Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen: Geschichtstheorie nach Paul Ricœur 9783050061597, 9783050044903

Mit seinem großen Spätwerk "Gedächtnis, Geschichte, Vergessen" hat Paul Ricœur aufs Neue die Frage aufgeworfen

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Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen: Geschichtstheorie nach Paul Ricœur
 9783050061597, 9783050044903

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Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen Herausgegeben von Burkhard Liebsch

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

_ . Sonderband A ^ r

Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen Geschichtstheorie nach Paul Ricoeur Herausgegeben von Burkhard Liebsch

ich erinnern heißt" insofern „nicht nur, ein Bild des Vergangenen aufzunehmen, zu empfangen, sondern auch, es zu suchen, etwas zu ,tun "' (GGV, S. 94). Diese praktische Dimension des Erinnems ersetzt nun aber nicht einfach die epistemische; beide werden vielmehr zusammengeführt. Als ein Ziel seiner Untersuchung gibt Ricoeur an, „zu zeigen, wie die epistemische, veritative Dimension des Gedächtnisses sich mit der pragmatischen Dimension verträgt, die mit der Idee der Praxis des Gedächtnisses verbunden ist" (ebd.). Im Zuge seiner detaillierten Auseinandersetzung mit Husserl legt Ricoeur einige untergründige Korrespondenzen zwischen den Abwesenheiten bzw. Entzogenheiten des Anderen und des Vergangenen in der klassischen Phänomenologie frei. Beide markieren Modi der Negativität, an denen sich Husserl abgearbeitet hat, die er aber letztlich einem Denken der Selbstpräsenz des Subjekts zu opfern suchte. Was „der egologischen Zugangsweise" Husserls „zu fehlen scheint, ist die Anerkennung einer ursprünglichen Abwesenheit, der Abwesenheit eines fremden Ich, eines Anderen, der im Bewußtsein des einen Selbst immer schon impliziert ist" (GGV, S. 177). Dieser Andere hindert das Bewusstsein ebenso daran, ganz zu sich selbst zu kommen, wie die Vergangenheit jede

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Gegenwart daran hindert, (sich) vollständig gegenwärtig zu sein. Husserl bemühe sich um eine „Reduktion der Negativität in der Zeitkonzeption", eine Reduktion, „die ein Pedant zur Reduktion des Fremden in der Sphäre des Eigenen" habe (ebd.). Ricoeur schließt sich hier einer Kritik und Transformation der Phänomenologie an, wie sie von Lévinas18 und Derrida19 vorbereitet wurde. Er spricht (im Anschluss an neuere Arbeiten von Rudolf Bernet20 und Daniel Birnbaum21) von „Familienähnlichkeiten zwischen sämtlichen Figuren der Negativität in Husserls Werk" (GGV, S. 181). Gegen dessen Versuch, eine Theorie des Gedächtnisses ohne Rekurs auf Figuren der Negativität zu formulieren, macht Ricoeur geltend, dass die Zeit vom Anderen her kommt: „Um sich zu erinnern, bedarf es der Anderen" (GGV, S. 187). Die Negativität des Gedächtnisses zeige sich weiterhin darin, dass die Arbeit des Erinnerns konstitutiv an das Vergessen und die Einbildungskraft gebunden bleibe. Das Vergessen bilde die Voraussetzung dafür, dass überhaupt erinnert werden muss, es kann insofern als Möglichkeitsbedingung des Gedächtnisses gelten (vgl. GGV, S. 652). Die Einbildungskraft teile mit dem Gedächtnis die Notwendigkeit, etwas Abwesendes in die Anwesenheit zurückrufen und so von der gegenwärtigen Situation absehen zu müssen. Wie zur Einbildungskraft gehöre auch zum Gedächtnis die Möglichkeit des Irrtums und der Untreue: „Die Praxis des Gedächtnisses ist sein Gebrauch; Gebrauch schließt aber auch die Möglichkeit des Mißbrauchs ein" (GGV, S. 96). So wie der Einbildungskraft seit Kant nachgesagt wird, dass sie in der Gefahr schwebt, nicht einfach nur eine einmal gehabte Anschauung ins Gemüt zurückzurufen, sondern einen Überschuss zu erzeugen, uns etwas vorzuspielen, für das es kein Vorbild gibt, so kann auch die Erinnerung selektieren, manipulieren und im Extremfall sogar etwas erfinden. Vor allem über diese Beobachtung einer Verschränkung von Ge- und Missbrauch schreibt sich die praktische Philosophie in die Theorie des Gedächtnisses ein. Keine Erinnerung, kein Gedächtnis kommt für Ricoeur ohne den Anspruch auf eine gewisse Gerechtigkeit aus. Von einem Missbrauch des Gedächtnisses können wir überhaupt nur dann sprechen, wenn wir zumindest eine Ahnung von ihrem rechten bzw. gerechten Gebrauch haben. Das Gedächtnis impliziert das normative Ideal einer Treue. Zur epistemischen und praktischen Dimension des Gedächtnisses tritt also noch eine ethische hinzu, die den Fluchtpunkt seiner Untersuchung bildet. Für eine normative Auszeichnung des Gedächtnisses spricht aus Ricœurs Sicht bereits der klassische Gründungsmythos der ars memoria, den er nach Harald Weinrich zitiert: Der Dichter Simonides von Keos nimmt um 500 v. Chr. an einem Gastmahl teil, das auf eine für die Beteiligten höchst tragische Weise durch ein Erdbeben been18 19

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Vgl. E. Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984 [1979], Vgl. J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München 1987 [1962], Vgl. R. Bernet, „Einleitung" zu E. Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), Hamburg 1985, S. XI-LXXVII. Vgl. D. Birnbaum, The Hospitality of Presence: Problems of Otherness in Husserl's Phenomenology, Stockholm 1998.

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det wird. „Zur rechten Zeit aus dem Speisesaal gerufen, um die wohlwollenden Götter Castor und Pollux zu treffen, entgeht er [= Simonides] der Katastrophe, als die Decke des Saals, in dem eben noch das Preislied erklungen war einstürzt. [...] Der Dichter habe den Platz, den jeder Gast an der Tafel eingenommen hatte, aus dem Gedächtnis bedeuten und auf diese Weise ,die Toten nach ihrer Lage im Raum identifizieren' können, wie Weinrich schreibt [...]. Mit dieser Leistung wird ein sagenhafter Sieg über das Vergessen - diese durch den plötzlichen Tod symbolisierte Katastrophe - angezeigt".22 Das Gedächtnis fungiert in diesem Mythos insofern als ethisches Vermögen, als in jedem Vergessen ein Unrecht liegt; alle vergangenen Äußerungen menschlichen Lebens formulieren einen Anspruch an uns, sie zu achten und diese Achtung durch die Zeit zu bewahren. In diesem Sinne ist alles Erinnern auch ein Gedenken: „Die Pflicht zur Erinnerung ist die Pflicht, einem anderen als man selbst durch Erinnerung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, [...] anderen, [...] von denen wir im weiteren sagen werden, daß sie zwar nicht mehr sind, aber gewesen sind" (GGV, S. 142f.). Das gilt insbesondere für die Opfer der Geschichte, für diejenigen, die zu Unrecht zu Tode gekommen sind und deren Spuren bewusst beseitigt wurden und werden. Ricoeur deutet im Zusammenhang dieser Überlegungen eine gleichsam katachrestische Theorie des Memorierens an. Das Gedächtnis ist immer schon von der Möglichkeit seines Missbrauchs heimgesucht worden. Auf allen drei Ebenen des Gedächtnisses, der epistemologischen, der praktischen und der ethischen, schreibt sich, wie Ricoeur in detailreichen Untersuchungen zeigt, die Missbrauchsmöglichkeit ein. Trotz der Unabwendbarkeit der Missbrauchsgefahr führt er weiter aus: „Der Wahrheitsanspruch des Gedächtnisses muß anerkannt werden, und zwar vor jeder Betrachtung pathologischer Insuffizienzen und nicht-pathologischer Schwächen des Gedächtnisses" (GGV, S. 48). Er räumt dem Negativismus sein volles Recht ein, um anschließend ein großes „Trotzdem" zu formulieren. Wir müssen dem Gedächtnis glauben. Warum? Gerade weil es keine epistemische Notwendigkeit dafür gibt. Aber ein ethische: Es besteht eine „Pflicht zur Erinnerung" (GGV, S. 139). Der Verzicht auf das Gebot des Gedächtnisses würde die Opfer - „Das Opfer, um das es hier geht, ist das Opfer, das wir nicht sind" (GGV, S. 143) - des Unrechts dem Unrecht noch einmal überantworten, würde das Unrecht ins Recht setzen. Geschichte, so deutet sich bereits an dieser Stelle an, wäre, als vom bloßen Mythos unterschiedene, nur dort möglich, wo Unrecht als Unrecht benannt werden kann, wo der Schuldzusammenhang aufgebrochen, wo die Gewalt nicht endlos perpetuiert wird. Ein Missbrauch des Gedächtnisses könnte nun aber auch in seinem hypertrophen Gebrauch bestehen. Es wäre möglich, „daß die Pflicht zur Erinnerung im Hinblick auf die Praxis des Gedächtnisses gleichzeitig den Gipfel des rechten Gebrauchs wie des Mißbrauchs darstellt" (GGV, S. 140). Der Anspruch, allen vergangenen Lebensäußerungen gerecht werden zu wollen, führe in einen tendenziell vergleichgültigenden Historismus, wie er sich etwa in folgendem (nicht von Ricoeur zitierten) Diktum Hans 22

GGV, S. 103. Ricœur verweist an der angegebenen Stelle auf H. Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1999, S. 22.

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Blumenbergs manifestiert: „Denkwürdig ist, was Menschen je gedacht haben; es zu lesen, wo es lesbar gemacht werden kann, ein Akt von Solidarität über die Zeit."23 Wo diese Solidarität universal wird, entwertet sie tendenziell diejenigen, denen sie widerfährt. Ein hypertrophes Gedenken wird von Ricoeur ausgehend von Nietzsches und Benjamins Kritiken des Historismus zurückgewiesen. Seine Arbeit „will durchaus nicht zur .Tyrannei des Gedächtnisses' beitragen. Dieser Mißbrauch aller Mißbräuche wird von ihr mit der selben Strenge verurteilt, mit der sie der Ersetzung der Trauer- und Erinnerungsarbeit durch die Pflicht zur Erinnerung widersteht und sich darauf beschränkt, diese beiden Bemühungen unter das Zeichen der Idee der Gerechtigkeit zu stellen" (GGV, S. 146). Wie jede Form der Gerechtigkeit wird auch diejenige des Gedenkens von sie allererst konstituierenden Aporien heimgesucht24; wir können nicht allen gegenüber gleich und zugleich gerecht sein, uns nicht an alle gleich und zugleich erinnern. Jedes Gedenken hat einen blinden Fleck, „vergisst" wieder jemand anderen. Da das Gedächtnis bereits als solches auf den Anderen verweist, auf den Anderen, dessen ich gedenke, wie auch auf den Anderen, vor dem ich Zeugnis ablege, hat es von vorn herein eine überindividuelle Dimension. Eine Theorie des individuellen Gedächtnisses lässt sich sowenig in sich stabilisieren wie die Theorie eines egologischen Selbstbewusstseins. Insofern sind wir genötigt, die Thematisierung des individuellen Gedächtnisses auf eine kollektive Ebene hin zu überschreiten, die Ricoeur ausgehend von Maurice Halbwachs25 thematisiert. Doch dessen klassische Theorie eines kollektiven Gedächtnisses wird ebenfalls von Paradoxien heimgesucht. Das Hauptproblem der Theorie des kollektiven Gedächtnisses sieht Ricoeur darin, dass sie impliziert, „sich an den Stand- oder Blickpunkt des sozialen Bandes versetzen zu können" (GGV, S. 192), ein potentiell totalitärer Gestus, der die Irreduziblität der Erste-Person-Perspektiven sowie des Konfliktes dieser Perspektiven ignoriert. Vor dem Hintergrund des Dilemmas, dass sich weder auf der individuellen noch auf der kollektiven Ebene eine letzte Antwort auf die Frage nach dem Gedächtnis geben lässt, interessiert sich Ricoeur für eine Ebene zwischen dem Allgemeinem und dem Individuellem. Diese Ebene expliziert er einerseits als diejenige der uns Nahestehenden, die weder im abstrakten Allgemeinen noch in der Innerlichkeit des Selbst aufgehen, andererseits als die der Erzählung26, deren Faden unsere subjektive Erfahrung mit der Öffentlichkeit verwebt (vgl. GGV, S. 200).

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25 26

H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1983, Zu den Aporien der Gerechtigkeit vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft. Autorität, Frankfurt am Main 1991 [1990], Vgl. M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main Vgl. hierzu auch P. Ricoeur, Zeit und Erzählung, München 1988-91

S. 408 Vom mythischen 1985 [1939]. [1983-85],

Grund

der

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2.

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Zeugnis-Geben oder der Ort des Ethischen im Sozialen

Im Zuge einer Diskussion von John Lockes Theorie des Selbstbewusstseins zeigt Ricoeur, dass sich dieses für den Gründervater des Empirismus an das Gedächtnis bindet, an die Fähigkeit, sich durch die Zeit zu erhalten. Als Schlüsselbegriff für das Sich-Erhalten-in-der-Zeit erwähnt Locke nun aber die „Rechenschaft, die man über sich selbst ablegt" (Locke nach GGV, S. 166). Die selbstbewusste Person zeichnet sich für den Empiristen dadurch aus, dass sie sich ihre eigenen, in der Vergangenheit liegenden Taten zurechnen kann. Ricoeur stimmt Locke an dieser Stelle zu, ergänzt die Praxis des Rechenschaft-Gebens allerdings noch um den Adressaten jeder Rechenschaft, um den Anderen: „Legt man nicht auch und vielleicht vor allem gegenüber dem Anderen Rechenschaft ab?" (GGV, S. 166f.) So wie einer allein nach Wittgenstein keine Sprache sprechen kann, so kann für Ricoeur einer allein kein Zeugnis abgeben. Im Zeugnis wird das Gedächtnis deklarativ, gewinnt eine Realität, die letztlich vom Anderen verbürgt wird, der sich zum Zeugnis verhält, ihm ver- oder misstraut. Insofern stellt „das Zeugnis [...] die Grundstruktur des Übergangs zwischen Gedächtnis und Geschichte dar" (GGV, S. 48). Das Zeugnis-Geben bewältigt in gewisser Weise die Negativität des Gedächtnisses, die rein epistemisch nie zu bändigende Gefahr, dass uns die Erinnerung täuschen kann. Der Zeuge übernimmt die Verantwortung dafür, dass etwas wirklich geschehen ist. Was er bezeugt, ist insofern immer mehr als eine bloße Tatsache, es ist eine verbürgte Tatsache, eine Tatsache, für die jemand als ganze Person einsteht. Das Zeugnis wird in einem performativen Akt der Form „Ich bezeuge, dass..." gegeben. Es ähnelt insofern einem Versprechen, als sich der Sprecher auch hier auf einen Zustand festlegt; im Falle des Versprechens ist es ein zukünftiger Zustand, im Falle des Zeugnis-Gebens ein vergangener. So wie das Versprechen auf etwas Unwahrscheinliches deutet - ich kann sinnvollerweise nur dann etwas versprechen, wenn nicht ohnehin schon feststeht, dass das, was ich verspreche, eintreten wird - so bezieht sich auch das Zeugnis auf eine Tatsache, die hochgradig umstritten ist, für die es außer dem Akt des Bezeugens selbst keine Evidenz gibt. Der Zeuge wird insbesondere dort unentbehrlich, wo alle materiellen Spuren eines im doppelten Sinne historischen Unrechts systematisch ausgelöscht wurden. Das Zeugnis des Zeugen verweist dann auf ein unbedingtes Vertrauen, dass durch keine zwingenden Gründe zu rechtfertigen ist. Konstitutiv für das Zeugnis erscheint nun „die Bereitschaft des Zeugen, seine Aussage zu wiederholen. Der glaubwürdige Zeuge ist der, der sein Zeugnis in der Zeit festhalten kann" (GGV, S. 252). Die Identität des Zeugen ergibt sich aus seiner Bereitschaft, zu seinem Wort zu stehen, daraus also, dass er dem bezeugten Ereignis gegenüber treu bleibt, seiner einmal übernommenen Verantwortung weiterhin nachkommt. Seine eigene Identität wie die des bezeugten Ereignisses verdankt sich weder einem Prinzip der Selbsterhaltung noch einem der Selbsterkenntnis oder -präsenz, sondern der Unbedingtheit einer ethischen Verpflichtung. Der Zeuge verkörpert damit ein Moment des Ethischen im Sozialen, etwas, das in jedem Sozialen mit gegeben ist und uns zugleich daran hindert, das Soziale ganz aus sich

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selbst heraus zu verstehen.27 Ricoeur spricht hier von einem „fiduziarischen", auf Treue beruhenden Prinzip sozialer Integration. Am Zeugnis-Geben erfahren wir eine wesentliche Ungegründetheit des Sozialen, die wir auch als Eigensinn des Ethischen beschreiben können. „Diese fiduziarische Bindung", die nur auf dem gegebenen Wort und dem Vertrauen in dieses Wort besteht, „erstreckt sich nach und nach auf alle Tauschvorgänge, Verträge und Pakte; sie konstituiert jene Zustimmung zum Wort des anderen, die in solchem Maße Prinzip der sozialen Bindung ist, daß sie zu einem Habitus der betreffenden Gemeinschaften, ja sogar zu einer Vorsichtsmaßregel wird: Zuerst dem Wort des anderen vertrauen, dann erst, beim Vorhandensein von starken Gründen, daran zweifeln. Ich nenne es in meinen Worten eine Kompetenz des handlungsfähigen Menschen: Der dem Wort des anderen eingeräumte Kredit macht die soziale Welt zu einer intersubjektiv geteilten" (GGV, S. 253). Die Formulierung eines eingeräumten Kredits verweist auf den Themenkreis des Gebens und Vergebens, dem wir uns im folgenden Kapitel zuwenden. Bereits das Memorieren hat einen Anteil an der fiduziarischen Bindung. Von Ricoeur wird es als politische Fähigkeit beschrieben; wir haben es hier „mit einem im grundsätzlichen Sinne politischen, auf der Schaffung des sozialen Bandes beruhenden Begriff zu tun" (GGV, S. 101). Das soziale Band ist nicht nur horizontal verknüpft: Die horizontalen Verknüpfungen vermitteln sich vielmehr über einen gemeinsamen vertikalen Fluchtpunkt. Uns wird, über Erzählungen, Zeugenaussagen und Dokumente in Archiven, eine Geschichte gegeben, die immer primär Geschichte der Anderen ist. Das hatte im 18. Jahrhundert bereits Herder betont, der die Tradition explizit als eine Art Gabe darstellt: Der einzelne Mensch kann nicht aus sich selbst heraus zum Menschen werden, sondern bedarf der Tradition als Instanz der Gebung von Erfahrungen.28 Der Andere, von dem wir unsere Sprache, unsere Vernunft, unser Begehren empfangen, ist nicht nur der real begegnende Andere, der Zeitgenosse, sondern auch der Vorfahre. Seine diachrone Gabe, der wir uns letztlich verdanken, stiftet Geschichte. Deren Band beruht mindestens ebenso wie auf den gegebenen Gehalten auf den unbedingten Gesten des Gebens selbst.

3.

Geben und Vergeben als Quellpunkte von Geschichte

Weiter oben haben wir darauf hingewiesen, dass Ricoeur Zeit nicht als leere Dauer denkt, sondern von einer Initiative abhängig sein lässt, von der Möglichkeit anfangen zu können und im Anfangen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden. Das „Anfangen" gilt ihm im Anschluss an Arendt als „eine unabweisbare Erfahrung. Ohne sie würden wir nicht verstehen, was Fortfahren, Dauern, Bleiben und Aufhören bedeutet" (GGV, S. 63). Anfangen können wir aber nie allein. Um Anfangen zu können, 27

28

Vgl. hierzu P. Wiechens, „Dekonstruktive Sozialtheorie als Ethik jenseits des Sozialen", in: A. Hetzel (Hg.), Negativität und Unbestimmtheit. Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens, Bielefeld 2009, S. 255-272. Vgl. J. G. Herder, Sämtliche Werke, Bd. 13, S. 345-347.

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muss mich erst ein Anderer aus meiner Schuld entlassen, mir vergeben haben. Das war bereits Hegels großer Einwand gegen Kant. Kant expliziert Freiheit als die Fähigkeit, anfangen zu können, macht diese Fähigkeit aber zugleich abhängig vom Befolgen eines Gesetzes; frei sein kann ich für ihn nur, wenn ich mich dem Sittengesetz unterwerfe. Für Hegel widersprechen sich Freiheit und Gesetzesförmigkeit, er sucht insofern nach einem anderen Grund des Anfangen-Könnens. Diesen anderen Grund findet er im kontingenten, mir innerweltlich begegnenden Anderen, der mich, im Akt des Vergebens, in meine Freiheit entlässt. Erst von der mir widerfahrenden Vergebung her wird retroaktiv so etwas wie Geschichte möglich.29 Dieses anerkennungstheoretische Motiv scheint mir auch im Fluchtpunkt von Ricceurs geschichtsphilosophischen Überlegungen zu liegen. Praktiken des Anerkennens waren für den jungen Hegel frei von jeder Hinsichtnahme und Perspektive; die Bewegung des Anerkennens „durchkreuzt" für den Idealisten die „Möglichkeit des Als, genauer: der Anerkennung als".30 Mit dem Aussetzen prädikativer Festlegungen eröffnet die Geste des Anerkennens die Möglichkeit von Freiheit und damit von geschichtlich Neuem. Im Anerkennen respektiere ich den Anderen in seiner unendlichen Andersheit und nicht in den vertrauten Perspektiven, in denen er mir immer schon erscheint. Ihn anerkennend „entlasse" ich ihn in die Freiheit, indem ich alle Geschichten, die ich über ihn erzählen könnte, „vergesse", ihm alles „verzeihe"31. Dieses von Hegel am Ende des Gewi-Kapitels in der Phänomenologie des Geistes entfaltete Konzept schwebt nun allerdings in der (dem Historismus komplementären) Gefahr, den aller prädizierbaren Eigenschaften entledigten Anderen zu einem abstrakten „ganz Anderen" zu vergleichgültigen. Eine Ethik des Anerkennens müsste sich also auf den Anderen sowohl in seiner mir gänzlichen entzogenen Andersheit, wie auch auf den konkreten Anderen als Erheber von je besonderen Ansprüchen richten, die mich irritieren, verstören oder vielleicht auch für ihn oder sie einnehmen. Ricceurs „verwahrendes Vergessen" versucht nun, genau diese Spannung auszuhalten. Seine Geschichtsphilosophie findet ihren Erfüllungshorizont in einer von der jüdischchristlichen Tradition inspirierten Ethik des Gebens und des Vergebens, wie sie in Wege der Anerkennung32 präfiguriert und in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen weiterentwickelt wird. Ricoeur interessiert sich insbesondere im letztgenannten Buch für die „Verbindung zwischen dem Diskurs über Gedächtnis und Vergessen und dem über Schuld und Vergebung" (GGV, S. 146). Eingelöst wird diese Verbindung insbesondere von einem „verwahrende[n] Vergessen" (GGV, S. 442), das der Vergangenheit weder die Treue aufkündigt, noch sie historistisch vergleichgültigt; ein solches verwahrendes

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30

31 32

Vgl. zu dieser Lesart Hegels A. Hetzel, „Negativer Universalismus. Hegel im Diskurs der radikalen Demokratie", in: Hegel-Jahrbuch 2009. Hegels politische Philosophie 2, hg. von A. Arndt, K. Bai u. H. Ottmann, im Erscheinen. A. G. Diittmann, Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main 1997, S. 122. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1983, S. 492. Vgl. P. Ricoeur, Wege der Anerkennung: Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006 [2004],

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Vergessen entspräche einem Verzeihen, das um die Tat weiß, den Täter aber gleichwohl nicht auf die Tat festlegt, sondern ihn von seiner Schuld entbindet, ihn neu beginnen lässt. Beim Verzeihen stellen sich dabei ähnliche Probleme ein wie beim Anerkennen. Einerseits müssen Gesten des Verzeihens und Anerkennens von allen Besonderheiten (vom prädikativen „als") absehen bzw. sie vergessen machen, andererseits sollten sie die Anderen aber gerade auch in ihren spezifischen Besonderheiten anerkennen, ihre individuellen Züge bewahren. Für Ricoeur stellt „die Vergebung" den „eschatologischen Horizont der gesamten Problematik von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen dar" (GGV, S. 443). Vergessen und Vergeben „bezeichnen, getrennt und verbunden, den Horizont unserer gesamten Untersuchung. Getrennt in dem Maße, wie sie jeweils einer unterschiedlichen Problematik unterstehen: Für das Vergessen ist es die Problematik des Gedächtnisses und der Treue zur Vergangenheit, für das Vergeben die der Schuld und der Versöhnung mit der Vergangenheit. Verbunden in dem Maße, wie ihre jeweiligen Wege sich an einem Ort überkreuzen, der gar kein Ort ist und der besser durch den Terminus Horizont bezeichnet wird. Horizont eines zur Ruhe gekommenen Gedächtnisses, ja eines glücklichen Vergessens" (GGV, S. 633). Ricoeur unterscheidet ein einfaches „Vergessen durch Ausstreichen der Spuren" von einem komplexeren „Vergessen, das man ein verwahrendes oder ermöglichendes Vergessen nennen kann" (GGV, S. 672). Dieses im Hegeischen Sinne aufhebende, verwahrende oder ermöglichende Vergessen stößt den Anderen nicht in die Vergessenheit, nimmt ihm nichts, sondern gibt ihm etwas, wäre ein Geben im eminenten Sinne. Mit seinen Überlegungen zu einem zugleich verwahrenden und vergebenden Vergessens stellt sich Ricoeur in die Tradition des Denkens einer unbedingten, anökonomischen Gabe, die weit in die jüdisch-christliche Tradition zurückreicht und durch die ethnologischen Befunde von Mauss im 20. Jahrhundert erneute Aktualität gewinnt.33 Im Primat, den er der Gebung einräumt, berührt sich Ricceurs Denken insbesondere mit demjenigen Marions: „Auf dem Grund des Grundes hätten wir das Vergessen der Grundlegungen, ihrer ursprünglichen Gebungen, Lebenskraft, Geschichte schaffende Kraft, Ursprung [dt. im Original], weil irreduzibel auf den Anfang, Ursprung, der immer schon da ist wie die Schöpfung, von der Franz Rosenzweig in Der Stern der Erlösung spricht und von der er sagt, sie sei der ewige Grund, oder auch die Gebung, die uneingeschränkt dem Geber zu geben, dem Gegebenen zu empfangen und der Gabe gegeben zu werden, (auf)gibt - gemäß Jean-Luc Marion in Réduction et donation [...] und in Étant donné [...]. Wir treten aus sämtlichen narrativen Linearitäten heraus; bzw., sofern man überhaupt noch von Narration sprechen kann, wäre dies eine Narration, die mit jeglicher Chronologie gebrochen hätte" (GGV, S. 674). 33

Vgl. A. Hetzel, „Stichwort Gabe", in: Information Philosophie, Heft 3 (2005), S. 42-45; ders., „Die Gabe der Gerechtigkeit. Ethik und Ökonomie bei Jacques Derrida", in: Phänomenologische Forschungen (2002), S. 231-250; ders., „Interventionen im Ausgang von Mauss: Derridas Ethik der Gabe und Marions Phänomenologie der Gebung", in: S. Moebius, C. Papilloud (Hg.), Gift. Geschichte, Theorie und Kritik des Denkens von Marcel Mauss, Konstanz 2006 (YS), S. 269-291.

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Die in Wege des Anerkennens sowie in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen entfalteten Reflexionen zur Gabe intervenieren in einer Debatte, die sich an Lévi-Strauss' Deutung der Mausschen Gabentheorie entzündet hat. Der Strukturalist unterstellt Mauss, er würde unzulässigerweise die Selbstdeutungen der an Praktiken des Gabentauschs Beteiligten beim Wort nehmen und gegenüber den subjektiven Perspektiven der Akteure aus dem Blick verlieren, dass es sich beim Gabentausch um einen ökonomischen Strukturzusammenhang handle.34 Nach Derrida, der Mauss gegen diesen Vorwurf verteidigt, muss Lévi-Strauss den Essai sur le don gänzlich missverstehen, wenn er den von Mauss als „System der totalen Leistungen"35 bezeichneten Potlatch als totalen Strukturzusammenhang zu interpretieren vorschlägt und Mauss zugleich vorwirft, diesen Strukturzusammenhang zwar geahnt, aber nicht wirklich aufgedeckt zu haben. Derrida betont demgegenüber, dass „total" im Text von Mauss einen ethischen Anspruch indiziert und gerade keinen totalen (und damit determinierten) sozialen Strukturzusammenhang.36 An den Essai sur le don schließen sich insofern zwei divergierende Rezeptionsstränge an, für die einerseits Lévi-Strauss und Bourdieu, andererseits Bataille und Derrida stehen. Während Lévi Strauss und Bourdieu eher das Moment des Tausches im „Gabentausch" aufnehmen, beziehen sich Bataille37 und Derrida auf die Unbedingtheit der Gabe unter bewusster Ausklammerung des Tauschs. Ricoeur versucht nun, zwischen beiden Strängen zu vermitteln, die Gabe also weder dem Primat der Ökonomie zu unterstellen, noch sie, wie tendenziell Derrida, so weit zu paradoxieren, dass sie nicht mehr als soziales Phänomen beschrieben werden kann. Für Derrida zersetzt sich die Gabe gleichsam zwischen den nicht zu vermittelnden Ansprüchen einer Ökonomie (jede Gabe verlangt eine Gegengabe) und einer AnÖkonomie (die Gabe fordert als Gabe gerade keine Antwort, jede Bezahlung würde ihren Gabencharakter annullieren). Seine eigene Haltung zur Gaben-Problematik sieht Ricoeur dabei durch Lefort antizipiert, den er ausführlich zitiert: „Die Idee, daß die Gabe erwidert werden muß, setzt voraus, daß der andere ein anderes Ich ist, das handeln soll wie ich; und die Geste des Erwiderns soll mir die Wahrheit meiner eignen Geste, das heißt meine Subjektivität bestätigen [...]; die Menschen versichern sich also untereinander, daß sie keine Dinge sind."38 Ricoeur kommentiert diesen Passus wie folgt: „Eine Soziologie des Handelns wird, anders als eine Soziologie der sozialen Tatsachen in der Tradition Dürkheims, an die von der Phänomenologie inspirierte Kritik Claude Leforts anknüpfen können; sie wird sich weigern, die Begründungen der Akteure den Konstruktionen eines außenstehenden Beobachters zu opfern."39 34

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C. Lévi-Strauss, „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss [1950]", in: M. Mauss, Soziologie und Anthropologie Bd. 1, Frankfurt am Main 1989, S. Ί-42, hier: S. 30. M. Mauss, „Die Gabe. Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften", in: ders. Soziologie und Anthropologie Bd. 2, Frankfurt am Main 1989 [1923/24], S. 9 - 1 4 4 , hier: S. 16. J. Derrida, Falschgeld. Zeit Geben 1, München 1993 [1977], S. 99ff. Vgl. G. Bataille, Die Außebung der Ökonomie, Berlin 2001 [1949], C. Lefort, zit. n. Ricoeur, Wege der Anerkennung, S. 283f. P. Ricoeur, Wege der Anerkennung, S. 284.

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Ricoeur richtet sich damit gegen aktuelle, strukturalistische inspirierte Versuche, Rache, Gabe und Geldökonomie in eine allgemeine Theorie der Gegenseitigkeit einzuschließen,40 und beharrt stattdessen mit Derrida darauf, dass die Gabe gerade mit der Äquivalenz der Rache und der Geldökonomie bricht. Er spricht von einer „Großherzigkeit, die von den in den Rechtsbeziehungen herrschenden Äquivalenzregeln befreit ist" 41 . Ihm schwebt eine Wechselseitigkeit vor, die das unbedingte Moment der Gabe gerade nicht zerstören würde. Dabei legt er den Akzent „auf die Geste des Gebens, und zwar im Moment ihres Zustandekommens, ich würde sogar sagen, gerade in ihrer Eigenschaft als Entgegenkommen. [...] Warum geben? Die Bewegung des Gebens ist die Geste, mit der der ganze Prozess beginnt. Die Großherzigkeit der Gabe führt nicht bloß zu einer Rückerstattung, die streng genommen die erste Gabe vernichten würde, sondern zu so etwas wie einer Antwort auf ein Angebot. Genau genommen hat man sich die erste Gabe als Modell der zweiten und die zweite Gabe als eine Art, wie ich sagen würde, zweiter erster Gabe vorzustellen." 42 Derridas Diskurs erscheint von hier aus als ein fatalistischer, als ein Diskurs, für den sich das unbedingte oder ethische Moment der Gabe nicht mit dem Sozialen vereinbaren lässt. Ricoeur lässt uns hier demgegenüber ein sozial situiertes Ethisches denken, welches das Soziale nicht notwendigerweise dissoziiert. Die Gabe wäre dann nicht länger in dem Dilemma gefangen, entweder den Empfänger der Gabe auf eine Ökonomie der Schuld und Gegenschuld zu verpflichten oder sich selbst als unbedingter ethischer Akt ohne Spur zum Verlöschen bringen zu müssen. Als Geste eröffnet sie vielmehr einen Raum ethischer Integration, in dem die zweite Gabe eine zweite erste Gabe wäre. Sie erzwingt die zweite Gabe nicht, sondern provoziert, evoziert oder verführt zu ihr. Die zweite Gabe wäre gerade keine Gegengabe, sondern eine Wiederholung der ersten. Sie entspräche dem Vertrauen, das wir einem Zeugen dadurch schenken, dass wir sein Zeugnis weiter tragen. An diesem Vorbild könnte sich auch ein wechselseitiges Anerkennen ausrichten, das sich weder in einem prädikativen „Anerkennen als" erschöpfen, noch den mir konkret begegnenden, mich mit ganz spezifischen Ansprüchen konfrontierenden Anderen als totaliter aliter vergleichgültigen würde. Ohne Gesten des Anerkennens, Gebens und Verzeihens wäre der Mensch auf eine Schuld festgelegt, die ihm die Möglichkeit einer Geschichte verwehrte. Geschichte bleibt damit letztlich von etwas Exzeptionellem abhängig. „Es gibt die Vergebung" (GGV, S. 712), doch die Vergebung kann sich nie in die Form einer Institution 43

40 41 42 43

Vgl. M. R. Anspach, A charge de revanche. Figures élémentaires de la réciprocité, Paris 2002. P. Ricoeur, Wege der Anerkennung, S. 290. P. Ricoeur, Wege der Anerkennung, S. 301 (Hervorhebung A. H.). Klaus-Michael Kodalle, der sich in seiner eigenen Theorie des Verzeihens eng an Ricoeur anlehnt, geht sogar soweit zu behaupten, dass sich ein Verzeihen nicht explizit aussprechen lässt. Als Sprechakt der Form „Ich verzeihe Dir!" verwirkt es sich genauso, wie das „Vertraue mir!" der Schlange Kaa im Dschungelbuch. Für Kodalle kann das Verzeihen nur „in einer non-verbalen Geste" seinem Begriff entsprechen. Vgl. K.-M. Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens, Mainz 2006, S. 5 u. 32.

BEZEUGEN, VERGEBEN, A N E R K E N N E N

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kleiden, kann nie normalisiert werden. Mit Arendt und Derrida betont Ricoeur: „Die Vergebung ist, sie sollte weder normal noch normativ oder normalisierend sein. Sie sollte Ausnahme und außergewöhnlich bleiben, als Erprobung des Unmöglichen: als ob der gewöhnliche Lauf der historischen Zeitlichkeit unterbrochen würde" (Derrida nach GGV, S. 716). Wie jedes Geben bleibt auch das Vergeben maßlos; es unterbricht den Lauf der Geschichte und treibt ihn gerade in dieser Unterbrechung an. Wäre die Reziprozität gewährleistet, dann könnten wir nicht länger „zwischen Vergebung und Vergeltung unterscheiden" (GGV, S. 737). Das Vergeben würde also mit genau der Zirkularität einer vorgeschichtlichen Rache gleichgesetzt, zu der sie die einzig mögliche Alternative bildet. Rache steht für eine mythische Zeitordnung, für die ewige Wiederkehr der immergleichen Gewalt. Das Vergeben sprengt diese Zeitordnung auf, es diskontinuiert, unterbricht, lässt aber gerade deshalb einen neuen Anfang und eine Geschichte zu.

PAUL RICŒUR

Das politische Gedächtnis1

1.

Zunächst einige Worte über den Titel meiner Darlegung: „Das politische Gedächtnis". Die Verbindung der beiden Begriffe stellt an sich bereits das Problem dar. Auf eine sehr allgemeine Weise ist das Gedächtnis unsere Fähigkeit, uns auf die Vergangenheit zu beziehen und so, in Verbindung mit den Projekten, die uns in Richtung auf die Zukunft lenken, zur Bildung unserer Identität durch die Zeit hindurch beizutragen. Unsere individuelle und kollektive Gegenwart wird mithin eingerahmt von unserem Verhältnis zur Vergangenheit, welches das Gedächtnis ist, und unserem Verhältnis zur Zukunft, welches das Projekt ist. Wie steht es dann mit dem politischen Gedächtnis? In welchem Maße trägt das Gedächtnis zu unserer politischen Identität bei? Die allgemeine Frage nach der Identität entspricht der Frage: Wer bin ich auf eine dauerhafte Weise in der Zeit? Wenn ich kein unveränderliches Ding bin und meine Identität sich in der Zeit und durch die Zeit konstituiert, dann ist mir nur der Gedanke einer narrativen Identität zugänglich, das heißt einer Identität, die sich in einer Geschichte, die sich ereignet, und durch eine Geschichte, die erzählt wird, bildet. Das Problem des kollektiven Gedächtnisses aufzuwerfen bedeutet demnach, die Frage nach dem Beitrag meines Gedächtnisses zu meiner Identität als Mitglied der politischen Gemeinschaft - mit einem Wort: als Bürger - zu stellen. Worum handelt es sich also beim Gedächtnis eines Bürgers?

