krank war und nicht singen konnte, dann kam Pathe Droßelmeier, nahm die Glasperücke ab, zog sein gelbes Röckchen aus, band eine blaue Schürze um und stach mit spitzen

Instrumenten in die Uhr hinein, so daß es der kleinen Marie or­ dentlich wehe that, aber es verursachte der Uhr gar keinen Scha­

den, sondern sie wurde vielmehr wieder lebendig und fing an recht

luftig zu schnurren, zu schlagen tinb zu singen, worüber denn Alles große Freude hatte.

Immer trug er, wenn er kam, was Hübsches

für die Kinder in der Lasche, bald ein Männlein, das die Augen verdrehte und Complimente machte, welches komisch anzusehen war, bald eine Dose, aus der ein Vögelchen heraushüpste, bald waS Anderes.

Aber zu Weihnachten, da hatte er immer rin schönes

künstliches Werk verfertigt, das ihm viel Mühe gekostet, weshalb es auch, nachdem es einbescheert worden, sehr sorglich von den

Eltern aufbewahrt wurde. —

meier für uns Schees

„ Ach, was wird nur Pathe Droßel­

gemacht haben," rief nun Marie;

Fritz

meinte aber, e.s könne wohl diesmal nichts anders seyn, als eine

Festung, in der allerlei sehr hübsche Soldaten auf- und abmarschirten und exerzirten und dann müßten andere Soldaten kommen,

die in die Festung hineinwollten, aber mm schössen die Soldaten

65 von innen tapfer heraus mit Kanonen, daß es tüchtig brauste und knallte. „Nein, nein," unterbrach Marie den Fritzr j,Pathe Droßelmeier hat mir von einem schönen Garten erzählt, darin ist ein großer See, auf dem schwimmen sehr herrliche Schwäne Mit goldnen Halsbändern herum und singen die hübschesten Lieder. Dann kommt ein kleines Mädchen aus dem Garten an den See und lockt Vie Schwäne heran, und füttert sie mit süßem Marzipan." Schwäne fressen keinen Marzipan, fiel Fritz etwas rauh ein, und einen gan­ zen Garten kann Pathe Droßelmeier auch nicht machen. Eigent­ lich haben wir wenig von seinen Spielsachen; es wird uns ja alles gleich wieder weggenommen, da ist mir denn doch das diel lieber, was uns Papa und Mama einbescheeren, wir behalten es sein und können damit machen, was wir wollen." Nun riethen die Kinder hin und her, was es wohl diesmal wieder geben könne. Marie meinte, daß Mamsell Trutchen (ihre große Puppe) sich sehr verändere, denn ungeschickter als jemals fiele sie jeden Augmblick aus den Fußboden, wel^s ohne garstige Zeichen im Gesicht nicht abginge, und dann sey an Reinlichkeit in der' Kleidung gar nicht mehr zu dercken. Alles tüchtige Ausschelten helfe nichts. Auch habe Mama gelächelt, als sie sich über Gretchens kleinen Sonnen­ schirm so gefreut. Fritz versicherte dagegen, ein tüchtiger Fuchs fehle seinem Marstall durchaus, gleichwie seinen Truppen gänzlich an Kavallerie, das sey dem Papa recht gut bekannt. — So wußten die Kinder wohl, daß die Eltern ihnen allerlei schöne Gaben ein­ gekauft hatten, die sie nun aufstellten, es war ihnen aber auch ge­ wiß, daß dabei der liebe heilige Christ mit gar freundlichen from5

66 men Kindesaugen hineinleuchte

und

daß

wie von seegensreicher

Hand berührt, jede Weihnachtsgabe herrliche Lust bereite wie keine andere.

Daran erinnerte die Kinder, die immerfort von den zu

erwartenden Geschenken wisperten, ihre ältere Schwester Luise hin­ zufügend, daß es nun aber auch der heilige Christ sei, der durch

die Hand der

lieben Eltern den Kindern immer das bescheere,

was ihnen wahre Freude und Lust bereiten könne, das wisse er viel besser als die Kinder selbst, die müßten daher nicht allerlei wünschen und hoffen, sondern still und fromm erwarten, was ihnen Die kleine Marie wurde ganz nachdenklich, aber

bescheert worden.

Fritz murmelte vor sich hin: „ Einen Fuchs und Husaren hätt ich

nun einmal gern." Es war ganz finster geworden; Fritz und Marie, fest an ein­

ander gerückt, wagten kein Wort mehr zu reden, es war ihnen als rausche es mit linden Flügeln um sie her und als ließe sich eine ganz ferne, aber sehr herrliche Musik vernehmen.

Ein heller

Schein streifte an der Wand hin, da wußten die Kinder, daß riuit

das Christkind auf glänzenden Wolken fortgeflogen zu andern glück­ lichen Kindern.

In dem Augenblick ging es mit silberhellem Ton:

Klingling, klingling, die Thüren sprangen auf, und solch ein Glanz strahlte aus dem großen Zimmer hinein, daß die Kinder mit lau­

tem Ausruf: „Ach! — Ach!" wie erstarrt auf der Schwelle ste­ hen blieben.

Aber Papa und Mama traten in die Thüre, faßten

die Kinder bei der Hand und sprachen: „Kommt doch nur, kommt

doch nur, ihr lieben Kinder, und seht, was euch der heilige Christ bescheert hat.

67 Die Gaben. Ich wende mich an Dich selbst, sehr geneigter Leser oder Zu­

hörer Fritz — Theodor — Ernst — oder wie

du

sonst

heißen

magst und bitte dich, daß du dir deinen letzten mit schönen, bunten Gaben reich geschmückten Weihnachtstisch recht lebhaft vor Augen bringen mögest, dann wirst Du es Dir wohl auch denken können,

wie die Kinder mit glänzenden Augen ganz verstummt stehen blie­ ben, wie erst nach einer Weile Marie mit einem tiefen Seufzer rief: „Ach wie schön — ach wie schön" und Fritz einige Lust­ sprünge versuchte, die ihm überaus wohl geriethen.

Aber die Kin­

der mußten auch das ganze Jahr über besonders artig und fromm gewesen seyn, denn nie war ihnen so viel Schönes, Herrliches ein-

beschcert worden als diesesmal.

Der große Tannenbaum in der

Mitte trug viele goldne und silberne Aepfel,

und wie Knospen

und Blüthen keimten Zuckermandeln und bunte Bonbons und was es sonst noch für schönes Naschwerk giebt, aus allen Aesten.

Als

das Schönste an dem Wunderbaum mußte aber wohl gerühmt wer­ den, daß in seinen

dunklen Zweigen hundert kleine Lichter wie

Sternlein funkelten und er selbst in sich hinein und herausleuchtend die Kinder freundlich einlud seine Blüthen und Früchte zu pflücken.

Um den Baum umher glänzte alles sehr bunt und herrlich — was es da alles für schöne Sachen gab — ja! wer das zu beschreiben

vermöchte!

Marie erblickte die zierlichsten Puppen, allerlei saubere

kleine Geräthschasten und was vor allem schön anzusehen war: ein seidenes Kleidchen, mit bunten Bändern zierlich geschmückt, hing

5*

68



an einem Gestell so der kleinen Marie vor Augen, daß sie es von

allen Seiten betrachten konnte uud das that sie denn auch, indem sie einmal über das andere ausrief: „Ach das schöne,

ach das

liebe -r- liebe Kleidchen; und das werde ich — ganz gewiß —

das werde ich wirklich anziehen dürfen!" —

Fritz hatte indessen

schon drei oder viermal um den Tisch herum galoppirend und tra­ bend den neuen Fuchs versucht, den er in der That am Tische an­

gezäumt gefunden.

Wieder absteigend meinte er: es sey eine wilde

Bestie, das thäte aber nichts, er wolle ihn schon kriegen, und musterte die neue Schwadron Husaren, die sehr prächtig in Roth

und Gold gekleidet waren, lauter silberne Waffen trugen und auf solchen weißglanzenden Pferden ritten, daß man beinah hätte glau­ ben sollen, auch diese seym von purem Silber.

Eben wollten die

Kinder, etwas ruhiger geworden, über die Bilderbücher her, die aufgeschlagm waren,

daß man allerlei sehr schöne Blumen und

bunte Menschen, ja auch allerliebste spielende Kinder, so natür­

lich gemalt als lebten und sprachen sie wirklich, gleich anschauen konnte. —

Bücher her,

Za! eben wollten die Kinder über diese wunderbaren als nochmals geklingelt wurde.

Sie wußten,

daß

nun Pathe Droßelmeier einbescheeren würde, und liefe» nach dem

an der Wand stehenden Tisch.

Schnell wurde der Schirm, hinter

dem er so lange versteckt gewesen, weggenommen. da die Kinder! —

Was erblickten

Aus einem grünen, mit bunten Blumen ge­

schmückten Rasenplatz stand ein sehr herrliches Schloß mit vielen Spiegelfenstern und goldnen Thürmen.

Ein Glockenspiel ließ sich

hören, Thüren und Fenster gingen auf, und man sah, wie sehr

69 kleine aber zierliche Herrn und Damen mit Federhüten und langen Schleppkleidern in den Sälen herumspatzierten.

In dem Mittel­

saal, der ganz in Feuer zu stehen schien — so viel Lichtetchen

-rannten an silbernen Kronleuchtern — tanzten Kinder in kurzen

Wämschen und

dem Glockenspiel.

Röckchen nach

Ein Herr in

einem smaragdenen Mantel sah ost durch ein Fenster, winkte her­ aus und verschwand wieder, so wie auch Pathe Droßelmeier selbst, aber kaum viel höher als Papas Daumen, zuweilen unten an der

Thür

des Schlosses

stand

und

wieder

hineinging.

Fritz hatte

mit auf den Tisch gestemmten Armen das schöne Schloß und die tan­ zenden und spatzierenden Figürchen angesehen, dann spxücherr „Pathe

Droßelmeier!

Laß mich tnal hineingehen in dein Schloß!" —

Der Obergerichts-Rath bedeutete ihm, daß das nun ganz und gar

nicht anginge.

Er hatte auch Recht, denn es war thöricht von

Fritzen, daß er in ein Schloß gehen wollte, welches überhaupt

mit sammt feinen goldnen Thürmen nicht so hoch war, als er

selbst.

Fritz sah das auch eia.

Rach einer Weile, als immerfort

auf dieselbe Weise die Herrn und Damen hin und her fpatzierten,

die Kinder tanzten, der smaragdene Mann zu demselben Fenster

heraussah, Pathe Droßelmeier vor die Thür trat, da rief Fritz ungeduldig:

Pathe Droßelmeier, nun komm mal zu der andern

Thür da drüben heraus."

„Das geht nicht, liebes Fritzchen," er­

wiederte der Obergerichts-Rath.

weiter,

„Nun so laß mal," sprach Fritz

„laß' mal den grünen Mann,

mit den andern herumspatzieren."

der so ost herauskuckt,

„Das geht auch nicht," erwie­

derte der Obergerichts-Rath aufs neue.

„So sollen die Kinder

70 herunter kommen, rief Fritz, „ich will sie naher besehen."

„Ei,

das geht alles nicht," sprach der Ob^rgerichts-Rath verdrießlich, „wie die Mechanik, nun einmal gemacht ist, muß sie bleiben"

„So —o?" frug Fritz mit gedehntem Ton, „das geht alles nicht?

Hör mal Pathe Droßelmeier, wenn deine kleinen geputzten Dinger in dem Schlosse nichts mehr können als immer dasselbe, da taugen sie nicht viel, und ich frage nicht sonderlich nach ihnen. —

Nein,

da lob' ich mir meine Husaren, die müssen manövriren vorwärts,

rückwärts, wie ichs haben will und sind in kein Haus eingesperrt."

Und damit sprang er fort an den Weihnachtstisch und ließ seine Escadron auf den silbernen Pferden hin und her trottiren und schwenken und einhauen und feuern nach Herzenslust.

Auch Marie

hegte sich sachte fortgeschlichen, denn auch sie wurde des Herum­ gehens und Tanzens der Püppchen im Schlosse bald übndrüßig,

und mochte es, da sie sehr artig und gut war, nur nicht so mer­ ken lassen,

wie Bruder Fritz.

Der Obergerichts-Rath Droßel­

meier sprach ziemlich verdrießlich zu den Eltern: „Für unver­

ständige Kinder ist solch künstliches Werk nicht, ich will nur mein Schloß wieder einpacken;" doch die Mutter trat hinzu, und ließ

sich dm innern Bau und das wunderbare, sehr künstliche Räder­ werk zeigen, wodurch die kleinen Püppchen in Bewegung gesetzt wurden.

Der Rath nahm alles aus einander, und setzte es wieder

zusammen. Dabei war er wieder ganz heiter geworden, und schenkte

den Kindern noch einige schöne braune Männer und Frauen mit

göldnen Gesichtern, Händen und Beinen.

Sie waren sämmtlich

aus Thorn, und rochen so süß und angenehm wie Pfefferkuchen,

71 worüber Fritz und Marie sich sehr erfreuten. hatte, wie es die Mutter gewollt,

Schwester Luise

das schöne Kleid angezogen,

welches ihr einbescheert worden, und sah wunderhübsch aus, aber

Marie meinte, als sie auch ihr Kleid anziehen sollte, sie möchte es lieber noch ein Bischen so ansehen.

Man erlaubte ihr das gern.

Der Schützling. Eigentlich mochte Marie sich deshalb gar nicht von dem Weih­ nachtstisch trennen, weil sie eben etwas noch nicht Bemerktes ent­

deckt hatte.

Durch das Ausrücken von Fritzens Husaren, die dicht

an dem Baum in Parade gehalten, war nämlich ein sehr vor­ trefflicher kleiner Mann sichtbar geworden, der still und bescheiden

da stand, als erwarte er ruhig, wenn die Reihe an ihn kommen werde.

Gegen seinen Wuchs wäre freilich vieles einzuwenden ge­

wesen, denn abgesehen davon, daß der etwas lange,

starke Ober­

leib nicht recht zu den kleinen dünnen Beinchen passen wollte, so

schien auch der Kopf bei weitem zu groß.

Vieles machte die propre

Kleidung gut, welche auf einen Mann von Geschmack und Bildung schließen ließ.

Er trug nämlich ein sehr schönes, violettglänzendes

Husarenjäckchen mit vielen weißen Schnüren und Knöpfchen, eben

solche Beinkleider, und die schönsten Stiefelchen, die jemals an die Füße eines Studenten, ja wohl gar eines Offiziers gekommen sind. Sie saßen an den zierlichen Beinchen so knapp angegossen,

wären sie darauf gemalt.

als

Komisch war es zwar, daß er zu dieser

Kleidung sich hinten einen schmalen unbeholfnen Mantel, der recht

aussah wie von Holz, angehängt, und ein Bergmannsmützchen auf-

72 gesetzt hatte, indessen dachte Marie daran, daß Pathe Droßelmeier ja auch einen sehr schlechten Matin umhänge, und eine fatale Mütze

auffetze, dabei aber doch ein gar lieber Pathe sey.

Auch stellte

Marie die Betrachtung an, haß Pathe Droßelmeier, trüge er sich auch übrigens so zierlich wie der Kleine, doch nicht einmal so hübsch

als er aussehen werde.

Indem Marie den netten Mann, den sie

auf den ersten Blick lieb gewonnen, immer mehr und mehr ansah,

da wurde sie erst recht inne, Gesichte lag.

welche Gutmüthigkeit auf seinem

Aus den hellgrünen, etwas zu großen hervorstehenden

Aasen sprach nichts als Freundschaft und Myhlwollen.

Es stand

dem Manne gut, daß sich um sein Kinn ein wohlfrisirter Bart von weißer Baumwolle legte, denn um so mehr konnte man das süße fächeln des hochrothen Mundes bemerken»

„Ach!" rief Marie

endlich aus: „ Ach, lieber Vater, wem gehört Henn der allerlieb-e kleine Mann dort am Baume?"

„Der," antwortete der Vater,

„der, liebes Kind! soll für Euch alle tüchtig arbeiten, er soll Euch fein die harten Nüsse aufbeißen, und er gehört Luisen eben so gut

als Dir und dem Fritz."

vom Tische,

Damit nahm ihn der Vater behutsam

und indem erden hölzernen Mantel in die Höhe hob,

sperrte das Männlein den Mund weit, weit auf, und zeigte zwei

Reihen sehr

Geheiß eine

weißer spitzerZähnchen.

Marie schob auf des Vaters

Nuß hinein, und — knack — hatte sie der Mann

zerbissen, daß die Schalen abfielen, und Marie den süßen Kern in die Hand bekam.

Nun

mußte wohl jeder und auch Marie

wissen, daß der zierliche kleine Mann aus dem Geschlecht der Nuß­ knacker abstammte, und die Profession seiner Vorfahren trieb.

Sie

73 jauchzte auf vor Freude, da sprach der Vater: „da Dir, liebe

Marie, Freund Nußknacker so sehr gefällt, so sollst Du ihn auch

besonders hüten und schützen, unerachtet, wie ich gesagt, Luise und Fritz ihn mit eben so vielem Recht brauchen können als Du!" — Marie nahm ihn sogleich in den Arm, und ließ ihn Nüsse aufknackw, doch suchte sie die kleinsten aus, damit das Männlein nicht

so weit den Mund aufsperren durfte, welches ihm doch im Grunde nicht gut stand.

Luise gesellte sich zu ihr, und auch für sie mußte

Freund Nußknacker seine Dienste verrichten, welches er gern zu thun schien, da er immerfort sehr freundlich lächelte.

Fritz war

unterdessen vom vielen Exerzieren und Reiten müde geworden, und da er so lustig Nüsse knackm hörte, sprang er hin zu den Schwe­ stern, und lachte recht von Herzen über den kleinen drolligen Mann,

der nun, da Fritz auch Nüsse essen wollte, von Hand zu Hand ging, und gar nicht aufhören konnte mit Auf- und Zuschnappen.

Fritz schob immer die größten und härtsten Nüsse hinein, aber mit einem Male ging ed — krack — krack — und drei Zähnchen fielen aus des Nußknackers Munde, und

sein ganzes Unterkinn

war lose und wacklicht. — „Ach mein armer, lieber Nußknacker!" schrie Marie laut,

und nahm ihn dem Fritz aus den Händen.

„Das ist ein einfältiger, dummer Bursche," sprach Fritz.

Nußknacker seyn, und hat kein ordentliches Gebiß

auch sein Handwerk gar nicht verstehen. — Marie!

„Will

mag wohl

Gieb ihn nur her,

Er soll mir Nüsse zerbeißen, verliert er auch noch die

übrigen Zähne, ja das ganze Kinn obendrein, was ist an dem

Taugenichts gelegen."

„Nein, nein," rief Marie weinend, „Du

74 bekommst ihn nicht, meinen lieben Nußknacker, schau nur her, wie er mich so wehmüthig anschaut, und mir sein wundes Mündchen

zeigt! —

Aber Du bist ein hartherziger Mensch — Du schlägst

Deine Pferde, und läßt wohl gar einen Soldaten todt schießen." — „Das muß so seyn, das verstehst Du nicht," rief Fritz; „aber

der Nußknacker gehört eben so gut mir, als Dir, gieb ihn nur her." —

Marie fing an heftig zu weinen, und wickelte den kran­

ken Nußknacker schnell in ihr kleines Taschentuch ein.

kamen mit dem Pathen Droßelmeier

herbei.

Die Eltern

Dieser nahm zu

Mariens Leidwesen Fritzens Parthie, der Vater sagte aber: „Zch habe den Nußknacker ausdrücklich unter Mariens Schutz gestellt, und da, wie ich sehe, er dessen eben jetzt bedarf, so hat sie volle

Macht über ihn, ohne daß jemand drein zu reden hat.

Uebrigens

wundert es mich sehr von Fritzen, daß er von einem im. Dienst

Erkrankten noch fernere Dienste verlangt. Als guter Militair sollte er doch wohl wissen, daß man Verwundete niemals in Reihe und Glied stellt?" —

Fritz war sehr beschämt, und schlich, ohne sich

weiter um Nüsse und Nußknacker zu bekümmern, fort an die an­ dere Seite des Tisches, wo seine Husaren, nachdem sie gehörige

Vorposten ausgestellt hatten, ins Nachtquartier gezogen waren. Marie suchte Nußknackers verlorne Zähnchen zusammen, um das kranke Kinn hatte sie ein hübsches weißes Band, dgs sie von ihrem Kleidchen abgelöst, gebunden, und dann den armen Kleinen, der

sehr blaß und erschrocken'aussah, noch sorgfältiger als vorher in ihr Tuch eingewickelt.

So hielt sie ihn wie ein kleines Kind wie­

gend in den Armen, und besah die schönen Bilder des neuen Bil-

75 derbuchs, das heute unter den andern vielen Gaben lag.

Sie wurde,

wie es sonst gar nicht ihre Art war, recht böse, als PatheDroßelmeier so sehr lachte, und immerfort frug: wie sie denn mit einem solchen grundhäßlichen kleinen Kerl so schön thun könne? — Jener

sonderbare Vergleich mit Droßelmeier, den sie anstellte, als der Kleine ihr zuerst in die Augen fiel, kam ihr wieder in den Sinn,

und sie sprach sehr ernst: „Wer weiß, lieber Pathe, ob Du, putz­ test Du Dich auch eben so heraus wie mein lieber Nußknacker, und hattest Du auch solche schöne blanke Stiefelchen an, wer weiß, ob

Du denn doch so hübsch auSsehen würdest, als er!" —

Marie

wußte gar nicht, warum hierauf die Ettern so laut auflachten, und warum der Obergerichts-Rath solch eine rothe Nase bekam, und

gar nicht so hell mitlachte, wie zuvor.

Es mochte wohl seine be­

sondere Ursache haben.

Wunderdinge. Bei Medizinalraths in der Wohnstube, wenn man zur Thüre

hineintritt, gleich links an der breiten Wand steht ein hoher Glas­ schrank, in welchem die Kinder all die schönen Sachen, die ihnen

jedes Jahr einbescheert worden, aufbewahren.

Die Luise war noch

ganz klein, als der Vater den Schrank von einem sehr geschickten Tischler machen ließ, der so himmelhelle Scheiben einsetzte, und

überhaupt das Ganze so geschickt

einzurichten wußte,

daß alles

drinnen sich beinah blanker und hübscher ausnahm, als wenn man es in Händen hatte.

Im obersten Fache, für Marien und Fritzen

unerreichbar, standen des Pathen Droßelmeier Kunstwerke, gleich

76 darunter war das Fach für die Bilderbücher, die beiden untersteh Fächer dursten Marie und Fritz anfüllen, wie sie wollten, jedoch

geschah es immer, daß Marie das unterste Fach ihren Puppen

zur Wohnung einräumte, Fritz dagegen in dem Fache drüber seine

Truppen Cantonnirungsquartiere beziehen ließ.

So war es auch

heute gekommen, denn, indem Fritz seine Husaren oben aufstellte,

hatte Marie unten Mamsell Lrutchen bei Seite gelegt, die neue schön geputzte Puppe in das sehr gut meublirte Zimmer hinein-

gesetzt, und sich auf Zuckerwerk bei ihr eingeladen.

Sehr gutmeu-

blirt war das Zimmer, habe ich gesagt, und das ist auch wahr, denn ich weiß nicht, ob Du, meine aufmerksame Zuhörerin Marie k

eben so wie die kleine Stahlbaum (es ist Dir schon bekannt wor­ den, daß fie auch Marie heißt), ja! — ich meine, ob Du eben so wie diese, ein kleines, schöngeblümtes Sopha, mehrere allerliebste Stühlchen, einen niedlichen Theetisch, vor allen Dingen aber ein

sehr nettes, blankes Bettchen besitzest, worin die schönsten Puppen

ausruhen?

Alles dieses stand in der Ecke des Schranks, dessen

Wände hier sogar mit bunten Bilderchen tapezirt waren, und Du kannst Dir wohl denken, daß in diesem Zimmer die neue Puppe,

welche, wie Marie noch denselben Abend erfuhr, Mamsell Etärchen

hieß, sich sehr wohl befinden mußte. Es war später Abend geworden, ja Mitternacht im Anzuge,

und Pathe Droßelmeier längst fortgegangen, als die Kinder noch gar nicht wegkommen konnten von dem Glasschrank, so sehr cmch

die Mutter mahnte, daß sie doch endlich nun zu Sette gehn möch­ ten.

„ Es ist wahr,” rief endlich Fritz, „ die armen Kerls (seine

77 Husaren meinend) wollen auch nun Ruhe haben, und so lange ich da bin, wagts keiner, ein Bischen zu nicken, daß weiß ich schon!" Damit ging er ab;

Marie aber bat gar sehr: „nur noch ein

Weilchen, ein einziges kleines Weilchen laß mich hier, liebe Mut­ ter, hab ich ja doch noch manches zu besorgen, und ist das gesche­ hen, so will ich ja gleich zu Bette gehen!"

Marie war gar ein

frommes vernünftiges Kind, und so konnte die gute Mutter wohl ohne Sorgen sie noch bei den Spielsachen allein lassen.

Damit

aber Marie nicht etwa gar zu sehr verlockt werde von der neuen

Puppe und den schönen Spielsachen überhaupt, so aber die Lichter vergäße, die rings um den Wandschrank brennten, löschte die Mut­

ter sie sämmtlich aus, so daß nur die Lampe, dir in der Mitte des Zimmers von der Decke herabhing, Licht verbreitete.

ein sanftes, unmuthiges

„Komm bald hinein, liebe Marie! sonst kannst

Du ja Morgen nicht zu rechter Zeit ausstehen," rief die Mutter,

indem sie sich in das Schlafzimmer entfernte.

So bald sich Marie

allein befand, schritt sie schnell dazu, was ihr zu thun recht auf

dem Herzen lag, und was sie doch nicht, selbst wußte sie nicht

warum, der Mutter zu entdecken vermochte. sie den

kranken Nußknacker

dem Arm getragen.

eingewickelt in

Noch immer hatte

ihr Taschentuch

auf

Jetzt legte sie ihn behutsam auf den Tisch,

wickelte leise, leise das Tuch ab, und sah nach dm Wunden.

Nuß­

knacker war sehr bleich, aber dabei lächelte er so wehmüthig freund­

lich, daß es Marien recht durch das Herz ging.

„Ach Nußknacker­

chen," sprach sie sehr leise, „sey nur nicht böse, daß Bruder Fritz Dir so wehe gethan hat, er hat es auch nicht so schlimm gemeint, er

78 ist nur ein Bischen hartherzig geworden durch das wilde Soldaten­

wesen, aber sonst ein recht guter Junge, das kann ich Dich versichern. Nun will ich Dich aber auch recht sorglich so lange pflegen, bis Du

wieder ganz gesund und fröhlich geworden; Dir Deine Zähnchen rechl fest einsetzen, Dir die Schultern einrenken, das soll Pathe Droßel-

meier, der sich auf solche Dinge versteht." —

Aber nicht ausreden

konnte Marie, denn indem sie den Namen Droßelmeier nannte, machte Freund Nußknacker ein ganz verdammt schiefes Maul, und aus seinen Augen fuhr es heraus, wie grünfunkelnde Stacheln. In dem Augen­ blick aber, daß Marie sich recht entsetzen wollte, war es ja wieder

des ehrlichen Nußknackers wehmüthig lächelndes Gesicht, welches sie anblickte, und sie wußte nun wohl, daß der von der Zugluft

berührte, schnell auflodernde Strahl der Lampe im Zimmer Nuß­

knackers Gesicht so

entstellt hatte.

„Bin ich nicht ein thöricht

Mädchen, daß ich so leicht erschrecke, so daß ich sogar glaube, das

Holzpüppchen da könne mir Gesichter schneiden!

Aber lieb ist mir

doch Nußknacker gar zu sehr, weil er so komisch ist, und doch so

gutmüthig, und darum muß er gepflegt werden, wie sichs gehört! ”

Damit nahm Marie den Freund Nußknacker in den Arm, näherte sich dem GlaSschrank, kauerte vor demselben, und sprach also zur neuen Puppe: „Ich bitte Dich recht sehr, Mamsell Clärchen, tritt

Dein Bettchen dem kranken, wunden Nußknacker ab, und behelfe Dich, so gut wie cs geht, mit dem Sopha.

Bedenke, daß Du sehr

gesund, und recht bei Kräften bist, denn sonst würdest Du nicht

solche dicke, dunkelrothe Backen haben, und daß sehr wenige der allerschönsten Puppen solche weiche Sopha's

besitzen."

Mamsell

79 Clärchen sah in vollem glänzenden Weihnachtsputz sehr vornehm und verdrießlich aus, und sagte nicht „Muck!"

„Was mache ich

aber auch für Umstände," sprach Marie, nahm das Bett hervor, legte sehr leise und sanft Nußknackerchen hinein, wickelte noch ein

gar schönes Bändchen, das sie sonst um den Leib getragen, um die wunden Schultern, und bedeckte ihn bis unter die Nase. „Bei

der unartigen Cläre darf er aber nicht bleiben," sprach sie weiter, und hob das Bettchen sammt dem darinne liegenden Nußknacker heraus in das obere Fach, so daß es dicht neben dem schönen Dorf zu stehen kam, wo Fritzens Husaren kantonirten.

Sie verschloß

den Schrank und wollte ins Schlafzimmer, da — horcht auf Kin­

der! — da fing es an leise — leise zu wispern und zu flüstern und zu rascheln rings herum, hinter dem Ofen, hinter den Stüh­

len, hinter den Schränken. —

Die Wanduhr schnurrte dazwischen

lauter und lauter, aber sie konnte nicht schlagen.

hin, da hatte die große vergoldete Eule,

Marie blickte

die darauf saß,

ihre

Flügel herabgesenkt, so daß sie die ganze Uhr überdeckten und den häßlichen

Katzenkopf mit krummem Schnabel

weit vorgestreckt.

Und stärkep schnurrte es mit vernehmlichen Worten: Uhr, Uhre, Uhre, Uhren, müßt alle nur leise schnurren, leise schnurren. —

Mausekönig hat ja wohl ein feines Ohr — purrpurr — pum pum singt nur, singt ihr altes Liedlein vor — purr purr — pum pum schlag an Glöcklein, schlag an, bald ist es um ihn gethan! pum pum ging es ganz dumpf und heiser zwölfmal! —

Und

Marien

fing an sehr zu grauen und entsetzt wär' sie beinah davon gelaufen,

als sie Pathe Droßelmeier erblickte, der statt der Eule auf der

80 Wanduhr saß und seine gelben Rockschöße von beiden Seiten wie Flügel herabgehängt hatte; aber sie ermannte sich und rief laut

und weinerlich: „Pathe Droßelckeier, willst Du da oben?

Pathe Droßelmeier, was

$omm herunter zu mir und erschrecke mich

nicht so, du böser Pathe Droßelmeier!" —

Aber da ging ein

tolles Kichern und Gepfeife los rund umher, und bald trottirte und lief es hinter den Wänden wie mit tausend kleinen Füßchen

und tausend kleine Lichterchen blickten aus den Ritzen der Dielen. Aber nicht Lichterchen waren es, nein! kleine funkelnde Augen, und Marie wurde gewahr, daß überall Mause hervorguckten und sich hervorarbeiteten.

Bald ging es trott — trott — hopp hopp in

der Stube umher — immer lichtere und dichtere Haufen Mäuse -alappirten hin und her, und stellten sich endlich in Reihe und

Mied, so wie Fritz seine Soldaten zu stellen pflegte, wenn es zur Schlacht gehen sollte.

Das kam nun Marien sehr possierlich vor

und da sie nicht, wie manche andre Kinder, einen natürlichen Ab­ scheu

gegen Mause

hatte,

wollte ihr

eben

alles

Grauen

ver­

gehen, als es mit einem Mal so entsetzlich und so schneidend zu

pfessen begann, daß es ihr eiskalt über den Rücken lief! — was erblickte sie jetzt! —

Ach

Rein , wahrhaftig , geehrter Leser Fritz,

ich weiß, daß eben so gut wie dem weisen und muthigen Feldherrn

Fritz Stahlbaum Dir das Herz auf dem rechten Flecke sitzt, aber, hättest Du das gesehen, was Marien jetzt vor Augen kam, wahr­

haftig Du wärst davon gelauftn, ich glaube sogar, Du wärst schnell ins Bette gesprungen und hättest die Decke viel weiter über die

Ohren gezogen als gerade nöthig. —

Ach! — das konnte die

81 arme Marie ja nicht einmal thun, denn hört nm Kinder! — dicht,

dicht vor ihren Füßen sprühte es wie von unterirdischer Gewalt getrieben, Sand und Kalk und zerbröckelte Mauersteine hervor, und sieben Mäuseköpfe mit sieben hellfunkelnden Kronen erhoben

sich recht gräßlich zischend und pfeifend aus dem Boden.

Bald

arbeitete sich auch der Mausekörper, an dessen Hals die sieben Köpfe

angewachsen waren,

vollends hervvr und der großen mit siebe»

Diademen geschmückten Maus jauchzte in vollem Chorus dreimal laut aufquiekend das ganze Heer entgegen, das sich nun auf einmal

in Bewegung setzte und hott, hott — trott — trott ging es — ach geradezu auf den Schrank — geradezu auf Marien los, die

noch dicht an der Glasthür des Schrankes stand.

Dor Angst und

Grauen hatte Marien das Herz schon so gepocht, daß sie glaubte, es müsse nun gleich aus der Brust herausspringen und dann müßte sie sterben; aber nun war es ihr, als stehe ihr das Blut in den

Adern still. Halb ohnmächtig wankte sie zurück, da ging es klirr klirr — prr und in Scherben siel die Glasscheibe des Schranks herab, die sie mit dem Ellbogen eingestoßem

Sie fühlte wohl in

dem Augenblick einen recht stechenden Schmerz am linken Arm,

aber es war ihr auch plötzlich viel leichter ums Herz, sie hörte kein Quieken und Pfeifen mehr; es war alles ganz stille geworden, und obschon sie nicht Hinblicken mochte, glaubte sie doch, die Mäuse

wären von dem Klirren der Scheibe erschreckt wieder abgezogm in ihre Löcher. —

Aber was war denn das wieder? —

Dicht

hinter Marien sing es an im Schrank auf seltsame Weise zu ru­ moren und ganz

feint Sümmchen fingen an: „Aufgewacht —

82 aufgewacht — woll'n zur Schlacht — noch diese Nacht — auf­

gewacht — auf zur Schlacht." — Und dabei klingelte es mit har­ „Ach das ist ja

monischen Glöcklein gar hübsch und unmuthig!

mein kleines Glockenspiel," rief Marie freudig und sprang schnell zur Seite.

Da sah sie, wie es im Schrank ganz sonderbar leuch­

tete und herum wirthschaftete und handthierte.

Es waren mehrere

Puppen, die durch einander liefen und mit den kleinen Armen herum­

fochten.

Mit einem mal erhob sich jetzt Nußknacker, warf die Decke

weit von sich

und

sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem

Bette, indem er laut rief: „Knack — knack — knack — dummes Mausepack — dummer toller Schnack — Mausepack — Knack — Knack — Mausepack — Krick und Krack — wahrer Schnack."

Und damit zog er sein kleines Schwerdt nnd schwang es in den

Lüften und rief: „Ihr meine lieben Vasallen, Freunde und Brüder,

wollt ihr mir beistehen im harten Kampf?" —

Sogleich schrien

heftig drei Skaramuzze, ein Pantalon, vier Schornsteinfeger, zwei

Zitterspielmänner und ein Tambour: „Ja Herr — 'wir hängen

Euch an in standhafter Treue — mit Euch ziehen wir in Tod, Sieg und Kampf!" und stürzten dann dem begeisterten Nußknacker nach, der den gefährlichen Sprung wagte vom obern Fache herab.

Ja! jene hatten gut sich herabstürzen, denn nicht allein daß sie reiche Kleider von Tuch und Seide trugen, so war inwendig im

Leibe auch nicht viel anders als Baumwolle und Häcksel, daher plumpten sie auch herab wie Wollsäckchen.

Aber der arme Nuß­

knacker, der hätte gewiß Arm und Bein gebrochen, denn, denkt Euch, es war beinahe zwei Fuß hoch vom Fache, wo er stand,

83 bis zum untersten, und sein Körper war so spröde als sey er ge­

radezu aus Lindenholz geschnitzt.

Ja Nußknacker hätte gewiß Arm

und Beine gebrochen, wäre im Augenblick, als er sprang, nicht

auch Mamsell Clärchen schnell vom Sopha aufgesprungen und hätte den Helden mit dem gezogenen Schwerdt in ihren weichen Armen aufgefangen.

„Ach du liebes gutes Clärchen!" schluchzte Marie,

„wie habe ich dich verkannt, gewiß gabst du Freund Nußknackern dein Bettchen recht gerne her!" jetzt,

Doch Mamsell Clärchen sprach

indem sie den jungen Helden sanft an ihre seidene Brust

drückte: „Wollet Euch, o Herr! krank und wund, wie ihr seyd, doch nicht in Kampf und Gefahr begeben, seht, wie Eure tapferen

Vasallen kampflustig und des Sieges gewiß sich sammeln.

Skara-

muz, Pantalon, Schornsteinfeger, Zitterspiclmann und Tambour sind schon unten und die Devisen-Figuren in meinem Fache rühren

und regen sich merklich.

Wollet, o Herr! in meinen Armen aus­

ruhen, oder von meinem Federhut herab Euern Sieg anschaun!"

So sprach Clärchen, doch Nußknacker that ganz ungebehrlich und strampelte so sehr mit den Beinen, daß Clärchen ihn schnell herab

auf den Boden setzen mußte.

In dem Augenblick ließ er sich aber

sehr artig auf ein Knie nieder und lispelte: „O Dame! stets werd'

ich Eurer mir bewiesenen Gnade und Huld gedenken in Kampf

und Streit!"

Da bückte sich Clärchen so tief herab, daß sie ihn

beim Aermchen ergreifen konnte, hob ihn sanft auf, löste schnell

ihren mit vielen Flittern gezierten Leibgürtel los und wollte ihn

dem Kleinen umhängen, doch der wich zwei Schritte zurück, legte die Hand aus die Brust und sprach sehr stierlich: Nicht so wollet,

6*

84 o Dame, Eure Gunst an mir verschwenden, denn — er stockte, seufzte tief auf, riß dann schnell das Bändchen, womit ihn Marie verbunden hatte, von den Schultern, drückte es an die Lippen, hing

es wie eine Feldbinde um und sprang, das blank gezogene Schwerdt-

lein muthig schwenkend, schnell und behende wie

ein Vögelchen

über die Leiste des Schranks auf den Fußboden. —

Ihr merkt

wohl, höchst geneigte und sehr vortreffliche Zuhörer, daß Nußknacker schon früher, als er wirklich lebendig worden, alles Liebe und Gute, was ihm Marie erzeigte, recht deutlich fühlte, und daß er nur des­

halb, weil er Marien so gar gut worden, auch nicht einmal ein

Band von Mamsell Clarchen annehmen und tragen wollte, uner­

achtet es sehr glänzte und sehr hübsch aussah.

Der treue gute

Nußknacker putzte sich lieber mit Mariens schlichtem Bändchen. — Aber wie wird es nun weiter werden? —

So wie Nußknacker

herabspringt, geht auch das Quieken und Pipen wieder los.

Ach!

unter dem großen Tische halten ja die fatalen Rotten unzähliger

Mäuse und über alle ragt die abscheuliche Maus mit den sieben Köpfen hervor! —

Wie wird das nun werden! —

Die Schlacht. „Schlagt den General-Marsch," getreuer Vasalle Tambour!

schrie Nußknacker sehr laut und sogleich

fing der Tambour an,

auf die künstlichste Weise zu wirbeln, daß die Fenster des Glas­ schranks zitterten und dröhnten.

Nun krackte und klapperte es

drinnen und Marie wurde gewahr,

daß die Deckel sämmtlicher

Schachteln, worin Fritzens Armee einquartiert war, mit Gewalt

85 auf- und die Soldaten heraus und herab ms unterste Fach spran­

gen, dort sich aber in blanken Rotten sammelten.

Nußknacker lief

auf und nieder begeisterte Worte zu den Truppen sprechend: „Kein

Hund von Trompeter regt und rührt sich," schrie Nußknacker erboßt, wandte sich aber dann schnell zum Pantalon, der, etwas blaß

geworden, mit dem langen Kinn sehr wackelte, und sprach feierlich: „General, ich kenne Ihren Muth und Ihre Erfahrung, hier gilts

schnellen Ueberblick und Benutzung des Moments — ich vertraue Ihnen das Kommando sämmtlicher Kavallerie und Artillerie an — ein Pferd brauchen sie nicht,

Sie haben sehr lange Beine und

gallopiren damit leidlich. —

Thun Sie jetzt, was Ihres Berufs

ist."

Sogleich drückte Pantalon die

dürren langen Dingerchen

an den Mund und krähte so durchdringend, daß es klang, als wür­ den hundert helle Trompetlein lustig geblasen.

Da ging es im

Schrank an ein Wiehern und Stampfen, und siehe, Fritzens Cürassiere und Dragoner, vor allen Dingen aber die neuen glänzenden Husaren rückten aus und hielten bald unten auf dem Fußboden.

Nun defilirte Regiment auf Regiment mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel bei Nußknacker vorüber und stellte sich in brei­ ter Reihe quer über den Boden des Zimmers.

Aber vor ihnen her

fuhren rasselnd Fritzens Kanonen auf, von den Kanonieren um­

geben, und bald ging es bum — bum und Marie sah, wie die Zucker­

erbsen einschlugen in den dicken Haufen der Mäuse, die davon ganz weiß überpudert wurden und sich sehr schämten. Vorzüglich that ihnen

aber eine schwere Batterie viel Schaden, die auf Mama's Fußbank aufgefahren war und Pmn—Pum—Prmr, immer hinter einander

86 Pfeffernüsse unter die Mause schoß, wovon sie umfielen.

Die Mäuse

kamen aber doch immer näher und überrannten sogar einige Kano­ nen, aber da ging es Prr—Prr—Prr, und vor Rauch und Staub konnte Marie kaum sehen, was nun geschah.

Doch so viel war

gewiß, daß jedes Corps sich mit der höchsten Erbitterung schlug, und der Sieg lange hin und her schwankte.

Die Mäuse entwickel­

ten immer mehr und mehr Massen, und ihre kleinen silbernen Pillen, die sie sehr geschickt zu schleudern wußten, schlugen schon

bis in den Glasschrank hinein.

Verzweiflungsvoll liefen Clärchen

und Trutchen umher, und rangen sich die Händchen wund.

„Soll

ich in meiner blühendsten Jugend sterben! — ich die schönste der

Puppen!" schrie Clärchen. „Hab ich darum mich so gut konservirt, um hier in meinen vier Wänden umzukommen?" rief Trutchen.

Dann fielen sie sich um den Hals, und heulten so sehr- daß man es trotz des tollen Lärms doch hören konnte.

Denn von dem Spek­

takel, der nun losging, habt ihr kaum einen Begriff, werthe Zu­ hörer. —

Das ging — Prr — Prr — Puff, Piff—Schnetter­

deng—Schnetterdeng—Bum, Burum, Bum —Burum —Bum —

durch einander und dabei quiekten und

schrien Mauskönig und

Mäuse, und dann hörte man wieder Nußknackers gewaltige Stimme,

wie er nützliche Befehle austheilte und sah ihn, wie er über die im Feuer stehenden Bataillone Hinwegschritt! —

einige sehr

Pantalon hatte

glänzende Cavallerie-Angriffe gemacht und sich mit

Ruhm bedeckt, aber Fritzens Husaren wurden von der Mäuse-Ar­ tillerie mit häßlichen, übelriechenden Kugeln beworfen, die ganz fatale Flecke in ihre rothen Wämser machten, weshalb sie nicht

87 recht vor wollten.

Pantalon ließ sie links abschwenken und in der

Begeisterung des Commandirens machte er es eben so und seine Cürassiere und Dragoner auch, das heißt, sie schwenkten alle links

ab und gingen nach Hause.

Dadurch gerieth die auf der Fußbank

postirte Batterie in Gefahr, und es dauerte auch gar nicht lange, so kam ein dicker Haufe sehr häßlicher Mäuse und rannte so stark

an, daß die ganze Fußbank mit sammt den Kanonieren und Ka­ nonen umsiel.

Nußknacker schien sehr bestürzt, und befahl, daß der

rechte Flügel eine rückgängige Bewegung machen solle.

Du weißt,

o mein kriegserfahrner Zuhörer Fritz! daß eine solche Bewegung

machen, beinahe so viel heißt als davon laufen und betrauerst mit

mir schon jetzt das Unglück, was über die Armee des kleinen von Marien geliebten Nußknackers kommen sollte! — Wende jedoch dein

Auge von diesem Unheil ab, und beschaue den linken Flügel der Nußknackerischen Armee, wo alles noch sehr gut steht und für Feld­ herrn und Armee viel zu hoffen ist.

Während des hitzigsten Ge­

fechts waren leise, leise Mäuse-Cavalleriemassen unter der Commode

herausdebouchirt, und hatten sich unter lautem gräßlichen Gequiek mit Wuth auf den linken Flügel der Nußknackerischen Armee ge­

worfen, aber welchen Widerstand fanden sie da! —

Langsam, wie

es die Schwierigkeit des Terrains nur erlaubte, da die Leiste des Schranks zu passiren, war das Devisen-Corps unter der Anführung

zweier Chinesischen Kaiser vorgerückt, und hatten sich en quarre sormirt. —

Diese wackern, sehr bunten und herrlichen Truppen,

die aus vielen Gärtnern, Tyrolern, Tungusen, Friseurs, Harlekins,

Kupidos, Löwen, Tigern, Meerkatzen und Affen bestanden, fochten

88 mit Fassung, Muth und Ausdauer.

Mit spartanischer Tapferkeit

hätte dies Bataillon von Eliten dem Feinde den Sieg entrissen,

wenn nicht ein verwegner feindlicher Rittmeister tollkühn vordrin­

gend einem der Chinesischen Kaiser den Kopf abgebissen und dieser tm Fallen

zwei Tungusen und

eine Meerkatze erschlagen hätte.

Dadurch entstand eine Lütte, durch die der Feind eindrang und

bald war das ganze Bataillon zerbissen. hatte der Feind von dieser Unthat.

Doch

wem'g Vortheil

So wie ein Mäuse-Cavallerist

mordlustig einen der tapfern Gegner mitten durch zerbiß, bekam er einen kleinen gedruckten Zettel in den Hals, wovon er augenblicklich

starb. —

Half dies aber wohl auch der Nußknackerischen Armee,

die einmal rückgängig geworden, immer rückgängiger wurde, und

immer mehr Leute verlor, so daß der unglückliche Nußknacker nur

mit einem gar kleinen Häufchen dicht vor dem Glasfchranke hielt? „Die Reserve soll heran! — Pantalon — Skaramuz Tambour — wo seyd ihr?"— So schrie Nußknacker, der noch auf neue Trup­ pen hoffte, die sich aus dem Glasfchrank entwickeln sollten.

Es

kamen auch wirklich einige braune Männer und Frauen aus Thorn

mit goldnen Gesichtern, Hüten und Helmen heran, die fochten aber

so ungeschickt um sich herum, daß sie keinen der Feinde trafen und bald ihrem Feldherrn Nußknacker selbst die Mütze vom Kopfe her­

untergefochten hätten.

Die feindlichen Chasseurs bissen ihnen auch

bald die Beine ab, so daß sie umstülpten und noch dazu einige von Nußknackers Waffenbrüdern erschlugen.

Nun war Nußknacker vom

Feinde dicht umringt, in der höchsten Angst und Noth.

Er wollte

über die Leiste des Schranks springen, aber die Beine waren zu

89 kurz, Clärchen und Trutchen lagen in Ohnmacht, sie konnten ihm

nicht helfen — Husaren — Dragoner sprangen lustig bei ihm vor­ bei und hinein, da schrie er auf in heller Verzweiflung:

Pferd — ein Pferd — ein Königreich für ein Pferd! —

Ein

In dem

Augenblick packten ihn zwei feindliche Tirailleurs bei dem hölzernen

Mantel und im Triumph aus sieben Kehlen aufquiekend sprengte Mausekönig heran.

Marie wußte sich nicht mehr zu fassen, o mein

armer Nußknacker — mein armer Nußknacker! so rief sie schluch­

zend, faßte, ohne sich deutlich ihres Thuns bewußt zu seyn, nach ihrem linken Schuh und warf ihn mit Gewalt in den dicksten Hau­

fen der Mäuse hinein auf ihren König.

In dem Augenblick schien

alles verstoben und verflogen, aber Marie empfand am linken Arm einen noch stechendern Schmerz als vorher und sank ohnmächtig zur Erde nieder.

Die Krankheit. Als Marie wie aus einem tiefen Lodesschlaf erwachte, lag

sie in ihrem Bettchen und die Sonne schien hell und funkelnd

durch die mit Eis belegten Fenster in das Zimmer hinein.

Dicht

neben ihr saß ein fremder Mann, den sie aber bald für den Chi-

rurgus Wendelstern erkannte. gewacht!"

Der sprach leise: „ Nun ist sie auf­

Da kam die Mutter herbei und sah sie mit recht ängst­

lich forschenden Blicken an.

„Ach

liebe Mutter," lispelte die

kleine Marie: „sind denn nun die häßlichen Mäuse alle fort, und ist denn

der gute Nußknacker gerettet?"

„Sprich nicht

solch'

albernes Zeug, liebe Marie," erwiederte die Mutter, „was haben

so die Mäuse mit dem Nußknacker zu thun.

Aber du böses Kind

hast uns allen recht viel Angst und Sorge gemacht.

Das kommt

davon her, wenn die Kinder eigenwillig sind und den Eltern nicht folgen.

Du spieltest gestern bis in

deinen Puppen,

Du

die

tiefe Nacht hinein mit

wurdest schläfrig, und mag es seyn,

ein hervorspringendes Mäuschen,

daß

deren es doch sonst hier nicht

giebt, dich erschreckt Hatz genug, Du stießest mit dem Arm eine Glasscheibe des Schranks ein und schnittest Dich so sehr in den

Arm, daß Herr Wendelstern, der Dir eben die noch in den Wun­ den steckenden Glasscherbchen herausgenommen hat, meint, Du hättest,

wenn das Glas eine Ader zerschnitten, einen steifen Arm behalten, oder dich gar verbluten können.