1

Der Text geht zurück auf einen in Sofia gehaltenen Vortrag Ricoeurs, der von der dortigen Maison des Sciences de l'Homme et de la Société (MSHS) organisiert wurde, zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift Divinatio. Studia Culturologica Seríes, vol. 6, Spring - Summer (1998), S. 27-37. Der Text wurde um einige einleitende Bemerkungen des Autors gekürzt, die lediglich auf den situativen Kontext des Vortrags Bezug nehmen.

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Doch warum stellen wir uns diese Frage? Warum bewegt und beunruhigt sie uns, ob wir nun Zuschauer oder Akteure der Geschichte sind? Im Wesentlichen deshalb, weil wir überall auf der Welt und vor allem in Europa, im westlichen Europa, in Zentraleuropa und in Osteuropa, auf dasselbe Problem stoßen, auf das Problem eines kranken Gedächtnisses: hier zuwenig Gedächtnis, dort zuviel Gedächtnis. Hier wird man verfolgt von der Erinnerung an Zeiten des Ruhmes oder Zeiten der Demütigung, dort flieht man die Vergangenheit und möchte nicht von ihr reden hören. Dieses Schwanken zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig aber spielt sich nicht notwendig an unterschiedlichen Orten ab, sei es in Deutschland, in Frankreich oder in irgendeinem anderen Land - sondern in unterschiedlichen Momenten unserer eigenen Reflexion. Denn es handelt sich um zwei unterschiedlichen Gestalten desselben Problems, nämlich der Unfähigkeit, eine zugleich verständliche und akzeptable Identität zu konstituieren. Verständlich in dem Sinne, dass wir sie mit Gründen legitimieren können - akzeptabel in dem Sinne, dass wir uns mit dem, was wir von uns selbst verstanden haben, identifizieren können. Im ersten Teil werde ich einige Grundbegriffe einführen, um unterschiedliche Ebenen der Partizipation, der Identifikation, mithin der Erinnerungsarbeit zu unterscheiden. Denn meiner Auffassung nach besteht der erste Dienst, den die Philosophie der politischen Diskussion erweisen kann, in der Klärung von Begriffen und in der Korrektur der Argumentation. Dies hat mich sowohl die Tradition der abendländischen Reflexionsphilosophie als auch die angelsächsische Tradition der analytischen Philosophie gelehrt. Mein Weg in diesem ersten Teil wird aus vier Etappen bestehen. 1. Ich werde zunächst den Begriff des kollektiven Gedächtnisses im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis einführen. Dieser Begriff ist noch nicht politisch. Er betrifft unsere Beziehung zu Gruppen und Gemeinschaften jeder Art, von der Familie über den Beruf usw. Er kommt immer dann zur Anwendung, wenn man wir und nicht bloß ich sagen kann. Allerdings müssen wir zunächst einen epistemologischen Streit zwischen zwei Traditionen entscheiden, von denen eine die Auffassung vertritt, dass das Gedächtnis wesentlich persönlich ist und nur per Analogie wenn nicht missbräuchlich als kollektiv bezeichnet werden kann. Es gilt, beide Plädoyers anzuhören. Auf der einen Seite ist es durchaus zutreffend, dass das Gedächtnis eine Beziehung zu sich selbst [rapport de soi à soi] ist: Meine Erinnerungen sind nicht Ihre Erinnerungen. Sie lassen sich nicht von einem Bewusstsein in ein anderes übertragen. Diese Eigenschaft wird in unseren Sprachen durch das Possessivpronomen mein, meine unterstrichen. Man sagt: Mein Gedächtnis. Über dieses Besitzverhältnis hinaus setzt das persönliche Gedächtnis die Kontinuität der Person voraus, denn es kann von vorne nach hinten durchmessen werden, wobei man Abschnitte überspringen und sich zum Beispiel unmittelbar auf einen Augenblick seiner Kindheit beziehen kann. Dies ist das Vermögen des InErinnerung-Rufens [rappel] und der Wiedererinnerung [réminiscence]. Es scheint wesentlich der Person eigen zu sein. Das dritte Argument zugunsten des persönlichen Gedächtnisses ist, dass sich der Austausch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im individuellen Gedächtnis vollzieht. Wir verdanken diese Analyse dem

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heiligen Augustinus, der in den Bekenntnissen sagt, dass die Gegenwart dreifach ist: Gegenwart der Vergangenheit, Gegenwart der Zukunft, Gegenwart der Gegenwart. Die erste ist das Gedächtnis, die zweite die Erwartung, die dritte die Aufmerksamkeit. Dieser Austausch findet im persönlichen Gedächtnis statt. Es scheint mithin, als ob man nur per Analogie von einem kollektiven Gedächtnis sprechen kann, zunächst durch Übertragung von mir auf den Anderen, dann auf die mir Nahestehenden und schließlich auf immer ausgedehntere Gemeinschaften. Diese Lösung wird von Husserl in den Cartesianischen Meditationen vorgeschlagen, wo die Intersubjektivität als begrifflicher Übergang dient. Mein Gedächtnis, Ihr Gedächtnis und alle diese Gedächtnisse zusammen bilden, durch eine Art von Vergemeinschaftung oder Zusammenlegung so etwas wie ein kollektives Gedächtnis. Ich denke, dass man über diese vorsichtige These, die notfalls ausreichen würde, um die Analyse fortzusetzen, hinausgehen kann. Man kann sagen, dass eine soziale Gruppe ihr Gedächtnis unmittelbar konstituiert und nicht bloß durch Analogie zwischen Ich und Du und durch Verallgemeinerung Ich, Du, Wir. Gleichzeitig mit dem Ich gibt es immer ein Wir. Wir verfügen in dieser Hinsicht über eine große Tradition, die auf Fichte und auf Hegels Phänomenologie des Geistes und seine Grundlinien der Philosophie des Rechts zurückgeht, wo, vermittels einer Art von fundamentaler Spaltung, die in der Enzyklopädie durch die Begrifflichkeit des subjektiven und des objektiven Bewusstseins ausgedrückt wird, ein direkter Übergang vom Ich zum Wir erfolgt. Meines Erachtens haben wir gute Argumente, um das kollektive Gedächtnis als ursprünglich und ebenso fundamental wie das individuelle Gedächtnis anzusehen. Das erste Argument liefert uns die Tatsache der Sprache. Niemand von uns hat die Sprache erschaffen. Sobald wir als kleines Kind zu Bewusstsein gelangen, sprechen wir die Sprache der anderen und selbst unser allerprivatestes Gedächtnis ist eine Art Rede, die wir uns selbst halten: Wir sprechen unser Gedächtnis. Unser Gedächtnis ist ein deklaratives Gedächtnis und wir sprechen es in der Sprache unserer Gemeinschaft. Nun kann das Phänomen der Sprache aber nicht durch Übertragung, durch Analogie zwischen mir und uns entstehen. Es wird von Anfang an von einer Sprachgemeinschaft hervorgebracht, innerhalb derer der Austausch einen Vorgang darstellt, der sich nicht auf irgendeinen anderen zurückführen lässt. Der zweite Grund, den Begriff eines kollektiven Bewusstseins als ursprünglich anzunehmen, ergibt sich aus dem Schauspiel der Sitten, der Gebräuche und des Glaubens. Wir gehören unmittelbar einem gemeinsamen Milieu des Glaubens und der Überzeugung an. Es sind übrigens die Sitten, die uns die Begriffe Moral und Ethik gegeben haben, wobei der erste aus dem Lateinischen und der zweite aus dem Griechischen stammt. Sprache und Sitten sind somit ursprünglich kollektive, geteilte, gemeinsame Phänomene. Ich will diese erste Reihe von Bemerkungen abschließen, indem ich die folgende Lösung zu bedenken vorschlage: Privates Gedächtnis und kollektives Gedächtnis konstituieren sich meiner Auffassung nach gleichzeitig und ich würde sogar sagen wechselseitig, vermittels einer Art von verschränkter Konstituierung. Wir haben eine Reihe von Beispielen für dieses Phänomen der Verschränkung: Den Umstand, dass wir unsere eigenen Erinnerungen nicht entwickeln können, ohne die Erinnerungen der Anderen anzurufen;

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dass unsere Erinnerungen zu einem großen Teil geliehene Erinnerungen sind; dass unser persönliches Gedächtnis vom Gedächtnis der anderen Hilfe erhält; dass das Gespräch in der Regel auf einem Austausch von Gedächtnis zu Gedächtnis vermittels einer gemeinsamen Sprache beruht. Doch demgegenüber lässt sich anführen, dass sich das soziale Gefüge des Gedächtnisses ausgehend von vielfältigen Aktivitäten persönlichen Erinnerns [remémoration] konstituiert. Sogar bei öffentlichen Akten des Gedenkens wird auf individuelle Erinnerungen zurückgegriffen, die somit dazu beitragen, das kollektive Gedächtnis zu erhalten. Ich schließe dieses erste Thema ab, indem ich die Gleichzeitigkeit, die Gegenseitigkeit, die Reziprozität von individuellem und kollektivem Gedächtnis behaupte. Gewiss muss es immer jemanden geben, der sagt: „ich erinnere mich". Doch genauso muss es immer eine Sprachgemeinschaft und eine moralische Gemeinschaft geben, die diesem Akt der Erinnerung als Hintergrund dient. Ich würde sogar so weit gehen - doch das ist beinahe schon ein Exkurs - , dass es nicht zwei, sondern drei Gedächtnisse gibt. Zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis würde ich gern das Gedächtnis der mir Nahestehenden einfügen: Die mir Nahestehenden sind diejenigen, die bei meiner Geburt Freude empfanden und die meinen Tod betrauern werden. Geburt und Tod kommen nämlich weder im individuellen noch im kollektiven Gedächtnis vor. Für ersteres bin ich bereits geboren und noch nicht tot, und für letzteres sind diese Ereignisse nichts weiter als anonyme Daten im Personenstandsregister. Die Verbindung zwischen dem Gedächtnis der Nahestehenden und dem kollektiven Gedächtnis stellt sich durch Verhältnisse der Filiation im Rahmen des Systems der Elternschaft und auf der Grundlage der Beziehung zwischen Generationen auf der weitläufigeren Ebene eines Austauschs zwischen Zeitgenossen, Vorgängern und Nachfolgern her. Dieses generationenübergreifende Gedächtnis bildet die stärkste Vermittlung zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. 2. Ich schlage für unsere Reflexion eine zweite Stufe vor, die der Zivilgesellschaft. Unter Zivilgesellschaft verstehe ich alle von Institutionen eingefassten Subsysteme, denen wir angehören. Man muss hier also den Begriff der Institution betonen. Nicht alle Institutionen sind jedoch politisch. Eine Institution entsteht, sobald eine Verteilung von Rollen nach bestimmten Regeln stattfindet. An diesem Punkt sind Kollektiv und Individuum eng verbunden. Auf der einen Seite ist die Regel, nach der die Rollen verteilt werden, kollektiv, auf der anderen Seite werden sie von Personen, von Individuen eingenommen. Somit kommt die Wechselseitigkeit zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis im Phänomen der Institution voll zum Tragen. Ich habe den Begriff Subsysteme verwendet, da das Gefüge der Gesellschaft von kohärenten Gebilden strukturiert wird, wie beispielsweise dem Markt, der seinerseits ein technologisches System der Produktion, ein soziales System der Arbeit und ein wirtschaftliches System der Verteilung und Zirkulation von Handelsgütern koordiniert. Über diesem erhebt sich ein Finanzsystem, das gegenüber dem produktiven System immer eigenständiger wird. Auf der anderen Seite haben wir ein Bildungssystem mit seinen Schulen und Universitäten. Dabei handelt es sich um ein genau strukturiertes Subsystem, das mit einer präzisen

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Definition von Aufgaben, Rechten und Pflichten die Rollen zwischen denen, die unterrichten, und denen, die unterrichtet werden, verteilt. Darüber hinaus müsste man das Verwaltungssystem und die Kommunikationssysteme (Zeitungen, Zeitschriften, Medien) berücksichtigen. Weiterhin existiert ein Rechtssystem mit festen Institutionen wie Gerichten, geschriebenen Gesetzen, einem Richterstand, einer streng geregelten Zuweisung des Rederechts an Richter, Anwälte, Geschworene usw. - bis hin zur Verkündung des Richterspruchs in Form des Urteils und schließlich zu den Regeln für die Vollstreckung der Strafe. Man kann sagen, dass jedes Subsystem seine eigene Zeitlichkeit hat, das heißt, seine eigene Art und Weise, die Beziehung zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu organisieren. Ich möchte auf eine sehr präzise Arbeitsweise des Gedächtnisses auf der Ebene der Zivilgesellschaft und ihrer Institutionen aufmerksam machen, nämlich auf das System der Archive. Es handelt sich dabei um ein System zur Verwaltung der Zeit, genauer: der Vergangenheit. Als Archiv bezeichnet man einen Bestand an Dokumenten, die von einer Institution aufbewahrt werden, um die Spur ihrer Aktivität zu bewahren, derart, dass dieser Dokumentenbestand jeder dazu berechtigten Person zugänglich ist. Jede Institution baut ein Archiv ihrer Tätigkeit auf. Nicht alle Archive sind also national oder staatlich. Das Phänomen des Archivs ist ein vollständig institutionelles Phänomen, insofern es auf der Bewahrung der schriftlichen Spuren der Tätigkeit einer gegebenen Institution beruht. In diesem Sinne ist das Archiv eine Institution in der Institution. Durch sie hindurch berühren wir das wichtigste Phänomen auf dieser Ebene der Zivilgesellschaft, die Beziehung des Austausche, die sich vermittels dokumentarischer Spuren zwischen Vergangenheit und Zukunft herstellt. Auf dieser Beziehung des Austausche beruhen die Traditionen. Im allgemeinsten Sinne des Wortes bedeutet Tradition Überlieferung. Sie impliziert, dass die Vergangenheit nicht einfach das ist, was vorübergeht, sondern das, was bleibt, vorausgesetzt, es wird vor der Zerstörung bewahrt, konserviert und strukturiert. Die Tradition im allgemeinen Sinne von Überlieferung ist die Bedingung dafür, dass die Handlungen der Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart den folgenden Generationen weiterhin erzählt werden können. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass die fundamentalste Aufgabe der traditionalen Überlieferung [tradition-transmission] darin besteht, die abwesende Vergangenheit anwesend zu machen, dann können wir sagen, dass der Begriff der Spur eine Grundstruktur jeden Gedächtnisses bildet. Dies gilt bereits für das individuelle Gedächtnis. Wie Piaton im Theaitetos bemerkt, besteht die Aufgabe des Gedächtnisses genau darin, das Abwesende anwesend zu machen. Das ist es, was jede Institution versucht, indem sie ihren Archivbestand bewahrt. Ich möchte noch einen weiteren Begriff hinzufügen, der mit demjenigen der Institution zusammenhängt: Neben den Begriffen der Tradition und des Archivs möchte ich den der Schuld [dette] hervorheben. Ich verstehe Schuld hier nicht im engen Sinn des Schuldig-Geworden-Seins [culpabilité], sondern in dem allgemeineren und grundlegenderen Sinne, dass wir das, was wir sind, denjenigen verdanken, die uns vorausgegangen sind. Dieser Begriff der Schuld hat eine strukturierende Funktion in Hinsicht auf die Konstituierung der Zivilgesellschaft als Wunsch, zusammenzuleben. Denn der Wunsch,

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zusammenzuleben, enthält eine geschichtliche Dimension, durch welche die Prägung der Vergangenheit in das Bewusstsein der Gegenwart aufgenommen und Teil des Selbstverständnisses einer Gesellschaft wird. Ich will diesen zweiten Punkt mit der Bemerkung beschließen, dass es ein wesentlicher Bestandteil unseres ethischen Sinns ist, in gerechten Institutionen leben zu wollen. In dem der Ethik gewidmeten Teil meines Buches Soi-même comme un autre2 siedle ich den Gedanken der Gerechtigkeit auf der grundlegendsten Ebene an, auf der des Wunsches, gut zu leben. Zu dem Wunsch, gut zu leben, gesellt sich die Fürsorge für die mir Nahestehenden und der Gerechtigkeitssinn in Bezug auf alle Verhältnisse der institutionellen Ebene. Geleitet von dem Wunsch, in gerechten Institutionen gut zu leben, wird das kollektive Gedächtnis seinerseits strukturierend für das individuelle Gedächtnis. 3. Wir können nun auf die eigentlich politische Ebene hinüberwechseln. Ich schlage vor, die politische Ebene ihrerseits in zwei unterschiedliche Ebenen zu unterteilen: in die des Staates im eigentlichen Sinne und die des politischen Regimes, oder wenn man so will, der Regierungsform. Diese Unterscheidung ist zentral für die Erörterung der Pflicht zur Erinnerung, die weiter unten folgen wird, denn diese Pflicht ist in Hinsicht auf den Staat keineswegs dieselbe wie in Hinsicht auf das politische Regime. Beschränken wir uns also für einen Moment auf den engen Begriff des Staates. Auf dem augenblicklichen Entwicklungstand der politischen Institutionen überall auf der Welt scheint es unmöglich, die Konfiguration des Nationalstaates zu überwinden. Nichtsdestotrotz ist es möglich, den komplexen Begriff des Nationalstaats durch den Akzent, den man entweder auf die Nation oder den Staat legt, aufzubrechen. Bei der Nation haben wir es mit einem Bereich der Zugehörigkeit zu tun, der eigene Grenzen hat, die auf der Unterscheidung zwischen dem Bürger einer Nation und dem Ausländer beruhen. Es handelt sich dabei um eine Begrenzung der Zugehörigkeitsbeziehung. Was die Ausländer betrifft, so können sie ihrerseits ganz unterschiedliche Stellungen haben. Es kann sich um freiwillige Besucher handeln, um Touristen oder um unfreiwillige Einwanderer, die im Allgemeinen von der Notwendigkeit der Arbeitssuche getrieben sind. Es handelt sich nicht um Bürger der Nation, sondern um Ausländer, die eine bestimmte Anzahl sozialer Rechte genießen, welche sie das Geschick der Bürger der Nation teilen lassen. Man muss diese Zuwanderer, die sich in einer regulären Situation befinden, von den illegalen Einwanderern unterscheiden, die in jedem Land ein schwierig zu lösendes Problem darstellen, insofern kein Staat sich hermetisch abschotten kann wie eine Festung. Schließlich muss man zwei unterschiedliche rechtliche Kategorien hinzufügen, diejenige, in welcher der Erwerb der Staatsbürgerschaft geregelt wird, und diejenige, in welcher die Praxis des Asylrechts geregelt wird. Diese Probleme hat Michael Walzer in dem Membership überschriebenen Kapitel seines Buches Sphe-

2

P. Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris 1990 (dt. Das Selbst als ein Anderer, Greisch in Zusammenarbeit mit T. Bedorf u. B. Schaaff, München 1996).

übers, v. J.

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res of Justice3 meisterhaft behandelt. Dieses Kapitel ist den Regeln gewidmet, welche die Beziehungen zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit festlegen, Regeln, die bis in die heutige Zeit nach dem Prinzip der Souveränität bestimmt werden. Während die Nation durch die Zugehörigkeit zur selben politischen Körperschaft definiert wird, definiert der Staat gleichermaßen die Zusammensetzung seiner Bevölkerung, die räumlichen Grenzen seines Territoriums und das Rechtssystem, das innerhalb dieser Grenzen Geltung hat. Was die staatliche Struktur im eigentlichen Sinne anbetrifft, so halte ich zwei konkurrierende, jedoch zugleich komplementäre Definitionen fest: Jene Definition Max Webers, gemäß derer sich der Staat durch das legitime Gewaltmonopol definiert. In der Tat ist es das erste Merkmal des Staates, dass er den Bürgern die private Ausübung der Gewalt vorenthält und so dem einzelnen verbietet, sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen. Dieses Gewaltmonopol muss seinerseits legitim sein, das heißt, es muss rechtlichen Regeln unterworfen sein, die dem Staat nicht nur Gewalt sondern, wenn man so sagen kann, auch eine Gestalt verleihen, die ihn zum Rechtsstaat macht. Mit dieser ersten verbindet sich die zweite, ebenfalls von Max Weber stammende Definition, nämlich die Hierarchisierung der Rollen zwischen denjenigen, die regieren und denjenigen, die regiert werden. Damit wird ein Prinzip eingeführt, das als Autoritätsprinzip bezeichnet wird. Autorität hat derjenige, der sich auf legitime Weise Gehorsam verschaffen kann. Unter diesen beiden Voraussetzungen ist der Staat grundlegend durch eine Herrschaftsbeziehung, das heißt durch eine Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam, definiert. Den Unterschied zwischen dieser Herrschaftsbeziehung und einer Beziehung der Sklaverei herauszuarbeiten ist Aufgabe der politischen Philosophie. Die gesamte liberale Tradition des Abendlandes ist aus dem Bestreben entstanden, diese Herrschaftsbeziehung vertragsförmig zu machen, das heißt, der vertikalen Beziehung von Befehl und Gehorsam eine horizontale Struktur zu geben. In dem Maße, in dem jede Institution diese vertikale Beziehung zwischen denjenigen, die befehlen und denjenigen, die gehorchen, in sich trägt, strahlt die Herrschaftsbeziehung nach und nach auf alle nicht-politischen Institutionen aus. Ein französischer Philosoph, dem ich viel verdanke, Éric Weil, hat versucht, dieser Herrschaftsbeziehung, die noch eine sehr große Nähe zur Gewalt aufweist, einen anderen Ausdruck zu geben, indem er folgenden Zug an ihr hervorhob: Der Staat, so sagt er, ist die Struktur, durch die eine geschichtliche Gemeinschaft fähig ist, Entscheidungen zu treffen. Es ist weniger der Aspekt des Zwangs und der Hierarchie, der hier betont wird, sondern die Fähigkeit einer geschichtlichen Gemeinschaft, sich auf die Stufe einer moralischen Person zu erheben, die zu einer Willensbildung im Stande ist. Wie bereits Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts festgestellt hat, konkretisiert sich dieser Wille in der Gestalt des Fürsten, dem Zentrum der Entscheidungsgewalt. Man darf die Gestalt des Fürsten nicht als die eines Tyrannen oder eines totalitären Oberhauptes begreifen, sondern als die notwendige Vermittlung zwischen der Macht und ihrer Spitze. Dieser subjektive Aspekt der Macht stellt an sich keineswegs ein Übel dar, sondern erweist 3

M. Walzer, Spheres of Justice, Oxford 1983 (dt. Sphären der Gerechtigkeit, mer, Frankfurt am Main, New York 1992).

übers, v. H. Herkom-

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sich als Bedingung einer guten Verwaltung der grundlegendsten Interessen der Zivilgesellschaft durch den Staat. 4. An dieser Stelle ist es schwierig, zwischen dem Staat als Institution und den politischen Regimes zu unterscheiden. Nichtsdestotrotz ist diese Unterscheidung grundlegend für unsere Frage nach dem Gedächtnis. Denn während die politischen Regimes wechseln, besteht der Staat weiter. Jene Treuepflicht aber, die wir dem Staat gegenüber haben und haben müssen, ist eine andere als die, die wir den einander ablösenden politischen Regimes schulden, unter denen wir im Laufe unseres Daseins leben, insbesondere, wenn es so lang wie das meine ist. Es kommt nicht selten vor, dass während ein und derselben Generation mehrere politische Regimes aufeinander folgen. Es kommt mithin darauf an, sie von der Dauerhaftigkeit des Staates zu unterscheiden, die ein Grundwert der Zivilgesellschaft ist und zusammen mit der Dauerhaftigkeit der ethnolinguistischen Gemeinschaft der Sprache, der Sitten und der Glaubensüberzeugungen den konstitutiven Hintergrund der Nation bildet. Das Problem der politischen Regimes muss von dem des Nationalstaats unterschieden werden. Das zentrale Problem des Nationalstaats ist das seiner Souveränität, die seine Legitimität begründet. Die zentrale Frage in Bezug auf die politischen Regimes ist die der Legalität und ihrer ideologischen Rechtfertigung. Beide Probleme dürfen nicht miteinander vermengt werden. So unanfechtbar die Souveränität und die Legitimität, die sich aus ihr herleitet, sind, so fragwürdig sind die Legalität und ihre ideologische Rechtfertigung. Ein Beispiel aus der jüngsten Erfahrung der Franzosen: Während der Jahre 1940-45 lag die Legalität in Vichy, die Legitimität aber in London. Das Problem der Legitimität besteht darin, zu wissen, wer das moralische Recht hat, etwas zu tun oder nicht zu tun. Auf dieser Ebene verbinden sich Ethik und Politik. Nun haben wir stets die Möglichkeit, die Entscheidungen eines politischen Regimes, das wir als illegitim betrachten, moralisch zu beurteilen. Die Möglichkeit, der gesetzlichen Ordnung eines Staates, der sich mit einem politischen Regime identifiziert, den Gehorsam zu verweigern, ist Bestandteil der ethischen Struktur der Politik. Dieses klassische Problem hat seinen Ursprung in den Überlegungen der mittelalterlichen jurisconsultes und der Renaissance über den Königsmord und den Tyrannenmord, das heißt über das Recht beziehungsweise die Pflicht, den Tyrannen zu töten. Diese Überlegungen schlossen die Möglichkeit ein, über denjenigen, der das Monopol der politischen Gewalt hat, nämlich über den Staat, wie er sich in einem politischen Regime verkörpert, zu urteilen. Das letzte Recht, über ein politisches Regime zu urteilen, liegt bei uns. Insofern für die meisten von uns gilt, dass wir gewissermaßen von Geburt an ein Teil unserer nationalen Gemeinschaft sind, können wir aus dieser zwar nicht heraustreten, doch können wir gegenüber der Nation eine gewisse Distanz einnehmen. Wir können gleichermaßen gegenüber dem Staat und dem Prinzip der Souveränität eine gewisse Distanz einnehmen und mit noch größerem Recht gegenüber den politischen Regimes und den ideologischen Rechtfertigungssystemen, auf denen sie ihre Legalität gründen. Es ist die Aufgabe des aktiven Bürgers, gegenüber dem Amalgam, das sich aus nationaler Zugehörigkeit, staatlicher Souveränität und ideologischer Rechtfertigung des politischen Regimes bildet, dieses politische Bewusstsein zu entfalten. Die heute in Eu-

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ropa vorherrschende Regierungsform ist die repräsentative Demokratie, die auf Wahlen (ein Mensch, eine Stimme) und der Delegierung der Macht an eine politische Klasse beruht. Im Hinblick auf diese Regierungsform darf die Wachsamkeit nicht geringer sein. Sie muss sich besonders intensiv auf die Behandlung ethnischer, kultureller und religiöser Minderheiten richten. Diese Behandlung stellt einen der wichtigsten Prüfsteine für die demokratische Qualität einer Regierungsform dar.

2. Ich möchte meine abschließenden Bemerkungen der Pflicht zur Erinnerung widmen, insofern sie mit der Hierarchisierung der Zugehörigkeitsebenen - geschichtliche Gemeinschaft, Zivilgesellschaft, souveräner Staat, politisches Regime auf ideologischer Grundlage - verknüpft ist. Denn das, was wir im Allgemeinen kollektives Gedächtnis nennen, ist entlang dieser Ebenen der Zugehörigkeit strukturiert. Entsprechend den Ebenen der Zugehörigkeit stehen wir in unterschiedlichen Schuldverhältnissen und haben dementsprechend unterschiedliche Verpflichtungen. Auf der Ebene der Sprachgemeinschaft, der Glaubensüberzeugungen, der Sitten, der Tradition stehen wir in einer absoluten Schuld. Wir sind Teil der Gemeinschaft. Hier besteht eine vollständige Reziprozität zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Unsere Erinnerungen decken sich mit denen der Gruppe, der wir zugehören. Unsere Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber den konstitutiven Erzählungen unserer Zugehörigkeitssphären wächst in dem Maße, wie wir auf die Ebene der Systeme der Zivilgesellschaft, der politischen Struktur des Nationalstaates und der ideologischen Rechtfertigung politischer oder totalitärer Regime aufsteigen. Auf dieser letzten Ebene zeigt sich die außerordentliche Fragilität und Verletzlichkeit des Gedächtnisses. Diese Fragilität ist dem gewöhnlichen Gedächtnis, demjenigen des täglichen Lebens und Gesprächs, inhärent. Denn das Gedächtnis beruht allein auf dem persönlichen Zeugnis für die Anwesenheit des Abwesenden, genauer gesagt des Abwesenden als etwas, das zuvor existiert hat. Nun ist die Einbildungskraft ebenfalls eine Repräsentation des Abwesenden als anwesend, jedoch eines irrealen Abwesenden. Das Abwesende als Vergangenes kann sich immer mit dem Abwesenden als Irrealem vermischen. Dann entsteht das Phantasma. Auf diese angeborene Schwäche des Gedächtnisses setzen die Ideologien, derer man sich bedient, um politische Unrechtsregimes zu rechtfertigen. Sie machen sich die Tatsache zu nutze, dass das Gedächtnis keine starre Funktion ist, sondern eine Aktivität, die manipuliert werden kann. Das Gedächtnis besteht nicht nur aus einer Affektion durch eine abwesende Präsenz, sondern ebenso aus einer Aktivität, die ausgeübt wird, und deren Dynamik fehlgeleitet, durch Schmeichelei oder Zwang beeinflusst, kurz: manipuliert werden kann. Diese Fehlleitung des Gedächtnisses lässt sich auf einem elementaren pathologischen Niveau in Form jener Kräfte der Verdrängung beobachten, die das Entstehen der Erinnerung verhindern und Phantasmen den Weg bereiten, die sich an die Stelle des wirklichen Erinnerns setzen. Der Ursprung

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eines manipulierten Gedächtnisses liegt mithin in einem kranken Gedächtnis. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt4 auf diesen Aspekt des kranken Gedächtnisses zurückkommen, der von Freud in seinen beiden Aufsätzen „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten"5 und „Trauer und Melancholie"6 meisterhaft behandelt wurde. Ich beschränke mich an dieser Stelle darauf, die Schlussfolgerungen dieser beiden Aufsätze miteinander zu verknüpfen, deren einer die Rolle der „Erinnerungsarbeit" hervorhebt, die dem Wiederholungszwang entgegengestellt wird, während der andere die Rolle der „Trauerarbeit" betont, die der Melancholie entgegengesetzt wird, die sich nicht auf eine schreckliche Geisteskrankheit depressiven Typs beschränken lässt, sondern in Form einer Neigung zur Traurigkeit in das als gesund geltende Bewusstsein eindringen kann. Dieser ganze fragile Unterbau bietet jenen ideologischen Manipulationen einen Angriffspunkt, die wir bei der Ausübung von Herrschaft durch Staaten, die sich mit perversen politischen Regimes identifizieren, am Werk sehen. Die Ideologie bemächtigt sich des Gedächtnisses mithilfe der engen Verbindung zwischen dem Gedächtnis und dem Bewusstsein der Identität. Man kann sagen, dass zu der ursprünglichen Fragilität des von Phantasmen bedrängten Gedächtnisses die Verletzlichkeit kommt, welche aus der Verbindung zwischen Gedächtnis und Identität rührt. Die Ideologie bringt uns die scheinbare Festigkeit einer kohärenten Weltsicht, unter deren Schutz sich unsere Identität in Sicherheit fühlt und die unserem Gedächtnis vermittels vorgefertigter Erzählungen und aufgezwungenem Gedenken eine vermeintliche Struktur gibt. Der Hitlerismus und der Stalinismus haben sich als virtuose Manipulatoren des Gedächtnisses erwiesen. Gegen diese beiden Arten der Fragilität, deren eine mit der Macht der Phantasmen, deren andere mit der Macht der ideologischen Manipulation zusammenhängt wobei beide Arten von Verletzlichkeit sich leicht gegenseitig verstärken - richtet sich der kritische Gebrauch des Gedächtnisses. Dieser besteht gleichermaßen in der Erinnerungsarbeit, die mit der Trauerarbeit, von der Freud spricht, verknüpft ist und in der Arbeit der Identität, die sich gegen die Kraft der Ideologie richtet. In meinem Buch La critique et la conviction7 arbeite ich heraus, bis zu welchem Punkt wir zugleich Wesen der Zugehörigkeit und Wesen der Distanz sind. Die Ebenen der Hierarchisierung der sozialen Bindung haben uns die Stufen der Zugehörigkeit und damit auch die Orte der Überzeugung abschreiten lassen. Anhand der verschiedenen Ausprägungen der Fragilität und Verletzlichkeit des Gedächtnisses haben wir die Ansatzpunkte eines kritischen Gedächtnisses entdeckt und damit auch die Orte der Distanznahme.

4 5 6 7

Ricœur verweist hier auf eine nachfolgende Vorlesung. In: S. Freud, Gesammelte Werke Bd. 10, Frankfurt am Main 4 1974, S. 126-136. Ebd., S. 428^146. P. Ricœur, La critique et la conviction. Entretiens avec François Azouvi et Marc de Launay, Paris 1995.

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Die Pflicht zur Erinnerung schließt mithin alle Ausprägungen der Erinnerungsarbeit, der Trauerarbeit und der antiideologischen Arbeit des kritischen Gedächtnisses ein. Ohne diese drei Ressourcen, mit deren Hilfe wir uns der Fragilität und Verletzlichkeit des Gedächtnisses stellen, läuft die Pflicht zur Erinnerung Gefahr, in die ideologische Manipulation durch autoritäre Erzählungen und aufgezwungenes Gedenken zurückzufallen. Die Pflicht zur Erinnerung sagt einfach: Du sollst dich erinnern!, mit anderen Worten: Du fährst fort zu erzählen. Diese Pflicht zur Erinnerung wird auf der Ebene der Aufeinanderfolge der Generationen ausgeübt, auf jener Ebene, auf der das Gedächtnis an die Geschichte grenzt. Wieder und immer noch zu erzählen, heißt nicht, den Hass, den Ruhm oder die Demütigung zu pflegen. Es heißt, die Vergangenheit zu bewahren, im Sinne einer Offenheit für gerechte Institutionen, nach denen zu verlangen ein integraler Bestandteil unseres Wunsches ist, gut zu leben.

B U R K H A R D LIEBSCH

Register einer kritischen Erinnerungskultur: Gedächtnis, Geschichte und Vergessen

1.

Vom Gedächtnis zur Geschichte - und zurück?

Jahrhunderte lang hat sich die Geschichte auf die Wahrnehmung von Augen- und Ohren-Zeugen berufen, die Berichtetes zu bestätigen und zu beglaubigen wussten. Vor dem geschichtlichen Wissen, das die ersten Historiker in Erzählungen fassten, lag allemal das selbst Gesehene und Gehörte, also die Wahrnehmung, für die Zeugen mit ihrem Gedächtnis einstanden. So wenig ein komplexes Geschehen wie der Peloponnesische Krieg zureichend allein mit Hilfe berichteter Erfahrung von Augen- und Ohrenzeugen zu beschreiben und zu verstehen war, so unverzichtbar erschien schon Thukydides die Autorisierung seiner Geschichte dieses Ereignisses unter Rekurs auf das Zeugnis derer, die dabei gewesen waren. Am Beginn der Geschichte steht allemal die Bezeugung des Erinnerten. Das mag unbefriedigend sein, wenn man bedenkt, als wie wenig verlässlich sich Zeugenaussagen oftmals erweisen und wie sehr sie sich nicht selten widersprechen. Doch wir verfügen tatsächlich zunächst über nichts Besseres, um in Erfahrung zu bringen, was in der Vergangenheit geschehen ist.1 Der Versuch, Vergangenes als Geschichte darzustellen, muss sich unumgänglich in erster Instanz auf das Zeugnis und auf das Gedächtnis stützen. Und nur am Bezeugten, das im Gedächtnis bleibt, lässt sich erkennen, warum der Versuch, Geschichte zu erzählen und zu schreiben, kein bloßes Spiel, kein Selbstzweck ist, denn er ist ganz und gar von dem her zu verstehen, was danach verlangt, bezeugt zu werden. Letzteres manifestiert sich im positiven Erstaunen, aber auch im abgrundtiefen Erschrecken, im anhaltenden Schmerz, der sich dem Gedächtnis einbrennt, und in namenloser Trauer angesichts äußersten Verlusts. Inzwischen liegt freilich das Staunen ebenso wie der Schrecken, der Schmerz und die Trauer scheinbar weit hinter einer Geschichte zurück, die sich als wissenschaftliche Disziplin einer - Objektivität genannten - Ernüchterung verschreibt, welche nur selten 1

Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1966, S. 54f.