Gott sey gedankt, daß ich um Mitter­

nacht erwachend und Dich noch so spät vermissend, aufstand und

in die Wohnstube ging.

Da lagst Du dicht neben dem Glasschrank

ohnmächtig auf der Erde und blutetest sehr. Schreck auch ohnmächtig geworden.

Bald wär' ich vor

Da lagst Du nun, und um

Dich her zerstreut erblickte ich viele von Fritzens bleiernen Sol­

daten und andere Puppen, zerbrochene Devisen, Pfefferkuchmannerz Nußknacker lag aber auf Deinem blutenden Arme und nicht weit

von Dir Dein linker Schuh."

„Ach Mütterchen, Mütterchen,"

siel Marie ein: „sehen Sie wohl, das waren ja noch die Spuren von der großen Schlacht zwischen den Puppen und Mäusen, und

nur darüber bin ich so sehr erschrocken, als die Mause den armen Nußknacker, der die Puppen-Armee kommandirte, gefangen neh­

men wollten.

Da warf ich meinen Schuh unter die Mäuse und

dann weiß ich weiter nicht, was vorgegangen."

Der Chirurgus

91 Wendelstern winkte der Mutter mit den Augen,

und diese sprach

sehr sanft zu Marien: „Laß es nur gut seyn, mein liebes Kind! —

beruhige Dich, die Mäuse sind alle fort und Nußknackerchen steht ge­ sund und lustig im Glasschrank."

Nun trat der Medizinalrath ins

Zimmer und sprach lange mit dem Chirurgus Wendelstern z dann fühlte er Mariens Puls und sie hörte wohl, daß von einem Wund­

fieber die Rede war.

Sie mußte im Bette bleiben und Arzenei

nehmen und so dauerte es einige Tage, wiewohl sie außer einigem Schmerz am Arm sich eben nicht krank und unbehaglich fühlte.

Sie wußte, daß Nußknackerchen gesund aus der Schlacht sich gerettet hatte, und es kam ihr manchmal wie im Traume vor, daß er

ganz vernehmlich, wiewohl mit sehr wehmüthiger Stimme sprach: „Marie, theuerste Dame, Ihnen verdanke ich viel, doch noch mehr können Sie für mich thun!"

Marie dachte vergebens darüber

nach, was das wohl seyn könnte, es fiel ihr durchaus nicht ein.— Spielen konnte Marie gar nicht recht wegen des wunden Arms, und wollte sie lesen > oder in den Bilderbüchern blättern, so flim­

merte es ihr seltsam vor den Augen, und sie mußte davon ablassen. So mußte ihr nun wohl die Zeit recht herzlich lang werden, und sie konnte kaum die Dämmerung erwarten, weil dann die Mutter

sich an ihr Bett setzte, und ihr sehr viel Schönes vorlas und er­

zählte.

Eben

hatte die Mutter die vorzügliche Geschichte vom

Prinzen Fakardin vollendet, als die Thüre aufging, und der Pathe Droßelmeier mit den Worten hineintrat: „Nun muß

ich doch

wirklich einmal selbst sehen, wie es mit der kranken und wunden Marie zusteht."

So wie Marie den Pathen Droßelmeier in sei-

SL nem gelben Röckchen erblickte, kam ihr das Bild jener Nacht, als

Nußknacker die Schlacht wider die Mäuse verlor,

gar lebendig

vor Augen, und unwillkührlich ries sie laut dem Obergerichtsrath entgegen: ,,'O Pathe Droßelmeier, Du bist recht häßlich gewesen,

ich habe Dich wohl gesehen, wie Du auf der Uhr saßest, und sie mit Deinen Flügeln bedecktest, daß sie nicht laut schlagen sollte, weil sonst die Mäuse verscheucht worden, — ich habe es wohl ge­ hört, wie Du dem Mausekönig riefst! — warum kamst Du dem Nußknacker, warum kamst Du mir nicht zu Hülfe, Du häßlicher

Pathe Droßelmeier, bist Du denn nicht allein Schuld, daß ich verwundet und krank im Bette liegen muß?" —

Die Mutter

fragte ganz erschrocken: „was ist Dir denn, liebe Marie?"

Aber

der Pathe Droßelmeier schnitt sehr seltsame Gesichter, und sprach

mit schnarrender, eintöniger Stimme: „Perpendikel mußte schnur­ ren — picken — wollte sich nicht schicken — Uhren — Uhren —

Uhrenperpendikel müssen schnurren — leise schnurren — schlagen Glocken laut kling klang — Hink und Honk, und Honk und Hank

— Puppenmädel sey nicht bang! — schlagen Glöcklein, ist ge­

schlagen, Mausekönig fortzujagen,

kommt die Eul' im schnellen

Flug---------Pak und Pik, und Pik und Puk — Glöcklein bim

bim — Uhren — schnurr schnurr — Perpendikel müssen schnur­ ren — picken wollte sich nicht schicken —Schnarr und schnurr,

und pirr und purr! —”

Marie sah den Pathen Droßelmeier

starr mit großen Augen an, weil er ganz anders, und noch viel häßlicher aussah, als sonst, und mit dem rechten Arm hin und

her schlug, als würd' er gleich einer Drathpuppe gezogen.

Es

93 hätte ihr ordentlich grauen können vor dem Pathen,

wenn die

Mutter nicht zugegen gewesen wäre, und wenn nicht endlich Fritz,

der sich unterdessen hineingeschlichen,

ihn mit

lautem Gelächter

unterbrochen hätte. „Ei, Pathe Droßelmejer," rief Fritz,

bist

heute wieder auch gar zu possierlich, Du gebehrdest Dich ja wie

mein Hampelmann,

den ich längst hinter den Ofen geworfen."

Die Mutter blieb sehr ernsthaft, und sprach:

Lieber Herr-Ober-

gerichtsrath, das ist ja ein recht seltsamer Spaß, was meinen Sie denn eigentlich?

Mein Himmel! erwiederte Droßelmeier lachend,

kennen sie denn nicht mehr mein hübsches Uhrmacherliedchen?

Das

pfleg' ich immer zu singen bei solchen Patienten wie Marie.

Da­

mit setzte er flch schnell dicht an Mariens Bette, und sprach: Sey nur nicht böse, daß ich nicht gleich dem Mausekönig alle vierzehn

Augen ausgehackt, aber es konnte nicht seyn, ich will Dir auch statt dessen eine rechte Freude machen; der Obergerichtsrath langte mit

diesen Warten in die Tasche, und was er nun leise, leist hervorzog, war — der Nußknacker, dem er sehr gesthickt die verlornen Zähn­

chen fest eingesetzt, und den lahmen Kinnbacken eingerenkt hatte. Marie jauchzte laut auf vor Freude, aber "die Mutter sagte lächelnd:

Siehst du nun wohl, wie gut es Pathe Droßelmeier mit Deinem Nuß­ knacker meint?

„Du mußt es aber doch eingestehrn, Marie," unter­

brach der Obergerichtsrath die Medizinalräthin, „Du mußt es aber

doch eingestehen, daß Nußknacker nicht eben zum besten gewachsen, und sein Gesicht nicht'eben schön zu nennen ist.

Wie sothane Häßlichkeit

in seine Familie gekommen und vererbt worden ist, das will ich Dir

wohl erzählen, wenn Du es anhören willst. Oder weißt Du vielleicht

94 schon die Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Hexe Mause-

rinks und dem künstlichen Uhrmacher?" „Hör mal," siel hier Fritz

unversehens ein, „ hör' mal, Pathe Droßelmeier, die Zähne hast Du dem Nußknacker richtig eingesetzt, und der Kinnbacken ist auch nicht

mehr so wackelig, aber warum fehlt ihm das Schwerdt, warum hast Du ihm kein Schwerdt umgehängt?"

„Ey," erwiederte der

Obergerichtsrath ganz unwillig, „Du mußt an allem mäkeln und

tadeln, Junge! —

Was geht mich Nußknackers Schwerdt an,

ich habe ihn am Leibe kurirt, mag er sich nun selbst ein Schwerdt schaffen wie er will."

„Das ist wahr," rief Fritz, „ists ein tüch­

tiger Kerl, so wird er schon Waffen zu finden wissen."

„Also

Marie," fuhr der Obergerichtsrath fort, „sage mir, ob Du die

Geschichte weißt von der Prinzessin Pirlipat?"

„Ach nein," er­

wiederte Marie, „erzähle, lieber Pathe Droßelmeier, erzähle!" „Ich hoffe," sprach die Medizinalräthin, „ich hoffe, lieber Herr

Obergerichtsrath, daß Ihre Geschichte nicht so graulich seyn wird,

wie

gewöhnlich alles ist, was Sie erzählen?"

theuerste Frau Medizinalräthin,"

„Mit Nichten,

erwiederte Droßelmeier,

„im

Gegentheil ist das gar spaßhaft, was ich vorzutragen die Ehre haben werde."

„Erzähle, o erzähle, lieber Pathe," so riefen die

Kinder, und der Obergerichtsrath fing also an.

Das Mährchen von bet harten Nuß. Pirlipats Mutter war die Frau eines Königs, mithin eine

Königin, und Pirlipat selbst in dem Augenblick, als sie geboren wurde, eine geborne Prinzessin.

Der König war außer sich vor

95 Freude über das schöne Töchterchen, das in der Wiege lag, er ju­

belte laut auf, er tanzte und schwenkte sich auf einem Beine, und rief einmal über das andere: Heysa! — hat man was Schöneres

jemals gesehen, als mein Pirlipatchen? —

Aber alle Minister,

Generale und Präsidenten und Stabsoffiziere sprangen, wie der Landesvater, auf einem Beine herum, und schrien sehr: Nein, nie­

mals!

Au läugnen war es aber auch in der That gar nicht, daß

wohl so lange die Welt steht, kein schöneres Kind geboren wurde,

als eben Prinzessin Pirlipat.

Ihr (hesichtchen war wie von zarten

lilienweißen und rosenrothen Seidenflocken gewebt, die Aeuglein lebendige, funkelnde Azure^ und es stand hübsch, daß die Löckchen

sich in lauter glänzenden Goldfaden kräuselten.

Dazu hatte Pirli-

patchen zwei Reihen kleiner Perlzähnchen auf die Welt gebracht,

womit sie zwei Stunden nach der Geburt den Reichskanzler in den

Finger biß,

als er die Lineamente näher untersuchen wollte, so

daß er laut ausschrie: O Jemine! —

Andere behaupten, er hübe:

Au weh! geschrieü, die Stimmen sind noch heut zu Tage darüber sehr getheilt.



Kurz, Pirlipatchen biß wirklich den Reichs­

kanzler in den Finger, und das entzückte Land wußte nun, daß auch

Geist, Gemüth und Verstand in Pirlipats engelschönem Körperchen wohne. —

Wie gesagt, alles war vergnügt, nur die Königin

war sehr ängstlich und unruhig, niemand wußte, warum?

Vor­

züglich siel es auf, daß sie Pirlipats Wiege so sorglich bewachen ließ.

Außerdem, daß die Thüren von Trabanten besetzt waren,

mußten, die beiden Wärterinnen dicht an der Wiege abgerechnet,

noch sechs andere Nacht für Nacht ringsumher in der Stube sitzen.

— 96



Was aber ganz närrisch schien, und was niemand begreifen konnte,

jede dieser sechs Wärterinnen mußte einen Kater auf den Schooß

nehmen, und ihn die ganze Nacht streicheln, daß er immerfort zu

spinnen genöthigt wurde.

Es ist unmöglich, daß ihr, lieben Kin­

der, errathen könnt, warum Pirlipats Mutter all' diese Anstalten machte, ich weiß es aber, und will es euch gleich sagen. —

Es

begab sich, daß. einmal an dem Hofe von Pirlipats Vater viele vor­ treffliche Könige und sehr angenehme Prinzen versammelt waren,

weshalb es denn sehr glänzend herging, und viele Ritterspiele, Co-

mödien und Hofbälle gegeben wurden.

Der König um recht zu

zeigen, daß es ihm an Gold und Silber gar nicht mangle, wollte

nun einmal einen recht tüchtigen Griff in den Kronschatz thun, und

was Ordentliches drauf gehen lassen.

Er ordnete daher, zumal

er von dem Oberhofküchenmeister insgeheim erfahren, daß dec Hof­ einen großen

astronom die Zeit des Einschlachtens angekündigt,

Wurstschmaus an, warf sich in den Wagen, und lud selbst sämmt­ liche Könige und Prinzen — nur auf einen Löffel Suppe ein, um

sich der Ueberraschung mit dem Köstlichen zu erfreuen. er sehr freundlich zur Frau Königin:

Nun sprach

Dir ist ja schon bekannt,

Liebchen! wie ich die Würste gern habe! —

Die Königin wußte

schon, was er damit sagen wollte, es hieß nämlich nichts anders, als sie selbst sollte sich, wie sie auch sonst schon gethan, dem sehr nützlichen Geschäft des Wurstmachens unterziehen.

Der Oberschatz­

meister mußte sogleich den großen, goldnen Wurstkessel und die sil­

bernen Kasserollen zur Küche abliefern; es wurde ein großes Feuer von Sandelholz angemacht, die Königin band ihre damastne Kü-

97 chenschürze um, und bald dampften aus dem Kessel die süßen Wohl­ Bis in den Staatsrath drang der an-

gerüche der Wurstsuppe.

muthige Geruch; der König, von innerm Entzücken erfaßt, konnte

sich nicht halten.

Mit Erlaubniß, meine Herren! rief er, sprang

schnell nach der Küche, umarmte die Königin, rührte mit dem gol­ denen Scepter ein wenig in dem Kessel, und kehrte dann beruhigt

Eben nun war der wichtige Punkt ge­

in den Staatsrath zurück.

kommen, daß der Speck in Würfel geschnitten, und auf silbernen Rosten gebraten werden sollte. Königin dies Geschäft

Die Hofdamen traten ab, weil die

aus treuer Anhänglichkeit und Ehrfurcht

vor dem königlichen Gemahl allein unternehmen wollte.

Allein

so wie der Speck zu braten anfing, ließ sich ein ganz feines wispern­

des Stimmchen vernehmen:

Von dem Brätlein gieb mir auch,

Schwester! — will auch schmausen, bin ja auch Königin —- gieb

mir von dem Brätlein! — Die Königin wußte wohl, daß es Frau

Mauserinks war, die also sprach.

Frau Mauserinks wohnte schon

seit vielen Jahren in des Königs Pallast.

Sie behauptete, mit der

königlichen Familie verwandt und selbst Königin in dem Reiche

Mausolien zu seyn, deshalb hatte sie auch eine große Hofhaltung unter dem Heerde.

Die Königin war eine gute, mildthätige Frau,

wollte sie daher auch sonst Frau Mauserinks nicht gerade als Kö­ nigin und als ihre Schwester anerkennen, so gönnte sie ihr doch von Herzen an dem festlichen Tage die Schmauserei, und rief: Kommt

nur hervor, Frau Mauserinks, Ihr möget immerhin etwas von

meinem Speck genießen.

Da kam auch Frau Mauserinks sehr

schnell und lustig hervorgehüpft, sprang auf den Heerd, und er-

7

98 griff mit den zierlichen kleinen Pfötchen ein Stückchen Speck nach

dem andern, das ihr die Königin hinlangte.

Aber nun kamen alle

Gevattern und Muhmen der Frau Mauserinks hervorgesprungen,

und sogar auch ihre sieben Söhne, recht unartige Schlingel, die

machten sich über den Speck her, und nicht wehren konnte ihnen die erschrockene Königin.

Zum Glück kam die Oberhofmeisterin

dazu, und verjagte die zudringlichen Gäste, so daß doch noch etwaß

Speck übrig blieb, welcher, nach Anweisung des herbeigerufenen Hofmaihematikers sehr künstlich auf alle Würste vertheilt wurde. —

Pauken und Trompeten erschallten, alle anwesenden Potentaten und Prinzen zogen in glänzenden Feierkleidern, zum Theil auf weißen Zeltern, zum Theil in krystallnen Kutschen zum Wurstschmauft.

Der König empfing sie mit herzlicher Freundlichkeit und Huld, und setzte sich dann, als Landesherr mit Krone und Scepter angethan, an die Spitze des Tisches.

Schon in der Station der Leberwürste

sah man, wie der König immer mehr und mehr erblaßte, wie er die Augen

gen

Himmel

hob — leise

Seufzer entflohen seiner

Brust — ein gewaltiger Schmerz schien in seinem Innern zu wüh­ len!

Doch in der Station der Blutwürste sank er laut schluch­

zend und ächzend in den Lehnsessel zurück;

er hielt beide Hände

vors Gesicht, er jammerte und stöhnte. —

Alles sprang auf voN

der Tafel, der Leibarzt bemühte sich vergebens, des unglücklichen Königs Puls zu erfassen, ein tiefer, namenloser Jammer schien ihn

zu zerreißen.

Endlich, endlich nach vielem Zureden, nach Anwen­

dung starker Mittel, als da sind, gebrannte Federposen und Ver­ gleichen, schien ber König etwas zu sich selbst zu kommen, er staM-

99 melle kaum hörbar die Worte: Zu wenig Speck!

Da warf sich

die Königin trostlos ihm zu Füßen und schluchzte: O mein armer

unglücklicher königlicher Gemahl! — o welchen Schmerz mußten Sie dulden! — Aber sehen Sie hier die Schuldige zu Ihren Füßen — strafen, strafen Sie sie hart! -—Ach — Frau Mäuse­ rinks mit ihren sieben Söhnen, Gevattern und Muhmen hat den

Speck aufgefressen und — damit fiel die Königin rücklings über

in Ohnmacht.

Aber der König sprang voller Zorn auf und rief

laut: Oberhofmeisterin wie ging das zu? Die Oberhofmcisterin er­

zählte, so viel sie wußte, und der König beschloß, Rache zu neh­ men an der Frau Mauserinks und ihrer Familie, die ihm den Speck aus der Wurst weggefressen hatten.

Der Geheime Staats­

rath wurde berufen, man beschloß, der Frau Mauserinks den Pro­ zeß zu machen, und ihre sämmtlichen Güter einzuziehen; da aber der König meinte, daß sie unterdessen ihm doch noch immer den

Speck wegfressen könnte, so wurde die ganze Sache dem Hofuhr­

macher und Arkanisten übertragen.

Dieser Mann, der eben so

hieß, als ich, nämlich Christian Elias Droßelmeier, versprach durch eine ganz besonders staatskluge Operation die Frau Mauserinks mit ihrer Familie auf ewige Zeiten aus den Pallast zu vertreiben.

Er erfand auch wirklich kleine, sehr künstliche Maschiencn, in die an einem Fädchen gebratener Speck gethan wurde, und die Droßel-

meier rings um die Wohnung der Frau Speckfresserin aufstellte. Frau Mauserinks war viel zu weise, um nicht Droßelmeiers List einzusehen, aber alle ihre Warnungen, alle ihre Vorstellungen hal­

fen nichts) von dem süßen Geruch des gebratenen Specks verlockt,

7*

100 gingen alle sieben Söhne und viele, viele Gevattern und Muhmen

der Frau Mauserinks in Droßelmeiers Maschienen hinein, und wur­ den, als sie eben den Speck wegnaschen wollten, durch ein plötz­

lich vorsallendes Gitter gefangen, dann aber schmachvoll hingerichtet. nen Häufchen

in der Küche selbst

Frau Mauserinks verließ mit ihrem klei­

den Ort

Rache erfüllte ihre Brust.

des Schreckens;

Gram, Verzweiflung,

Der Hof jubelte sehr, aber die Köni­

gin war besorgt, weil sie die Gemüthsart der Frau Mauserinks

kannte, und wohl wußte, daß sie den Tod ihrer Söhne und Ver­

wandten nicht ungerächt hingehen lassen würde.

In der That er­

schien auch Frau Mauserinks, als die Königin eben für den könig­

lichen Gemahl ein Lungenmus bereitete, welches er sehr gern aß, und sprach: Meine Söhne — meine Gevattern und Muhmen sind erschlagen, gieb wohl Acht, Frau Königin, daß Mausekönigin Dir nicht Dein Prinzcßchen entzwei beißt — gieb wohl Acht.

Darauf

verschwand sie wieder und ließ sich nicht mehr sehen, aber die Kö­

nigin war so erschrocken, daß sie das Lungenmus ins Feuer fallen ließ, und zum zweitenmal verdarb Frau Mauserinks dem Könige eine Lieblingsspeise, worüber er sehr zornig war. —

Nun ists

aber genug für heute Abend, künftig das Uebrige.

So sehr auch Marie, die bei der Geschichte ihre ganz eignen

Gedanken hatte, den Pathe Droßelmeier bat, doch nur ja weiter zu erzählen, so ließ er sich doch nicht erbitten, sondern sprang auf,

sprechend: Au viel auf einmal ist ungesund, morgen das Uebrige.

Ebm als der Obergerichtsrath im Begriff stand zur Thür hin­

auszuschreiten, fragte Fritz: Aber sag mal, Pathe Droßelmeier, ists

101 denn

wirklich

wahr,

daß

Du

die Mausefallen

erfunden hast?

„Wie kann man nur so albern fragen," rief die Mutter, aber der Obergerichtsrath lächelte sehr seltsam, und sprach leise: „Bin ich denn nicht ein künstlicher Uhrmacher, und sollt' nicht einmal Mause­

fallen erfinden können."

. Fortsetzung des Mährchens von der harten Nuß. Nun wißt ihr wohl, Kinder, so fuhr der Obergerichts-Rath Droßelmeier am nächsten Abende fort, nach dem bisher Gehörten, warum die Königin das wunderschöne Prinzeßchen Pirlipat so sorg­ lich bewachen ließ.

Mußte sie nicht fürchten, daß Frau Mauferinks

ihre Drohung erfüllen, wiederkommen, und das Prinzeßchen todt­ beißen würde?

Droßelmeiers Maschinen halfen gegen die kluge

und gewitzigte Frau Mauserinks ganz und gar nichts, und nur der Astronom des Hofes, der zugleich Geheimer Oberzeichen - und Stern­

deuter war, wollte wissen, daß die Familie des Katers Schnurr im Stande seyn werde, die Frau Maustrinks von der Wiege ab­

zuhalten z demnach geschah es also, daß jede der Wärterinnen einen

der Söhne jener Familie, die übrigens bei Hofe als Geheime Legationsräthe angestellt waren, auf dem Schooß halten, und durch

schickliches Krauen ihm den beschwerlichen Staatsdienst zu versüßen

suchen mußte.

Es war einmal schon Mitternacht, als eine von den

beiden geheimen Oberwärterinnen, die dicht an der Wiege saßen,

wie aus tiefem Schlafe auffuhr. —

Alles rund umher lag vom

Schlaf befangen — kein Schnurren — tiefe Todtenstille, in der man das Picken des Holzwurms vernahm! — doch wie ward der

102 Geheimen Oberwärterin, als sie dicht vor sich eine große, sehr

häßliche Maus erblickte, die auf den Hinterfüßen aufgerichtet stand, und den fatalen Kopf aus das Gesicht der Prinzessin gelegt hatte.

Mit einem Schrei des Entsetzens sprang sie auf, alles erwachte,

aber in dem Augenblick rannte Frau Mauserinks (niemand anders war die große Maus an Pirlipats Wiege) schnell nach der Ecke

des Zimmers.

Die Legationsräthe stürzten ihr nach, aber zu spät —

durch eine Ritze in dem Fußboden des Zimmers war sie verschwun­ den.

Pirlipatchen

kläglich.

erwachte von dem Rumor,

und weinte

Dank dem Himmel, riesen die Wärterinnen,

sehr

sie lebt!

Doch wie groß war ihr Schrecken, als sie hinblickten nach Pir­

lipatchen, und wahrnahmen, was aus dem schönen, zarten Kinde

geworden. Statt des weiß und rothen, goldgelockten Engelsköpfchens

faß ein unförmlicher dicker Kopf auf einem winzig kleinen, zusam­ mengekrümmten Leibe,

die azurblauen Aeugelein

hatten sich ver­

wandelt in grüne hervorstehende starr blickende Augen,

und das

Mündchen hatte sich verzogen von einem Ohr zum ander».

Königin wollte vergehen

in Wehklagen und Jammer,

Die

und des

Königs Studirzimmer mußte mit wattirten Tapeten ausgeschlagen werden, weil er einmal über das andere mit dem Kops gegen die

Wand rannte, und dabei mit sehr jämmerlicher Stimme rief: O ich unglückseliger Monarch! —

Er konnte zwar nun einsehen, daß

es besser gewesen wäre, die Würste ohne Speck zu essen, und die Frau Mauserinks mit ihrer Sippschaft unter dem Heerde in Ruhe zu

lassen, daran dachte aber Pirlipats königlicher Vater nicht, sondern er schob einmal alle Schuld auf den Hofuhrmacher und Arkanisten

103 Christian Elias Droßelmeier aus Nürnberg.

Deshalb erließ

er

den weisen Befehl: Droßelmeier habe binnen vier Wochen die Prin­ zessin Pirlipat in den vorigen Zustand herzustellen, oder wenigstens ein bestimmtes untrügliches Mittel anzugeben, wie dies zu bewerk­

stelligen sey, widrigenfalls er dem schmachvollen Lode unter dem Beil des Henkers verfallen seyn solle. —

Droßelmeier erschrack

nicht wenig, indessen vertraute er doch bald seiner Kunst und fti-

yem Glück und schritt sogleich zu der ersten Operation, die ihm nützlich schien.

Er nahm Prinzeßchen Pirlipat sehr geschickt aus­

einander, schrob ihr Händchen und Füßchen ab, und besah sogleich hie innere Struktur, aber da fand er leider., daß die Prinzessin,

iß größer, desto unförmlicher werden würd§, und wußte sich nicht zu rathen und zu helfen.

Er setzte die Prinzessin behutsam wieder

zusammen, und versank an ihrer Wege, die er nie verlassen durste

in Schwermuth.

Schon war die vierte Woche angegangen — ja

bereits Mittwoch — als der König mit zornfunkelnden Augen hin­

einblickte,

und mit dem Scepter drohend rief: Christian Elias

Droßelmeier kurire die Prinzessin, oder Du mußt sterben I meier fing

an bitterlich

knackte vergnügt Nüsse.

zu weinen,

Droßel­

aber Prinzeßchen Pirlipat

Zum erstenmal fiel dem Arkanisten Pir-

lipats ungewöhnlicher Appetit nach Nüssen, und der Umstand auf, daß sie mit Zähnchen zur Welt gekommen.

In der That hatte

sie gleich nach der Verwandlung so lange geschrieen, bis ihr zu­

fällig eine Nuß vorkam, die sie sogleich aufknackte, den Kern aß, und dann ruhig wurde.

Seit der Zeit konnten die Wärterinnen

nicht aufhören, ihr Nüsse zu bringen.

,,O heiliger Instinkt der

104 Natur, ewig unerforschliche Sympathie aller Wesen," rief Johann Elias Droßelmeier aus: „Du zeigst mir die Pforte zum Geheim­

niß, ich will anklopfen, und sie wird sich öffnen!"

Er bat so­

gleich um die Erlaubniß, mit dem Hofastronomen sprechen zu

können, und wurde mit starker Wache hingeführt.

Beide Herren

umarmten sich unter vielen Thränen, da sie zärtliche Freunde waren, zogen sich dann in ein geheimes Kabinet zurück, und schlugen viele Bücher nach, die von dem Instinkt, von den Sympathieen und

Antipathien und anderen geheimnißvollen Dingen handelten.

Die

Nacht brach herein, der Hofastronom sah nach den Sternen, und

stellte mit Hülfe des auch hierin sehr geschickten Droßelmeiers das

Horoskop der Prinzessin Pirlipat.

Das war eine große Mühe,

denn die Linien verwirrten sich immer mehr und mehr, endlich

aber — welche Freude,

endlich lag es

klar vor ihnen,

daß

die Prinzessin Pirlipat, um den Zauber, der sie verhäßlicht, zu

lösen, und um wieder so schön zu werden, als vorher, nichts zu

thun hatte, als den süßen Kern der Nuß Krakatuk zu genießen. Die Nuß Krakatuk hatte eine solche harte Schale, daß eine achtundvierzigpfündige Kanone darüber wegfahren konnte, ohne sie

zu zerbrechen.

Diese harte Nuß mußte aber von einem Manne,

der noch nie raflrt worden und der niemals Stiefeln getragen, vor der Prinzessin aufgebisserr und ihr von ihm mit geschlossenen Augen

der Kern dargereicht werden.

rückwärts gegangen,

Erst nachdem er sieben Schritte

ohne zu stolpern, durfte der junge Mann

wieder die Augen erschließen.

Drei Tage und drei Nächte hatte

Droßelmeier mit dem Astronomen ununterbrochen gearbeitet und

105 es saß gerade Sonnabends der König bei dem Mittagstisch, als

Droßelmeier, der Sonntag in aller Frühe geköpft werden sollte, voller Freude und Jubel hineinstürzte, und das gefundene Mittel,

der Prinzessin Pirlipat die verlorne Schönheit wieder zu geben,

verkündete.

Der König umarmte ihn mit heftigem Wohlwollen,

versprach ihm einen diamantnen Degen, vier Orden und zwei neue Sonntagsröcke.

„Gleich nach Tische, setzte er freundlich hinzu,

soll es ans Werk, sorgen Sie, theurer Arkanist, daß der junge

unrastrte Mann in Schuhen mit der Nuß Krakatuk gehörig bei der Hand sey, und lassen Sie ihn vorher keinen Wein trinken,

damit er nicht stolpert, wenn er sieben Schritte rückwärts geht, wie ein Krebs, nachher kann er erklecklich saufen!"

Droßelmeier

wurde über diese Rede des Königs sehr bestürzt, und nicht ohne

Zittern und Zagen brachte er es stammelnd heraus, daß das Mit­ tel zwar gefunden wäre, beides, die Nuß Krakatuk und der junge

Mann zum Aufbeißen derselben citier erst gesucht werden müßten, wobei es noch obenein zweifelhaft bliebe, ob Nuß und Nußknacker

jemals gefunden werden dürften.

Hoch erzürnt schwang der König

den Scepter über das gekrönte Haupt und schrie mit einer Löwen­ stimme: So bleibt es bei dem Köpfen.

Ein Glück war es für

den in Angst und Noth versetzten Droßelmeier, daß dem Könige

das Essen gerade den Tag sehr wohl geschmeckt hatte, er mithin

in der guten Laune war,

vernünftigen Vorstellungen Gehör zu

geben, an denen es die großmüthige und von Droßelmeiers Schicksal gerührte Königin nicht mangeln ließ.

Droßelmeier faßte Muth

und stellte zuletzt vor, daß er doch eigentlich die Aufgabe, das

106 Mittel/ wodurch die Prinzessin geheilt werden könne, zu nennen,

gelöst, und sein Leben gewonnen habe.

Der König nannte das:

dumme Ausreden und einfältigen Schnickschnack, beschloß aber end­ lich, nachdem er ein Gläschen Magenwasser zu sich genommen daß beide, der Uhrmacher und der Astronom, sich auf die Beine machen Unt> nicht anders als mit der Nuß Krakatuk in der Lasche wieder­ kehren sollten.

Der Mann zum Aufbeißen derselben sollte, wie es

die Königin vermittelte, durch mehrmaliges Einrücken einer Auf­

forderung in einheimische und auswärtige Zeitungen und Intelli­ genz-Blätter

herbeigeschafft

werden. —

Der Obergerichtsrath

hrach hier wieder ab, und versprach den andern Ahend das Uebrige zu erzählen.

Beschluß des Mährchens von der harten Nuß. Am andern Abende, so wie kaum die Lichter angesteckt worden, fand sich

Pathe Droßelmeier wirklich wieder ein,

also weiter.

und erzählte

Droßelmeier und Hof-Astronom waren schon funzehy

Jahre unterwegs, ohne der Nuß Krakatuk auf die Spur gekommen zu seyn.

Wo sie überall waren,, welche sonderbare seltsame Dinge

ihnen widerfuhren, davon könnt' ich Euch, ihr Kinder, vier Wochen

lang erzählen, ich will es aber nicht thun, sondern nur gleich sa­ gen, daß Droßelmeier in seiner tiefen Betrübniß zuletzt eine sehr

große Sehnsucht nach seiner lieben Vaterstadt Nürnberg empfand. ®anj besonders überfiel ihn diese Sehnsucht, als er gerade einmal

Mit seinem Freunde mitten in einem großen Walde in Asien ein Pfeifchen Knaster rauchte.

„ V schörze

schöne Vaterstadt Nüvp-

107 berg — schöne Stadt, wer dich nicht gesehen hat, mag er auch

viel gereist seyn nach London, Paris und Peterwardein, ist ihm das Herz doch nicht aufgegangen, muß er doch stets nach Dir verlan­

gen — nach Dir,

o Nürnherg, schöne Stadt, die schöne Häuser

mit Fenstern hat." —

Als Droßelmeier so sehr wehmüthig klagte,

wurde der Astronom von tiefem Mitleiden

ergriffen und fing so

jämmerlich zu heulen an, daß man es weit und breit in Asien hören

konnte.

Doch faßte er sich wieder, wischte sich die Thränen aus

den Augen und fragte: Aber werthgeschätzter College, warum sitzen

wir hier und heulen? warum gehen wir nicht nach Nürnberg, ists

denn nicht gänzlich egal, wo und wie wir die fatale Nuß Krakatuk suchen?

Das ist auch wahr, erwiederte Droßelmeier getröstet.

Beide standen alsbald auf, klopften die Pfeifen aus, und gingen

schnurgrade in einem Strich fort, aus dem Walde mitten in Asien,

nach Nürnberg.

Kaum waren sie dort angekommen, so lief Dro­

ßelmeier schnell zu seinem Vetter, dem Puppendrcchsler, Lackire? und Vergolder Christoph Zacharias Droßelmeier, den er in vielen, vielen Jahren nicht mehr gesehen.

Dem erzählte nun der Uhr­

macher die ganze Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Frau

Mauserinks und der Nuß Krakatuk, so daß der einmal über das andere die Hände zusammenschlug und voll Erstaunen ausrief: Ei

Vetter, Vetter, was sind das für wunderbare Dinge!* Droßelmeier erzählte werter von den Abentheuern seiner weiten Reise, wie er zwei Jahre bei dem Dattelkönig zugebracht, wie er vom Mandel­ fürsten schnöde abgewiesen, wie er bei der nqtursorschenden Gesell­

schaft in Eichhornshausen vergebens gngefragt, kurz, wie es ihm

108 überall mißlungen sey, auch nur eine Spur von der Nuß Krakatuk zu erhalten.

Während dieser Erzählung hatte Christoph Za­

charias oft mit den Fingern geschnippt — sich auf einem Fuße herumgedreht — mit der Zunge geschnalzt — dann gerufen — Hm hm — I — Ey — O — das wäre der Teufel! — Endlich warf er die Mütze und Perücke in die Höhe, umhalste den Vetter

mit Heftigkeit und rief: Vetter — Vetter! Ihr seyd geborgen, ge­ borgen seyd ihr,

sag' ich, denn Alles müßte mich trügen, oder ich

besitze selbst die Nuß Krakatuk.

Cr holte alsbald eine Schachtel

hervor, aus der er eine vergoldete Nuß von mittelmäßiger Größe

hervorzog.

Seht, sprach er, indem er die Nuß dem Vetter zeigte,

seht mit dieser Nuß hat es folgende Bewandtniß: Vor vielen Jahren

kam einst zur Weihnachtszeit ein fremder Mann mit einem Sack voll Nüsse hieher, die er feil bot.. Gerade vor meiner Puppen­

bude gerieth er in Streit, und setzte den Sack ab, um sich besser gegen den hiesigen Nußverkäufer, der nicht leiden wollte, daß der

Fremde Nüsse verkaufe, und ihn deßhalb angriff, zu wehren.

In

dem Augenblick fuhr ein schwer beladener Lastwagen über den Sack, alle Nüsse wurden zerbrochen bis auf eine, die mir der fremde Mann, seltsqm lächelnd für einen blanken Zwanziger vom Jahre 1720 feil bot.

Mir schien das wunderbar, ich fand gerade

einen solchen Zwanziger in meiner Tasche, wie ihn der Mann ha­

ben wollte, kaufte die Nuß und vergoldete sie, selbst nicht recht wissend, warum ich die Nuß so theuer bezahlte und dann so werth

hielt.

Jeder Zweifel, daß des Vetters Nuß wirklich die gesuchte

Nuß Krakatuk war, wurde augenblicklich gehoben, als der herbei-

109 gerufene Hof - Astronom das Gold sauber abschabte und in der Rinde der Nuß das Wort Krakatuk mit Chinesischen Charakteren eingegraben fand.

Die Freude der Reisenden war groß und der

Vetter der glücklichste Mensch unter der Sonne, als Droßelmeier

ihm versicherte, daß sein Glück gemacht sey, da er außer einer an­ sehnlichen Pension hinführo alles Gold zum Vergolden umsonst er­

halten werde.

Beide, der Arkanist und der Astronom, hatten schon

die Schlafmützen aufgesetzt und wollten zu Bette gehen, als Letzte­ rer, nämlich der Astronom, also anhub: Bester Herr College, ein

Glück kommt nie allein — Glauben Sie, nicht nur die Nuß Kra­

katuk, sondern auch den jungen Mann, der sie aufbeißt und den

Schönheitskern der Prinzessin darreicht, Ich meine niemanden anders,

haben wir gefunden! —

als den Sohn ihres Herrn Vet­

ters! — Nein, nicht schlafen will ich, fuhr er begeistert fort, son­

dern noch in dieser Nacht des Jünglings Horoskop stellen! — Da­

mit riß er die Nachtmütze vom Kopf und fing gleich an zu observiren. — Des Detters Sohn war in der That ein netter, wohl­ gewachsener Junge, der noch nie rastrt worden und niemals Stiefel getragen hatte.

In früher Jugend war er zwar ein Paar Weih­

nachten hindurch ein Hampelmann gewesen, das merkte man ihm aber nicht im mindesten an, so war er durch des Vaters Bemühungen

ausgebildet worden.

An Weihnachtstagen trug er einen schönen,

rothen Rock mit Gold, einen Degen, den Hut unter dem Arm und

eine schöne Frisur mit einem Haarbeutel.

So stand er sehr glän­

zend in seines Vaters Bude und knackte aus angeborner Galanterie

den jungen Mädchen die Nüsse auf,

weshalb sie ihn auch schön

110 Nußknackerchen nannten. —

Den andern Morgen fiel der Astrv-

nom dem Arkanisten entzückt um den Hals und rief: er ist es,

wir haben ihn, er ist gesunden, nur zwei Dinge dürfen wir nicht außer Acht lassen.

Fürs Erste müssen Sie ihrem vortrefflichen

Neffen einen robusten hölzernen Zopf flechten, der mit dem untern

Kinnbacken so in Verbindung steht, daß dieser dadurch stark ange­ zogen werden kann, dann müssen wir aber, kommen wir nach der Residenz, auch sorgfältig verschweigen, daß wir den jungen Mann,

der die Nuß Krakatuk aufbeißt, gleich mitgebracht habens er muß sich vielmehr lange nach uns einfinden.

Ich lese in dem Horoskop,

daß der König, zerbeißen sich erst Einige die Zähne ohne weitern Erfolg, dem, der die Nuß aufbeißt und der Prinzessin die verlorne

Schönheit wiedergiebt,

Prinzessin und Nachfolge im Reich zum

Lohn versprechen wird.

Der Vetter Puppendrechsler war gar höch­

lich damit zufrieden, daß fein Söhnchen die Prinzessin Pirlipat hei-

rathen und Prinz und König werden sollte- und überließ ihn daher den Gesandten gänzlich.

Der Zopf, den Droßelmeier dem jungen,

hoffnungsvollen Neffen ansetzte, gerieth überaus wohl, so daß er

mit dem Aufbeißen der härtesten Pfirsichkerne die glänzendsten Ver­ suche anstellte.

Da Droßelmeier und der Astronom das Auffinden der Nuß

Krakatuk sogleich nach der Residenz berichtet, so waren dort auch aus der Stelle die nöthigen Aufforderungen erlassen worden, und

üls die Reisenden mit dem Schönheitsmittel ankamen, hatten sich schon viele hübsche Leute, unter denen es sogar Prinzen gab, eingefunden, die, ihrem gesunden Gebiß vertrauend, die Entzauberung

111 der Prinzessin versuchen

wollten.

Die Gesandten erschraken nicht

wenig, als sie die Prinzessin wieder sahen.

Der kleine Körper mit

den winzigen Händchen und Füßchen konnte kaum den unförmlichen Kops tragen.

Die Häßlichkeit des Gesichts wurde noch durch einen

weißen baumwollnen Bart vermehrt, der sich um Mund und Kinn gelegt hatte.

roskvp gelesen.

Es kam alles so, wie es der Hof-Astronom im HoEin Milchbart in Schuhen nach dem andern bist

sich an der Nuß Krakatuk Zähne und Kinnbacken wund, ohne der Prinzessin im mindesten zu helfen,

dazu bestellten Zahnärzten

und wenn er dann von dett

halb ohnmächtig

seufzte er: das war eine harte Nuß! —

weggetragen wurde,

Als nun der König in

der Angst feines Herzens dem, der die Entzauberung vollenden werde,

Tochter und Reich versprochen, Meldete sich der artige, sanfte Züng-

ling Droßelmeier und bat auch

den Versuch beginnen zu dürfen.

Keiner als der junge Droßelmeier hatte so sehr der Prinzessin Pirlipat gefallen; sie legte die kleinen Händchen auf das Herz, und seufzte recht innig: Ach wenn es doch der wäre, der die Nust KrakatUk wirklich aufbeißt und mein Mann nvird.

Nachdem der

junge Droßelmeier den König und die Königin, dann aber die Prin­

zessin Pirlipat, sehr höflich gegrüßt, empfing er aus den Händen des Ober-Ieremonienmeisters die Nuß Krakatuk, nahm sie ohne

weiteres zMschen die Zähne/ zog stark den Zopf an, und Krak —

Krak zerbröckelte die Schale in viele Stücke.

Geschickt reinigte er

den Kern von den noch daran hängenden Fasern und überreichte

ihn mit einem unterthänigen Kratzfuß der Prinzessin, worauf er die Augen verschloß und rückwärts zu schreiten begann.

Die'Pritt-

112 zesfin verschluckte alsbald den Kern und o Wunder! — verschwun­ den war die Mißgestalt, und

statt, ihrer stand ein engelschönes

Frauenbild da, das Gesicht wie von lilienweißen und rosarothen Seidenflocken gewebt, die Augen wie glänzende Azure, die vollen Locken wie

von Goldfaden

gekräuselt.

Trompeten und Pauken

mischten sich in den lauten Jubel des Volks.

Der König, sein gan­

zer Hof tanzte wie bei Pirlipats Geburt auf einem Beine und die Königin mußte mit Eau de Cologne bedient werden, weil sie in

Ohnmacht gefallen vor Freude und Entzücken.

Der große Tu­

mult brachte den jungen Droßelmeier, der noch seine sieben Schritte

zu vollenden hatte, nicht wenig aus der Fassung, doch hielt er sich und streckte eben den rechten Fuß aus zum siebenten Schritt, da

erhob sich, häßlich piepend und quiekend, Frau Mauserinks aus

dem Fußboden, so daß Droßelmeier,

als er den Fuß niedersetzen

wollte, auf sie trat und dermaßen stolperte, daß er beinahe ge­

fallen wäre. —

O Mißgeschick! — urplötzlich war der Jüngling

eben so mißgestaltet,

als es vorher Prinzessin Pirlipat gewesen.

Der Körper war zusammengeschrumpft und konnte kaum den dicken,

ungestalteten Kopf mit großen

hervorstehenden Augen

breiten, entsetzlich aufgähnenden Maule tragen.

und dem

Statt des Zopfes

hing ihm hinten ein schmaler, hölzerner Mantel herab, mit dem er

den untern Kinnbacken regierte. —

Uhrmacher und Astronom wa­

ren außer sich vor Schreck und Entsetzen; sie sahen aber wie Frau Mauserinks sich blutend auf dem Boden wälzte.

nicht ungerächt geblieben,

Ihre Bosheit war

denn der junge Droßelmeier hatte sie

mit dem spitzen Absatz seines Schuhes so derb in den Hals getroffen,

113 daß sie sterben mußte.

Lodesnoth erfaßt wurde,

Aber indem Frau Mauserinks von der

da piepte und quiekte sie ganz erbärm­

lich: „OKrakatuk, harte Nuß — an der ich nun sterben muß —

hi hi — pipi fein Nußknackerlein wirst auch bald des Todes seyn — Söhnlein mit den sieben Kronen, wirds dem Nußknacker lohnen, wird die Mutter rächen fein, an Dir du klein Nußknackerlein —

o Leben so frisch und roth, von Dir scheid' ich, o Lodesnoth! — Quiek" — Mit diesem Schrei starb Frau Mauserinks und wurde

von dem königlichen Ofenheizer fortgebracht. —

Um den jungen

Droßelmeier hatte sich niemand-bekümmert; die Prinzessin erinnerte aber den König an sein Versprechen, und sogleich befahl er, daß

man den jungen Helden herbeischaffe.

Als nun aber der Unglück­

liche in seiner Mißgestalt hervortrat, da hielt die Prinzessin beide

Hände vors Gesicht und schrie: Fort, fort mit dem abscheulichen

Nußknacker!

Alsbald ergriff ihn auch der Hofmarschall bei den

kleinen Schultern und warf ihn zur Thür heraus.

Der König

war voller Wuth, daß man ihm habe einen Nußknacker als Eidam

aufdringen wollen, schob alles auf das Ungeschick des Uhrmachers und des Astronomen, und verwies beide auf ewige Zeiten aus der Residenz.

Das hatte nun nicht in dem Horoskop gestanden, wel­

ches der Astronom in Nürnberg gestellt; er ließ sich aber nicht ab­ halten, aufs Neue zu observiren und da wollte er in den Sternen

lesen, daß der junge Droßelmeier sich in seinem neuen Stande so

gut nehmen werde, daß er trotz seiner Ungestalt Prinz und König werden würde.

Seine Mißgestalt könne aber nur dann verschwin­

den, wenn der Sohn der Frau Mauserinks, den sie nach dem Lode

114 ihrer sieben Söhne, mit sieben Köpfen geboren, und der Mausekönig

geworden, von seiner Hand gefallen sey, und eine Dame ihn, trotz Man soll denn auch wirk­

seiner Mißgestalt, lieb gewinnen werde.

lich den jungen Droßelmeier in Nürnberg zur Weihnachtszeit in seines Vaters Bude zwar als Nußknacker, aber doch als Prinz ge­ sehen haben!

Das ist, ihr Kinder! das Mährchen von der harten

Nuß, und ihr wißt nun, warum die Leute so oft sagen, daß war eine

harte Nuß! und wie es kommt, daß die Nußknacker so häßlich sind. — So schloß der Obergerichtsrath seine Erzählung.

Marie meinte,

daß die Prinzessin Pirlipat doch eigentlich ein garstiges undank­

bares Ding sey; Fritz versicherte dagegen, daß, wenn Nußknacker nur sonst ein braver Kerl seyn wolle,

er mit dem Mausekönig

nicht viel Federlesens machen, und seine vorige hübsche Gestalt bald

wieder erlangen werde.

Onkel und Neffe. Hat jemand von meinen hochverehrten Lesern oder Zuhörern jemals den Unfall erlebt, sich mit Glas zu schneiden, so wird er

selbst wissen, wie wehe das thut, und welch schlimmes Ding es

überhaupt ist, da es so langsam heilt.

Hatte doch Marie beinahe

eine ganze Woche im Bett zubringen müssen, weil es ihr immer

ganz schwindlicht zu Muthe wurde, so bald sie aufstand.

Endlich

aber wurde sie ganz gesund, und konnte lustig wie sonst in der Stube

umherspringen.

Im Glasschrank sah es ganz hübsch aus, denn

neu und blank standen da, Bäume und Blumen und Häustr, und

schöne glänzende Puppen.

Vor allen Dingen aber fand Marie

115 ihren lieben Nußknacker wieder, der, in dem zweiten Fache stehend, mit ganz gesunden Zähnchen sie anlächelte.

Als sie nun den Lieb­

ling so recht mit Herzenslust anblickte, da fiel es ihr mit einem­

mal sehr bänglich aufs Herz, daß alles, was Pathe Droßelmeier erzählt habe, ja nur die Geschichte des Nußknackers und seines

Zwistes mit

der Frau Mauserinks und

ihrem Sohne gewesen.

Nun wußte sie, daß ihr Nußknacker kein anderer seyn könne, als der junge Droßelmeier aus Nürnberg, des Pathen Droßelmeiers

angenehmer, aber leider von der Frau Mauserinks verhexter Neffe.

Denn daß der künstliche Uhrmacher am Hofe von Pirlipats Vater niemand anders gewesen,

selbst,

als der Obergerichtsrath Droßelmeier

daran hatte Marie schon bei der Erzählung nicht einen

Augenblick gezweifelt.

„Aber warum half Dir der Onkel denn

nicht, warum half er Dir nicht, so klagte Marie, als sich es immer lebendiger und lebendiger in ihr gestaltete, daß es in jener Schlacht, die sie mit ansah, Nußknackers Reich und Krone galt.

Waren

denn nicht alle übrigen Puppen ihm Unterthan, und war es denn

nicht gewiß, daß die Prophezeiung des Hofastronomen eingetroffen,

und der junge Droßelmeier König des Puppenreichs geworden?" Indem die kluge Marie das alles so recht im Sinn erwägte, glaubte

sie auch, daß Nußknacker und seine Vasallen in dem Augenblick, daß sie ihnen Leben und Bewegung zutraute, auch wirklich leben

und sich bewegen müßten.

Dem war aber nicht so, alles im

Schranke blieb vielmehr starr und regungslos, und Marie weit entfernt, ihre innere Ueberzeugung aufzugeben, schob das nur auf die fortwirkende Verhexung der Frau Mauserinks und ihres sieben-

8*

116 köpfigen Sohnes.