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BURKHARD LIEBSCH

noch eine Spur dessen verrät, von woher eigentlich der Anstoß rührt, Vergangenes nicht nur im Gedächtnis zu behalten, sondern auch als Geschichte zu begreifen. Ironischerweise hat gerade ein Autor, der Nietzsches Hinweise auf den inneren Zusammenhang von Schmerz und Gedächtnis vor Augen hatte, alles getan, um die Geschichte rigoros vom Gedächtnis - und damit von ihrem eigenen genealogischen Nährboden - abzutrennen. Gemeint ist Michel Foucault. Nichts lag ihm ferner, als etwa wie Philippe Ariès melancholisch dem Staunen als verlorener Quelle historischen Wissens nachzutrauern.2 Und so sehr er sich auch als Genealoge auf den Spuren Nietzsches verstand, einem emphatisch behaupteten Primat des „pathologisch", etwa vom Schmerz herausgeforderten Gedächtnisses vor der Geschichte wiedersetzte er sich ganz und gar. Unnachsichtig bestand er auf der epistemologischen Autonomie des historischen Diskurses, der dem Zeugnis und dem Gedächtnis nichts mehr verdanken sollte. Nietzsche wurde von Foucault vor allem als Zerstörer eines Gedächtnisses rezipiert, in dem man sich wiederzufinden hofft, der überwältigenden Alterität des Vergangenen zum Trotz. Entschlossen wollte Foucault das Zeugnis, das oft genug nur in einem stammelnden Sagen sich äußert, mitsamt der Hermeneutik, die ihm zur Geltung zu verhelfen trachtete, überwinden, um nur noch die schiere „Positivität" des Gesagten bzw. der in den Archiven zu findenden „Aussagen" zur Kenntnis zu nehmen.3 Geschichte wird für Foucault „mit geschlossenen Augen" konstruiert, wie man in Anlehnung an Gaston Bachelard4 sagen könnte, dessen von der Wissenschaftsgeschichte der Physik her begründete Rede von einem unumgänglichen „epistemologischen Bruch" mit der Welt der Wahrnehmung Foucault allemal einleuchtender fand als die phänomenologische Behauptung einer Fundierung jeder Episteme in der Doxa leibhaftigen Wohnens in der Welt, die zunächst den Sinnen erschlossen ist, bevor man sie unter rationalen Gesichtspunkten denkt und neu konstruiert.5 Der Bruch, den Foucault in der Archäologie des Wissens mit der Welt der Wahrnehmung, des Zeugnisses und des Gedächtnisses zu vollziehen gedachte, schien aus2

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Vgl. P. Ariès, Zeit und Geschichte, Frankfurt am Main 1988, S. 208, 248f. und M. Foucault, Schriften in vier Bänden. Bd. IV, 1980-1988, Frankfurt am Main 2005, S. 797ff. Von Foucaults späterer Anlehnung an den Begriff der Hermeneutik in seinen Vorlesungen am Collège de France sehe ich hier ab. Vgl. G. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt am Main 1987, S. 55; J. LeGoff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main, New York 1992, S. 152. Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, dass jene Rede von einem epistemologischen Bruch sehr Verschiedenes bedeuten kann: einen Bruch innerhalb der Wissenschaftsgeschichte, aber auch eine Abwendung vom unkritischen Wahrnehmen und Denken hin zu einer konstruktiven wissenschaftlichen Rationalität, die am Ende der Wahrnehmung nichts mehr verdankt, wenn man Bachelard folgt. Einen solchen Bruch kann man wiederum zwischen der Vorgeschichte einer Disziplin und ihrer eigentlichen, „epistemologischen Geschichte" situieren wie auch in der Ontogenese wissenschaftlichen Denkens und in der eigentlichen Sinnkonstitution einer Wissenschaft als Wissenschaft. Letztere ist für Ricoeur entscheidend, wenn er sich besonders in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004 (= GGV), an die Rede von einem epistemologischen Bruch anlehnt.

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zuschließen, dass eine derart von jedem naiven Vergangenheitsbezug „emanzipierte" Wissenschaft jemals wieder auf diese Welt zurückkommen könnte. Die in der Geschichte aufzulesenden „Aussagen" galten ihm nicht mehr im traditionellen Sinne als Quellen, die auf die vorgängige geschichtliche Erfahrung handelnder und leidender Subjekte zurückverweisen6, sondern als ereignishafte Vorkommnisse in diskursiven Räumen, deren Topografie Foucault zu erkunden gedachte.7 Als diskursiven Ereignissen kommt ihnen bei Foucault keine Gedächtnisfunktion zu.8 Und als solche verraten sie keine Spur eines vom Erschrecken, vom Schmerz oder von anhaltender Trauer herausgeforderten Gedächtnisses mehr. Würde eine Rückbindung der Geschichte ans Gedächtnis nicht die von Foucault wenig geschätzte Frage, wer wir sind im Lichte befremdlicher Vergangenheit, wieder ins Spiel treten lassen?9 Nichts, so glaubt Foucault, hat einem unvoreingenommenen Verhältnis zur Vergangenheit derart im Wege gestanden wie die Vorherrschaft der Sorge um eigene Identität. Man wollte immerfort sich selbst wiederßnden im Vergangenen, möglichst im „Ursprung", von dem her die Geschichte unter dieser Maßgabe den Weg zu sich selbst als ungebrochene Herkunft zu beschreiben hätte, wie Foucault glaubt. Dabei herrsche in der Geschichte in Wahrheit nichts als die „Unstimmigkeit des Anderen", eine abgründige Kontingenz und Divergenz von Myriaden „verlorener Ereignisse".10 Zwar prägen sich vor allem schmerzhafte Ereignisse allemal einem Leib ein, schreibt Foucault in seinem Essay Nietzsche, die Genealogie, die Historie, doch fordere das nicht zu einer Philosophie des Gedächtnisses heraus, wie man als Leser der Unzeitgemäßen Betrachtungen Nietzsches meinen könnte. Im Gegenteil gehe es darum, „die Historie für immer vom - zugleich metaphysischen und anthropologischen Modell des Gedächtnisses zu befreien".11 So verabschiedet Foucault Identität und Gedächtnis in einem Zug, weil er sich offenbar kein Gedächtnis, nicht einmal ein trauerndes Gedächtnis unaufhebbaren und durch nichts mehr zu tilgenden Verlusts vorstellen kann, dessen sich nicht eine nachträgliche

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7 8 9

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11

Differenziert zum Erfahrungsbegriff bei Foucault, der hier nicht zu entfalten ist, vgl. G. Unterthurner, Foucaults Archäologie und Kritik der Erfahrung, Wien 2007. Die Denkmöglichkeit „menschlicher" Erfahrung „nach" (und ggf. mit) Foucault wäre im Hinblick auf Ricœurs Anthropologie neu auszuloten. M. Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, S. 41. Ebd., S. 15. Foucaults spätere „Hermeneutik des Subjekts" zeigt sich weitgehend auf die Frage, was wir sind, fixiert; vgl. v. Verf., „Das menschliche Selbst in Geschichte und Gegenwart. Eine Bilanz der .Hermeneutik' Michel Foucaults", in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2, Nr. 1 (2008), S. 113135. Die Foucaultsche Rede von „tausend kleinen Ursachen" bzw. Ereignissen, deren nur nachträglich herstellbare Kohärenz von keinem Prinzip mehr beherrscht scheint, findet sich schon bei F. Grillparzer, „Drama und Geschichte", in: W. Killy (Hg.), Zeichen der Zeit, Bd. 3, 1832-1880, Frankfurt am Main 1959, S. 233f. Vgl. M. Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1987, S. 69-90, hier: S. 85.

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Identitätsbehauptung bemächtigen würde. Jede Behauptung eigener Identität muss offenbar in Foucaults Augen darauf hinauslaufen, jegliche radikale Alterität zu leugnen.12 Der Gegenprobe, ob sich nicht Gedächtnis und Geschichte, gerade wenn sie von namenloser Trauer gezeichnet sind, einer unaufhebbaren Fremdheit im Gegenwartsbezug aussetzen, hat Foucault sich nicht gestellt.13 Gegen eine radikale Ablösung der Geschichte (als Wissenschaft) vom Gedächtnis, die scheinbar auch keine Wiederannäherung beider mehr gestattet, ist immer wieder protestiert worden, insofern sie Gedächtnis und Geschichte um ihren eigentlichen Sinn bringe. Für Pierre Nora liegt der Sinn von Gedächtnis und Geschichte gerade in der Tilgung ihres Unterschieds umwillen unbedingt zu wahrender kollektiver Identität. Dagegen insistiert Jan Assmann einerseits auf der nicht mehr aufzuhebenden Trennung von Gedächtnis und Geschichte, plädiert andererseits aber dafür, das Gedächtnis der Geschichte vorzuordnen und die Geschichte als abgeleitete Funktion eines kulturellen Gedächtnisses aufzufassen. Paul Ricoeur dagegen widersetzt sich einer solchen Funktionalisierung der Geschichte. Einerseits fundiert er zwar die Geschichte im Gedächtnis, andererseits möchte er aber die epistemologische Eigenständigkeit der Geschichte gewahrt sehen, ohne ihr indessen die Forderung zu ersparen, auf das Gedächtnis wieder zurückzukommen-, und zwar in einer Weise, der nur eine Philosophie der menschlichen, zwischen Gedächtnis und Geschichte dialektisch situierten conditio histórica angemessen Rechnung tragen könne. Ohne im Geringsten das Erfordernis eines epistemologischen Bruchs zwischen Gedächtnis und Geschichte herunterzuspielen, insistiert Ricoeur doch auf einem sinngenetischen und teleologischen Riickbezug der Geschichte auf das Gedächtnis. Wozu man Geschichte letztlich betreibt, ist demnach nicht ihr selbst, sondern der gelebten Geschichtlichkeit Sterblicher zu entnehmen, die die ihnen immerfort sich entziehende und sie zum Untergang verurteilende Zeit sowie die Gewalt Anderer als die zentralen Brennpunkte der Herausforderung zu geschichtlicher Deutung verzeitlichten und durch Andere verwundbaren Lebens erfahren. Nur in diesem Ansatz, Gedächtnis und Geschichte zusammen zu denken, kommt auch die Trauer als unverfügbare Herausforderung von Gedächtnis und Geschichte ausdrücklich zu Wort. Dabei ist die Trauer im Gedächtnis bzw. das Gedächtnis der Trauer deutlich zu unterscheiden von der lavierten, sublimierten Trauerarbeit, die selbst die nüchternste Geschichtswissenschaft noch vollzieht, wenn es stimmt, dass sie vergangenem Leben in den Archiven gleichsam ein Grab schaufelt, um es endlich ganz und gar Vergangenheit sein zu lassen (vgl. GGV, S. 767).

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13

Vgl. die genauere Konfrontation von Ricoeur und Foucault ν. Verf., „Menschen: Reste, Zeugnisse und Spuren. Ricoeur mit und gegen Foucault gelesen", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, i. V. Vgl. v. Verf., „Fremdheit im Gegenwartsbezug. Praktische und geschichtstheoretische Dimensionen einer Geschichte der Gewalt im Ausgang von Paul Veyne", in: N. Ließner, R. Breuninger (Hg.), Zur Sprache gebracht. Philosophische Facetten. FS f . P. Novak, Ulm 2005, S. 149-180.

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Eine derartige, wissenschaftlich disziplinierte Form der Bestattung kann freilich nicht ausschließen, dass die Trauer wieder aufbricht, wenn die Geschichte im Medium der conditio histórica auf das Gedächtnis zurück kommt. Während das Gedächtnis vielfach auf eigenes Unglück fixiert bleibt und die Trauernden vereinzelt, ruft die Geschichte in Erinnerung, was man Anderen, überwiegend Namenlosen angetan hat, und öffnet das Gedächtnis für die exzessiven Verluste, die sie erlitten haben. Das zeigt sich etwa an der Aufklärung über die Zivilisationswüste, die die deutsche Armee bei ihrem Rückzug nach dem Desaster von Stalingrad in den osteuropäischen Ländern hinterlassen hat. Während das kollektive Gedächtnis in diesem Fall durch das anhaltende, verstockte Schweigen der Kriegsheimkehrer Jahrzehnte lang blockiert war, hat die Geschichte endlich über die Konsequenzen ihres Tuns aufgeklärt, mit der Folge, dass sich nun auch die Trauer der nachwachsenden Generationen nicht mehr bevormunden lässt von einem nur den „eigenen" Toten verpflichteten Gedächtnis. Statt die Möglichkeit genuiner Trauer in diesem Falle in Abrede zu stellen (da man, angeblich, um fremde Tote und um das, was Fremde an ihnen verloren haben, nicht trauern kann), hätte man hier allen Grund, das Phänomen der Trauer um Fremde Ernst zu nehmen und auf seine zukunftsweisende, die übliche Fixierung auf Eigengeschichte definitiv transzendierende Bedeutung hin zu befragen. In jedem Fall darf aber für Ricoeur die Trauer nicht das letzte Wort haben. Sie soll im Zuge einer Arbeit am Schmerz, den verlorene Zeit wie auch gewaltsam erlittener Verlust bereiten, schließlich überwunden werden umwillen einer letztlich „glücklichen" Aufliebung von Gedächtnis und Geschichte im Vergessen. Nachdem ich zunächst Pierre Noras (2.) und Jan Assmanns (3.) Theorien des Gedächtnisses zu Wort kommen lassen habe, möchte ich im Folgenden (4.) diesen Ansatz Ricceurs mit Blick auf aktuelle Probleme einer kritischen Erinnerungskultur und -politik zur Diskussion stellen.

2.

Pierre Noras Apologie einer Gedächtnis-Geschichte

Der Diskurs über das kollektive Gedächtnis setzte vor allem mit Maurice Halbwachs zu einer Zeit ein, als das Phänomen einer mehr oder weniger selbstverständlichen Kontinuierung kollektiver Vergangenheit infolge einer durchgreifenden Temporalisierung der modernen Lebensverhältnisse längst fragwürdig geworden war.14 Ist nicht heute nur deshalb so viel vom kollektiven Gedächtnis die Rede, „weil es keines mehr gibt", fragt Pierre Nora nicht nur rhetorisch.15 Der Diskurs über das kollektive Gedächtnis knüpft in der Tat an die Erfahrung an, dass mündliche und schriftliche 14

Vgl. R. Wendorff, Zeit und Kultur, Opladen 1980; A. Cavalli, „Die Rolle des Gedächtnisses in der Moderne", in: A. Assmann, D. Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und als Monument, Frankfurt am Main 1991, S. 200-210; N. Luhmann, „Weltzeit und Systemgeschichte", in: H. M. Baumgartner, J. Rüsen (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie, Frankfurt am Main 1976, S. 337387; R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt am Main 1979; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000.

15

P. Nora, Zwischen Gedächtnis

und Geschichte, Berlin 1990 (=ZGG).

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Überlieferungsprozesse besonders seit dem 18. Jahrhundert unter den Druck beschleunigten gesellschaftlichen Wandels geraten sind, der es weniger denn je gestattete, die Lebenserfahrungen der Generationen auf gleiche Lebenslagen zu beziehen. Dieses Auseinandertreten von Lebenserfahrungen und Lebenslagen reflektiert der wesentlich auf Karl Mannheim zurückgehende kulturwissenschaftliche Begriff der Generation.16 Ricœur stützt sich auf diesen Begriff und verbindet ihn mit den bekannten Thesen Kosellecks zur Verzeitlichung der Geschichte einerseits und mit der Phänomenologie der Lebenswelt andererseits so, dass sich im Hinblick auf das kollektive Gedächtnis ein brisanter Befund abzeichnet: In der Moderne wird scheinbar die Lebenswelt mit ihren zuvor über Generationen hinweg traditional stabilisierten Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten selbst kontingent.17 Damit stellt sich die Frage, wie ein kollektives Gedächtnis unter diesen Voraussetzungen noch möglich ist. Erfasst die Temporalisierung die Welt selbst, so dass diese als in ständiger, unvorhergesehener Veränderung erfahren wird, muss dann nicht ein kollektives Gedächtnis seine Funktion mehr und mehr einbüßen, eine Generationen übergreifende Stabilität kollektiver Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte und infolge dessen kulturelle Dauer zu verbürgen? Schreiten Prozesse wie die soziale Differenzierung und Individualisierung (Simmel) so weit voran, dass dauerhafte kollektive Strukturen des Gedächtnisses sich nicht mehr ausbilden können? Kann überhaupt noch ein Zusammenschluss kollektiver Erfahrungen im Sinne der Zeitgenossenschaft einer Generation stattfinden, auf die die Rede von einem durch kollektives Gedächtnis vergegenwärtigten Erfahrungsraum sinnvoll zu beziehen wäre?18 Ungeachtet dieser Fragen plädiert Nora unumwunden für eine Rehabilitierung des kollektiven Gedächtnisses. Machen die genannten Prozesse nicht die Gewährleistung einer generationenübergreifenden Kontinuität nur um so dringlicher? Wenn das kollektive Gedächtnis mehr oder weniger ausfällt und Geschichte an seine Stelle tritt, büßt man dann nicht jedes Wissen darum ein, wer man eigentlich ist? Foucault zum Trotz muss es für Nora vor allem darauf ankommen: sich vermittels eines geschichtlich tragfähigen Gedächtnisses in der Kontinuität einer alle geschichtlichen Anfechtungen überlebenden Entität zu situieren. Nora glaubt sich in dieser Hinsicht mit Maurice Halbwachs einig.

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17

18

Vgl. K. Mannheim, „Das Problem der Generationen", in: Wissenssoziologie, Berlin, Neuwied 1964, S. 509-565. Vgl. A. Schütz, T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt am Main 1979, S. 98fF.; Bd. 2, Frankfurt am Main 1984, S. 151ff. Von kulturwissenschaftlicher Seite wird mit Recht (im Anschluss an Halbwachs) auf eine Vielzahl, z.T. einander überschneidender und auch widerstreitender Rahmen von Gedächtnissen hingewiesen. Infolge dessen wird es zunehmend unplausibel, von einer eindeutigen Zuordnung von Generation und Gedächtnis auszugehen. Das kollektive Gedächtnis gibt es nicht. Trotz der Karriere des Begriffs haben wir es hier mit einem empirisch nahezu ungreifbaren Gegenstand zu tun; vgl. H. Weinrich, „Privates und öffentliches Vergessen", in: ZiF-Mitteilungen 1 (1998), S. 820, hier: S. 13, 15.

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Kollektives Gedächtnis, so wie es Halbwachs verstand, steht und fällt mit der gelebten Zugehörigkeit zur Geschichte derer, die es tragen. Es ging Halbwachs nicht um eine ontologisierte Realität „sui generis" im Sinne Emile Dürkheims, sondern zunächst nur darum, wie und an was man sich erinnert aufgrund der Zugehörigkeit zum Leben anderer.19 Zerbricht die Traditionalität des gelebten Gedächtnisses, so kann nur noch die erzählbare, auf epistemischem Wege und schriftlich gesicherte Geschichte einen Bezug zu „gemeinsamer" Vergangenheit herstellen, glaubt Halbwachs. Das Bedürfnis, Vergangenes eigens geschichtlich zu vergegenwärtigen, erwacht demnach überhaupt erst dann, wenn das gelebte, das Zusammenleben der Menschen selbst tragende kollektive Gedächtnis entscheidend geschwächt wird. In Wahrheit könne aber keine Geschichte das Gedächtnis in seiner wichtigsten Funktion, nämlich darin ersetzen, dem Zusammenleben Kontinuität zu sichern. Geschichte als Diskurs ist für Halbwachs (wie auch für Nora) kein taugliches Surrogat für ein gemeinsames Gedächtnis, das Gemeinschaft stifte und seinerseits von gelebter Gemeinschaft getragen werde. Halbwachs begründet seine Theorie des kollektiven Gedächtnisses im Zeichen eines bereits Wirklichkeit gewordenen, unüberwindlich scheinenden Missverhältnisses zwischen einem kollektiven Gedächtnis, das durch das aktuelle Zusammenleben der Menschen gebildet, getragen und kontinuiert wird, einerseits und einem nur mehr epistemischen Vergangenheitsbezug andererseits, wie ihn der historische Diskurs voraussetzt. Der historische Diskurs, die Geschichte, unterstellt Halbwachs, kann nichts daran ändern, dass eine Vielzahl regionaler Zugehörigkeiten zu relativ abgegrenzten Lebensformen, deren Identität nicht ohne ein tragfähiges kollektives Gedächtnis scheint garantiert werden zu können, früher oder später dem Untergang geweiht ist. Der historische Diskurs muss diesen Untergang in dem Maße besiegeln, wie das historische Wissen als eine das spontane kollektive Gedächtnis delegitimierende, ja es geradezu zerstörende Kritik begründet wird. Pierre Nora spricht deshalb polemisch vom Ende der Gedächtnisgeschichte. Die ehemals integrale Verknüpfung von Gedächtnis und Geschichte hat sich dieser These zufolge aufgelöst. Diese Auflösung ist die historische Ausgangssituation, in die sich der Diskurs über das kollektive Gedächtnis einschreibt. Am Ende der „Gedächtnisgeschichte" beginnt der Diskurs über das kollektive Gedächtnis als ein bereits brüchig gewordenes Phänomen, das mit geschriebener Geschichte kaum mehr verbunden zu sein scheint. Die Temporalisierung der modernen Lebensverhältnisse, so Noras These, „hat uns den ganzen Abstand vor Augen geführt zwischen dem echten, sozialen und unberührten Gedächtnis, dessen Modell die sogenannten primitiven oder archaischen Gesellschaften repräsentierten und dessen Geheimnis sie mit sich fortgenommen haben, und der Geschichte, die eben das ist, was unsere Gesellschaften zum Vergessen verurteilt, weil die Veränderung sie fortreißt [...]." Nora meint den Abstand zwischen einem 19

Vgl. M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt am Main 1991, S. 10; ders., Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 1985, S. 239; J. Assmann, „Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit", in: K. Platt, M. Dabag (Hg.), Generation und Gedächtnis, Opladen 1995, S. 51-75.

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„eingebundenen, gebieterischen und seiner selbst nicht bewußten Gedächtnis, das Ordnung schaffend und allmächtig ist, [...] das ewig die Überlieferung besorgte - und unserem Gedächtnis, das bloß Geschichte ist, bloß Spur und Sparte [...]. Diese Zerrüttung des Gedächtnisses unter dem erdrückenden und entwurzelnden Zugriff der Geschichte bewirkt gleichsam eine Enthüllung. Sie bedeutet das Zerbrechen einer sehr alten Identitätsbeziehung, das Ende der Gleichsetzung von Geschichte und Gedächtnis."20 Pierre Nora beklagt dieses Zerbrechen, weil er offenbar auf eine Renationalisierung des kollektiven Gedächtnisses hofft, der er zuzutrauen scheint, einer Liquidierung der Gedächtnis-Geschichte zwischen einer Privatisierung des Erinnerns einerseits und einer Epistemologisierung des historischen Wissens andererseits entgegenzuwirken. Nora spricht mit fragwürdig rückwärts gewandter Emphase vom „Ende der Gedächtnisgesellschaften, all jener Institutionen, die die Bewahrung und Weitergabe der Werte sicherten, Kirche oder Schule, Familie oder Staat", und vom - vorläufigen, in Noras Sicht aber vielleicht doch nicht irreversiblen - Ende der „Gedächtnisideologien, die den geregelten Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft gewährleisteten". Das kollektive Gedächtnis, als geschichtliche, gelebte Bindung an eine Gemeinschaft oder Gesellschaft, verkümmere, und die Repräsentation des Vergangenen vermittels des historischen Wissens trete an deren Stelle. Pierre Nora arbeitet nicht, wie die Hermeneutik im Falle Gadamers oder Ricœurs, an einer Auflösung eines bloß abstrakten Gegensatzes zwischen gelebter Geschichte und geschichtlichem Wissen.21 Im Gegenteil tut er alles, um diesen Gegensatz als einen möglichst tiefen erscheinen zu lassen. „Das Gedächtnis ist das Leben: stets wird es von lebendigen Gruppen getragen und ist deshalb ständig in Entwicklung, der Dialektik des Erinnerung und des Vergessens offen, es weiß nicht um die Abfolge seiner Deformationen, ist für alle möglichen Verwendungen und Manipulationen anfällig [...]. Die Geschichte ist die stets problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr ist. Das Gedächtnis ist ein stets aktuelles Phänomen [···], die Geschichte eine Repräsentation der Vergangenheit [...]. Die Geschichte fordert, da sie eine intellektuelle, verweltlichende Operation ist, Analyse und kritische Argumentation. Das Gedächtnis rückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung. Das Gedächtnis entwächst einer Gruppe, deren Zusammenhalt es stiftet - was darauf hinausläuft, mit Halbwachs zu sagen, daß es so viele Gedächtnisse gibt wie es Gruppen von Menschen gibt [...]· Die Geschichte dagegen gehört allen und niemandem; so ist sie zum Universalen berufen" (ZGG, S. 12f.). Die Geschichte kritisiert und läutert das kryptische Wissen, das im gelebten Gedächtnis enthalten sein mag, und sie delegitimiert im Zuge einer endgültigen Desakralisierung die gelebte Vergangenheit. Selbst dort, wo man lokale Geschichte und genealogische Forschung betreibt, arbeitet man nach Noras Ansicht keineswegs diesem scheinbar irreversiblen Trend entgegen, sondern verschärft ihn noch. Und in der 20

21

Vgl. P. Nora, ZGG, S. 12ff., sowie R. Terdiman, Present Past. Modernity and the Memory Crisis, Ithaca, London 1993. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 362 (=ZE ΠΙ).

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Geschichte der Geschichtsschreibung selbst glaubt Nora nur eine „interne Subversion einer Geschichte als Gedächtnisarbeit durch eine Geschichte als Kritik" erkennen zu können. Im Prozess einer epistemologischen Reinigung wird das kollektive Gedächtnis unnachsichtiger Kritik unterzogen, so dass die Kraft, die es der Überlieferung verleihen könnte, mehr und mehr erlahmt. „An eine Tradition, so altehrwürdig sie auch sein mag, Fragen zu stellen, heißt, sich nicht mehr ausschließlich als derjenige sehen, der sie weiterführt" (ZGG, S. 15). Nora spricht so im Ton eines Bedauerns, der die Frage aufwirft, ob er einer gemeinschaftlichen Rezentrierung oder sogar Resakralisierung eines verbindlichen kollektiven Gedächtnisses das Wort reden möchte, zu dessen Kontinuierung man verpflichtet wäre. Seit dem Ende der Gedächtnisgeschichte, in der Gedächtnis und Geschichte nur zwei kongruente Seiten ein und derselben, gelebten kollektiven Geschichtlichkeit gewesen zu sein scheinen, tritt für Nora jedenfalls vorerst eine tendenziell gedächtnislose Geschichte an die Stelle des kollektiven Gedächtnisses. Die Etablierung der Geschichte wird so als Verlust des Gedächtnisses beschrieben. Scheinbar betreibt Nora eine Art Trauerarbeit an der Geschichte, um das Gedächtnis zu rehabilitieren. Der beschriebene Prozess der Überwältigung des Gedächtnisses bzw. der Gedächtnis-Geschichte durch eine gedächtnislose Geschichte wird nicht als unumkehrbar aufgefasst. Soll man daher, um diesem Prozess entgegenzuwirken, der Bewahrung bislang noch tradierter Herkunft, die sich allein auf ein identitäres Gedächtnis stützen würde, den Vorzug geben vor dem Zugriff einer identitätsindifferenten Kritik, in der sich die Herrschaft der Geschichte über das Gedächtnis manifestiert? Steht alternativ zu dieser Herrschaft nur der Weg einer Rehabilitierung des kollektiven Gedächtnisses offen, die es gegen kritisches geschichtliches Wissen in Schutz nimmt und es im Übrigen einer ethnischen oder nationalen Kontinuität verpflichtet? Zweifellos wollte Pierre Nora nicht eine in allen Einzelheiten zutreffende Geschichte dieses Prozesses darlegen, sondern an das Gedächtnis erinnern, insofern es als nicht identitätsneutrales, sondern Identität verbürgendes nicht in Geschichte aufgehen und durch Geschichte nicht ersetzt werden kann. Pierre Nora beschreibt diesen Prozess freilich in mehrfacher Hinsicht einseitig. Nicht nur kann er von seinem Ansatz her zwischen soziozentrischer Gedächtnis-Identität und dezentrierter, aber gedächtnisloser Geschichte nichts Drittes denken. Ein Aufgeschlossensein kollektiven Gedächtnisses für anderes als Eigengeschichte, für Fremdgeschichte, kommt auf diese Weise eben so wenig in Betracht wie eine nicht identitätsindifferente Geschichte oder eine unter dem Druck dezentrierter Geschichte umgestaltete Identität. Die De(sozio)zentrierung des kollektiven Gedächtnisses im Zeichen einer Geschichte, die nicht mehr bedingungslos zur Wahrung einer kollektiven, national bevormundeten Identität verdammt ist, hat längst einer Pluralität kollektiver Vergangenheitsbezüge und damit zahlreichen Anti-Geschichten Raum gegeben, die sich in einer versuchten (Re)Nationalisierung des Gedächtnisses nicht mehr werden bändigen lassen. Diese Geschichten und die Gedächtnisse, aus denen sie sich speisen, provozieren die Frage nach einer möglichen lateralen Verflechtung kollektiver Vergangenheitsbezüge und nach dem geschichtlichen Sinn kollektiven Gedächtnisses überhaupt. Diesen Sinn hat man allzu

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lange nur in einer Garantie ethnischen oder nationalen Überlebens und in der bewahrenden Weitergabe einer sedimentierten Tradition gesehen. Indessen führen uns AntiGeschichten auf die Spur einer Widersetzlichkeit gegen das Gerinnen des Überlieferten zu einem „Erbe", in dem man sich selbst bespiegelt, um sich womöglich einer exklusiven ethnischen oder nationalen Ursprünglichkeit zu versichern; und sie führen auf die Spur einer nicht-indifferenten Affizierbarkeit durch die Geschichte Anderer, die nicht an den Grenzen einer bloßen Eigengeschichte halt macht. Anti-Geschichten sind nicht das bloß negative Zerfallsprodukt einer Gedächtnisgeschichte, die auf dem Wege der Rezentrierung kollektiver Vergangenheitsbezüge zu rehabilitieren wäre. Sie machen Eigengeschichte für Fremdgeschichte durchlässig22 und lassen am Sinn der Reproduktion eigener Identität als gleichsam oberstem Gebot des Gedächtnisses überhaupt zweifeln.

3.

Tod und kulturelles Überleben bei Jan Assmann

Auf den ersten Blick unterwirft Jan Assmann seine kulturwissenschaftlich außerordentlich reich orchestrierte Theorie des kulturellen Gedächtnisses genau demselben Gebot. Von der kulturwissenschaftlichen Rekonstruktion des Funktionierens kollektiven Gedächtnisses geht er scheinbar zur Affirmation eines integralen Zusammenhangs von kollektiver Identität und Gedächtnis über. Doch werden dabei, anders als bei Nora, vor allem durch die Berücksichtigung des Todes als der kardinalen Herausforderung des Gedächtnisses, auch den Sinn von Gedächtnis und Geschichte fundierende Momente erkennbar, die Nora ganz außer Acht lässt, weil ihm die gesuchte Identität von Gedächtnis und Geschichte den Blick für das fruchtbare Potenzial verstellt, das gerade im Auseinandertreten beider liegen kann. Assmann ist weit entfernt davon, die Differenzierung von Gedächtnis und Geschichte zurücknehmen zu wollen. Im Gegenteil treibt er sie weiter voran. Zwar spricht er auch von einer Gedächtnisgemeinschaft, deren Gedächtnis einerseits Gemeinschaft stiftet und andererseits wiederum Ausdruck geschichtlicher Zugehörigkeit ist.23 Das im kollektiven 22

23

Insofern geht es hier zugleich nicht um ein bloßes polyzentrisches Nebeneinander von Geschichten. Es kann allerdings keine Rede davon sein, Anti-Geschichten öffneten generell den Blick für Fremdgeschichte. Allzu oft verkehren sie nur Vorzeichen und lassen auf eine künftige, sei es von Besiegten, sei es auch von Opfern anzueignende Geschichte hoffen. Wobei die Zugehörigkeit aber Gefahr läuft, beschönigt zu werden, wenn sie unter Hinweis auf M. Halbwachs in „affektiven Bindungen", etwa der Liebe, begründet gesehen wird. Erweist man sich vielfach nicht gerade dadurch einander zugehörig, dass man sich mit Anderen auseinandersetzt? Die Auseinandersetzung kann aber die Form des Streits (eris, stasis) annehmen und in einen jede Gemeinschaft zerstörenden Krieg (polemos) umschlagen. Vgl. N. Loraux, „Das Band der Teilung", in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 31-64, sowie J. Assmann, „Erinnern, um dazuzugehören"; S. 60f. Der Autor selbst merkt hier an, dass Halbwachs weder von Nietzsches „blutiger Mnemotechnik" noch von Angst und Schmerz etwas ahnen lässt. Tatsächlich herrscht bis heute in Theorien „gemein-

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Gedächtnis sedimentierte Wissen ist nach Assmann „gekennzeichnet durch eine scharfe Grenze, die das Zugehörige vom Nichtzugehörigen, d. h. das Eigene vom Fremden trennt. Erwerb und Überlieferung dieses Wissens sind nicht von .theoretischer Neugierde' (Blumenberg) geleitet, sondern vom ,need for identity' (Mol)".24 Nach Maßgabe des kollektiven Gedächtnisses lernt man in dieser Sicht, im Blick auf die eigene Vergangenheit auf exklusive Weise „wir" zu sagen. Es gibt das kollektive Gedächtnis demnach umwillen der „Reproduktion" kollektiver Identität, die offenbar um so besser gelingt, je selektiver und exklusiver das Gedächtnis diese Identität geschichtlich untermauert. „Nichts schweißt enger zusammen als die Abschottung gegen eine feindliche Umwelt" (KG, S. 152). Assmann sieht hier zwar eine „nicht ganz ungefährliche Nähe" einer solchen Auffassung zur politischen Theorie Carl Schmitts, doch lässt die kulturwissenschaftliche Befundlage überhaupt eine andere Wahl, als diese Theorie zu bestätigen? Führt sie nicht vielfach eine exklusive kollektive Zentrierung aufs eigene Gedächtnis vor Augen, die mit eindeutigen polemischen Abgrenzungen gegen Andere einhergeht, zu denen man jeweils nicht gerechnet werden will? Und bestimmt sich kollektive Identität nicht wirklich vielfach (wenn nicht allein, so doch primär) aus einer bestimmten Negation Anderer, mit denen man sich nicht verbunden weiß? Entsprechende kulturgeschichtlichen Befunde münzt Assmann keineswegs einfach in eine unzulässig verallgemeinerte Theorie des Gedächtnisses um. Er weiß sehr wohl, dass schon Halbwachs von einer irreduziblen Pluralität von kollektiven Gedächtnissen ausging, die genau der Vielfalt der Lebensformen entsprechen sollte, in denen sich das realisiert, was wir mit einem fragwürdig monolithischen Begriff als „Kultur" bezeichnen. Wenn man mit Blick auf diese Vielfalt von einer „Erinnerungskultur" spricht, so kann gerade nicht eine Gedächtnisgeschichte à la Nora gemeint sein, deren Ideal in einer homogenen, durch das Gedächtnis verbürgten, einheitlichen Lebensform läge. Vielfache, einander widerstreitende, aber auch einander überlagernde und miteinander interferierende Zugehörigkeiten gehen in moderne Erinnerungskulturen ein, die sich nach Assmanns Überzeugung infolge dessen zu einem reflexiven Umgang mit der eigenen Vergangenheit gezwungen sehen. Keine Rede kann unter diesen Voraussetzungen mehr davon sein, dass man aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer Gedächtnisgemeinschaft dazu verurteilt oder verpflichtet wäre, genau eine Tradition weiterzuführen. Was Nora in diesem Sinne als „gebieterische" Bestimmung ausgibt, läuft tatsächlich auf einen geschichtlichen Zwang hinaus, von dem eine moderne Erinnerungskultur gerade befreien sollte, die sich zum Widerstreit heterogener Gedächtnisse explizit verhalten muss, statt nur eine vermeintlich „ererbte" Vergangenheit fortzuführen.25

24

25

schaftlichen" Gedächtnisses, die an Halbwachs anknüpfen, eine allzu harmonische Vorstellung von Zugehörigkeit vor. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992, S. 16 (=KG); ders., „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität", in: ders., T. Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19, hier: S. 13. Bis hin zur Konstruktion neuer Vergangenheiten als „kulturelle Schöpfung" (KG, S. 31, 48).

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Ohne eine scharfe Grenze zwischen Gedächtnis und Geschichte, mémoire und histoire ziehen zu wollen, sucht Assmann gerade nach Spielräumen für nicht nur polemogene Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gedächtnissen. Deren Konflikt fordert im politischen Dissens die Geschichte heraus, die sich ihrerseits kritisch zu Formen des Gedächtnisses verhält. So kann sie Spielräume geschichtlichen Verhaltens eröffnen, die im unkritischen Konflikt heterogener Gedächtnisse vielfach nicht gegeben sind oder nicht gesehen werden. Dabei verhält sich die geschichtswissenschaftliche Arbeit nach Assmanns Ansicht zunächst identitätsneutral zum Gedächtnis;26 was allerdings nicht ausschließt, dass ihre Ergebnisse doch vielfach mit kollektiver Identität konfligieren und dass sie in umkämpfter Erinnerung geradezu als Waffen gebraucht werden. Den eigentlichen Brennpunkt der strittigen Deutung des Erinnerten markieren für Assmann die Fragen, als wer man sich im Lichte des Erinnerten verstehen will und was auf dieser Grundlage zu tun ist. Homogene Gedächtnisgemeinschaften bestimmen vermittels normativer Texte, was künftig getan werden soll, wodurch Lebensformen traditional stabilisiert werden. Vermittels formativer Texte geben sie verbindlich darüber Auskunft, wer die Betreffenden sind, wie Assmann meint (KG, S. 142). Zerbricht dagegen die Kongruenz von Gedächtnis und Gemeinschaft, so wird nicht nur das normative Orientierungswissen brüchig, auch die Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft wird fragwürdig. Zu beiden Problemen muss man sich im Kampf um konfligierende Erinnerungen eigens verhalten und dabei das Risiko in Kauf nehmen, dass im Streit um das Gedächtnis die Gemeinschaft bedroht oder zerstört wird, die es eigentlich geschichtlich fundieren sollte. So kann die strittig gewordene geschichtliche Identität und Zugehörigkeit die Verbindlichkeit eines gemeinsamen Gedächtnisses unterminieren, aber auch zeigen, ob die Unterstellung eines solchen, Identität verbürgenden Gedächtnisses nicht auf der Unterdrückung eines Dissenses beruht, der nicht offen zur Aussprache gekommen ist. Gerade in der im Streit liegenden Gemeinschaft, der fragwürdig wird, was es bedeutet, ihr zuzugehören, kann deshalb ein befreiendes Potenzial liegen, wenn ein zur Aussprache kommender Dissens endlich die Augen öffnet für ihre innere geschichtliche Heterogenität. Die Geschichte beschwört, sobald sie in das kollektive bzw. kulturelle Gedächtnis hineinwirkt, unvermeidlich die Möglichkeit einer polemogenen Verschärfung herauf, an deren Ende die Einsicht stehen kann, dass man geschichtlich nichts mehr miteinander gemeinsam hat und sich auf keinen Fall mehr einem gemeinschaftlichen Gedächtnis zugehörig wissen will. Keine Rede kann dann mehr davon sein, dass formative und normative Texte ohne weiteres der „Selbstdefinition und Identitätsvergewisserung" dienen und dass sie „identitätssicherndes Wissen und [...] gemeinschaftliches Handeln durch

26

Das scheint mir anfechtbar. Nicht nur unter Hinweis auf den sog. „Historikerstreit" wäre zu zeigen, wie sehr die Arbeit auch der professionellen Historiker geprägt bleibt von ihrem politischen Selbstverständnis. Die gesamte neuere Geschichte der Geschichtswissenschaft in Deutschland spricht dafür.