„Doch," sprach sie laut zum Nußknacker: „wenn

Sie auch nicht im Stande sind, sich zu bewegen, oder ein Wörtchen mit mir zu sprechen, lieber Herr Droßelmeier! so weiß ich doch,

daß Sie mich verstehen, und es wissen, wie gut ich es mit Ihnen meine; rechnen Sie auf meinen Beistand, wenn Sie dessen bedür­ fen. —

Wenigstens will ich den Onkel bitten, daß er Ihnen mit

seiner Geschicklichkeit beispringe, wo es nöthig ist."

Nußknacker

blieb still und ruhig, aber Marien war es so, als athme ein leiser

Seufzer durch den Glasschrank, wovon die Glasscheiben kaum hör­ bar, aber wunderlieblich ertönten, und es war, als sänge ein kleines Glockenstimmchen: „Maria klein — Schutzenglein mein — Dein werd ich seyn — Maria mein."

Marie fühlte in den eiskalten

Schauern, die sie überliefen, doch ein seltsames Wohlbehagen; die Dämmerung war eingebrochen, der Medizinalrath trat mit dem Pathen Droßelmeier hinein, und nicht lange dauerte es, so hatte

Luise den Theetisch geordnet,

und die Familie saß ringsumher,

allerlei Lustiges mit einander sprechend.

Marie hatte ganz still

ihr kleines Lehnstühlchen herbeigeholt, und sich zu den Füßen des Pathen Droßelmeier gesetzt.

Als nun gerade einmal alle schwiegen,

da sah Marie mit ihren großen blauen Augen dem Obergerichts­

rath starr ins Gesicht und sprach: „Ich weiß nunmehr, lieber Pathe Droßelmeier, daß mein Nußknacker Dein Neffe, der junge Droßel­

meier aus Nürnberg ist; Prinz, oder vielmehr König ist er ge­

worden, das ist richtig eingetroffen, wie es Dein Begleiter, der Astronom, voraus gesagt hat; aber Du weißt es ja, daß er mit dem Sohne der Frau Mauserinks, mit dem häßlichen Mausekönig,

— in offnem Kriege steht.

117



Warum hilfst Du ihm nicht?"

Marie

erzählte nun nochmals den ganzen Verlauf der Schlacht, wie sie es angesehen, und wurde oft durch das laute Gelächter von Vater, Mutter und Luise unterbrochen.

ben ernsthaft.

Nur Fritz und Droßelmeier blie­

„Aber wo kriegt das Mädchen all' das tolle Zeug

in den Kopf? ” sagte der Medizinalrath.

Ey nun, erwiederte die

Mutter, hat sie doch eine lebhafte Fantasie — eigentlich sind eS

nur Träume, die das heftige Wundsieber erzeugte.

„Es ist alles

nicht wahr," sprach Fritz, „solche Poltrons sind meine rothen Hu­

saren nicht, Potz Bassa Manelka, wie würd' ich sonst drunter fah­ ren."

Seltsam lächelnd nahm aber Pathe Droßelmeier die kleine

Marie auf den Schooß, und sprach sanfter als je: „ Ey, Dir liebe

Marie ist ja mehr gegeben, als mir und uns allen, Du bist, wie Pirlipat, eine geborne Prinzessin, denn Du regierst in einem schö­ nen blanken Reich. —

Aber viel hast Du zu leiden, wenn Du

Dich des armen, mißgestalteten Nußknackers annehmen willst, da

ihn der Mausekönig auf allen Wegen und Stegen verfolgt. —

Doch nicht ich — Du, Du allein kannst ihn retten, sey standhaft und treu."

Weder Marie noch irgend jemand wußte, was Droßel-

meier mit diesen Worten sagen wollte, vielmehr kam es dem Me­ dizinalrath so sonderbar vor, daß er dem Obergerichtsrath an den Puls fühlte und sagte: „Sie haben, werthester Freund, starke Con­ gestionen nach dem Kopfe, ich will Ihnen etwas ausschreiben."

Nur die Medizinalräthin schüttelte bedächtlich den Kopf, und sprach

leise: „Ich ahne wohl, was der Obergerichtsrath meint, doch mit deutlichen Worten sagen kann ichs nicht." —

118 Der Sieg. Nicht lange dauerte es, als Marie in einer mondhellen Nacht

durch ein seltsames Poltern geweckt wurde, das aus einer Ecke des Zimmers zu kommen schien. hin

Es war, als würden kleine Steine

und her geworfen und gerollt,

quiekte es dazwischen.

und recht widrig pfiff und

Ach die Mause, die Mäuse kommen wieder,

ries Marie erschrocken, und wollte die Mutter wecken, aber jeder Laut stockte, ja sie vermochte kein Glied zu regen, als sie sah, wie

der Mausekönig sich durch ein Loch der Mauer hervor arbeitete, und endlich mit funkelnden Augen und Kronen im Zimmer herum,

dann aber mit einem gewaltigen Satz auf den kleinen Tisch, der dicht neben Mariens Bette stand, heraussprang.

„Hi — hi — hi —

mußt mir Deine Zuckererbsen — Deinen Marzipan geben, klein

Ding — sonst zerbeiß ich Deinen Nußknacker — Deinen Nuß­ knacker !" —

So pfiff Mausekönig, knapperte und knirschte dabei

schr häßlich mit den Zähnen, und sprang dann schnell wieder fort

durch das Mauerloch.

Marie war so geängstet von der graulichen

Erscheinung, daß sie den andern Morgen ganz blaß aussah, und, im

Innersten aufgeregt, kaum ein Wort zu reden vermochte. Hundert­

mal wollte sie der Mutter oder der Luise, oder wenigstens dem Fritz klagen, was ihr geschehen, aber sie dachte: Glaubts mir denn

einer, und-werd ich nicht obendrein tüchtig ausgelacht? —

Das

war ihr denn aber wohl klar, daß sie, um den Nußknacker zu retten, Zuckererbsen und Marzipan hergeben müsse.

So viel sie

davon besaß, legte sie daher den andern Abend hin vor der Leiste

119 des Schranks.

Am Morgen sagte die Medizinalräthin: Ich weiß

nicht, woher die Mäuse mit einem Mal in unser Wohnzimmer

kommen, sieh nur, arme Marie, sie haben Dir all' Dein Jucker­ werk aufgefreffen.

Wirklich war es so.

Den gefüllten Marzipan

hatte der gefräßige Mausekönig nicht nach seinem Geschmack ge­

funden, aber mit scharfen Zähnen benagt, so daß er weggeworfen

werden mußte.

Marie machte sich aber gar nichts mehr aus dem

Zuckerwerk, sondern war vielmehr im Innersten erfreut, da sie ihren Nußknacker gerettet glaubte.

Doch wie ward ihr, als in

der folgenden Nacht es dicht an ihren Ohren pfiff und quiekte. Ach, der Mausekönig war wieder da, und noch abscheulicher, als

in der vorvorigen Nacht, funkelten seine Augen, und noch widriger pfiff er zwischen den Zähnen.

„Mußt mir Deine Zucker-, Deine

Dragantpuppen geben, klein Ding, sonst zerbeiß ich Deinen Nuß­ knacker, Deinen Nußknacker," und damit sprang der grauliche Mause­

könig wieder fort! —

Marie war sehr betrübt, sie ging den an­

dern Morgen an den Schrank, und sah mit den wehmüthigsten

Blicken ihre Zucker- und Dragantpüppchen an.

Aber ihr Schmerz

war auch gerecht, denn nicht glauben magst Du's, meine aufmerk­

same Zuhörerin Marie! was für ganz allerliebste Figürchen aus Zucker oder Dragant geformt die kleine Marie Stahlbaum besaß. Nächstdem,

daß ein sehr hübscher Schäfer mit seiner Schäferin

eine ganze Heerde milchweißer Schäflein weidete, und dabei sein

munteres Hündchen herumsprang, so traten auch zwei Briefträger

mit Briefen in der Hand einher, und vier sehr hübsche Paare, sauber gekleidete Jünglinge mit überaus herrlich geputzten Mädchen

120 schaukelten sich in einer russischen Schaukel.

Hinter einigen Tän­

zern stand noch der Pachter Feldkümmel mit der Jungfrau von Orleans, aus denen sich Marie nicht viel machte, aber ganz im

Winkelchen

stand ein

Mariens Liebling,

rothbäckiges Kindlein,

die Thränen stürzten der kleinen Marie aus den Augen.

sie,

zu dem

„Ach,

Nußknacker wendend,

ach, lieber Herr

Droßelmeier, was will ich nicht alles thun,

um Sie zu ret­

rief

sich

ten; aber es ist doch sehr hart!" —

Nußknacker sah indessen so

weinerlich aus, daß Marie, da es überdieß ihr war, als sähe sie Mausekönigs sieben Rachen geöffnet, den unglücklichen Jüngling

zu verschlingen, alles aufzuopfern beschloß.

Alle Auckerpüppchen

setzte sie daher Abends, wie zuvor das Zuckerwerk, an die Leiste

des Schranks.

Sie küßte den Schäfer, die Schäferin, die Läm-

merchen, und holte auch zuletzt ihren Liebling, das kleine roth­

bäckige Kindlein Hon Dragant aus dem Winkel, welches sie jedoch ganz hinterwärts stellte.

Pachter Feldkümmel und die Jungfrau

von Orleans mußten in die erste Reihe.

„Nein das ist zu arg,

rief die Medizinalräthin am andern Morgen.

Es muß durchaus

eine große garstige Maus in dem Glasschrank Hausen, denn alle

schöne Auckerpüppchen der armen Marie sind zernagt und zerbissen."

Marie konnte sich zwar der Thränen nicht enthalten, sie lächelte aber doch bald wieder, denn sie dachte: Was thuts, ist doch Nuß­

knacker gerettet.

Der Medizinalrath sagte am Abend, als die Mut­

ter dem Obergerichtsrath von dem Unfug erzählte, den eine MauS im Glasschrank der Kinder treibe: es ist doch aber abscheulich,

daß wir die fatale Maus nicht vertilgen können, die im Glas-

121 schrank also ihr Wesen treibt, und der armen Marie alles Zucker­ werk wegfrißt.

„Ey, fiel Fritz ganz lustig ein: Der Becker un­

ten hat einen ganz vortrefflichen grauen Legationsrath, den will

ich heraufholen.

Er wird dem Dinge bald ein Ende machen, und

der Maus den Kopf abbeißen, ist sie auch die Frau Mauserinks

selbst, oder ihr Sohn, der Mausekönig."

Und, fuhr die Medizinal-

räthin lachend fort, auf Stühlen und Tischen herumspringen, und

Gläser und Tassen herabwerfen und tausend andern Schaden an­ richten.

„Ach nein doch, erwiederte Fritz, Beckers Legationsrath

ist ein geschickter Mann, ich möchte nur so zierlich auf dem spitzen

Dach gehen können, wie er."

„ Nur keinen Kater zur Nachtzeit,"

bat Luise, die keine Katzen leiden konnte. Medizinalrath hierauf,

„Eigentlich, sprach der

hat Fritz Recht, indessen können wir ja

auch eine Falle aufstellen, haben wir denn keine?" — „Die kann uns Pathe Droßelmeier am besten machen, der hat sie ja erfunden,"

rief Fritz.

Alle lachten, und auf die Versicherung der Medizinal-

räthin, daß keine Falle im Hause sey, verkündete der Obergerichts­ rath, daß er mehrere dergleichen besitze,

und ließ wirklich zur

Stunde eine ganz vortreffliche Mausfalle von Hause herbeiholen. Dem Fritz und der Marie ging nun des Pathen Mährchen von der harten Nuß ganz lebendig auf.

Als die Köchin den Speck

röstete, zitterte und bebte Marie, und sprach, ganz erfüllt von dem Mährchen und den Wunderdingen darin, zur wohlbekannten Dore: „Ach Frau Königin, hüten Sie sich doch nur vor der Frau Mau­ serinks und ihrer Familie."

Fritz hatte aber seinen Säbel gezogen

und sprach: „ja die sollten nur kommen, denen wollt' ich einsaus-

122 wischen."

Es blieb aber alles unter und auf dem Heerde ruhig.

Als nun der Obergerichtsrath den Speck an ein feines Fädchen

band, und leise, leise die Falle an den Glasschrank setzte, da rief Fritz: „Nimm dich in Acht, Pathe Uhrmacher, daß Dir Mause­

könig keinen Possen spielt." — Ach wie ging es der armen Marie in der folgenden Nacht!

Eiskalt tupfte es auf ihrem Arm hin

und her, und rauh und ekelhaft legte es sich an ihre Wange, und piepte und quiekte ihr ins Ohr. —

Der abscheuliche Mauskönig

saß auf ihrer Schulter, und blutroth geiferte es aus den sieben geöffneten Rachen, und mit den Zähnen knatternd und knirschend zischte er der vor Grauen und Schreck erstarrten Marie ins Ohr:

„Zisch aus — zisch aus, geh' nicht ins Haus — geh' nicht zum Schmaus — werd' nicht gefangen — zisch aus — gieb heraus,

gieb heraus, Deine Bilderbücher all, Dein Kleidchen dazu, sonst hast keine Ruh — magsts nur wissen, Nußknackerlein wirst sonst

missen, der wird zerbissen — hi hi — pi pi — quiek quiek!" — Nun war Marie voll Jammer und Betrübniß — sie sah ganz blaß und verstört aus, als die Mutter am andern Morgen sagte:

Die böse Maus hat sich noch nicht gefangen, so daß die Mutter in dem Glauben, daß Marie um ihr Zuckerwerk traure, und sich

überdieß vor der Maus fürchte, hinzufügte: „Aber sey nur ruhig,

liebes Kind, die böse Maus wollen wir schon vertreiben.

Helfen

die Fallen nichts, so soll Fritz seinen grauen Legationsrath herbei­

bringen."

Kaum befand sich Marie im Wohnzimmer allein, als

sie vor den Glasschrank trat, und schluchzend also zum Nußknacker

sprach: „Ach, mein lieber, guter Herr Droßelmeier, was kann ich

123 armes, unglückliches Mädchen für Sie thun? — Gäb ich nun auch alle meine Bilderbücher, ja selbst mein schönes, neues Kleidchen, das mir der heilige Christ einbescheert hat, dem abscheulichen Mause­

könig zum Zerbeißen her, wird er denn nicht doch noch immer mehr verlangen, so daß ich zuletzt nichts mehr haben werde, und

er gar mich selbst statt Ihrer zerbeißen wollen wird? —

O ich

armes Kind, was soll ich denn nun thun — was soll ich denn nun thun?" — Als die kleine Marie so jammerte und klagte, bemerkte

sie, daß dem Nußknacker von jener Nacht her ein großer Blutfleck am Halse sitzen geblieben war.

Seit der Zeit, daß Marie wußte, wie

ihr Nußknacker eigentlich der junge Droßelmeier, des Obergerichts­ raths Neffe sey, trug sie ihn nicht mehr auf dem Arm, und herzte und küßte ihn nicht mehr, ja sie mochte ihn aus einer gewissen Scheu gar nicht einmal viel anrühren; jetzt nahm sie ihn aber sehr behutsam aus dem Fache, und sing an, den Blutfleck am Halse

mit ihrem Schnupftuch abzureiben.

Aber wie ward ihr, als sie

plötzlich fühlte, daß Nußknackerlein in ihrer Hand erwärmte, und

sich zu regen begann.

Schnell setzte sie ihn wieder ins Fach, da

wackelte das Mündchen hin und her, und mühsam lispelte Nuß­ knackerlein: „Ach, wertheste Demoiselle Stahlbaum — vortreffliche

Freundin, was verdanke ich Ihnen alles — Nein, kein Bilderbuch,

kein Christkleidchen sollen Sie für mich opfern — schaffen sie nur ein Schwerdt — ein Schwerdt, für das Uebrige will ich sorgen,

mag er —" Hier ging dem Nußknacker die Sprache aus, und seine erst zum Ausdruck der innigsten Wehmuth beseelten Augen wurden wieder starr und leblos.

Marie empfand gar kein Grauen, viel-

124 mehr hüpfte sie vor Freuden, da sie nun ein Mittel wußte, den

Nußknacker

ohne weitere schmerzhafte Aufopferungen

zu

retten.

Aber wo nun ein Schwerdt für den Kleinen hernehmen? — Marie beschloß, Fritzen zu Rathe zu ziehen, und erzählte ihm Abends,

als sie, da die Eltern ausgegangen, einsam in der Wohnstube am Glasschranke saßen, alles, was ihr mit dem Nußknacker und dem Mausekönig widerfahren, und worauf es nun ankomme', den Nuß­ knacker zu retten.

Ueber nichts wurde Fritz nachdenklicher, als

darüber, daß sich, nach Mariens Bericht, seine Husaren in der Schlacht so schlecht benommen haben sollten.

Er fragte noch einmal

sehr ernst, ob es sich wirklich so verhalte, und nachdem es Marie

auf ihr Wort versicherte,

schrank,

so ging Fritz schnell nach dem Glas­

hielt seinen Husaren eine pathetische Rede,

und schnitt

dann, zur Strafe ihrer Selbstsucht und Feigheit, einem nach dem andern das Feldzeichen von der Mütze, und untersagte ihnen auch, binnen einem Jahr den Gardehusarenmarsch zu blasen.

er sein Strafamt vollendet, wandte er sich wieder

Nachdem

zu Marien,

sprechend: „Was den Säbel betrifft, so kann ich dem Nußknacker

helfen, da ich einen alten Obristen von den Cürassiers gestern mit Pension in Ruhestand versetzt habe, der folglich seinen schönen schar­

fen Säbel nicht mehr braucht." Besagter Obrister verzehrte die ihm

von Fritzen angewiesene Pension in der hintersten Ecke des dritten Faches.

Dort wurde er hervorgeholt, ihm der in der That schmucke

silberne Säbel abgenommen, und dem Nußknacker umgehängt. Vor bangem Grauen konnte Marie in der folgenden Nacht

nicht einschlafen,

es war ihr um Mitternacht so, als höre sie im

125 Wohnzimmer ein seltsames Rumoren, Klirren und Rauschen. —

Mit einem Male ging es:

Quiek! —

Der Mausekönig! der

Mausekönig! rief Marie, und sprang voll Entsetzen aus dem Bette. Alles blieb still $ aber bald klopfte es leise, leise an die Thüre, und ein seines Stimmchen ließ sich vernehmen:

„Allerbeste Demoiselle

Stahlbaum, machen Sie nur getrost auf — gute, fröhliche Bothschast!"

Marie erkannte

die Stimme des jungen Droßelmeier,

warf ihr Röckchen über, und öffnete flugs die Thüre.

lein stand draußen,

das blutige Schwerdt in

Wachslichtchen in der linken Hand.

Nußknacker­

der rechten,

ein

So wie er Marien erblickte,

ließ er sich auf ein Knie nieder, und sprach also: „Ihr, o Dame! seid es allein, die mich mit Rittermuth stählte, und meinem Arme

Kraft gab, den Uebermüthigen zu bekämpfen, der es wagte, Euch zu höhnen.

Ueberwunden liegt der verrätherische Mausekönig und

wälzt sich in seinem Blute! — Wollet, o Dame! die Zeichen des

Sieges aus der Hand

Ritters anzunehmen

Euers Euch

bis

nicht verschmähen!"

in

den Lod ergebenen

Damit streifte Nuß­

knackerchen die sieben goldnen Kronen des Mausekönigs, die er auf den linken Arm heraufgestreist hatte, sehr geschickt herunter, und

überreichte sie Marien, welche sie voller Freude annahm.

Nuß­

knacker stand auf, und fuhr also fort: „Ach, meine allerbeste De­

moiselle Stahlbaum, was könnte ich in diesem Augenblick, da ich

meinen Feind überwunden, Sie für herrliche Dinge schauen lassen,

wenn. Sie die Gewogenheit hätten, chen zu folgen! —

moiselle! —

mir nur ein Paar Schritt-

O thun Sie es — thun Sie es, beste De­

126 Das PuppenreLch. Ich glaube, deins von Euch, ihr Kinder, hatte auch nur einen

Augenblick angestanden, dem ehrlichen gutmüthigen Nußknacker, der nie Böses im Sinn haben konnte, zu folgen.

Marie that dies um

so mehr, da sie wohl wußte, wie sehr sie auf Nußknackers Dank­

barkeit Anspruch machen könne, und überzeugt war, daß er Wort

hatten, und viel Herrliches ihr zeigen werde.

Sie sprach daher:

»,2ch gehe mit Ihnen, Herr Droßelmeier, doch muß es nicht weit seyn, und nicht lange dauern, da ich ja noch gar nicht ausgeschla­ fen habe."

„Ich wähle deshalb, erwiederte Nußknacker, den näch­

sten, wiewohl etwas beschwerlichen Weg.

Er schritt voran, Marie

ihm nach, bis er vor dem alten mächtigen Kleiderschrank auf dem Hausflur stehen blieb.

Marie wurde zu ihrem Erstaunen gewahr,

daß die Thüren dieses sonst wohl

verschlossenen Schranks offen

standen, so daß sie deutlich des Baters Reisefuchspelz erblickte, der

ganz vorne hing.

Nußknacker kletterte sehr geschickt an den Leisten

und Berzieruungen herauf, bis er die große Troddel, die, an einer

dicken Schnur befestigt, auf dem Rücktheile jenes Pelzes hing, er­ fassen konnte.

So wie Rußknacker diese Troddel stark anzog, ließ

sich schnell eine sehr zierliche Treppe von Jederholz durch den Pelz­ ärmel herab.

„Steigen Sie nur gefälligst aufwärts, theuerste De-

moiselle," rief Nußknacker.

Marie that es, aber kaum war sie

durch den Ermel gestiegen, kaum sah sie zum Kragen heraus, als

blendendes Licht ihr.entgegenstrahlte, und sie mit einem Mal auf einer herrlich duftenden Wiese stand, von der Millionen Funken,

127 wie blinkende Edelsteine empor strahlten. der CandisDiese,

Thor passiren."

sprach Nußknacker,

„Wir befinden uns auf

wollen aber alsbald jenes

Nun wurde Marie, indem sie aufblickte, erst das

schöne Thor gewahr,

welches sich nur wenige Schritte vorwärts

auf der Wiese erhob. Es schien ganz von weiß, braun und rosinfarbcn gesprenkeltem Marmor erbaut zu seyn, aber als Marie näher

kam, sah sie wohl, daß die ganze Masse aus zusammengebackenen

Juckermandeln und Rosinen bestand, weshalb denn auch, wie Nuß­

knacker versicherte, das Thor, durch welches sie nun durchgingen, das Mandeln- und Rosinenthor hieß.

Gemeine Leute hießen es

sehr unziemlich die Studentenfutterpforte. bauten Gallerie dieses Thors,

2Cuf einer herausge­

augenscheinlich aus Gerstenzucker,

machten sechs in rothe Wämserchen gekleidete Aeffchen die aller­

schönste Janitscharenmusik, die man hören konnte, so daß Marie kaum bemerkte, wie sie immer weiter, weiter auf bunten Marmor­

fliesen, die aber nichts anders waren, als schön gearbeitete Morschellen, fortschritt.

Bald umwehten sie die süßesten Gerüche, die aus einem

wunderbaren Wäldchen strömten, das sich von beiden Seiten auf-

that.

In dem dunklen Laube glänzte und funkelte es so hell her­

vor, daß man deutlich sehen konnte, wie goldne und silberne Früchte

an buntgesärbtcn Stengeln herabhingen, und Stamm und Aeste sich mit Bändern und Blumensträußen geschmückt hatten, gleich fröh­

lichen Brautleuten und lustigen Hochzeitsgästen.

Und wenn die

Orangendüfte sich wie wallende Jephyre rührten, da sauste es in

den Iweigcn und Blättern, und das Rauschgold knitterte und knat­ terte, daß es klang wie jubelnde Musik, nach der die funkelnden

128 Lichterchen Hüpfen und tanzen müßten.

„Ach^vie schön ist es hier,"

rief Marie ganz seelig und entzückt.

„ Wir sind im Weihnachts­

walde, beste Demoiselle," sprach Nußknackerlein.

„Ach, fuhr Marie

fort, dürst' ich hier nur etwas verweilen, o es ist ja hier gar zu schön."

Nußknacker klatschte in die kleinen Händchen und sogleich

kamen einige kleine Schäfer und Schäferinnen, Jäger und Jäge­

rinnen herbei, die so zart und weiß waren, daß man hätte glauben sollen, sie wären von purem Zucker und die Marie, unerachtet sie

im Walde umher spazierten, noch nicht bemerkt hatte.

Sie brach­

ten einen allerliebsten, ganz goldenen Lehnsessel herbei, legten ein

weißes Kiffen von Reglisse darauf, und luden Marien sehr höflich ein, sich darauf niederzulassen.

Kaum hatte sie es gethan, als

Schäfer und Schäferinnen ein sehr artiges Ballet tanzten, wozu die Jäger ganz manierlich bliesen; dann verschwanden sie aber alle

in dem Gebüsch.

„Verzeihen Sie, sprach Nußknacker, verzeihen

Sie, wertheste Demoiselle Stahlbaum, daß der Tanz so miserabel aussiel, aber die Leute waren alle von unserm Drathballet, die können nichts anders machen als immer und ewig dasselbe;

und daß die

Jäger so schläfrig und flau dazu bliesen, das hat auch seine Ursachen.

Der Auckerkorb hängt zwar über ihrer Nase in den Weihnachts­ bäumen, aber etwas hoch! — ges weiter spatzieren?"

Doch wollen wir nicht was weni­

„Ach es war doch alles recht hübsch und

mir hat es sehr wohl gefallen!" so sprach Marie, indem sie auf­ stand, und dem voranschreitenden Nußknacker folgte.

Sie

gingen

entlang eines süß rauschenden, flüsternden Baches, aus dem

nun

eben all' die herrlichen Wohlgerüche zu duften schienen, die den

129 ganzen Wald erfüllten.

Es ist der Orangenbach, sprach Nußknacker

aus Befragen, doch, seinen schönen Dust ausgenommen, gleicht er

nicht an Größe und Schönheit dem Limonadenstrom, der sich gleich ihm in den Mändelmilchsee ergießt.

In der That vernahm Marie

bald ein stärkeres Plätschern und Rauschen und erblickte den brei­

ten Limonadenstrom, der sich in stolzen isabellfarbenen Wellen zwischen gleich grün glühenden Karfunkeln leuchtendem Gesträuch fort­

kräuselte.

Eine ausnehmend frische, Brust und Herz stärkende Küh­

lung wogte aus dem herrlichen Wasser.

Nicht weit davon schleppte

sich mühsam ein dunkelgelbes Wasser fort, das aber ungemein süße Düste verbreitete und an dessen Ufer allerlei sehr hübsche Kinderchen

saßen, welche kleine dicke Fische angelten und sie alsbald verzehrten. Näher gekommen bemerkte Marie, daß diese Fische aussahen wie

Lampertsnüffe.

In einiger Entfernung lag ein sehr nettes Dörf­

chen an diesem Strome; Häuser, Kirche, Pfarrhaus, Scheuern, alles war dunkelbraun, jedoch mit goldenen Dächern geschmückt, auch waren viele Mauern so- bunt gemalt, alS seyen Citronat und Man­

delkerne darauf geklebt.

„Das ist Pfefferkuchheim,

sagte Nuß­

knacker, welches am Honigstrome liegt, es wohnen ganz hübsche Leute darin, aber sie sind meistens verdrießlich, weil sie sehr an

Zahnschmerzen leiden, wir wollen daher nicht erst hineingehen." In dem Augenblick bemerkte Marie ein Städtchen, das aus lauter bun­

ten durchsichtigen Häusern bestand und sehr hübsch anzusehen war.

Nußknacker ging geradezu darauf los und nun hörte Marie ein tolles

lustiges Getöse und sah, wie tausend niedliche kleine Leutchen viele hochbepackte Wagen, die aüf dem Markte hielten, untersuchten und

9

130 abzupacken im Begriff standen.

Was sie aber hervorbrachten, war

anzusehen wie buntes gefärbtes Papier und wie Chokolade-Tafeln. „Wir sind in Bonbonshausen, sagte Nußknacker, eben ist eine Sen­

kung aus dem Papierlande und vom Chokoladen-Könige angekom­ men."

Die armen Bonbonshäuser wurden neulich von der Armee

des Mücken - Admirals

hart bedroht,

deshalb überziehen sie ihre

Häuser mit den Gaben des Papierlandes und führen Schanzen auf von den tüchtigen Werkstücken, sandte.

die ihnen der Chokoladen-König

Aber, beste Demoiselle Stahlbaum, nicht alle kleinen Städte

und Dörfer dieses Landes wellen wir besuchen — zur Hauptstadt — zur Hauptstadt! —

Rasch eilte Nußknacker vorwärts und Marie

voller Neugierde ihm nach.

Nicht lange dauerte es, so stieg ein

herrlicher Rosenduft auf und alles war wie von einem sanften hin­ hauchenden Rosenschimmer umflossen.

Marie bemerkte, daß dies der

Wiederschein eines rosenroth glänzenden Wassers war, das in klei­

nen rosasilbernen Wellchen vor ihnen her wie in wunderlieblichen Tönen und Melodien plätscherte und rauschte.

Auf diesem anmu-

thigen Gewässer, das sich immer mehr und mehr wie ein großer See ausbreitete, schwammen sehr herrliche silberweiße Schwäne mit

goldnen Halsbändern, und sangen mit einander um die Wette die hübschesten Lieder, wozu diamantne Fischlcin aus den Rosenfluthen auf - und niedertauchten, wie im lustigen Tanze.

„Ach, rief Marie

ganz begeistert aus, ach, das ist der See, wie ihn Pathe Droßel-

meier mir einst machen wollte, wirklich, und ich selbst bin das Mädchen, das mit den lieben Schwänchen kosen wird. ”

Nußknacker­

lein lächelte so spöttisch, wie es Marie noch niemals an ihm bemerkt

131 hatte, und sprach dann: „So etwas kann denn doch wohl der Onkel

niemals zu Stande bringen; Sie selbst viel eher, liebe Demoiselle

Stahlbaum, doch lassen Sie uns darüber nicht grübeln, sondern

vielmehr über den Rosensee hinüber nach der Hauptstadt schiffen."

Die Hauptstadt. Nußknackerlein klatschte abermals in die kleinen Händchen, da

sing der Rosensee an stärker

zu rauschen, die Wellen plätscherten

höher auf, und Marie nahm wahr, wie aus der Ferne ein aus

lauter bunten, sonnenhell funkelnden Edelsteinen geformter Muschel­ wagen,

von zwei goldschuppigen Delphinen

gezogen, sich nahte.

Zwölf kleine allerliebste Mohren mit Mützchen und

Schürzchen,

aus glänzenden Kolibrifedern gewebt, sprangen ans Ufer und tru­

gen erst Marien, dann Nußknackern sanft über die Wellen gleitend,

in den Wagen, der sich alsbald durch den See fortbewegte.

Ei,

wie war das schön, als Marie im Muschelwagen, von Rosenduft

umhaucht, von Rosenwellen umflossen, so dahin fuhr.

Die beiden

goldschuppigen Delphine erhoben ihre Nüstern und spritzten kry­

stallene Strahlen hoch in die Höhe, und wie die in flimmernden

und funkelnden Bogen niederfielen, da war es, als sängen zwei holde feine Silberstimmchen: „Wer schwimmt auf rosigem See? — die Fee!

Mücklein!

bim bim Fischlein,

sim sim — Schwäne!

Schwa schwa, Goldvogel! trarah, Wellen - Ströme, — rührt Euch,

klinget, singet, wehet, spähet — Feelein, Feelein kommt gezogen; Rosenwogen, wühlet, kühlet, spület — spült hinan — hinan!" —

Aber die zwölf kleinen Mohren, die hinten auf den Muschelwagen 9*

132 aufgesprungen waren, schienen das Gesinge der Wasserstrahlen or­

dentlich übel zu nehmen, denn sie schüttelten ihre Sonnenschirme

so sehr, daß die Dattelblätter, aus denen sie geformt waren, durch

einander knitterten und knatterten,

und dabei stampften sie mit

den Füßen einen ganz seltsamen Takt und sangen: „Klapp und klipp und klipp und klapp, auf und ab — Mohrenreigen darf

nicht schweigen; rührt Euch, Fische — rührt Euch, Schwäne» dröhne, Muschelwagen, dröhne, klapp und klipp und klipp und klapp und auf und ab!" —

„Mohren sind gar lustige Leute, sprach Nuß­

knacker etwas betreten, aber sie werden mir den ganzen See rebel­

lisch machen."

In der That ging auch bald ein sinnverwirrendes

Getöse wunderbarer Stimmen los, die in See und Luft zu schwim­

men schienen; doch Marie achtete dessen nicht, sondern sah in die duftenden Rosenwellen, aus deren- jeter ihr ein holdes unmuthiges

Mädchenantlitz entgegenlächelte.

„Ach, rief sie freudig, indem sie

die kleinen Händchen zusammenschlug: Ach schauen Sie nur, lieber Herr Droßelmeier!

Da unten ist die Prinzessin Pirlipat, die lä­

chelt mich an so wunderhold. —-

Herr Droßelmeier!" —

Ach, schauen sie doch nur, lieber

Nußknacker seufzte aber fast kläglich und

sagte: „O beste Demoiselle Stahlbaum, das ist nicht die Prinzessin Pirlipat, das sind Sie und immer nur Sie selbst, immer nur ihr

eignes holdes Antlitz, das so lieb aus jeder Rpsenwelle lächelt." Da

fuhr Marie schnell mit dem Kopf zurück, schloß die Augen fest zu und schämte sich sehr.

In demselben Augenblick wurde sie auch

von den zwölf Mohren aus dem Muschelwagen gehoben und an das Land getragen.

Sie befand sich in einem kleinen Gebüsch, das

133 beinahe noch schöner war als der WeihnachLswald, so glanzte und funkelte alles darin, vorzüglich waren aber die seltsamen Früchte

zu bewundern, die an allen Bäumen hingen, und nicht allein fette fern gefärbt waren, sondern auch ganz wunderbar dufteten.

„Wir

sind im Confiturenhain, sprach Nußknacker, aber dort ist die Haupt­ stadt."

Was erblickte Marie nun!

Wie werde ich eS denn anfan-

gen, Euch, Ihr Kinder, die Schönheit und Herrlichkeit der Stadt zu beschreiben, die sich jetzt breit über einen reichen Blumenanger

hin vor Mariens Augen austhat.

Nicht allein daß Mauern und

Thürme in den herrlichsten Farben prangten, so war auch wohl,

was die Form der Gebäude anlangt, gar nicht- sehnliches auf Er­ den zu finden.

Denn statt der Dächer hatten die Häuser zierlich

geflochtene Kronen aufgesetzt, und die Thürme sich mit dem zier­

lichsten, buntesten Laubwerk gekränzt, das man nur sehen kann. Als

sie durch das Thor, welches so aussah, als sey es von lauter Ma­ kronen und überzuckerten Früchten erbaut, gingen, präsentirten sil­ berne Soldaten das Gewehr und ein Männlein in einem brokat-

nen Schlafrock warf sich dem Nußknacker um den Hals mit den

Worten: „Willkommen, bester Prinz, willkommen in Confektburg! ” Marie wunderte sich nicht wenig, als sie merkte, daß der junge Droßelmeier von einem sehr vornehmen Mann als Prinz anerkannt wurde.

Nun hörte sie aber so viel feine Sümmchen durch einan­

der toben, solch ein Gejauchze und Gelächter, solch ein Spielen und Singen, daß sie an nichts anders denken konnte, sondern nur gleich

Nußknackerchen frug, was denn das zu bedeuten habe?

,.O beste

Demoiselle Stahlbaum, erwiederte Nußknacker: das ist nichts Be-

134 sonders, Conftktburg ist eine volkreiche, lustige Stadt, da gehts alle Tage so herz kommen Sie aber nur gefälligst weiter."

Kaum

waren sie einige Schritte gegangen, als sie auf den großen Markt­ platz kamen, der den herrlichsten Anblick gewährte.

Alle Häuser

rings umher waren von durchbrochener Zuckerarbeit, Gallerie über Gallerie gethürmt, in der Mitte stand ein hoher überzuckerter Baum­

kuchen als Obelisk und um ihn her sprützten vier sehr künstliche Fontaine» Orsade, Limonade und andere herrliche, süße Getränke

in die Lüste; und in dem Becken sammelte sich lauter Kreme, die

man gleich hätte auslösstln mögen.

Aber hübscher, als alles das,

waren die allerliebsten kleinen Leutchen, die sich zu Tagenden Kopf

an Kopf durch einander drängten und juchzten und lachten und scherzten und sangen, kurz jenes lustige Getöse erhoben, das Marie

schon in der Ferne gehört hatte.

Da gab es schön gekleidete Her­

ren und Damen, Armenier und Griechen,

Juden und Tyroler,

Offiziere und Soldaten, Prediger, Schäfer und Hanswürste, kurz alle nur mögliche Leute, wie sie in der Welt zu finden sind.

An

der einen Ecke wurde größer der Tumult, das Volk strömte aus

einander, denn eben ließ sich der Großmogul auf einem Palankin vorüber tragen, begleitet von drei und neunzig Großen des Reichs und siebenhundert Sklaven.

Es begab sich aber, daß an der an­

dern Ecke die Fischerzunft, an fünfhundert Köpfe stark, ihren Fest­ zug hielt und übel war es auch, daß der türkische Großherr ge­

rade den Einfall hatte, mit dreitausend Janitschar.en über den Markt spatzieren zu reiten, wozu noch der große Aug aus dem unterbro­

chenen Opferfeste kam, der mit klingendem Spiel und dem Gesänge:

135 Auf danket der mächtigen Sonne, gerade auf den Baumkuchen zu

wallte. Gequieke!

Das war ein Drängen und Stoßen und Treiben und —

Bald

gab

es

auch viel Jammergeschrei,

denn

ein Fischer hatte im Gedränge einem Bramin den Kopf abgesto­ ßen und der Großmogul wäre beinahe von einem Hanswurst über­

rannt worden.

Toller und toller wurde der Lärm und man fing

bereits an sich zu stoßen und zu prügeln,

als der Mann im bro-

katnen Schlafrock, der am Thor den Nußknacker als Prinz be­ grüßt hatte, auf den Baumkuchen kletterte, und nachdem eine sehr

hell klingende Glocke dreimal angezogen worden, dreimal laut rief: Conditor! Conditor! — Conditor! —

Sogleich legte sich der Tu­

mult; ein Jeder suchte sich zu behelfen, wie er konnte, und nachdem

die verwickelten Züge sich entwickelt hatten, der besudelte Großmo­

gul abgebürstet, und dem Bramin der Kopf wieder aufgesetzt wor­ den, ging das vorige lustige Getöse aufs neue los.

„Was bedeu­

tet das mit dem Conditor, guter Herr Droßelmeier, ” frug Ma­ rie.

„Ach beste Demoiselle Stahlbaum,

erwiederte Nußknacker:

Conditor wird hier eine unbekannte, aber sehr grauliche Macht ge­

nannt, von der man glaubt, daß sie aus dem Menschen machen

könne, was sie wolle; es ist das Verhängniß, welches über dies kleine lustige Volk regiert,

und sie fürchten dieses so sehr, daß

durch die bloße Nennung des Namens der größte Tumult gestillt werden kann, wie es eben der Herr Bürgermeister bewiesen hat.

Ein Jeder denkt dann nicht mehr an Irdisches, an Rippenstöße und

Kopfbeulen, sondern geht in sich und spricht: Was ist der Mensch und was kann aus ihm werden?" —

Eines lauten Rufs derBe-

136 wunderung, ja des höchsten Erstaunens konnte sich Marie nicht

enthalten, als sie jetzt mit einem Mal vor einem in rosenrothem

Schimmer hell leuchtenden Schlosse mit hundert lustigen Thürmen stand.

Nur hin und wieder waren reiche Bouquets von Veilchen,

Narzissen, Tulpen, Levkoyen auf die Mauern gestreut, deren dun­

kel brennende Farben nur die blendende, ins Rosa spielende Weiße des Grundes erhöhten.

Die große Kuppel des Mittel-Gebäudes,

so wie die pyramidenförmigen Dächer der Thürme, waren mit tau­

send golden und silbern funkelnden Sternlein besäet. vor dem Marzipanschloß," sprach Nußknacker.

„Nun sind wir

Marie war ganz

verloren in dem Anblick des Zauberpallastes, doch entging es ihr nicht, daß das Dach eines großen Thurmes gänzlich fehlte, welches kleine Männerchen, die auf einem von Zimmtstangen erbauten Ge­ wiederherstellen zu wollen schienen.

Noch ehe sie

den Nußknacker darum befragte, fuhr dieser fort.

„Vor kurzer

rüste standen,

Zeit drohte diesem schönen Schloß arge Verwüstung, wo nicht gänz­

licher Untergang.

Der Riese Leckermaul kam des Weges gegan­

gen, biß schnell das Dach jenes Thurmes herunter und nagte schon

an der großen Kuppel; die Confektbürger brachten ihm aber ein

ganzes Stadtviertel, so wie einen ansehnlichen Theil des Consitu-

renhains als Tribut, womit er sich abspeisen ließ und weiter ging." In dem Augenblick ließ sich eine sehr angenehme sanfte Musik hö­

ren,

die Thore des Schlosses öffneten sich und es traten zwölf

kleine Pagen heraus mit angezündeten Gewürznelkstengeln, die sie wie Fackeln in den kleinen Händchen trugen.

Ihre Köpfe bestan­

den aus einer Perle, die Leiber aus Rubinen und Smaragden und

137 dazu gingen sie auf sehr schön aus purem Gold gearbeiteten Füß­ chen einher.

Ihnen folgten vier Damen, beinahe so gvoß als Ma­

riens Klärchen, aber so über die Maßen herrlich und glänzend ge­

putzt, daß Marie nicht einen Augenblick in ihnen die gebornen Prin­ zessinnen verkannte.

Sie umarmten den Nußknacker auf das Zärt­

lichste und riefen dabei wehmüthig freudig: „£> mein Prinz — mein

bester Prinz! — o mein Bruder!" Nußknacker schien sehr gerührt, er wischte sich die sehr häufigen Thränen aus dm Äugen, ergriff

dann Marien bei der Hand und sprach pathetisch: „Dies ist die Demoiselle Marie Stahlbaum, die Tochter

eines sehr achtungs-

werthen Medizinalraths, und die Retterin meines Lebens!

Warf

sie nicht den Pantoffel zur rechten Zeit, verschaffte sie mir nicht den Säbel des pensionirten Obristen, so läge ich, zerbissen von dem

fluchwürdigen Mausekönig, im Grabe. —

O! dieser Demoiselle

Stahlbaum, gleicht ihr wohl Pirlipat, obschon sie eine geborne

Prinzessin ist, an Schönheit, Güte und Tugend? —

nein!”

Nein, sag ich,

Alle Damen riefen: Rein! und fielen der Marie um den

Hals und riefen schluchzend: „O Sie edle Retterin des geliebten

prinzlichen Bruders — vortreffliche Demoiselle Stahlbaum!” — Nun geleiteten die Damen Marien und den Nußknacker in das In­

nere des Schlosses, und zwar in einen Saal, dessen Wände aus

lauter farbig funkelnden Krystallen

bestanden.

Was aber vor

allem Uebrigen der Marie so wohl gefiel, waren die* allerliebsten kleinen Stühle, Tische, Commoden, Sekretärs u. s. w., die rings umher standen, und die alle von Zedern- oder Brasilienholz mit darauf gestreuten goldnen Blumen verfertigt waren.

Die Prin-

138 zesstnnen nöthigten Marien und den Nußknacker zum Sitzen, und

sagten,

daß sie sogleich selbst ein Mahl bereiten wollten.

Nun

holten sie eine Menge kleiner Töpfchen und Schüsselchen von dem feinsten japanischen Porzellan, Löffel, Messer und Gabeln, Reib­

eisen, Kasserollen und andere Küchenbedürfnisse von Gold und Sil­

ber herbei.

Dann brachten sie die schönsten Früchte und Jucker­

werk, wie es Marie noch niemals gesehen hatte, und fingen an, auf das Zierlichste mit den kleinen schneeweißen Händchen die Früchte

auszupressen, das Gewürz zu stoßen, die Juckermandeln zu reiben,

kurz, so zu wirthschaften, daß Marie wohl einsehen konnte, wie gut

sich die Prinzessinen auf das Küchenwesen verstanden, und was das für ein köstliches Mahl geben würde.

Im lebhaften Gefühl, sich

auf dergleichen Dinge ebenfalls recht gut zu verstehen, wünschte sie heimlich, bei dem Geschäft der Prinzessinnen selbst thätig seyn zu

können.

Die schönste von Nußknackers Schwestern, als ob sie Ma­

riens geheimen Wunsch

errathen hätte, reichte ihr einen

kleinen

goldnen Mörser mit den Worten hin: „O süße Freundin, theure Retterin meines Bruders, stoße eine Wenigkeit von diesem Juckerkandel!"

Als Marie nun so wohlgemuth

in den Mörser stieß,

daß er gar unmuthig und lieblich, wie ein hübsches Liedlein ertönte, fing Nußknacker an sehr weitläuftig zu erzählen, wie es bei der

grausenvollen Schlacht zwischen seinem und des Mausekönigs Heer er­ gangen, wie er der Feigheit seiner Truppen halber geschlagen wor­

den,

wie dann der abscheuliche Mausekönig ihn durchaus zerbeißen

wollen, und Marie deshalb mehrere seiner Unterthanen, die in ihre Dienste gegangen, aufopfern müssen u. s. w.

Marien war es bei

139 dieser Erzählung, als klängen seine Worte, ja selbst ihre Mörser­

stöße,

immer ferner und unvernehmlicher,

bald sah sie silberne

Flöre wie dünne Nebelwolken aufsteigen, in denen die Prinzessin­

nen — die Pagen, der Nußknacker, ja sie selbst schwammen — ein

seltsames Singen und Schwirren und Summen ließ sich verneh­ men, das wie in die Weite hin verrauschte; nun hob sich Marie wie auf steigenden Wellen immer höher und höher — höher und höher — höher und höher —

Beschluß. Prr — Puff ging es! — Marie fiel herab aus unermeßlicher

Höhe. —

Das war ein Ruck! —

Aber gleich schlug sie auch

die Augen auf, da lag sie in ihrem Bettchen, es war heller Tag,

und die Mutter stand vor ihr, sprechend: „Aber wie kann man

auch so lange schlafen, längst ist das Frühstück da!"

Du merkst

es wohl, versammeltes, höchst verehrliches Publikum, daß Marie

ganz betäubt von all den Wunderdingen, die sie gesehen, endlich im Saal des Marzipanschloffes

eingeschlafen war,

und daß die

Mohren, oder die Pagen, oder gar die Prinzessinnen selbst, sie zu Hause getragen, und ins Bette gelegt hatten.

„O Mutter, liebe

Mutter, wo hat mich der junge Herr Droßelmeier diese Nacht überall hingeführt, was habe ich alles Schönes gesehen!"

Nun

erzählte sie alles beinah so genau, wie ich es so eben erzählt habe, und die Mutter sah sie ganz verwundert an.

Als Marie geendet,

sagte die Mutter: „Du hast einen langen, sehr schönen Traum ge­

habt, liebe Marie, aber schlage Dir das Alles nur aus dem Sinn."

140 Marie bestand hartnäckig darauf, daß sie nicht geträumt, sondern alles wirklich gesehen habe, da führte die Mutter sie an den Glas­ schrank, nahm den Nußknacker, der, wie gewöhnlich, im dritten

Fache stand, heraus, und sprach:

„Wie kannst Du, Du albernes

Mädchen, nur glauben, daß diese Nürnberger Holzpuppe Leben und Bewegung haben kann."

„Aber liebe Mutter, fiel Marie ein,

ich weiß es ja wohl, daß der kleine Nußknacker,

der junge Herr

Droßelmeier aus Nürnberg, Pathe Droßelmeiers Neffe ist."

Da

brachen Beide, der Medizinalrath und die Medizinalräthin, in ein

„Ach, fuhr Marie beinah weinend fort:

schallendes Gelächter aus.

nun lachst Du gar meinen Nußknacker aus, lieber Vater! und er hat doch von Dir sehr gut gesprochen, denn als wir im Marzipan­

schloß ankamen, und er mich seinen Schwestern, den Prinzessinnen,

vorstellte, sagte er, Du seyst ein sehr achtungswerther Medizinal­ rath!" —

Noch stärker wurde das Gelächter, in das auch Luffe,

ja sogar Fritz einstimmte. holte

schnell aus ihrem

Da lies Marie ins andere Zimmer,

kleinen Kästchen

die

sieben Kronen des

Mausekönigs herbei, und überreichte sie der Mutter mit den Wor­ ten:

„Da sieh nur, liebe Mutter, das sind die sieben Kronen

des Mausekönigs, die mir in voriger Nacht der junge Herr Droßel­

meier zum Zeichen seines Sieges überreichte."

Voll Erstaunen be­

trachtete die Medizinalräthin die kleinen Krönchen, die von einem

ganz unbekannten, aber sehr funkelnden Metall so sauber gearbeitet

waren, als hätten Menschenhände das unmöglich vollbringen können.

Auch der Medizinalrath konnte sich nicht satt sehen an den Krön­ chen, und Beide, Vater und Mutter, drangen sehr ernst in Marien,

141 zu gestehen, wo sie die Krönchen her habe?

Sie konnte ja aber

nur bei dem, was sie gesagt, stehen bleiben, und als sie nun der

Vater hart anließ, und sie sogar eine kleine Lügnerin schalt, da fing sie an heftig zu weinen, und klagte: „Ach ich armes Kind, ich

armes Kind! was soll ich denn nun sagen!" ging die Thüre auf.

In dem Augenblick

Der Obergerichtsrath trat hinein, und rief:

„Was ist da — was ist da? mein Pathchen Marie weint und

schluchzt? —

Was ist da — was ist da?"

Der Medizinalrath

unterrichtete ihn von Allem, was geschehen, indem er ihm die Krön­ chen zeigte.

Kaum hatte der Obergerichtsrath aber diese angesehen,

als er lachte, und rief: Toller Schnack, toller Schnack, das sind ja die Krönchen, die ich vor Jahren an meiner Uhrkette trug, und

die ich der kleinen Marie an ihrem Geburtstage, als sie zwei Jahre alt geworden, schenkte.