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Erzählen gemeinsam bewohnter Geschichten" vermitteln und motivieren.27 Unsere eigene Geschichte ist uns nach 1945 jedenfalls radikal un-heimlich geworden - und auch als solche nicht mehr zu „bewohnen". In der durch die kritische Geschichtsschreibung belehrten Zugehörigkeit zur in sich gebrochenen Kontinuität der an dieses Datum anknüpfenden Geschichte sind wir uns selbst fremd geworden. Selbst Anstrengungen der Re-Kanonisierung eines verbindlichen Gedächtnisses, das geschichtlich-gemeinschaftliche Verbundenheit und die Maßgeblichkeit eines normativen Orientierungswissens wiederherstellen soll, werden nicht mehr in eine unkritische Gedächtnisgeschichte münden können. Andererseits bestreitet Assmann, dass die kritische Auseinandersetzung mit geschichtlichem Erbe aus eigener Kraft dazu in der Lage sein könnte, die Art geschichtlicher Verbindlichkeit zu stiften, der, wie er meint, auch post-kanonische Kulturen unumgänglich bedürfen. Einerseits sucht er die kritischen Spielräume, die das Auseinandertreten von Gedächtnis und Geschichte freigegeben hat, zu wahren, andererseits will er aber doch daran festhalten, dass nur das Gedächtnis eine Gemeinschaft stiften und auf Dauer gewährleisten kann, deren jede Kultur bedarf, der man eine Antwort darauf abverlangt, als wer man sich in der Zugehörigkeit zu ihr versteht und welche praktische Orientierung für die Zukunft daraus folgt. Wenn einem post-kanonischen Gedächtnis diese Funktion zuzutrauen ist, dann freilich nur, insofern es überzeugend Antwort gibt auf die rückhaltlose Infragestellung eigener Identität und Zugehörigkeit zu einer radikal befremdlichen Geschichte. Es muss sich insofern als aufgeschlossen erweisen angesichts einer Geschichte, die nicht zuletzt von Verbrechen berichtet, in denen jede Gemeinschaft zwischen Tätern und Opfern, aber auch mit Überlebenden zerbrochen zu sein scheint. Radikal strittig ist im Lichte dieser Geschichte, wer wem zugehört (und was Zugehörigkeit hier überhaupt noch besagt). Weder die Täter noch auch die Opfer, die bis an ihr Lebensende mit der Erinnerung an ein Projekt ihrer radikalen Exklusion leben müssen, können nachträglich wieder in eine ungebrochene, erneuerte Zugehörigkeit gleichsam eingemeindet werden. Mit der praktischen Herausforderung einer vielfach gebrochenen Zugehörigkeit, die in solchen Verbrechen für die Gegenwart kulturellen Lebens liegen mag, ist die Geschichte als Wissenschaft überfordert. Sie kann diese Herausforderung nur an die Lebensformen weitergeben, die sich in einer kaum zu entwirrenden mélange von Gedächtnis und Geschichte mit der äußersten Infragestellung gerade dessen konfrontiert sehen, was sie als Lebensformen doch gerade gewährleisten sollen: eine zu bejahende Identität und Zugehörigkeit. Diese Infragestellung kulminiert in der Herausforderung, sich in geschichtlicher Perspektive einer uneingestehbaren Gemeinschaft sogar mit radikalen Feinden zu stellen, mit denen man zunächst jegliche Gemeinsamkeit abzustreiten neigt, weil sie für un-menschliche Taten verantwortlich sind.28 In der Weigerung, mit der ab27

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Ebd. Das weiß auch J. Assmann. Vgl. das Interview mit J. und A. Assmann unter dem Titel „Niemand lebt im Augenblick", in: Die Zeit 50 (1998), S. 43. Vgl. v. Verf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, Teil B; ders., „Politisch-philosophische Implikationen von Wassili Grossmans Leben und Schicksal. Der Feind als Mensch und der Mensch als sein eigener, radikaler Feind", in: Naharaim.

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gründigen Menschlichkeit solcher Feinde noch irgend eine menschliche Verbundenheit zu erkennen, kulminiert womöglich die äußerste Selbstgerechtigkeit eines historischen Bewusstseins, das sich von der Anfechtung einer solchen Feindschaft gänzlich unbefleckt glaubt. Die Einsicht dagegen, wir seien „vom gleichen Schlag" wie diejenigen, deren Un-Taten in absehbarer Zeit nur noch die Geschichte in Erinnerung hält, lässt sich auf eine paradoxe „Gemeinschaft ohne Gemeinschaft" ein, die jede, umwillen eigener Identität zu bejahende Zugehörigkeit unterminiert.29 Wie soll man im Lichte einer solchen Gemeinschaft, die eine menschliche Verbundenheit selbst noch mit radikalen Feinden anerkennt, bejahen, wer man selbst, gerade im Unterschied zu ihnen, ist? Kann sich eine solche Identität in geschichtlicher Hinsicht noch einfach exklusiv zu solchen Feinden verhalten, um ein Bedürfnis nach zu bejahender Identität unter allen Umständen zu befriedigen? Solche Fragen tangieren Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses nur am Rande. Wenn das kommunikative, biografisch gestützte und auf den zeitlichen Horizont von drei bis vier Generationen beschränkte Gedächtnis zu erlöschen beginnt, muss aus seiner Sicht unweigerlich ein kulturelles Gedächtnis die Funktion der Vergegenwärtigung fortan aus dem Horizont der Zeitgenossen entrückter Vergangenheit übernehmen, wobei die Geschichte ihrerseits eine das Gedächtnis stützende Rolle übernehmen kann. Aber selbst die außerordentliche Fremdheit, die sie in der Erinnerung an Formen radikaler Exklusion und extremer Verfeindung in den Gegenwartsbezug des kulturellen Gedächtnisses einblendet, ändert für Assmann letztlich nichts daran, dass letzteres der „Reproduktion kultureller Identität" zu dienen hat (KG, S. 57). Dabei beruft sich Assmann auf Kosellecks Analyse der „Identitätsstiftung der Überlebenden" durch Denkmäler in einer säkularen Kultur, die das Gedächtnis auf einen „innerweltlichen Funktionszusammenhang" beschränkt. So funktionalisiert es, wie die politische Ikonologie gewaltsamen Todes in der Moderne beweist, Todesdarstellungen nahezu restlos zugunsten der Überlebenden.30 Sie befinden nachträglich darüber, wofür - „sinnvoll" - gestorben worden ist. Sie eignen sich den Tod Namenloser an, um im Denkmal nicht etwa deren undarstellbares Sterben, sondern diejenige Entität zu feiern, für deren Überleben sich das „sinnvolle" Sterben gelohnt haben soll. Die ästhetische Darstellung eines ausdrücklich als

Journal of German-Jewish Literature and Cultural History 2, nr. 2 (2008), S. 210-235. Von einer Annahme dieser Herausforderung ist man weit entfernt, wo man der Geschichte etwa auf den Spuren Troeltschs „ethisch-daseinsorientierende" Funktionen „angesichts des Werteverlusts in der modernen Kulturkrise" zutraut. Was Ethik oder ethisch herausgefordertes Leben im Zeichen einer „Gemeinschaft ohne Gemeinschaft" mit radikalen Feinden etwa bedeuten könnte, lehrt gewiss keine Geschichte. Vgl. H. Schleier, Historisches Denken in der Krise der Kultur, Göttingen 2000, S. 33, 37, 41. 29 30

Vgl. J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 147. Vgl. R. Koselleck, „Kriegerdenkmale als IdentitätsStiftungen der Überlebenden", in: O. Marquard, K. Stierle (Hg.), Identität. Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, S. 255-276; ders., Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes, Basel 1998.

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sinnlos geltenden Todes namentlich Genannter bleibt die Ausnahme.31 In der öffentlichen Repräsentation gewaltsamen Todes, der „nicht umsonst" gewesen sei, afFirmieren die Überlebenden vor allem den Sinn ihrer eigenen Geschichte32, die trotz allem weitergehen soll, wobei sich das Gedächtnis noch lange Zeit, selbst nach dem Zweiten Weltkrieg, weitgehend an die überlieferte Feindschaft zu halten hatte, die in den Exzess des Krieges mündete. Noch nach 1945 diagnostiziert Koselleck in diesem Sinne eine zunehmende Tendenz, dem Gedächtnis Abgrenzung von den Feinden abzuverlangen. „Die Feindschaft soll über den Tod hinausreichen, um nicht der Identität der eigenen Sache verlustig zu gehen. Die Gleichheit im Tode wird zurückgenommen zugunsten einer Gleichheit, die die nationale Homogenität wahrt: es ist die Homogenität der Lebenden und der Überlebenden, und zwar in ihrer jeweiligen politischen Gruppierung."33 So liegt Kosellecks politische Ikonologie scheinbar noch ganz und gar auf der Linie von Assmanns Überzeugung, der zufolge der Tod Anderer die zentrale Herausforderung des Gedächtnisses ist. Freilich nicht der Tod irgend welcher Anderer, sondern nur derjenigen, die der eigenen Lebensform zugehörten. „Die ursprüngliche Form, gewissermaßen die Ur-Erfahrung jenes Bruchs zwischen Gestern und Heute, in der sich die Entscheidung zwischen Verschwinden und Bewahren stellt, ist der Tod. Erst mit seinem Ende, mit seiner radikalen Unfortsetzbarkeit, gewinnt das Leben die Form der Vergangenheit, auf der eine Erinnerungskultur aufbauen kann. Man könnte hier geradezu von der ,Urszene' der Erinnerungskultur sprechen."34 „Wenn Erinnerungskultur vor allem Vergangenheitsbezug ist, und wenn Vergangenheit entsteht, wo eine Differenz zwischen Gestern und Heute bewusst wird, dann ist der Tod die Ur-Erfahrung solcher Differenz und die an den Toten sich knüpfende Erinnerung die Urform kultureller Erinnerung." Hier ist aber nur von den „eigenen" Toten die Rede. Es geht nur um die Erinnerung als die Form, „in der eine Gruppe mit ihren Toten lebt, die Toten in der fortschreitenden Gegenwart gegenwärtig hält und auf diese Weise ein Bild ihrer Einheit und Ganzheit aufbaut, das die Toten wie selbstverständlich mit einbegreift" (KG, S. 61). Dabei bleibt es in der Sicht Assmanns offenbar auch im Gedächtnis gewaltsamen Todes. Erinnert werden nur die eigenen bzw. historisch angeeigneten Toten - umwillen des geschichtlichen Überlebens derer, die nach ihnen kommen und sich dabei weiterhin dessen bewusst sind, wer sie als diejenigen sind, denen die Toten zugehören, und um welche Toten demgegenüber ihre (ehemaligen) Feinde zu trauern haben.

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Ausführlich dazu die Dokumentation von J. E. Young, The Texture of Memory, New Haven, London 1993. Ob das wirklich bruchlos gelingt, wäre mit Koselleck freilich zu bezweifeln. Denn „kein Monument geht in seiner politischen Funktionsbestimmung auf'; stets kommt ein anonymes Sterben mit zur Geltung, das sich der Vereinnahmung durch fragwürdige Sinnstiftungen Überlebender widersetzt (ebd., S. 266). R. Koselleck, „Kriegerdenkmale", S. 268. KG, S. 33. Vgl. J. Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, Frankfurt am Main 2000, S. 14f.

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Koselleck hat freilich auch gegenläufige Tendenzen registriert. Im Zeichen einer „Demokratisierung des Todes" bemühe man sich um namentliche Nennung jedes Getöteten und entbinde ihn von jeder nachträglicher Rationalisierung eines Sterbens für eine Sache. Zunehmend bleibe die Frage nach dem Sinn gewaltsamen Todes als offene einfach stehen oder Antwort werde bewusst verweigert.35 So entzieht sich demnach die ästhetische Darstellung dem Machtanspruch derer, die einen Zweck tödlicher Gewalt gegen jedes Sterben behaupteten, dessen Widersetzlichkeit gegen politische Rationalisierung nun hervortritt. Darüber hinaus widersetzt sich das Gedächtnis nicht rationalisierten gewaltsamen Todes der „rigorosen Trennung der Leichen"; sie lässt erstmals Trauer um den Feind aufkommen. Ist nicht auch er Opfer derselben „Sinnlosigkeit" des Krieges?36 Während literarische Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg37, in denen diese Frage aufgeworfen wird, noch im Feind den brüderlichen Anderen voraussetzten, mit dem man sich als Opfer derselben Gewalt solidarisieren konnte, wird dieser Ausweg aus einem fatalen Gedächtnis, das die Feindschaft in der Erinnerung fortsetzt, ganz und gar verbaut im Exzess eines Vernichtungskrieges, der jegliche, wenigstens nachträglich wieder zu entdeckende Gemeinschaft zwischen Tätern und Opfern liquidiert zu haben schien. Ein solidarisches Gedenken, das diese Differenz überspielt, ist danach weder sinnvoll noch möglich. Wo es sich mit der Geschichte dieses Krieges auseinandersetzt, zeigt das kulturelle Gedächtnis nun andere, in der Reproduktion kultureller Identität sich gewiss nicht mehr erschöpfende Seiten. Keineswegs vertauscht es nur Vorzeichen oder wechselt gar nur opportunistisch die Fronten, wenn es sich hierzulande nun vor allem dem Gedenken der Ermordeten, d. h. ehemaliger „Feinde des Volkes" verpflichtet. Es stiehlt sich nicht aus der geschichtlichen Nachfolge der seinerzeit politisch Verantwortlichen, um sich nun die Identität der einst verachteten Opfer nachträglich anzueignen, sondern unterstellt sich ausdrücklich der Verantwortung für diese Nachfolge - im Zeichen der Trauer um unzählige Opfer des vielleicht rigorosesten Identitätsprojekts, das je verfolgt worden ist. Eine exzessive Vernichtung wurde ins Werk gesetzt gegen „Feinde", die man eigens für den Zweck auserkoren hatte, herauszufinden, wer man selber eigentlich ist. Hier könnte sich Assmann mit seiner Vermutung, nichts eigne sich besser zur Formation einer klar konturierten geschichtlichen Identität als die Exklusion von Feinden, bestätigt sehen. Neigt auch das heutige kulturelle Gedächtnis, wenn es sich dieser Ge35

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Am Ende bleibt „nur noch Identität der Toten mit sich selber" (ebd., S. 257). Nicht einmal das ist sicher, so sehr sind viele gegen sich selbst gekehrt worden - man denke nur an die sog. Sonderkommandos der nazistischen Vernichtungslager. Haben diese Opfer vor ihrem Tod nicht die schlimmste Katastrophe ihrer vorherigen Identität noch durchgemacht? Alles wurde ihnen geraubt: auch ihr Tod und ihr eigenes Sterben. Vgl. auch R. Koselleck, M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult: Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1992. Vgl. J. Patofika, „Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts und das zwanzigste Jahrhundert als Krieg", in: Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1988, S. 146-164. Vgl. B. Hüppauf (Hg.), Ansichten vom Krieg: Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Hanstein 1984.

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schichte stellt, womöglich ebenso zur Exklusion - diesmal aber angesichts der UnMenschlichkeit der Feinde jener „Feinde", da es unannehmbar scheint, sich im Geringsten in der eigenen Identität oder geschichtlichen Zugehörigkeit mit ihnen verbunden zu wissen? Verhält sich das kulturelle Gedächtnis heute unvermeidlich radikal polemisch zur Geschichte dieser Feinde, wenn es sich keinerlei menschliche Gemeinschaft mit ihnen eingestehen kann? Muss es sich nicht andererseits einer radikalen Selbst-Fremdheit stellen, wenn es sich zur Anerkennung einer „Gemeinschaft ohne Gemeinschaft" durchringt, wie es bereits einige der Überlebenden versucht haben?38 Damit ist die Frage aufgeworfen, ob wir nicht heute, nachdem Gedächtnis und Geschichte auseinandergetreten sind (und da Pierre Noras nostalgisches Projekt einer Wiederherstellung ihrer Kongruenz nicht überzeugt), dieser unaufhebbaren SelbstFremdheit im Lichte einer Vergangenheit nachgehen müssen, in der wir weniger Wurzeln einer annehmbaren Identität, als vielmehr einer unannehmbaren Gemeinschaft mit Anderen finden. Ob sich das kulturelle Gedächtnis dieser Herausforderung wirklich stellen kann, wie wir uns zu verstehen haben und was wir tun sollen angesichts dieser Vergangenheit, das sind Fragen, die zu tiefem Dissens in der politischen Gegenwart führen. Im Kern dreht er sich um die dreifache Frage, ob sich gegenwärtiges kulturelles Leben als überzeugende Antwort auf diese extremste geschichtliche Herausforderung durch den gewaltsamen Tod Anderer, nicht nur „eigener" Toter verstehen lassen muss; und zwar selbst dann, wenn eine solche Antwort zu geben bedeutet, sich eine uneingestehbare Gemeinschaft und Selbst-Fremdheit im Verhältnis zu radikalen Feinden zuzuziehen. Wo das der Fall ist, dringt eine nachhaltige Beunruhigung in jede derart abgründig geschichtlich „fundierte" Identität ein. Wenn wir uns heute noch Identität zurechnen angesichts dieser Geschichte, so nicht, weil das kulturelle Gedächtnis nach wie vor eine gemeinschaftsstiftende Funktion (wie im traditionellen Totengedenken) erfüllt, sondern gerade deshalb, weil wir uns herausgefordert erfahren von einem äußersten Befremden, das uns jede Gewissheit aus der Hand schlägt, wer wir sind und was praktisch daraus zu folgen hätte. Droht aber dieses Befremden nicht jede Aussicht auf eine überzeugende Antwort auf die fragliche Vergangenheit zu vereiteln? Was kann man sich angesichts einer derart befremdenden Vergangenheit noch vom Gedächtnis und von der Geschichte versprechen?39 Die Herausforderung dieser, Jan Assmanns Theorie überschreitenden Frage40 nimmt die späte Philosophie Ricceurs an; aber nicht, indem sie wie Pierre Nora für eine Tilgung der Differenz von Gedächtnis und Geschichte, sondern für deren Aufhebung 38 39

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Vgl. etwa S. Kofman, Erstickte Worte, Wien 1988, S. 47, 52, 77ff. Und ist noch Vertrauen zu setzen in eine künftige Kultur, die sich schonungslos dem Gedächtnis und der Geschichte aussetzt? Vgl. zum Vertrauen bei Assmann, KG, S. 137. Im beschränkten Rahmen dieses Aufsatzes ist der gesamten Theorie nicht im entferntesten gerecht zu werden; ausdrücklich sei deshalb wenigstens auf eine Zusammenfassung jüngeren Datums verwiesen: J. Assmann, „Das kulturelle Gedächtnis", in: Erwägen, Wissen, Ethik Nr. 13 (2002), Heft 2, S. 239-247. Im Lichte einer „Gemeinschaft ohne Gemeinschaft" umzudenken wäre vor allem die „konnektive" Dimension des kulturellen Gedächtnisses bzw. das Bindungsgedächtnis.

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plädiert: in einem versöhnenden Vergessen, das selbst die befremdlichste Vergangenheit zu meistern verspricht.41

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Ricoeur: Aufhebung von Gedächtnis und Geschichte im versöhnenden Vergessen?

Anders als Pierre Nora und Jan Assmann geht Ricoeur nicht nur von einer nicht mehr zu hintergehenden Ausdifferenzierung von Gedächtnis und Geschichte aus, sondern bedenkt auch die außerordentlich befremdlichen Herausforderungen, die nach einer Überwindung eines bloß „abstrakten" Gegensatzes von Gedächtnis und Geschichte verlangen. Was sich Ricoeur unter einer Erinnerungskultur vorstellt, deren Konturen er vor allem im dritten Teil von Gedächtnis, Geschichte, Vergessen in einer Hermeneutik der menschlichen conditio histórica beschreibt, reduziert sich nicht auf die kollektive Sorge um eine kontinuierliche Fundierung kultureller Identität, sondern erfasst auch deren radikale Infragestellung.42 Entgegen der bei Foucault projektierten Entbindung der Geschichte vom Gedächtnis43 hält Ricoeur an der Fundierung der Geschichte im Gedächtnis fest und affirmiert zugleich, dass letztere sich wie gesagt durch einen epistemologischen Bruch als Wissenschaft vom Gedächtnis lösen muss. Daraus resultiert ein vielfältiges Spannungsverhältnis zwischen Gedächtnis und Geschichte, das nur im kulturellen Leben derer aufzuheben sein wird, die sich unter dem doppelten Anspruch der Treue des Gedächtnisses und der Wahrheit der Geschichte dazu herausfordern lassen, ihre Zukunft auf schonungslos vergegenwärtigte Vergangenheit zu stützen. Speziell die Zukunft kulturellen Lebens gerät dabei aber in Widerstreit mit beiden Ansprüchen, die es buchstäblich zu überfordern drohen. Weit entfernt, auf unproblematische Weise der kulturellen Identitätssicherung gewisser Gruppen, Ethnien oder Nationen zu dienen, unterminieren vielfach sowohl die Treue des Gedächtnisses als auch die Wahrheit der Geschichte genau diese Funktion: man wird sich im Spiegel einer äußerst 41

Dass auch Assmann offenbar Hoffnungen in dieser Richtung hegt, zeigen seine Überlegungen zu einer „kontrapräsentischen" Erinnerung im Anschluss an Theißen (KG, S. 79fF.), die er mit einer „Mythomotorik des Wartens und Hoffens" belegt. Aber kann der Erinnerung noch ohne weiteres ein befreiendes Potenzial zugeschrieben werden? Überbürdet sie uns nicht auch mit hoffnungslosen Über-Forderungen? Hier wäre an ein von der Geschichte restlos enttäuschtes „Warten ohne Erwartetes" (Blanchot), aber auch an eine immerfort „kommende" Zukunft (Derrida) zu erinnern, die niemals erfüllt zu werden verspricht. In beiden Fällen hat man es nicht mehr mit einer Hoffnung zu tun, die als Hohlform künftiger Erfüllung einer besseren Geschichte aufgefasst werden könnte. Ob aus diesen Denkfiguren noch eine gewisse Inspiration für eine bessere Zukunft abzuleiten wäre, bleibe hier dahingestellt.

42

Vgl. zur Abgrenzung gegen eine Nostalgie der Gedächtnisorte, die Pierre Nora ganz und gar einem „Kult der Kontinuität" verschreibt, der alles revoziert, was Foucault zum Thema geschrieben hat, GGV, S. 622f. Vgl. bes. P. Ricoeur, ZE III, S. 189f. zu Foucault, sowie GGV, S. 144.

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befremdlichen Geschichte selbst fremd und in radikale Zweifel darüber gestürzt, welches Vertrauen noch in künftiges kulturelles Leben zu setzen ist.44 Es ist die Erinnerung gewaltsamen Todes, an der Ricoeur hier Maß nimmt.45 Wenn künftiges kulturelles Leben nicht verspricht, sich effektiv der Wiederholung desselben zu widersetzen, wie soll man sich dann im Geringsten auf es verlassen? Zerstört nun aber nicht gerade ein schonungsloses Gedächtnis und eine allein der Wahrheit, nicht kulturellem Überleben verpflichtete Geschichte genau dieses Vertrauen? Wie weit können sich kulturelle Lebensformen überhaupt auf Gedächtnis und Geschichte einlassen, wenn sie ihre eigene Zukunft nicht gefährden wollen? Lässt sich mit einem Gedächtnis und mit einer Geschichte überhaupt leben, die unnachsichtig gerade die historischen Erfahrungen in Erinnerung rufen, durch die jedwedes Vertrauen in die moralische Verlässlichkeit menschlichen Zusammenlebens unterminiert zu werden droht, wie Avishai Margalit meint?46 Lässt sich auf eine derart unversöhnliche Erinnerung noch eine tragfähige kulturelle Identität gründen? Die Hermeneutik der conditio histórica fügt sich mit Blick auf diese Fragen in den zeitgemäßen Kontext einer Erinnerungskultur, die ein höchst zwiespältiges Verhältnis zur Vergangenheit hat. Sie verlangt Erinnerung selbst an eine traumatische Vergangenheit, der in maßloser Vergegenwärtigung auch der Sinn des Umgangs mit ihr zum Opfer zu fallen droht. Sie bringt Fremdheit im Gegenwartsbezug zur Geltung, die jedes Gedächtnis zu überfordern scheint, das vergangener Wirklichkeit treu zu bleiben sucht.

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Jene Zweifel sind nicht bloß einer „Moralisierung" der Vergangenheit im Zeichen eines uns durch „sendungsbewußte Priester" eingeredeten „schlechten Gewissens" zu verdanken. Vielmehr rühren sie aus einem geschichtlichen Affiziertwerden her, das man sich angesichts befremdender Vergangenheit zuzieht; und zwar auch dann, wenn jedes anhaltende Leiden an ihr von einer selbstbewussten „Erinnerungspolitik" zurückgewiesen wird. Ricceurs Hermeneutik der Geschichtlichkeit wirft allerdings die Frage auf, inwieweit selbst dieses Leiden noch vom Geschichtemachen her zu verstehen ist (ZE III, S. 357, 369) bzw. ob das Machen als Antwort auf die Herausforderung des Leidens aufzufassen ist. Zweifellos ist die Deutung des Leidens an Vergangenem ein höchst strittiger Gegenstand der politischen Auseinandersetzung um das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte. Die Probleme dieser Deutung durch eine rigorose Trennung von Gedächtnis und Geschichte lösen zu wollen, liefe freilich auf einen Gewaltstreich hinaus, denn so würde jeder Ansatz unterbunden, die Geschichte als Antwort auf das Leiden an Vergangenem aufzufassen (so dass sie nicht gedächtnislos wird) und im Gegenzug das Gedächtnis mit Wahrheitsansprüchen zu konfrontieren, denen sich allein die Geschichte methodisch stellen kann; vgl. die Rezension von H. Roussos Buch La hantise du passé durch U. Raulff, „Der Marktwert der Erinnerung", in: FAZ 103 (1998), S. 41.

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GGV, S. 561. In seinem Essay über das politische Gedächtnis (in diesem Band) vertritt Ricoeur dagegen sogar den Standpunkt, der Tod komme im kollektiven Gedächtnis gar nicht bzw. nur in Form von ,,anonyme[n] Daten im Personenstandsregister" vor. An anderen Stellen dominiert überdies der erklärte Wille, einer letztlich alles vernichtenden Zeit das Projekt ihrer „Humanisierung" entgegenzusetzen, wie es der Autor in der Triologie Zeit und Erzählung zu begründen versucht hatte. Auf die dieses Projekt motivierende Erfahrung der „Negativität der Zeit" lässt sich freilich die Erfahrung vernichtender Gewalt, die von Anderen ausgeht, gewiss nicht reduzieren. Vgl. A. Margalit, Ethik der Erinnerung, Frankfurt am Main 2000, S. 55.

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Sie verlangt darüber hinaus, sogar für das Andauern dieser Überforderung zu sorgen, damit die Wahrheit der befremdenden Vergangenheit nicht einem fragwürdigen Vergessen anheim fallt, das gerade mit der Überforderung einer Erinnerungskultur durch die befremdende Vergangenheit zu rechtfertigen wäre. Wir verfügen indessen über keinen unabhängigen Maßstab, mit dem wir bestimmen könnten, wie man sich im Widerstreit zwischen kulturellem Überleben und dem Treue- und Wahrheitsanspruch von Gedächtnis und Geschichte zu dieser Überforderung verhalten soll. Gleichwohl ist Ricoeur sorgsam darauf bedacht, dass Gedächtnis und Erinnerung nicht jegliche Aussicht auf eine weiter führende Geschichte zerstören, die sich wenigstens einer Wiederholung des Äußersten zu widersetzen versprechen sollte.47 Insofern räumt er offenbar, mit Nietzsche zu reden, dem „Nutzen und Nachteil" von Gedächtnis und Geschichte für ein nicht traumatisiertes Überleben eindeutig Vorrang ein und spricht sich für ein Vergessen aus (GGV, S. 138-141), das moralisch versöhnt, ohne etwa das Gewesene als solches liquidieren zu wollen. Keineswegs soll einfach die reale Geschichte mit ihren tiefgreifenden Verfeindungen vergessen werden, die speziell Europa mehrfach an den Rand des Abgrund gebracht haben. Aber Gedächtnis und Geschichte sind auch nicht dazu verurteilt, auf ewig die Erbschaft dieser Verfeindungen anzutreten, die, wie manche meinen, bis heute ihre Spuren in den nationalen Gedächtnissen hinterlassen. Ricoeur plädiert vielmehr für eine hyperbolische moralische Vergebung selbst des Unverzeihlichen, worauf allerdings niemand Anspruch oder gar ein Anrecht habe. Vielleicht darf die Vergebung selbst des Schlimmsten nicht einmal gleichsam im „Austausch" gegen eine vorherige Bitte erfolgen, wenn sie ihren Sinn „rein" erfüllen soll.48 Vielleicht muss sie gar einer absolut anökonomischen, in keine soziale Reziprozität einscherenden Feindesliebe als reiner Gabe entspringen.49 Wie dem auch sei, Ricoeur redet jedenfalls nicht einem Vergessen des Geschehenen das Wort, sondern sorgt sich um eine Erinnerungskultur, die nicht endlos dazu verurteilt sein darf, es moralisch „nachzutragen". Deshalb müsse man zu einem moralischen Vergessen bereit sein, damit eine versöhnte Aufhebung der Vergangenheit in der Gegenwart kulturellen Lebens möglich werden kann, das an einer schonungs-

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Vgl. T. Todorov, Angesichts des Äußerten, München 1993. Ich lasse an dieser Stelle dahingestellt, ob die Hyperbolik einer solchen Vergebung uns unweigerlich über das Moralische hinaus in eine religiöse Dimension führt. Ricoeurs Anleihe bei eschatologischem Denken gestattet in dieser Hinsicht kein eindeutiges Urteil. Denn primärer Ausdruck der eschatologischen Dimension der Geschichte, auf die Ricoeur nicht verzichten will (GGV, S. 443, 699ff., 760), ist zunächst lediglich der Optativ, der Wunsch, die Geschichte möge in einem „zur Ruhe gekommenen Gedächtnis" aufzuheben sein. GGV, S. 713, 731, 737. Hier ist eine deutliche Nähe der Überlegungen Ricoeurs nicht nur zur Dekonstruktion der Gabe, sondern auch zur Gastlichkeit zu erkennen, wie sie Derrida im Anschluss an Lévinas versteht. Ricoeur selbst bezieht die Gastlichkeit allerdings lediglich auf die Kantische, rechtliche Hospitalität und begreift sie nicht geradezu als ethischen Sinn menschlicher Subjektivität, wie es Lévinas tut, der von ihr selbst eine Verantwortung auch für den Feind ableitet.

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los erinnerten Vergangenheit nicht erstickt, sondern Wege in eine bessere Zukunft zu bahnen verspricht (die nicht auf ein politisches Klischee zu reduzieren ist). Aus dem gleichen Grund wendet sich Ricoeur gegen eine notorische Fixierung auf die Erfahrung des Verlusts, die unlängst noch im Zentrum seiner Hermeneutik des Vergangenheitscharakters der Vergangenheit gestanden hatte.50 Weder aufgrund schlimmsten Verlusts noch infolge exzessivster Trauer soll ein letztes, sie womöglich verfluchendes Urteil über die Geschichte gefállt werden. Was „sich nicht vergisst" (Kant) wie ein unendlicher Verlust oder tiefste Trauer kann auch die Geschichte blockieren - und zwar letztlich durch eine Verachtung, die sie sich zuzieht, weil sie im Lichte des Unwiederbringlichen und Nichtwiedergutzumachenden weder Gerechtigkeit versprechen noch eine Wiederholung derselben Gewalt glaubhaft ausschließen kann, die Unzählige in maßlose Trauer gestürzt hat.51 Auf den Spuren Freuds will Ricoeur die Aussicht auf eine durch Trauerarbeit ermöglichte Versöhnung mit möglichst jedem, selbst äußerstem Verlust eröffnen. Wie bei Freud soll diese Arbeit dem Realitätsprinzip folgen, das, wenn man sich ihm unterwirft, wiedergewonnene „Heiterkeit" als Lohn für den Verzicht aufs verlorene Objekt verspricht (GGV, S. 118f., 126). Ricoeur widersetzt sich einer pathologischen „Einwilligung in die Traurigkeit", die nur in eine von der Zukunft abgewandte Melancholie münden könne und jede Aussicht auf ein trotz allem „glückliches Gedächtnis" versperre. Hier hat es zunächst den Anschein, als habe Ricoeur nur die Opfer und die Überlebenden im Blick, denen er Trauerarbeit um der Versöhnung willen zumutet (ohne dabei nennenswert die Täter und ihre „Erben" zu berücksichtigen).52 Doch überträgt er 50

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Vgl. GGV, S. 601, sowie P. Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen Verzeihen, Göttingen 1998, S. 27f. In diesem Zusammenhang scheint es fraglich, ob Ricoeur auch seine Überlegungen zu Gedächtnis, Geschichte und Trauer auf eine Phänomenologie der Zeiterfahrung stützen kann, die sich am Vergehen der Zeit und an der Erfahrung zeitlicher Distanz orientiert und damit die Vielfalt der Erfahrungen (darunter der Verlust, der nicht im Zeitverlust aufgeht) entschieden verkürzt, die man pauschal auf den Generalnenner der „Negativität der Zeit" gebracht hat. Vgl. GGV, S. 171, 177181, 442, 590. Die Analyse der moralischen Aspekte des Gedächtnisses droht damit in eine bedenkliche Schieflage zu geraten: „schuld" an einer womöglich unheilbaren ,.historischen Krankheit" wäre am Ende die Unversöhnlichkeit der Opfer. (Man denke nur an die verweigerte Versöhnung bei V. Jankélévitch, Das Verzeihen, Frankfurt am Main 2004, die unseren uneingeschränkten Respekt verdient.) Ich möchte dagegen die Überlegungen Imre Kertész' zu einem „unversöhnlichen" und vielleicht „unannehmbaren" Zeugnis zu bedenken geben, das zumal den europäischen narrativen Gedächtnissen einbeschrieben ist, ohne sich im „Geist der Erzählung" aufheben zu lassen. Vgl. I. Kertész, Die exilierte Sprache, Frankfurt am Main 2004, S. 79, 116. Zum Begriff der „historischen Krankheit" im Anschluss an Nietzsche vgl. P. Ricoeur, ,.Memory - Forgetfulness - History", in: ZiFMitteilungen 2 (1995), S. 3-12, hier: S. 11. Ich sehe nicht, dass der Verstocktheit der Täter und der mangelnden Sensibilität oder Ignoranz der ihnen nachfolgenden Generationen, die mit zunehmendem geschichtlichen Abstand kaum mehr einsehen wollen, was die entfernte Vergangenheit sie eigentlich noch „angehen" soll, in Ricoeurs Analyse der „Gesundheit" guten Zusammenlebens gleiches Gewicht zukäme; vgl. ders., „Das politische Gedächtnis" (in diesem Band).

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an anderer Stelle das der Psychoanalyse entlehnte, erstaunlich konventionelle Modell der Trauerarbeit53 ausdrücklich „nicht nur analog" auf das kollektive und kulturelle Gedächtnis (das heute, unter Bedingungen hochgradig temporalisierter Lebensverhältnisse, nur noch marginal vom kommunikativen Gedächtnis der Opfer und Überlebenden getragen wird). Dabei kommt eine entscheidende Prämisse zum Tragen, gegen die Ricoeur selbst Bedenken anmeldet: die Prämisse nämlich, dass sich das Gedächtnis zunächst nur um die eigene Erfahrung drehe, dass es insofern ein Eigengedächtnis darstelle, das zum Fremden ursprünglich kein Verhältnis zu haben scheint.54 In der analogen Übertragung des psychoanalytischen Konzepts der Trauerarbeit auf die Dimension des kulturellen Gedächtnisses wird damit aber fragwürdig, wie es sich in der Trauer zum Fremden hinwenden und seinen - zumal gewaltsamen - Tod als Verlust erfahren kann; und zwar gerade auch dann, wenn sich die heute Lebenden nicht durch Verwandtschaft oder Zugehörigkeit mit den Toten verbunden wissen.55 Hier steht die Theorie der Trauer vor einem Scheideweg. Entweder geht es in der sogenannten Trauerarbeit stets nur um eigenen Verlust - was bedeuten würde, dass die Trauer früher oder später aus dem Horizont des kulturellen Gedächtnisses verschwinden muss, wenn die Opfer und Überlebenden nicht mehr unter uns weilen, denen man die Verlusterfahrung zuschreibt. Oder aber auch in der Dimension dieses Gedächtnisses kommt wirklich Trauer zur Geltung, was voraussetzen würde, dass noch Generationen später nachträglich Verluste realisiert werden, die niemand selbst, am eigenen Leib, erlitten hat - was freilich nicht ausschließt, dass auch den Späteren angesichts des erinnerten Schicksals der Opfer ihrerseits, indirekt ein einschneidender Verlust widerfährt.56 Ist nicht die politische Wirklichkeit längst über einen nationalen Totenkult hinaus, in dem man aus dem Sterben Angehöriger - im Gegensatz zu unbetrauerten Feinden - für Vaterland oder Staat symbolisches Machtkapital geschlagen hat? Verschafft sich nicht längst auch Trauer um ehemalige Feinde, Fremde und um zu Fremden Gemachte Geltung, die sich nicht mehr von einem ethnisch, nationalistisch oder gar rassisch exklu53

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Bei Ricoeur fehlt auch nicht das „Kappen" der libidinösen Bindungen an die Verlorenen, eines der anfechtbarsten Elemente der Freudschen Theorie (GGV, S. 144), die die gelingende Trauerarbeit schließlich in ein „lebensdienliches Vergessen" einmünden lässt; vgl. H. Weinrich, „Privates und öffentliches Vergessen", S. 14. In einer längeren Anmerkung (GGV, S. 180f., Nr. 25) schneidet Ricoeur die grundsätzliche Frage an, ob die „Verkennung der ursprünglichen Andersheit des Anderen" sowie seiner eigentlichen „Abwesenheit" alle auf der Phänomenologie des Gedächtnisses aufbauenden Analysen deformiert. In Frage steht so nicht nur, ob man vom Ich zum Wir aufsteigt oder umgekehrt von kollektiver Geschichte zu je-meiniger geschichtlicher Existenz absteigt, sondern auch, inwiefern die conditio histórica auf allen Ebenen im Zeichen des Anderen als des Fremden zu denken ist. Vgl. M. Ignatieff, Die Zivilisierung des Krieges, Berlin 2000, S. 222-237. Auf das Desiderat einer Kritik dieser beiden, besonders von Derrida hartnäckig befragten Begriffe kann hier nur en passant hingewiesen werden. Nur am Rande kann ich hier an Ricoeurs frühere Beschreibung des (gewaltsamen) Todes des Anderen als „Verletzung unseres Miteinanderseins" erinnern. Keineswegs besagte diese Beschreibung eindeutig, dass als Grund oder Anlass der Trauer nur der Tod Angehöriger oder Zugehöriger in Betracht kommen kann; vgl. Geschichte und Wahrheit [1955], München 1974, S. 224, 316, 350.

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siven Totenkult bevormunden lässt?57 Auch an ihrem, gewaltsamen Tod, so realisieren die Trauernden, haben „wir" einen einschneidenden Verlust erlitten. Durch ihn ist eine radikale Verletzbarkeit menschlichen Lebens offenbar geworden, die jedem auch für die Zukunft kulturellen Lebens jedes Vertrauen in Schutz vor Verletzung zu rauben droht. Die Rede von „trauerndem Gedenken" sollte man in diesem Sinne nicht als bloße Phrase abtun. Freilich fehlt es an einer Theorie der Trauer, die endlich das Phänomen einer Trauer um Fremde ernst nähme, welche nicht an den engen Grenzen einer bloßen Eigengeschichte halt macht. Eine solche Trauer kann die heterogenen, mit tiefgreifender Verfeindung nach wie vor belasteten Gedächtnisse nicht nur auf dem europäischen Kontinent lateral füreinander durchlässig machen - im Lichte der Frage, welchen Verlust auch wir durch den Tod Fremder, derer wir gedenken, erlitten haben.58 Hält sich denn das kollektive Gedächtnis in der Trauer noch an die überlieferten „Feindschaftslinien"? Fordert es nicht zur Trauer um Unbekannte heraus? Gewiss geht das gelegentlich mit fragwürdigen Begleiterscheinungen eines unterschiedslosen Gedenkens einher, wenn man pauschal Opfern gleich welcher Gewaltherrschaft gedenkt, wie es die Neue Wache in Berlin nahe legt.59 Doch die Trauer um Fremde muss sie nicht unterschiedslos im Gedenken gleich machen. Und sie muss sie sich nicht historisch aneignen, weder umwillen eines negativen Gründungsmythos, der Spätere lehren sollte, wie sie ihre historische Verantwortung angesichts äußerster Verbrechen zu tragen haben, noch im Zeichen der fragwürdigen RechtschafFenheit eines politischen Moralismus, der aus der Geschichte eindeutige, etwa für ein „europäisches Haus" maßgebliche Lehren gezogen haben will. Wo derartige historische Aneignungen festzustellen sind, wird am Ende jede Spur eines anhaltenden, unaufhebbaren Befremdens angesichts der erinnerten Geschichte getilgt.60 Wenn wir das Phänomen einer Trauer um Fremde, die äußersten Verbrechen zum Opfer gefallen sind, richtig deuten, so ist aus ihr das Moment eines unaufhebbaren Befremdens in Gedächtnis und Geschichte nicht wegzudenken 57

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59 60

Vgl. S. Friedländer, „Die Metapher des Bösen", in: Die Zeit 49 (1998), S. 50; J.-H. Kirsch, „Trauer und historische Erinnerung in der Berliner Republik", in: B. Liebsch, J. Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln, Weimar, Wien 2001, S. 339-374. Zu den wenigen, die in dieser Richtung weiter nachgedacht haben, zählt J. Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London, New York 2006; Frames of War. When Is Life Grievable?, London, New York 2009. Vgl. R. Koselleck, „Die falsche Ungeduld", in: Die Zeit 13 (1998), S. 48. Ich nenne nur beispielhaft D. Levy, Ν. Sznaider (Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, S. 9-17) und U. Beck, der für ein auf die Erinnerung an Auschwitz gegründetes, kosmopolitisches Europa plädiert, in: „Wie Versöhnung möglich werden kann", Die Zeit 29 (2003), S. 34. Selbst ein so sensibler Autor wie J. Semprun, der glaubt, dass dieselben Erfahrungen, „die die Geschichte Deutschlands zu einer tragischen Geschichte machen, es ihm auch erlauben, sich an die Spitze einer demokratischen und universalistischen Entfaltung der Europa-Idee zu stellen" (Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main 1995, S. 361), muss sich fragen lassen, ob sich die genannten „Erfahrungen" nicht jeder politischen Aneignung und Verfügung im Sinne einer „aktiven Sinnproduktion" (P. Reichel) entziehen. Genau das, scheint mir, reflektiert auch die Diskussion um sog. Gegen-Denkmäler, die sich jeder symbolischen Kapitalisierung widersetzen.

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so wenig übrigens wie das Moment eines außer-ordentlichen Verlusts, den wir weder „abschreiben" noch tilgen oder kompensieren können. Für den durch diese Verbrechen erlittenen Verlust lässt sich keine Entschädigung denken. Die Kategorie des Schadens, den man im Zuge einer Schadensabwicklung beheben bzw. beseitigen könnte, hat in diesem Zusammenhang etwas geradezu Obszönes. Ricoeur hält es offenbar für unmöglich, dass von einem treuen Gedächtnis und von schonungsloser Wahrheit der Geschichte herausgeforderte unaufhebbare, anhaltend befremdende Trauer um Fremde, die nicht wiederum in einem Eigengedächtnis politisch angeeignet wird, einen der Zukunft kulturellen Lebens zugewandten Sinn haben könnte. Muss sie nicht in der Tat am exzessiven Verlust, den sie gewärtigt, ersticken? Lässt sie nicht an jeder Gerechtigkeit und an jedem Versprechen einer besseren Zukunft verzweifeln? Ricoeur stellt diese Frage nicht - ungeachtet der von ihm selbst wenigstens en passant in der eigenen Theorie geltend gemachten Bedenken gegen ein auf die eigene Vergangenheit konzentriertes Gedächtnis. Die Sorge, in womöglich endlos moralisch „nachtragender" Gestalt könnte es sich jeder Versöhnung widersetzen, überwiegt derart, dass Ricoeur dem Verlangen nach Versöhnung schließlich lieber eine Trauer opfert, die das Verlorene (und den Verlust als solchen) dem Fortgang der Geschichte preiszugeben sich weigert. Ricceurs Hoffnung auf ein versöhnendes Vergessen, ungeachtet all dessen, was niemals hätte geschehen dürfen (wie Hannah Arendt in Anlehnung an Kant sagt), bewegt ihn schließlich dazu, selbst mit den Opfern und denen, die der Spur ihres Zeugnisses folgen, hart ins Gericht zu gehen. Kein Opfer dürfe sich aufgrund seiner vermeintlich besonders privilegierten Erfahrung einer „arroganten Hypermoral" befleißigen, um die Geschichte im Ganzen zu verurteilen oder auch nur das Unglück Anderer zu vergessen.61 Einer maßlosen Erinnerung dürfe nicht der Sinn des Umgangs mit ihr zum Opfer fallen, der vielmehr nach einer praktischen Zukunftsperspektive verlange. Deshalb plädiert Ricoeur für einen maßvollen Gebrauch von Gedächtnis und Geschichte, der die als Antwort auf die erinnerte Vergangenheit zu entwerfenden politischen Gestaltungsprojekte nicht geradezu paralysieren dürfe. Einer exzessiven, übermäßigen Erinnerung soll energisch ein Riegel vorgeschoben werden. Der erklärte Wille, dem Überleben einer Erinnerungskultur den Vorzug zu geben vor einer womöglich dauerhaft lähmenden und traumatisierenden Erinnerung, bestimmt eindeutig den weiteren Weg, den Ricoeur einschlägt.62 Die jeder Verzweifelung und jeder übermäßigen Trauer, die nicht mit neuer „Heiterkeit" infolge bereitwilligen Verzichts auf verlorene Objekte belohnt würde, von Anfang an sich widersetzende Überzeugung

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Ähnlich harte Bemerkungen ziehen sich diejenigen zu, die sich, ob mit Recht oder nicht, den Standpunkt der Opfer zu eigen machen; vgl. auch D. LaCapra, Geschichte und Kritik, Frankfurt am Main 1987, S. 63. Ähnlich schon H. Rousso, La hantise du passé, Paris 1998.

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Ricœurs lautet, dass man auf ein versöhntes bzw. versöhnendes Vergessen seine ganze Hoffnung setzen muss.63 Was als Ausdruck einer persönlichen Konfession überzeugend sein mag, kann freilich nicht ohne weiteres als allgemeine Aufgabe kollektiven Gedächtnisses oder kritischer Geschichtsschreibung aufgefasst werden. Was Ricoeur als „glückliches Vergessen" attraktiv zu machen sucht, macht sich in den Augen Anderer einer unannehmbaren Beschönigung geschichtlicher Erfahrung verdächtig, die nur umstritten sein kann.64 An der Frage, wozu wir Gebrauch von Gedächtnis und Geschichte machen, entzündet sich ein kaum zu schlichtender Streit, der sich im Kern darum dreht, inwieweit Gedächtnis und Geschichte für das, was wir zu erwarten haben oder politisch projektieren, maßgeblich bleiben sollen. Ricœurs Antwort lautet: Nur insoweit soll das Gewesene als maßgeblich gelten, wie ein von der Hoffnung auf moralische Versöhnung getragenes Leben nicht gefährdet wird, das vom Gedanken nicht lassen will, der Schmerz, der in Gedächtnis und Geschichte nachwirkt, werde sich endlich doch als heilbar erweisen. So beherrscht die Sorge um sich die Synthese von Gedächtnis und Geschichte in einem letztlich heilsamen Vergessen - auch auf die Gefahr hin, sich einer Bevormundung der Opfer und der Überlebenden umwillen einer versöhnten Zukunft schuldig zu machen. Statt dessen wäre die Frage zu erwägen, wie im Zeichen einer möglichst unverzerrten und schonungslosen Erinnerung, die uns rückhaltlos und unaufhebbar befremdet, politisch die Zukunft zu gestalten ist, die - sofern wir sie nicht von vornherein einer bestimmten Theologie unterwerfen - weder eine letzte Hoffnung nährt, noch vergangenes Leiden zu einem unabgeschlossenen macht oder künftiges Glück begründet.65 Eine solche Verknüpfung von Erinnerung und Politik kann weder vorwärts noch rückwärts die Wunden zu heilen versprechen, die die Geschichte schlägt (wie schon Max Horkhei-

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65

Den Aspekt einer womöglich erpressten Versöhnung und einer erzwungenen „Politik der Vergebung" (die Ricoeur selbst für nicht machbar hält), spare ich an dieser Stelle aus. Zur Brisanz eines solchen Versöhnungsdenkens im politischen Kontext vgl. P. Duvenage, „Die Politik des Erinnerns und Vergessens nach Apartheid und Auschwitz", in: B. Liebsch, J. Riisen (Hg.), Trauer und Geschichte, S. 307-338; C. Grüny, „Widerstreit, Wahrheit, Versöhnung. Lyotard und die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission", in: B. Liebsch, J. Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit, Frankfurt am Main 2003, S. 525-556. Hier geht Ricoeur so weit, dass ein Rezensent direkte Unterstützung für die notorischen Thesen E. Noltes in seinen Überlegungen erkennen kann. Z.B. deshalb, weil das Interesse an einer wieder „befriedeten Gesellschaft" jeder auf Dauer „geschuldeten" Erinnerung, die angeblich von „einer einschüchternden, selbsternannten [!] Opfergruppe" eingeklagt werde, im Wege stehe. Was für eine Befriedung wäre das aber, die um den Preis der Bevormundung eines Leidensausdrucks erkauft werden müsste, der kein „Privileg", sondern fortgesetzte Heimsuchung ist? Vgl. R. Rochlitz, „Das Gift der Geschichte. Paul Ricœurs Erinnerungspolitik", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 45 (2000), Nr. 10, S. 1249-1256. Vgl. S. Mosès, „Eingedenken und Jetztzeit", in: A. Haverkamp, R. Lachmann (Hg.), Memoria, Poetik und Hermeneutik XV, München 1993; E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt am Main 1970, S. 152f.

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mer gegen Walter Benjamin eingewandt hat66). Geschichtsphilosophie lässt sich nicht mehr heilsgeschichtlich betreiben. Aber nur im Zeichen einer womöglich verzweifelten Erinnerung, die dennoch praktisches Engagement für eine bessere Zukunft inspiriert, können wir es wagen, denen, die nach uns folgen, oder die wir ungefragt „in diese Welt hinübergezogen" haben (Kant), unter die Augen zu treten. Unsere eigene Glaubwürdigkeit in dem Ansinnen, Anderen ein geschichtliches Leben zuzumuten, steht hier vor allem auf dem Spiel. Weder das Erinnern noch das Vergessen lässt sich aber in diesem Sinne einfach auf Dauer stellen, institutionalisieren und politisch garantieren. Wer das Gegenteil glauben macht, befördert ein noch tieferes Vergessen, das die durchgängig als Schrift begriffene Geschichte von Anfang an heraufbeschwört. Die Schrift fixiert Erinnerbares und überantwortet sich im gleichen Zug dem Vergessen. „Was ich zu Papier bringe, nehme ich aus meinem Gedächtnis heraus, und folglich vergesse ich es", zitiert H. Weinrich den französischen Schriftsteller Bernardin de Saint-Pierre .67 Einem Stück Papier oder einem Ding anderer Art, einem Denkmal, einem Monument oder einem Gedächtnisort das Gedächtnis gleichsam zu delegieren, hat sich als ausgezeichnete „Lethotechnik" (Lurija) erwiesen.68 Kein probateres Mittel, die Vergangenheit zu „entsorgen", als ihr ein Denkmal zu setzen, das alsbald nur noch übersehen wird. Es gibt gar nichts, was die Gefahr des Vergessens ausschließen könnte, nicht einmal eine Erinnerungsmaschine, deren ständig wiederholtes Erinnern unweigerlich zur Abstumpfung und insofern zum Vergessen durch Wiederholung führen müsste. Man muss sich immer neu und anders erinnern, um nicht ironischerweise im Erinnern zu vergessen. Sich aber immer neu und anders zu erinnern, läuft womöglich der Treue des Gedächtnisses zuwider, in der Ricoeur dessen ursprünglichen Wahrheitsbezug sieht. Den Gedanken einer einfach abbildenden Repräsentation bzw. Wieder-Gabe und eines in diesem Sinne „treuen" Gedächtnisses muss man vergessen. Darüber hinaus geraten Gedächtnis und Vergessen in eine Zone der UnUnterscheidbarkeit, wie selbst das treueste, der Schriftlichkeit anvertraute Gedächtnis zeigt. Man muss vergessen bzw. das Vergessen riskieren, um sich erinnern zu können. Und wir können nicht mehr auf eine unvermittelte Erinnerung bauen, um nicht zu vergessen. Am Ende ist es gerade diese UnUnterscheidbarkeit, die das Gedächtnis wie eine unerledigte Aufgabe lebendig hält. Niemals können wir uns dessen sicher sein, erinnert oder vergessen zu haben (oder beides in einem Zug). Aus dieser Unsicherheit heraus greifen wir zu Hilfsmitteln wie der Fotografie, zu schriftlichen Zeugnissen, Spuren und Dokumenten, die uns an das erinnern, was wir vergessen hatten. Stets erst im Nachhinein zeichnet sich das Vergessen ab und provoziert die Frage, was wir vergessen können und was wir nicht vergessen dürfen. Was im bürokratischen Umgang mit nutzlos gewordenen Akten unvermeidlich ist, 66

67 68

Vgl. R. Langthaler, „Gedächtnis, Erinnerung und Trauer im Kontext der Geschichts- und Religionsphilosophie", in: B. Liebsch, J. Riisen (Hg.), Trauer und S. 85-110, hier: S. 106f. H. Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 99. Vgl. ebd., S. 136.

kantischen Geschichte,

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der Akt der sog. Kassation nämlich, erscheint im öffentlichen Gebrauch, den man von Gedächtnis und Geschichte macht, unannehmbar: dass sich irgend jemand anmaßt, diese Frage für Andere mitzuentscheiden. Als Palliativ gegen politische Bevormundung, die sich das Recht nimmt, über das zu Erinnernde und über das zu Vergessende quasi richterlich zu dekretieren, brauchen wir eine möglichst nicht manipulierbare Vielfalt von Gedächtnissen und Gegen-Gedächtnissen, Geschichten und Gegen-Geschichten, in deren „polemischer" Auseinandersetzung allein auch Spielräume gerechtfertigten Vergessens zu ermitteln sind. Gewiss ist politisch Vorsorge zu treffen gegen ein endlos nachtragendes Gedächtnis, das niemals zu begleichende moralische Rechnungen über den Tod hinaus aufmacht und die Erinnerung zur Quelle neuer Gewalt werden lässt. Allzu oft schläft das nicht Vergessene wie ein krank machender Keim in den Schränken und überlebt spielend Jahrhunderte. Aber diese Vorsorge hat ebenso wie jene Auseinandersetzung umwillen eines guten Vergessens ihren Ort allein im öffentlich artikulierten Dissens und Streit, der gewiss nicht die Hoffnung auf eine letztlich beruhigte conditio histórica nährt, wohl aber versprechen sollte, es selbst mit der schlimmsten Vergangenheit aufzunehmen, um die Nachfolgenden vor einer fatalen Wiederholung des Gleichen zu bewahren. In diesem nicht allzu bescheidenen Versprechen, das aus maßloser und unauslöschlicher Trauer darüber keimt, was man Fremden angetan hat, sehe ich den Sinn der gegenwärtigen conditio histórica.

KAREN JOISTEN

Paul Ricœurs Rückgang in den Glauben und der „Optativ des Wunsches" in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen

Das Werk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen von Paul Ricoeur ist mit seinen fast 800 Seiten ein umfangreiches Buch, das einen zähen Leser verlangt. Dicht geschrieben, mit zahlreichen Bezügen zu geisteswissenschaftlichen Exponenten insbesondere unter den Philosophen und Historikern, legt Ricoeur einen weiten Denkweg bis hin zu seinem ,.Epilog" über die „Schwierige Vergebung" zurück, der die großen Etappen „Über Gedächtnis und Erinnerung", „Geschichte und Epistemologie" und schließlich „Die conditio histórica" aufweist. Die Weite dieses Denkwegs und die Tiefe seines Gedankengangs stellen - im besten Sinne des Wortes - eine Zumutung für den Leser dar, die noch durch Ricœurs Vorliebe für dialektische Denkfiguren verschärft wird. Ricoeur ist diese Zumutung an den Leser wohl selbst nicht entgangen, was vermutlich der Darstellungsweise entnommen werden kann, die er erstmals in diesem Buch erprobt. So verweist er in seinem „Vorwort" explizit darauf, dass er selbst „an den strategisch wichtigsten Punkten des Werks" - also letztlich vor jedem Unterkapitel Orientierungshilfen im Sinne von inhaltlichen Rück- und Vorblenden gegeben hat, die dem Leser kurz und bündig seinen Standort innerhalb des bisherigen Gedankenverlaufs vor Augen führen sollen und die die Anbindung des Kommenden an das Vorherige zu geben versuchen.1 Auf diese Weise verliert der Leser weniger die Stelle der Untersuchung, an der er sich gerade befindet, aus dem Auge, und es gelingt ihm eher, sich auf dem Denkweg Ricœurs nicht zu verirren. Diese erstmalige Erprobung der Darstellungsweise der Orientierungshilfe, die sicherlich Leserfreundlich ist, kann auch als Hinweis für ein Problem gelesen werden, das sich bei einer hermeneutischen Analyse gerade dieses Werks stellt. Birgt nämlich Gedächtnis, Geschichte, Vergessen wirklich eine solche Komplexität und Dichte, die sogar die 1

Vgl. P. Ricoeur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, aus dem Frz. v. H.-D. Gondek u. a. München 2004, S. 17. Aus Gründen der Lesbarkeit werden die Zitatnachweise aus diesem Werk in Klammern im Fließtext mit der Abkürzung GGV angeführt.

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Dringlichkeit auf Seiten des Autors heraufbeschwört, erstmals eine neue Darstellungsform zu implementieren, steht ein Interpret in besonderer Weise vor der Schwierigkeit, diesem Werk gerecht werden zu können - wenn gerecht werden heißt, möglichst viele der springenden Gesichtspunkte und der wichtigsten Sachverhalte angemessen darzulegen. So spitzt sich bei der Analyse dieses dichten Buchs die Alternative zu zwischen dem möglichst textnahen Akt des Referierens von Ricœurs Position einerseits- sowie der damit einhergehenden Gefahr, als Interpret in seinem Text zu versinken - und der Möglichkeit der Darstellung der eigenen Position andererseits - und der damit einhergehenden Gefahr, Ricoeur aus dem Auge zu verlieren. Unabhängig davon, auf welche Seite dieser Alternative sich ein Interpret eher schlägt, die hermeneutische Grundforderung, die Ricoeur selbst formuliert hat, nämlich einen Text zunächst ebenso gut und dann anders zu verstehen, damit der Leser sich angesichts des Textes selbst versteht,2 wird für ihn nur sehr schwer einzulösen sein. Im Folgenden wollen wir diesen beiden Lesemöglichkeiten ein Stück weit entkommen und einen dritten vermittelnden Weg einschlagen, der zwei Umwege beinhaltet. Leitend ist dabei die Intuition, dass Ricoeur einem Glauben verhaftet ist, der untergründig wirkt und der es ihm ermöglicht, den ,Jiorizont eines zur Ruhe gekommenen Gedächtnisses, ja eines glücklichen Vergessens" (GGV, S. 633) mit sich zu führen. Um dies aufweisen zu können, konzentrieren wir uns beim ersten Umweg zunächst auf die Heideggerdeutung Ricœurs, die sich im dritten Teil seiner Ausführungen über die conditio histórica im zweiten Abschnitt über „Geschichte und Zeit" (GGV, S. 531-631) befindet. Allerdings wollen wir nicht bei einer bloßen Rekapitulation der Heideggerexegese Ricœurs in diesem Werk stehen bleiben, stellen wir diese letztlich doch in den Dienst unseres zweiten Umweges, bei dem es darum geht auf Ricœurs Überlegungen, wie er sie in „Religion, Atheismus und Glaube"3 vorstellt, zurückzugreifen. An diesen wird vielleicht deutlich, dass Ricoeur letztlich einem bestimmten Verständnis von Glauben verbunden ist, der sich nicht nur in diesen frühen „Lectures" aus dem Jahre 1968 aufweisen lässt, sondern eben auch in dem Werk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Gelänge dies, würde sichtbar werden, dass Ricoeur 1. trotz aller inhaltlichen Differenzen zu Heidegger strukturell mit ihm verwandt ist, und dass 2. diese Form des Glaubens erforderlich ist, wenn so etwas wie eine „schwierige Vergebung" und ein „glückliches Gedächtnis" möglich werden sollen. Und es zeigt sich 3., dass Ricoeur (wohl lebenslang) auf dem Weg hin zu einer neuen Ethik des Trostes ist, die mit einer „positiven Ontologie" einhergeht. Vor diesem Hintergrund könnte dann prinzipiell die Frage gestellt werden, ob das Problem der echten Vergebung nicht prinzipiell mit vorethischen Glaubenssetzungen 2

3

Vgl. P. Ricoeur, „Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik", S. 129, in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1990), übersetzt und hrsg. v. P. Welsen, Hamburg 2005, S. 109-134. P. Ricoeur, „Religion, Atheismus und Glaube", in: A. Maclntyre, P. Ricoeur, Die religiöse Kraft des Atheismus, aus dem Amerikanischen von R. Ansén, Freiburg i. Br., München 2002, S. 6 5 102. Im Folgenden abgekürzt mit RAG.

PAUL RICŒURS RÜCKGANG IN DEN GLAUBEN UND DER „OPTATIV DES WUNSCHES"

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einhergehen muss, da es eben nicht, wie Ricoeur selbst heraushebt, als eine „Politik der Vergebung" gehandhabt werden kann. Präziser gefragt, inwiefern Vergebung, der die Asymmetrie einer vertikalen Beziehung" innewohnt (GGV, S 701), auf einer Logoskonzeption fußen muss, die allein vom „Optativ des Wunsches" durchdrungen sein kann (GGV, S. 760). Vielleicht können ja Ricœurs Überlegungen letztlich nur in eine „Eschatologie" einmünden, in deren äußersten Horizont der „Leitstern der ganzen Phänomenologie des Gedächtnisses [nämlich] die Idee des glücklichen Gedächtnisses" entworfen werden kann, weil er die ursprüngliche Dimension des Glaubens an das Wort nach dem Zeitalter der Religiosität in Anspruch nimmt (Vgl. GGV, S. 761).

1.

Ricœurs „Kontroverse" mit Martin Heidegger

Ricoeur konzentriert sich bei seiner Auseinandersetzung mit Martin Heidegger auf dessen frühes Hauptwerk Sein und Zeit aus dem Jahre 1927. Dies ist nicht verwunderlich, da Heidegger in diesem Buch ebenso wie Ricoeur die Weise des Seins, die der Mensch ist, vor allen anderen Seinsweisen des Seienden (wie z.B. Tier, Pflanze, Ding) auszeichnet und den Blick auf die Analyse des Bezugs dieses menschlichen Seins zum Sein richtet (vgl. GGV, S. 532). Der späte Heidegger, den Ricoeur außer Acht lässt, denkt demgegenüber nach seiner so genannten „Kehre" das wechselweise Zusammengehören von Sein und Mensch vom Menschen her, den er terminologisch als „Da-sein" fasst, und das Sein vom Sein („Seyn") und dessen Wahrheit aus.4 Auf diese Weise lässt sich das Denken des späten Heidegger - strukturell betrachtet - als die säkularisierte Variante eines theologischen Modells lesen, in dem allerdings nicht Gott als integrale Mitte im Zentrum dieses Modells steht, sondern das Sein, das sich lichtet. Blickt man genauer auf den Ansatz des frühen Heidegger von Sein und Zeit geht es ihm um eine „existenziale Analytik" des Menschen als Da-sein, bei der die Hermeneutik als eine Auslegung des Daseins verstanden werden kann, die eine „Analytik der Existenzialität der Existenz" anzielt.5 Diese Bestimmung hat die Einsicht zu ihrer Voraussetzung, dass der Mensch als Dasein ontologisch vor allem anderen Seienden ausgezeichnet ist, da er einen wesentlichen Bezug zum Sein hat, der sich als Bezug zu sich selbst, zum Mitmenschen und zum nicht-menschlichem Seienden entfalten kann. Aus dieser Sicht ist der Mensch für Heidegger nicht bloß (wie der Stein), sondern er hat zu sein, was Heidegger sprachlich durch die Bestimmung „Zu-sein" deutlich zu machen versucht. 6 4 5

6

Vgl. dazu: E. Kettering: NÄHE. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, S. 323-332. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 15 1984, an Hand der Gesamtausgabe durchges. Aufl. mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar des Autors im Anhang, S. 38. Siehe dazu: F. Volpi, „Der Status der existenzialen Analytik. (§§ 9-13)", in: T. Rentsch (Hg.), Martin Heidegger. Sein und Zeit, Berlin 2001, S. 29-50. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 42.

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Ricoeur geht es in dem Kapitel über „Geschichte und Zeit", in dem, wie gesagt, seine Auseinandersetzung mit Heidegger zu finden ist, um den „Übergang von der kritischen Hermeneutik zu einer der conditio histórica als uniiberschreitbaren Seinsweise zugewandten ontologischen Hermeneutik" (GGV, S. 531). Dabei macht Ricoeur deutlich, dass er von seinem Selbstverständnis her eine Nähe zu den Analysen von Sein und Zeit hat, sich aber zugleich eher in einer Konfrontation und in einer „Kontroverse" als in einem Einverständnis mit Heidegger sieht. Versucht man die Hauptpunkte zu benennen, auf die Ricceurs Auseinandersetzung mit Heidegger fokussiert ist, sind diese - die „Sorge" (und die Existenzialien), - die Zeitlichkeit, - die drei Zeitigungsstufen: die fundamentale Zeitlichkeit, die Geschichtlichkeit und die Innerzeitigkeit, - das „Sein zum Tode". Diese Hauptgesichtspunkte, auf die sich Ricœurs Konfrontation mit Heidegger konzentriert, werden von ihm nicht nacheinander behandelt, da sie natürlich unter- und miteinander verbunden, vernetzt und überkreuzt sind. Im Folgenden werden wir uns bei der Darlegung dieser Hauptgesichtspunke auf Ricœurs Kritik konzentrieren, die wir in Form von , blinden Flecken' akzentuiert herausstellen wollen.

a.

Der blinde Fleck des Leibes

Ricoeur macht seine kritische Distanz zu Heidegger bereits in Bezug auf dessen fundamentalontologischer Bestimmung des Menschen als Dasein deutlich.7 Denn der in einem empirischen Sinne verstandene Mensch, der „als Handelnder und als dieses Handeln Erleidender" aufzufassen ist, gerät bei Heideggers Betrachtung in den Hintergrund. So wird für Ricoeur nicht zuletzt anhand Heideggers Verständnis der ontologisch zu verstehenden „Sorge" sichtbar, dass bei ihm das „Existenzial des Leibes" völlig fehlt (GGV, S. 533).8 Ja, das Thema des Verhältnisses zum eigenen Körper, zum eigenen Leib ist gewissermaßen der blinde Fleck in Heideggers existenzialer Analyse des Daseins, da er ihm keinerlei Beachtung schenkt. ,JVun impliziert aber diese Kategorie des Leibes eine gewisse Uberwindung des durch die Hermeneutik des Daseins ausgehobenen logischen Abgrundes zwischen den Existenzialien, die sich um die Sorge als Kern drehen, und den Kategorien, unter denen die Seinsweisen der bloß vorhandenen und zuhandenen Dinge aufgegliedert werden" (GGV, S. 533). 7

8

Prononciert fragt Ricoeur angesichts dieser Bestimmung: „Ist dies der Mensch? Nein, wenn wir mit Mensch ein Seiendes bezeichnen, dem sein Sein gleichgültig ist; ja, wenn dieses aus seiner Gleichgültigkeit heraustritt und sich als dieses Sein versteht, für das es um das Sein geht" (GGV, S. 545). Zum Verhältnis von Zeitlichkeit und Sorge siehe: M. Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität im Frühwerk Martin Heideggers, Würzburg, Amsterdam 1982.

PAUL R I C Œ U R S RÜCKGANG IN DEN G L A U B E N UND DER „OPTATIV DES W U N S C H E S "

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Von hier aus kann man einen Bezug zu Heideggers Deutung des Todes herstellen. Würde Heidegger den Körper nicht ausblenden, könnte er an ihm bereits das Sterbenmüssen des Lebens , ablesen'. Nimmt man nämlich den Körper als Objekt - bzw. in Anknüpfung an das vorangegangene Zitat - als ein bloß vorhandenes und zuhandenes Ding, würde man den Tod als dessen unausweichliches Schicksal erfassen können. Dies kann man auch durch die „von der alltäglichen Erfahrung bestätigte Biologie" lernen, insofern sie dem Menschen sagt, „daß die Sterblichkeit die andere Hälfte eines Paares bildet, dessen eine Hälfte die geschlechtliche Reproduktion ist" (GGV, S. 550). Auf diesem „Weg durch die Äußerlichkeit und die Faktizität" ist dem Menschen für Ricoeur ein Begehren zu eigen, leben zu wollen, das man als eine leibliche Gestalt der Sorge bezeichnen könnte. Dieser leiblichen Gestalt bleibt die heideggersche Konzeption des Ganzseinkönnens äußerlich, wodurch sie sich nicht einfach in ein Sterbenkönnen verwandeln kann, sondern in ein „Hinnehmen, sterben zum müssen": „Doch selbst hingenommen bleibt der Tod erschreckend, angsteinflößend, weil er unserem Begehren radikal fremd ist, und auch der Kosten wegen, die sein Empfang darstellt" (GGV, S. 551). Über diesen Umweg der Äußerlichkeit und Faktizität hinaus kann für Ricoeur der Umweg über die Pluralität noch tiefer ins Zentrum der Feindschaft vordringen, aus dem der Tod hervorgeht. Immerhin kann durch den Tod des anderen zweierlei nacheinander kennen gelernt werden, nämlich zum einen die Erfahrung des Verlustes eines geliebten Menschen und zum anderen die Trauer, die mit diesem Verlust einhergeht. Durch den Verlust und den damit verbundenen Abbruch der Kommunikation geschieht „in dem Maße eine wirkliche Amputation des Selbst [...], wie der Bezug zum Dahingeschiedenen einen integralen Anteil der eigenen Identität ausmacht" (GGV, S. 552). Dieser Verlust ist gewissermaßen eine Art Selbstverlust, der der Etappe der darauf folgenden Trauer vorausgeht: „Am Ende einer Bewegung der Verinnerlichung des auf immer verlorenen Liebesobjekts schält sich die Versöhnung mit dem Verlust heraus, und genau darin besteht die Trauerarbeit" (GGV, S. 552). Anzumerken ist, dass hier bereits eine Denkfigur sichtbar wird, die im gesamten Denken Ricœurs von Relevanz ist. Sieht Ricoeur nämlich z. B. im Bezug auf den Tod die Dialektik von Verlust und Trauer(arbeit) am Werk, wird er diese Denkfigur als Mangel und Wiederaneignung („unserer Anstrengung zu sein") und als Schuld und Vergebung im Kontext der neuen (vorethischen) Ethik und einer „positiven Ontologie" herausheben. Trotz der inhaltlichen Differenzen denkt Ricoeur stets den einen Pol, d. i. den Verlust, den Mangel, die Schuld, in seiner inneren Bezogenheit zum anderen Pol, der Trauerarbeit, der Aneignung, der Vergebung. Wird auf diesem Weg die innere spannungsvolle Bezogenheit beider Pole durchlebt und, heideggerianisch anmutend gesagt, durch-leibt, kann dem Menschen eine Versöhnung gelingen, bei der der Verlust und der Mangel und die Schuld hingenommen und akzeptiert werden kann. Unter Rückgriff auf die Position von Emanuel Lévinas, wie sie dieser in seinem Buch Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität entfaltet, geht Ricoeur noch einen entscheidenden Schritt weiter und stellt die These auf, dass jeder Tod als eine Art Mord aufgefasst werden kann. Diese zunächst irritierende Intuition bringt die harte

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Lektion zum Ausdruck, dass jeder Tod etwas Gewaltsames hat, das gerade nicht so einfach bezähmt werden kann.9 Schärfer und präziser formuliert: der Mord - bzw. mit Lévinas gesagt - die „Leidenschaft des Mordes" lässt allein das „Mal des Nichts" zum Vorschein treten. Lévinas erhebt gegen diese Leidenschaft nicht nur die ethische Forderung den Mord zu untersagen und schreibt sie buchstäblich in jedes Gesicht ein, sondern er bezieht den Mord auch auf den je eigenen Tod: „Das Gefühl eines unmittelbaren Bevorstehens, das jedem Wissen um den Tod vorausgeht, gibt sich als unmittelbares Bevorstehen einer von einer unbekannten Stelle der Zukunft herkommenden Drohung zu verstehen" (GGV, S. 554). Dabei macht Ricoeur kenntlich, dass Lévinas - im Unterschied zu Heideggers Verständnis des Seins zum Tode - für „ein Trotz-des-Todes, ein Gegen-den-Tod" eintritt, durch den sich der Raum eröffnen kann, in dem allein die Güte sichtbar werden kann. Blickt man auf diese Ausführungen betont Ricoeur nicht zuletzt anhand des Fehlens des Existenzials des Leibes in Heideggers Fundamentalontologie das Begehren des Menschen, das in einer konkreten und empirischen Ebene , verortet' ist und das seiner Leiblichkeit Nachdruck verleihen will. Nimmt man dies ernst, kann man mit Ricoeur nicht auf der existenzialen Ebene verharren, sondern hat sie in eine Dialektik mit realen Gegebenheiten zu bringen. Dieser Gedanke der Bezogenheit zwischen Existenzialität und Faktizität wird uns auch wieder bei Ricceurs Weg hin zu einer neuen Ethik des Trostes begegnen, ja er scheint ein Grundanliegen Ricceurs zu sein, um weder in die Falle eines ontologischen (ethischen) Rigorismus' noch eines empirischen Primitivismus zu tappen.

b.