Wißt ihrs denn nicht mehr?"

Weder der

Medizinalrath noch die Medizinalräthin konnten sich dessen erinnern;

als aber Marie wahrnahm, daß die Gesichter der Eltern wieder freundlich geworden,

da sprang sie los auf Pathe Droßelmeier

und wes: „Ach, Du weißt ja alles, PatheDroßelmeier, sag es doch

nur selbst, daß mein Nußknacker Dein Neffe, der junge Herr Droßel­ meier aus Nürnberg ist, und daß er mir die Krönchen geschenkt hat!" — Der Obergerichtsrath machte aber ein sehr finsteres Ge­ sicht und murmelte: „dummer einfältiger Schnack." Darauf nahm

der Medizinalrath die kleine Marie vor sich und sprach sehr ernst­

haft: „Hör mal, Marie, laß nun einmal die Einbildungen und Pos­

sen, und wenn Du noch einmal sprichst, daß der einfältige miß­ gestaltete Nußknacker der Neffe des Herrn Obergerichtsrathes sey,

142 so werfe ich nicht allein den Nußknacker, sondern auch alle Deine übrigen Puppen, Mamsell Clärchen nicht ausgenommen,

Fenster." —

durchs

Nun durste freilich die arme Marie gar nicht mehr

davon sprechen, wovon denn doch ihr ganzes Gemüth erfüllt war; denn ihr möget es Euch wohl denken, daß man solch Herrliches

und Schönes, wie es Marien widerfahren, gar nicht vergessen kann.

Selbst, sehr geehrter Leser oder Zuhörer, Fritz, selbst Dein Camerad Fritz Stahlbaum drehte der Schwester sogleich

den Rücken,

wenn sie ihm von dem Wunderreiche, in dem sie so glücklich war, erzählen wollte.

Er soll sogar manchmal zwischen

den Zähnen

gemurmelt haben: „einfältige Gans!" doch das kann ich seiner sonst

erprobten guten Gemüthsart halber nicht glauben, so viel ist aber gewiß, daß, da er nun an nichts mehr, was ihm Marie erzählte,

glaubte, er seinen Husaren bei öffentlicher Parade das ihnen ge­ schehene Unrecht förmlich abbat, ihnen statt der verlornen Feld­ zeichen viel höhere, schönere Büsche von Gänsekielen anhestete, und

ihnen auch wieder erlaubte,

den Gardehusarenmarsch zu

blasen.

Run! — wir wissen am besten, wie es mit dem Muth der Hu­ saren aussah, als sie von den häßlichen Kugeln Flecke

auf die

rothen Wämser kriegten! —

Sprechen durfte nun Marie nicht mehr von ihrem Abenteuer, aber die Bilder jenes wunderbaren Feenreichs umgaukelten sie in

süßwogendem Rauschen und in holden lieblichen Klängen; sie sah alles noch einmal, so wie sie nur ihren Sinn fest darauf richtete, und so kam es, daß sie, statt zu spielen, wie sonst, starr und still,

tief in sich gekehrt, da sitzen konnte, weshalb sie von allen eine

143 kleine Träumerin gescholten wurde.

gerichtsrath einmal eine Uhr

Es begab sich, daß der Ober­

in dem Hause des Medizinalraths

reparirte, Marie saß am Glasschrank, und schaute, in ihre Träume vertieft, den Nußknacker an, da fuhr es ihr wie unwillkürlich, heraus: „Ach, lieber Herr Droßelmeier, wenn Sie doch nur wirk­

lich lebten, ich würds nicht so machen, wie Prinzessin Pirlipat, und Sie verschmähen,

weil Sie, um meinet willen,

haben, ein hübscher junger Mann zu seyn!”

aufgehört

In dem Augenblick

schrie der Obergerichtsrath: Hey, hey — toller Schnack. —

Aber

in dem Augenblick geschah auch ein solcher Knall und Ruck, daß Marie

ohnmächtig vom Stuhle sank.

Als sie wieder erwachte,

war die Mutter um sie beschäftigt, und sprach: „Aber wie kannst

Du nur vom Stuhle fallen, ein so großes Mädchen! —

der Neffe des Herrn Obergerichtsraths

men — sey hübsch artig! ” —

Hier ist

aus Nürnberg angekom­

Sie blickte auf, der Obergerichts­

rath hatte wieder seine Glasperücke aufgesetzt, seinen gelben Rock angezogen, und lächelte sehr zufrieden; aber an seiner Hand hielt er einen zwar kleinen, aber sehr wohlgewachsenen jungen Mann.

Wie Milch und Blut war sein Gesichtchen, er trug einen sehr herr­ lichen rothen Rock mit Gold, weißseidene Strümpfe und Schuhe,

hatte im Jabot ein allerliebstes Blumenbouquet, war sehr zierlich

frisirt und gepudert, und hinten über den Rücken hing ihm ein ganz vortrefflicher Zopf herab.

Der kleine Degen an.seiner Seite

schien von lauter Juwelen, so blitzte er, und das Hütlein unterm

Arm

von Seidenflocken

gewebt.

Welche angenehme Sitten der

junge Mann besaß, bewies er gleich dadurch, daß er Marien eine

144 Menge herrlicher Spielsachen, vorzüglich aber den schönsten Mar­

zipan und dieselben Figuren, welche der Mausekönig zerbissen, dem

Fritz aber einen wunderschönen Säbel mitgebracht hatte.

Bei Tische

knackte der Artige für die ganze Gesellschaft Nüsse auf, die här­ testen widerstanden ihm nicht, mit der rechten Hand steckte er fie

in den Mund, mit der linken zog er den Jopf an — Krak —

zerfiel die Nuß in Stücke! —

Marie war glutroth geworden,

als sie den jungen artigen Mann erblickte, und noch röther wurde sie, als nach Tische der junge Droßelmeier sie einlud, mit ihm in

das Wohnzimmer an

den Glasschrank zu gehen.

„Spielt nur

hübsch mit einander, ihr Kinder, ich habe nun, da alle meine Uh­

ren richtig gehen, nichts dagegen," rief der Obergerichtsrath. Kaum war aber der junge Droßelmeier mit Marien allein, als er sich auf ein Knie niederließ, und also sprach: „O meine allervortreff­

lichste Demoiselle Stahlbaum, sehen Sie hier zu Ihren Füßen den

beglückten Droßelmeier, dem Sie an dieser Stelle das Leben ret­

teten! —

Sie sprachen es gütigst aus, daß Sie mich nicht wie

die garstige Prinzessin Pirlipat verschmähen wollten, wenn ich ihret­

willen häßlich geworden! — sogleich hörte ich auf ein schnöder Nußknacker zu seyn, und erhielt meine vorige nicht unangenehme Gestalt wieder. —

O vortreffliche Demoiselle, beglücken Sie mich

mit Ihrer werthen Hand, theilen Sie mit mir Reich und Krone, herrschen Sie mit mir auf Marzipanschloß, denn dort bin ich jetzt

König!" — Marie hob den Jüngling auf, und sprach leise: „Lieber Herr Droßelmeier! Sie sind ein sanftmüthiger guter Mensch, und

da Sie dazu noch ein unmuthiges Land mit sehr hübschen lustigen

145 Leuten regieren, so nehme ich Sie zum Bräutigam an! — wurde Marie sogleich Droßelmeiers Braut.

Hierauf

Nach Jahresfrist hat

er sie, wie man sagt, auf einem goldnen von silbernen Pferden

gezogenen Wagen abgeholt.

Auf der Hochzeit tanzten zwei und

zwanzigtausend der glänzendsten, mit Perlen und. Diamanten ge­ schmückten Figuren, und Marie soll noch zur Stunde Königin eines Landes seyn,

in dem man überall funkelnde Weihnachtswälder,

durchsichtige Marzipanschlösser, kurz, die allerherrlichsten wunder­ barsten Dinge erblicken kann, wenn man nur Augen darnach hat. Das war das Mährchen vom Nußknacker und Mausekönig.

146

4

Das fremde Kind.

Der Herr von Brakel auf Brakelheim.

Es

war einmal ein Edelmann,

der hieß Herr Thaddäus von

Brakel und wohnte in dem kleinen Dörfchen Brakelheim, das er von seinem verstorbenen Vater, dem alten Herrn von Brakel ge­ erbt hatte, und das mithin sein Eigenthum war.

Die vier Bauern,

die außer ihm noch in dem Dörfchen wohnten, nannten ihn den gnädigen Herrn,

unerachtet er wie sie mit schlicht ausgekämmten

Haaren einherging, und nur Sonntags, wenn er mit seiner Frau

und seinen beiden Kindern, Felix und Christlieb geheißen, nach dem

benachbarten großen Dorfe zur Kirche fuhr, statt der groben Tuch­ jacke, die er sonst trug, ein seines grünes Kleid und eine rothe Weste

mit goldnen Tressen anlegte, welches ihm recht gut stand.

Eben

dieselben Bauern pflegten auch, fragte man sie: wo komm ich denn

hin zum Herrn von Brakel? jedesmal zu antworten: „Nur immer vorwärts durch das Dorf den Hügel herauf, wo die Birken stehen, da ist des gnädigen Herrn sein Schloß!" Nun weiß doch aber jeder­

mann, daß ein Schloß ein großes hohes Gebäude seyn muß mit vielen Fenstern und Thüren ja wohl gar mit Thürmen und fun-

puiAq arpmaxT

st»(J

147 feinten Windfahnen, von dem allen war aber auf dem Hügel mit den Birken gar nichts zu spüren, vielmehr stand da nur ein niedriges'Häuschen mit wenigen kleinen Fenstern, das man kaum frü­ her, als dicht davor angekommen, erblicken konnte.

Geschieht es

aber wohl, daß man vor dem hohen Thor eines großen Schlosses

plötzlich stille steht und, angehaucht von der herausströmenden eis­ kalten Luft, angestarrt von den todten Augen der seltsamen Stein­

bilder, die wie grauliche Wächter sich an die Mauer lehnen, alle

Lust verliert hineinzugehen, sondern lieber umkehrt, so war das bei

dem kleinen Hause des Herrn Thaddäus von Brakel ganz und gar nicht der Fall.

Hatten nämlich schon im Wäldchen die schönen

schlanken Birken mit ihren belaubten Kesten, wie mit zum Gruß

ausgestreckten Armen uns freundlich zugewinkt, hatten sie im fro­ hen Rauschen und Säuseln uns zugewispert: „Willkommen, will­

kommen unter uns!" so war es denn nun vollends bei dem Hause,

als riefen holde Stimmen aus den spiegelhellen Fenstern, ja überall aus dem dunklen dicken Weinlaube, das die Mauern bis zum Dach

herauf bekleidete, süßtönend heraus: „Komm doch nur herein, komm

doch nur herein, du lieber müder Wanderer, hier ist es gar hübsch

und gastlich! ”

Das bestätigten denn auch die, Nest hinein, Nest

hinaus, lustig zwitschernden Schwalben und der alte stattliche Storch

schaute ernst und klug vom Rauchfange herab und sprach: „Ich wohne nun schon manches liebe Jahr hindurch zur Sommerzeit hier,

aber ein besseres Logement finde ich nicht auf Erden, und könnte ich

nur die mir angeborne Reiselust bezwingen, wär's nur nicht

zur Winterzeit hier so kalt und das Holz so theuer, niemals rührte

148 id) mich von der Stelle. — So anmuthig und hübsch, wenn auch

gleich gar kein Schloß, war das Haus des Herrn von Brakel.

Der vornehme Besuch. Die Frau von Brakel stand eines Morgens sehr früh auf und

buk einen Kuchen, zu dem sie viel mehr Mandeln und Rosinen ver­ brauchte, als selbst zum Osterkuchen, weshalb er auch viel herr­

licher gerieth als dieser.

Während dessen klopfte und bürstete der

Herr von Brakel seinen grünen Rock und seine rothe Weste aus

und Felix und Christlieb wurden mit den besten Kleidern angethan, die sie nur besaßen.

„Ihr dürst, so sprach dann der Herr von

Brakel zu den Kindern, ihr dürft heute nicht herauslaufen in den Wald wie sonst, sondern müßt in der Stube ruhig sitzen bleiben,

damit ihr sauber und hübsch ausseht, wenn der gnädige Herr Onkel kommt'." —

Die Sonne war hell und freundlich ausgetaucht aus

dem Nebel und strahlte golden hinein in die Fenster, im Wäld­ chen sauste der Morgenwind und Fink und Zeisig und Nachtigall

jubilirten durch einander und

schmetterten die

lustigsten Liedchen.

Christlieb saß still und in sich gekehrt am Tische;

bald zupfte sie

die rothen Bandschleifen an ihrem Kleidchen zurecht,

bald ver­

suchte sie ämsig fortzustricken, welches heute nicht recht gehen wollte. Felix, dem der Papa ein schönes Bilderbuch in die Hände gegeben,

schaute über die Bilder hinweg nach dem schönen Birkenwäldchen,

in dem er sonst jeden Morgen ein paar Stunden nach Herzenslust herumspringen durfte. sich hinein,

,,2lch, draußen ist's so schön, seufzte er in

doch als nun vollends der große Hofhund,

Sultan

149 geheißen, klaffend und knurrend vor dem Fenster herumsprang,

eine Strecke nach dem Walde hinlief, wieder umkehrte und aufs neue knurrte und bellte, als wolle er dem kleinen Felix zurufen:

Kommst du denn nicht heraus in den Wald? was machst du denn

in der dumpfigen Stube? da konnte sich Felix gar nicht lassen vor Ungeduld. „Ach liebe Mama, laß mich doch nur ein paar Schritte

hinausgehen!"

So rief er laut, aber die Frau von Brakel erwie­

derte: „Nein nein, bleibe nur fein in der Stube. Ich weiß schon,

wie es geht, so wie du hinaus läufst, muß Christlieb hinterdrein und dann husch husch durch Busch und Dorn, hinauf auf die Bäume!

Und dann kommt ihr zurück erhitzt und beschmuzt und

der Onkel sagt: „Was sind das für häßliche Bauernkinder! So dür­

fen keine Brakels aussehen, weder große noch kleine." Felix klappte voll Ungeduld das Bilderbuch zu, und sprach, indem ihm die Thrä­ nen in die Augen traten, kleinlaut: „Wenn der gnädige Herr Onkel von häßlichen Bauernkindern redet, so hat er wohl nicht Vollrads Meter oder Hentschels Annliese oder all unsere Kinder hier im Dorfe

gesehen, denn ich wüßte doch nicht, wie es hübschere Kinder geben sollte als diese."

„Ja wohl, rief Christlieb, wie plötzlich aus einem

Traum erwacht, und ist nicht auch des Schulzen Grete ein hüb­

sches Kind, wiewohl sie lange nicht solche schöne rothe Bandschleifen

hat als ich: „Sprecht nicht solch dummes Zeug, rief die Mutter halb erzürnt, ihr versteht das nicht, wie es der gnädige Onkel

meint." —

Alle weitere Vorstellungen, wie es grade heute gar

zu herrlich im Wäldchen sey, halfen nichts, Felix und Christlieb

mußten in der Stube bleiben und das war um so peinlicher, als

150 der Gastkuchen, der auf dem Tische stand, die süßesten Gerüche

verbreitete und doch nicht früher angeschnitten werden durfte, bis

der Onkel angekommen.

„Ach wenn er doch nur käme, wenn er

doch nur endlich käme!" so riefen beide Kinder und weinten bei­ nahe vor Ungeduld.

Endlich ließ sich ein starkes Pferdegetrappel

vernehmen, und eine Kutsche fuhr vor, die so blank und mit gol­ denen Aierathen reich geschmückt war, daß die Kinder in das größte

Erstaunen geriethen, denn sie hatten dergleichen noch gar nicht ge­ sehen.

Ein großer hagerer Mann glitt an den Armen des Jä­

gers, der den Kutschenschlag geöffnet, heraus in die Arme des Herrn von Brakel, an dessen Wange er zweimal sanft die seinige legte und leise lispelte: „Bon jour, mein lieber Vetter, nur gar keine Um­

stände, bitte ich." Unterdessen hatte der Jäger noch eine kleine dicke Dame mit sehr rothen Bakken und zwei Kinder, einen Knaben und

ein Mädchen, aus der Kutsche zur Erde hinab gleiten lassen, wel­ ches er sehr geschickt zu machen wußte, so daß jeder auf die Füße

zu stehen kam.

Als sie nun alle standen, traten, wie es ihnen von

Vater und Mutter eingeschärft worden, Felix und Christlieb hinzu,

faßten jeder eine Hand des langen hagern Mannes und sprachen dieselbe küssend:

„Seyn Sie uns recht schön willkommen, lieber

gnädiger Herr Onkel!" dann machten sie es mit den Händen der

kleinen dicken Dame eben so und sprachen:

„Seyn sie uns recht

schön willkommen, liebe gnädige Frau Tante!"

zu den Kindern,

dann traten sie

blieben aber ganz verblüfft stehen, denn

Kinder hatten sie noch niemals gesehen.

solche

Der Knabe trug lange

Pumphosen und ein Jäckchen von scharlachrothem Tuch über und über

151 mit goldenen Schnüren und Tressen besetzt unb, einen kleinen blan­ ken Sabel an der Seite, auf dem Kopf aber eine seltsame rothe

Mytze mit einer weißen Feder, unter der er mit seinem blaßgelben

Gesichtchen und den trüben schläfrigen Augen blöd und scheu her­ vorkuckte.

Das Mädchen hatte zwar ein weißes Kleidchen an wie

Christlieb, aber mit erschrecklich viel Bändern und Spitzen, auch waren ihre Haare ganz seltsam in Zöpfe geflochten und spitz in die

Höhe heraufgewunden, oben funkelte aber ein blankes Krönchen.

Christlieb faßte sich ein Herz und wollte die Kleine bei der Hand nehmen, die zog aber die Hand schnell zurück und zog solch ein verdrüßliches weinerliches Gesicht, daß Christlieb ordentlich davor

erschrak und von ihr abließ.

Felix wollte auch nur des Knaben

schönen Säbel ein bischen näher besehen und faßte darnach, aber

der Junge sing an zu schreien: „Mein Säbel, mein Säbel, er will mir den Säbel nehmen," und lief zum hagern Mann, hinter den er sich versteckte.

Felix wurde darüber roth im Gesicht und sprach

ganz erzürnt: „Ich will dir ja deinen Säbel nicht nehmen — dummer Junge!"

Die letzten Worte murmelte er nur so zwischen

den Zähnen, aber der Herr von Brakel hatte wohl alles gehört und schien sehr verlegen darüber zu seyn, denn er knöpfelte an der Weste

hin und her und rief: „Ei Felix!"

Die dicke Dame sprach:

„Adelgundchen, Hermann, die Kinder thun euch ja nichts, seid

doch nicht so blöde;" der hagere Herr lispelte aber: „Sie wer­ den schon Bekanntschaft machen," ergriff die Frau von Brakel bey

der Hand und führte sie ins Haus; ihr folgte Herr von Brakel mit der dicken Dame, an deren Schleppkleid sich Adelgundchen und

152 Hermann hingen.

Christlich und Felix gingen hinterdrein. „Jetzt

wird der Kuchen angeschnitten/' flüsterte Felix der Schwester ins

Ohr.

Ach ja, ach ja, erwiederte diese voll Freude und dann laufen

wir auf und davon in den Wald, fuhr Felix fort, „ und bekümmern

uns um die fremden blöden Dinger nicht," setzte Christlich hinzu. Felix machte einen Lustsprungz so kamen sie in die Stube.

Adel­

gunde und Hermann durften keinen Kuchen essen, weil sie, wie die Aeltern sagten, das nicht vertragen könnten; sie erhielten dafür je­

der einen kleinen Zwieback, den der Jäger aus einer mitgebrach­

ten Schachtel heraus nehmen mußte.

Felix und Christlich bissen

tapfer in das derbe Stück Kuchen, daß die gute Mutter jedem ge­

reicht und waren guter Dinge.

Wie es weiter bei dem vornehmen Besuche herging. Der hagere Mann, Cyprianus von Brakel geheißen, war zwar

der leibliche Vetter des Herrn Thaddäus von Brakel, indessen weit

vornehmer als dieser.

Denn außerdem, daß er den Grafen-Titel

führte, trug er auch auf jedem Rock, ja sogar auf dem Puderman­ tel, einen großen silbernen Stern.

Deshalb hatte, als er schon

ein Jahr früher, jedoch ganz allein ohne die dicke Dame, die seine Frau war, und ohne die Kinder, bei dem Herrn ThaddäuS von

Brakel, seinem Vetter, auf eine Stunde einsprach, Felix ihn auch gefragt: „Hör' mal, gnädiger Herr Onkel, du bist wohl König ge­ worden?"

Felix hatte nämlich in seinem Bilderbuche einen abge­

malten König, der einen dergleichen Stern auf der Brust trug,

153 und so mußte er wohl glauben, daß der Onkel nun auch König geworden sey, weil er das Zeichen trug.

Der Onkel hatte da­

mals sehr über die Frage gelacht und geantwortet: „Nein, mein Söhnchen, König bin ich nicht, aber des Königs treuster Diener

und Minister, der über viele Leute regiert.

Gehörtest du zu der

Gräflich von Brakelschen Linie, so könntest du vielleicht auch künf­ tig solch' einen Stern tragen, wie ich, aber so bist du freilich nur ein simpler Von, aus dem nicht viel Rechtes werden wird." Felix

hatte den Onkel gar

nicht verstanden und Herr Thaddäus von

Brakel meinte, das sey auch gar nicht vonnöthen. —

Jetzt er­

zählte der Onkel seiner dicken Frau, wie ihn Felix für den König

gehalten, da rief sie: „O süße liebe rührende Unschuld!"

Und

nun mußten beide, Felix und Christlieb hervor aus dem Winkel, wo sie unter Kichern und Lachen den Kuchen verzehrt hatten.

Die

Mutter säuberte beiden sogleich den Mund von manchen Kuchen­ krumen und Rosinenresten und übergab sie so dem gnädigen Onkel

und der gnädigen Tante, die sie unter lauten Ausrufungen: „O süße liebe Natur! o ländliche Unschuld!" küßten und ihnen große Tüten in die Hände drückten.

Dem Herrn Thaddäus von Brakel

und seiner Frau standen die Thränen in den Augen über die Güte

der vornehmen Verwandten.

Felix hatte indessen die Tüte geöffnet

und Bonbons darin gefunden, auf die er tapfer zubiß, welches ihm

Christlieb sogleich nachmachte.

„Söhnchen, mein Söhnchen, rief

der gnädige Onkel, so geht das nicht, du verdirbst dir ja die Zähne, du mußt fein so lange an dem Zuckerwerke lutschen, bis es im Munde zergeht.

Da lachte aber Felix beinahe laut aus und sprach:

154 „Ei lieber, gnädiger Onkel, glaubst du denn, daß ich ein kleines Wickelkind bin und lutschen muß, weil ich noch keine tüchtige Zähne

habe zum Beißen? " Und damit steckte er einen neuen Bonbon in den Mund und biß so gewaltig zu, daß es knitterte und knatterte.

„O liebliche Naivität," rief die dicke Dame, der Onkel stimmte

ein, aber dem Herrn Thaddäus standen die Schweißtropfen auf der Stirne; er war über Felixens Unart ganz beschämt und die Mut­

ter raunte ihm ins Ohr: „Knirsche nicht so mit den Zähnen, un­

artiger Junge!"

Das machte den armen Felix, der nichts Uebles

zu thun glaubte, ganz bestürzt, er nahm den noch nicht ganz ver­

zehrten Bonbon langsam aus dem Munde, legte ihn in die Tüte und reichte diese dem Onkel hin, indem er sprach: „Nimm nur deinen Zucker wieder mit, wenn ich ihn nicht essen soll!"

Christlieb,

gewohnt in Allem Felixens Beispiel zu, folgen, that mit ihrer Tüte dasselbe.

Das war dem Herrn Thaddäus zu arg, er brach los:

„Ach, mein geehrtester gnädiger Herr Vetter, halten Sie nur dem einfältigen Jungen die Tölpelei zu Gute, aber freilich auf dem

Lande und in so beschränkten Verhältnissen — Ach wer nur solche

gesittete Kinder erziehen könnte wie Sie! —

Der Graf Cypri-

anus lächelte selbstgefällig und vornehm, indem er auf Hermann

und Adelgunden hinblickte.

Die hatten längst ihren Zwieback ver­

zehrt und saßen nun stumm und still aus ihren Stühlen, ohne eine

Miene zu verziehen, ohne sich zu rühren und zu regen.

Die dicke

Dame lächelte ebenfalls, indem sie lispelte: „Ja, lieber Herr Vet­ ter, die Erziehung unserer lieben Kinder liegt uns mehr als Alles

am Herzen."

Sie gab dem Grafen Cyprianus einen Wink, der

155 sich alsbald an Hermann und Adelgunden wandte und allerlei Fra­ gen an sie richtete, die sie mit der größten Schnelligkeit beant­ worteten: Da war von vielen Städten, Flüssen und Bergen die

Rede, die viele.tausend Meilen ins Land hinein liegen sollten und

die seltsamsten Namen trugen.

Eben so wußten beide ganz genau

zu beschreiben, wie die Thiere aussähen, die in wilden Gegenden

der entferntesten Himmelsstriche wohnen sollten.

Dann sprachen sie

von fremden Gebüschen, Bäumen und Früchten, als ob sie sie selbst

gesehen, ja wohl die Früchte selbst gekostet hätten.

Hermann be­

schrieb ganz genau, wie es vor dreihundert Jahren in einer großen Schlacht zugegangen, und wußte alle Generale, die dabei zugegen

gewesen, mit Namen zu nennen.

Zuletzt sprach Adelgunde sogar

von den Sternen und behauptete, am Himmel säßen allerlei selt­ same Thiere und andere Figuren.

Dem Felix wurde dabei ganz

angst und bange, er näherte sich der Frau von Brakel und fragte leise ins Ohr: „Ach Mama! liebe Mama! was ist denn das Alles, was die dort schwatzen und plappern?"

„Halts Maul, dummer

Junge, raunte ihm die Mutter zu, das sind die Wissenschaften'."' Felix verstummte.

„Das ist erstaunlich, das ist unerhört! in dem

zarten Alter!" so rief der Herr von Brakel einmal über das an­ dere, die Frau von Brakel aber seufzete: „O mein Herr Jemine!

o was sind das für Kinder, nein was sind das für Engel! o was soll denn aus unsern Kleinen werden,

hier aus dem öden Lande.

Als nun der Herr von Brakel in die Klagen der Mutter mit ein­

stimmte, tröstete beide der Graf Cyprianus, indem er versprach, bin­ nen ^einiger Zeit ihnen einen gelehrten Mann zuzuschicken, der ganz

156 umsonst den Unterricht der Kinder übernehmen werde. war die schöne Kutsche wieder vorgefahren.

Unterdessen

Der Jäger trat mit

zwei großen Schachteln hinein, die nahmen Adelgunde und Her­

mann und überreichten fie der Christlieb und dem -Felix.

„Lieben

Sie Spielsachen, mon eher ? hier habe ich Ihnen welche mitgebracht

von der feinsten Sorte," so sprach Hermann sich zierlich verbeu­ gend.

Felix hatte die Ohren hängen lassen, er ward traurig, selbst

wußte er nicht, warum.

Er hielt die Schachtel gedankenlos in

den Händen und murmelte, ich heiße nicht Mon schär, sondern Fe­ lix und auch nicht Sie, sondern Du. — Der Christlieb war auch das Weinen näher als das Lachen, unerachtet aus der Schachtel, die sie von Adelgunden erhalten, die süßesten Düste strömten, wie

von allerlei schönen Näschereien.

An der Thür sprang und bellte

nach seiner Gewohnheit Sultan, Felixens getreuer Freund und Lieb­

ling, Hermann entsetzte sich aber so sehr vor dem Hunde, daß er schnell in die Stube zurücklief und laut zu weinen ansing. thut dir ja nichts, sprach Felix, er thut dir ja nichts,

„ Er warum

heulst und schreist du so? es ist ja nur ein Hund, und du hast ja schon die schrecklichsten Thiere gesehen?

Und wenn er auch auf dich

zufahren wollte, du hast ja einen Säbel?" Felixens Zureden half gar

nichts, Hermann schrie immerfort, bis ihn der Jäger auf den Arm

nehmen und in die Kutsche tragen mußte.

Adelgunde, plötzlich von

dem Schmerz des Bruders ergriffen oder aus Gott weiß welcher andern Ursache, sing ebenfalls an heftig zu heulen, welches die arme Christlieb so anregte, daß sie auch zu schluchzen und weinen be­

gann.

Unter diesem Geschrei und Gejammer der drei Kinder fuhr

157 der Graf Cyprianus von Brakel ab von Brakelh'eim, und so endete der vornehme Besuch.

Die neuen Spielsachen. So wie die Kutsche mit dem Grafen Cyprianus von Brakel

und seiner Familie den Hügel herabgerollt war, warf der Herr Thaddäus schnell den grünen Rock und die rothe Weste ab, und

als er eben so schnell die weite Tuchjacke angezogen und zwei bis dreimal mit dem breiten Kamm die Haare durchfahren hatte, da

holte er tief Athem, dehnte sich und ries: „Gott sey gedankt!"

Auch die Kinder zogen schnell ihre Sonutagsröckchen aus und fühl­ ten sich froh und leicht.

„In den Wald, in den Wald!" rief

Felix, indem er seine höchsten Luftsprünge versuchte.

„Wollt ihr

denn nicht erst sehen, was euch Hermann und Adelgunde mitge­

bracht haben?"

So sprach die Mutter, und Christlieb, die schon

während des Ausziehens die Schachteln mit neugierigen Mgen be­ trachtet hatte, meinte, daß das wohl erst geschehen könne, nachher

sey es ja wohl noch Zeit genug in den Wald zu laufen. war sehr schwer zu überreden.

Felix

Er sprach: „Was kann uns denn

der alberne pumphosigte Junge mit sammt seiner bebänderten Schwe­ ster Großes mitgebracht haben.

Was die Wissenschaften betn'fft, Z

nun, die plappert er gut' genug weg, aber erst schwatzt er von Löw und Bär und weiß wie man die Elephanten fängt und dann fürch­

tet er sich vor meinem Sultan, hat einen Säbel an der Seite und heult und schreit und kriecht unter den Tisch.

ein schöner Jäger seyn!"

Das mag mir

„Ach, lieber guter Felix, laß uns doch

158 nur ein ganzes kleines Bischen die Schachteln öffnen!"

So bat

Christlieb, und da ihr Felix alles nur Mögliche zu Gefallen that, so gab er das in den Wald Laufen vor der Hand auf, und setzte

sich mit Christlieb geduldig an den Tisch, auf dem die Schachteln standen.

Sie wurden von der Mutter geöffnet, aber da — Nun,

o meine vielgeliebten Leser!

Euch allein ist es gewiß schon so gut

geworden zur Zeit des fröhlichen Jahrmarkts,

oder doch gewiß

zu Weihnachten, von den Aeltern oder andern lieben Freunden mit

allerlei schmucken Sachen reichlich beschenkt zu werden. Denkt Euch, wie ihr vor Freude jauchztet, als blanke Soldaten, komische Männ­ chen mit Drehorgeln, schön geputzte Puppen, zierliche Geräthschaf-

ten, herrliche bunte Bilderbücher u. a. m. um Euch lagen und standen!

Solche große Freude, wie ihr damals, hatten jetzt Felix

und Christlieb, denn eine ganz reiche Bescheerung der niedlichsten

glänzendsten Sachen ging aus den Schachteln hervor, und dabei gab es noch allerlei Naschwerk, so daß die Kinder einmal über

das andere die Hände zusammenschlugen und ausriefen: „Ei, wie schön ist das! ”

Nur eine Tüte mit Bonbons legte Felix mit Ver­

achtung bei Seite, und als Christlieb bat, den gläsernen Aucker

doch wenigstens nicht zum Fenster heraus zu werfen, wie er es eben thun wollte, ließ er zwar davon ab, öffnete aber die Tüte

und warf einige Bollbons dem Sultan hin, der indessen hineingegeschwänzelt war.

Sultan roch daran und wandte dann unmuthig

die Schnauze weg.

„Siehst du wohl, Christlieb, rief Felix nun

triumphirend, siehst du wohl, nicht einmal Sultan mag das gar­

stige Aeug fressen."

Uebrigens machte dem Felix von den Spiel-

159 fachen nichts mehr Freude als ein stattlicher Jägersmann, der,

wenn man ein kleines Fädchen, das hinten unter seiner Jacke her­ vorragte, anzog, die Büchse anlegte und in ein Ziel schoß, das

drei Spannen weit vor ihm angebracht war.

Nächstdem schenkte

er seine Liebe einem kleinen Männchen, das Complimente zu ma­ chen verstand und auf einer Harfe quinkelirte, wenn man an einer Schraube drehte; vor allen Dingen gefiel ihm aber eine Flinte und

ein Hirschfänger, beides von Holz und überfilbert, so wie eine statt­ liche Husarenmütze und eine Patrontasche.

Christlieb hatte große

Freude an einer sehr schön geputzten Puppe und einem saubern voll­ ständigen Hausrath.

Die Kinder vergaßen Wald und Flur und

ergötzten sich an den Spielsachen bis in den späten Abend hinein.

Dann gingen fie zu Bette.

Was sich mit den neuen Spielsachen im Walde zutrug. Tages darauf fingen die Kinder es wieder da an, wo sie es Abends vorher gelassen hatten, das heißt: sie holten die Schachteln

herbei, kramten ihre Spielsachen aus und ergötzten sich daran auf

mancherlei Weise.

Eben so wie gestern schien die Sonne hell und

freundlich in die Fenster hinein, wisperten und lispelten die vom

sausenden Morgenwind begrüßten Birken, jubilirten Zeisig, Fink und Nachtigall in den schönsten lustigsten Liedlein.

Da würd' es dem

Felix bei seinem Jäger, seinem kleinen Männchen, seiner Flinte und

Patrontasche ganz enge und wehmüthig ums Herz.

„Ach, rief er

auf einmal, ach, draußen ist's doch schöner, komm Christlieb! laß

160 uns in den Wald laufen! "

Christlieb hatte eben die große Puppe

ausgezogen und war im Begriff sie wieder anzukleiden, welches ihr

viel Vergnügen machte, deßhalb wollte sie nicht heraus, sondern bat: „Lieber Felix, wollen wir denn nicht noch hier ein Bischen

spielen?"

„Weißt du was, Christlieb, sprach Felix, wir nehmen

das Beste von unsern Spielsachen mit hinaus.

Ich schnalle meinen

Hirschfänger um, und hänge das Gewehr über die Schulter, da seh' ich aus wie ein Jäger. Der kleine Jäger und das Harfenmännlein können mich begleiten, du, Christlieb, kannst deine große Puppe und das Beste von deinen Geräthschaftcn mitnehmen. Komm nur, komm! "

Christlieb zog hurtig die Puppe vollends an und nun liefen beide Kinder mit ihren Spielsachen hinaus in den Wald, wo sie sich auf

schönen grünen Plätzchen lagerten.

Sie hatten eine Weile gespiett

und Felix ließ eben das Harfenmännlein sein Stückchen orgeln als Christlieb anfing: „Weißt du wohl, Ueber Felix, daß dein Harfen­

mann gar nicht hübsch spielt? Hör nur, wie das hier im Walde

häßlich klingt, das ewige Ting-Ling-Ping-Ping, die Vögel kucken so neugierig aus den Büschen, ich glaube, sie halten sich ordentlich

aus über den albernen Musikanten, der hier zu ihrem Gesänge spie­ len will."

Felix drehte stärker und stärker an der Schraube und

rief endlich: „Du hast Recht, Christlieb! es klingt abscheulich, was der kleine Kerl spielt, was können mir seine Dienerchen helfen — ich schäme mich ordentlich vor dem Finken dort drüben, der mich

mit solch schlauen Lugen anblinzelt. —

Aber der Kerl soll besser

spielen — soll besser spielen!" — Und damit drehte Felix so stark

an der Schraube, daß Krack - krack — der ganze Kasten in tau-

161 send Stücke zerbrach, §uf dem das Harfenmännlein.stand und seine

Arme zerbröckelt herabsielen.

„Oh — Oh" rief Felix; „Ach das

Harfenmännlein!" rief Christlieb.

Felix beschaute einen Augenblick

das zerbrochne Spielwerk, sprach dann: „ Es war ein dummer al­

berner Kerl, der schlechtes Zeug aufspielte und Gesichter und Diener machte wie Vetter Pumphose" und warf den Harfenmann weit fort in das tiefste Gebüsch.

„Da lob ich mir meinen Jägersmann,

sprach er weiter, der schießt einmal über das andere ins Ziel."

Nun ließ Felix den kleinen Jäger tüchtig excerciren.

Als das eine

Weile gedauert, sing Felix an: „Dumm ists doch, daß der kleine

Kerl immer nur nach dem Ziele schießt, welches, wie Papa sagt,

gar keine Sache für einen Jägersmann ist.

Der muß im Walde'

schießen nach Hirschen — Rehen — Hasen und sie treffen im vollen

Lauf. —

Der Kerl soll nicht mehr nach dem Ziele schießen."

Damit brach Felix die Zielscheibe los, die vor dem Jäger angebracht war.

„Nun schieß' ins Freie, rief er, aber er mochte an dem

Fädchen ziehen, so viel er wollte, schlaff hingen die Arme des klei­ nen Jägers herab.

nicht mehr los.

Er legte nicht mehr die Büchse an, er schoß

„Ha ha, rief Felix, nach dem Ziel, in der Stube,

da konntest du schießen, aber im Walde, wo des Jagers Heimath

ist, da gehts nicht.

Fürchtest dich auch wohl vor Hunden

und

würdest, wenn einer käme, davon laufen mit sammt deiner Büchse, wie Vetter Pumphose mit seinem Säbel! —

nichtsnutziger Bursche," damit schleuderte Felix Harfenmänlein nach ins tiefe Gebüsch.

Ei du einfältiger

den Jäger dem

„Komm laß uns ein wenig

laufen," sprach er dann zu Christlieb. „Ach ja, lieber Felix, erwie-

11



162



derte diese, meine hübsche Puppe soll mit laufen, das wirb ein Nun faßte, jeder, Felix und Christlieb, die Puppe

Spaß seyn."

GH einem Arm, und so gings. fort, in vollem Laufe durchs Gebüsch

den Hügel herab, und fort und fort bis an den mit hohem Schilf umkränzten Teich, der noch zu dem Besitzthum des, Herrn Thad-

däus von Brakel gehörte und wo er zuweilen wilde Entew zu schie­ ßen pflegte.

Hier standen die Kinder still und Felix sprach: „Laß

uns ein wenig passen, ich habe ja nun eine Flinte, wer weiß ob ich nicht im Röhricht eine Ente schießen kann, so gut wie der Va­ ter."

In dem. Augenblick schrie, aber Christlieb lautauf: „Ach

meine Puppe, was ist aus meiner schönen Puppe geworden!" Frei­ lich sah das arme Ding ganz miserabel aus.

Weder Christlieb noch.

Felix hatten tm Laufen die Puppe-beachtet und so war es gekom­

men, daß sie sich an dem- Gestripp die Kleider ganz und gar zer­ rissen, ja beide Beinchen gebrochen hatte. Von dem hübschen Wachs­ gesichtchen war auch beinahe keine Spur; so zerfetzt und häßlich sah es aus.

Ach meine Puppe, meine schöne Puppe, klagte Christlieb.

„Da siehst du nun, sprach Felix, was für dumme Dinger uns die

fremdm Kinder mitgebracht haben.

Das ist ja eine ungeschickte

einfältige Trine, deine Puppe , dm-nicht einmal mit uns laufen kann, ohne sich gleich Alles zu zerreißen und zu zerfetzen — gieb sie nur her."

Christlieb reichte die verunstaltete Puppe traurig

dem Bruder hin und konnte sich eines-lautes Schreies: „Ach Ach!" nicht enthalten, als der sie ohne Weiteres fortschleuderte in den

Teich. „Gräme dich nur nicht," tröstete Felix die Schwester, „gräme dich nur ja nicht um das alberne Ding, schieße- ich eine Ente, so

163 sollst du die schönsten Federn bekommen, dir sich nur in den bunten

Flügeln finden wollen."

Es rauschte im Röhricht, da legte stracks

Felix seine hölzerne Flinte an, setzte sie aber in demselben Augen­ blick wieder ab, und schaute nachdenklich vor sich hin.

„Bin ich-

nicht auch selbst ein thörichter Junge, sing er dann leise an, ge­ gehört denn nicht zum Schießen Pulver und Blei und habe ich

denn beides? — Kann ich denn auch wohl Pulver in eine hölzerne Flinte laden? — Wozu ist überhaupt das dumme hölzerne Ding?

Und der Hirschfänger? —

Auch von Holz! — der schneidet und

sticht nicht — des Vetters Säbel war gewiß auch von Holz, des­ halb mochte er ihn nicht ausziehn, als er sich vor dem Sultan

fürchtete.

Ich merke schon, Vetter Pumphose hat mich nur zum

Besten gehabt mit seinen Spielsachen, die was vorstellen wollen und nichtsnütziges Zeug sind."

Damit schleuderte Felix Flinte,

Hirschfänger und zulezt noch die Patrontasche in den Teich.

Christ­

lieb war doch betrübt über den Verlust der Puppe, und auch Fe­

lix konnte sich des Unmuths nicht erwehren.

So schlichen sie nach

Hause, und als die Mutter frug: Kinder, wo habt ihr Eure Spiel­

sachen, erzählte Felix ganz treuherzig, wie schlimm er mit dem Jä­ ger, mit dem Harfenmännlein, mit Flinte, Hirschfänger und Pa­

trontasche, wie schlimm Christlieb mit der Puppe angeführt wor­ den.

„Ach, rief die Frau von Brakel halb erzürnt, ihr einfäl­

tigen Kinder, ihr wißt nur nicht mit den schönen zierlichen Sachen

umzugehen."

Der Herr Thaddäus von Brakel, der Felixens Er­

zählung mit sichtbarem Wohlgefallen angehört hatte, sprach ader:

„Lasse die Kinder nur gewähren, im Grunde genommen ists mir

11*

164 recht lieb, daß sie die fremdartigen Spielsachen, die sie nur ver­ wirrten und beängsteten, los sind." noch die Kinder wußten,

Weder die Frau von Brakel

was der Herr von Brakel mit diesen

Worten eigentlich sagen wollte.

Das fremde Kind. Felix und Christlieb waren in aller Frühe nach dem Walde

gelaufen.

Die Mutter hatte es ihnen eingeschärft ja recht bald

wiederzukommen, weil sie nun viel mehr in der Stube sitzen, und viel mehr schreiben und lesen müßten als sonst, damit sie sich nicht

gar zu sehr zu schämen brauchten vor dem Hofmeister, der nun

nächstens kommen werde, deshalb sprach Felix: „Laß uns nun das Stündchen über, das wir draußen bleiben dürfen, recht tüchtig springen und laufen!"

Sie begannen auch gleich sich als Hund

und Häschen herumzujagen, aber so wie dieses Spiel, erregten

auch alle übrigen Spiele, die sie ansingen, nach wenigen Sekunden ihnen nur Ueberdruß und Langeweile. Sie wußtew selbst gar nicht,

wie es denn nur kam, daß ihnen gerade h.eute tausend ärgerliches Zeug geschehen mußte.

Bald flatterte Felixens Mütze vom Winde

getrieben ins Gebüsch, bald strauchelte er und fiel auf die Nase im besten Rennen, bald blieb Christlieb mit den Kleidern hängen

am Dornstrauch oder stieß sich den Fuß am spitzen Stein, daß sie laut aufschreien mußte.

Sie gaben bald alles Spielen auf, und

schlichen mißmüthig durch den Wald.

„Wir wollen nur in die

Stube kriechen" sprach Felix, warf sich aber, statt weiter zu ge­

hen, in den Schatten eines schönen Baumes.

Christlieb folgte sei-

165 nem Beispiel.

Da saßen die Kinder nun voller Unmuth und starr­

ten stumm in den Boden hinein.

„Ach, seufzete Christlieb endlich

leise, ach hätten wir doch noch die schönen Spielsachen!" — „Die

würden, murrte Felix, die würden uns gar nichts nützen, wir müß­

ten sie doch nur wieder zerbrechen und verderben.

Höre Christ­

lieb! — die Mutter hat doch wohl Recht — die Spielsachen waren

gut, aber wir wußten nur nicht damit umzugehen, und das kommt daher, weil uns die Wissenschaften fehlen."

„Ach lieber Felix,

rief Christlieb, du hast Recht, könnten wir die Wissenschaften so hübsch auswendig, wie der blanke Vetter und die geputzte Muhme,

ach, da hättest du noch deinen Jäger, dein Harfenmännlein, da tag’ meine schöne Puppe nicht im Ententeich! — wir ungeschickten

Dinger — ach wir haben keine Wissenschaften!" und damit sing

Christlieb an jämmerlich zu schluchzen und zu weinen, und Felix stimmte mit ein und beide Kinder heulten und jammerten, daß es

im Walde wiedertönte: „Wir armen Kinder, wir haben keine Wis­

senschaften — uns fehlen die Wissenschaften!" ten sie inne und fragten voll Erstaunen:

lieb?" —

„Hörst du's, Felix?" -

Doch plötzlich hiel­

„ Siehst du's, Christ­

Aus dem tiefsten Schatten

des dunklen Gebüsches, das den Kindern gegenüber lag, blickte ein

wundersamer Schein, der wie sanfter Mondesstrahl über die vor Wonne zitternden Blätter gaukelte, und durch das Säuseln des

Waldes ging ein süßes Getön, wie wenn der Wind über Harfen hinstreift,

und im Liebkosen die schlummernden Akkorde weckt.

Den Kindern wurde ganz seltsam zu Muthe, aller Gram war von

ihnen gewichen, aber die Thränen standen ihnen in den Augen vor

166 Meni/ nie gekanntem Weh.

So wie lichter und lichter der schein

durch das Gebüsch strahlte, so wie lauter und lautet die wunder­ vollen Töne erklangen, klopfte den Kindern höher das Herz, sie

harrten hinein in den Glanz und ach! sie gewahrten, daß es das von der Sonne hell erleuchtete holde Antlitz des lieblichsten Kindes

war, welches ihnen aus dem Gebüsch zulächelte und zuwinkte. komm doch nur zu uns — komm doch nur

„O

uns, du liebes Kind !

so riefen beide, Christlieb und Felix, indem sie aufsprangen und voll unbeschreiblicher Sehnsucht die Hände nach der holden Gestalt

ausstreckten.

„Ich komme — ich komme," rief es mit süßer Stimme

aus dem Gebüsch und leicht, wie vom säuselnden Morgenwinde ge­

tragen, schwebte das fremde Kind Herüber zu Felix und Christlieb.

Wie das fremde Kind mit Felix und Christlieb spielte. „ Ich hab' Euch wohl aus der Ferne weinen und klagen ge­ hört, sprach das fremde Kind, und da hat es mir recht leid um

Euch gethan, was fehlt Euch denn, liebe Kinder?"

„Ach wir

wußten es selbst nicht recht, erwiederte Felix, aber nun ist es mix so, als wenn nur Du uns gefehlt hättest," — „Das ist wahr,

siel Christlieb ein, nun du bei uns bist, sind wir wieder froh!

warum bist du aber auch so

lange ausgeblieben?" —

Beiden

Kindern war es in der That so, als ob sie schon lange das fremde Kind gekannt und mit ihm gespielt hätten, und als ob ihr Un-

muth nur daher gerührt hätte, daß der liebe Spielkamerad sich

nicht mehr blicken lassen.

„Spielsachen, sprach Felix weiter, haben

167 wir nun freilich gar nicht, denn ich einfältiger Zunge habe gestern die schönsten, die Vetter Pumphose mir geschenkt hatte, schändlich

verdorben und weggeschmissen, aber spielen wollen wir doch wohl." „Ei, Felix, sprach das fremde Kind, indem es laut auflachte, ei, wie magst du nur so sprechen.

Das Zeug, das du weggeworfen

hast, das hat gewiß nicht viel getaugt, du so wie Christlieb, ihr seyd ja beide ganz umgeben von dem herrlichsten Spielzeuge, das man nur sehen kann."

Christlieb und Felix. —

fremde Kind. —

„Wo denn? — Wo denn?" — riefen -„Schaut doch um euch," sprach das

Und Felix und Christlieb gewahrten, wie aus

dem dicken Grase, aus dem wolligen Moose allerlei herrliche Blu­ men wie mit glänzenden Augen hervorguckten, und dazwischen fun­

kelten bunte Steine und krystallne Muscheln, und goldene Käferchen tanzten auf und nieder und summten leise Liedchen. —

„Nun

wollen wir einen Pallast bauen, helft mir hübsch -die Steine zu­

sammentragen!" so rief das 'fremde Kind, indem eß zur Erde ge­ bückt bunte Steine aufzulesen begann.

Christlieb und Felix halfen,

und das fremde Kind wußte so geschickt die Steine zu fügen, daß

sich bald hohe Säulen erhoben, die in der Sonne funkelten wie

polirtes Metall, Dach. —

und darüber wölbte

sich

ein luftiges

goldenes

Nun küßte das fremde Kind die Blumen, die aus dem

Boden hervorguckten, da rankten sie im süßen Gelispel in die Höhe und sich in holder Liebe verschlingend bildeten sie duftende Bogen­

gänge, in denen die Kinder voll Wonne und Entzücken umher­ sprangen.

Das fremde Kind klatschte in die Hände, da sumste das

goldene Dach des Pallastes — Goldkäferchen hatten es mit ihren

168 zerflossen

Flügeldecken gewölbt — auseinander und die Säulen

zum rieselnden Silberbach, an dessen Ufer sich die bunten Blumen lagerten und bald neugierig

in seine Wellen kuckten, bald ihre

Häupter hin und her wiegend auf sein kindisches Plaudern horchten.

Nun pflückte das fremde Kind Grashalme, und brach kleine Aest-

chen von den Bäumen, die es hinstreute vor Felix und Christlieb. Aber aus den Grashalmen wurden bald die schönsten Puppen, die

man nur sehen konnte, und aus den Aestchen kleine allerliebste Jä­ ger.

Die Puppen tanzten um Christlieb herum und ließen sich

von ihr auf den Schooß nehmen und lispelten mit feinen Stimmchen: „Sey uns gut, sey uns gut, liebe Christlieb."

Die Jäger

tummelten sich und klirrten mit den Büchsen und bliesen auf ihren

Hörnern und riesen: „Halloh! — Halloh! zur Jagd, zur Jagd! ” —

Da sprangen Häschen aus den Büschen und Hunde ihnen nach,

und die Jäger knallten hinterdrein! —

Das war eine Lust —

Alles verlor sich wieder, Christlieb und Felix riefen: „Wo sind die

Puppen, wo sind die Jäger."

Das fremde Kind sprach, „O! die

stehen euch Alle zu Gebote, die sind jeden Augenblick bei Euch,

wenn ihr nur wollt, aber möchtet ihr nicht lieber jetzt ein Bischen

durch den Wald laufen?" — Felix und Christlieb.

„Ach ja, Ach ja!" riefen beide,

Da faßte das fremde Kind sie bei den Hän­

den und rief: „Kommt, kommt!" und damit ging es fort. Aber das war ja gar kein Laufen zu nennen! — Nein!

Die Kinder

schwebten im leichten Fluge durch Wald und Flur und die bunten

Vögel flatterten laut singend und jubilirend um sie her.

nem Mal ging es hoch — hoch in die Lüfte.

Mit ei­

„Guten Morgen,

169 Kinder! Guten Morgen, Gevatter Felix!" rief der Storch im Vor­ beistreifen! —

„ Thut mir nichts, thut mir nichts — ich freß'

Euer Täublein nicht!" kreischte der Geier, sich in Langer Scheu

vor den Kindern durch die Lüste schwingend. —

Felix jauchzte

laut, aber der Christlieb wurde bange „Mir vergeht der Athem — ach, ich falle wohl!" so rief sie, und in demselben Augenblick ließ

sich das fremde Kind mit den Gespielen nieder, und sprach: „Nun

singe ich Euch

das Waldlied zum Abschiede für heute,

komm ich wieder."

morgen

Nun nahm das Kind ein kleines Waldhorn

hervor, dessen goldene Windungen beinah anzusehen waren, wie

leuchtende Blumenkränze, und begann darauf so herrlich zu blasen, daß der ganze Wald wundersam von den lieblichen Tönen wieder­

hallte, und dazu sangen die Nachtigallen, die wie auf des Wald­ horns Rus herbeiflatterten und sich dicht neben dem Kinde in die

Zweige setzten, ihre herrlichsten Lieder. die Töne mehr und mehr,

Aber plötzlich verhallten

und nur ein leises Säuseln quoll aus

den Gebüschen, in die das fremde Kind hingeschwunden.

„Mor­

gen — morgen kehr' ich wieder!" so rief es aus weiter Ferne

den Kindern zu, die nicht wußten, wie ihnen geschehen, denn solch innere Lust hatten sie nie empfunden.

„Ach wenn es doch nur

schon wieder morgen wäre!" so sprachen beide, Felix und Christ­

lieb,

indem sie voller Hast zu Hause liefen, um den Aeltern zu

erzählen, was sich im Walde begeben.

170 Was der Herr von Brakel und die Frau von Brakel

zu dem fremden Kinde sagten, und was sich weiter

mit demselben begab. „Beinahe möchte ich glauben, daß den Kindern das Alles nur geträumt hat! ” So sprach der Herr Thaddäus von Brakrl zu sei­

ner Gemahlin; als Felix und Christlieb, ganz erfüllt von dem frem­ den Kinde, nicht aufhören sonnten, sein holdes Wesen, seinen unmu­

thigen Gesang, seine wunderbaren Spiele zu preisen.

aber wieder daran, fuhr Herr von Brakel fort,

„Denk' ich

daß beide doch

nicht auf einmal und auf gleiche Weise geträumt haben können, so weiß ich am Ende selbst nicht, was ich von dem Allen denken soll." „Zerbrich dir den Kops nicht, o mein Gemahl! erwiederte die

Frau von Brakel, ich wette, das fremde Kind ist niemand anders als Schulmeisters Gottlieb aus dem benachbarten Dorfe.

Der ist

herübergelaufen und hat den Kindern allerlei tolles Zeug in den

Kopf gesetzt, aber das soll er künftig bleiben lassen."

Herr von

Brakel war gar nicht der Meinung seiner Gemahlin, um indessen

mehr hinter die eigentliche Bewandtniß der Sache zu kommen, wur­ den Felix und Christlieb herbeigerufen und aufgefordert genau an­

zugeben, wie das Kind ausgesehen habe und wie es gekleidet ge­ wesen sey.

Rücksichts des Ansehns stimmten beide überein, daß das

Kind ein lilienweißes Gesicht, rosenrothe Wangen, kirschrothe Lippen, blauglänzende Augen und goldgelocktes Haar habe, und so schön sey,

wie sie es gar nicht aussprechen könnten; in Ansehung der Kleider

wußten sie aber nur so viel, daß das Kind ganz gewiß nicht eine

171 blaugestreiste Jacke,

Mütze trage,

eben solche Hosen und eine schwarz Lederne

wie Schulmeisters Gottlieb.

Dagegen klang Alles,

was sie über den Anzug des Kindes ungefähr zu sagen vermochten,

ganz fabelhaft und unklug.

Kind

Christlieb

behauptete nämlich,

das

leichtes

glänzendes Kleidchen

von

trage ein wunderschönes

Rosenblätternz Felix meinte dagegen, das Kleid des Kindes funkle

in

hellem goldenen Grün wie

Frühlingslaub

im

Sonnenschein.

Daß das Kind, fuhr Felix weiter fort, irgend einem Schulmeister

angehören könne, daran sey gar nicht zu denken, denn zu gut ver­ stehe sich der Knabe auf die Jägerei, stamme gewiß aus der Hei-

math aller Wald und Iagdlust und werde der tüchtigste Jägers­ mann werden,

den es wohl gebe.

„Ei, Felix,

unterbrach ihn

Christlieb, wie kannst du nur sagen, daß das kleine liebe Mädchen

ein Jägersmann werden soll.

Auf das Jagen mag sie sich auch

wohl verstehen, aber gewiß -noch viel besser auf die Wirthschaft im Hause,

sonst hätte sie mir nicht so hübsch die Puppen angekleidet

und so schöne Schüsseln bereitet ! ” Kind für einen Knaben,

So hielt Felix

das fremde

Christlieb behauptete dagegen, es sey ein

Mädchen und beide konnten darüber nicht einig werden. — Die Frau von Brakel sagte, es lohnt gar nicht, daß man sich mit den Kindern

auf solche Narrheiten

einläßt,

der Herr

von

Brakel

meinte dagegen: „Ich dürste ja nur den Kindern nachgehen in den Wald und erlauschen, was denn das für ein seltsames Wunderkind

ist, das mit ihnen spielt,

aber es ist mir so, als könnte ich dm

Kindern dadurch eine große Freude verderben und deshalb will ich

es nicht thun."

Andern Tages, als Felix und ChristLieb zu ge-

178 wöhnlicher Zeit in den Wald liefen, schon auf sie,

wartete das fremde Kind

und wußte es gestern herrliche Spiele zu beginnen,

so schuf es vollends heute die anmuthigsten Wunder, so daß Felix

und Christlieb einmal über das andere vor Freude und Entzücken laut aufjauchzten.

Lustig und sehr hübsch zugleich war es,

daß

das fremde Kind während des Spielens so zierlich und gescheut

mit den Bäumen, Gebüschen, Blumen, mit dem Waldbach zu

sprechen wußte.

Alle antworteten auch so vernehmlich, daß Felix

und Christlieb Alles verstanden.

Das fremde Kind rief ins Erlen-

gebüsch hinein: „Ihr schwatzhaftes Volk, was flüstert und wispert

ihr wieder unter einander?" Da schüttelten stärker sich die Zweige und lachten und lispelten: „Ha — ha ha — wir freuen uns über die artigen Dinge, die uns Freund Morgenwind heute zugeraunt

hat, als er von den blauen Bergen vor den Sonnenstrahlen daher­ rauschte.

Er brachte uns tausend Grüße und Küsse von der gold-

nen Königin und einige tüchtige Flügelschläge Düfte."

voll der süßesten

„O schweigt doch, so unterbrachen die Blumen das Ge­

schwätz der Büsche, o schweigt doch von dem Flatterhaften, der mit den Düsten prahlt, die seine falschen Liebkosungen uns entlockten.

Laßt die Gebüsche lispeln und säuseln, ihr Kinder, aber schaut uns

an, horcht auf uns, wir lieben Euch gar zu sehr und putzen uns

heraus mit den schönsten glänzendsten Farben Tag für Tag, nur damit wir Euch recht gefallen." —

„Und lieben wir Euch denn

nicht auch, ihr holden Blumen?" So sprach das fremde Kind, aber Chnstlieb kniete zur Erde nieder und streckte beide Aerme weit aus, als wollte sie all' die herrlichen Blumen, die um sie her sproßten,

173 umarmen, indem sie rief: „Ach, ich lieb' Euch ja allzumal'." — Felix sprach: „Auch mir gefallt ihr wohl

in Euren glänzenden

Kleidern, ihr Blumen, aber doch halt' ich es mit dem Grün, mit den Büschen, mit den Bäumen, mit dem Walde,

der muß Euch

doch schützen und schirmen, ihr kleinen bunten Kindelein!"

sauste es in den hohen schwarzen Tannen:

Da

„Das ist ein wahres

Wort, du tüchtiger Junge, und du mußt dich nicht vor uns fürch­ ten, wenn der Gevatter Sturm daher gezogen kommt und wir ein

Bischen ungestüm mit dem groben Kerl zanken."

„Ei, rief Felix,

knarrt und stöhnt und sauset nur recht wacker, ihr grünen Riesen, dann geht ja dem tüchtigen Jägersmann erst das Herz recht auf."

„Da hast du ganz Recht, so rauschte und plätscherte der Waldbach, da hast du ganz Recht, aber wozu immer jagen, immer rennen im

Sturm und im wilden Gebraus'. — Moos und hört mir zu.

Kommt! setzt euch fein ins

Von fernen fernen Landen aus tiefem

Schacht komm ich her — ich will euch schöne Mährchen erzählen

und immer was Neues, Well' auf Welle und immerfort und fort. Und die schönsten Bilder zeig' ich Euch, schaut mir nur recht ins

blanke Spiegelantlitz — duftiges Himmelblau — goldenes Gewölk — Busch und Blum und Wald — Euch selbst, ihr holden Kinder, zieh

ich liebend hinein tief in meinen Busen! —

„Felix, Christlieb, so

sprach das fremde Kind, indem es mit wundersamer Holdseeligkeit

um sich blickte, Felix, Christlieb, o hört doch nur, wie Alles uns liebt.

Aber schon steigt das Abendroth auf hinter den Bergen und

Nachtigall ruft mich nach Hause."

fliegen," bat Felix.

„O laß uns noch ein Bischen

„Aber nur nicht so sehr hoch, da schwindeltö

174 mir gar zu sehr," sprach Christlieb.

Da faßte wie gestern das

fremde Kind beide, Felix und Christlich^ bei dm Händen und nun

schwebten sie auf im goldnen Purpur des Äbendroths und das lu­ stige Volk der bunten Vögel schwärmte und lärmte um sie her —

das war ein Jauchzen und Jubeln! — km,

wie in wogenden Flammen

In den glänzenden Wol-

erblickte Felix

die

herrlichsten

Schlösser von lauter Rubinen und andern'funkelnden Edelgesteinen:

„Schau, o schau doch, Christlieb, rief er voll Entzücken, das sind prächtige, prächtige Häuser, nur tapfer laß uns fliegen, wir kom­

men gewiß hin."

Christlieb gewahrte auch die Schlösser und ver­

gaß alle Furcht, indem sie nicht mehr hinab, sondern unverwandt in die Ferne blickte.

„Das sind meine lieben Luftschlösser, sprach

das fremde Kind, aber hin kommen wir heute wohl nicht mehr!" — Felix und Christlieb waren wie im Traume und wußten selbst nicht)

wie es geschah, daß sie unversehens sich zu Hause bei Vater und Mutter befanden.

Don der Heimath des fremden Kindes. Das fremde Kind hatte auf dem unmuthigsten Platz im Walde

zwischen säuselndem Gebüsch, dem Bach unfern, ein überaus herr­ liches Gezelt von hohen schlanken Lilien, glühenden Rosen und bun­

ten Tulipanen erbaut.

Unter diesem Gezelt saßen mit dem frem­

den Kinde Felix und Christlieb und horchten darauf, was der Waldbäch allerlei seltsames Zeug durch einander plauderte.

„Recht ver­

stehe ich doch nicht, sing Felix an, was der dort unten erzählt, und es ist mir so, als wenn du selbst, mein lieber lieber Junge, Alles,

175 was er nur so unverständlich murmelt,

könntest.

recht hübsch mir sagen

Ueberhaupt möcht' ich dich doch wohl fragen, wo du

denn herkommst und wo du immer so schnell hinverschwindest, daß

wir selbst niemals wissen, wie das geschieht?" — „Weißt du woht> liebes Mädchen, fiel Christlieb ein, daß Mutter glaubt, du seyst

Schulmeisters Gottlieb?" „Schweig doch nur, dummes Ding, ries

Mix, Mutter hat den lieben Knaben niemals gesehen, sonst würde sie gar nicht von Schulmeisters Gottlieb gesprochen haben. — Aber

nun sage mir geschwind, du lieber Junge, wo du wohnst, damit

wir zu dir ins Haus, kommen können, zur Winterszeit, wenn es stürmt und schneit und im Walde nicht Steg nicht Weg zu finden

ist."

„Ach ja! sprach Christlieb, nun mußt du uns fein sagen,

wo du zu Hause bist, wer deine Aeltern sind und hauptsächlich, wie du denn eigentlich heißest."

Das fremde Kind sah sehr ernst, bei---

nahe traurig vor sich hin und seufzte recht aus tiefer Brust. Dann,

nachdem es einige Augenblicke geschwiegen, fing es an: „Ach, liebe

Kinder, warum fragt ihr nach meiner Heimath?

Ist es denn nicht

genug, daß ich tagtäglich zu Euch komme und mit Euch spiele? —

Ich könnte Euch sagen, daß ich dort hinter den blauen Bergen,

die wie krauses, zackiges Nebelgewölk anzusehen sind, zu Hause bin, aber wenn ihr Tage lang und immer fort und fort laufen wolltet,

bis ihr auf den Bergen stündet, so würdet ihr wieder eben so fern

ein neues Gebirge schauen, hinter dem ihr meine Heimath suchen müßtet, und wenn ihr auch dieses Gebirge erreicht hattet, würdet ihr wiederum ein neues erblicken, und so würde es Euch immer

fort und fort gehen und ihr würdet niemals meine Heimach er-

176 reichen?'

„Ach, rief Christlieb weinerlich aus, ach, so wohnst du

wohl viele hundert, hundert Meilen von uns, und bist nur zum

Besuch in unserer Gegend?"

„Sieh nur, liebe Christlieb! fuhr

das fremde Kind fort, wenn du dich recht herzlich nach mir sehnst,

so bin ich gleich bei dir und bringe dir alle Spiele, alle Wunder aus meiner Heimath mit, und ist denn das nicht eben so gut, als

ob wir in meiner Heimath selbst zusammen säßen und mit einander spielten?"

„Das nun wohl eben nicht, sprach Felix, denn ich

glaube, daß deine Heimath ein gar herrlicher Ort seyn muß, ganz voll von den herrlichen Dingen, die du uns mitbringst.

Du magst

mir nun die Reise dahin so schwierig darstellen, wie du willst, so wie ich es nur vermag, mache ich mich doch auf den Weg.

So

durch Wälder streichen und auf ganz wilden verwachsenen Pfaden,

Gebirge erklettern, durch Bäche waten über schroffes Gestein und dornicht Gestrüpp, das ist so recht Waidmanns Sache — ich werd's schon durchführen."

„Das wirst du auch, rief das fremde Kind,

indem es freudig lachte, und wenn du es dir so recht fest vornimmst, dann ist es so gut als hättest du es schon wirklich ausgeführt.

Das Land, in dem ich wohne, ist in der That so schön und herr­ lich, wie ich es gar nicht zu beschreiben vermag.

Meine Mutter

ist es, die als Königin über dieses Reich voller Glanz und Pracht

herrscht." —

„So bist du ja ein Prinz — So bist du ja eine

Prinzessin" — riefen zu gleicher Zeit verwundert, ja beinah er­

schrocken, Felix und Christlieb. Kind.

„Allerdings," sprach das fremde

„So wohnst du wohl in einem schönen Pallast?" fragte

Felix weiter.

„Ja wohl, erwiederte das fremde Kind, noch viel

177 schöner ist der Pallast meiner Mutter, als die glänzenden Schlösser,

die du in den Wolken geschaut hast, denn seine schlanken Säulen

aus purem Krystall erheben sich hoch — hoch hinein in das Him­ melblau, das auf ihnen ruht wie ein weites Gewölbe. . Unter dem

segelt glänzendes Gewölk mit goldnen Schwingen hin und her und das purpurne Morgen-, das Abendroth steigt auf und nieder und

in klingenden Kreisen tanzen die funkelnden Sterne. —

Ihr habt,

meine lieben Gespielen, ja wohl schon von Feen gehört, die, wie es sonst kein Mensch vermag, die herrlichsten Wunder Hervorrufen kön­

nen, und ihr werdet es auch wohl schon gemerkt haben, daß meine Mutter nichts anderes ist, als eine Fee.

und

zwar die mächtigste, die es giebt.

Ja! das ist sie wirklich

Alles, was auf der Erde

webt und lebt, hält sie mit treuer Liebe umfangen, doch zu ihrem

innigen Schmerz wollen viele Menschen gar nichts von ihr wissen. Vor allen liebt meine Mutter aber die Kinder und daher kommt

es, daß die Feste, die sie in ihrem Reiche den Kindern bereitet, die schönsten und herrlichsten sind.

Da geschieht es denn wohl, daß

schmucke Geister aus dem Hofstaate meiner Mutter keck sich durch

die Wolken schwingen und von einem Ende des Pallastes bis zum

andern einen in den schönsten Farben schimmernden Regenbogen spannen.

Unter dem bauen sie den Thron meiner Mutter aus lau­

ter Diamanten, die aber so anzusehen sind und so herrlich duften wie Lilien, Nelken und Rosen.

So wie meine Mutter den Thron

besteigt, rühren die Geister ihre goldnen Harfen, die krystallnen Zimbeln und dazu singen die Kammersänger meiner Mutter mit

solch wunderbaren Stimmen, daß man vergehen möchte vor süßer

178 Lust. Diese Sänger sind aber schöne Vögel, größer noch als Adler,

mit ganz purpurnem Gefieder, wie ihr sie wohl noch nie gesehen Aber so wie die Musik losgegangen, wird Alles im Pallast,

habt.

im Walde, im Garten laut und lebendig.

Viele tausend blankge­

putzte Kinder tummeln sich im Jauchzen und Jubeln umher.

Bald

jagen sie sich durch's Gebüsch und werfen sich neckend mit Blumen, bald klettern sie auf schlanke Bäumchen und lassen sich vom Winde

hin und her schaukeln, bald pflücken sie goldglänzende Früchte, die so süß und herrlich schmecken wie sonst nichts auf der Erde, bald

spielen sie mit zahmen Rehen — mit andern schmucken Thieren, die ihnen aus dem Gebüsch entgegenspringen; bald rennen sie keck den

Regenbogen auf und nieder oder besteigen gar als kühne Reuter die

schönen Goldfasanen, die sich mit ihnen durch die glänzenden Wol­ ken schwingen."

„Ach, das muß herrlich sein, ach, nimm uns mit

in deine Heimath, wir wollen immer dort bleiben!" —

So rie­

fen Felix und Christlieb voll Entzücken, das fremde Kind sprach

aber:

„Mitnehmen nach meiner Heimath kann ich Euch in der

That nicht, es ist zu weit, ihr müßtet so gut und unermüdlich flie­ gen können wie ich selbst." Felix und Christlieb wurden ganz trau­

rig und blickten schweigend zur Erde nieder.

Don dem bösen Minister am Hofe der Feen-Königin. „Ueberhaupt, fuhr das fremde Kind fort, überhaupt möchtet ihr Euch in meiner Heimath vielleicht gar nicht so gut befinden, als

ihr es Euch nach meiner Erzählung vorstellt. könnte euch sogar verderblich seyn.

Ja, der Aufenthalt

Manche Kinder vermögen nicht

179 den Gesang der purpurrothen Vögel, so herrlich er auch ist, zu

ertragen, so daß er ihnen das Herz zerreißt und sie augenblicklich

sterben müssen.

Andere, die gar zu keck auf dem Regenbogen ren-

ncn, gleiten aus und stürzen herab, und manche sind sogar albern genug, im besten Fliegen dem Goldfasan, der sie trägt, weh' zu thun.

Das nimmt denn der sonst friedliche Vogel dem dummen Kinde übel

und reißt ihm mit seinem scharfen Schnabel die Brust auf, so daß es blutend aus den Wolken herabfällt.

Meine Mutter härmt sich

gar sehr ab, wenn Kinder auf solche Weise, freilich durch ihre eigne Schuld, verunglücken.

Gar

zu gern wollte sie, daß alle

Kinder auf der ganzen Welt die Lust ihres Reichs genießen möchten,

aber wenn viele auch tüchtig fliegen können, so sind sie nachher doch entweder zu keck oder zu furchtsam und verursachen ihr nur Sorge Eben deshalb erlaubt sie mir daß ich hinausfliegen

und Angst.

aus meiner Heimath und tüchtigen Kindern allerlei schöne Spiel­ sachen daraus mitbringen darf, wie ich es denn auch mit Euch ge­

macht habe."

,',Ach, rief Christlieb, ich könnte gewiß keinem schö­

nen Vogel Leides thun, aber auf dem Regenbogen rennen möchte ich doch nicht."

„Das wäre, — siel ihr Felix ins Wort, — das

wäre nun gerade meine Sache und eben deshalb möchte ich zu dei­

ner Mutter Königin. Kannst du nicht einmal den Regenbogen mit­

bringen?"

„Nein, erwiederte das fremde Kind, das geht nicht an,

und ich muß dir überhaupt sagen, daß ich mich nur ganz heimlich zu Euch stehlen darf.

Sonst war ich überall sicher als sey ich bei

meiner Mutter, und es war überhaupt so, als sey überall ihr schö­ nes Reich ausgebreitet, seit der Zeit aber, daß ein arger Feind mei-

180 ner Mutter, den sie aus ihrem Reiche verbannt hat, wild umher­

schwärmt, bin ich vor arger Nachstellung nicht geschützt,"

„Nun

rief Felix, indem er aufsprang und den Dornenstock, den er sich ge­ schnitzt, in der Lust schwenkte, nun den wollt' ich denn doch sehen,

der dir hier Leides zufügen sollte.

Fürs Erste hätt' er es mit mir

zu thun, und dann rief ich Papa zu Hülfe; der ließe den Kerl ein­ fangen und in den Thurm sperren."

„Ach, erwiederte das stemde

Kind, so wenig der arge Feind in meiner Heimath mir etwas an­

thun kann, so gefährlich ist er mir außerhalb derselben; er ist gar

mächtig und wider ihn Hilst nicht Stock, nicht Thurm." ist denn das für ein garstig Ding,

„Was

daß dich so bange machen

kann?" fragte Christlieb. „Ich habe Euch gesagt, fing das fremde Kind an, daß meine Mutter eine mächtige Königin ist, und ihr

wißt, daß Königinnen so wie Könige einen Hofstaat und Minister um sich haben."

„Ja wohl, sprach Felix, der Onkel Graf ist

selbst solch' ein Minister, und trägt einen Stern auf der Brust.

Deiner Mutter Minister tragen auch wohl recht funkelnde Sterne?"

„Nein, erwiederte das fremde Kind, nein, das eben nicht, denn die

mehrsten sind selbst ganz und gar funkelnde Sterne und andere tragen gar keine Röcke, worauf sich so etwas anbringen ließe. Daß ichs nur sage, alle Minister meiner Mutter sind mächtige Geister,

die theils in der Luft schweben, theils in Feuerflammen, theils in den Gewässern wohnen,

Mutter ihnen gebietet.

und überall das ausführen was meine

Es fand sich vor langer Zeit ein fremder

Geist bei uns ein, der nannte sich Pepasilio und behauptete, er sey ein großer Gelehrter, er wisse mehr und würde größere Dinge be-

181 wirken, als alle übrigen.

Meine Mutter nahm ihn in die Reihe ih­

rer Minister auf, aber bald entwickelte sich immer mehr seine innere

Tücke.

Außerdem daß er alles, was die übrigen Minister thaten,

zu vernichten strebte, so hatte er es vorzüglich darauf abgesehen, die

frohen Feste der Kinder recht hämisch zu verderben.

Er hatte der

Königin vorgespiegelt, daß er die Kinder erst recht lustig und ge­

scheut machen wollte, statt dessen hing er sich centnerschwer an den Schweif der Fasanen, so daß sie sich nicht ausschwingen konnten,

zog er die Kinder wenn sie auf Rosenbüschen hinaufgeklettert, bei den Beinen herab, daß sie sich die Nasen blutig schlugen, zwang

er die, welche lustig laufen und springen wollten, auf allen Vieren mit zur Erde gebeugtem Haupte herum zu kriechen.

Den Sän­

gern stopfte er allerlei schädliches Zeug in die Schnäbel, damit sie

nur nicht singen sollten, denn Gesang konnte er nicht ausstehen und die armen zahmen Thierchen wollte er, statt mit ihnen zu spielen,

auffressen, denn nur dazu, meinte er, wären sie da.

Das Abscheu­

lichste war aber wohl, daß er mit Hülfe seiner Gesellen die schönen

funkelnden Edelsteine des Pallastes, die bunt schimmernden Blu­

men, die Rosen und Lilienbüsche, ja selbst den glänzenden Regen­ bogen mit einem ekelhaften schwarzen Saft zu überziehn wußte,

so daß alle Pracht verschwunden und alles todt und traurig anzu­

sehen war.. Und wie er dies vollbracht, erhob er ein schallendes Gelächter und schrie, nun sey erst alles so, wie es sein solle, denn er habe es beschrieben.

Als er nun vollends erklärte, daß er meine

Mutter nicht als Königin anerkenne, sondern daß ihm allein die

Herrschaft gebühre, und sich in der Gestalt einer ungeheuren Fliege

182 mit blitzenden Augen und vorgestrecktem scharfem Rüssel empor­ schwang in abscheulichem Summen und Brausen auf den Thron

meiner Mutter, da erkannte sie so wie alle, daß der hämische Mi­ nister, der sich unter dem schönen Namen Pepafllio eingeschlichen,

niemand anders war, als der finstere mürrische Gnomen-König Pepser.

Der Thörichte aber hatte die Kraft, so wie die Tapferkeit

seiner Gesellen viel zu hoch in Anschlag gebracht.

Die Minister des

Lustdepartements umgaben die Königin und fächelten ihr süße Düfte zu, indem die Minister des Feuerdepartements 'in Flammenwogen

auf und nieder rauschten, und die Sänger, deren Schnäbel gereinigt, die volltönendsten Gesänge anstimmten, so daß die Königin den häß­

lichen Pepser weder sah noch hörte, noch seinen vergifteten übelrie-

chenden Athem spürte.

In dem Augenblick auch faßte der Fasanen­

fürst den bösen Pepser mit dem leuchtenden Schnabel und drückte

ihn so gewaltig zusammen, daß er vor Wuth und Schmerz laut aufkreischte, dann ließ er ihn aus der Höhe von dreitausend Ellen

zur Erde niederfallen.

Er konnte sich nicht

regen noch bewegen,

bis auf sein wildes Geschrei seine Muhme, die große blaue Kröte,

herbeikroch, ihn auf den Rücken nahm und nach Hause schleppte. Fünfhundert lustige kecke Kinder erhielten tüchtige Fliegenklatschen,

mit denen sie Pepsers häßliche Gesellen, die noch umherschwärmten und die schönen Blumen verderben wollten, todt schlugen.

So wie

nun Pepser fort war, zerstoß der schwarze Saft, womit er alles über­ zogen, von selbst und bald blühete und glänzte und strahlte alles so herrlich und schön wie zuvor.

Ihr könnt denken, daß der gar­

stige Pepser nun in meiner Mutter Reich nichts mehr vermag, aber

183

er weiß, daß ich mich oft hinauswage und verfolgt mich rastlos unter« allerlei Gestatten, so daß ich ärmstes Kind oft auf der Flucht nicht weiß, wo ich mich hin verbergen soll, und darum, ihr lieben Gespielen, entfliehe ich oft so schnell, daß ihr nicht spürt, wo ich hingekommen. Dabei muß es denn auch bleiben und wohl kann ich euch sagen, daß, sollte ich es unternehmen mich mit Euch in meine Heimath zu schwingen, Pepser uns gewiß aufpaffen und uns todt machen würde." Christlieb weinte bitterlich über die Gefahr, in der das fremde Kind immer schweben mußte. Felix meinte aber: „Ist der garstige Pepser weiter nichts als eine große Fliege, so will ich ihm mit Papas großer Fliegenklatschr schon zu Leibe gehn, und habe ich ihm eins tüchtig auf die Nase versetzt, so mag Muhme Kröte zusehen, wie fle ihn nach Hause schleppt." Wie der Hofmeister angekommen war und die Kinder sich vor ihm fürchteten.

In vollem Sprunge eilten Felix und Christlieb nach Hause, indem sie unaufhörlich riefen: „Ach das fremde Kind ist ein schö­ ner Prinz! —- Ach das fremde Kind ist eine schöne Prinzessin!" Sie wollten das jauchzend den Eltern verkünden, aber wie zur Bildsäule erstarrt blieben sie in der Hausthüre stehen, als ihnen Herr Thaddäus von Brakel entgegentrat und an seiner Seite einen fremden verwunderlichen Mann hatte, der halb vernehmlich in sich hinein brummte: „Das sind mir saubere Rangen!" — „Das ist der Herr Hofmeister, sprach Herr von Brakel, indem er den Mann bei der Hand ergriff, das ist der Herr Hofmeister, den Euch der

184 gnädige Onkel geschickt hat.

Grüßt ihn fein artig!" —

Aber

die Kinder sahen den Mann von der Seite an und konnten sich nicht regen und bewegen.

wunderliche Gestalt noch

Das kam daher,

niemals

geschaut.

weil sie solch eine

Der Mann

mochte

kaum mehr als einen halben Kopf höher seyn als Felix, dabei war

er aber untersetzt, nur stachen gegen den sehr starken breiten Leib die kleinen ganz dünnen Spinnenbeinchen seltsam ab.

Der unförm­

liche Kopf war beinahe viereckig zu nennen und das Gesicht fast gar zu häßlich, denn außerdem, daß zu den dicken braunrothen Backen und dem breiten Maule die viel zu lange spitze Nase gar nicht passen wollte, so glänzten auch die kleinen hervorstehenden Glasaugen so graulich, daß man ihn gar nicht gern ansehen mochte. Uebrigens hatte der Mann eine pechschwarze Perücke auf den vier­

eckigen Kopf gestülpt, war auch vom Kopf bis zu Fuß pechschwarz

gekleidet und hieß: Magister Tinte.

Als nun die Kinder sich nicht

rückten und rührten, wurde die Frau von Brakel böse und rief:

„Potztausend, ihr Kinder, was ist denn das?

Der Herr Magister

wird Euch für ganz ungeschliffene Bauernkinder halten müssen —

Fort! gebt dem Herrn Magister fein die Hand!"

Die Kinder

ermannten sich, und thaten, was die Mutter befohlen, sprangen

aber, als der Magister ihre Hände faßte, mit dem lautem Schrei: „Oweh, oweh!" zurück. Der Magister lachte hellauf, und zeigte

eine heimlich in der Hand versteckte Nadel vor, womit er die Kin­

der, als sie ihm die Hände reichten, gestochen.

Christlieb weinte,

Felix aber grollte den Magister von der Seite an: „Versuche das nur noch einmal, kleiner Dickbauch." — „ Warum thaten sie das,

185 lieber Herr Magister Tinte," fragte etwas mißmüthig der Herr von Brakel.

Der Magister erwiederte: „Das ist nun einmal so

meine Art, ich kann davon gar nicht lassen."

Und dabei stemmte

er beide Hände in die Seite und lachte immer fort, welches aber

zuletzt so widerlich klang, wie der Ton einer verdorbnen Schnarre. „Sie scheinen ein spaßhafter Mann zu seyn, lieber Herr Magister

Tinte," sprach der Herr von Brakel, aber ihm sowohl als der Frau von Brakel, vorzüglich den Kindern, wurde ganz unheimlich zu Muthe.

„Nun nun, rief der Magister, wie stehts denn mit

den kleinen Krabben,

rückt? —

schon tüchtig in den Wissenschaften vorge­

Wollen doch gleich sehen."

Damit fing er an, den

Felix und die Christlieb so zu fragen, wie es der Onkel Graf mit

seinen Kindern gethan.

Als nun aber beide versicherten, daß sie

die Wissenschaften noch gar nicht auswendig wüßten, da schlug der

Magister Tinte

die Hände über

dem Kopf zusammen,

daß es

klatschte und schrie wie besessen: „Das ist was Schönes! — keine

Wissenschaften, keine Wissenschaften. — Wollens aber schon kriegen!"

Das wird Arbeit geben!

Felix so wie Christlieb, beide schrie­

ben schon eine saubere Handschrift und wußten aus manchen alten

Büchern, die ihnen der Herr von Brakel in die Hände gab, und die sie ämsig lasen, manche schöne Geschichte zu erzählen, das ach­

tete aber der Magister Tinte für gar nichts, sondern meinte, das Alles wäre nur dummes Zeug. —

Ach! nun war an kein in den

Wald Laufen mehr zu denken! —

Statt dessen mußten die Kin­

der beinahe den ganzen Tag zwischen den vier Wänden sitzen und dem Magister Tinte Dinge nachplappern, die sie nicht verstanden.

186 Es war ein wahres Herzeleid! —

Mit welchen sehnsuchtsvollen

Blicken schauten sie nach dem Walde!

Oft war es ihnen, als hör­

ten sie, mitten unter den lustigen Liedern der Vögel, im Rauschen

der Bäume des fremden Kindes süße Stimme rufen: „Wo seyd

ihr denn, Felix — Christlieb — ihr lieben Kinder! wo seyd ihr denn! wollt ihr nicht mehr mit mir spielen ? — Kommt doch

nur! — ich habe Euch einen schönen Blumenpallast gebaut — da

setzen wir uns hinein und ich schenk' Euch die herrlichsten buntesten

Steine — und dann schwingen wir uns auf in die Wolken und bauen selbst funkelnde Lustschlösser! — Kommt doch! Kommt doch nur!"

Darüber wurden die Kinder ryit allen ihren Gedanken

ganz hingezogen nach dem Walde, und sahen und hörten nicht mehr auf den Magister.

Der wurde aber dann ganz zornig, schlug mit

beiden Fäusten auf den Tisch, und brummte und summte und

schnarrte und

knarrte: „Pim — Sim —

Knurr — Krrr —

Prr —

Was ist das! — aufgepaßt l"

Srrr —

Felix hielt

das aber nicht lange aus, er sprang auf und ries: „Laß mich los

mit deinem dummen Zeuge, Herr Magister Tinte, fort will ich in

den Wald — such' dir den Vetter Pumphose, das ist was für

den! —

uns." —

Komm Christlieb,

das fremde Kind wartet schon auf

Damit ging es fort, aber der Magister Tinte sprang

mit ungemeiner Behendigkeit hinter her, und erfaßte die Kinder dicht vor der Hausthüre.

Felix wehrte sich tapfer und der Ma­

gister Tinte war im Begriff zu unterliegen, da dem Felix der treue

Sultan zu Hülfe geeilt war.

Sultan, sonst ein frommer gesitteter

Hund, hatte gleich vom ersten Augenblick an einen entschiedenen

187 Abscheu gegen den Magister Tinte bewiesen.

So

wie dieser ihm

nur nahe kam, knurrte er und-schlug mit dem Schweif so heftig

um sich, daß er den Magister, den er geschickt an die dünnen Bein­ chen zu treffen wußte, beinah umgeschmissen hätte.

Sultan sprang

hinzu und packte den Magister, der Felix bei beiden Schultern hielt, ohne Umstände beim Rockkragen.

Der Magister Tinte erhob

ein klägliches Geschrei, auf das Herr Thaddäus von Brakel schnell Der Magister ließ ab von Felix,

hinzueilte.

Sultan von dem

Magister. „Ach, wir sollen nicht mehr in den Wald," klagte Christ­ lieb, indem sie bitterlich weinte.

So sehr auch der Herr von Bra­

kel den Felix ausschalt, thaten ihm doch die Kinder leid, die nicht

mehr in Flur und Hain herumschwärmen sollten.

Der Magister

Tinte mußte sich dazu verstehen, täglich mit den Kindern den Wald zu besuchen.

Es ging ihm schwer ein.

„Hätten sie nur, Herr

von Brakel, sprach er, einen vernünftigen Garten mit Buchsbaum

und Staketen am Hause, so könnte man in der Mittagsstunde mit

den Kindern spazieren gehen, was in aller Welt sollen wir aber in dem wilden Walde?" —

Die Kinder waren auch ganz un­

zufrieden, und die sprachen nun wieder: „Was soll uns der Ma­ gister Tinte in unserm lieben Walde?" —

Wie die Kinder mit dem Herrn Magister Tinte im Walde spazieren gingen und was sich dabei zutrug. „Nun? — gefällt es dir nicht in unserm Walde, Herr Ma­

gister?"

So fragte Felix den Magister Tinte, als sie daher zogen

durch das rauschende Gebüsch.

Der Magister Tinte zog aber ein

188 saures Gesicht und rief: „Dummes Aeug, hier ist kein ordentlicher Steg und Weg, man zerreißt sich nur die Strümpfe und kann vor dem häßlichen Gekreisch der dummen Vögel gar kein vernünf­

tiges Wort sprechen."

„Haha, Herr Magister, sprach Felix, ich

merk' es schon, du verstehst dich nicht auf den Gesang und hörst es auch wohl gar nicht einmal, wenn der Morgenwind mit den

Büschen plaudert und der alte Waldbach schöne Mährchen erzählt." „Und, fiel Christlieb dem Felix ins Wort, sag' es nur Herr Ma­

gister, du liebst auch wohl nicht die Blumen?"

Herr Magister noch kirschbrauner im Antlitz,

Da wurde der

als er schon von

Natur war, er schlug mit den Händen um sich und schrie ganz

erbost: „Was sprecht ihr da für tolles albernes Aeug?

wer

hat Euch die Narrheiten in den Kopf gesetzt? das fehlte noch, daß

Wälder und Bäche dreist genug wären, sich in vernünftige Gespräche zu mischen und mit dem Gesänge der Vögel ist es auch nichts;

Blumen lieb' ich wohl, wenn sie fein in Töpfe gesteckt sind und in der Stube stehen, dann duften sie und man erspart das Räucher­

werk.

Doch im Walde wachsen ja gar keine Blumen."

„Aber,

Herr Magister, rief Christlieb, siehst du denn nicht die lieben Mai­ blümchen, die dich recht mit hellen freundlichen Augen ankucken?"

„Was, was, schrie der Magister — Blumen? Augen? — ha ha ha —

schöne Augen — schöne Augen!

nicht einmal!" —

Die nichtsnutzigen Dinger riechen

Und damit bückte sich der Magister Tinte zur

Erde nieder, riß einen ganzen Strauß Maiblümchen sammt den Wurzeln heraus und warf ihn fort ins Gebüsch.

Den Kindern

war es, als ginge in dem Augenblick ein wehmüthiger Klagelaut

189 durch den Wald; Christlieb mußte bitterlich weinen, Felix biß un­ muthig die Zähne zusammen.

Da geschah es, daß ein kleiner Zeisig

dem Magister Tinte dicht bei der Nase vorbeiflatterte, sich dann auf einen Zweig setzte und ein lustiges Liedchen anstimmte.

„Ich

glaube gar, sprach der Magister, ich glaube gar, das ist ein Spott­

vogel?"

Und damit nahm er einen Stein von der Erde auf,

warf ihn nach dem Zeisig und traf den armen Vogel, daß er zum Tode verstummt von dem grünen Zweige herabfiel.

Felix sich gar nicht mehr halten.

Nun konnte

„Ei, du abscheulicher Herr Ma­

gister Tinte, rief er ganz erbost, was hat dir der arme Vogel ge­

than, daß du ihn todt schmeißest? — O wo bist du denn, du hol­ des fremdes Kind, o komm doch nur, laß uns weit weit fortfliegen,

ich mag nicht mehr bei dem garstigen Menschen seyn, ich will fort nach deiner Heimath!" — Und mit vollem Schluchzen und Wei­

nen stimmte Christlieb ein: „O du liebes holdes Kind, komm doch nur, komm doch nur zu uns, Ach! Ach! — rette uns — rette

uns, der Herr Magister Tinte macht uns ja todt wie die Blumen

und Vögel!" — der Magister.

„Was ist das mit dem fremden Kinde," rief

Aber in dem Augenblick säuselte es. stärker im Ge­

büsch und in dem Säuseln erklangen wehmüthige herzzerschneidende Töne wie von dumpfen in weiter Ferne angeschlagenen Glocken. — In einem leuchtenden Gewölk, das sich herabließ, wurde das holde

Antlitz des fremden Kindes sichtbar — dann schwebte es ganz her­ vor, aber es rang die kleinen Händchen und Thränen rannen wie

glänzende Perlen aus den holden Augen über die rosigen Wangm „Ach, jammerte das fremde Kind, ach, ihr lieben Gespielen, ich



190

kann nicht mehr zu Euch kommen — ihr werdet mich nicht wieder sehen — lebt wohl!

Der Gnome Pepser hat sich

lebt wohl! —

Eurer bemächtigt, o ihr armen Kinder, lebt wohl — lebt wohl! ” —

Und damit schwang sich das fremde Kind hoch in die Lüste.

Aber

hinter den Kindern brummte und summte und knarrte und schnarrte

eS auf entsetzliche grausige Weise.

Der Magister Tinte hatte sich

umgestaltet in eine große scheusliche Fliege, und recht abscheulich

war es, daß er dabei doch noch ein menschliches Gesicht, und sogar auch einige Kleidungsstücke behalten.

Er schwebte langsam

schwerfällig auf, offenbar um das fremde Kind zu verfolgen.

und

Von

Entsetzen und Graus erfaßt rannte Felix und Christlieb fort aus dem Walde.

Erst auf der Wiese wagten sie empor zu schauen.

Sie wurden einen glänzenden Punkt in den Wolken gewahr, der wie ein Stern funkelte und herabzuschweben schien.

fremde Kind" rief Christlieb.

„Das ist das

Immer größer wurde der Stern

und dabei hörten sie ein Klingen wie von schmetternden Trompeten.

Bald konnten sie nun erkennen, daß der Stern ein schöner in glei­ ßendem Goldgesieder prangender Vogel war, der die mächtigen Flü­

gel schüttelnd und laut singend sich

auf den Wald herabsenkte.

„Ha, schrie Felix, das ist der Fasanenfürst, der beißt den Herrn Magister Tinte todt — ha ha, das fremde Kind ist geborgen und wir sind es auch! —

Komm Christlieb — schnell laß uns nach

Hause laufen und dem Papa erzählen, was sich zugetragen.

191 Wie der Herr von Brakel den Magister Tinte fortjagte. Der Herr von Brakel und die Frau von Brakel, beide, saßen vor der Thüre ihres kleinen Hauses, und schauten in das Abend-

roth, das schon hinter den blauen Bergen in goldenen Strahlen aufzuschimmern begann.

Vor ihnen stand auf einem kleinen Lisch

das Abendessen aufgetragen, das aus nichts anderm als einem tüch­ tigen Napf voll herrlicher Milch und einer Schüssel mit Butter-

bröten bestand.

„Ich weiß nicht, sing der Herr von Brakel an,

ich weiß nicht, wo der Magister Tinte so lange mit den Kindern

ausbleibt.

Erst hat er sich gesperrt und durchaus nicht in den

Wald gehen wollen, und jetzt kommt er gar nicht wieder heraus.

Ueberhaupt ist das ein ganz wunderlicher Mann, der Herr Magister Tinte, und es ist mir beinahe so, als sey es besser gewesen, er wäre ganz davon geblieben.

Daß er gleich anfangs die Kinder

so heimtückisch stach, das hat mir gar nicht gefallen, und mit sei­ nen Wissenschaften mag es auch nicht weit her seyn, denn allerlei

seltsame Wörter und unverständliches Zeug plappert er her und

weiß, was der Großmogul für Kamaschen trägt; kommt er aber heraus, so vermag er nicht die Linde vom Kastanienbaum zu unter­

scheiden und hat sich überhaupt

ganz albern

und

abgeschmackt.

Die Kinder können unmöglich Respekt vor ihm haben."

„Mir

geht es, erwiederte die Frau von Brakel, mir geht es ganz wie dir, lieber Mann!

So sehr es mich freute, daß der Herr Better

sich unserer Kinder annehmen wollte, so sehr bin ich jetzt davon

192 überzeugt, daß das auf andere und bessere Weise hätte geschehen können, als daß er uns den Herrn Magister Tinte über den Hals

schickte.

Wie es mit seinen Wissenschaften stehen mag, daß weiß

ich nicht, aber so viel ist gewiß, daß das kleine schwarze dicke Männchen mit den kleinen dünnen Beinchen mir immer mehr und

mehr zuwider wird. so entsetzlich

Vorzüglich ist es garstig, daß der Magister

naschhaftig ist.

er stehen sehen,

Keine Neige Bier oder Milch kann

ohne sich darüber her zu machen, merkt er nun

vollends den geöffneten Auckerkasten, so ist er gleich bei der Hand

und schnuppert und nascht so lange an dem Zucker, bis ich ihm

den Deckel vor der Nase Zuschläge; dann ist er auf und davon,

und ärgert sich und brummt und summt ganz seltsam und fatal.” Der Herr von Brakel wollte fortfahren im Gespräch, als Felixiund Christlieb in vollem Rennen durch die Birken kamen.

„Heisa! —

heisa! — schrie Felix unaufhörlich, heisa heisa! der Fasanenfürst hat den Herrn Magister Tinte todtgebissen!”

„Ach — Ach Mama,

rief Christlieb athemlos, ach! — der Herr Magister Tinte ist kein

Herr Magister,

das

ist der Gnomen-König Pepser,

eigentlich

aber eine abscheuliche große Fliege, die eine Perücke trägt, und

Schuhe und Strümpfe.”

Die Aeltern staunten die Kinder an, die

nun ganz aufgeregt und erhitzt durch einander von dem fremden

Kinde, von seiner Mutter, der Feen-Königin, von dem Gnomen-

König Pepser, und von dem Kampf des Fasanenfürsten mit ihm erzählten.

„Wer hat Euch denn die tollen Dinge in den Kopf

gesetzt, habt ihr geträumt oder was geschah sonst mit Euch?”

So

fragte Herr von Brakel einmal über das andere; aber die Kin?

193 der blieben dabei, daß sich alles so zugetragen, wie sie es erzählten, und daß der häßliche Pepser, der sich für den Herrn Magister

Tinte fälschlich ausgegeben, todt im Walde liegen müsse. Die Frau von Brakel schlug die Hände über den Kopf zusammen und rief

ganz traurig: „Ach Kinder, Kinder, was soll auS Euch werden,

wenn Euch solche entsetzliche Dinge in den Ginn kommen und ihr Euch davon nichts.ausreden lassen wollt!" —

Aber der Herr von

Brakel wurde sehr nachdenklich und ernsthaft.

„Felix, sprach er

endlich, Felix du bist nun schon ein ganz verständiger Zunge, und ich

kann es dir wohl sagen, daß auch mir der Herr Magister Tinte von Anfang an ganz seltsam und verwunderlich vorgekommen ist.

Ja, es schien mir ost, als habe es mit ihm eine besondere Bewandt-

niß und er sey gar nicht so wie andere Magister.

Noch mehr'. —

ich sowohl als die Mutter, beide sind wir mit dem Herrn Magister

Tinte nicht ganz zufrieden,

die Mutter vorzüglich, weil er ein

Naschmaul ist, alle Süßigkeiten beschnuppert und dabei so häßlich

brummt und summt; er wird daher auch wohl nicht lange bei uns bleiben können.

Aber nun, lieber Junge, besinne dich einmal, ge­

setzt auch, es gebe solche garstigen Dinger, wie Gnomen seyn sollen, wirklich in der Welt, besinne dich einmal, ob ein Herr Magister wohl eine Fliege seyn kann?" —

Felix schaute dem Herrn von

Brakel mit seinen blauen klaren Augen ernsthaft inS Gesicht. Der

Herr von Brakel wiederholte die Frage:

„Sag', mein Junge!

kann wohl ein Herr Magister eine Fliege seyn?" Da sprach Felix: „Ich habe sonst nie daran gedacht, und hätte es auch wohl nicht

geglaubt, wenn mir es nicht das fremde Kind gesagt, und ich es

13

194 mit eigenen Augen gesehen hätte, daß Pepser eine garstige Fliege ist und sich nur für den Magister Tinte ausgegeben hat. —

Und

Vater, fuhr Felix weiter fort, als Herr von Brakel wie einer, der vor Verwunderung gar nicht weiß, was er sagen soll, still­

schweigend den Kppf schüttelte, und Vater, sage, hat dir der Herr Magister Tinte

selbst nicht

einmal entdeckt, daß er eine Fliege

sey? — habe ich's denn nicht selbst gehört, daß er dir hier vor der

Thür sagte, er sey auf der Schule eine muntere Fliege gewesen?

Nun, was man einmal ist, daß muß man, denk ich, auch bleiben. Und daß der Herr Magister,

wie die Mutter zugesteht, so ein

Naschmaul ist und an allem Süßen schnuppert, nun, Vater! wie

machen's denn die Fliegen anders? und das häßliche Summen und

Brummen."