Der blinde Fleck der Repräsentanz

Der Leitfaden von Ricœurs Konfrontation mit Heideggers Analytik des Daseins liegt in seiner Befürchtung, „dass die in Sein und Zeit durchgeführte Hierarchisierung der zeitlichen Instanzen - fundamentale Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit, Innerzeitigkeit - in Gestalt abnehmender Ursprünglichkeit und zunehmender Uneigentlichkeit für die Anerkennung der Ressourcen einer von der Grundinstanz zur begründeten Instanz nach und nach erteilten Bedingtheit - und in diesem Sinne Rechtmäßigkeit - ein Hindernis darstellt" (GGV, S. 547). Das meint, dass Heideggers einseitige Hochschätzung der fundamentalen Zeitlichkeit mit ihrer schrittweisen Abwertung der Geschichtlichkeit und der Innerzeitigkeit die Gefahr mit sich führt, den Eigenarten und den originären Qualitäten dieser nachgeordneten Zeitigungsstufen nicht gerecht werden zu können.10 Um 9

10

Kritik an Heideggers Todeskonzeption haben einige Philosophen geübt. Vgl. u. a.: E. Fink, Metaphysik und Tod, Stuttgart 1969; D. Sternberger, „Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzialontologie", in: ders., Über den Tod. Schriften, Frankfurt am Main 1977, S. 112-125; G. Knörzer, Tod ist Sein? Eine Studie zu Genese und Struktur des Begriffs „Tod" im Frühwerk Martin Heideggers, Frankfurt am Main, New York 1990. Zu Heideggers Verständnis von Zeitlichkeit siehe auch: F.-W. v. Herrmann, „Zeitlichkeit des Daseins und Zeitlichkeit des Seins. Grundsätzliches zur Interpretation von Heideggers Zeit-Ana-

PAUL RICŒURS RÜCKGANG IN DEN GLAUBEN UND DER „OPTATIV DES W U N S C H E S "

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diese Kritik deutlich zu machen, orientieren wir uns im Folgenden an dieser dreigliedrigen Hierarchisierung und versuchen, wie zuvor, von Ricoeur aus die blinden Hecke im Denken Heideggers aufzuzeigen. Wendet man sich erstens der fundamentalen Zeitlichkeit zu, grenzt Ricoeur seine Auseinandersetzung mit Heidegger auf ein einziges Problem ein, ,jiämlich die Fähigkeit einer Ontologie der Zeitlichkeit, die Repräsentation der Vergangenheit durch die Geschichte, und diesseits von dieser durch das Gedächtnis, möglich zu machen - im existenzialen Sinne der Möglichkeit" (GGV, S. 534). Das meint, dass Ricoeur die heideggersche Ontologie der Zeitlichkeit, bei der die Zeitlichkeit den Status einer „Metakategorie" hat (also von gleichem Rang wie die Sorge ist), insofern der Bezug des menschlichen Seins zum Sein wesentlich zeitlich ist, daraufhin befragt, inwiefern sie die historische Erkenntnis dessen, was wirklich stattgefunden hat, ermöglicht. Denn Ricoeur versteht unter Repräsentanz, wie er unter Rückgriff auf Leopold von Ranke darlegt, gewissermaßen eine Rekonstruktion des Historikers, „so wie es wirklich gewesen ist" - allerdings im vollen Bewusstsein, dass es sich dabei um einen gewagten Anspruch innerhalb der historiographischen Operation handelt (vgl. GGV, S. 558). Blickt man nun auf Heidegger, bestimmt dieser die Vergangenheit als eine uneigentliche Form von Zeitlichkeit, da sie aus dem vulgären Verständnis von Zeit als Summe vergangener bzw. verschwindender Jetzt resultiert. Geht man von einer solchen Bestimmung aus, ist ein Gespräch zwischen dem Philosophen und dem Historiker kaum möglich. Denn der Philosoph kann mit dem schlechthin Abgelaufenen letztlich nicht gerecht umgehen, da er dieses in einem abgeleiteten bzw. derivaten Sinne als bloß Vorhandenes und Zuhandenes bestimmt. So ist es nicht verwunderlich, dass Heideggers Buch Sein und Zeit das Problem des Gedächtnisses außer Acht lässt und auch das des Vergessens nur flüchtig streift. Begreift man nun den Tod als etwas, das „in die Handlung selbst, Geschichte zu schreiben, einbezogen ist", bindet man den Tod „in die Darstellung als historiographischer Operation" ein (GGV, S. 561). Diese auf den ersten Blick vermutlich unverständlich erscheinende Äußerung, nach der man den Tod in der Geschichte zu einer Bestattung durch den Historiker verklärt, versucht Ricoeur unter Bezugnahme und Auslegung der Position von Michel de Certeau, wie dieser sie in L'Absent de l'histoire entfaltet, darzulegen. So hebt de Certeau heraus: das Schreiben des Historikers „macht dem Mangel Platz und verbirgt ihn zugleich; es erfindet diese Erzählungen der Vergangenheit, die den Friedhöfen in den Städten entsprechen; es treibt eine Gegenwart des Todes unter den Lebenden aus und gesteht sie ein" (zitiert nach GGV, S. 563). Was hier deutlich gemacht wird, ist eine Gleichsetzung zwischen Schrift und der Bestattung eines Toten. Das meint, dass de Certeau in einem Sammelband von Aufsätzen mit dem Titel Das Schreiben der Geschichte eben das Schreiben der Geschichte als eilysen", in: Philosophische Perspektiven 4 (1972), S. 1 9 8 - 2 1 0 ; G. Wohlfahrt, „Der Augenblick. Zum Begriff der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit bei Heidegger", in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 7 (1982), S. 2 7 - 5 5 ; M. Fleischer, Die Zeitanalysen in Heideggers Sein und Zeit. Aporien, Probleme und ein Ausblick, Würzburg 1991.

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nen stellvertretenden Beerdigungsritus deutet. So kann man die Bestattung zunächst als einen Ort auffassen, bei dem man einem (bzw. den) Toten einen Platz in ihren Gräbern einräumt. Dieser Platz hat für de Certeau den Leser als sein Gegenüber, an den die Geschichtsschreibung gerichtet ist. Nimmt man nun den Übergang von der Bestattung als Ort hin zu der Bestattung als Akt bzw. Geste in den Blick, tritt die für die Forschung kennzeichnende literarische Umkehrung der Verfahren zum Vorschein. In der Geste des Schreibens als eine Art Begräbnisritual wird zum einen der Tod gleichsam gebannt, indem er ihn in Form einer „Population von Toten - Personen, Mentalitäten oder Preisen" (wie in einer Gemäldegalerie) inszeniert und dergestalt dem Diskurs aussetzt; zum anderen übt das Schreiben eine symbolisierende Funktion aus, indem es mittels der Sprache eine Vergangenheit hervorbringt, mit deren Hilfe sich eine Gesellschaft verorten kann. Auf diese Weise entsteht ein dynamischer Bezug zwischen dem Ort des Toten und dem des Lesers, der letztlich den Übergang zwischen der Bestattung als Ort und als Schreiben benennt.11 So liefert die Ontologie des geschichtlichen Seins, wie man mit Ricoeur resümierend festhalten kann, auf der einen Seite „die volle Rechtfertigung für jene skripturale Konversion, dank derer eine Gegenwart und eine Zukunft dem rückschauenden Diskurs der Historie vorgängig erschlossen werden. Umgekehrt sorgt die vom Historiker selbst vorgenommene Interpretation dieser Operation in einer Bestattungsterminologie für eine Verstärkung der für den Philosophen bestehenden Versuchung, der Ontologie des Seins zum Tode eine Ontologie des Seins im Angesichte des Todes, gegen den Tod gegenüberzustellen, in der die Trauerarbeit berücksichtigt wäre. Eine ontologische und eine historiographische Version der Trauerarbeit würden sich so in einem zweistimmigen Diskurs-Grabmal verbinden" (GGV, S. 566/7).

c.

Die blinden Flecke: „Wiederholung" und Generation

Wendet man sich nun zweitens Ricceurs Auseinandersetzung mit der zweiten Ableitungsstufe - nach der fundamentalen Zeitlichkeit als der ersten Stufe - zu, die von Heidegger „Geschichtlichkeit" genannt wird, wird es dem Philosophen möglich, auf die epistemologischen Ansprüche der Historiographie zu reagieren (GGV, S. 568-588). Das meint, dass auf dieser Ebene ein Gespräch zwischen beiden Perspektiven möglich wird und die Auseinandersetzung zwischen Ontologie und die Historiographie um das Thema der Geschichtlichkeit herum besonders deutlich hervortritt. Ohne mit Ricoeur die Darlegung der Bedeutungsgeschichte des Ausdrucks Geschichtlichkeit über Hegel, Dilthey und dem Grafen Yorck nachzuzeichnen, kann im Blick auf Heidegger herausgehoben werden, dass er an Diltheys Begriff des „Lebenszusam-

11

So heißt es bei de Certeau: „eine Vergangenheit zu .kennzeichnen' bedeutet, den Toten einen Platz einzuräumen, aber auch den Raum der Möglichkeiten neuzuverteilen, negativ zu bestimmen, was getan werden muß, und folglich die Narrativität, die die Toten begräbt, als Mittel zu benutzen, den Lebenden einen Platz zu sichern" (zitiert nach GGV, S. 564).

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menhangs" ansetzt und gegenüber diesem die Kritik des Mangels an ontologischer Grundlegung äußert. Darüber hinaus formuliert Heidegger auch gegenüber der Historiographie seiner Zeit die ontologische Unzulänglichkeit, die er von der ersten Stufe der Zeitigung aus, d. i. die fundamentale Zeitlichkeit, formulieren kann. So nimmt Heideggers Denken seinen Ausgang von der Zeitlichkeit, von der aus im Sinne einer Ableitung sukzessive eine Abnahme der Grade an Eigentlichkeit aufgewiesen werden kann. Ricoeur liest nun den heideggerschen Ansatz ein Stück weit gegen Heidegger, um eine Brücke zwischen der Ontologie des geschichtlichen Seins und der Epistemologie der historiographischen Operation zu gewinnen, einfacher gesagt, um Heideggers Ansatz für eine Auseinandersetzung mit der Historiographie stark machen zu können. Dies geschieht dadurch, dass er den - von Heidegger her - gegenüber der Geschichtsschreibung geäußerten Vorwurf des ontologischen Mangels bzw. Defizits durch den Blick auf die „Ressourcen zur existenzialen Ermöglichung des historiographischen Vorgehens" auszugleichen versucht und nach Ansatzpunkten für eine fruchtbare Anknüpfung sucht (GGV, S. 539). Zu diesen gehören, wie Ricoeur sagt, die Unterscheidung zwischen der Vergangenheit als abgelaufen und der als gewesen; des Weiteren (worauf wir uns beschränken müssen) der von Heidegger in Anknüpfung an Wilhelm Dilthey formulierte Begriff der Generation bzw. der Generationenfolge; und schließlich der unter Rückgriff auf S0ren Kierkegaard von Heidegger verwendete Ausdruck der Wiederholung.12 Achtet man nun mit Ricoeur etwas genauer auf den Begriff der Generation, kann mit diesem der allgemeinere Begriff der Überlieferung und der vom Erbe konkretisiert werden und - was entscheidend ist - , die Schuld nicht nur eine leibliche sondern auch eine institutionelle Färbung erhalten. Immerhin gehört Ricoeur zufolge zur Vorstellung von Schuld „das Merkmal der ,Last', des , Gewichts', der Bürde; und darin findet man das Thema des Erbes und der Überlieferung wieder, abzüglich der Vorstellung von einem moralischen Vergehen" (GGV, S. 587). So ist durch den Begriff des Schuldigseins eine Verbindung zwischen der Zukünftigkeit und dem Vergangenheitssein, zwischen dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont, zwischen dem „Affiziertsein durch die Vergangenheit" und „dem Der-Zukunft-zu-gewandt-sein-Können", gewährleistet, was Ricoeur zufolge mit Heideggers Wendung der „vorlaufenden Erschlossenheit" als Inbegriff der Übernahme dieses Schuldigseins angezeigt wird. Durch den unter Rückgriff auf Kierkegaard von Heidegger verwendeten Ausdruck der Wiederholung braucht die Geschichte nicht in der Fokussierung auf die Toten als deren Bestattung gelesen werden, da es mit seiner Hilfe gelingt, eben auch und besonders den einstmals Lebenden einen Platz einzuräumen. Um dies zu verstehen, darf man die Vorsilbe „Wieder" nicht im Sinne einer bloßen Repetition auffassen, bei der das einstmals Geschehene einfach nur wiederhergestellt oder auch bloß wieder vollzogen wird. Stattdessen eignet man sich - mit einem heideggerschen Verständnis von Wiederholung die Vergangenheit in einer neuen Weise über die Zukunft an, wodurch das Wiederholen als ein „'von neuem Verwirklichen'" aufzufassen ist (vgl. GGV, S. 584). Bei der Refle12

Zum wichtigen Begriff der .Wiederholung' siehe: G. Figa], Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Weinheim 32000, insbes. S. 321-325.

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xión über die Wiederholung kann darüber hinaus die Idee in die Nähe rücken, „daß die Toten einstmals Lebende gewesen sind und daß sich die Geschichte auf eine bestimmte Weise ihrem Lebend-gewesen-Sein nähert. Die Toten von heute sind die Lebenden, die Handelnden und Leidenden von gestern" (GGV, S. 585). Liest man nun mit Ricoeur den heideggerschen Ansatz unter Zuhilfenahme der Begriffe der Generation und der Wiederholung, kann man der Historie der Historiker nicht einfach einen derivaten, mangelhaften, dürftigen Status vorwerfen, der in der Einschätzung einer „uneigentlichen Geschichtlichkeit" kulminiert. Dabei wird nämlich übersehen, dass sich der Historiker in seiner Phantasie einen beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit vergegenwärtigen kann und ihn als gegenwärtig gewesenen erfasst. Geschieht dies, wird ein Rückbezug auf die Menschen von einst möglich, bei dem sie als Menschen mit all ihren Erwartungen, Hoffnungen, Wünschen und Befürchtungen zum Vorschein treten. Der Clou daran ist, dass der vermeintliche Determinismus der Geschichtsbetrachtung aufgebrochen wird und die Kontingenz nun wieder Eingang in die Geschichte findet.

d.

Der blinde Fleck der Dialektik von Gedächtnis und Geschichte

Kommt man nun drittens zur dritten Modalität der Zeitigung, nämlich der Innerzeitigkeit, gelangt man zu dem Modus, der am weitesten von der Eigentlichkeit entfernt ist. So spricht Heidegger selbst davon, dass dieser Modus aufgrund seines Bezuges auf das objektive Rechnen und Messen mit der Zeit (auch wenn dieses Rechnen vor jeder Messung geschieht) als „vulgäre Zeitauffassung" aufzufassen ist.13 Auf dieser Stufe begegnet die Ontologie des Daseins der wirklichen Arbeit des Historikers, was Ricoeur zufolge besonders gut anhand Heideggers Entfaltung der Kategorien, das sind „Datierbarkeit, Öffentlichkeit, Skandierung durch Rhythmen des Lebens" dargelegt werden kann (vgl. GGV, S. 540). Die Grundstruktur des Menschen als Dasein, die Sorge, ist in diesem Modus ein sogenanntes „Besorgen", das einen Umgang mit den Dingen der Welt benennt, die „zuhanden" sind. Heidegger selbst führt erstmals den Begriff des Besorgens im § 12 von Sein und Zeit ein, wo er die Bedeutung des „In-Seins" - das als ein Existenzial den konkreten Bezug des Menschen zur Welt benennt - zu entfalten versucht. Das Besorgen, die Gesamtheit der Arten des praktischen und theoretischen Umgangs zu den Dingen, versetzt den Menschen in die Abhängigkeit und Beziehung zu den Dingen „'bei' denen wir in der lebendigen Gegenwart leben. Das Besorgen rückt so die Bezugnahme auf die Gegenwart in derselben Weise ins Zentrum der Analyse, wie das Sein zum Tode

13

Hans-Georg Gadamer bezeichnet die physikalisch messbare Zeit als „leere Zeit" ohne Füllung. H.-G. Gadamer, „Über leere und erfüllte Zeit", in: ders. (Hg.), Die Frage Martin Heideggers. Beiträge zu einem Kolloquium mit Heidegger aus Anlaß seines 80. Geburtstages, Heidelberg 1969, S. 17-35.

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die Bezugnahme auf die Zukunft und die Geschichtlichkeit die Bezugnahme auf die Vergangenheit auferlegt" (GGV, S. 589). Ricoeur versucht nun vor diesem Hintergrund über die Innerzeitigkeit die Dialektik von Gedächtnis und Geschichte zu erfassen. Sie lässt sich pointiert folgendermaßen charakterisieren: „Auf der einen Seite möchte die Historie das Gedächtnis auf den Status eines Gegenstandes unter anderen in ihrem Untersuchungsfeld reduzieren; auf der anderen setzt das kollektive Gedächtnis seine Ressourcen des gemeinschaftlichen Gedenkens dem Unternehmen einer Neutralisierung erlebter Bedeutungen unter dem distanzierten Blick des Historikers entgegen" (GGV, S. 540). Versucht man angesichts dieser Dialektik die Prioritätsfrage zu beantworten, versucht man also bei den beiden Einstellungsweisen das Vergangene zu erfassen, nämlich bei der Geschichte und bei dem Gedächtnis einer der beiden Weisen einen Primat einzuräumen, kann dies nicht geschehen und man gelangt in eine Dilemmasituation. Den Ausweg sieht Ricoeur darin, eine der beiden Seiten gerade nicht fälschlicherweise über die andere stellen zu wollen und ihr eine Vorrangstellung einzuräumen, sondern beide Seiten aufeinander zu beziehen und sie in eine „offene Dialektik" hineinzuversetzen: „Innerhalb eines solchen Rahmens können Geschichte des Gedächtnisses und Historisierung des Gedächtnisses einander in einer offenen Dialektik konfrontieren, die sie vor jenem Gang bis an die Grenze vor jener hybris bewahrt, die auf der einen Seite die Anmaßung der Geschichte wäre, das Gedächtnis auf den Rang eines ihrer Gegenstände zu reduzieren, und auf der anderen Seite die Anmaßung des kollektiven Gedächtnisses, sich die Geschichte mittels jener missbräuchlichen Verwendungen des Gedächtnisses, zu denen die von der politischen Macht oder von pressure groups durchgesetzten Gedenkveranstaltungen werden können, zum Vasallen zu machen" (GGV, S. 604).

e.

Der blinde Fleck der Offenheit

Der Mensch, der für Heidegger strukturell betrachtet als ein „Sein zum Tode" gefasst werden kann, hat die Möglichkeit des „Ganzseinkönnens". Ricoeur hebt heraus, dass man sich bei diesem heideggerschen Ausdruck des „Ganzseinkönnens" unter der Vorsilbe „Ganz" „nicht ein geschlossenes System, sondern Vollständigkeit und in diesem Sinne Erschlossenheit zu verstehen" hat (GGV, S. 547/8). In der Erschlossenheit ist Ricoeur zufolge allerdings stets Unvollendung angelegt, da Heidegger selbst im Paragraphen 48 vom „Ausstand" spricht. Problematisch ist für Ricoeur, dass das in der Wendung „Sein zum Tode" (Hervorhebg. K. J.) angezielte Ganzseinkönnen im Sinne einer Vollendung letztlich auf die mit der Erschlossenheit aufgewiesene Unvollendung prallt und es so zu einem „Zusammenstoß zwischen Erschließung (ouverture) und Verschließung, zwischen einer nicht zu sättigenden Vollständigkeit und dem Ende in Form eines Abschlusses" kommt (GGV, S. 548). Die Kritik, die Ricoeur an Heidegger übt, könnte man vor diesem Hintergrund vermutlich dahingehend zuspitzen, dass dieser mit der Bestimmung des Menschen als Sein zum Tode vom Willen nach Vollendung des menschlichen Seins durchdrungen ist, die-

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sem dadurch aber seine Offenheit nimmt. In gewisser Weise kreist Ricœurs Kritik daher um die Vorsilbe „Ganz" in dem Begriff Ganzseinkönnen, da diese Vorsilbe bereits ein falschliches Verschließen und Abschließen des menschlichen Seinkönnens anzeigt. Die Konsequenz aus dieser Betonung der Vollendung und der damit einhergehenden Akzentuierung der Verschließung, besteht in dem Spannungsverlust zwischen Erschlossenheit und Verschlossenheit. Auf diese Weise geraten bei Heidegger „die Ressourcen an Erschlossenheit des möglichen Seins" eher aus dem Blick, wodurch sich der Mensch, bildlich gesagt, gewissermaßen auf sich zurückzieht und in sich einschließt (GGV, S. 549). Unmittelbar einsichtig wird dies für Ricoeur bei Heideggers einseitiger Berücksichtigung der Grundbefindlichkeit der Angst, die dazu führt, dass z. B. Grundphänomene wie die der „Freude des sich aufschwingenden Lebens" verdeckt wird. 14 Auch wird bei einer derartigen voreingenommenen und einseitigen Fokussierung auf das Problem des Todes der Gegensatz der „Gebürtigkeit", wie man mit Jean Greisch in Anknüpfung an Hannah Arendts Überlegungen in Vita activa herausheben kann, außer acht gelassen und weitere „Ressourcen der Erfahrung des Seinkönnens diesseits seiner Vereinnahmung durch das Sein zum Tode" nicht erkundet (vgl. GGV, S. 549). So zeigt sich in Heideggers Deutung des menschlichen Seins eine „Besessenheit" vom Problem des Todes, die den dazu erforderlichen Kontrast einer ,,befeuerte[n] Freude darüber, dass ich weiter am Leben bin bis zu ... und nicht zum Tode bin" ausgeblendet hat (GGV, S. 549).

2.

Der neue Weg zum Glauben

Überblickt man die bisher herausgehobenen blinden Flecke im Denken Heideggers und versucht von diesen aus das Grundanliegen Ricœurs zu erfassen, geht es ihm vornehmlich um eine Dialektik, die dem Existenzialen und dem Realen, der Ontologie und der Historiographie, dem Gedächtnis und der Geschichte, ihre Geltung und Gültigkeit anzuerkennen versucht und nicht vorschnell auf eine ihrer Seiten fixiert ist. Heideggers denkerische Größe, könnte man von hier her vielleicht sagen, liegt in der Einseitigkeit seiner Fundamentalontologie, die zu Grundeinsichten menschlicher Existenzialität führt, sich aber zugleich in ihrer Einseitigkeit dem schwierigen Aneignungsprozess zwischen konträren Gegensätzen verweigert. Besonders augenfällig wird dies in seiner Ganzheitsvision des existierenden Daseins, durch die Heidegger - und ich spitze Ricoeur weiter zu - den Menschen seiner Offenheit beraubt, die aber dringend erforderlich ist, um ihn nicht nur zu binden, sondern auch freizusetzen und ihn, wie wir sehen werden, nicht nur hören sondern auch sprechen zu lassen - z. B. ein befreiendes Wort seiner Vergebung. 14

Diese Kritik hat bereits Otto Friedrich Bollnow geäußert, der bei Heidegger die Nichtberücksichtigung der sogenannten gehobenen Stimmungen sah und eine ausschließliche Beachtung der niederdrückenden Stimmungen. Siehe dazu: O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt am Main 61980.

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Mit diesen Überlegungen haben wir uns unbemerkt bereits Ricœurs neuem Weg zum Glauben zugewendet, der eine Kontinuität darstellt, die wohl in Ricœurs gesamten Werk untergründig präsent ist. Denn von der hier zugrunde gelegten Schrift Gedächtnis, Geschichte, Vergessen kann man den Bogen bis hin zu den mit Alasdair Maclntyre geführten Bampton Lectures mit dem Titel „Religion, Atheismus und Glaube" spannen, die bereits 1968 an der Columbia University gehalten wurden, aber erst im Jahr 2002 in Deutschland erschienen sind. In diesen bedenkt Ricoeur die Unterscheidung zwischen Religion und Glauben und versucht den Atheismus „sowohl als Bruch wie als Scharnier" zwischen beiden zu fassen (RAG, S. 67). Dabei konzentriert sich Ricoeur auf die Anklage und den Trost, da diese zugleich auf die Hauptfunktionen der Religion verweisen (Gott droht und behütet), nämlich die Tabuisierung und die Zuflucht (vgl. RAG, S. 68 und 87). Während die Anklage mit der Funktion der Tabuisierung zum einen Pol des religiösen Empfindens, nämlich der „Angst vor der Strafe" gehört, lässt sich der andere Pol des religiösen Empfindens, der im Thema Trost und der Funktion der Zuflucht in den Blickt gerät, als „Wunsch nach Schutz" bestimmen. Der Atheismus, der Ricoeur zufolge am besten von seinen beiden Exponenten Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud repräsentiert wird, setzt an der Anklage und am Trost als Inbegriff der faulen Stellen der Religion an, um dadurch den Boden für einen neuen bzw. andersartigen Glauben freizulegen, der jenseits von Anklage und Trost zu verorten ist. Aus den Perspektiven von Nietzsche und Freud erweist sich die bisherige Religion als eine Quelle von Verboten, von Verdammung und Versagung (vgl. RAG, S. 70/1). Die Möglichkeit des Funktionierens dieser Konstruktion liegt in der Schwäche des Menschen, insofern aus dieser die Projektionen eines illusionären Ortes resultiert und der bisherige Glauben an einen absoluten Ursprung von Gut und Böse hervorgeht. Ergebnis dieser Entstehung der Metaphysik, ist der in Fiktionen und Illusionen gefangene Mensch, der sich nun in einem mühsamen Prozess des Verzichts auf den Vater (Freud) und in einer langwierigen Arbeit der Trauer aus seinen irrealen Fesseln befreien muss. Gelingt es dem Menschen diesen für Nietzsche als „Nihilismus" zu verstehenden Vorgang der „Entwertung der bisherigen höchsten Werte" zu durchleben, kann Ricoeur zufolge der Atheismus „einen neuen Weg zum Glauben [eröffnen], wenn auch einen Weg voller Ungewissheiten und Gefahren" (RAG, S. 76). Und hier kann man dem heutigen Philosophen gewissermaßen seinen denkerischen Ort zuweisen. Er befindet sich nämlich „auf halbem Wege zwischen Atheismus und Glauben", da er weder als eine Art „prophetischer Prediger" zu den Ursprüngen des religiösen Glaubens einfach zurückkehren kann, noch ist die Überwindung des Nihilismus voll und ganz gelungen, wodurch er auf diesem Weg der Überwindung buchstäblich weitergehen muss. So liegt es für Ricoeur in der Verantwortung des Philosophen „sich auf die Eigenart des heutigen Gegensatzes einzulassen, bis er die Frageebene gefunden hat, die eine Vermittlung zwischen Religion und Glauben über den Atheismus ermöglicht" (RAG, S. 77). Begibt man sich mit Ricoeur auf den neuen zirkelhaften Weg hin zu einem anderen Glauben als dem der bisherigen Religion, geschieht dies in zwei Schritten: der erste

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Schritt auf diesem Weg unternimmt den Versuch, das traditionelle Verhältnis zu den Wörtern zu hinterfragen; und beim zweiten Schritt hin zum Glauben begibt man sich auf die Suche nach einer neuen Ethik, die auf dem im ersten Schritt in den Blick geratenen existenzialen Bezug zu den Wörtern gegründet werden kann. Ricœurs Nachdenken über das Verhältnis zu den Wörtern ist kein Nachdenken über die Art und Weise des üblichen Redens im Alltag; vielmehr setzt er das ursprüngliche Verhältnis eines Einzelnen zum bedeutungsvollen Wort der Sache nach an den Anfang - ohne diese Setzung zu begründen, herzuleiten oder plausibel zu machen. Dieses Verhältnis zum bedeutungsvollen „Wort des Dichters oder zum Wort des Denkers oder zu einem anderen Wort über Sein und Seiendes" lässt sich - und das ist der springende Punkt - als eine „Art außerethischen Gehorsams" aufweisen, durch den man dem Dilemma „zwischen einer unmöglichen Erfindung von Werten und einer unmöglichen intuitiven Einsicht in die Werte" entgehen kann (vgl. RAG, S. 78). Angesichts der Unvereinbarkeit dieser beiden Systeme birgt nämlich der schwierige Weg hin zu einer vorethischen Dimension die Chance, Autonomie und Gehorsam nicht-ethisch zusammenzudenken, um im Anschluss daran allererst ethisch denken zu können. Unter Rückgriff auf den Satz von Heraklit „Höre nicht auf meine Worte, sondern den Logos" und unter Rückgriff auf Martin Heideggers Analyse des Hörens und seines Bezuges zum Menschen als „Dasein" in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit, kann Ricoeur darlegen, dass ein Wort auch etwas sagen kann, was gewissermaßen über den Sprecher hinausweist. Sagt ein Wort nämlich etwas über das Sein (und nicht nur über Seiendes), kann darin ein „Wortprozess" zum Vorschein treten, bei dem der Sprechende nicht mehr über dieses Wort verfügt. Das Wort liegt dann jenseits seiner Verfügungsgewalt, wodurch etwas gesagt wird, dessen Ursprung der Sprechende nicht ist: „In dieser Situation der Nicht-Herrschaft liegt sowohl der Ursprung des Gehorsams wie der Freiheit" (RAG, S. 78). Ricoeur versucht diese Einsicht durch eine kurze Inblicknahme der vorethischen Situationen des Zuhören und des Schweigens (ebenfalls unter Rückgriff auf Heidegger) zu verdeutlichen. Dabei wird sichtbar, dass - entgegen der landläufigen Auffassung das Hören in existenzialer Hinsicht das Primat gegenüber dem Gehorchen hat, wie das Schweigen, das ein Zulassen des Sprechens der anderen meint, existenzial dem Sprechen vorhergeht.15 Denn erst auf dem Boden eines existenzial primären Hörenkönnens als einer nicht-ethischen Art des Verstehens kann das Horchen möglich werden und es wird erkennbar, dass das Hören noch vor jeder moralischen Lehre „die Grundlage für andere Arten des Achtgebens, des Gehorchens, des Folgens und, im negativen Modus, des Nichthörens" ist (RAG, S. 80). So wird in einer phänomenologischen Analyse eine Beziehung des Menschen zum Wort (Logos) deutlich, die den im ethischen Feld etablierten Phänomenen von Verbot und Anklage, vorausgeht und die rein gar nichts mit den ethischen Kategorien von Pflicht und Verpflichtung zu tun hat. 15

Zur Bedeutung des Hörens in seiner Relevanz für die Hermeneutik siehe die Untersuchung: M. Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt am Main 1990.

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3.

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Hin zu einer neuen Ethik des Trostes

Macht man mit Ricoeur nun den zweiten Schritt auf den zirkelhaften Weg hin zum Glauben, begibt man sich auf den Weg hin zu einer neuen Ethik, und das heißt man begibt sich in eine Dimension, die den traditionellen moralischen Gott und zugleich die Kategorien Anklage und Verbot hinter sich gelassen hat. Dieser Weg hin zum Glauben ist, so eine der Thesen der vorliegenden Ausführungen, auch der Weg, den Ricoeur in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen beschritten hat und auf dem man sich dem Verständnis der „schwierigen Vergebung" in einem tieferen Sinne nähern kann. Sprach Ricoeur in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen explizit vom „Optativ des Wunsches", den seine Ausführungen lenken und leiten würden, schreibt Ricoeur im Blick auf die neue anvisierte Ethik über 30 Jahre zuvor in „Religion, Atheismus und Glaube": „Ich möchte diese Ethik vor der Ethik der Pflicht eine Ethik des Wunsches zu sein oder der Bemühung zu existieren nennen" (RAG, S. 82). Was hat es mit einer „Ethik des Wunsches zu sein oder der Bemühung zu existieren" auf sich? Nach dem bisher Gesagten hinsichtlich des neuen Weges zum Glauben hat diese Ethik einen grundlegenden Charakter, allerdings nicht im Sinne eines ethischen Rigorismus Immanuel Kants, bei dem das formale Pflichtprinzip mit einer apriorischen Ebene gekoppelt wird, der die empirische Ebene und das Begehren des Menschen gegenübergestellt ist. Stattdessen zeigt sich der grundlegende Charakter der anderen Ethik Ricœurs darin, dass sie auf die Existenz des Menschen zielt und damit auf die unverwechselbare Seinsmöglichkeit jedes Einzelnen. Aufgabe einer solchen Ethik ist es nämlich, den Aneignungsprozess wieder zu vollziehen, der die Anstrengung (oder die Bemühung) jedes einzelnen zu sein intendiert: „Ethik in diesem fundamentalen Sinne ist somit die fortschreitende Wiederaneignung unserer Anstrengung zu sein" (RAG, S. 82).

Eine solche Ethik ist erforderlich, weil die Kraft des Menschen zu sein, wie Ricoeur unter Bezugnahmen auf Piaton, Spinoza und Freud verdeutlicht, entfremdet wurde und dergestalt die der Entfremdung entgegenwirkende Anstrengung zu sein zunächst nur ein Wunsch ist. Dieser Wunsch geht aber, wie jeder Wunsch, mit einem „Mangel" oder aber auch einem „Begehren" einher, und lässt die „Seinsbejahung im Seinsmangel", die „das Wesen einer existenzialen Ethik" ist, zutage treten (vgl. RAG, S. 82). Schlägt man von diesem Ethikverständnis (besser würde man vom Vor-Ethikverständnis sprechen) den Bogen zurück zum ersten Schritt des zirkulären Weges hin zum neuen Glauben, bei dem das ursprüngliche Verhältnis zum Wort thematisch wurde, zeigt sich der innere Zusammenhang zwischen dem Wort und der menschlichen Existenz. Versteht man nämlich das Wort als ein lebendiges und wirkendes Wort hat man bereits einen Bezug zum aktiven Kern menschlicher Existenz hergestellt, insofern damit, wie Ricoeur darlegt, impliziert ist, dass das Wort über die Kraft verfügt, unser Selbstverständnis zu verändern" (RAG, S. 84). So ist unsere Existenz durch das verstehende Hören des Wortes einem Wandel fähig, ja muss es auch sein, wenn es in seiner Anstrengung zu sein sich nicht in dem Entweder-oder einer reinen Pflicht oder einem reinen Begehren verlieren will.

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Hier kann auf eine wichtige Differenz zwischen Heidegger und Ricoeur aufmerksam gemacht werden, die oben bereits thematisch wurde. Während Heideggers Strukturanalyse des Menschen sich bekanntlich auf einer fundamentalontologischen Ebene bewegt und - negativ formuliert - auch auf dieser verharrt - gelingt es Ricoeur dank seiner Einsicht in die Dialektik menschlicher Wirklichkeit, die vorethische Dimension einer existenzialen Ethik mit realen Gegebenheiten in eine innere Beziehung zu bringen. So macht er deutlich, dass der Begriff des Wertes „an der Schnittstelle zwischen einem unbegrenzten Begehren zu sein und den endlichen Bedingungen seiner Aktualisierung" erscheint (RAG, S. 84), und dadurch immer wieder eine Vermittlung zwischen der menschlichen Anstrengung zu sein und der konkreten Situation, in der er sich befindet, erforderlich ist. Heidegger, für den „das Denken in Werten [...] die größte Blasphemie [ist], die sich dem Sein gegenüber denken lässt",16 blendet diese empirischen Gegebenheiten letztlich aus und kann sich dadurch in seinem Verharren in einer fundamentalontologischen Betrachtungsweise gegen Einwände aus dem ethischen .Lager' immunisieren. Versucht man nun mit Ricoeur seinen Weg hin zu einer neuen Ethik vertiefend zu rekapitulieren, zeigt sich, dass das Verhältnis zum Wort, das man auch als Verhältnis zum Logos lesen kann, Dreh- und Angelpunkt seines Nachdenkens ist. Nicht ohne guten Grund glaubt Ricoeur in diesem Verhältnis seinen Ausgangspunkt gefunden zu haben und damit zugleich „den Ursprung und das Modell eines , Seinsgehorsams' jenseits von Furcht und Strafe, jenseits von Verbot und Verdammung" (RAG, S. 94). Dieser Seinsgehorsam, bei dem der Mensch von sich und seinen persönlichen Interessen und Belangen absieht und auf das Sein als solches achtet, lässt den Menschen in eine Sinnsphäre eintreten, in der die grundlegende und fundamentale Möglichkeit eines Trostes liegt: „Das Ganze des Seins manifestiert sich im Vergessen meiner Wünsche und Interessen" und macht „die Möglichkeit der Hinnahme, der Ergebung" sichtbar (RAG, S. 94/5). Allerdings kann diese Ergebung nur die erste Stufe des Trostes bedeuten. Denn das Sein kann auch durch den Menschen als ein sprechendes Wesen in Worte gefasst werden. Dazu ist allerdings die Überwindung des vorstellenden Denkens erforderlich, die Heidegger zufolge, an den sich Ricoeur explizit anschließt, in René Descartes ihren Exponenten hat (vgl. RAG, S. 96). Für die Überwindung ist der denkerische Rückgang in diejenige Phase der abendländischen Geschichte der Metaphysik der Urdichtung und des Denkens vonnöten, in der die Subjekt-Objekt-Spaltung noch nicht gegeben war. Gelingt dies, gelangt der Mensch in die Nähe zum Logos, der ebenso die Kraft meint, alle Dinge zum Erscheinen und zur Versammlung zu bringen, wie er dem Menschen die Möglichkeit gewährt, „versammelt" zu werden und dadurch mit dem Logos verbunden zu sein. Von hier her lässt sich die Sprache in verwandelter Weise in den Blick nehmen. Insofern der Mensch nämlich das Verbundensein mit dem Logos erfahren kann, das über ihn hinausweist, tritt diese „Erfahrung des Verbundenseins" als eine „Klarheit des ,Sagens'" zum Vorschein. Sprache geht dann nicht darin auf, bloßes Verständigungsmittel zu sein, 16

M. Heidegger, Über den Humanismus,

Frankfurt am Main 1975, S. 35.

PAUL R I C Œ U R S RÜCKGANG IN DEN G L A U B E N UND DER „OPTATIV DES W U N S C H E S "

289

über die der Mensch frei verfügen kann, vielmehr spricht sie selbst zu ihm und gewährt ihm die Möglichkeit zu hören, was sie ihm sagt. So kann der Mensch „die Erfahrung der Sprache als Gabe [machen] und die Erfahrung des Denkens als Anerkennung dieser Gabe", wodurch er in einem tieferen Sinne eine Form des Trostes zu empfangen vermag (RAG, S. 99).

4.