„Schweig, rief der Herr von Brakel ganz erzürnt,

mag der Herr Magister Tinte seyn was er will, aber so viel ist

gewiß, daß der Fasanenfürst ihn nicht todt gebissen hat, denn dort

kommt er eben aus dem Walde!"

Auf dieses Wort schrien die

Kinder laut auf und flüchteten ins Haus hinein.

In der That

kam der Magister Tinte den Birkengang herauf, aber ganz ver­ wildert mit funkelnden Augen, zerzauster Perücke, im abscheulichen Sumsen und Brummen

sprang er von einer Seite zur andern

hoch auf und prallte mit dem Kopf gegen die Bäume an, daß man es krachen hörte.

So herangekommen, stürzte er sich sofort in den

Napf, daß die Milch überströmte, die er einschlürfte mit widrigem Rauschen.

„Aber um tausend Gotteswillen, Herr Magister Tinte,

was treiben Sie?" rief die Frau von Brakel. „Sind Sie toll ge­

worden, Herr Magister, plagt sie der böse Feind?" schrie der Herr

195 von Brakel.

Aber alles nicht achtend schwang sich -er Magister

aus dem Milchnapf, setzte sich auf die Butterbrödte hin, schüttelte die Rockschöße und wußte mit den dünnen Beinchen geschickt darü­

ber hinzufahren und sie glatt zu streichen und zu fälteln.

Dann

stärker summend schwang er sich gegen die Thüre, aber er konnte

nicht hineinsinden ins Haus, sondern schwankte wie betrunken hin und her und schlug

gegen die Fenstern an,

daß

es klirrte und

schwirrte. „Ha, Patron, rief der Herr von Brakel, das sind dumme unnütze Streiche, wart', das soll dir übel bekommen." den Magister bei dem Rockschoß zu haschen,

Er suchte

der wußte ihm aber

Da sprang Felix Sus' dem Hause mit der

geschickt zu entgehen.

großen Fliegenklatsche in der Hand, die er dem Vater gab. „Nimm

Vater, nimm, rief er, schlag ihn todt, den häßlichen Pepser." Der Herr von Brakel ergriff auch wirklich die Fliegenklatsche, und nun

ging es her hinter dem Herrn Magister. Felix, Christlieb, die Frau von

Brakel

schwangen

hatten

die Servietten

vom Tische genommen

und

sie den Magister hin und hertreibend in den Lüften,

während Herr von Brakel unaufhörlich Schläge gegen ihn führte, die leider nicht trafen, weil der Magister sich hütete, auch nur einen Augenblick

zu

ruhen.

Und wilder

und wilder wurde die tolle

Jagd — Summ — Summ — Simm — Simm — Trr — Trr — stürmte der Magister auf und nieder — und Klipp — Klapp fielen hageldichter des Herrn von Br'akel Schläge undhuß—

Huß — hetzten Felix, Christlieb und die Frau von Brakel den Feind.

Endlich gelang eS dem Herrn von Brakel den Magister

am Rockschoß zu treffen.

Aechzend stürzte er zu Boden,

13*

aber

196 in dem Augenblick, daß der Herr von Brakel ihn mit einem zwei­ ten Schlage treffen wollte, schwang er sich mit erneuter doppelter

Kraft in die Höhe, stürmte sausend und brausend nach den Birken hin und ließ sich nicht wieder sehen.

„ Gut, daß wir den fatalen

Herrn Magister Tinte los sind, sprach der Herr von Brakel, über meine Schwelle soll er nicht wieder kommen."

„Nein, das soll er

nicht, fiel die Frau von Brakel ein, Hofmeister mit solchen ab­

scheulichen Sitten können nur Unheil anstisten, da, wo sie Gu­ tes wirken sollen. —

Prahlt mit den Wissenschaften und springt

in den Milchnapf! — das nenne ich mir einen schönen Magister!" Aber die Kinder jauchzten und jubelten und riefen: „Heisa — Papa hat dem Herrn Magister Tinte mit der Fliegenklatsche eins auf die

Nase versetzt und da hat er

Reißaus genommen!



Heisa —

heisa!" —

Was sich weiter im Walde begab, nachdem der Magister Tinte fortgejagt worden. Felix und Christlieb athmeten frei auf,

als sey ihnen eine

schwere drückende Last vom Herzen genommen.

Vor allem dachten

sie aber daran, daß nun, da der häßliche Pepser von dannen ge­

flohen, das fremde Kind gewiß wiederkehren, und so wie sonst mit ihnen spielen würde.

Ganz erfüllt von freudiger Hoffnung gingm

sie in den Wald; aber es war alles still und wie verödet drin, kein lustiges Lied von Fink und Zeisig ließ sich hören, und statt

des fröhlichen Rauschens der Gebüsche, statt des frohen tönenden Wogens der Waldbäche wehten angstvolle Seufzer durch die Lüfte.

197 Nur bleiche Strahlen warf die Sonne durch den dunstigen Himmel.

Bald thürmte sich schwarzes Gewölk auf, der Sturm heulte, der

Donner begann in der Ferne zürnend zu murmeln, die hohen Tan­

nen dröhnten und krachten.

Christlieb schloß sich zitternd und

zagend an Felix an; der sprach aber: „Was fürchtest du dich so, Christlieb, es zieht ein Wetter auf, wir müssen machen, daß wir nach Hause kommen."

Sie fingen an zu laufen, doch wußten sie

selbst nicht, wie es geschah, daß sie, statt aus dem Walde heraus

zu kommen, immer tiefer hineingeriethen.

Es wurde finsterer und

finsterer, dicke Regentropfen fielen herab und Blitze fuhren zischend

hin und her! —

Die Kinder standen an einem dicken dichten

Gestrüpp, „Christlieb, sprach Felix, laß uns hier ein bischen unter

ducken, nicht lange kann das Wetter dauern."

Christlieb weinte

vor Angst, that aber doch, was Felix geheißen.

Aber kaum hatten

sie sich hingesetzt in das dicke Gebüsch, als es dicht hinter ihnen mit häßlich knarrenden Sttmmen sprach: „Dumme Dinger! ein­

fältig Volk — habt uns verachtet — habt nicht gewußt, was ihr mit uns anfangen sollt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielsachen, ihr

einsältigen Dinger!"

Felix schaute sich um, und es wurde ihm

ganz unheimlich zu Muthe, wie er den Jäger und den Harfenmann

erblickte, die sich aus dem Gestrüpp, wo er sie hineingeworfen, er­ hoben, ihn mit todten Augen anstarrten und mit den kleinen Händ­

chen herumfochten und handthierten.

Dazu griff der Harfenmann

in die Saiten, daß es recht widrig zwitscherte und klirrte, und der Jägersmann legte gar die kleine Flinte auf Felix an.

Dazu

krächzten beide: „Wart — Wart du Junge, du Mädel, wir sind

198 die gehorsamen Zöglinge des Herrn Magister Tinte, gleich wird

er hier seyn, und da wollen wir Euch euren Trotz schon einträn­

ken ! " — Entsetzt, des Regens, der nun herabströmte, der krachen­ den Donnerschläge, des Sturms, der mit dumpfem Brausen durch die Tannen fuhr, nicht achtend, rannten die Kinder von dannen

und geriethen an das Ufer des großen Teichs, der den Wald be-

gränzte.

Aber kaum waren sie hier, als sich aus dem Schilf

Christliebs große Puppe, die Felix hineingeworfen, erhob, und mit häßlicher Stimme quäkte: „Dumme Dinger, einfältig Volk — habt

mich verachtet — habt nicht gewußt, was ihr mit mir anfangen

sollt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielsachen, ihr einfältigen Dinger. Wart' wart', du Junge, du Mädel, ich bin der gehorsame Zögling

des Herrn Magister Tinte, gleich wird er hier seyn und da wollen wir Euch euren Trotz schon ^intränken!" —

Und dazu spritzte die

häßliche Puppe den armen Kindern, die schon vom Regen ganz durchnäßt waren, ganze Ströme Wasser ins Gesicht.

Felix konnte

diesen entsetzlichen Spuk nicht vertragen, die arme Christlieb war

halb todt, aufs neue rannten sie davon, aber bald mitten im Walde

sanken sie vor Angst und Erschöpfung nieder. brauste es hinter ihnen.

Da summte und

„Der Magister Tinte kommt" schrie Fe­

lix, aber in dem Augenblick vergingen ihm auch so wie der armen Christlieb die Sinne.

Als sie wie aus tiefem Schlafe erwachten,

befanden sie sich aus einem weichen Moossitz.

Das Wetter war

vorüber, die Sonne schien hell und freundlich und die Regentrop­

fen hingen wie funkelnde Edelsteine an den glänzenden Büschen und

Bäumen.

Hoch verwunderten sich die Kinder darüber, daß ihre

199 Kleider ganz trocken waren und sie gar nichts von der Kälte und Nässe spürten.

„Ach," rief Felix, indem er beide Aerme hoch in

die Lüste emporstreckte, „ach, das fremde Kind hat uns beschützt!"

Und nun riefen beide, Felix und Christlieb, laut, daß es im Walde

wiedertönte: „Ach, du liebes Kind, komme doch nur wieder zu uns, wir sehnen uns ja so herzlich nach dir, wir können ja ohne dich

gar nicht leben!" —

Es schien auch, als wenn ein Heller Strahl

durch die Gebüsche funkelte, von dem berührt die Blumen ihre Häup­

ter erhoben;

aber riefen auch wehmüthiger und wehmüthiger die

Kinder nach dem holden Gespielen, nichts ließ sich weiter sehen.

Traurig schlichen sie nach Hause, wo die Aeltern, nicht wenig we­ gen des Ungewitters um sie bekümmert, sie mit voller Freude em­ pfingen.

Der Herr von Brakel ,sprach: „Es ist nur gut, daß ihr

da seyd, ich muß gestehen, daß ich fürchtete, der Herr Magister

Tinte schwärme noch im Walde Spur."

umher,

und sey euch auf der

Felix erzählte alles, was sich im Walde begeben.

„Das

sind tolle Einbildungen, rief die Frau von Brakel, wenn Euch drau­

ßen im Walde solch verrücktes Zeug träumt, sollt ihr gar nicht mehr hin gehen, sondern im Hause bleiben."

Das geschah denn nun

freilich nicht, denn wenn die Kinder baten: „Liebe Mutter, laß' uns ein bischen in den Wald laufen!" so sprach die Frau von Brakel:

„Geht nur, geht und kommt hübsch verständig zurück."

Es ge­

schah aber, daß die Kinder selbst gar nicht mehr in den Wald ge­

hen mochten.

Ach! — daß fremde Kind

ließ sich nicht sehen und

so wie Felix und Christlieb sich nur tiefer ins Gebüsch wagten

oder sich dem Ententeich nahten, so wurden sie von dem Jäger, dem

200 Harfenmännlein, der Puppe ausgehöhnt: „Dumme Dinger, einfältig Volt, nun könnt ihr sitzen ohne Spielzeug — habt nichts mit unS

artigen gebildeten Leuten anzufangen gewußt — dumme Dinger,

einfältig Volk!" —

Das war gar nicht auszuhalten, die Kinder

blieben lieber im Hause.

Beschluß. „Ich weiß nicht, sprach der Herr ThaddäuS von Brakel eines

Tages zu der Frau von Brakel, ich weiß nicht, wie mir seit ei­ nigen Tagen so seltsam und wunderlich zu Muthe ist.

Beinahe

möchte ich glauben, daß der böse Magister Tinte mir es angethan

hat, denn seit dem Augenblick, als ich ihm eins mit der Fliegen­

klatsche versetzte und ihn forttrieb, liegt es mir in allen Gliedern wie Blei."

In der That wurde nuch der Herr von Brakel mit

jedem Tage matter und blässer.

Er durchstrich nicht mehr wie

sonst die Flur, er polterte und wirthschaftete nicht mehr im Hause umher, sondern saß stundenlang in tiefe Gedanken versenkt, und

dann ließ er sich von Felix und Christlieb erzählen, wie es sich mit dem fremden Kinde begeben.

Sprachen die denn nun recht

mit vollem Eifer von den herrlichen Wundern des fremden Kindes, von dem prächtigen glänzenden Reiche, wo es zu Hause, dann lächelte er wehmüthig und die Thränen traten ihm in die Augen. Darüber konnten sich Felix und Christlieb aber gar nicht zufrieden geben, daß das fremde Kind nun davon bleibe und sie der Quä­ lerei der häßlichen Puppen im Gebüsch und im Ententeiche bloß

stelle, weshalb sie gar nicht mehr sich in den Wald wagen möchten.

201 „Kommt, meine Kinder, wir wollen zusammen in den Wald gehen,

die bösen Zöglinge des Herrn Magister Tinte sollen Euch keinen Schaden thun!"

So sprach an einem schönen hellen Morgen der

Herr von Brakel zu Felix und Christlieb, nahm sie bei der Hand

und ging mit ihnen in den Wald, der heute mehr als jemals vol­ ler Glanz, Wohlgeruch und Gesang war.

Als sie sich ins weiche

Gras unter duftenden Blumen gelagert hatten, fing der Herr von Brakel in folgender Art an: „Ihr lieben Kinder, es liegt mir

recht am Herzen, und ich kann es nun gar nicht mehr ausschieben Euch zu sagen, daß ich eben so gut wie ihr das holde fremde Kind, das

kannte.

Euch hier im Walde so viel Herrliches schauen ließ,

Als ich so alt war wie ihr, hat es mich so wie Euch be­

sucht und die wunderbarsten Spiele gespielt.

Wie es mich dann

verlassen hat, darauf kann ich mich gar nicht besinnen, und es ist

mir ganz unerklärlich, wie ich das holde Kind so ganz und gar vergessen konnte, daß ich, als ihr mir von seiner Erscheinung er­

zähltet, gar nicht daran glaubte, wiewohl ich oftmals die Wahr­ heit davon leise ahnte.

Seit einigen Tagen gedenke ich aber so

lebhaft meiner schönen Jugendzeit, wie ich es seit vielen Jahren

gar nicht vermochte.

Da ist denn auch das holde Zauberkind so

glänzend und herrlich wie ihr es geschaut habt, mir in den Sinn gekommen, und dieselbe Sehnsucht, von der ihr ergriffen, erfüllt

meine Brust, aber sie wird mir das Herz zerreißen! — Ich fühl' es, daß ich zum letztenmal hier unter diesen schönen Bäumen und

Büschen sitze, ich werde Euch bald verlassen ihr Kinder! —

Hal­

tet, wenn ich todt bin, nur recht fest an dem holden Kinde!" r—

202 Felix und Christlieb waren außer sich vor Schmerz, sie weinten

und jammerten und riefen laut: „Nein, Vater — nein, Vater, du

wirst nicht sterben, du wirst noch lange, lange bei uns bleiben, und so wie wir mit dem fremden Kinde spielen!" —- Aber Tages darauf

lag der Herr von Brakel schon krank im Bette.

Es erschien etrt

langer hagerer Mann, der dem Herrn von Brakel an den Puls fühlte und darauf sprach: „das wird sich geben!"

Es gab sich

aber nicht, sondern der Herr von Brakel war am dritten Tage

todt.

Ach, wie jammerte die Frau von Brakel, wie rangen die

Kinder die Hände, wie schrien sie laut: „Ach unser Vater — un­ ser lieber Vater!" — Bald darauf, als die vier Bauern von Bra­

kelheim ihren Herrn zu Grabe getragen hatten, erschienen ein paar

häßliche Männer im Hause, die beinahe aussahen wie der Magister

Tinte.

Die erklärten der Frau von Brakel, daß sie das ganze

Gütchen und alles im Hause in Beschlag nehmen müßten, weil der

verstorbene Herr Thaddäus von Brakel das alles und noch viel­ mehr dem Herrn Grafen Cyprianus von Brakel schuldig geworden

sey, der nun das Seinige zurückverlange.

So war denn nun die

Frau von Brakel bettelarm geworden und mußte das schöne Dörf­

chen Brakelheim verlassen.

Sie wollte zu einem Verwandten hin,

der nicht fern wohnte, und schnürte daher ein kleines Bündclchen

mit der wenigen Wäsche und den geringen Kleidungsstücken, die man ihr gelassen, Felix und Christlieb mußten ein Gleiches thun, und so zogen sie unter vielen Thränen fort aus dem Hause.

Schon hör-

ten* sie das ungestüme Rauschen des Waldstroms, über dessen Brücke sie wollten, als die Frau von Brakel vor bitterm Schmerz ohn-

203 mächtig zu Boden sank.

Da fielen Felix und Christlieb auf die

Knie nieder und schluchzten und jammerten: „O wir armen un­

glücklichen Kinder! nimmt sich denn keiner, keiner unsers Elends

an?”

In dem Augenblick war es, als werde das ferne Rauschen

des Waldstroms zu lieblicher Musik, das Gebüsch rührte sich in

ahnungsvollem Säuseln — und bald strahlte der ganze Wald in wunderbarem funkelndem Feuer.

Das fremde Kind trat aus dem

süß duftenden Laube hervor, aber von solchem blendenden Glanz um­ flossen, daß Felix und Christlieb die Augen schließen mußten.

Da

fühlten sie sich sanft berührt und des fremden Kindes holde Stimme

sprach: „O klagt nicht so, ich euch denn nicht mehr?

ihr meine

Kann

lieben Gespielen!

Lieb'

ich euch denn wohl verlassen?

Nein! — seht ihr mich auch nicht mit leiblichen Augen, so um­

schwebe ich euch doch beständig und helfe euch mit meiner Macht, daß ihr froh und glücklich werden sollet immerdar.

Behaltet mich

nur treu im Herzen, wie ihr es bis jetzt gethan, dann vermag

der böse Pepser und kein anderer Widersacher etwas über euch! —

liebt mich nur stets recht treulich!"

„O das wollen wir, das

wollen wir! riefen Felix und Christlieb, wir lieben dich ja mit

ganzer Seele." Als sie die Augen wieder aufzuschlagen vermochten, war das fremde Kind verschwunden, aber aller Schmerz war von ihnen gewichen, und sie empfanden die Wonne des Himmels, die in ihrem Innersten aufgegangen.

Die Frau von Brakel richtete

sich nun auch langsam empor und sprach: „Kinder! ich habe euch

im Traum gesehen, wie ihr wie in lauter funkelndem Golde stan­ det, und dieser Anblick hat mich aus wunderbare Weise erfreut und

204

getröstet." Das Entzücken strahlte in der Kinder Augen, glänzte auf ihren hochrothen Wangen. Sie erzählten, wie eben das fremde Kind bei ihnen gewesen sey und sie getröstet habe; da sprach die Mutter: „Ich weiß nicht, warum ich heute an Euer Mährchen glauben muß, und warum dabei so aller Schmerz, alle Sorgen von mir weichen. Laßt uns nun getrost weiter gehen." Sie wur­ den von dem Verwandten freundlich ausgenommen, dann kam es, wie das fremde Kind es verheißen. Alles, was Felix und Christ­ lieb unternahmen, gerieth so überaus wohl, daß sie sammt ihrer Mutter froh und glücklich wurden, und noch in später Zeit spiel­ ten sie in süßen Träumen mit dem fremden Kinde, das nicht auf­ hörte, ihnen die lieblichsten Wunder seiner Heimath mitzubringen.

Das SchweTdl und die ^cKlangen..

205

S

Das Schwerdt und

die Schlangen. Ein Mährchen in acht Kapiteln.

Erstes Kapitel.

Don der Oedenburg und ihren Bewohnern. Meister Ezzelino mit dem Dachsränzelein.

In einem tiefen, tiefen Thal, mitten im wilden Gebirge, da lebte einmal vor langer Zeit ein Mann mit seinem Sohn und zwei Knechten. Sie hatten fich ein geräumiges Haus in diese Einsam­ keit hinein gebaut, und hatten es die Oedenburg genannt, denn öde war die Gegend ringsumher auf viele Stunden, und ihr Haus das einzige im ganzen Gebirge. Der Mann hieß Wolfgang, sein Sohn aber Raimund. So hatten fie in diesem Thale miteinander gelebt seit 16 Jah­ ren. Kein fremder Mensch war in dieser Aeit dahin gekommen. Niemand im ganzen Lande wußte von der Oedenburg. Raimunds Mutter, die mit dahin gezogen, war vor 10 Jahren bereits gestor-

206 ben und Raimund jetzo 18 Jahr.

Doch hätte ihn jeder willig für

älter genommen, denn er war hoch und schlank aufgeschossen wie

eine Tanne, und gewaltig an Brust und Armen.

Kein Felsen

stand ihm zu hoch und steil, kein Strom war ihm zu mächtig, kein Wild war ihm zu schnell.

Da saß Wolfgang eines Abends mit ihm und mit den Knech­ ten am Heerde.

Die Männer sprachen unter einander von der Zeit,

da sie noch unter den übrigen Menschen lebten.

Raimund hörte

zu und hatte viel zu fragen. Draußen aber machte sich der Sturm

auf, warf die Wolken, die schon den ganzen Tag zusammengeballt am höchsten Gebirgsrücken gehangen hatten, herunter in die Thä­

ler und fuhr schnaubend und brausend durch den Tannenwald. „Ist mirs doch," sagte Wolfgang auf einmal und horchte, —

„ist mirs doch, als klopfte es draußen an der Thür.

Was könnte

das wohl seyn?" „Es ist der Wind, Herr!" meinte Erich, der ältere von den

Knechten. „Ja, Wind!" rief Bolko, der andere Knecht. „Wenn du das

Wind , nennen willst, was Hände und Füße hat.

Zwei Hände und

Füße, sag ich, auch wohl nach Gelegenheit einmal drei oder vier.

Ich höre das Klopfen schon lange und weiß wohl, wer sich den Spaß macht.

Aber man muß thun, als hörte mans nicht."

Indem klopfte es wieder ganz laut und vernehmlich.

Wolf­

gang und Erich sahen einander verwundert an. „Run so sieh doch einmal hinaus, Bolko!" rief Wolfgang endlich.

„ Es könnte sich doch wohl einmal jemand verirrt haben."

207 Bolko schüttelte den Kopf.

„Nehmts nicht für ungut, Herr;

ich stecke meine Nase nicht zur Thür hinaus;

denn wer steht mir

denn dafür', daß ich sie nicht vielleicht noch einmal so lang wieder

hereinbringe.

Der liebe Gott hat mich ohnedies schon an diesem

Theil meines Leibes über die Gebühr gesegnet, und den Herrn, der

draußen pocht, den kenn' ich schon: der hat sein Gefallen an derlei Späßen."

Indessen Bolko so sprach, war Raimund bereits aufgestanden.

Er zündete eine Kienfackel auf dem Heerde an und ging hinaus. Erich langte die blanke Streitaxt, die über ihm an der Wand hing,

vom Nagel und folgte ihm.

Es dauerte nicht lange, so traten sie beide wieder herein mit

einem kleinen Mannlein. Das ging auf Herrn Wolfgang zu, grüßte ihn freundlich und bat um Herberge für diese Nacht.

Er heiße

Meister Ezzelino, sei für gewöhnlich wohnhaft in der Stadt Padua

in Welschland, pflege aber des Sommers herumzuwandern da und dorten in den Gebirgen,

um den geheimen Kräften der Natur

aus die Spur zu gehn, die sich in Kräutern, Steinen und Metallen auf das Wunderbarste an den Tag legen. So sey er denn auch hie-

her gekommen, und da sich diese Gegend besonders reich erweise an den seltensten Dingen, habe ihn dies unvermerkt immer weiter in dieses Gebirge hinein verlockt, bis er nicht mehr gewußt, wo ein

noch aus, und gar herzlich froh gewesen sey, als er endlich in der Abenddämmerung von oben herab dieses Haus im Thale entdeckt habe.

Wolfgang hieß ihn willkommen und befahl Bolko'n den Gast mit Speise und Trank zu erquicken.

Bolko schob einen Tisch zum

208 Feuer, und sorgte für alles Benöthigtez doch nahm er fich wohl in Acht, daß er dem Fremden nicht zu nahe kam.

Meister Ezzelino machte sichs bequem,

legte seinen Mantel

und ein kleines Dachsränzlein ab, das er auf dem Rücken trug,

und setzte sich an den Lisch.

Raimund sah ihm von der Seite zu,

und hatte seine Freude an der wunderlichen Behendigkeit, mit der

der Kleine aß und trank, wobei das rothe Spitzbärtlein an dessen Kinn sich possierlich auf und nieder bewegte.

„Nun," sagte der

Gast endlich, „nun hab' ich eurer Gastfreundschaft redlich Bescheid

gethan, nun bitt' ich um die Vergunst, daß ich euch gleichfalls be­ wirthen darf."

Er holte mit diesen Worten eine Flasche und 5 silberne Be­

cher aus seinem Ränzlein und schenkte ein. „Euer Meth ist gut," fuhr er -fort, „aber ich denke mein

Wein auch.

Er ist aus meinem Daterlande."

Als Wolfgang und Erich von Wein-sprechen hörten, und die edle Gottesgabe so hell und klar wie lauteres Gold in den Be­

chern perlte, da war ihnen freilich beinah zu Muth, als wenn sie

die Sonne seit 16 Jahren zum erstenmal wieder aufgehen sähen. Bolko aber trat dem Fremden schnell einige Schritte näher, ja der Muth wuchs ihm endlich so weit, daß er sich gleichfalls an dem

Lisch ihm gegenüber niederließ. Alle sprachen hierauf wacker zu.

fallm zu finden an dem neuen Getränk. bald auf den Grund.

Mänzel, und noch eine.

Auch Raimund schien GeSo kamen sie der Flasche

Meister Ezzelino holte noch eine aus dem

Raimund wunderte sich freilich ein wenig,

209 wie die drei Flaschen darin Platz gehabt hatten. Die Andern aber nahmen daraus kein Arges und wurden bald gar munter und ge­ sprächig. Der fremde Gast wußte viel und mancherlei zu erzählen von den besondern Dingen, die er auf seinen Reisen gehört, gesehen oder erlebt hatte. „Za," sagte er endlich, „ich habe wohl mancherlei Wunder­ bares in der Welt erlebt, das Allersonderlichste aber doch, und was mit nichts Anderm zu vergleichen steht, das ist die Geschichte von dem Könige mit den Schlangen. Vielleicht ist sie euch schon be­ kannt. Die ganze Welt spricht ja davon. Wolfgang bezeugte seine Unwissenheit und bat, er möchte ihnen doch die wunderbare Geschichte nicht vorenthalten. „Nun, so wißt ihr doch wenigstens," sagte der Fremde, „daß das ganze Land dort auf der andern Seite des Gebirges von einem heidnischen, sehr mächtigen König beherrscht wird, und daß dieser König Giselherr heißt?" — „Ja, ja," rief Wolfgang, „das wissen wir nur gar zu gut!" „So? Nun," sprach jener weiter, „dieser König Giselherr ist es, von dem ich spreche. Er war, wie ihr vielleicht auch wißt, der jüngste von drei Brüdern, und also nicht dazu bestimmt die Krone auf seinem Haupte zu tragen. Die beiden ältern aber starben nach einander schnell hinweg." — „Ja, ja, sie starben schnell hinweg!" unterbrach ihn Wolf­ gang und lachte grimmig dazu.

210

Zweites Kapitel. Die Geschichte von dem König mit den Schlangen. Raimunds Schwur. „Die Brüder starben," fuhr der Fremde fort, „und Giselherr

ward König.

Das ist er nun gewesen mit Ruhm und Ehren man­

ches Jahr, und was er in Krieg und Frieden noch so keck oft un­

ternahm, das führt er auch zu seinem Ziel und Ende aus, und

seine Macht, sein Reichthum und sein Glück war in den Ländern weit und breit umher beinah zum Sprichwort geworden."

„Seit einem Jahr aber etwa hat sich alles plötzlich gewendet, König Giselherr ist jetzt der elendeste aller Menschen zu nennen, und um alle Schätze, die er aufgehäuft, möchte der schlechteste sei­ ner Unterthanen nicht an seiner Stelle seyn." „Das soll sich also zugetragen haben.

Als er eines Tages

nämlich, wie man erzählt, auf die Jagd geritten und von seinem

Gefolge abgekommen war, gelangte er tief im Walde zu einer Felsenhöhle.

Aus dieser Höhle kommt ihm ein seltsames Geräusch

zu Ohr, fast wie ein heftiges Blasen oder Zischen, und da er meint,

dies rühre vielleicht von einer verborgenen Quelle her, steigt er vom Pferde und geht hinein sich

zu erquicken.

Das Zischen und

Blasen wird immer stärker, je weiter er vorwärts schreitet; doch

von einer Quelle ist nirgends eine Spur, wohl aber sieht er plötz-,

lich zu seinen Füßen zwei menschliche Gerippe liegen, und da er jetzo fast erschrocken um sich schaut, und seine Augen sich indeß an

die Dämmerung in der Höhle gewöhnt haben, sieht er auf dem

211 Boden und an den Wänden neben ihm, und an dem Gewölbe über ihm sich Alles regen und bewegen, und gewahret endlich, daß es die sich durch einander

tausend und abertausend Schlangen sind,

ringeln, und ihn mit glänzenden Augen anstarren und mit gräß­ lichem Gezisch die Zungen ausstrecken nach ihm.

Da sträubt sich

sein Haar, das Entsetzen faßt ihm ins Mark seines Gebeins, und er taumelt zurück und

wendet sich zur Flucht.

In dem Augen­

blick aber schießen aus den beiden Menschengerippen zwei der größ­ ten Schlangen hervor, mit goldnen Kronen auf dem Kopse, und folgen dem König nach, und obgleich dieser fein Pferd erreicht,

und es über Berg und Thal, durch Sumpf und Moor in gestreck­ tem Laufe dahin treibt und meint den Schlangen zu entfliehen,

so sind sie dennoch immer an des Rosses Hufen und erreichen die königliche Burg zu gleicher Zeit mit ihm.

Hier laufen nun auf

des Königs Ruf die Diener alsbald zusammen und wollen ihrem Herrn zu Hülfe kommen, allein die Schlangen stellen sich mit halb

ausgerichtetcm Leibe an das innere Thor der Burg, durch das sich jener geflüchtet, und verwehren den Eintritt jedem, der sich naht. Aus ihren Augen schleicht allmählig sich das Grausen in Aller Brust,

wie sie der furchtbaren Schildwacht gegenüber stehen, und endlich,

als von einem plötzlichen Schreck ergriffen und geschlagen, stäubt der ganze Haufe aus einander.

Die Schlangen aber bleiben un­

verwandt so stehen bis um Mitternacht.

Da ringeln sie sich die

Treppe hinauf und grade nach des Königs Schlafgemach.

Die

Dienerschaft und alles Volk, das die unerhörte Mähr versammelt, sie hören draußen vor der Burg das Hülferufen ihres Herrn, sie

14*

212 hören sein Angstgeschrei, das Aller Ohr und Herz zerreißt, doch Keiner wagt sich in die Burg hinein; bis endlich, als der Morgen graut, die Schlangen an dem äußern Thor erscheinen und sich lang­

sam an dem Abhang hinunter wälzen, nach dem Walde zu." „Und mit jeder Mitternacht seitdem sind auch die entsetzlichen

Gäste wieder da, und dringen in das Schlafgemach des Königs, kein Thor und Wall, kein Schloß und Riegel hält sie auf, und

nagen und zehren, bis der Morgen graut, an seinem Herzen.

Der

kommende Tag heilt darauf die Wunden zu, ergänzt das Verlorne, und die Gäste kommen um Mitternacht wieder zum vollen frischen

Mahle." „ Zwar haben sich seitdem der wackern Ritter und treuen Die­ ner einige gefunden, die das unsägliche Elend ihres Herrn gejam­

mert, und welche tief in ihrer tapfern Brust die Schmach gefühlt, ihn also hülflos und ohne Beistand solcher

gräßlichen Qual zu

überlassen, und diese haben sich um Mitternacht zu ihm begeben, muthig entschlossen ihn zu beschützen gegen seine Peiniger, und die

Ungeheuer zu bekämpfen;

allein zerfleischt und ohne Leben sind sie

am andern Morgen auf den Stufen der Burg gefunden worden,

und der unglückliche König Giselherr harret noch bis diese Stunde seines Befreiers und Erlösers." Der Fremde schwieg, da sprang Raimund empor von seinem Sitze, seine Augen funkelten.

„So war mir Gott helfe, rief er,

ich werde ihn befreien und erlösen!"

„Unsinniger!" schrie Wolfgang zornig, „was beginnst du?

Hier, wo Gott so sichtbarlich sein Rächeramt schon auf Erden ver-

213 waltet, willst du ihm frevelnd in den Arm fallen und sein Gericht

aufhalten?

Kennst du diesen König, den du von der gerechten

Strafe zu befreien schwörst?

Nun, so wisse, als sein Vater starb,

da ließ er seine ältern Brüder beide heimlich ermorden, weil ihn nach der Krone gelüstete, er ließ sie ermorden mit Weib und Kind,

und wahrlich nicht an ihm hat es gelegen, daß die schändliche That

nicht gänzlich so vollbracht ward, als er es wollte."

Raimund schwieg einige Augenblicke, dann reichte er jenem die Hand und sprach ruhig: „Vater, ich habe es so geschworen, und so will ich es auch thun." Meister Ezzelino sprang schnell auf, zog Wolfgang auf die

Seite, und redete heimlich mit ihm.

Wolfgang hörte nachdenklich

zu; dann wandte er sich, hob seine Augen gen Himmel und faltete die Hände, trat zu seinem Sohne und sprach mit feierlicher Stimme: „Wohlan, so ziehe hin, mein Sohn, und thue, was dein Herz dich heißt.

Ich sehe deinen raschen Schwur als Gottes Stimme an.

Morgen mit dem Frühsten brichst du auf.

Meister Ezzelino wird

dich begleiten."

Drittes Kapitel.

Das Alpenröslein. Naimunv reist ab. Die Morgendämmerung blickte oben kaum über den Bergen aus, und unten im tiefen Thal um die Oedenburg herbergte noch die Nacht, als Raimund schon von seinem Lager sprang.

Er öff­

nete leise die Thür und nahm den Weg nach einem Hügel, der

214 nicht weit hinter dem Hause lag.

Auf diesem Hügel war seine

Mutter begraben.

Er hatte seine Mutter sehr lieb gehabt, da sie noch lebte, und

hielt das Andenken an sie gar hoch und werth.

Jetzt aber wollte

er nicht von dannen scheiden, ohne ihrem Grabe noch ein Lebewohl

zurückzulassen.

Als er eine Weile still in Gedanken daneben gestanden hatte, schlugen die ersten rothen Strahlen der Morgensonne an den höch­ sten Gipfel des Gebirges, auf dem noch der Schnee lag, daß er wie ein König in seinem Purpurmantel über die dunklen Rücken und

Häupter der andern Berge weg ins Thal herab schaute; da nahm

Raimund

bei dem Schimmer

ein Alpenröslein auf dem Grabe

wahr, das gestern nicht da gestanden hatte, und ihm auch sonst

noch niemals hier vorgekommen war.

Er sah es als einen Ab-

fchiedsgruß an, den die geliebte Mutter ihm herauf gesendet, pflückte es ab mit nassen Augen, und da indem eben der Klang des Hüsthorns von der Oedenburg herüberschallte, der ihn rief, begab er sich auf den Rückweg.

Wolfgang und der Fremde harrten schon seiner. zur Abreise bereit.

Auch Bolko,

der

seinen

Alles war

jungen Herrn als

Knappe begleiten sollte, hatte sich mit einem alten verrosteten Panzer­ hemde und einem mächtig langen Schwerte dazu gerüstet.

Wolfgang war sehr still und ernst.

Er reichte seinem Sohn

einen Ring mit hellfunkelnden Steinen besetzt, und gebot ihm den­

selben wohl zu verwahren;

darauf schloß er ihn in seine Arme

213 und segnete ihn, und gleichfalls still und ernst zogen die drei Wan­ derer von dannen.

Meister Ezzelino

schien in dem Gebirge

besser Bescheid zu

wissen, als er gestern Abend vorgegeben hatte, denn er führte seine Gefährten einen andern und kürzern Weg hinauf, als beiden be­

kannt war.

Die Sonne fing kaum an sich zu neigen, da standen

sie bereits auf dem höchsten Rücken, und schauten auf der andern Seite hinab.

Zu ihren Füßen dehnte sich weithin ein finsterer ungeheurer Wald;

jenseit

des

Waldes

aber sahen

sie

ein wohlangebautes

Land, und viele Dörfer, Städte und Burgen blinkten weiß im

Sonnenschein.

„Schaut dort," sagte Meister Ezzelino, „auf jenem fernen Berge, der so einzeln steht in der Ebene, da prangt die Burg des

Königs Giselherr.

Das ist dein Ziel, junger Degen.

dein ein schwerer Kampf. baue fest auf dich.

Dort harret

Du wirst ihn mit Ehren bestehen, ich

Aber merke wohl auf das, was ich dir jetzt

zu sagen habe."

„Nicht durch deine Kraft allein kannst du die beiden Unge­

heuer bezwingen und erlegen.

Sie sind Kinder der Hölle, und

Hölle bezwingt nicht bloße Tapferkeit.

Nur ein gewisses Schwert,

von besondrer Macht und Lugend, nur das mag deinem tapfern Arm den Sieg verleihen.

Dies Schwert ist jetzt in der Gewalt

feindseliger Mächte, denen daran liegt, daß es nicht auf Erden herrsche, und diese haben es verborgen tief im Grunde unterirdischer

Klüfte.

Dort mußt du dir es holen.

In jenen blauen Bergen

216 die sich schroff und zackig in seltsamen Gestalten uns zur Rechten erheben,

da wirst du nähere Kunde finden.

jetzt dein Weg.

wenn du in Noth bist, werde ich bei dir seyn.

standhaft.

Dorthin also geht

Ich aber kann dich nicht fürder begleiten.

Doch

Ziehe hin und sey

Dem festen Willen ist die Welt Unterthan.

Freund Bolko, hinterlaß' ich mein Dachsränzlein.

Dir aber,

Das wird für

Sey deinem Herren treu, und steh' ihm

euern Imbiß sorgen.

wacker zur Seite in der Gefahr."

Er reichte beiden die Hand zum Abschiede. fuhr er

fort,

„Doch noch eins!"

„du bist nicht ritterlich gerüstet und geschmückt.

Dort unten, wo der Rauch aus dem Walde steigt, da wohnt ein

kunstreicher Waffenschmidt.

Dem

bringe nur einen Gruß vom

Meister Ezzelino, fordre, was du brauchst, und lasse dich nicht ab­ schrecken.

Er ist ein wunderlicher Gesell, und öfters nicht bei Laune.

Doch ist er grob, so sey nur wieder hübsch grob: so wirst du am

Besten mit ihm fertig.

Es mag dein erstes Probestücklein seyn.

Gott sei mit dir!" Raimund und Bolko hatten noch viele Fragen auf den Lippen,

allein Meister Ezzelino verschwand in dem Augenblick hinter einem Felsenstücke.

Viertes Kapitel.

Das erste Abenteuer. Wie Raimund zu dem Schmidt kommt. Der Wald war dicht und wild verwachsen; von einem Pfade nirgends eine Spur.

Raimund stieg von Zeit zu Zeit auf einen

217 Baum, um die Richtung nach dem aufsteigenden Rauche nicht zu verlieren.

So kamen die beiden Wanderer nur mit großer Be­

schwerde und langsam weiter.

Raimund ging schweigend voran,

der Knappe zog murrend und leise fluchend hinter drein.

„Nehmt mirs nicht übel, junger Herr," hub Bolko endlich

an, „ich kann nicht länger schweigen; mir frißt ein mörderlicher Groll an der Leber. Ich muß ersticken, wenn ich ihm nicht Luft mache. Es geht hier nicht mit rechten Dingen zu.

Der kleine Rothbart —

ich möchte ihn gern anders betiteln, wenn wir nicht noch auf seinem Revier wären — der kleine Gottseybeiuns, den ich gar wohl kenne,

oder ich will nicht Bolko heißen, er übt hier wieder einen von sei­ nen Streichen aus, gebt Acht, und hat uns nur zum Besten. Schon

als ein Knabe

hab' ich solche feine

Stücklein von ihm erzählen

Ich sag euch, an der ganzen Mähr von dem König mit

hören.

den Schlangen ist kein wahres Wort."

„Schweig still!" sprach Raimund, „und gieb etwas zu essen her.

Mich hungert." „Mich auch," rief Bolko, „so wahr ich einen Magen habe!

Aber ich bitte euch, bestellt euren Hunger auf ein ander Mal. Sagt

lieber, es wäre alleweil' niemand zu Hause; er würde schlechte Unterhaltung finden. —

Ja,

seht mich nur nicht so groß an.

Unser Vorrath ist heute Morgen rein aufgezehrt worden." „Nun aber Meister Ezzelinos Dachsränzlein?" rief Raimund.

„Ja," erwiederte Bolko, „Meister Ezzelino ist ein Ehrenmann.

Er hat uns ein treffliches Mittel für die Augen mit aus den Weg

gegeben.

Ihr seht, was in dem Ränzlein ist, und wie es sich selber

218 vor Verdruß darüber in tieft Kummerfalten legt! gar nichts!

Nichts ist darin,

Es ist so leer, als wollt's meinem Magen mit gutem

Beispiel vorangehn."

Raimund hieß ihn nur hineinzufassen.

Er zog kopfschüttelnd

den Riemen auf und streckte die Hand hinein.

Sogleich aber zog

er sie mit großem Geschrei wieder heraus, und warf ein mächtiges Bund Nesseln und Disteln weit von sich hinweg. —

„Nun, seht

ihr, seht ihr," schrie er, „wie boshaft der verdammte Kobold sein Spiel mit uns treibt!

Ich hab's euch ja gesagt!"

Raimund nahm lachend den Sack auf, steckte die Hand hinein, und brachte alsbald eine Flasche Wein und ein weißes Brot heraus.

„Nun siehst du, siehst du" rief er, Meister Ezzelino ist doch ein Ehrenmann.

Ein ander Mal halte nur deine Zunge im Zaum."

Da kam Bolko freudig herbeigesprungen, aß und trank und ließ den Meister hoch leben, und beide machten sich hierauf wieder

mit frischem Muthe auf den Weg und gingen, und gingen immerzu. Die Sonne war bereits hinter den Bergen; die Krähen flogen nach

ihren Nestern, Eulen huschten leise durch den Wald, und Bolko sing schon wieder an halb laut mit sich selber zu reden und zu schimpfen:

da klangen auf einmal helle Hammerschläge von ferne aus der Tieft herauf.

Die beiden Pilger nahmen freudig ihre Richtung dorthin.

Es dauerte nicht lange, da sahen sie einen rothen Schimmer an den Wipfeln der Bäume, bald darauf flatterten einzelne Funken rasch hinter einander vor ihnen in die Höhe: es ward immer heller

um sie, und nach einigen Schritten standen sie am Rande eines Bergkeffels und ihnen gegenüber an der andern Seite wölbten sich

219 die schwarzen Felsen zu einem hohen weiten Thor; durch das Thor schauten sie hinab in eine geräumige Höhte, darin war Helle Gluth,

und dunkle Gestalten bewegten sich auf dem feurigen Hintergründe

hin und her. „Hm" sagte Bolko „das sieht wohl eher dem Eingang zur

Hölle gleich,

als

einer Schmiedewerkstatt.

Und dort hinunter

wollt ihr?" „Nun freilich!" erwiederte Raimund „bin ich doch darum

hergekommen."

Und damit schritt er den Abhang schnell hinab.

Bolko folgte ihm kopfschüttelnd. Als sie unten waren, erhub sich in der Höhle nach dem Takt

der Hammerschläge ein Gesang von einigen rauhen Männerstimmen. Raimund blieb stehen und hörte sich das wunderliche Lied mit an.

Risch daran, Rasch darauf! Rühr dich, Gesell!

Hammer spring ab und auf: Eisen glüht hell, Freudig sprüht's Funken aus,

Daß bald ein Schwert wird draus.

Risch daran, Rasch darauf! Rüstig, Gesell! Dunkel aus Grundes Nacht Kommt's uns zum Schlag;

Hammers und Feuers Macht

Treibt's blank zu Tag,

220 Blank, daß sich klar und rein

Spiegelt der Himmel drein.

Risch daran, rasch daraus! Rühr dich, Gesell!

Und so zur Nacht hinab, Oder hinan, Himmelwärts übers Grab

Wieder macht's Bahn.

Wahl' dir das Beste hier: Heute mir, morgen dir!

Risch daran, rasch hinaus!

Schwerttod ist schön. Das Lied gefiel Raimund.

Er war neugierig die Sänger zu

sehen, und ging rasch durch das Felsenthor in die Höhle hinein.

Hier standen drei Knechte am Ambos und schlugen mit mächtigen Hammern wacker drauf los, daß die Funken weit umher sprühten.

Seitwärts aber saß ein Mann von schwarzem finsterm Ansehn, der silberne Aierathen mit kleinen Hämmerchen und Meißeln kunst­

reich ausarbeitete.

Den hielt Raimund für den Meister, trat also

zu ihm und begrüßte ihn freundlich.

Der Meister sah ihn scheel von der Seite an, erwiederte seinen Gruß nicht, sondern arbeitete fort.

Raimund erhob seine Stimme, in der Meinung, daß jener vor dem Getöse ihn nicht recht gehört habe und rief zum andernmale.

„Guten Abend, lieber Meister!"

221 Da fuhr der Meister zornig auf und winkte seinen Knechten, Die ließen alsbald ihre Arbeit liegen, einer von ihnen machte sich

an Bolko, ergriff ihn bei den Schultern und schob ihn behend zur Höhle hinaus, die beiden andern aber faßten Raimunden unsanft

an den Armen an, willens ihm ein Gleiches zu thun.

Doch jetzt

ergn'mmte Raimund über den schnöden Empfang, machte sich schnell

die Arme frei, packte die beiden Knechte mit gewaltiger Faust, und

warf sie zur Erde, daß der Boden dröhnte;

dann ging er auf

den Meister zu, der aufgesprungen war und einen großen Hammer

ergriffen hatte, unterlief ihn flink,

faßte ihn beim Kragen und

schleuderte ihn an die Felswand, daß ihm alle Gebeine erkrachten.

Dabei schrie er mit donnernder Stimme. Meister!"

„Guten Abend, lieber

Und da jener, von der Wand abprallend, ihm wieder faßte er ihn abermals,

entgegentaumelte,

schleuderte ihn wieder

zurück, und indem er sein: guten Abend, lieber Meister! wiederholte,

machte er sich bereit, ihn also auch zum drittenmale zu empfangen. Da schrie der Meister schnell: „Schön Dank! Laßts gut seyn.

Ich habe es schon gehört."

Schön Dank!

Und Kopf und Schul­

tern reibend, setzte er hinzu: „Das muß wahr seyn, ihr habt eine besondere Art zu grüßen!"

„Ländlich, sittlich!" erwiederte Raimund. Vater oft gesagt.

„So hat mir mein

Nach euerm Empfang meinte ich, es wäre hier

der Gebrauch so." Der Meister Schmidt lachte laut aus.

„Ihr gefallt mir nicht

übel, junger Gesell," sprach er, „und scheint mir mein Mann zu

seyn.

Was wollt ihr von mir?"

Raimund

brachte

ihm nun seinen freundlichen Gruß vom

Meister Ezzelino, und trug ihm dann bescheiden fein Begehr vor. „So- so!” rief Meister Welf, „von dem kommt ihr! Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?

Das Feuer theilt einem, der

immer damit zu schaffen hat, leicht etwas von seiner Natur mit, macht verdrüßlich und zum schnellen Zorn geneigt.

Auch treibt

sich hier im Walde mancherlei Volk umher, und ihr, nehmt mirs nicht für ungut, mit euerm Bärenfell um die Schultern, und der

Krummbeinige da mit seinem verrosteten Panzerhemd, ihr saht mir beide ein wenig verdächtig aus. den.

Nun, dafür soll aber Rath wer­

Die beste Rüstung, die ich habe, steht euch zu Dienst.

Ich

meine, ihr werdet sie mit Ehren tragen, und meiner Arbeit keine

Schande machen.” Mit diesen Worten zündete er eine Fackel an, und führte Rai­

munden in eine anstoßende Felsenhöhle.

Da hingen nun Rüstungen

und Waffen von mancherlei Art und Gestalt umher.

Dem jungen

Kämpen schlug das Herz vor Freude bei dem Anblick.

Welf hieß ihn wählen.

Meister

Er wählte sich nach langem Besehn und

Ueberlegen endlich eine schöne blau angelaufene Stahlrüstung mit silbernen Nägeln und Verzierungen.

Der Meister bestand darauf,

er solle gleich versuchen, ob sie ihm gerecht sei, und Bolko ward herbeigeholt, seinen Herrn zu wappnen.

Und als nun der junge Held von den Schultern bis auf die Füße herab ganz gerüstet hoch und herrlich vor ihnen stand, und

das lichtbraune Haar in unmuthigen goldenen Wellen und Ringeln ihm vom Haupte herabfloß und die Augen ihm in der Freude sei-

223 nes Herzens leuchteten und strahlten wie das aufgehende Zwillings -

gestirn, da konnten sie beide nicht satt werden, ihn zu betrachten, und Meister Welf sagte: „Wahrlich, der junge Gesell steht schön

und stattlich aus wie ein Königssohn, und weiß ich ihn mit Nie­ mand zu vergleichen, als mit Prinz Gundibert, des jetzigen Königs Bruder, da er noch lebte und jung war.

Er ging und

brachte einen

trefflichen Helm herbei.

Eine

kunstreich gearbeitete silberne Schlange ringelte sich oben über die

Wölbung hin. Als Raimund die Schlange erblickte, rief er freudig: „Das ist ein gutes Zeichen, Meister, daß ihr mir grade diesen Helm bringt:"

Und er erzählte ihm nun, in welcher Absicht er sich aufgemacht, und wie er jetzt nach den blauen Bergen gegen Morgen ziehe, um sich dort zuvor das Schwert zu holen, mit welchem er zu sie­

gen hoffe. „Wahrlich," sagte der Schmidt, „ihr habt nichts Geringes

unternommen, doch scheint ihr mir grade der Mann unter Tausen­ den, dem es vielleicht gelingen möchte.

Ruht euch nur diese Nacht

bei mir aus: morgen will ich euch den Weg beschreiben, den ihr

zu nehmen habt. linos Rechnung."

Die Rüstung übrigens geht auf Meister Ezze-

224 /untres Kapitel.

Das zweite Abenteuer. Thorhilde und die Waldkönigin. Als Raimund am andern Morgen zur Abreise gerüstet aus der Höhle trat, fand er zwei gesattelte Rosse zu seinem Gebrauch.

„Das geht Alles auf Meister Ezzelinos Rechnung," antwortete

der Schmidt auf seine Frage.

„Die Zahlung ist mir gewiß."

Hierauf wies er ihn mit kurzen Worten an, wie er ein Roß zu besteigen und zu führen habe, und obgleich Raimund noch nie­

mals zu Pferde gesessen hatte, wußte er sich doch sehr bald darin zu finden, und tummelte den muthigen Braunen wacker auf dem

Rasen hin und her.

Dann nahm er freundlich Abschied von Mei­

ster Welf und trabte mit seinem Knappen frisch in den Wald hinein. Sie ritten immer so fort, wie ihnen der Weg bezeichnet war^

Meister Welf hatte ihnen verheißen,

daß sie noch vor Sonnen­

untergang aus dem Walde kommen sollten.

Allein die Sonne ging

unter, die Nacht brach ein, und noch immer zeigte sich des Wal­ des kein Ende.

„Aus dem Walde kommen!" sich was!

brummte Bolko.

Wir kommen immer tiefer hinein.

„Ja, hat

Wenn wir nur

noch acht Tage so drin herumreiten, so mögen wir von Glück sa­

gen.

Vielleicht finden wir in unserm ganzen Leben keinen Ausgang.

Ich hab' mirs gleich gedacht.

Der Meister Welf läßt euch den

kräftigen guten Abend von gestern nicht so hingehen.

in welchen höllischen Abgrund uns dieser Weg führt!"

Wer weiß,

225

„Still!” rief Raimund und hielt sein Pferd an. „War mirs doch, als hört' ich das Hifthorn von der Oedenburg!” Bolko seufzte: „Ach, du gute Oedenburg! Ich wollte, ihr hättet recht gehört, und wir wären zu Hause!” Indem hörten sie in der That ganz deutlich den Klang eines Hifthorns in der Ferne. Bald gesellte sich Hundegebell und wildes Geschrei dazu , und der Lärm kam immer näher. „Gebt eurem Pferde die Sporen!” schrie Bolko. „Macht, daß wir fortkommen. Das ist die heidnische Waldkönigin Diana, die alleweile mit ihren Strigholdcn und anderm heidnischen Weibs­ volke das nächtliche Reiten anstellt durch ihr Gebiet. Kommt ihnen ein Christenmensch in den Weg, so ist er verloren! — Macht fort, reitet zu, daß wir ihr noch entwischen!” Allein Raimund meinte, das sey nicht noth. Wie Vater Wolfgang ihm oft gesagt, hätten die bösen Geister keine Gewalt über den, der sich selbst keiner bösen That bewußt sey, noch böse Gedanken in sich hege, und so wolle er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einmal solchem nächtlichen Unwesen in der Nähe zuzusehen. Sie waren unter diesen Reden ganz langsam fortgeritten, und kamen jetzt auf einen freien Platz. Da hörten sie plötzlich raschen Huffchlag hinter sich, sahen etwas Weißes durch die Bäume schim­ mern, und erkannten endlich bei dem schwachen Dämmerlichte, wel­ ches der Tag noch zurückgelaffen hatte, eine weibliche Gestalt auf einem weißen Pferde. Das kam in gestrecktem Laufe grade auf sie zu. „Das ist sie! das ist sie!” schrie Bolko. „Gott steh' uns bei!” 15

226 Raimund wandte sein Pferd und hielt. Als die Reiterin ganz nahe gekommen war, hielt sie gleichfalls ihr Roß an, sprang herab, und indem sie sich vor Raimunden

auf die Knie warf, flehte sie ihn mit rührender Stimme um Hülfe

und Schutz vor ihren Verfolgern an. „ Das ist euch gewährt, Jungfrau! ” sprach Raimund. „ Steigt

nur wieder zu Pferd und haltet euch dicht bei mir.

Mit Gottes

Hülfe denk' ich euch zu beschützen gegen jedermann."

Er hatte kaum ausgesprochen und die Jungfrau kaum Zeit, nach seinem Geheiß zu thun, da war der höllische Lärm, den sie

von fern gehört, auch schon ganz nahe; von allen Seiten brach es

durch die Gebüsche; der ganze Platz füllte sich mit wunderlichen

Gestalten an.

Es waren, so viel sich erkennen ließ, lauter Weiber,

die auf Pferden, Hirschen, Einhörnern und sonst auf abenteuer­ lichen Thieren einherrüten.

Sie umringten Raimunden mit ent­

setzlichem Lärmen und Geheul und schrien: „Gieb sie raust

sie raus!"

Gieb

Mitten durch das Gewimmel aber sprengte auf einem

schwarzen Rosse eine hohe stattliche Frau daher.

Sie war grün

gekleidet; auf ihrem Haupte trug sie einen halben Mond von kost­

baren Steinen, wie es schien, und dieser strahlte mit so hellem

Lichte, daß er den wirklichen Mond am Himmel darin noch ülbertraf, und weit umher Alles erleuchtete. „Wohin gehst du?" sprach sie zu Raimunde

du, schöner Knabe, Heldensohn? Tod.

Kehre um!

Kehre um, komm mit mir.

„Wohin-willst

Du gehst in deinen

Glück und Ruhm verheiß ich

227 dir, wie Keiner noch besessen hier auf .Erden.

Schöner Knabe,

Heldeusohn, König dereinst, komm mit mir! ” Raimunden war nicht anders zu Muthe, als ob die Stimm?

tief in sein Innerstes dränge und fein Herz auflöste in Lust und Sehnsucht; und als er ihr, die sprach, ins Gesicht schaute, ver­ mochte er seine Augen nicht mehr abzuwenden, er fühlte sich wie

trunken und taumelnd, eine wunderbare Gluth brannte in seinen Adern, und halb bewußtlos, wie er war, kam es ihm vor, als ob die Blicke, die die schöne Jägerin aus ihren dunklen Augen auf

ihn schoß, ihn mit einem feurigen Netz umwebten und umstrickten, und ihn mit Gewalt hinüberzögen zu ihr.

Da drängte sich die Jungfrau ihm zur Seite hart an ihn und ergriff ängstlich seine Hand, ihn mit sich fortzuziehen.

Halb

unwillig wandte er sich nach ihr; doch als er in das bleiche und

doch so schöne Gesicht sah, und in die blauen Augen, die so flehend nach ihm

aufblickten, da fühlte er sich plötzlich im Innersten ver­

wandelt;

er wußte nicht wie es kam, daß ihm seine Mutter

siel, wie

sie oft mit den milden blauen Augen ihn so freundlich

und doch

so wehmüthig angesehn, und er faßte schnell nach der

ein­

Alpenrose von ihrem Grabe, die er in seiner Schärpe verwahrt

trug, und zog sie hervor, und in dem Augenblick war es, als ob ein Sturmwind unter den Haufen führe, der ihn umgab.

Mit

entsetzlichem Geheul und Geschrei stäubte er auseinander, und Rai­ mund, von plötzlichem Grausen erfaßt, nahm das Pferd der Jung­ frau beim Zügel und sprengte mit ihr davon,

umzusehn.

ohne sich weiter

S28 Ein gräuliches Ungewitter erhub sich und tobte hinter ihnen

her mit Sturm und Hagel, Donnern und Blitzen, und durch daS

Toben hindurch vernahmen sie das Geschrei und Geheul der Wei­

ber, die sie verfolgten, und da Bolko nicht so rasch nachkommen konnte, siel er ihnen in die Hände und sie setzten ihm mit Stoßen

und Schlagen, Zwicken und Kneipen so mörderlich zu, daß er vor Angst lauter schrie und brüllte, als alle die Weiber mit einander.

Endlich ward der Wald lichter; bald erreichten sie das Freie und hielten an.

Bolko stürzte athemlos herbei, Roß und Reuter

mit Schweiß und Schaum bedeckt. „Nun, junger Herr" schrie er, „ihr werdet an euern Für­

witz gedenken, wie ich!

Und solltet ihr die Geschichte jemals ver­

gessen, so habt ihr an mir ein stetes Erinnerungsbuch bei euch;

denn auf meiner Haut steht sie wie auf einem alten Pergament mit blauen Buchstaben so deutlich und nachdrücklich geschrieben,

daß sie die Engel, die mit der Posaune zum jüngsten Tage blasen, noch darauf werden lesen können." Er begann darauf im Weiterreiten nach seiner Art auf den

Schmidt sowohl als Meister Ezzelino zu schimpfen, und beide zu verwünschen, bis ihn ein heftiger Blitz und Donnerschlag schnell

zum Schweigen brachte.

Bei dem Blitze aber wurden sie gewahr, daß ihnen ganz nahe zur Seite aus einem Hügel eine alte Burg sich erhob mit vielen Thürmen und seltsam ausgezackten Mauern und Zinnen.

„Wenn mich nicht Alles trügt" rief die Jungfrau, „so bin

229 ich hier am Ziele meiner Reise.

Denn so ward mir die Burg be­

schrieben, wo ich das finden soll, was ich suche." edler Ritter," fuhr sie fort, „daß

„Ihr sollt wissen,

ich

Thorhilda heiße und eine Tochter des Königs bin, der dieses Land beherrscht."

„Des Königs Giselherr?" rief Raimund mit Verwunderung.

„Desselben!" erwiederte Thorhilda.

„Wenn ihr seinen Na­

men kennt, so kennt ihr auch ohne Zweifel fein unerhört entsetzliches Schicksal.

In

ausgezogen.

der Hoffnung,

es wenigstens zu mildern, bin ich

Denn die Herrin dieser Burg soll

im Besitze einer

Laute seyn, deren wunderbare Töne alle Schmerzen manchem bösen Zauber widerstehn.

lindern und

Durch einen Zufall kam ich

heute gegen Abend von meinen Begleitern ab, und fiel der wilden Weiberschaar in die Hände, von deren Verfolgung ihr

mich so

großmüthig befreitet."

„Nun, beim Himmel!" — rief Raimund aus — „das kann sich nicht seltsamer treffen!

Auch ich bin ausgezogen eurem Vater

zu Hülfe und Rettung." —

Und damit erzählte er ihr, wie Alles

gekommen, und unter diesem Gespräche ritten sie in die Burg.

Sechstes Kapitel.

Das dritte Abenteuer. Was sich mit Bolkon in der Burg zugetragen. Raimund

freundlich

und

sowohl

als Thorhilda waren von

liebreich

ausgenommen worden.

der Burgftau

Raimund

hatte

230 Marschen guten Rath ooit ihr erhalten, wie er zu dem Wünder-

schwerdt gelangen möchte, und Lhorhildens Schönheit und stille

Anmuth hatte schnell ihr Herz gewonnen.

Sie zeigte sich bereit

Lhk Verlangen zu erfüllen,- tirtb Raimund beschloß am andern Mor­

gen weiter zu ziehen, so gern er auch noch dort geblieben wäre, vcn'tt er dachte allezeit an Vater Wolfgangs Sprüchlein: Selber,

Hintereinander und Behend, die bringen alles wohl zu End'. Bolko hatte sich's indessen wohl seyn lassen mit den drei Zwer­

gen, welche die Bedienung in der Burg versahen, die sich als mun­ tere Gesellen zeigten und ihren Gast aufs beste bewirtheten.

bei war

Da­

denn zuletzt auch das Dachsränzlein zu Rathe gezogen

worden, und hatte die lustige EUMpanschaft mit mancher Flasche

so wöhl berathen, daß sie endlich sammt und sonders mit einem güten Rausche versehen zu Bette taumelten.

Diesen mochte Bolko nun wohl noch nicht völlig ausgeschlafen

haben, als die Morgensonne, die grade auf seine Rügen schien, ihn

aus dem Schlafe weckte; denn indem er sich an den Befehl seines Herrn erinnerte, frühzeitig bei der Hand zu seyn, und in den Hof gehen wollte, nach den Pferden zu sehen, stieg er, anstatt die Treppe

hinabzusteigen, vielmehr eine Treppe hinan, und wunderte sich nicht wenig, als er hier, statt nach seiner Meinung in den Stall zu

kommen, in ein hochgewölbtes, reiches Gemach trat.

Spiegelblanke

Säulen von Marmor standen ringsum an den Wänden, und zwi­

schen den Säulen riesengroße Bilder von Erz und Stein.

Bolko

betrachtete alles mit Erstaunen, und dä er gegenüber noch eine halb offne Thür gewahrte, konnte er dem Verlangen nicht widere

231 stehen, sich weiter umzusehen, und trat in eine zweite Halle, die

auf ähnliche Weife, aber statt der Bildsäulen mit großen Gemäl­ den an den Wänden ausgeschmückt war.

Hier befand er sich nun

recht in seinem Elemente, denn fein Vater war ein Maler gewesen,

und hätte den Sohn gleichfalls zu seiner Kunst erzogen, wenn er

nicht frühzeitig weggestorben wäre.

Von daher blieb Bolko indeß

allzeit eine große Neigung zur Malerei. Er lief nun hier mit einem besondern Vergnügen vor den

herrlichen Bildern aus und nieder, und wußte gar nicht, wo er an­ fangen sollte zu schauen.

In dieser Unruhe stieß er auf die Thür

zn einem dritten Gemache, öffnete sie gleichfalls, und sah sich nun mitten in einer großen Malerwerkstätte, auf der Wand ihm gegen­

über aber ein treffliches Gemälde von vielen Figuren in ganz ver­ alteter Tracht, dessen Farben jedoch so lebhaft und frisch waren, als hätte der Meister

eben

erst die

letzte Hand

daran gelegt.

Allein zu seiner Verwunderung bemerkte er in der Mitte desselben einen ganz leeren weißen Raum: das kam ihm sehr seltsam und

fast ärgerlich vor, und je länger er das Bild betrachtete, desto

ärgerlicher und unerträglicher ward ihm der weiße Fleck, und er fühlte eine große Begier, diesem häßlichen Uebelstand abzuhelfen, so

daß er endlich schnell nach einem Pinsel griff, und sich einige Far­

bentöpfe zusammentrug, um den Fleck zu übermalen.

Da er nun

dabei einem großen Spiegel gegenüber kam, und sich selbst darin

erblickte, fiel er auf den Gedanken, sein eignes Bild in dem lee­ ren Raume auzubringen, welches er auch auf der Stelle ins Werk

setzte.

232 Die Arbeit ging ihm über die Maaßen gut von statten; der

Pinsel flog in seiner Hand, und in kurzer Zeit sah er sein wohl­

getroffenes Ebenbild in Lebensgröße vor sich stehn. er nun großes Vergnügen.

Darüber spürte

Er beäugelte das Bild von allen Sei­

ten mit Wohlgefallen, und trat endlich auch vor den Spiegel, um eS darin zu betrachten, wie die Maler pflegen.

Hier kam es ihm

noch weit schöner, ja in der That fast als wie lebendig vor, und er

nickte

Gruß zu.

ihm

in der Freude seines Herzens

Doch siehe!

Bild wieder zurück. daß ihn

einen

freundlichen

Da bäuchte ihm auf einmal, als nicke daS

Ein wenig erschrocken und in der Meinung,

der Spiegel getäuscht,

kehrte er sich schnell um, ging

einige Schritte gegen das Bild, blieb dann stehen und wiederholte seinen Gruß.

Und siehe!

Das Bild fing an die Augen zu drehen,

verzerrte das Geficht zu einem freundlichen Grinsen und nickte ganz

deutlich dreimal mit dem Kopfe. Darüber kam Bolko doch ein Grau­

sen an, es lief ihm kalt über den Rücken, und er zog sich langsam, die Augen immer gegen das Bild gewendet, nach der Thüre. Allein

so wie er zurückwich, fing auch das Bild an Arme und Beine zu

bewegen, als wollte es ihm folgen; zu gleicher Zeit wurden auch die andern Figuren an der Wand lebendig, regten die Glieder und nick­

ten mit den Köpfen, und endlich schritten sie alle mit einander,

Männer, Weiber^ und Kinder, wirklich aus der Wand heraus und

grade auf Bolko

zu.

Dieser rannte nun voll Entsetzen nach der

Thür, und glaubte sich durch die Flucht von der ungebetenen Be­

gleitung los zu machen; allein als er in die anstoßende Gemälde­

halle stürzte, waren dort die Figuren aus den Wandbildern sämmt-

233 lich auch schon in voller Bewegung und kamen ihm entgegen und

nickten mit den Köpfen.

Zugleich hörte er die aus dem ersten

Zimmer hinter sich her schlürfen und rascheln, und erblickte dicht neben sich sein Ebenbild, welches alle seine Bewegungen und Ge­ berden wie ein Spiegel aufs getreuste nachahmte oder vielmehr zu

gleicher Zeit mit ihm machte.

Das brachte ihn nun vollends au­

ßer sich.

Halb bewußtlos ohne Athem sprang er in das folgende

Gemach.

Aber, o Entsetzen! auch hier stiegen die Riesenbilder von

Erz und Stein eben von ihren Fußgestellen, marschirten in bester

Ordnung, mit schweren Tritten, tapp! tapp! daß die Fenster klirr­ ten, nach dem Ausgang, stellten sich dort in einer langen Reihe vor die Thür, so daß an kein Entwischen zu denken war, und begrüß­

ten Bolko gleichfalls mit langsamem feierlichem Kopfnicken.

In der Todesangst rannte er nun hin und wieder, sein Con-

terfey immer mit ihm, und suchte nach einem Ausweg und konnte keinen finden, und von der andern Seite her raschelte und schlürfte die gemalte Gesellschaft ihm immer näher auf den Leib und warf ihm entsetzliche Blicke zu, während dort die großen blinden Augen

der Bildsäulen ihn auf eine fast noch gräßlichere Weise anstarrten. Endlich da er sich nicht mehr zu retten noch zu helfen wußte,

warf er sich platt auf den Boden nieder und sing aus allen Lei­

beskräften an um Hülse zu schreien. Unter dieser Zeit hatte Raimund, zur Abreise gerüstet, seinen

Knappen überall vergebens gesucht und gerufen, bis er endlich das gewaltige Tapp!

Tapp!

über sich

vernahm,

wovon die ganze

Burg erdröhnte, und bald darauf auch Bolkos Geschrei hörte.

So-

234 gleich lief er die Treppe hinan, und die Burgfrau, die das Vorgegangme zu ahnen schien, folgte ihm nach.

Hier erblickten sie nun mit Erstaunen das wunderliche Schau­

spiel.

Die Burgfrau aber sprach mir feierlicher Stimme:

„Traum von Farben, Erz und Stein, Scheinen sollst du nur, nicht seyn!"

und berührte eines der steinernen Bilder mit einem kleinen Maler­ stäbchen, das sie in der Hand trug.

Sogleich stob die ganze Ver­

sammlung aus einander; die Bildsäulen standen im Nu wieder auf

ihren Fußgestellen, und die andern Gestalten nahmen ihre Plätze wieder in den Wandgemälden ein wie zuvor.

Allein nicht so geschah es mit Bolkos Ebenbilde.

Die Burg­

frau berührte es umsonst mit ihrem Stäbchen; es bezeigte nicht dir geringste Lust, sich wieder an seinen Platz zu verfügen, sondern

begleitete Bolko auf allen Tritten und Schritten und stieg endlich

mit ihm sogar

die Treppe

hinab in den Hof,

wo die Pferde

bereits gesattelt standen. „Wohl! Wohl!" sagte die Burgfrau lächelnd, „ich merke, wer du bist.

Du wirst dich nun schon drein ergeben müssen, Bolko.

Ich kann dir nicht helfen."

Bolko aber, als er die Pferde sah, dachte sich doch vielleicht noch selber zu

helfen.

Als daher Raimund Abschied genommen

hatte von der Burgfrau und von Thorhilden,

und

eben aufsitzen

wollte, da sprang jener auf einmal wie der Blitz auf sein Pferd

und jagte davon in der Meinung, daß sein Conterfey ihm so schnell nicht würde folgen können.

Doch indem er sich nach ihm umsehm

235 wollte, wo es geblieben, da saß es auch schon wicher hinter ihm

und grinste ihm freundlich über die Schulter entgegen.

„Run denn," schrie er, indem er vom Pferde h-rang, — „beim heiligen Antonius, der in seiner Wüste nicht tolleres Zeug

erlebt hat, als ich heute, ich ergebe mich!

Ist es mir in Zeit

von 40 Jahren gelungen mich an mich selber zu gewöhnen, ja

sogar mich recht leidlich lieb zu gewinnen, so kann es mir wohl auch mit dir so gehen, der du ja mein Bruder und zugleich mein Sohn bist.

Der Himmel gebe mir nur gehörige Zeit dazu."

Lachend befahl

die Burgfrau noch

ein Pferd hcrbeizufühten

für Bölkos Conterfey, lachen- erfüllten die Zwerge den Befehl und

lachend trabte Raimund mit seinem Bolko Nummer 1 und Bolko Nummer 2 zum Thore hinaus.

Siebentes Kapitel. Das vierte Abenteuer. Wie Raimund sich das Schwert gewinnt. Der Tag ging auf die Neige, als Raimund mit seinen zwei

Knappen von einer Anhöhe herab die blauen Berge ganz nahe vor

sich liegen sah. In tausend und aber tausend einzelnen Klippen, Säulen, Pfei­ lern und Thürmen starrten die grauen Felsen zum Himmel empor

wie Trümmer einer ungeheuren Riesenstadt, Raimund ritt grade

darauf zu und folgte einem Wege, der in das Innere dieses Fel­

senwaldes zu sichren schien.

Immer nackter und schroffer wurde

236

das Gestein, immer seltsamer seine Gestalten, so daß es bald mit mancherlei Thieren, bald selbst mit Menschen zu vergleichen war. Endlich gelangten sie auf einen runden Platz, der ringsum mit einer steilen, glatten Felswand umgeben war und keinen andern Aus­ weg zu haben schien, als den, durch welchen sie kamen. Zhnen gegenüber rauschte ein starker Bach wie ein breiter Waffervorhang an der Steinwand hoch herab. „Nun, wie weiter, Bolkochen?" sprach Bolko zu seinem Eben­ bilde, an dessen Begleitung er sich bereits so weit gewöhnt hatte, daß er anfing allerlei Possen mit ihm zu treiben. „Sprich doch nur endlich einmal ein Wort! Ich kann solche stumme Gesellschaft nicht leiden, und du schlägst wahrhaftig ganz aus der Art, mein Söhnchen." Aber jener, ob er gleich wie gewöhnlich die Lippen bewegte, so lange als Bolko sprach, brachte er doch keinen Laut aus sei­ nem Munde. „Hier durch das Wasser geht unser Weg!" rief Raimund, und ohne weiter aus Bolko zu hören, der ihm die Unmöglichkeit vorstellte, ritt er gerade mitten in den Wasservorhang hinein. Bolko hatte keine Lust, allein zurück zu bleiben, und mußte sich also entschließen, ihm zu folgen. Sie kamen alsbald in eine schmale Kluft, die hinter dem Wasser durch den Felsen ging, und sahen nach einer Weile wieder den blauen Himmel über sich. Doch war ihnen dadurch nicht viel geholfen, denn sie bemerkten bald, daß der Platz, auf dem sie sich befanden, gleichfalls rund um eingeschloffen war und nirgends wei-

237

ter einen Ausgang zeigte. Vergebens untersuchte Raimund den ganzen Umkreis genau: bis zu einer Höhe von mehr als hundert Ellen hinauf war das Gestein überall so steil und glatt wie eine Mauer. „Nun, hier hat die Welt ein Ende," rief Bolko, „und hof­ fentlich auch unsre Reise! Laßt uns nur gleich umkehren. ES ist nicht anders; wenn nicht etwa Meister Ezzelino der Taschenspieler kommt und uns auf der Stelle in Vöglein verwandelt, so müßt ihr euch schon drein ergeben. — Aber seht nur, wie wunderlich!" fuhr er fort, „ich spreche vom Meister Ezzelino, und da sitzt er ja leibhaftig vor uns." — Er zeigte bei diesem Worte auf einen mächtigen Felsenberg, der sich im Hintergründe ihnen gegenüber bis in die Wolken erhob, und Raimund fand in der That, daß der Berg ganz so aussah, wie ein in Stein gehauenes ungeheures Riesenbild von Meister Ezzelino. Sogar das rothe Spitzbärtlein war nicht vergessen. Indem sie aber noch mit Erstaunen das seltsame Naturspiel betrachteten, und ihnen die einzelnen Züge des Bildes immer deut­ licher hervortraten, kam es ihnen auf einmal vor, als ob der Kopf desselben anfinge sich zu bewegen, und in demselben Augenblicke löste sich ein gewaltiger Felsblock ab, der die Nase vorstellte, und wohl so groß war wie ein Haus, und fiel krachend herunter. Der Kopf selbst folgte bald hinterdrein, Hände und Arme lösten sich gleichfalls, und endlich stürzte die ganze Gestalt mit einem ent­ setzlichen Donnergepraffel in sich zusammen. Raimund und seine Gefährten konnten sich kaum vor den Felsenstücken retten, die bis

238 zu ihnen herabgerollt unt> gesprungen kamen und wurden von einer

Wolke von Sand und Staub so dicht eingehüllt, daß Keiner den

Andern sah.

Als sich diese aber nach einer Weile wieder zertheilt

hatte, bemerkte Raimund alsbald zu seiner großen Freude, daß nun über die

die Trümmer des

zusammengestürzten Berges

hinweg

schroffe Felswand ganz bequem zu ersteigen seyn würde; er

sprang daher vom Pferde, hieß Bolkon ein Gleiches thun, und schritt,

Meister Ezzelino laut preisend, über die Felsblöcke, wie über eine

Treppe, schnell hinan. Hier verwandelte sich nun auf einmal der Schauplatz.

Sie

meinten aus dem Leben plötzlich in das starre Reich des Todes

versetzt zu seyn.

Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm war

zu sehen; nicht einmal ein dürftiges Moos hatte sich an die zakkigen, schwarzen Klippen gewagt, die gleich den Schlacken einer

in Feuer aufgegangenen Welt um sie her standen.

Rothe und

gelbe Schwefelkrystalle schauten aus den Ritzen des verbrannten Ge­

steins wie grelle Flammen aus der Nacht. Am desto mehr verwunderten sie sich, als sie bald darauf an

dem Eingang einer Höhle einen Baum stehen sahen, der zwar keine Blätter, an seinen nackten Zweigen aber die schönsten goldfarbnen

Früchte trug.

Bolko konnte dem Gelüste nicht widerstehm, von

den herrlichen Früchten zu kosten, und obgleich Raimund ihn warnte, pflückte er einige ab und aß.

Sein Conterfey that desgleichen,

und verdrehte die Augen und schmatzte vor Vergnügen, und siehe

da!

auf einmal rief eS mit lauter Stimme:

schmeckt!"

„Ach! Ach! das

239 Raimund und Volks erstaunten nicht wenig, daß ihr stummer

Gefährte so plötzlich zur Sprache gelangt war; dieser aber fuhr

fort zu schmatzen und zu schwatzen, und Volks freute sich darüber, weil er nun, meinte er, jemand hätte, mit dem er sich unterhalten

könne,

wenn sein Herr nicht auf ihn hören wollte.

Allein ferne

Freude verkehrte sich bald in Verdruß: so oft er ansing zu sprechen,

ließ ihn jener gar nicht mehr

zu Worte kommen, ja er wurde

bald gewahr, daß sie die Rollen gänzlich mit einander vertauscht hatten; denn anstatt daß sein Ebenbild bisher ihm alle seine Be­ wegungen nachgemacht hatte, so fühlte er sich jetzt im Gegentheil zu seinem großen Schrecken gezwungen, selbst alles zu thun, was jenes that.

Davon erhielt er bald den deutlichsten Beweis.

nämlich Raimund

sich anschickte in

die Höhle hinab zu

Als

steigen,

grausete Bolkon vor der Finsterniß darin, und er wäre hier gern

zurückgeblieben, hatte auch bereits die Erlaubniß dazu von seinem Herrn: allein da Bolko Nummer 2 immer munter vorwärts schritt, fühlte Bolko Nummer 1 trotz aller Gegenrede, trotz allem Fluchen

und Schimpfen, seine Füße wider Willen fortgezogen, und mußte jenem folgen in den schwarzen Schlund hinab.

Hier gingen sie nun im Finstern wohl eine Stunde lang im­

mer steil bergab.

Endlich wurde es heller um sie her; ein bläuliches

Licht erfüllte die ungeheuren -Gervölbe, ohne daß sie sahen, wo es herkam; und bei diesem Schimmer wurden sie inne, daß die Wände

neben ihnen, und die Decke über ihrem Haupt, und der Fußboden, auf welchem sie gingen, ganz und gar aus Lodtengebeinen bestanden.

Große Hausen davon lagen überdies noch hier und da am Wege.

240 „Hier liegt die alte Heidenwelt begraben!" sagte Bolko der Zweite.

Und fie gingen immer weiter bis an ein hohes eisernes

Thor, das Raimund nicht zu öffnen vermochte.

Schwert und schlug dagegen.

Er zog daher sein

Es gab einen lauten Klang, der

weithin durch die Klüfte dröhnte, und im Augenblicke kam Leben

in die Todtenbeinhaufen um sie herz sie fingen sich an zu bewegen,

rasselten und klapperten durch einander und setzten sich endlich in

unzählige Gerippe zusammen, die von allen Seiten drohend auf Raimund und seine Gefährten eindrangen.

Bolko schrie laut auf

vor Entsetzen und wollte sich hinter seinen Herrn verbergen; allein

Bolko der 2te zog den Degen und warf sich keck der andringenden Schaar entgegen, und so mußte jener trotz seiner Todesangst ihm

nach und wacker einhauen auf den Feind.

Dabei ging es nun

ohne manchen tüchtigen Puff und Schlag und ohne manche klap­

pernde Ohrfeige von den Knochenhänden nicht ab, und Bolko schrie, so oft er getroffen ward, wie ein Gespießter und bat die gestrengen Herrn Todtengerippe, sie möchten doch barmherzig seyn und es ihn nicht entgelten lassen; er könne ja nicht dafür, und müsse thun,

was jener verdammte Kobold thäte!

Indeß fing zu Raimunds Füßen der Boden an zu wanken,

und theilte sich empor, und aus der Tiefe stieg ein bleiches Riesen­ haupt mit einer eisernen Krone, das schüttelte sich die Erde aus

den grauen struppichten Haaren, that die Augenlieder auf, starrte Raimunden mit halb gebrochenen Augen an und sprach mit dumpfer, heiserer Stimme: „Warum störst du mich im Schlaf?"

Und da

R-imund, doch ein wenig entsetzt, nicht gleich zu antworten ver-

241 mochte, ho- sich die Gestalt immer höher aus ihrem Grabe, und

er sah, daß sie mit einem Panzerhemd von Lodtenbeinen and eiser­ nen Wetten bekleidet war;

in ihrer Rechten trug sie einen Wurf­

Raimund ermannte sich und rief: „Gieb das Schwert her­

pfeil.

aus, das hier verborgen liegt, denn ihm ist bestimmt zu herrschen auf der Erde!" und drang

dabei muthig auf die Gestalt ein.

Doch als er sie mit der Spitze seines Schwerts berührte, fühlte er plötzlich seinen Arm gelähmt, es ward ihm dunkel vor den Äu­

gen, seine Knie zitterten, er bebte zurück, und die Gestalt schwang hohnlachend den Wurfpfeil, um ihn zu durchbohren; da war ihm

plötzlich, als hörte er die Stimme seiner Mutter, die ihm Muth

einsprach, und schnell riß er die Alpenrose von ihrem Grabe aus der Schärpe;

Muth

und Leben kam in seine Brust zurück,

er

unterlief den geschwungenen Pfeil, berührte die Gestalt mit seiner

Rose,

und im Augenblick war sie versunken und verschwunden;

rasselnd stürzten zu gleicher Zeit die Gerippe hinter ihm zusammen

und vor ihm sprang die eiserne Pforte weit auf.

Er trat in eine weite Halle von grauen Basaltpfeilern ge­ bildet und sah in der Mitte derselben eine eherne Truhe stehen,

worin, wie er wußte, das Schwert verwahrt lag, das er suchte. Schnell ging er darauf zu und faßte den Deckel.

Doch in dem

Augenblick erschallte ein über alle Maaßen entsetzliches Wehgeschrei von allen Seiten, rothe Blitze fuhren prasselnd aus dem Boden

und sprangen von der Decke herab,

Donnerfchläge krachten um

ihn her, die Erde bebte, gräßliche Gestalten rauschten an ihm vor­ über und gellten ihm ihr furchtbares Weh! in die Ohren.

Fast

242 wollten ihm die Sinne vergehen, dennoch aber hob er muthig den

Deckel auf, und faßte nach dem Schwert, das wie ein Kreuz ge­

bildet war, und auf seiner Klinge gleichfalls ein goldenes Kreuz eingeschlagen trug; indem er es aber ergriff, geschah ein gewaltiger Schlag, der Boden versank rings um ihn, die Gewölbe stürzten ein, er stand in schwarzer Finsterniß und dumpfer und dumpfer

scholl das Krachen der Felsentrümmer zu ihm herauf, die in den Abgrund hinabrollten.

Endlich ward es ganz still, still, daß er

das Klopfen seines Herzens hören konnte. —

So stand er eine

Weile fast betäubt; dann fühlte er mit dem Schwerte nach allen Richtungen um sich her und ward gewahr, daß er auf einer schrof­ fen Felsenspitze stand, rings um ihn herum der Abgrund, so daß

er an der Möglichkeit verzweifelte von hier zu entkommen, und

dem langsamen, qualvollen Tode entgegen sah in dieser gräßlichen Einöde.

Da fing auf einmal die Alpenrose, die er noch in der

Hand trug, mit einem rosenfarbenen Schimmer zu

leuchten an,

und bei dem Schimmer sah er, daß in geringer Liefe unter ihm zwei Basaltpfeiler beim Zusammenstürzen sich aneinander gelehnt hatten, und so eine schmale Brücke über den Abgrund bildeten.

Freudig und muthig stieg er hinab, und betrat die Brücke, die

kaum einen Fuß breit war.

Unten in der Liefe begann es von

neuem zu rauschen und zu toben, graue Schatten schwirrten vor ihm hin und her,

langten und schnappten nach ihm, und suchten

seine Blicke zu verwirren, und zu gleicher Zeit war es ihm, als

hörte er Wolfgangs und Thorhildens Stimme, die ihn drunten

um Hülfe riefen.

Er ließ sich aber nicht irre machen, hielt die

243 Augen fest auf seinen schmalen Pfad geheftet, und gelangte so glück­

lich auf die andere Seite.

Dort war er nicht lange gegangen,

als er seine beiden Gefährten antraf, die ihn schon verloren ge­

geben hatten.

Sie erreichten den Ausgang der Höhle, sanden ihre

Roffe wieder und trabten nun wohlgemuth ihren Weg gerade nach der Burg des Königs Giselherr.

Achtes Kapitel.

Beschluß. Als Raimund das stattliche Gebäude auf seinem Hügel vor sich liegen sah,- da schlug ihm das Herz vor freudigem Muth und Er­

wartung. Thorhilda empfing ihn, und indem sie ihn zum Könige führte, erzählte sie, daß es ihr zwar gelungen sey durch die wundervollen

Töne der Laute ihres Vaters Schmerzen zu lindern, ja sogar ost

ihn damit in einen kurzen Schlummer zu lullen, daß aber nach wie vor die beiden Schlangen sich jede Nacht einstellten zu dem

entsetzlichen Mahl, und der alte König mit Sehnsucht ihm entgegen­ sehe, als auf den seine letzte Hoffnung gestellt sey. Raimund fand

den König beim Banket von vielen Rittern

und Frauen umgeben.

Der Becher ging fleißig um und eine lustige

Musik ließ sich dazu hören z

denn auf diele Weise suchte der Kö­

nig sich zu betäuben und die schrecklichen Nächte zu vergessen, die

seiner harrten.

Mit Thränen hieß er seinen Kämpfer willkommen

und eine freudige Nöthe stieg auf seine bleichen-abgezehrten Wan16*

244 gen, indem er Raimunds jugendliche und doch so stolze kräftige Gestalt betrachtete und das Schwert mit dem Kreuze in seiner

Hand sah.

Er verlangte, daß er erst einige Tage ausruhen und

Kräfte sammeln sollte zum Kampfe, allein Raimund, den die Thrä­ nen des Königs auf dem Herzen brannten und der wieder an Wolf­

gangs Sprüchlein dachte:

Selbst, Hintereinander und Behend

Die bringen alles wohl zu End'.

Raimund setzte gleich dieselbe Nacht dazu fest. Und als

es begann finster zu werden, da wurden auch die

Gäste in der Halle immer stiller, und als Mitternacht heran kam,

schlich einer nach dem andern sich davon, die Musik verstummte,

die Halle ward leer, selbst die Diener des Königs verließen die Burg, und alle mit einander begaben fich auf einen nahen Hügel,

dort den Ausgang zu erwarten, und endlich war niemand mehr bei dem König als Thorhilda und Raimund.

Dieser aber ging

jetzt hinaus und befahl Bolkon, ihm seine Rüstung anzulegen, und

als dies geschehen, ging er in die große Waffenhalle, die an des Königs Gemächer stieß und die mit vielen Fackeln hell erleuchtet war: denn hier wollte er seinen Feind erwarten.

Er trat an ein Fenster,

welches die Aussicht über den Hof

hinweg in das freie Feld gab.

Dunkle Wolken zogen langsam am

Himmel hin; dazwischen schaute der Mond dann und wann- Aar

und freundlich herab.

Und als

er jetzt eben wieder hell in die

Gegend schien, wurde Raimund zwei glänzende Streifen gewahr,

245 die

neben einander über das Feld her

wie zwei

schnellrinnende

Wafferbäche auf die Burg zu kamen, und indem er noch zweifelte,

was dies seyn möchte, zeigte es sich schon ganz nahe, und er merkte nun, daß es die Schlangen waren, die ungestüm herbeischossen und

deren Schuppenhaut so im Mondlicht glänzte.

Es dauerte auch

gar nicht lange, da sah er ihre gräulichen Häupter, die sich hoch

über die Burgmauer erhoben, dann sich auf der andern Seite herab­ senkten, und den langen Leib schleppend nach sich zogen. hatte kaum Zeit

von

dem Fenster zurück zu treten,

Und er und sein

Schwert mit dem Kreuze zur Hand zu nehmen, da hörte er sie

schon die steinerne Treppe heraufrauschen,

als ob es eine Schaar

gewappneter Männer wäre, und auf sprang die Thür, und in

hundertfachen Ringen sich durcheinander schlingend und sich drän­

gend, quollen die ungeheuren Leiber durch die Oeffnung, bäumten sich dann in die Höhe und schienen einen Augenblick zu stutzen über die ungewöhnliche Erleuchtung und über den Ritter, der sie festen

Fußes erwartete;

plötzlich aber schossen sie gräßlich zischend auf

Raimund ein, ihn zu umstricken.

Doch Raimund empfing sie mit

einem gewaltigen Kreuzhieb, der beide traf,

und obgleich sein

Schwert von ihrem Schuppenpanzer abprallte, ohne sie zu yerletzen, wichen sie dennoch allsogleich zurück, ringelten sich aber nun bald in weiten, bald in engen Kreisen mit Blitzesschnelligkeit im­

mer um ihn herum, und zwangen ihn dadurch, daß er sich gleich­ falls rastlos bald da, bald dorthin drehen und wenden mußte, um überall mit dem Schwert ihrer

gewärtig zu seyn.

So dauerte

der Kampf lange Zeit unentschieden, bis Raimund seinen Arm matt

246 werden fühlte und immer matter; seine Brust keuchte, die Last der schweren Rüstung drückte ihn zu Boden, seine Bewegungen wur­

den langsamer, und immer schneller und in immer engern Kreisen umringelten ihn die beiden Ungeheuer; endlich wurde es ihm ganz

dunkel vor den Augen, kalter Schweiß trat an seine Stirn, in

gänzlicher Erschöpfung sank er in die Knie, das Schwert glitt aus seiner Hand, wüthend schossen die Schlangen auf ihn los: er gab sich verloren.

Da, in dem Augenblick, erklangen aus dem Neben­

gemach Thorhildens Lautentöne in mächtigen Akkorden; die Schlan­ gen horchten und standen still, und Raimund, dem die Töne neue

Lebensgluth in die Brust strömten, faßte sein Schwert, riß sich em­

por, und mit starkem Willen die letzten Kräfte zusammenraffend, hieb er mit einem Streich den Ungeheuern die goldnen Kronen von den Häuptern, und hoch empor bäumten sie sich noch einmal

und stürzten dann prasselnd nieder, daß

die Mauern der'Burg

von dem Falle erbebten.

Freudig eilte Thorhilde herbei; auch Bolko,

den sein Eben­

bild seit dem Eintritt in die Burg verlassen, und der sich jetzt in der Nähe versteckt gehalten hatte, kam hurtig gelaufen, und als er die Riesenleiber der Schlangen ohne Regung am Boden liegen sah,

riß er das Fenster auf, und verkündigte die frohe Mahr mit lau­ ter Stimme.

Da

strömten Herren

und

Diener, Männer und

Frauen mit frohem Getümmel herzu, und die ganze Burg er­ schallte von lautem Jubel, und so begleiteten sie Raimunden zum

König.

Dieser heftete seine Lippen voll Inbrunst auf das Schwert

mit dem Kreuze, umarmte dann seinen Ritter, legte Thorhildens

247 Hand in die stinige, und ernannte ihn vor allem Volke zu seinem

Erben und Nachfolger auf dem Throne. Doch auf einmal mitten in dem Jubel sprengten Eilboten in die Burg, traten vor den König und meldeten, daß ein feindliches

Heer in das Land gefallen, und bereits ganz in dir Nähe sey, und wie es überall seine Absicht verkünde, den König vom Throne zu

stoßen, den er widerrechtlich besitze. Auf diese Botschaft griffen Schreck und Bestürzung um sich

unter denen, die zugegen waren; und der König neigte sein Haupt auf die Brust und sprach: „DerHimmel ist noch nicht versöhnt!"

Raimund aber redete allen Muth ein und bat den König schnell

seine Mannen aufbieten zu lassen,

er selbst wolle mit den anwe­

senden Rittern und allem, was in der Burg die Waffen zu tragen vermöge, sogleich hinausziehen dem Feinde entgegen, und sehen, was

vielleicht indeß mit Gott zu thun sey.

Es geschah so wie er gesprochen, und an der Spitze seines kleinen Häufleins zog er aus der Burg. Sie hatten nun eben erst die nächsten Anhöhen erreicht, da

sahen sie schon einen Theil des feindlichen Heers im Thale halten, und hinter demselben, und rechts und links zeigten sich große Staub­

wolken, und daraus hervor blitzten in der Morgensonne die Waffen heranrückender Schaaren. Ein Herold ritt ihnen alsbald entgegen, und fragte an: ob sie

kämen, sich ihrem rechtmäßigen Könige zu unterwerfen? denn dieser sey im feindlichen Lager.

Und falls sie dort sich mit eigenen Au­

gen und Ohren davon überzeugen wollten, biete er ihnen im Na-

248

men seines Herrn sicheres Geleit an. Doch Raimund entgegnete unwillig: „Auf eine Frage, die mit dem Schwert in der Hand an ihn gethan werde, wisse er auch nur mit dem Schwerte zu ant­ worten. Wenn dem feindlichen Heerführer danach gelüste, so möge er sich ihm stellen, Mann gegen Mann; dann wolle er ihm nach Kräften Bescheid thun. Den Weg aber ins feindliche Lager hoffte er bald auch ohne Geleit zu finden. Und der Herold war kaum bei den Seinigen wieder angelangt, da sprengte ein Ritter in schimmernder Silberrüstung ganz allein rasch aus dem Haufen hervor ins flache Feld zwischen ihnen und dem feindlichen Heer. Sogleich führte Raimund seine kleine Schaar die Anhöhen hinab, ließ sie am Fuße derselben Halt machen, und sprengte allein dem Ritter rasch entgegen. Er sah bald, daß dieser keine Lanze führte und es also auf einen Kampf mit dem Schwerte abgesehen sey, warf daher die seinige gleichfülls von sich, und so ritten sie in gestrecktem Laufe grade auf einander los. Doch als sie sich bis auf wenige Schritte nahe gekommen waren, hielten sie beide an, und wogen einander mit den Blicken, und Raimund freute sich der hohen, königlichen Gestalt des Gegners. Hierauf zogen sie beide rasch den Helmsturz herunter, und griffen zu den Schwertern, den Kampf zu beginnen. Da rief plötzlich der Rit­ ter: „Haltet ein!" und warf sein Schwert in die Scheide zurück. „Ihr blutet!" fuhr er fort. „Nicht Ehre brächt' es mir, mit einem schon Verwundeten zu kämpfen." Voll Verwunderung sah Raimund in der That das Blut an seinem Panzer herabrieseln, doch wurde er bald gewahr, daß es

249 aus der Schärpe kam, worin er seine Alpenrose verwahrt trug.

Er zog sie schnell hervor, und siehe! traurig neigte die Rose das

Haupt, und helle Blutstropfen standen auf ihren Blättern. In dem Augenblick vernahm er lautes Rufen von der Seite,

und zwei Reiter jagten herbei und schrien schon von weitem: „Hal­

tet ein!"

Und Raimund erkannte in dem einem Meister Ezzelino,

in dem andern aber seinen Vater Wolfgang.

gleich zwischen die beiden Kämpfer, Gundibert, was willst du thun!

Sie warfen sich so­

und Ezzelino rief: „Prinz

Es ist dein Sohn."

Wolfgang

aber faßte Raimunds Arm, nahm ihm das Schwert aus der Hand

und sprach: „Gegen wen streitest du, Raimund!

dein Vater, nicht ich." —

Dieser dort ist

Und dann sich zu dem Fürsten wendend,

der vom Pferde gesprungen war, und dessen Hand an seine Brust drückend: „So lebt ihr wirklich," rief er, „mein theurer Fürst

und Herr!

Und diese alten Augen sehen euch wieder, die euren

Tod so oft und so lange beweint!

Kommt nur! — Er ists- es

ist Raimund, euer Sohn, den ihr meinen Händen anvertraut, und den ich jetzt euch wiedergebe." „Und seine Mutter?" rief Prinz Gundibert. Sie hat« euch ihr Bild zurückgelassen, da sie ging!" ent­

gegnete Wolfgang langsam und mit niedergeschlagenen Augen, und nahm Raimund den Helm vom Haupte.

Da sah der Vater seines

Sohnes herrlich blühende Gestalt, er erkannte der geliebten Mutter

theure Züge, und neben die freudige Gegenwart stellte sich weh­ müthige Erinnerung, und tief bewegt von Schmerz und Lust schloß

er den Sohn in seine Arme und hielt ihn lange schweigend fest.

250 Dann richtete er sich empor, reichte den beiden Freunden dankend

seine Hand, und erzählte ihnen mit kurzen Worten, Nachstellungen seines Bruders nur durch die Flucht übers Meer entgangen sey,

wie er nach vielen seltsamen

Abenteuern endlich

zurückgekehrt und Schutz und Hülfe gefunden bei dem König von

Burgund, der ihm ein Heer ausgerüstet habe, sich damit sein an­ gestammtes Königreich wieder zu erwerben. „Ihr kommt zu

spät!"

unterbrach ihn Ezzelino lächelnd,

„euer Sohn hat sichs bereits erworben.

Denn als ich ihm uiib

seiner Mutter und Wolfgang, dem treuen Diener, eine sichere Frei­ statt bereitete in meinen Bergen, da schwur ich es dem Andenken

an unsre alte Freundschaft zu, daß euer Sohn die Krone tragen solle, die für euch bestimmt war, doch sollte er sie sich erst vorher verdienen, und wahrlich! das hat er gethan mit Ruhm und Ehren."

Und nun, indeß sie mit einem frohlockenden Gefolge, das sich

um sie versammelte, der Burg zuritten, erzählte Meister Ezzelino, wie sich alles zugetragen, und Raimund erkannte wohl, daß seine

Vermuthung ihn nicht betrogen, und daß

Meister Ezzelino nie­

mand anders sey, als der Berggeist, den er in Sagen und in Liedern von frühster Jugend an gekannt, und dessen Treiben und

Wirken er mit schauerlicher Lust sich ost so nahe geahnt hatte.

So waren sie bis vor das Thor der königlichen Burg ge­ kommen.

Da trat König Giselherr aus dem Thor, von seiner

Dienerschaft und unzähligem Volk umgeben, ging ihnen entgegen

und indem er^ sich vor seinem Bruder auf ein Knie niederließ,

nahm er die Krone von seinem Haupte und legte sie zu seines

251 Bruders Füßen.

Als Prinz Gundibert aber den König in dieser

demüthigen Gestalt erblickte,

und ihm in das bleiche abgezehrte

Gesicht sah, wie schwand Groll und Rache aus seinem Herzen z er

sprang vom Pferde, hob ihn auf und verzieh ihm, wollte auch die Krone nicht von ihm annehmen, sondern verlangte, daß Rai­

mund und Thorhilde den Thron besteigen und mit einander herr­

schen sollten.

Doch Raimund

rief mit lauter Stimme: „Da sey

Gott für, daß ich jemals zu herrschen begehre, so lange mein Va­ ter noch lebt!"

Und das ganze Volk jauchzte ihm Beifall zu,

und rief Prinz Gundibert zum König aus. König Giselherr aber bat seinen Bruder, daß er ihm vergönne

ein Kloster zu erbauen im Walde an der Stelle, wo er einst die

Schlangenhöhle gefunden, damit er dort, nachdem er ein Christ

geworden, den Rest seines Lebens dazu verwenden möge, sich mit dem Himmel zu versöhnen.

Darauf führte er sie alle in die Burg,

denn heute noch einmal sollten sie seine Gäste seyn. sie hineinzogen,

ward Meister

Ezzelino

Und indem

Freund Bolko

gewahr,

reichte ihm lachend die Hand ünd sprach: „Nun, Bruder Bolko

Nummer 1, gieb deinem Bolko Nummer 2 nur immerhin freund­ lich die Hand und halte mir den Scherz zu gut.