Schlussbemerkung, oder: Der „Optativ des Wunsches" einer „positiven Ontologie"

Ricœurs langer Weg bei der Konturierung seiner außerethischen Position ist zugleich der lange Weg zu einer, wie er es nennt, „positiven Ontologie jenseits von Ressentiment und Anklage" (RAG, S. 90). Dieser positiven Ontologie ist die oben herausgestellte Seinsbejahung im Seinsmangel zu eigen, die den Wunsch im Menschen gewissermaßen anstachelt, sich seine Anstrengung zu sein, wiederanzueignen. Von hier aus lässt sich erneut eine Verbindung zum „Optativ des Wunsches" in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen herstellen, insofern auch dieser Optativ (eher unausgesprochen) einer solchen positiven Ontologie entspringt, die als eine „existenziale Ethik" von Ricoeur ja auch nachdrücklich als eine „Ethik des Wunsches zu sein" (RAG, 5. 82) bezeichnet wurde. Sieht man eine solche Verbindung, bewegt sich die schwierige Vergebung im Kontext eines Logos-Denkens, das das verstehende Hören eines Wortes einfordert, das zum Menschen spricht und dem er antwortend zu entsprechen hat. Dieses Wort hat der Mensch nicht eigenmächtig in seiner Gewalt und er kann es auch nicht mit seinem individuellen Willen herbeizwingen, da er vom Wort und der Rede abhängig ist. Was er allerdings tun kann, ist hörend sich auf das Wort einzulassen, wozu allerdings eine innere Bereitschaft, Gelassenheit und Offenheit erforderlich ist. Hat Ricoeur daher in „Religion, Atheismus und Glauben" im Kontext seiner Überlegungen zur Anklage und zum Trost den Satz formuliert: „Nur jene Art der Gelassenheit, die der Unterwerfung der individuellen Sprache unter die Rede angehört, kann die Rache überwinden", lässt sich dieser Satz im Blick auf seine Ausführungen in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen vielleicht folgendermaßen umformulieren: Nur jene Art der Gelassenheit, die der Unterwerfung des individuellen Vergebens unter den Logos angehört, kann die Schuld überwinden - und den Schritt hin zu einer schwierigen Vergebung vollziehen. Gelingt dem Menschen die Überwindung der Rache, und so können wir jetzt ergänzen: der Schuld, ist ihm, wie Ricoeur unter Rückgriff auf Heideggers Auslegung des Hölderlinschen Verses „dichterisch wohnet der Mensch" ausführt, ein echtes Wohnen möglich. Dieses Wohnen zwischen Himmel und Erde wird von Ricoeur - und auch hier zeigt sich die Übereinstimmung zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen als „ein anderer Name für Kierkegaards .Wiederholung'" bezeichnet (RAG, S. 101), bei der man unter der Leitung von Dichtung und Denken die Seinsart der „Liebe zur Schöpfung" verwirklicht: „Die Liebe zur Schöpfung ist eine Form des Trostes, die nicht vom äußeren

290

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Lohn abhängt, und sie liegt auch jenseits der Rache. Die Liebe findet ihren Lohn in sich selbst; sie ist selbst der Trost" (RAG, S. 102). Könnte man in „Religion, Atheismus und Glauben" daher die Reihung Wunsch: Logos - Wohnen - Liebe zur Schöpfung - Trost vornehmen, könnte diese vielleicht in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen lauten: Optativ des Wunsches: Logos - Vergangene Geschichte - Treue - schwierige Vergebung/glückliches Gedächtnis.

INGA RÖMER

Eskapistisches Vergessen? Der Optativ des glücklichen Gedächtnisses bei Paul Ricoeur

Nach der Lektüre von fast siebenhundert Seiten des Ricœurschen Spätwerkes Gedächtnis, Geschichte, Vergessen stößt der Leser auf einen Epilog mit dem Titel „Schwierige Vergebung" und in diesem schließlich auf einen „Epilog zum Epilog"1, in dem er sich mit einem „Entwurf einer Art Eschatologie des Gedächtnisses sowie - in deren Folge einer Eschatologie der Geschichte und des Vergessens" konfrontiert findet.2 Angesichts des Vorwortes mag dies erstaunen, denn dort erwähnt Ricoeur lediglich die drei Hauptteile über die Phänomenologie des Gedächtnisses, die Epistemologie der Geschichtswissenschaften und die Hermeneutik der conditio histórica mit ihrer grundlegenden Ebene des Vergessens, ganz zu schweigen von dem Umstand, dass der Titel des gesamten Werkes auf nicht mehr als auf diese drei Teile verweist. Nun zeigt sich jedoch am Ende dieses langen Weges, dass der „Dreimaster"3, dessen „Kurs" die „gemeinsame Problematik [...] der Repräsentation des Vergangenen"4 war, ahnungsweise vielleicht von Anfang an, ausdrücklich jedoch nach einer von seinem Autor unternommenen Relektüre, auf den „Horizont" der Vergebung zusteuerte, dessen Anziehungskraft in dem Wunsch nach einem glücklichen Gedächtnis, ja in der Suche nach Glück überhaupt liegt.5 Diese überraschende Wende lässt zunächst einige Zweifel aufkommen: Geht es Ricoeur bei aller Arbeit von Gedächtnis und Geschichte letztlich doch darum, vergangenes Leid und geschichtliches Grauen zu vergessen, um so das Glück der Heutigen und der Zukünftigen nicht zu gefährden? Und wäre ein solches, wohl eskapistisch zu nennendes Vergessen nicht eine Verhöhnung der Opfer und eine nachträgliche 1 2 3 4 5

GGV, GGV, GGV, GGV, GGV,

S. S. S. S. S.

760. 701. 18. 17. 699.

292

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Verdoppelung ihres erlittenen Unrechts?6 Im Hintergrund dieser Zweifel steht die Frage, ob Ricoeur trotz des im dritten Bandes von Zeit und Erzählung so ausdrücklich hervorgehobenen .Verzichts auf Hegel' letztlich doch eine Form des Hegelianismus vertritt,7 in der eine Art List der Vernunft über eine Bewegung der Aufhebung noch die schlimmste Vergangenheit schließlich in ein glückliches Ende überführt. Ein zweites sich aufdrängendes Bedenken ist, ob Ricoeur mit dem Begriff der Vergebung und noch mehr mit dem der Eschatologie nicht mit dem philosophisch gebotenen methodischen Atheismus bricht. Zwar hat sich der gläubige Christ Ricoeur noch in den postum unter dem Titel Vivant jusqu'à la mort veröffentlichten Manuskripten als einen „Philosophen tout court, sogar einen Philosophen ohne Absolutes" bezeichnet und immer wieder darauf bestanden,8 eine „kontrollierte Schizophrenie" zu kultivieren.9 Sogar Dominique Janicaud, der in seiner berühmten Streitschrift aus dem Jahre 1990 diversen französischen Phänomenologen eine .theologische Wende' vorwarf, nahm Ricoeur ausdrücklich von diesem Vorwurf aus.10 Und doch: Überschreitet Ricoeur im Epilog seines großen Spätwerkes die Schwelle, über die hinweg ihm allenfalls diejenigen zu folgen vermögen, die die gleiche Hoffnung teilen wie er, nicht aber diejenigen, die sich lediglich als .Philosophen tout court' verstehen? Der vorliegende Beitrag sucht diesen Zweifeln zu begegnen, indem er ein doppeltes Anliegen verfolgt. Einerseits soll gezeigt werden, dass und inwiefern es Ricoeur weder um einen lediglich abgeschwächten Hegelianismus noch um eine Reintroduktion heilsgeschichtlicher Motive in die Philosophie geht, dass vielmehr auch der Epilog zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen ganz im Zeichen seiner hermeneutischen Phänomenologie des handelnden und leidenden Menschen verstanden werden kann. Andererseits geht es in systematischer Hinsicht darum anzudeuten, auf welchem Interpretationswege sich bei Ricoeur, und gerade im Epilog seines großen Spätwerkes, ein Weg zu einem Umgang mit Geschichte andeutet, welcher angesichts der prinzipiellen Grenzen des geschichtlichen Wissens und der Unmöglichkeit einer Geschichtsphilosophie aus der Perspektive des Absoluten dem einzelnen Bürger die praktische Aufgabe zuweist, angesichts der sich in der Geschichte anhäufenden Übel den schmalen Pfad zwischen eskapistischem Vergessen und hoffnungsloser Verzweiflung zu finden und in seinem eigenen Handeln verantwortlich zu übernehmen. Die Überlegungen gliedern sich in drei Abschnitte. An erster Stelle steht eine Erörterung der für den Epilog zentralen Begriffe des Erfüllungshorizontes, des Optativs des glücklichen Gedächtnisses und der Eschato6

7

8 9

10

In einer kritischen Rezension formuliert Burkhard Liebsch, der Herausgeber dieses Bandes, derartige Bedenken gegen das Ricœursche Projekt. Vgl. B. Liebsch, „Zur Kritik eines glücklichen Vergessens in der politischen Gegenwart. Ricceurs Projekt einer Versöhnung von Gedächtnis und Geschichte", in: Journal Phänomenologie 23 (2005), S. 52-59. Vgl. das Kapitel „Auf Hegel verzichten" in P. Ricoeur, Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit, München 1991, S. 312-333. P. Ricoeur, Vivant jusqu'à la mort. Suivi de: Fragments, Paris 2007, S. 107. P. Ricoeur, La critique et la conviction. Entretien avec François Azouvi et Marc de Launay, Paris 2006, S. 10. Vgl. D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française. Combas 2001, S. 13.

ESKAPISTISCHES VERGESSEN?

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logie sowie eine Abgrenzung derselben gegen die geschichtsphilosophischen Modelle von Kant, Hegel und Husserl. Da der Wunsch nach einem glücklichen Gedächtnis offensichtlich deshalb problematisch ist, weil die Vergangenheit, insbesondere diejenige des zwanzigsten Jahrhunderts, angefüllt ist mit leidvollen Erfahrungen und zuweilen grauenhaften Verfehlungen, erfolgt hier zudem eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Schuld, welcher sich bei Ricoeur in mindestens zwei verschiedene Konzepte, nämlich das des Erbes und das der Verfehlung aufspaltet. Der zweite Abschnitt sucht zu zeigen, dass es sich bei Ricœurs mit dem Optativ des glücklichen Gedächtnisses verbundenen Figuren der Versöhnung um menschliche Erfahrungen der Versöhnung handelt, die inmitten der Geschichte geschehen, die der hoffnungslosen Verzweiflung entgegenwirken und von der weltlichen Hoffnung auf bessere Zeiten umrahmt werden, ohne die Wende einer Aufhebung des Leides in ein glückliches Ende der Geschichte zu nehmen. Der dritte und letzte Abschnitt kommt auf die bereits angeführten Einwände zurück, die in dem die Titelfrage begründenden Einwand eines von Ricoeur möglicherweise nahe gelegten eskapistischen Vergessens konzentriert sind. Hier wird zu zeigen versucht, dass der Erfüllungshorizont des glücklichen Gedächtnisses nie zu einer tatsächlichen Erfüllung in einem zur Ruhe gekommenen Gedächtnis gelangen kann, weil wir uns nie sicher sein können, ob Erinnerungs- und Trauerarbeit abgeschlossen, ob Gabe und Vergebung gelungen sind - diese Unsicherheit und Zweideutigkeit wirkt als unauslöschlicher Stachel eines jeden vermeintlich glücklichen Gedächtnisses, ohne notwendig in eine hoffnungslose Verzweiflung zu führen.

1.

Der Erfüllungshorizont des glücklichen Gedächtnisses und die Schuld gegenüber den Menschen der Vergangenheit

Der Epilog zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen hat seinen Ort außerhalb des Hauptwerkes. Das in ihm Ausgeführte gehört weder zur Phänomenologie des Gedächtnisses noch zur Epistemologie der Geschichtswissenschaft noch auch zur Hermeneutik der conditio histórica. Welchen Status aber haben dann die das Werk abschließenden Überlegungen zur schwierigen Vergebung? Ricoeur zufolge handelt es sich bei ihnen um den Erfüllungshorizont, französisch horizon d'accomplissement, des gesamten Unternehmens. Da es hier um die „projektive Dimension", es ließe sich auch sagen um den ,Entwurfscharakter' dieses „äußersten Horizonts" geht, spricht Ricoeur zudem von einer „Eschatologie", in die sich Gedächtnis, Geschichte und Vergessen einfügen.11 Will man sich nicht damit zufrieden geben, diese ,Eschatologie' als Ausdruck persönlicher Hoffnung des Menschen und Christen Paul Ricoeur zu verstehen, so erscheint es angesichts der Ausdrücke .äußerster Horizont' und .Entwurf' zulässig, Ricoeurs Anliegen vor dem Hintergrund von Heideggers frühem Denken zu verstehen, welches für Ricoeur bekanntlich stets von herausragender Bedeutung war. Heidegger zufolge hat die Zeitlichkeit ihre Grenze an einem Horizont, der das ,Wohin' der zeitlich ekstatischen 11

GGV, S. 760.

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Entrückung markiert. Dieser Horizont bestimmt stets im Vorhinein die Hinsicht, unter der für das Dasein überhaupt etwas erschließbar ist.12 Ohne dass es nötig wäre, näher auf die Details des Heideggerschen Modells einzugehen, legt sich die Vermutung nahe, dass Ricœurs ,äußerster Horizont' die Funktion haben könnte, die Hinsicht zu bestimmen, unter der sämtliche in den drei Hauptteilen untersuchte zeitliche Operationen stehen. Ein praktischer Entwurfshorizont der zeitlichen Operationen wird nötig, weil der Mensch Ricoeur zufolge angesichts der Vergangenheit lediglich eine WahrheitTreue (vérité-fidélité) erreichen kann,13 d. h. er kann lediglich die verfügbaren Zeugnisse miteinander konfrontieren und eine Treue zur Vergangenheit anstreben. Weil eine theoretische Gewissheit zwar angestrebt, prinzipiell jedoch unmöglich ist, muss letztlich der Einzelne diese epistemologische Unsicherheit praktisch entscheiden, indem er sich zu ihr in seinem Handeln verhält. Handeln geschieht jedoch immer auf einen praktischen Entwurfshorizont hin, der die Hinsicht vorgibt, unter der die epistemologische Unsicherheit entschieden wird. Für Ricoeur ist diese Hinsicht der Wunsch nach einem glücklichen Gedächtnis, formuliert im grammatikalischen Modus des Optativs. Der Wunsch nach einem glücklichen Gedächtnis lässt sich auf der Grundlage der versuchten Annäherung von Heidegger und Ricoeur als diejenige Hinsicht verstehen, welche den vorgängigen Rahmen für das Verständnis und die praktische Übernahme aller Operationen von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen abgibt. Sollte diese Interpretation des Ricoeurschen Erfüllungshorizontes eines Optativs des glücklichen Gedächtnisses angemessen sein, so würde deutlich, dass es sich hier lediglich um die praktische Hinsicht handelt, unter der Menschen Geschichte machen und verstehen. Es ginge weder um eine Lehre von den letzten Dingen im Sinne eines Endschicksals des einzelnen Menschen oder der ganzen Welt noch überhaupt in irgendeiner Weise um ein Ende der Geschichte im glücklichen Gedächtnis. Weder gibt es für Ricoeur eine stufenweise Verwirklichung der Freiheit in der Geschichte wie bei Hegel noch eine fortschreitende Vervollkommnung der Entwicklung der Naturanlagen im Menschen wie in Kants geschichtsphilosophischen Schriften, ja Ricoeur vertritt noch nicht einmal eine Tendenz zu harmonischer Einstimmigkeit wie Husserl, für den die geschichtlich zu verwirklichende ,,wahre[] und volle[] Rationalität", angesichts derer Sein, Sollen und Glück der Menschheit zusammenfallen, lediglich „eine im Unendlichen liegende Idee", weil „im Faktum notwendig auf dem Wege" ist.14 12

13 14

Vgl. zum Horizont und den horizontalen Schemata der Daseinszeitlichkeit M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, § 69c). Vgl. GGV, S. 94. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1954, S. 274. Hier ist zudem ein mögliches Missverständnis auszuräumen, welches in Bezug auf den in der deutschen Übersetzung verwendeten Begriff des Erfüllungshorizontes aufkommen könnte. In Husserls Phänomenologie meint die .Erfüllung' eine anschauliche Selbstgegebenheit des ,Ieer' Intendierten. Man könnte nun die Vermutung äußern, dass es sich mit dem Erfüllungshorizont des glücklichen Gedächtnisses um eine Erfüllung der leer intendierten bzw. nicht voll erfüllten Operationen von Gedächtnis und Geschichte handelt. Der leer intendierte Sinn der Geschichte wäre so schließlich erfüllt durch ein glückliches Gedächtnis. Diese Interpretati-

ESKAPISTISCHES VERGESSEN?

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Wenngleich diese Interpretation des Wunsches nach einem glücklichen Gedächtnis als eines praktischen Entwurfshorizontes geschichtlichen Existierens in diesem Wunsch weder einen Sinn der Geschichte noch eine Prognose über ihr Ende entdeckt, kann sie doch ein Bedenken nicht ausräumen: Ist dieser praktische Entwurfshorizont angesichts der geschichtlichen Verbrechen nicht ein verblendetes Wunschdenken? Was berechtigt uns dazu, die Geschichte unter dieser Hinsicht zu entwerfen und wie kann verhindert werden, dass dieser Wunsch vor dem Leid und dem Übel die Augen verschließt, ja es gar endlos steigert? Wir werden weiter unten auf diese Fragen zurückkommen. Um in Hinblick auf sie eine Antwort zu versuchen, ist zunächst zu verfolgen, was genau dem glücklichen Gedächtnis im Wege steht. Ricceurs Antwort ist: die Schuld gegenüber den Menschen der Vergangenheit. Das deutsche Wort .Schuld' fungiert als Übersetzung für drei verschiedene von Ricoeur gebrauchte Wörter: dette, faute und culpabilité, wobei Ricoeur die beiden zuletzt genannten Wörter synonym verwendet. 15 Dette und faute, die im Folgenden durch die deutschen Wörter ,Schuld' und .Verfehlung' unterschieden seien, enthalten jedoch einen wichtigen Bedeutungsunterschied: In der Schuld handelt es sich um die bloße Anerkennung eines Erbes, das unser Sein immer schon prägt, während die Verfehlung auf ein empirisch kontingentes Fehlgehen verweist. Es ist der letztere Begriff einer Verfehlung, welcher in Ricœurs Epilog über die schwierige Vergebung ihr Gegenstand ist. Um den Unterschied zwischen den beiden Schuldbegriffen zu erhellen, ist auch an dieser Stelle ein Blick auf Heidegger hilfreich. In Sein und Zeit bestimmt Heidegger ,,[d]ie formal existenziale Idee des .schuldig'" als nichtiges „Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein - das heißt Grundsein einer Nichtigkeit"}6 Die unser Sein grundsätzlich bestimmende Schuld bestehe lediglich darin, dass wir einerseits nicht unser eigener Grund sind, sondern uns stets in ein Erbe geworfen vorfinden, und andererseits auf der Basis dieses Grundes stets etwas wählen und verwirklichen müssen und damit notwendig unzähliges Andere nicht wählen können. Wir sind nie ohne diese Schuld, denn sie gehört wesentlich zu unserem Sein, so Heideggers Auffassung. Dieses prinzipielle Schuldigsein ist die ontologische Bedingung dafür, dass wir in einem faktischen und kontingenten Sinne fehlgehen können: ,JDas Schuldigsein resultiert nicht erst aus einer Verschuldung, sondern umgekehrt: diese wird erst möglich ,auf Grund' eines ursprünglichen Schuldigseins."n Diese Unterscheidung von ontologischem Schuldigsein und faktischer Verschuldung kehrt in Ricœurs Unterscheidung von Schuld und Verfehlung wieder. Die Schuld, aufgrund derer wir in einer Tradition stehen und ein Erbe handelnd zu übernehmen haben, ist schlichtweg eine „Struktur der

15 16 17

on wird jedoch meines Erachtens zum einen inhaltlich Ricœurs Intentionen nicht gerecht und zum anderen durch das Original auch gar nicht nahe gelegt, da die Husserlsche .Erfüllung' im Französischen in der Regel mit ,remplissement\ und nicht mit accomplissement' übersetzt wird. Vgl. GGV, S. 702 (Anmerkung der Übersetzer in Fußnote 3). Heidegger, Sein und Zeit, S. 283. Heidegger, Sein und Zeit, S. 284.

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Geschichtlichkeit (historicité)" und lässt sich niemals auslöschen.18 Die Verfehlung hingegen gründet sich zwar auf die Schuld, gehört jedoch nicht grundsätzlich zum geschichtlichen Sein des Menschen, vielmehr verbindet Ricoeur sie mit dem „Gedanken eines Bösen [...], das empirisch immer schon da ist, in der ursprünglichen Ordnung aber dennoch grundsätzlich kontingent ist".19 Diese Kontingenz der Verfehlung ist der Grund dafür, weshalb Ricoeur den Optativ des glücklichen Gedächtnisses nicht innerhalb der Hermeneutik der conditio histórica, sondern in einem Epilog behandelt: Die Verfehlung ist zwar faktisch immer schon da, sie gehört jedoch nicht notwendig zu unserem geschichtlichen Sein. Welchen Grund aber hat Ricoeur für diese These, die man angesichts der geschichtlichen Gräueltaten durchaus geneigt sein könnte zu bezweifeln? Warum gehört die menschliche Verfehlung nicht notwendig zu seinem Sein? Bereits in seinem ersten großen Werk, der Philosophie des Willens, entwickelt Ricoeur im zweiten Teil eine Phänomenologie der Schuld, verstanden als eine Erfahrung des menschlichen Bösen. Der erste Band, Die Fehlbarkeit des Menschen, besteht aus einer an Husserl orientierten eidetischen Analyse der Fehlbarkeit des Menschen. Diese führt zwar auf jene konstitutionelle menschliche Schwäche, aufgrund derer die Heraufkunft des Bösen durch den Menschen überhaupt möglich wird. Aber, und dies ist noch für den späten Ricoeur entscheidend, von der „Möglichkeit bis zur Wirklichkeit des Bösen geht eine Spanne, ein Sprung".20 Die Wirklichkeit des Bösen und damit die konkrete Erfahrung der Schuldhaftigkeit lassen sich nicht mehr über eine Wesensanalyse fassen. Wenn Ricoeur noch im Spätwerk jede Spekulation über den Ursprung des Bösen für „absolut vergeblich" hält,21 so stellt er sich damit auch weiterhin in die Tradition Kants, welcher bereits die Unerforschlichkeit des Ursprungs des Bösen behauptet hatte.22 Diese mit der spekulativen Unerforschlichkeit des Bösen verknüpfte Kontingenz der Verfehlung ist im Epilog von Gedächtnis, Geschichte, Vergessen der erste und für Ricœurs weitere Überlegungen entscheidende Grund dafür, den Wunsch nach einem glücklichen Gedächtnis nicht als philosophisch unberechtigte Illusion abzutun und durch die Forderung nach einer zwar unangenehmen, wenigstens aber redlichen hoffnungslosen Verzweiflung zu ersetzen. Wie aber macht sich diese in Hinblick auf unser geschichtliches Sein kontingente Verfehlung bemerkbar und inwiefern behindert sie ein glückliches Gedächtnis? Zunächst ist hervorzuheben, dass wir Ricoeur zufolge immer in einer Schuld gegenüber den Menschen der Vergangenheit stehen. Es ist nie gerechtfertigt, sie zu vergessen 18

19 20

21 22

P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 424 (Fußnote) (Einfügung des französischen Wortlautes, I. R.). GGV, S. 710. P. Ricoeur, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, Freiburg i. Br., München 1971, S. 183. GGV, S. 710. Vgl. I. Kant, „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten; d. i. vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur", in: ders., Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Darmstadt 2005, S. 665-705, hier S. 693.

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oder zu ignorieren, denn ,,[w]ir sind jenen gegenüber schuldig, die uns mit einem Teil dessen, was wir sind, vorangegangen sind",23 „die Idee einer Weitergabe von Generation zu Generation [verleiht] der Schuld eine sowohl leibliche als auch institutionelle Färbung".24 Allein deshalb, weil wir unseren geschichtlichen Vorfahren sowohl unsere biologische Existenz als auch die gesamte Kultur verdanken, innerhalb derer wir leben und handeln, schulden wir ihnen Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dieser Umstand allein würde aber einem glücklichen Gedächtnis nicht im Wege stehen. Dieses scheint allererst dann unmöglich zu werden, wenn wir berücksichtigen, dass das geschichtliche Erbe faktisch immer schon von Verfehlungen durchzogen ist, die uns mit zuweilen unerträglichem Leid und schreienden Ungerechtigkeiten konfrontieren. Im Falle einer derartigen Verflechtung von Schuld und Verfehlung, so meint Ricoeur, fänden sich die Lebenden mit einer von den Menschen der Vergangenheit herrührenden Forderung konfrontiert, in der „die Opfer moralische Priorität" besitzen.25 In dieser Forderung sind ethisch-politische und psychopathologische Momente miteinander verknüpft. Erstens liegt in dieser Forderung das ethisch-politische Moment einer Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber den Toten und insbesondere gegenüber den Opfern. Selbst wenn es nicht die heute Lebenden sind, die an den damals Lebenden gefehlt haben, finden sie sich Ricoeur zufolge mit dieser Gerechtigkeitsforderung konfrontiert. Dieser wiederum können sie nicht ungestraft entgehen, denn zweitens gehe von den Verfehlungen eine Heimsuchung aus, die die Lebenden einer Tendenz zum Wiederholungszwang unterziehe. In diesem wären sie dazu versucht, die Verfehlungen der Vergangenheit erneut auszuagieren und fortzusetzen, zu erneuern und zu verstärken. Dieser Wiederholungszwang paralysiere ihr Handlungsvermögen, indem er dieses in einen Kreislauf der wiederholten Verfehlungen einfängt. Wie nun kann der Gerechtigkeitsforderung begegnet und der Wiederholungszwang verhindert werden? Um der Gerechtigkeitsforderung zu begegnen, ist es erforderlich, sich die Aufdeckung der unverwirklichten und unterdrückten Möglichkeiten sowie die Wiederaufnahme der unerfüllten Versprechen der einst Lebenden zum Ziel zu machen, eine Aufgabe, bei der die Fiktionserzählung unterstützend mitwirken kann, indem sie dabei hilft, „die in der wirklichen Vergangenheit unterdrückten Möglichkeiten aufzudecken".26 Um dem Wiederholungszwang zu begegnen, ist Ricoeur zufolge eine in Anlehnung an Freud gedachte und auf gesellschaftliche und historische Zusammenhänge zu übertragende Erinnerungs- und Trauerarbeit nötig, durch die das uns Heimsuchende als ausdrücklich Vergangenes erarbeitet wird.27 Ziel ist hierbei, die Toten in einer Distanz zu ihnen

23 24 25 26 27

GGV, S. 142. GGV, S. 540. GGV, S. 143. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit, S. 310. Ricoeur stützt sich auf zwei Aufsätze von Freud. S. Freud, „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten", in: ders., Werke aus den Jahren 1913-1917, London 1949, S. 126-136 und ders., „Trauer und Melancholie", in: ders., Werke aus den Jahren 1913-1917, London 1949, S. 4 2 8 ^ 4 6 .

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als nicht mehr Seiende zu erinnern und ihr Erbe frei von Zorn und lastender Schuld anerkennen zu können. Eine Gerechtigkeitsforderung, der nicht begegnet, und eine Heimsuchung, die nicht aufgearbeitet wird, stellen eine Ungerechtigkeit gegenüber den Toten dar und lahmen das Handlungsvermögen der Lebenden. Ein faktisch glückliches Gedächtnis wäre in diesem Falle weder gerecht noch möglich. Beim Entwerfen unter der Hinsicht des glücklichen Gedächtnisses muss es jedoch darum gehen, der Gerechtigkeitsforderung der Toten zu begegnen und den Wiederholungszwang zu verhindern, was wiederum nur geschehen kann, wenn man in einer Eroberung der Möglichkeiten sowohl der Toten als auch der Lebenden zeigt, dass und inwiefern die Verfehlung lediglich den Charakter der Kontingenz, nicht aber den der Notwendigkeit hatte: Das Aufdecken unverwirklichter Möglichkeiten kann, so Ricoeur in Anschluss an Raymond Aron, die retrospektive Fatalitätsillusion aufheben, in der es so scheint, als hätten die Toten genau so sterben müssen wie sie tatsächlich gestorben sind.28 Die Erinnerungs- und Trauerarbeit kann verhindern, dass die Lebenden die Verfehlungen der Vergangenheit endlos wiederholen. In beiden Fällen ist die Notwendigkeit eines scheinbar geschlossenen und unabänderlichen Schicksals als Illusion entlarvt und in Möglichkeit verwandelt. Hier ist nicht nur anhand der philosophischen These von der Unerforschlichkeit des Bösen die Kontingenz menschlicher Verfehlungen behauptet. Es ist vielmehr anhand einer je konkreten geschichtlichen Situation aufzuweisen, inwiefern sowohl das Geschehene als auch das Kommende nicht notwendig waren bzw. sind und welche Möglichkeiten sich den scheinbar unausweichlichen Notwendigkeiten entgegenstellen lassen. Es lässt sich jedoch daran zweifeln, ob das Aufdecken vergangener Möglichkeiten und die Befreiung vom Wiederholungszwang hinreichen, um den Kreislauf der Rache und die Erneuerungen der Verfehlungen in der Geschichte zu durchbrechen. Überlebende Opfer und ihre Nachfahren könnten die seitens der Täter und ihrer Nachfahren vollzogene Hinwendung zu ihnen mit Misstrauen verfolgen und die Täter und ihre Nachfahren weiterhin als Feinde sehen. Sie könnten das Gefühl haben, dass etwas Unverzeihliches geschehen ist, das weder bestraft noch wieder gut gemacht werden kann. Angesichts der Schwere insbesondere der geschichtlichen Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts erscheint uns eine derartige Haltung häufig nicht nur verständlich, sondern auch nur allzu berechtigt. Ähnlich wie bereits den epistemologischen Grenzen in der Erforschung der Wirklichkeit der Vergangenheit letztlich nur mit einem Übergang in das Praktische, in eine individuell verantwortete Handlung begegnet werden kann, so kann der bereits durch einen Sprung von der Fehlbarkeit in die Verfehlung entstandenen Schuld ihrerseits an der Grenze der Erforschung der Möglichkeiten von Vergangenheit und Zukunft nur durch einen praktischen Sprung begegnet werden: den Sprung der Vergebung, der, bildlich gesprochen, ohne Netz und doppelten Boden ein Risiko eingeht. Die vermeintliche Notwendigkeit der Geschichte ist bereits als Illusion entlarvt, wenn das Reich der Möglichkeiten an ihre Stelle gesetzt wird. Ob diese Möglichkeiten je28

Vgl. P. Ricoeur, „Das Rätsel der Vergangenheit", in: ders., Das Rätsel der Vergangenheit. - Vergessen - Verzeihen, Göttingen 1998, S. 19-67, hier S. 64.

Erinnern

ESKAPISTISCHES V E R G E S S E N ?

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doch ihrerseits tatsächlich zur Wirklichkeit werden, d. h. wie aus ihrer theoretischen Erschließung tatsächlich eine andere und womöglich bessere Zukunft wird, hängt von der Möglichkeit der Vergebung ab. Diese ist ebenfalls notwendig, damit der Entwurfshorizont des glücklichen Gedächtnisses nicht zu einer vergeblichen Illusion wird. Kann es die Vergebung geben und worin besteht sie?

2.

Vergebung und Gabe als menschliche Erfahrungen inmitten der Geschichte

Da Ricoeur weder eine Fortschritts- noch eine Heilsgeschichte schreibt, geht es ihm mit der Vergebung weder um eine Aufhebung der Verfehlungen in einem sinnhaften Ende noch um eine Vergebung aller Sünden an einem Ende der Geschichte. Die Frage, die allein von Bedeutung ist, lautet, ob es menschliche Erfahrungen der Vergebung, und im Weiteren der Versöhnung und des Friedens inmitten der Geschichte geben kann. Wenn die Möglichkeit derartiger menschlicher Erfahrungen nachgewiesen werden kann, ist der Entwurfshorizont des glücklichen Gedächtnisses keine Illusion. Wie aber sind die Vergebung einer Schuld und ein beruhigtes Gedächtnis möglich, wenn die entstandenen Verfehlungen nicht ungeschehen gemacht werden können und ihre Schwere jeden Versuch, sie in irgendeiner Weise auszugleichen, einem Skandal gleichzukommen scheint? Zunächst ist hervorzuheben, dass Vergebung weder befohlen noch für andere erteilt werden kann. Wird sie befohlen, ist sie eine erneute Unterdrückung des Opfers, dem sie aufgezwungen wird. Wird sie für andere erteilt, so wird dem Opfer ebenfalls seine Möglichkeit, die Vergebung zu verweigern, abgenommen und fügt ihm gleichermaßen eine erneute Ungerechtigkeit zu. Nur das Opfer selbst kann aus freien Stücken vergeben. Hier macht sich aber bereits eine Schwierigkeit bemerkbar, die Ricoeur zwar nennt, jedoch nicht in den Vordergrund seiner Erörterungen über die Vergebung stellt. Es handelt sich um den Umstand, dass die Opfer, die Vergebung gewähren könnten, sehr häufig nicht mehr am Leben sind. In einem weiteren Sinne ließe sich allerdings vielleicht mit einigem Recht davon sprechen, dass auch die Nachfahren der Opfer selbst Opfer sind und Vergebung für ihr eigenes Leiden, welches mit dem der Toten zusammenhängt, gewähren können. Noch problematischer ist die Frage, inwiefern die Nachfahren der Täter das Recht in Anspruch nehmen können, die Opfer und ihre Nachfahren um Vergebung zu bitten, wenn sie selbst gar nicht diejenigen waren, die gemordet haben. Möglicherweise könnte die von Ricoeur angeführte leibliche und institutionelle Schuld einen Anhaltspunkt zur Begegnung dieser Schwierigkeit geben. Wenn wir unseren Vorfahren unser Leben und unsere Institutionen verdanken, so scheint zu der Anerkennung dieses Erbes zu gehören, dass wir zu ihren Verbrechen Stellung nehmen. Ob es sich dabei jedoch lediglich um eine öffentliche Verurteilung ihrer Taten oder gar um eine Bitte um Vergebung an die Opfer bzw. ihre Nachfahren handeln kann, ist eine schwierige Frage. In jedem Falle jedoch können Institutionen in ihrer Eigenschaft, geregelte Ordnungen des Dritten zu sein, nicht vergeben. Sie können nur strafen und müssen dies auch nach der gemeinschaftlich gestifteten Gesetzesordnung tun, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden.

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Versuchen sie hingegen zu vergeben, so wird dies zu einer Amnestie, einem befohlenen Vergessen, welches lediglich eine „Karikatur der Vergebung darstellt" und nicht Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern auf pragmatische Weise aktuelle politische Stabilität zum Ziel hat.29 Nicht nur Institutionen, sondern Kollektive überhaupt, so Ricoeur, „haben kein Gewissen" und Völker seien „der Vergebung nicht fähig". 30 Eine Vergebung, die diesen Namen verdient und die Fortsetzung der Verfehlungen durchbricht, kann also lediglich zwischen Tätern und Opfern, allenfalls noch ihren Nachfahren, nicht aber auf institutioneller und kollektiver Ebene geschehen. Wie sie jedoch auf der individuellen Ebene möglich ist, versucht Ricoeur durch den in ihr verborgenen Gabecharakter zu erhellen. Mit diesem Vorgehen begibt er sich auf das Feld einer Problematik, die in der Phänomenologie seit Heidegger und in der soziologisch und ethnologisch durch Marcel Mauss beeinflussten Denktradition seit Lévi-Strauss einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Heideggers Überlegungen zum Ereignis als dem ,Es gibt' Sein und Zeit führen bei Jean-Luc Marion zu einer Neuformulierung der phänomenologischen Grundlagen anhand des Gabebegriffes. Marcel Mauss' Essai sur le don entzündete eine Diskussion um das Verhältnis von Gabe und Tausch im Ausgang von Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften. Derridas Analysen der Gabe und der Vergebung, in denen beide Traditionen rezipiert sind, können als die größte Herausforderung für ein jedes Denken der Gabe und der Vergebung betrachtet werden. Er spitzt die Aporizität der Gabe bis hin zur Leugnung ihrer Phänomenalisierbarkeit zu. Als solche könne die Gabe nie erscheinen, nie zum Phänomen werden, ohne sich in einen Tausch zu verwandeln. Sobald eine Gabe als Gabe bewusst ist, empfindet der Geber mindestens eine Genugtuung, gegeben zu haben. Damit aber hat er bereits den Lohn seiner ,Gabe' erhalten und die vermeintliche Gabe wird zu einem bloßen Tauschverhältnis. Wenn die Gabe umgekehrt aber gar nicht als Gabe erlebt wird, so scheint es ebenfalls problematisch, noch von einer Gabe zu sprechen. Dieselbe Problematik der Möglichkeit einer Unmöglichkeit zeigt sich in analoger Weise in Derridas Auseinandersetzung mit der Vergebung: „Denn wenn die Vergebung sich als solche nicht präsentieren kann, wenn sie sich als solche nicht präsentieren darf, das heißt, sich auf den Schauplatz des Bewußtseins auszusetzen, ohne im gleichen Zug sich zu verneinen, zu leugnen oder eine Souveränität wiederzubejahen, wie kann man dann wissen, was eine Vergebung ist, wenn sie niemals statthat"?31 Können Ricoeurs Begriffe von Gabe und Vergebung dieser von Derrida pointierten Herausforderung begegnen? Ricoeurs Lösungsversuch besteht darin, Gabe und Vergebung dem Austausch nicht gänzlich zu entziehen, sondern vielmehr eine Logik der Überfülle (logique de surabon29 30 31

GGV, S. 750. GGV, S. 728, 743 (Übersetzung modifiziert, I. R.). J. Derrida, M. Wieviorka, „Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht - unbedingt und jenseits der Souveränität", in: Lettre International 48 (2000), S. 10-18, hier S. 14. Vgl. auch J. Derrida, Pardonner: L'impardonnable et l'imprescriptible, Paris 2005. Ricoeur bezieht sich ausschließlich auf das zitierte Interview mit Derrida.