Jur Schad­

loshaltung verehre ich das Dachsränzlcin dir und deinen Nach­

kommen.

Halt' es in Ehren, und gebrauche es mit Verstand."

Und Bolko hielt das Dachsränzlein in Ehren und gebrauchte es mit Verstand, und es erhielt sich bei seiner Nachkommenschaft

lange Zeit, bis es endlich, man weiß nicht wie, abhanden gekom­

men ist.

Ein Gleiches aber geschah auch mit dem Schwarte Rai-

LLS

munds, der nach seines Bakers Lode lange Jahre regierte als ein weiser, tapferer und gerechter König. Das soll, wie man sagt, in neuern Zeiten ganz verloren gegangen seyn. Und so können wir -um Schluß nichts Besseres wünschen, alallen wackern Dichtern und Sängern, daß sie das Dachsranzlein; allen wackern Königen und Fürsten aber, daß sie das Schwert wiedersindev mögen, sich selbst zu Nutz und Frommen und der Welt zum Heil!

Die Ku kka s ten

253

« Dic

Kuckkasten.

^Wahrscheinlich, lieben Kinder, habt Ihr schon von der wunder­ lichen Geschichte gehört, wie cinstmalen ein Rattenfänger in die Stadt Hameln gekommen ist, und die Leute von allen Ratten frei machte, nachher aber sehr schlecht bezahlt ward, und aus Rache dafür eine ganze Menge von Kindern durch eine zauberhafte Pfeife sich in einen Berg nachlockte, so daß Niemand von der Gesellschaft wieder zum Vorschein gekommen ist. Habt Ihr davon gehört? — Ich denke wohl. Wenn aber auch nicht, so könnt Ihr Euch aus diesen Worten genugsam ab­ nehmen, um das zu verstehn, was ich Euch von hier an erzäh­ len will. Der kleine Karl Grünbaum nämlich wußte die Geschichte vom hamelnschen Rattenfänger sehr gut, und hatte eine entsetzliche Angst vor dem Gedanken, ihn könne auch wohl einmal ein Rattenfänger hinter sich drein locken, in einen «fremden wundersamen Bekg hinein, und der thäte sich dann hinter ihnen wieder zusammen, und drinnen wohnten lauter abscheuliche kleine Kobolde und tanzten so häßlich

254 lustige Tänze, und grinzten so fürchterlich lachend mit den bösen

Angesichtern — hu! —

Dann pflegte er sich in verdoppelter Liebe und Innigkeit an Water und Mutter anzuschmiegen, — er war der

einzige Sohn

eines wohlhabenden Krämers in einer kleinen Stadt — und ihnen feierlich zu geloben: er

wolle nun und nimmermehr mit einem

Hexenmeister davon laufen.

Die Aeltern

lachten darüber,

und

meinten, es werde damit nicht eben große Noth haben. Einstmalen trat das Iahrmarktfest — etwa zum dritten oder

viertenmale, daß Karl sich ordentlich darauf zu besinnen wußte — in dem Städtchen wieder ein.

Durch die engen Straßen drängte

sich Alles lustig, wenn auch mitunter ein bischen zänkisch, hin und wieder, der Grünbaumsche Laden wimmelte von Käufern, und Karl mit einem guten, recht blanken Zweigroschenstück und einigen Pfef­ ferkuchen wohlausgestattet, trieb sich sammt mehrern Genossen, von denen er der allerreichste war, ganz vergnüglich umher.

Aus einem schönen Garten, ganz dicht am Strome gelegen,

scholl eine fröhliche Musik, und weil die Pforten offen standen,

tanzten bie Knaben nach der lustigen Weise mitsammen hinein. Da sahen sie einen wunderlichen Mann hinter einem seltsamen

Kästlein stehen;

das sahe wie gtn kleines Häuslein voller runder

Fenster aus, mit bunten Vorhängen da und dort überkleidet.

Mann selbst trug

einen ziemlich langen bunten Rock,

Der

und rothe,

weite, goldgestickte Stiefel drunter, und eine hohe, schief stehende, mit seltsam langen Federn.ausgeschmückte Mütze und dazu rief er

in Einem fort:

255 „ Heran, heran, herbei, Wer Schönes schauen will und kann!

Ich bin dazu der rechte Mann, Und die Entree so gut als frei!" Dieser

lockenden Versprechungen ungeachtet, schien

sich eben

Niemand herbeimachen zu wollen, und auch Karl Grünbaum wäre

wohl mit seinen Gefährten

ohne weiteres vorübergerannt, wenn

nicht der Fremde eine kleine Drehorgel zu spielen anhob, um welche

sich viele helle Silberglöcklein im besten Takte herdrehten, und die Weise der obigen Verslein recht zierlich wiederholten.

„Was," sagte Karl nach einer Weile, „die Entree ist fret?

Das nun eben gefällt mir nicht sonderlich; Vater sagt, ein tüch­ tiger Kerl müsse sich eben nichts schenken lassen ohne Noth.

Kommt,

Jungen! Wir wollen vorbeigehn und den Prahlhans stehen lassen!

Aergerts uns, daß wir seine Herrlichkeiten nicht sehn, i nun, so ärgert der Rothstiefel sich hoffentlich auch, daß er mein blankes Aweigroschenstück nicht zu

sehn kriegt.

Denn, wahrhaftig,

das

hätt' ich ihm für uns alle bezahlt, und zwei bis drei Pfeffer­

kuchen — von den großen allenfalls! — noch obenein!"

Der Fremde, hinter dem bunten Kuckhäüslein hervortretend, sagte in einem ausländischen, aber recht anmuthig lautenden Tone: „Kommt herzu, liebe Knaben, kommt herzu!

Und wenn du

meine. Kunststücke nicht umsonst beschauen willst, du trotzig blonder Bursch mit. den großen blauen Augen, da vorn, so gieb mir dein

blankes Aweigroschenstück

behalten."

her!

Die

Pfefferkuchen aber sollst du

256 „Meinetwegen!" sagte Karl Grünbaum. schönes Iweigroschenstück.

„Da hast du mein

Aber wir müssen alle zusammen auf

einmal hineinkucken können, denn sonsten giebt es nur Jank, und

am Ende wohl gar eine Prügelei." „O," lachte der Fremde, „es ist überviel Platz vorhanden, wäret Ihr auch dreimal so viel, als Ihr seyd!"

Und wirklich zog er noch ein paar Vorhänge vor dem Häus­

chen zurück, und es zeigten sich nun grade so viel Kucklöcher alS Jungen davor standen. „ Ach du Prahlhans von Rothstiefel!" rief Karl Grünbaum.

„Wenn wir nun wirklich dreimal so viel wären, als wir sind?

Jetzt reicht es ja nur eben hin!"

„Weißt du, wie viel Vorhänge noch aufrollen könnten?" ent­ gegnete der Fremde ernsthaft.

„Für jetzt, wenn ich dir rathen soll,

nimm fürlieb mit dem, was vorhanden ist, und grüble weiter

nicht." Es war dem kleinen Karl ordentlich zu Muth, als werde

er gewaltsam, aber wie aus sich selbst heraus, an das Kuckloch hingezogen, und den übrigen Knaben mochte wohl nicht viel an­

ders zu Muthe seyn, denn plötzlich blickte durch jedwedes offne Fenster des Häusleins ein neugieriges Knabenauge.

Ei, was der

schönen und ganz unerhörten Dinge sie dort ansichtig wurden! Zuerst that sich eine bunte Hafengegend auf, sehr weit, sehr

leuchtend, alle Häuser mit Gold gedeckt, und oben auf den Dächern lauter goldblitzende Halbmonde, und in dem Hafen sehr viele, viele

Schiffe, und die Häuser im Halbkreise darum her, so daß alles zu-

— 257 — sammen wie ein einziger, in tausend Farben gewaltig leuchtender Halbmond anzuschauen war.

„Das ist wohl gar die große Türkenstadt Konstantinopolis?"

sagte einer der Knaben.

„Wenigstens hat unser Schulmeister sie

mir beinahe eben so herrlich beschrieben.

Aber es ist mir doch lieb

daß ich nicht wirklich dorten bin, denn da hauen sie den.Leuten ohne alle Barmherzigkeit die Hälse, ab,

mir nichts, dir nichts!

So'n Großvezier pfeift dir nur auf dem Daumen, und „Adje

Kopf!" hat es geheißen." „Ach was!" sagte Karl. lich feste sitzt.

Den Hut,

„EinKopf ist ein Ding, das ziem­

— den hat mir wohl der Wind bis­

weilen fortgeriffen, aber den Kopf noch in meinem ganzen Leben

nicht.

Nein, was das betrifft, da möcht'ich schon gern einmal

mit Leib und Seele in der schönen Stadt Konstantinopolis seyn?

wenn sie nämlich so hübsch aussieht, wie diese hier." „O," sagte

der Fremde, hinter dem Häuslein hervor, „du

brauchst dich ja nur auf eins , von diesen schön bunten Schifflein zu

setzen! das trägt dich alsbald eine Strecke flußab,

und immer so

weiter nach Konstantinopolis zu." „Für dumm mußt du mich eben nicht ansehn!" rief Karl

ärgerlich.

„Wenn ich auch nicht am besten die Vokabeln in der

ganzen Stadtschule zu lernen weiß, — so viel weiß ich ja doch, daß deine Schiffe nur Kuckkastenschiffe sind, und daß ein vernünf­ tiger Junge, wie ich, absolut nicht darauf fahren kann."

„Nun, das würde noch erst auf die Probe ankommen!" lachte

Rothstiefel

„Willst

du

denn

auf meinen Schiffen

17

fahren?

258 Willst du's so recht von ganzem Herzen?

Dann kannst dus, und

Ihr alle könnt es mit."

Aber die Jungen traten erbleichend von den KuÄfenstern zu­ rück, nur Karl ausgenommen.

Dem ward zwar auch so etwas

wunderlich ums kleine Herz; doch wollt er so was weder sich noch andern eingestehn,

sondern blieb

dicht an demselben Glast/ und

rief in Einem fort mit lauter, kecker Stimmer: „Nun ja, ich will fahren!

so fahr ich doch!

Ich will durchaus auf deinen

Und wenn alle die Andern sich fürchten,

blanken Schiffen fahren!

Hast du's wohl gehört, Rothstiefel?

Ich fahre

doch!" Da fing es auf einmal unter Karls Füßen so wunderlich zu

schwanken an; ehe ihm noch die Zeit gekommen war, recht aus­

drücklich zu fragen: „nun was ist denn das für dummes Zeug? Nun wo bin ich denn eigentlich?" kam es ihm schon vor, als ob

er mitten in dem Kuckkasten stehe, und gehe seine Reist auf einem

blanken Schifflein recht eilig stromab. „Das ist ja doch der wunderlichste Kuckkasten von der Welt!"

sagte Karl.

„Sonst kuckt man von außen hinein bei solchen Din­

gern, hier steh ich mitten drinnen, und kucke hinaus. Ich kucke nicht hinaus!

Oder nein!

Denn die Bilder sind so dicht- zusammen­

geschoben, daß ich weder den Garten sehen kann, noch die Stromes­

ufer, noch den Thurm der großen Kirche. — Hei, wie das Schiff­ lein rennt und rennt! —

Rothstiefel, du mußt es nicht so gar

gewaltig rasch umlaufen lassen, denn mich schwindelt schon ein Bis­

chen. —

Itzid dann schieben sie mir von allen Seiten immer neue

259 Bilder vor. seyn! —

Aber hübsche Bilder bringen sie an.

Das muß wahr

O die große Stadt dorten mit ihren herrlichen Pal-

lästen und mit dem frisch grünenden Laubengarten daneben. — Nein, nein, die hättet Ihr nicht so überschnell von hinnen rücken sollen. —

Und dann wieder die Klippen mitten im Strome, — du, Fähr­ mann, wahre dich, wir schmeißen ja um! — nun, nun, ich weiß

ja wohl, das Alles macht sich nur so ganz natürlich- zum Spaß, und fürchten thu' ich mich eben nicht." —

„Heida, die schönen Weinberge mit reifen Trauben!

Heida,

von denen möcht' ich mir welche pflücken!"

„Nach Belieben!" sagte Rothstiefel, und winkte nur so ganz leise mit der Hand, und das Fahrzeug lief schnell ans Ufer, daß

der kleine Karl beinah umgefallen wäre, weil er sichs nicht so schnell versah.

Aber Rothstiefel hielt ihn in seinen Armen fest,

und trug ihn an das Ufer hinaus. „Das ist doch nun erst rocht wunderlich!" sagte Karl. „Warum

habt Ihr denn auch draußen vor dem Kuckkasten alles so fremd und seltsamlich herausgeputzt? macht haben.

Das muß Euch viele Umstände ge­

Ist es doch wirklich, als ständen noch immer alle

die Weinberge vor mir, die ich vorher dadrinnen erblickte!

wo sind denn meine Gespielen geblieben? ganz dunkel.

Rothstiefel,

Und

ES ist ja nun schon

rufe sie doch, damit wir mitsammen

nach Hause gehn."

„Dunkel?" entgegnete

freilich!

Rothstiefel ganz verwundert.

Aber du hältst das doch wohl nicht für Ernst.

„Nun

Das

gehört ja mit zu den Kunststückchen, die ich dir für dein blankes

17*

260 Aweigroschenstück zeige.

Besinnst du dich denn nicht, daß, während

du im Kuckkasten standest, es unterschiedliche Male Nacht ward und Morgen und Mittag und Abend?

Aber bei alle dem ist es eigent­

lich noch ganz erstaunlich früh an der Zeit."

„Ja, ja, so kommt es mir auch vor," sagte Karl auf eine etwas träumerische Weise.

„Aber kurios ist es doch, — Deine

Kunststücke haben mich wirklich ein bischen müde gemacht, — or­

dentlich, als wäre ich in der That so Tag' und Nächte lang durch­ gefahren, und hätte dabei kein Auge zugethan."

„Hm," entgegnete Rothstiefel, „wenn dich schläfert, — da brauchst du ja nur deinen Platz hier in der Rebenlaube zu neh­

men; oder, wenn es dir so besser behagt, in dem kleinen rothen Häuslein an der grünen Wiese, wo der große schöne Baum drü­

ber hinschattet."

„In der Laube will ich schlafen," sagte der schon halbträu­ mende Karl — „in der Laube! —

Im Häuschen, da möcht' es

mir so fremd seyn, wenn ich andre Leute sähe, als meine Keltern,

und mir es am Ende vorkäme, als wäre das alles wirklicher Ernst."

Rothstiefel machte derweil dem Kinde mit großer Sorgfalt ein schönes Lager aus Weinblättern, duftendem Heu und bunten Blüthen zurecht, und steckte ihm dazwischen recht auserlesene Beeren in sein Mündchen. „Du magst wohl im Grunde recht gut seyn, Rothstiefel!"

lallte der Knabe.

„Das sind ja prächtige Weintrauben, — und

die, welche die grüne Ilse uns bisweilen ins Haus bringt, schmecken

dagegen wie Essig. —

Aber, Rothstiefel, daß du mich auch noch

261 Mutter will

vor demAbendbrodte weckst! — Hörst du wohl? —

heut Eierkuchen backen, — schönen Speckeierkuchen mit gebrühtem Salat, — Alles gar schön, — so recht." —

Und der Kleine versank heiter lächelnd in einen tiefen Schlaf. Mitten inne ward es ihm wohl bisweilen, als rühre eine leise,

schmeichelnde Hand seine Wangen an, und wenn er dann aufblickte, saß ein andres Kind, wie ein kleines, weißes Lichtlein, neben seinem

Lager. schlafen!

Aber Karl murrte unzufrieden: „I

Rothstiefel wird

Nachhausegehn ist." —

so laß einen doch

mich schon wecken, wenn es Zeit zum

Da war es endlich, als weiche der kleine

Gefährte mit ängstlicher Scheue von dannen. Ein Heller Strahl blitzte in des schlafenden Kindes Auge, eine

liebliche Musik von Glöcklein, Hörnern und Silberbecken schallte

darein.

Karl richtete sich fröhlich

Alles das,

staunend empor.

merkte er wohl, kam aus dem Kuckkasten, welchen ihm Rothstiefel ganz dicht vor das Lager gerückt hatte. „O Rothstiefel," rief er aus, „was du auch immer für ganz unaussprechlich hübsche Sachen zu zeigen hast!" —

Und mit an-

muthiger Gier hingen die Knabenaugen wieder an den Gläsern fest. Da gab es nun einmal des Herrlichen und Blanken recht viel

zu sehn!

Die Stadt von vorigesmal war wiederum

aufgestellt,

aber sie hatte sich um ein gutes Theil näher gerückt, und man konnte deutlich wahrnehmen, wie schön gerüstete Schaaren zu Roß

und zu Fuße daraus in das blühende Feld hinauszogen.

Und eben

mit den goldnen Hörnern, silbernen Becken und Glöcklein, die sie

bei sich führten, erhuben sie jenen unmuthigen Schall, und dazu

262 flatterten große schwarze Roßschweife über den Geschwadern und wieherten die Rosse, und blitzten die blanken Waffen, — es war

wirklich eine ganz ausnehmende Herrlichkeit!

Und als nun vollends ein junger, blanker Reitersmann auf einem schönen Apfelschimmel, im goldnen Schuppenküraß blank und hell, voraussprengte vor den Geschwadern, — da erst ging dem

kleinen Karl das ganze Herz in Freuden auf, und er klopfte in die Händchen und rief:

„Ach wenn doch auch ich nur ein einziges Mal auf solch einem Apfelschimmel reiten könnte! "

Und es war beinahe, als habe der Apfelschimmel im Kuckkasten das Rufen und Händeklatschen des Knaben gehört.

Denn er ward

ordentlich ganz scheu davor, sprang und stieg und bockte, und fing

überhaupt so gar viel tolles Zeug an, daß der blanke Reiter, zu seiner eigenen größten Verwunderung, schien es, auf einmal bügel-

und sattel - und pferdelos auf dem grünen Rasen da saß.

Hell

mußte der kleine Karl auflachen,

ward er ziemlich ärgerlich.

aber gleich darauf

„Wer heißt ihn denn," rief er aus,

„sich auf ein so herrliches Pferd setzen, wenn er es nicht reiten

kann?

Das ist, mit Erlaubniß zu sagen, ein recht dummer Kuck-

kastenspaß, und fängt's mich beinah um mein blankes Zweigroschen-

stück zu reuen an." „Hm," sagte Rothstiefel mit einem häßlichen Lächeln, dergleichen passirt ja auch wohl in der Welt, warum soll's denn

nicht in meinem Kuckkasten passiren!

Wenn du b.ich aber selbst

263

einmal mit einem Apfelschimmel versuchen willst, — ich habe just einen zur Hand." „Einen ordentlichen lebendigen?" „Freilich." „I das wäre hübsch! — Aber höre, — Vater sagt, ich müßte mich nicht mit Pferden abgeben; ich wäre kein Reiterskind, sondern ein Krämerskind." „Ja wohl!" rief der höhnende Rothstiefel, „das merkt man dir an. Zu schwatzen weiß er über Reiter und Pferde, aber sich selber einmal in dm Sattel zu wagen, dazu hat er absolut keine Courage." „Her da mit deinem Apfelschimmel," sagte der zornglühende Knabe, „wenn da selber Courage hast!" Da winkte Rothstiefel, und ein zierlich geputzter Bursch, nicht eben größer als Karl, aber ein bischen sehr häßlich aussehend — halb wie eine Fledermaus im Gesicht und halb wie eine Heu­ schrecke, — brachte einen kleinm, schönen Apfelschimmel an silber­ blauen Zügeln geführt, und auf dem Pferdchen lag eine blausammtne Decke mit silbernen Frangen, und goldne Steigbügel mit bunten Steinen kuckten daraus hervor. „Das Thierlein ist sanft und lenksam," sprach Rothstiefel, „und weil du so ein muthiger Knabe bist, will ich selber neben Dir herrxiten, und dein Pferd an einen Leitzügel nehmen, damit dir ganz gewiß nichts Uebles widerfahren kann." Und auf einen zweiten Wink des wunderlichen Mannes kam ein großes, schwarzbraunes Roß ganz mit feuergelben Seidendecken

264 überhangen, an der Hand eines riesigen Mohren

herangewiehert«

Da fuhr doch Karl ein wenig zusammen, aber der Mohr war

so prächtig herausgeputzt, in eitel Goldstoff, mit vielen Ketten aus Edelstein behangen, — „man kann nicht anders als seine Lust dran haben!" dachte Karl.

Da kam ein keines blondes Knäbchen sehr scheu und ängstlich gelaufen und schüttelte immer sein kleines, blasses Angesicht, und

drohte warnend mit dem Zeigefingerchen nach Karl hinüber, und stammelte: „du! reit' nicht, reit nicht! du!"

„Ach was willst du denn immer von mir!" entgegnete Karl.

„Nun kenn ich dich schon.

Du bist derselbe, der mich letzte Nacht

nicht schlafen lassen wollte, und nun willst du mich auch nicht rei­

ten lassen.

Du Bruder Neidhart, mache dich fort."

Und der kleine Fremdling rannte sogleich ängstlich von dannen. Des furchtbaren Blickes, den Rothstiesel ihm zuwarf, hätte es,

um ihn zu verscheuchen, gar nicht einmal bedurft. Leicht von Rothstiefel in den Sattel gehoben trabte Karl Grün­ baum auf dem Apfelschimmel dahin.

Das war einmal eine Lust!

Zwar sehr wild brausete der Schwarzbraune beiher, aber Rothstiefel zügelte ihn leicht mit der gewaltigen Linken, und hielt mit der andern Hand den kleinen Karl recht sanft und sorgfältig unter

dem Arme fest.

„Du," sagte der Knabe, „das ist eine prächtige Lust! Könn­

ten wir nicht mit einander so vorreiten vor Vaters Haus?" „Gegen Abend, mein Bub, gegen Abend, wann erst der Markt

vorüber,ist.

Jetzt drängen die Marktleute sich da noch allzudicht

265 zusammen.

Gegen Abend, mein Bub, wenn das Drachengestirit

über deines Vaters Schornstein funkelt."

„Ja, das weiß ich nicht, wenn das funkeln thut.

Aber ge­

wiß, der Schornstein raucht schon lange, wegen des Speckeierkuchens und des Brühsalats. —

Reiten wir auch nicht zu weit?"

„Ei, sieh doch mein Bub, ei sieh doch! Wir reiten ja nur

immer um Eure Stadt herum." „Um unsre Stadt herum? —

denn da der

Ach, Rothstiefel, wo kommt

große, wunderliche Steinberg

her?

Den hab' ich

doch nun und nimmermehr bei unsrer Stadt erblickt!" „Ei Bub, mein Bub,

neuestes Lusthaus!

das ist ja des dicken Bürgermeisters

Er hat sichs nur seit gestern weiter ausbauen

lassen, weil ihm seit gestern sein dicker Bauch so sehr gewachsen ist." „Aber,

Thürme?

Rothstiefel, was sind

denn

das

dorten

für

spitze

Das sieht ja aus, als wären es sieben gewaltige Städte

aus einmal!"

„Ei Bub, mein Bub, kennst du denn nicht des Herrn Amt­ manns Siebenstädter neues Vorwerk, das er für des angrenzenden

Kammerherrn Güter seit gestern zu bauen angefangen hat?" „Ach, und Rothstiefel, da steigt ja nun gar ein ganzer Feuer­

pallast in die Luft empor, von mehr gewiß als siebenmalhunderttausend Lichtern funkelnd!

Und ist es,

als würden dabei recht

blutige Opferfeste gehalten, und sängen dabei siebenmalhunderttausend Hexenmenschen ein abscheuliches Chor!"

„Ist ja des Lichtziehers Götzemann kleines Sommerquartierchen, mein Bub, und hält nebenan der Fleischer Blutebursch seinen

266 Scharren;

Ist es ja weiter gar nichts,

als das!

Gar nichts

weiter, als nur das!"

„Rothstiefel, du fängst so abscheulich

ich werde so recht, von Herzen müde.

zu schnarren an, und

Wär' es nicht besser, nun

ritten wir nach Haus, oder säßen doch wenigstens ab?"

„Absitzen,

mein

„Absitzen recht gern!

Kind?"

entgegnete

Und willst nicht

Rothstiefel

freundlich.

vor dem Nachhausegehn

nochmal in meinen Kuckkasten schauen?" Und damit hatte er den Kleinen windschnell vom Pferde ge­

hoben, und ihn mit dem Auge dicht vor ein Fensterlein des wunder­ samen kleinen Schaugebäudes gestellt. Hei, was nun da erst Schönes zu erblicken war!

Da mochte

alles Vorige nur als Spaß und Kinderei dagegen gelten.

Stieg

doch ein prächtiger Luftball, ganz gold- und purpurfarben in die

Wolken empor, und schwebte an goldfarbnen Stricken ein Schiff­ lein drunterhin!

Und in dem Schifflcin saßen ausnehmend ver­

gnügte Kinder, und hatten die herrlichsten Spielsachen zur Hand,

die man sich nur irgend vorstellen kann.

In der That, dagegen

konnte man die Reisegelegenheit auf dem frühern Wafferschifflcin oder auf dem Apfelschimmel für nicht viel besser als gar nichts gelten lassen.

„Nun,

mein Herr Karl Grünbaum,"

lächelte Rothstieftl,

„wär es dir gefällig, auch auf diese Manier einmal um Eure Stadt herumzufliegen?

Ich habe grade so ein Luftschifflein zur

Hand, und über deines Vaters Schornstein funkelt nun auch das

267 Drachengestirn recht hell.

Nun wär' es grad' an der rechten Zeit

zu einem prächtigen Spaß." Und Ja zu sagen, stand der kleine Karl im Begriff.

Aber

da tauchte jenes kleine, unbekannte Knäbchen mit dem blassen An­ gesicht und den blonden Locken furchtsam aus einem nahen Gebüsch

empor, und hatte eine schöne blanke Zither zur Hand, in deren Saiten schlug es, und sang ein wundersames, an Worten ganz un-^ vernommenes Lied.

Davor fielen dem Karl die Augenlieder zu;

er konnte das „Ja," welches er sprechen wollte, nicht sprechen.

Vielmehr sank er in einen tiefen Schlummer zurück, und merkte

nur noch kaum, daß Rothstiefel ihn auf etwas verdrießliche Weise

in ein schön-gepolstertes, damastenes Ruhebette trug. Es währte indessen nicht lange, so ward Karl wieder aus

seinem Schlummer geweckt.

Und neben ihm saß der kleine, furcht­

same, freundliche Knabe von vorhin.

Karl aber blickte ihn unwillig an, und sagte:

„Nicht schlafen lassen, nicht reiten lassen, — so weit du's hin­ dern konntest, — und

dann wieder einschläfern, und dann wieder

aufwecken, — ist das denn eine vernünftige Manier?

Und du wun­

derlicher Blondkopf, du hast das Alles hintereinander gethan.

Sage

mir denn nur, was fällt dir eigentlich ein? „Karlchen,

liebes Karlchen," flüsterte das blasse Kind ganz

leise, „ich mein' es ja ganz ausnehmend gut mit Ihnen, und mit Ihrer ganzen werthgeschätzten Familie, aber ich kann immer damit

nicht so recht zur Sprache kommen.

Was ich Ihnen für diesmal

vorzustellen hätte, wär' gleichfalls ein Kuckkasten, aber ein viel

268 andrer, als in den der Rothstiefel Sie

immer hineinkucken läßt»

Ach, liebes Karlchen, kucken Sie doch nur dies einzige Mal hin­

ein!

Aber stille, ganz stille, muß ich bitten.

St! St! " —

Und ein kleines, ganz kleines weißes Kästchen hatte der blaffe Knabe unter seinem grünen Mäntelchen hervorgezogen, ein einziges Kucklöchlein dran: das hielt er vor Karl Grünbaums rechtes Auge,

und sagte: „Nun sieh!" Ach, was bekam da der arme Karl Grünbaum zu sehn! In die Schlafstube seiner Aeltern blickte er hinein, das Nachtlicht war schon fast heruntergebrannt, aber Vater

und Mutter saßen noch

unausgekleidet einander gegenüber, und weinten recht bitterlich. „Was ist ihnen denn?" fragte Karl ganz ängstlich.

„Ach

was weinen sie denn?"

„3/ sie weinen ja über dich!" entgegnete der sonst so blöde

Knabe wie ganz im Aerger. „ Sind es ja nun seit dem Jahrmärkte

drei Nächte her, daß sie vergeblich auf dich warten.

Ach, und sie

hatten dich doch so lieb!" Da fuhr der kleine Karl erschrocken in die Höh', und sprang

auf seine beiden Beine; aber gleich darauf sich besinnend, sagte er:

„Dummer Junge, wie du einen nur so erschrecken kannst! Drei

Nächte sollen sie um mich geweint haben, und es ist noch nicht mal wirklicher, vernünftiger Abend geworden, seit ich von Hause

weggegangen bin! —

Und schlimmsten Falls, — ei, da geh ich

um die Mauer herum ins Steinthor hinein, und laufe die Stein­ straße hinauf, und klopfe an meiner Aeltern Haus, Marthe macht auf, und Alles ist gut."

und die lange

269 Aber der kleine blonde Junge schüttelte sein blasses Angesicht­

chen wieder sehr bedenklich, und sagte zuletzt: „Ich muß dir nur ganz reinen Wein einschenken.

Vermeinst

du denn wirklich, unfern des Steinthores zu stehn, und überhaupt gar nicht weit von deiner Vaterstadt?

Liebes, armes Karlchen,

du stehst ja wirklich mit deinen Füßlein schon in der Türkei, ja sogar eine beträchtliche Strecke über die Gränzen des Ungarlandes

hinaus.

An das deutsche Land ist vollends nicht mehr zu denken.

Denn der abscheuliche Rothstiefel hat dich auf eine ganz schänd­ liche Weise hinter das Licht geführt."

Da fing der arme kleine Karl Grünbaum gar bitterlich zu

weinen an. Aber der kleine blonde Junge winkte mit den Händchen, und

sagte:

„Sey stille, Karlchen, sey stille, damit uns der böse Roth­ stiefel nicht etwa hört.

Karlchen, liebes Karlchen, ich bringe Sie

noch ganz gewiß in das Haus ihres werthgeschätzten Herrn Vaters,

des Materialisten Ehrenfried Grünbaum, zurück, wenn es auch

freilich mehr als hundert Meilen von hier entfernt ist.

Aber nur

stille jetzt, liebes Karlchen, nur stille!" Und Karl Grünbaum machte sich ganz leise mit seinem neuen Freunde in die sternenklare Nacht hinaus, und ging ihm geduldig

nach.

Aber wie Alles um ihn her so helle war, hub er an zu

Puffern: „Höre, nun fängt uns Rothstiefel gewißlich wieder ein; denn

270 ich

denke, bei diesem Sternenlichte müßte man auf meilenweit

schauen." Aber das andre Kind meinte, das habe nicht eben viel zu sa­ gen; Rothstiefel sehe bei dunkler Wolkennacht am besten, gleich

wie ein Kater, im Klaren aber könne man ihn an Blindheit oft­ mals mit den Maulwürfen vergleichen.

So gingen denn die Kinder, und gingen, bis sie endlich nah hinter sich einen lauten, raschen Stiefeltritt vernahmen.

„Da kommt dennoch der Rothstiefel wahrhaftig!" seufzte der

kleine, blonde Junge, „es muß ihm ganz besonders viel an Ihnen liegen, liebes Karlchen.

Ich lebe noch

Aber kommen Sie nur!

immer in der besten Hoffnung, uns durchzubringen.

Nur halten

Sie doch ja das Vertrauen zu mir in allen Nöthen fest.

Hören

Sie, Karlchen —- fest!" Und somit stampfte der fremde Knabe auf den Boden, und ein paar ungewöhnlich große Maulwürfe singen zu scharren an, und scharrten plötzlich einen kleinen Höhlengang frei, in -dem die

beiden Kinder sich recht gut verbergen konnten.

Dann scharrten

die dienstfertigen Thiere den Eingang wieder zu, ließen aber ein

Löchlein offen, durch welches Karl und sein Genosse in die Mond­ nacht hinausblicken konnten.

„Siehst du?" flüsterte der blonde

Knabe; „das ist abermals eine Art von Kuckkasten!"

Rothstiefel rannte vorüber, wie ohne Sinn und Verstand. „Weißt du," sagte Karl in seines Gefährten Ohr, „was mir

beim Rothstiefel am allermeisten zuwider ist? das sind seine rothen Stiefel selbst.

Sie kamen mir schon von Anfang her verdächtig

271 vor, aber wie ich nun Gelegenheit hatte, sie hier von untenauf zu

betrachten, da ward es , mir ganz klar, sie schneiden wirkliche Ge­ sichter, blinzeln häßliche Augen dazu, kurz, es sind ordentliche, - aber

ganz abscheuliche Leute.

O Kamerad,

ich kann dir gar nicht

genugsam danken, daß du mich von diesem Rothstiefel und seinen

noch viel schlimmern rothen Stiefeln errettet hast." „So, sagte der kleine Blonde, noch habe ich dich nicht ganz und gar errettet, aber es wird nun, denk' ich, schon gehen.

Die

Hauptsache ist nur, daß du dich vor meinen unterirdischen Keller­ gängen nicht scheuen mußt." „I, sprach Karl, ich bin ja schon ost mit Vatern in den

Keller gegangen.

Und da drunten gab es wohl gar bisweilen ein

Schlückchen süßen Weins.

„Nun, lachte der kleine Blonde: süßen Wein wollen wir wohl auch noch finden, vorzüglich hier im Ungarlande, wo viele Burgen über den Kellern zusammengefallen sind!"

Und somit ging die

Reise fort. Ei was sie der seltsamen, unterirdischen Abenteuerlichkeiten,

fanden, und des edlen Weines und der guten Speise kosteten!

Ich

hätte Euch viel davon zu erzählen, lieben Kinder, aber die Zeit

läuft mir unter den Händen fort.

Nur wer der kleine blonde

Junge eigentlich war, und wie er hieß, das möchtet ihr vermuthlich

gerne wissen wollen, und da kann ich Euch Folgendes berichten. Die beiden Kinder hörten eines Tages recht gewaltig über sich stampfen und lärmen.

272 „DaL sind gewiß die rothen Stiefeln;" flüsterte Karl Grün­

baum und schmiegte sich angstvoll zusammen. „Die rothen Stiefeln," flüsterte der

kleine Blonde zurück,

„die sind es nun wohl eigentlich nicht, — aber Rothstiefet ist es dennoch.

Der muß Spur von uns erhalten haben und schlägt nun

mit einer gar gewaltigen Hexengerte den Boden.

schon noch tiefer unterducken.

Da müssen wir

Aber du mußt dich auch nicht etwa

fürchten, liebes Karlchen, hörst du?"

Und der Fußboden machte ordentlich Platz, und sie sanken langsam in ein Felsengewölbe hinab; da hüpften seltsame Lichter

auf dem Boden herum, Schätzen erblicken soll.

wie man

sie bisweilen

bei vergrabnen

Auch ließen sich große, große Haufen von

Gold und Silber schauen, und daneben hockten kleine, schwarze Männer nicht viel höher als die Ratten, aber noch viel häßlicher.

Da hub Karl Grünbaum an zu weinen, und sagte: „Wo führst du mich denn hin, du unartiger Reisegesell du?

Das hier ist am Ende das Land, wo die Kinder mit dem Ratten­ fänger von Hameln hin versunken sind, und wo ich meinen lieben

Aeltern versprochen habe, mich mein Lebtag nicht hineinverlocken zu lassen."

Die kleinen Rattenleute begannen wilder und immer wilder um die Kinder herzutanzen, und der Blondkopf hielt seinem Ge­ sellen mit ängstlicher Gewalt, damit er schweigen solle, den Mund

zu, sprechend: „Ach Karl, hier darf ich ja nur ganz allein reden! 2ch ganz allein! Ach glaube mir doch nur!" Aber Karl brummte

.widerwärtig durch seines Gefährten Finger: „Ich will aber nicht

273 schweigen! Ich will aber nicht!

Oder du mußt mir erst aus­

führlich sagen, wer du bist, und warum die Reise so tief unten

geht, und ob du hier zu Lande was zu befehlen hast!"

Und immer wilder tanzten die kleinen Rattenleute, und wä­

ren beinah mit grinzenden, bissigen Zähnen auf Karlchens Schul­ ter hinaufgehüpft, — da nahm der kleine Blondkopf ein großes Waschbecken mit einem ungeheuern Schwamm und vieler, vieler

Seife aus der Felsenwand, und that, als wolle er die Rattenleute damit waschen.

Das mußten sie nun eben nicht wohl leiden kön­

nen, und hier kroch ein schwarzes Männlein in eine Felsenspalte,

und dort wieder eins, und in Kurzem waren fie alle davon

gelaufen. Da lachte der kleine Blondkopf recht herzlich, sprechend: „Das

Waschen ist ihnen doch ganz in den Tod zuwider!" —

Dann

aber fuhr er ernsthaft fort: „Sie, liebes Karlchen Grünbaum, brummen Sie ja nicht weiter, ich will Ihnen gerne Auskunft ge­

ben; vor allen Dingen aber hören Sie, was der häßliche Rothstiefel eigentlich mit Zhnen vorgehabt hat."

„Tief, tief im innersten Lande Afla giebt es noch einige

Leute, die bösen Geistern dienen, damit ihnen die recht viel Gold

und Silber und Edelgestein aus den Abgründen der Erde heraus­ schürfen sollen, und dazu schlachten die geizigen Menschen vorzüglich

recht liebe, fröhliche Kinder gern.

Und siehst du, Karlchen Grün­

baum, eben dazu warf Rothstiefel seine wunderlichen Kuckkasten­

netze aus, und hatte eben dich liebes, stöhliches Kind zu solch einem

Schlachtopfer ersehen."

274 „I, das ist ja ein ganz infamer Rothstiefel!" sagte Karl,

unb ballte die Händchen recht zornig gegen die Decke des Gewöl­

bes empor, von wo man wieder so etwas wie rothe Stiefeln und Hexengerte tapsen und klopfen hörte.

„ Und du, Freund Reisekum­

pan, fuhr er, sich unwillig gegen den kleinen Blondkopf wendend,

fort, was hast du mir es denn nicht gleich rein heraus angesagt,

was der verrückte Rothstiefel mit mir im Sinne hatte?

Hel —

Was hast du dich denn immer in jämmerlicher Furchtsamkeit verkro­

chen, mir nichts, dir nichts? dummer Knabe? Da hätt' ich ja drüber

geschlachtet werden können, und hätte keine Maus darnach gequiekt."

Mäuse schienen hier nicht quieken zu wollen, auch nicht eben gradezu Ratten,

aber die

kleinen häßlichen Menschlein mit den

Rattenangesichtern blickten wieder von allen Seiten hohngrinzend hervor, und kaum nur, daß der kleine Blondkopf sie abermals mit

Waschgeräthschasten in die Flucht jagen konnte:

Dann aber bat

er recht herzinniglich: „Ach Karlchen, liebes Karlchen, halten Sie sich doch ja nun

ganz ausnehmend still! die verwünschten Rattenleutlein wachsen mir

sonsten noch ganz und gar über den Kopf.

Warum ich aber hier

etwas zu befehlen habe, und warum grade Sie mir so ganz aus­ nehmend lieb sind, das will ich Ihnen ausführlich erzählen, mit­

unter auch, warum ich seit ein paar hundert Jahren sehr furcht­ sam geworden bin, denn früher war ich ein überdreister Bursche.

Wahr und wahrhaftig!"

„Ach Karlchen Grünbaum, es hat einmal wunderschöne Zeiten gegeben, noch lange bevor Ihres Herrn Vaters Kramladen stand,

275 und ehe an tyren lieben Herrn Vater selbst gedacht worden ist!

Man stellt sich das nicht mehr auf der Welt so recht lebendig vor.

Aber glücklicherweise hab ich meinen Kuckkasten mit herunter transportiren lassen, und darin will ichs Ihnen einmal vergnüglich zei­ gen, lieber Musje Grünbaum! "

Und Karls Auge hing an dem Glase, und ach, was stiegen ihm

da für Herrlichkeiten empor. Eine Burg auf grünen, blühenden Auen, auf goldnen Feldern,

umrauscht von fröhlichen Wäldernl

Und zwischendurch, — da sah

man viel herrliche Ritter und Frauen; die spielten zur Zither,

und lachten hold; die ritten zum Streiten; die sah man Segel

ausbreiten nach fernen Küsten, auch wohl nach mohrischen Wü­ sten, — und alle blitzten die Ritter in Stahl und Gold.

O es

war euch ein Leben, ein Leben! — Aber da rollte des Kuckkastens Vorhang zu. „Du," flüsterte Karl, „wo sind denn nun alle die Herrlich­

keiten geblieben?" „Für jetzt," entgegnete Blondkopf, „stehtIhres werthgeschätz­ ten Herrn Vaters Laden auf selbiger Stelle der Burg, die ich Ihnen

so eben nur zeigte. Und eben davon, Karlchen, bin ich so scheu und furchtsam geworden.

Denn sonsten, als noch die fröhlichen Burg­

herrn dorten hausten, — hei, da hieß man mich den guten Kobold Hütchen, oder auch wohl das Gütchen, wenn ich etwas Gutes zu

Stande gebracht hatte.

Seitdem aber die Burg eingerissen und

eingeschmettert war von einem großen Geschütze, das man zum

Spaß die träge Ilse nannte, — viele Burgen ringsumher find

276 durch die Ilse untergegangen, — da wollte man auf meines Glei­ chen nicht sonderlich Acht mehr geben.

Ja, seitdem Ihr Herr

Großvater sich dorten angebaut hat, bekam ich, wenn ich einmal

auftauchte und mit den Kindern des Hauses spielen wollte, wohl

gar recht grobe Schimpfreden zu hören.

Liebes Karlchen Grün­

baum, dergleichen verträgt unser einer ausnehmend ungern, und da

wird man lieber furchtsam aus lauter Ambition.

Aber von der

allen Lieb' und Anhänglichkeit für Jeden, der auf derselben Stelle wohnt, wo meine alten Burgherren wohnten, vermocht ich dennoch nicht zu lassen, und so hab' ich denn immer ganz still, ganz still

unter der Erden gelauert, ob sich nicht endlich einmal eine Gele­ genheit zeigen würde, der jetzt regierenden Hausherrschaft einen so

recht eminent großen Dienst zu leisten. Und, Karlchen, wie mirs vor­ kommt, ist nun schon ein solcher Dienst beinahe mehr als halb gethan."

„Ja freilich, Hütchen!" sagte der — „ja freilich! Und man k-nnte dich auch dafür nun wohl billigerweise Gütchen nennen." „Ach nein, Musje Karlchen," entgegnete jener, „lassen Sie'S

nur beim Hütchen bewenden.

Der Name Gütchen möchte Ihren

Herrn Vater einigermaßen irritiren, denn Herr Grünbaum scheint

mir von verletzbarer Natur zu seyn, weit mehr, als jene allen, erschlagenen Ritter.

Da könnte ihm so ein Gütchen anmaßend vor­

kommen, ein Hütchen läßt er vielleicht eher passiren, denn eine Art

von Hut muß ja doch wohl jeder Tagelöhner auf dem Kopfe tra­ gen, und läßt sich auch wohl allenfalls darnach nennen.

Also

„Hütchen," wenns beliebt, heiß ich, Lieber Musje Grünbaum."

Der Vertrag ward abgeschlossen, und durch einen feierlichen

Handschlag besiegelt, wobei Hütchen noch nebenbei qusmachte, es

müsse ihm von jetzt an vergönnt seyn, in der Handlung zu helfen, beim Ein- und Auspacken und so weiter, denn das Helfen sey nun

ein und für allemal seine schönste Herzenslust. Karl sprach auch dazu ein freudiges Ja, und nun ging die seltsame Wanderung weiter, indem Hütchen noch unterweges dem kleinen Grünbaum erzählte, die Rattenleute und was eS noch son­

sten des Volkes hier unten gebe, hätten für' seines Gleichen ganz ausnehmenden Respect; andre Personen jedoch dürften sich nicht allzu

sehr moviren. Von da an hielt sich auch Karlchen Grünbaum sehr still.

Hütchen sorgte derweilen aufs

beste für ihn.

Sum Schlum­

mer verstand er ihm so feines und zartes Moos herbeizuschaffen, daß niemand die

schönsten Betten dabei hätte vermissen dürfen,

zum Mittagstische gab es gewöhnlich vortreffliche Krebse und Fische,

die sich in die unterirdischen Gänge der Stromgewässer

verirrt

haben mochten, und als Karl endlich nach schönem Kuchen lüstern ward, schaffte ihm Hütchen auch den herbei; „denn," sagte Hüt­ chen, „während du schläfst, fahre ich nach den Speisekammern

hinauf, und hole Mehl und Mandeln und Rosinen, und das backt sich hier bei den unterirdischen Gebirgsflammen von selber zu ganz ausnehmend vortrefflichen Kuchen."

Diese Behauptung

ward

durch

deß

kleinen Karls Gaumen

und Eßlust vollkommen bestätigt, und auch an einem Schlückchen

guten fügen Ungarweins, so sehr ein Kind dessen vertragen kann, fehlte es den kleinen Wanderern nimmermehr, und eben so wenig

an krystallnen kleinen Bechern, um daraus zu trinken.

278 „Schade," sagte eines Tages der kleine Karl, „daß ich das wunderschöne Ungarland

kann!

nicht auch einmal

von

oben betrachten

Hier von unten herauf gefällt es mir zwar recht gut mit

seinen edlen Speisen und Weinen, aber hübscher anzusehn ist es

doch wohl gewißlich von der andern Seite her, von der Seite her, wo die Sonne drauf scheint!"

„Ja," sagte Hütchen, „das ist gar keine Frage.

Aber, Karl-

chen, jene Seite haben Sie schon im Kuckkasten gesehen, und übri­

gens

wohl sonder Zweifel der Rothstiefel

trampelt jetzt

dorten

herum." Da ward Karlchen wieder sehr still, Genossen

auf dem

und ging mit seinem

gcheimnißreichen, aber sonst ganz behaglichen

Wege folgsam fürder.

Der Ungarwein ward für die Beköstigung der zwei kleinen Reisenden nach und nach seltner, und wo er noch zum Vorschein

kam, sing er endlich an, sehr deutlich nach Rosinen zu schmecken. „O!" sagte Karlchen Grünbaum, — und konnte sich des lauten

Jauchzens gar nicht mehr enthalten, — „o nun merk' ich es ja deutlich, daß wir ganz dicht an Papas Laden hinan seyn müssen."

„So ganz dicht, lieber Musje," entgegnete Hütchen, — „das

wäre wohl vielleicht etwas gar zu viel behauptet.

Denn es giebt

in Deutschland unterschiedliche Herrn Krämer, die mit Ihrem Herrn Vater seine Gesinnungen in Betreff des Ungarweins theilen.

Aber

in Deutschland sind wir doch wirklich schon, und ganz absonder­ lich viel kann uns Rothstiefel nicht' mehr anhaben."

Sie legten auch in der That von da an ihre bedenkliche Kel-

279 Irrfahrt ohne sonderlichen Anstoß zurück, und stiegen endlich eines

schönen Morgens zwischen den Ungar- und Malagaflaschen des Herrn Grünbaum herauf.

Im Durchgehen sagte Karl: „Nun Hütchen,

will ich dir auch einmal von. unserm Ungarweine zu kosten geben.

Vater, gewiß, gönnt dir eine solche Erquickung gern, und ich will es schon bei ihm zu verantworten wissen." —

Aber: „ach nein,

ach nein!" erwiederte Hütchen ängstlich; „er könnt' es wohl den­

noch übelnehmen, der gute Herr Grünbaum, und überhaupt, — ach, wenn ich danken dürste, wäre mir's doch wohl hundertmal

lieber.

Ach nein, liebes Musje Karlchen, ach nein!"

Wie sie nun an das helle Tageslicht herauskamen, — wer vermöchte die Freude der Aeltern zu beschreiben, als sie ihren lie­

ben, einzigen, verloren geglaubten Karl wieder hatten!

Auch wur­

den natürlich in der ersten Fröhlichkeit alle Bedingungen, welche

Karl gegen Hütchen cingegangen war, vollkommen bewilligt. Späterhin

ward das dem Krämer Herw Grünbaum wohl

manchmal zuwider,

vorzüglich da

es

ihm

bisweilen

nach dem

Mittagsschlafe vorkam, als sey Hütchen eigentlich gar nicht da, und es ihn dann ordentlich erschreckte, wenn der kleine fremde Gesell

mit Geldbriefen, oder wohl gar unter fremde, kostbare Waarenballen schwergebückt mit Lachen hereingestolpert kam.

Das hätte

er ihm aber noch gern vergeben, denn sein Haus gedieh dabei ganz

sichtbarlich; nur daß Hütchen immer in den Freistunden mit Karl Soldaten spielte, und ihn ordentlich zu einem tüchtigen Kriegs­ manne ausexerzierte, — das schien denn doch allzu toll, und hätte

wohl, ohne den bestimmt eingegangenen Vertrag, Hütchens plötz-

280 liche Verabschiedung bewirkt. Nun mußte man sich es jedoch schon gefallen lassen. Warum der kleine Hütchen sich das Alles herausgenommen hatte, erfuhr man im Jahre Dreizehn. Da ward Karl, ein Jüng­ ling schon dazumal von zwanzig Jahren, zum Landwehr-Lieute­ nant erwählt. Niemand wußte besser, als er, die Compagnie zu exerzieren, und nachher Niemand besser, als er, mit ihr in den Feind zu rücken. Und wenn er dabei oftmals in große Fährlichkeiten gerieth, hieb und stieß ein ganz kleiner, mürrisch aussehen­ der Kerl ihn rettend heraus, und wenn man ihn nach Namen und Stand fragte, pflegte er gewöhnlich zu antworten: »Ich bin der kleine Tirailleur Hut, vom Bataillon Alten­ burg." — Als Karl nach der rühmlichen Heimkehr die Handlung des alternden Vaters übernahm, soll bei ihm ganz auffallender Weise nur immer durchaus ächter Ungarwein, ohne die mindeste Rosinen­ beimischung, verkauft worden seyn.