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dance) zu denken, welche sich durch ein Jenseits des Abwägens und ein Überschreiten der aufrechnenden Gerechtigkeitsverhältnisse von einer Logik der Entsprechung oder der Äquivalenz (logique d'équivalence) unterscheidet.32 Paradigmatischer Ausdruck für diese Logik der Überfülle sei die Feindesliebe des Evangeliums, deren politisches Spiegelbild Ricoeur in der Kantischen universellen Gastfreundschaft sieht. Die Feindesliebe leihe, „ohne auf Rückgabe zu hoffen", bzw. sie „erwartet von der Liebe, daß sie den Feind in einen Freund verwandelt".33 Sowohl in der Feindesliebe als auch in der Vergebung sieht Ricoeur das für den Gabecharakter entscheidende Moment in einem Risiko: Wenn ich meinen Feind liebe, so gehe ich das Risiko ein, dass er mir erneut Leid zufügt, und wenn ich Vergebung gewähre, so gehe ich das Risiko ein, erneut verletzt zu werden. Was geschieht in dieser riskanten Vergebung? In der Vergebung wird die Verstrickung des Handelnden mit seiner Handlung gelöst: „Die Formel dieses befreienden Worts würde, in aller Nüchternheit ausgesprochen, lauten: Du bist besser als deine Taten (tu vaux mieux que tes actes)",34 es ließe sich auch übersetzen „Du bist mehr wert als deine Taten". Der Vergebende nimmt hier das Risiko auf sich, dem Täter einen Kredit des Vertrauens einzuräumen. Während Finanzinstitute finanzielle Kredite normalerweise nur auf der Basis von Sicherheiten des Schuldners gewähren, geht der Vergebende ein bedingungsloses Risiko ein: Ohne institutionelle Absicherung, ja ohne Fundierung in einem bereits beobachteten Habitus des Täters, d. h. ohne jegliche Garantie durch dessen Charakter und narrative Identität werden dem Täter Erneuerungsmöglichkeiten seines Selbst zugetraut. Die Vergebung, Bruch und Brücke gleichermaßen, schafft so über einen sprunghaften Akt des Vertrauens einen neuen Anfang in der Zeit. Dieser ermöglicht es dem Täter, erneut zu handeln, zu versprechen und bessere Handlungsmöglichkeiten zu verwirklichen als bisher. Mit dieser weder leichten noch unmöglichen, sondern schwierigen Vergebung „handelt [es] sich nicht darum, auf der Ebene einer berechenbaren Bilanz ein Sollsaldo zu löschen. Es handelt sich darum, Knoten zu entwirren".35 Dieses .Entwirren der Knoten' bedeutet kein Vergessen der vergangenen Ereignisse und Menschen, sondern ,,[e]ine subtile Arbeit des Bindens und Entbindens [...] im Herzen der Schuld selbst [...]: einerseits die Entbindung von der Verfehlung, andererseits die nie auflösbare Bindung eines Schuldners. Schuld(en) ohne Schuld (la dette sans la faute)".36 Es geht um ein .„Vergessen der Schuld'", das kein Vergessen der Ereignisse und Menschen impliziert, ja erst recht keine Pflicht ist, „über das Übel zu schweigen", vielmehr allein das Ziel verfolgt, dieses Übel „in einer beruhigten Weise frei von Zorn zu sagen".37

32

33 34 35

36 37

Vgl. zu dieser Gegenüberstellung auch P. Ricoeur, Liebe und Gerechtigkeit/Amour et justice, Tübingen 1990. GGV, S. 738. GGV, S. 759 (Einfügung des französischen Wortlautes, I. R.). P. Ricoeur, „Die vergangene Zeit lesen: Gedächtnis und Vergessen", in: ders., Das Rätsel der Vergangenheit, S. 69-156, hier S. 153. GGV, S. 772f. GGV, S. 772, 696.

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Es lohnt sich hier zu verfolgen, wie Ricoeur die Überlegungen zu Gabe und Vergebung einige Jahre später in neuem Kontext weiterverfolgt, denn eine vergleichbare Wirkung wie der Vergebung kommt der Erfahrung jener Friedenszustände der Anerkennung zu, die Ricoeur im dritten Teil seines letzten Werkes erörtert. Im Ausgang von der so genannten Hobbesschen Herausforderung eines Kampfes aller gegen alle gelangt er in Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein zu einer Auseinandersetzung mit Hegels Problematik der Anerkennung. Dies führt ihn auf die Frage, ob sich „das Verlangen nach emotionaler, rechtlicher und gesellschaftlicher Anerkennung wegen seines militanten, konfliktträchtigen Stils nicht in ein unbegrenztes Verlangen, eine Form des schlechten Unendlichen'" und in eine neue Form des ^unglücklichen Bewusstseins'" auflöse.38 Die Konflikte, so Ricceurs Antwort, seien zwar tatsächlich nicht aufzulösen und der Kampf um Anerkennung sei nicht durch eine versöhnende Aufhebung ein für alle Mal zu beenden. Trotzdem gäbe es aber eine „tatsächliche Erfahrung von [...] Friedenszustände[n]", welche „Waffenstillstände, Aufheiterungen, man könnte auch sagen: .Lichtungen'" innerhalb des Kampfes um Anerkennung darstellten.39 Diese Erfahrungen der Ruhe und des Friedens, welche, wie die Erfahrung einer schwierigen Vergebung, ebenfalls darauf hindeuten, dass der Wunsch nach einem glücklichen Gedächtnis nicht ganz und gar vergeblich ist, versucht Ricoeur erneut über den Gabebegriff zu bestimmen. Auch hier findet sich die Unterscheidung einer Logik der Überfülle von einer Logik der Gegenseitigkeit (logique de la réciprocité), bei der erstere zwar in letzterer spielt, ihrer Natur nach jedoch prinzipiell anders geartet ist. Es geht um einen Gaberitausch, der nicht in einer Logik der Gegenseitigkeit aufgeht. Der double bind in Hinblick auf die Gabe, demzufolge der Empfänger der Gabe gleichzeitig zu einer Erwiderung der Gabe verpflichtet ist und die Großzügigkeit der ersten Gabe nicht annullieren soll, entstünde nur dann, wenn man die bloße Beziehung der Gabe aus der Perspektive eines transzendenten Dritten betrachte und damit eine phänomenologische Betrachtungsweise verfehle. Nimmt man hingegen eine phänomenologische Perspektive ein und richtet das Augenmerk auf die Akteure und ihre Beschreibungen der eigenen Handlungen, auf das, was zwischen den an der Gabe Beteiligten geschieht, so zeige sich einem eine zeremonielle gegenseitige Gabe, in der Ricoeur eine symbolische wechselseitige Anerkennung (,reconnaissance mutuelle) erfolgen sieht. Was geschieht in einer gelingenden Gabe zwischen Geber und Empfänger? In der Großzügigkeit und Großherzigkeit der ersten Gabe läge ein Moment der agape im Sinne eines reinen Begehrens zu geben. Sie sei zunächst allein auf das Empfangen gerichtet und impliziere noch nicht die Erwartung einer Gegengabe. Gelingt diese erste Gabe, so entstünde beim Empfänger eine Dankbarkeit. In einem diametralen Gegensatz zu der Position von Derrida führt diese Dankbarkeit bei Ricoeur nicht zu einer dem Geber seinen Lohn auszahlenden Annullierung der Gabe, sondern stellt vielmehr gera38

39

P. Ricoeur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006, S. 273. Ricoeur, Wege der Anerkennung, S. 273, 274.

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de eine Bedingung der gelingenden Gabe dar. Von einer „Ethik der Dankbarkeit" kann Ricoeur nur deshalb sprechen, weil er Empfangen und Dankbarkeit nicht als Komponenten eines ökonomischen Tauschverhältnisses interpretiert.40 Der Vorgang von Gabe und Gegengabe spalte sich in zwei Teile auf: geben-empfangen auf der einen Seite und empfangen-erwidern auf der anderen Seite. Ähnlich wie die Vergebung fungiert auch das Gefühl der Dankbarkeit an der entscheidenden Ankerstelle des Empfangens sowohl als Bruch als auch als Brücke. An dieser Bruch- und Brückenstelle aber entsteht das, was Ricoeur in Opposition zu der Äquivalenz des Rechtsverhältnisses und des kommerziellen Tausches den Abstand der Ungenauigkeit nennt. Die Ungenauigkeit besteht zum einen in Hinblick auf den maßlosen Wert der Gegengabe und zum anderen in Hinblick auf den Zeitpunkt der Rückgabe. Diese wert- und zeitbezogene Ungenauigkeit an der Bruch- und Brückenstelle der beiden Teilprozesse der Gabe verweist auf jenes Risikomoment, welches sich im Epilog zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen bereits für die Vergebung anzeigte. Eine Gabe ist immer ein Anbieten, ein Riskieren, ein Etwas-vonsich-selbst-geben. Sie muss mit einer großen Verzögerung oder gar einem Ausbleiben der Gegengabe rechnen, sie muss damit rechnen, dass die Gegengabe geringfügiger ausfällt als möglicherweise erhofft. An der Schnittstelle der beiden Teilprozesse, deren Abstand der Ungenauigkeit Bedingung für die Gabe ist, besteht zugleich immer die Gefahr eines Fehlschlagens derselben. Weil es kein festes Maß gibt, sondern Wert und Zeitpunkt der Gegengabe ohne Intervention eines transzendenten Dritten aus der Begegnung zwischen Geber und Empfänger selbst hervorgehen müssen, kann bei diesen stets eine Grundstimmung des Missverständnisses entstehen, durch die der Gabeprozess wieder in die Logik der Gegenseitigkeit umkippt. Die Logik der Überfülle befindet sich in einem ständigen Oszillationsverhältnis zu den der Logik der Gegenseitigkeit verpflichteten Tauschformen und kann nie zu eindeutiger Gewissheit, abschließender Bilanzierung, unerschütterlicher Stabilität, geschweige denn zu einer gewissen und vollständigen Vergebung in einem endgültigen geschichtlichen Friedenszustand führen. Sowohl die Vergebung als auch die Friedenszustände können nicht mehr sein als tatsächliche menschliche Erfahrungen, die inmitten der Geschichte geschehen. Sie vermeiden jedoch, dass der menschliche Entwurfshorizont eines glücklichen Gedächtnisses für ein bloßes Wunschdenken gehalten werden muss. Jedes Mal, wenn diese Erfahrungen statthaben, gehen Einzelne das unbedingte Risiko ein, dem Täter Besseres zuzutrauen, als er bisher geleistet hat, wie in der Vergebung, oder sie gehen das unbedingte Risiko einer Gabe ein, deren Gegengabe nach Zeit und Wert ungewiss ist, wie in den Friedenszuständen wechselseitiger Anerkennung. Es sind dabei nie Institutionen, sondern stets mutige Einzelne, die die Kreisläufe einer Potenzierung der menschlichen Verfehlungen zu durchbrechen versuchen, ohne mit jenem befohlenen Vergessen zu operieren, das institutionelle Amnestien zu einer Karikatur der Vergebung werden lässt. Durch die Unterscheidung von Schuld und Verfehlung wurde deutlich, dass der Entwurfshorizont eines glücklichen Gedächtnisses zudem lediglich ein Vergessen der Ver40

Ricoeur, Wege der Anerkennung,

S. 304.

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fehlungen, nicht aber ein Vergessen der Ereignisse und Menschen, d. h. des Erbes im Sinne der Schuld anstreben kann. Dieses Vergessen der Verfehlungen, das überdies nur Einzelne rechtmäßig wagen können, würde allein die Schuldhaftigkeit vergessen, nicht aber die Ereignisse der Verfehlungen selbst. Das einzig gerechtfertigte Vergessen .vergisst' so letztlich nicht eigentlich, sondern es ermöglicht, das Vergangene frei von Zorn zu sagen. Damit geht allerdings einher, den Tätern zukünftig Besseres zuzutrauen. Dieses risikobereite Vertrauen in eine Besserung der Täter ist die einzige Hoffnung, die in dem Entwurfshorizont des Wunsches nach einem glücklichen Gedächtnis eine tragende Rolle spielt. Wäre diese Hoffnung nicht nur riskant, sondern vergeblich, so wäre das glückliche Gedächtnis illusionär. Solange man aber mit Ricoeur davon ausgeht, dass das Vermögen eines Menschen stets weiter reicht als die bisher von ihm aktualisierten Handlungen,41 sind die Vergebung und die Friedenszustände der Anerkennung sinnvolle menschliche Erfahrungen, deren Hoffnung zwar ein Risiko, nicht aber ein den Tatsachen zuwiderlaufendes Wunschdenken darstellt. Wenngleich Ricoeur in Hinblick auf Vergebung und Gabe im Sinne der agapê zweifellos mit Begriffen argumentiert, denen in der christlichen Tradition eine zentrale Funktion zukommt, ist dies nicht gleichbedeutend mit einer heimlichen Integration christlicher Glaubenssätze in die Philosophie. Allein die Erfahrungen, die sich hinter diesen traditionell christlichen Begriffen verbergen, sowie die Frage nach ihrer Universalisierbarkeit sind für Ricœurs Argumentation von Bedeutung. Anknüpfend an Derrida, der die Erfahrung der Vergebung zwar der spezifisch christlichen Tradition zurechnet, gleichzeitig aber von einer Universalisierung derselben spricht, ist Ricoeur der Auffassung, dass sich ,,[i]n dieser Hinsicht [...] von einer angestrebten Universalität sprechen" ließe, „die der Diskussion einer sich im Weltmaßstab herausbildenden öffentlichen Meinung unterworfen ist".42 Die Universalisierbarkeit jener von Ricoeur herangezogenen traditionell christlichen Erfahrungstypen stünde so in der weltweiten Diskussion stetig auf dem Prüfstand. Schließlich ließe sich an dieser Stelle darauf verweisen, dass Ricœurs kritische Hermeneutik überhaupt in ihren Grundlagen auf einen der Vergebung und der Gabe vergleichbaren garantielosen Kredit angewiesen bleibt: „Die Bezeugung", so Ricoeur im Vorwort zu Das Selbst als ein Anderer, „bestimmt unserer Auffassung nach die Art der Gewißheit, auf die die Hermeneutik sich berufen darf,43 diese aber sei, so Ricoeur in der zehnten Studie desselben Werkes, Trauen (créance) und Vertrauen (confiance), ein garantieloser Kredit, der an das Bezeugte als etwas Wahrseiendes glaubt. Vergebung 41

42

43

Ricoeur strebt im Hintergrund seiner hermeneutischen Phänomenologie des handelnden und leidenden Menschen eine aristotelisch inspirierte Ontologie von Akt und Potenz an, mit der er sowohl das Sein des Menschen als auch das Sein überhaupt zu kennzeichnen versucht. Vgl. P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, S. 365-382. Noch in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen schreibt er, er halte „die Bedeutung des Seins als actus und potentia, in Übereinstimmung mit einer philosophischen Anthropologie des fähigen Menschen, für die beste" (GGV, S. 534). GGV, S. 714. Vgl. J. Derrida, „Das Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht - unbedingt und jenseits der Souveränität", S. 10. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, S. 32.

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und Gabe könnten so als Steigerungsformen eines hermeneutisch notwendigen Grundvertrauens verstanden werden, die jedoch in ihrem unbedingten Risiko nicht in etwas bereits Bezeugtes, sondern in die bloße Möglichkeit eines neuen Anfangs in der Geschichte vertrauen.

3.

Die Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz

Dieser letzte Abschnitt stellt den Versuch dar, auf der Grundlage der obigen Erörterungen des Epilogs zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen in Anschluss an Ricoeur den Gedanken einer Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz zu entwickeln. Es ist hier nicht jene Zweideutigkeit der Geschichte gemeint, die Ricoeur in seiner frühen Aufsatzsammlung Geschichte und Wahrheit behauptet und die ihn dort zu einer „Theologie der Geschichte" führt, in der ,,[d]er christliche Sinn der Geschichte [...] in der Hoffnung [besteht], daß die weltliche Geschichte ebenfalls am Sinn teilhat, den die heilige Geschichte entfaltet, daß es zuguterletzt nur eine einzige Geschichte gibt, daß alle Geschichte letzten Endes heilig ist", einen eschatologischen ,,supra-rationale[n] Sinn" hat und „am jüngsten Tag' die Einheit des Sinns zum Vorschein kommen wird", welche dem Erdenbürger vorläufig nur als „verborgener Sinn" gegeben ist.44 Die hier gemeinte Zweideutigkeit betrifft vielmehr eine Unsicherheit innerhalb der menschlichen Erfahrungen von Gabe, Vergebung und Anerkennung selbst und erhält damit den Status einer zwischenmenschlichen Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz. Gabe und Vergebung, so wurde deutlich, sind nicht institutionalisierbar. Es ist unmöglich, sie Regeln zu unterwerfen, die einem gemeinsamen, vorab festgelegten Maß folgen und es ist unmöglich, sie im Bereich der Politik zu praktizieren. In seiner Auseinandersetzung mit Hannah Arendt hebt Ricoeur zudem ausdrücklich hervor, dass selbst die Aristotelische politische Freundschaft nicht dazu in der Lage sei, der Vergebung einen Rahmen zu liefern. Dieser für Gabe und Vergebung notwendige Ausschluss eines transzendenten Dritten hat zur Folge, dass die Einzelnen zwischen ihnen und durch die jeweilige Gabe und Vergebung selbst ein Maß für das Gelingen ihrer Handlungen finden müssen. Dies aber bringt stets die Gefahr eines Fehlschlagens mit sich und hierin liegt eine nicht lediglich zufällige, sondern konstitutive Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz. Die Vergebung könnte einen Rest von Misstrauen enthalten, der den Täter doch nicht vollständig von seiner Handlung losbindet. Sie könnte aber auch in Verdrängung und eskapistisches Vergessen umschlagen. Die Vergebung kann enttäuscht werden, indem der Täter doch weiterhin den Habitus pflegt, der ihn zuvor zum Täter machte. Da die Gabe mit ihrer Logik der Überfülle nicht ganz und gar jenseits der Logik der Gegenseitigkeit stattfindet, sondern vielmehr innerhalb der Logik der Gegenseitigkeit, die sie sprengt, befindet sie sich stets in der Gefahr, in eine bloße Logik der Gegenseitigkeit umzukippen. Dieses ihr wesentliche Schillern der Gabe selbst, welches noch die Vergebung erreicht, lässt sie in ihrer Maßlosigkeit zwischen Gelingen und Miss44

P. Ricoeur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 103, 105f.

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Ungen schwanken. Die Arbeit ,im Herzen der Schuld' selbst, welche die Schuld von der Verfehlung zu trennen sucht, erreicht so nie den Moment, in dem sie sich sicher sein kann, dass diese Trennung vollständig gelungen, der Verfehlungscharakter vergessen und das Erbe frei von Zorn erinnert und anerkannt wird. Ähnlich wie für die primordiale Zwiespältigkeit des Vergessens, welches zwischen verwahrendem und auslöschendem Vergessen schwankt, und im Weiteren für die epistemische Unsicherheit von Gedächtnis und Geschichte, so scheint es auch in Hinblick auf Schuld und Verfehlung „für menschliche Sichtweisen keinen höheren Standpunkt" zu geben, von dem aus sich ihre Unterscheidung eindeutig und mit Gewissheit erkennen ließe.45 Die prinzipielle Zweideutigkeit liegt in der Erfahrung selbst. Es ließe sich in dieser Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz in gewisser Hinsicht eine Parallele zu einem Gedanken aus Kants Moralphilosophie aufzeigen. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt es, dass es „schlechterdings unmöglich" sei, „durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen",46 in dem tatsächlich moralisch gehandelt wurde. Da Kant zufolge zwar mit Gewissheit festgestellt werden kann, ob eine Handlung pflichtmäßig, nicht aber, ob sie aus Pflicht geschehen ist, ist jede noch so moralisch scheinende Handlung doch mit einem letzten nicht auszuräumenden Zweifel behaftet, der es offen lässt, ob die betreifende Handlung nicht doch lediglich pflichtmäßig gewesen ist. Die moralische Gesinnung eines Handelns aus Pflicht ist niemals mit absoluter Gewissheit als eine solche zu erkennen. Andere sind grundsätzlich nicht dazu in der Lage, sie eindeutig festzustellen, da sie zwar die Pflichtmäßigkeit meiner Handlung, nicht aber meine wahren Motive ausmachen können. Aber auch wir selbst sind Kant zufolge nicht dazu in der Lage, über unsere eigenen Handlungsmotive vollständige Klarheit zu erreichen. Es bleibt immer möglich, dass Neigungen hinter der vermeintlich moralischen Triebfeder stecken. Zudem unterlägen wir einer ,,natürliche[n] Dialektik, d. i. ein[em] Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln",47 durch den wir das Gebotene mit dem durch unsere Neigungen Gewünschten so sehr vermischen, dass wir schließlich das durch unsere Neigungen Gewünschte zugleich als das Gebotene verstehen. Nun geht es in den menschlichen Erfahrungen von Gabe, Vergebung und Anerkennung nicht um Moralität, es kann gar nicht um Moralität im Kantischen Sinne gehen, denn diese impliziert den Maßstab eines allgemeinverbindlichen Gesetzes und die genannten Erfahrungen sind ihrem Wesen nach nicht gesetzlich zu regeln. Die Analogie liegt vielmehr in der Struktur der Zweideutigkeit der einzelnen Erfahrungen. Auch in Gabe und Vergebung liegt eine Zweideutigkeit, wenn wir zwar um Vergebung bitten, Vergebung gewähren oder den Gabentausch praktizieren, dabei jedoch weder die Anderen noch wir selbst eindeutig dazu in der Lage sind festzustellen, ob es sich um eine gelungene Gabe bzw. Vergebung gehandelt hat. Die Anderen können keine Si45 46

47

GGV, S. 676f. I. Kant, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", in: ders., Schriften zur Ethik und philosophie, Darmstadt 2005, S. 11-102, hier S. 34. Ebd., S. 32.

Religions-

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cherheit darüber erlangen, ob es sich um eine wirkliche Gabe bzw. Vergebung handelt oder nur, wie in der politischen Amnestie, um eine Karikatur der Vergebung, um ein Schauspiel von Gabe und Vergebung. Und wir selbst meinen zuweilen zu geben oder zu vergeben, wenn unsere Handlung letztlich doch von Interesse geleitet und somit nicht unbedingt und interesselos begonnen wurde. Zudem ließe sich eine gewisse Analogie zu jener Kantischen ,natürlichen Dialektik' in den Inszenierungen von Vergebung und Gabe finden: Die Inszenierung suggeriert eine Wahrhaftigkeit von Vergebung und Gabe, während sie doch letztlich von Interessen geleitet ist und nur um dieser Interessen Willen ausgeführt wird. Ricoeur scheint stellenweise gar selbst in die Gefahr einer derartigen Vermengung zu geraten, denn er hebt zwar die Notwendigkeit einer unbedingten und interesselosen Vergebung hervor, dann wiederum entsteht jedoch der Eindruck, er wolle die Vergebung wesentlich einer sozialen Funktion einschreiben, in der es um die „Sorge um den allgemeinen Frieden" geht.48 Sobald die Vergebung aber eine ,Vergebung, um zu...', hier eine Vergebung um des Friedens Willen wird, ist sie keine wahrhafte Vergebung mehr. Und hier besteht in der Tat eine Gefahr im Umgang mit Vergangenheit: Wenn auch nicht auf rechtlicher und politischer, d. h. institutioneller Ebene, so könnte doch auf einer sittlichen Ebene diesseits des Politischen ein Druck auf die Opfer entstehen, in welchem diese in gewisser Weise zur Vergebung genötigt werden dadurch, dass man ihnen aufgrund ihrer Verweigerung derselben eine Blockade und Verhinderung des Friedens und damit eines besseren Neuanfangs in der Geschichte vorwirft - die Opfer erscheinen dann als diejenigen, die schuld sind daran, dass man sich nicht in einem Friedenzustand wechselseitiger Anerkennung befindet. Wenn die Vergebung derart von einer frei gewährten zu einer erzwungenen wird, so misslingt sie. Ähnliches gilt für einen falsch verstandenen Optativ des glücklichen Gedächtnisses: Wenn auf direktem Wege sowohl die Verfehlungen als auch die vergangenen Ereignisse und Menschen selbst vergessen werden, um das Interesse eines glücklichen Gedächtnisses zu verwirklichen, so ist auch dies ein misslungener Akt der Versöhnung, denn das glückliche Gedächtnis kann immer nur Entwurfshorizont, nie aber unmittelbares Ziel werden, wenn es sich nicht selbst verfehlen will. Die angezeigte Zweideutigkeit von Gabe und Vergebung beinhaltet zudem eine zeitliche Erstreckung. Selbst wenn die Vergebung im Moment ihrer Gewährung zu gelingen scheint, kann der Vergebende in den Kreislauf der Rache zurückkehren, sollte der Täter sein altes Verhalten wiederholen. Und wenn die erste Gabe zu gelingen scheint, so kann sie aufgrund des Abstands der Ungenauigkeit in den Tausch umkippen, falls in den Augen des Gebers der angemessene Zeitpunkt der Gegengabe längst verstrichen ist. Wenn auf diese Weise der Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz ein zeitlicher Index anhaftet, so betrifft dieser nicht die Frage, ob die Geschichte insgesamt „verloren oder gewonnen" wird,49 sondern ob ein Einzelner mit seinem unbedingten Risiko einer Ver-

48 49

GGV, S. 721. Ricceur, Geschichte und Wahrheit, S. 104.

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gebung einen Schritt in eine bessere Zukunft machen konnte oder ob diese Vergebung vielmehr misslang. Da es stets ungewiss bleibt, wie weit wir mit der Erinnerungs- und Trauerarbeit sowie den Erfahrungen von Gabe, Vergebung und wechselseitiger Anerkennung bereits gekommen sind, wirkt die Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz als ein Stachel zur endlosen Weiterarbeit an einem Gedächtnis und einer Geschichte, die das Vergangene frei von Zorn erinnern und so die Möglichkeit einer besseren Zukunft eröffnen, in der die Potenzierungen der Verfehlungen nicht weitergetrieben werden. Der Optativ des glücklichen Gedächtnisses wäre so ein Horizont, der zwar nie erreicht wird, unsere geschichtliche Existenz, unser Gedächtnis und unsere Geschichtsschreibung aber dennoch davor bewahrt, zu einer hoffnungslosen Verzweiflung zu werden. Der schmale Pfad zwischen eskapistischem Vergessen und hoffnungsloser Verzweiflung angesichts der Schrecken der Vergangenheit läge darin, die Erinnerungs- und Trauerarbeit und damit die Arbeit an der Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz unaufhörlich weiterzuführen sowie Vertrauen darein zu setzen, dass das Vermögen der Menschen ihre tatsächlich ausgeführten Taten stets übersteigt. Das ruhige, sorgenfreie Gedächtnis, von dem Ricoeur so häufig spricht, wäre damit zwar nicht verwirklicht, als Horizont geschichtlicher Existenz kann es jedoch die Verzweiflung an der Geschichte verhindern, ohne sich in Eskapismus zu verkehren. Die Illusion und das Wunschdenken können dann vermieden werden, wenn der Optativ des glücklichen Gedächtnisses nicht als direktes Ziel, sondern lediglich als äußerster Erfüllungshorizont einer kritischen Hermeneutik der Geschichte fungiert, deren voie longue letztlich den Status einer voie inachevée erhält.50 Ricoeur zufolge sind es schließlich die Dichter, jene Menschen, die Piaton aus dem Staat zu verbannen gedachte, denen in dieser unabschließbaren Arbeit an der Zweideutigkeit eine zentrale Rolle zukommt. Eine „vernünftige Politik" sei zwar „ohne so etwas wie eine Zensur des Gedächtnisses" kaum möglich, „das Politische" nämlich beruhe „auf dem Vergessen des Nicht-Vergessens".51 Die Dichter jedoch gäben dem nicht-vergessenden Gedächtnis eine Stimme, erzählen vom Leid und den Hoffnungen der Toten, verhindern die Verkehrung von politischer Amnestie in gemeinschaftliche Amnesie und nähren so den fortdauernden Dissens. Der Philosoph aber befindet sich in einem engen Bunde mit dem Dichter, denn er wird, so Ricoeur, die politischen Amnestien nicht verurteilen, wohl aber „ihren rein utilitaristischen, therapeutischen Charakter unterstreichen".52 Unter der Prosa des Politischen und durch sie hindurch habe der Philosoph auf die Poesie des Dichters zu hören, die das Nicht-Vergessen und damit die Zweideutigkeit geschichtlicher Existenz lebendig hält. Der Optativ des glücklichen Gedächtnisses und 50

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Jean Greisch betont in Hinblick auf den Ricœurschen Terminus inachèvement, welcher das letzte Wort des Nachsatzes zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen darstellt, den ethischen Aspekt einer unabschließbaren Trauerarbeit. Vgl. J. Greisch, Paul Ricœur. L'itinérance du sens, Grenoble 2001, S. 319-323. GGV, S. 769. GGV, S. 770.

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ESKAPISTISCHES VERGESSEN?

die Hoffnung auf Glück richten sich daher weder auf ein Jenseits der Geschichte noch auf eine bevorstehende Aufhebung der Geschichte, sondern, so hat Ricoeur einmal in einem Interview formuliert, sie ist die Hoffnung, „dass es immer poetische Rede geben wird, dass es immer eine philosophische Reflexion über diese poetische Rede geben wird".53 Die Arbeit von Dichtern, Historikern und Philosophen ist unabschließbar. Den durch sie lebendig gehaltenen Dissens jedoch hat jeweils der einzelne, verantwortlich handelnde Bürger zu entscheiden. Der einzelne Bürger, so die bescheidene .Eschatologie' Ricœurs, hat die Aufgabe, den schmalen Pfad zwischen eskapistischem Vergessen und verzweifelter Resignation zu finden, folgt dabei dem Optativ des glücklichen Gedächtnisses und vermag über das Risiko der unbedingten Vergebung und der maßlosen Gabe, einen neuen Anfang in der Geschichte zu setzen.

53

P. Ricoeur, L'unique et le singulier,

Interview mit Edmond Blattchen, Brüssel 1999, S. 72.

GERALD HÄRTUNG

Abschied von der Geschichtsphilosophie? Paul Ricceurs Geschichtsdenken im Kontext

Was es im Hinblick auf kulturelle Lebensformen in ihrer irreduziblen Pluralität heute bedeutet, geschichtlich bzw. im Horizont von Geschichte zu existieren, bleibt vorerst weithin ungeklärt .... Burkhard Liebsch1

Am Beginn meiner Reflexionen zum Geschichtsdenken bei Paul Ricoeur steht die nachdenklich machende Überlegung von Burkhard Liebsch, die an Ricceurs Abhandlung Histoire et vérité anknüpft. Müssen wir, so wird uns die Frage gestellt, nicht von einer Geschichtsphilosophie Abschied nehmen, die - immer noch - auf die Ankunft des Sinns, d. h. des wirklichen Menschen in der Geschichte wartet? Müssen wir nicht vielmehr zugestehen, dass dieses Warten vergeblich ist und damit auch die Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie in die lange Reihe der zu Recht verabschiedeten Vorstellungen gehört? Aber wie verhält es sich mit dieser Geste der Verabschiedung bei Ricoeur selbst? Ganz offensichtlich in zwiespältiger Weise hält Ricoeur an der Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie fest, um doch zugleich deren eigentliches Versprechen, einen letztgültigen Sinn von Geschichte und menschlicher Existenz anzuzeigen, zu unterlaufen. Diese Widersprüchlichkeit gilt es zu explizieren. Es ist zu zeigen, welche guten Gründe dafür sprechen könnten, die Paradoxie eines Festhaltens am und eines Verabschiedens vom Versprechen der Geschichtsphilosophie auszutragen. Meine Hypothese lautet: In der Konstellation der Moderne, die sich seit dem 19. Jahrhundert immer deutlicher als ihre Signatur ausweist, dass wir Geschichte zu denken haben vor dem Hintergrund eines 1

B. Liebsch, „Kritische Kulturphilosophie als restaurierte Geschichtsphilosophie? Anmerkungen zur aktuellen kultur- und geschichtsphilosophischen Diskussion mit Blick auf Kant und Derrida", in: Kant-Studien 98, Heft 2 (2007), S. 183-217; hier: S. 215. Der vorliegende Versuch zur Geschichts- und Kulturphilosophie im 20. Jahrhundert ist den Anregungen von Burkhard Liebsch in vielfältiger Weise verpflichtet und von der Hoffnung getragen, dieser Verpflichtung in angemessener Weise zu begegnen.

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sinn-indifferenten Verlaufs der Naturgeschichte und eines sinnwidrigen, ja gleichsam katastrophischen Verlaufs der Sozial- und Kulturgeschichte, markiert das kontrafaktische Festhalten an der geschichtsphilosophischen Hypothese von der Ankunft eines Sinns in der Geschichte eine Art Bestandsgarantie - und zwar garantiert sie die Möglichkeit, die bloßen Geschehnisse in der natürlichen Umwelt und die Ereignisse in der Sozial- und Kulturwelt sinnvoll deuten zu können. Das Thema vom Aufbruch in eine offene Zukunft ist das zentrale Thema der Geschichtsphilosophie und ihre Erbschaft.2 Aber es kommt etwas hinzu, was das geschichtsphilosophische Projekt langfristig in Misskredit gebracht hat: die Problemanzeige einer sinnindifferenten Naturgeschichte und sinnwidrigen Kulturgeschichte erlaubt keine eindeutigen Antworten mehr. Herders linearer Prozess der Menschheitsgeschichte bis zur Stufe wahrhafter Humanität und Hegels Modell, in dem jedes Moment der Unwahrheit und Unmenschlichkeit letztendlich in den Prozess der Offenbarung eines eindeutigen Geschichtssinns aufgehoben ist, verlieren um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Plausibilität. Die Zeichen des Sinnindifferenten und Sinnwidrigen häufen sich an. Die Forschungen zur Erdgeschichte, Darwins Untersuchungen zur Geschichte des Lebens, sein Panorama der Entstehung und des Untergangs der Lebensformen, das einen Kampf ums Überleben der Arten einschließt, und die menschheitlichen Katastrophen im Zeichen des Kolonialismus, späterhin imperialistischer Außenpolitik, wie auch die Verelendung großer Bevölkerungsteile im Zusammenhang der Industrialisierung, sperren sich gegen geschichtsphilosophische Deutungsangebote. Für das Geschichtsdenken wird seit anderthalb Jahrhunderten der Rahmen vermessen, in dem die, zutiefst widersprüchliche Frage nach der Erbschaft Hegels gestellt wird. Reinhart Koselleck hat auf den allgemeinen Dynamisierungsvorgang in der Naturerforschung, der Betrachtung der sozialen Lebenswelt und der nacheilenden Erschließung der geschichtlichen Welt durch die Geschichts- und Kulturwissenschaften hingewiesen.3 Mit der Auflösung der tradierten Beschreibungsmuster der Natur und Kultur resp. Geschichte, die nicht nur von der Forschung, sondern auch von einem zunehmend säkularen Weltverständnis angefeuert wird, geht ein radikaler Perspektivenwechsel einher: Die Zukunftserwartung richtet sich nicht mehr auf die materiale Erfüllung eines Sinnes, der in den geistigen Institutionen - z.B. Sprache, Recht, Sitte - immer schon mittransportiert wird, sondern an eine formale Offenheit. Von der Zukunft wird vor allem erwartet, dass sie anders sein wird und dass der zeitliche Erfahrungsrhythmus, gemeint ist hier eine abrupte Beschleunigung, sich ändern wird.4

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Nach wie vor instruktiv ist die Studie von K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg 9 1986. Vgl. R. Koselleck, „Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt", in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 176-207. Vgl. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005, S. 71-11.

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Diesen Perspektivenwechsel zeichnet aus, dass die Bereitschaft zur Verabschiedung der Geschichtsphilosophie zwar gegeben ist, dieser Abschied aber nicht konsequent vollzogen wird.5 Auch das Gerede von der so genannten Post-Histoire oder Post-Moderne hat sich vor allem als ein großes rhetorisches Kalkül entlarvt. Denn es hat sich seit den Zeiten Hegels und seiner ersten Kritiker gezeigt, dass die „Moderne" im Voranschreiten ihrer eigenen Aufhebung als einer bloß geschichtlichen Momentaufnahme in den Zustand einer konstitutiven Krisis geraten ist - und in ihr verharrt. Nachdem der Nebel sich gelichtet hat, wird offensichtlich, dass im Ergebnis kaum ein Unterschied auszumachen ist zwischen dem Abschiednehmen und dem Beharren auf vermeintlich überkommenen Problemlagen. So ist auch die Behauptung einer vollständigen Abkehr von der eigenen Tradition noch als bestimmte Negation der Geschichtsphilosophie verpflichtet. Sowohl die Rede vom erfüllten Sinn als auch die von der erledigten Sinnfrage opfern demselben Götzen: der Illusion einer Totalität des Sinns oder des Gegensinns, vor allem aber der eigenen Hybris. Hier ist der Einsatzpunkt für die von Liebsch in Anlehnung an Ricoeur formulierte Widersprüchlichkeit, in die sich jedes Denken der Geschichte in unserer Epoche verstrickt. Dabei wird offenbar, dass diese Widersprüchlichkeit nicht einem Mangel an Nachdenklichkeit geschuldet ist, sondern vielmehr zum Ausdruck bringt, dass in der Verflüssigung von Sinnkonzepten und einem nahezu trotzigen Festhalten an der Vorstellung, dass im Wandel etwas beharren wird, etwas Grundsätzliches hervortritt. In der manifesten Widersprüchlichkeit eines Geschichtsdenkens, das nicht grosso modo die eigene Tradition des Geschichtsdenkens bewahren oder destruieren kann, wird die Krisis der Moderne auf Dauer gestellt. Bis heute wirken die Bruchlinien einer Epoche, die sich selbst im Zeichen des Aufbruchs ohne eine bestimmte Vorstellung der Ankunft verstanden hat. Bis heute verschärft sich auch der Befund, dass wir einerseits gezwungen sind, die überlieferten Weisen geschichtsphilosophischer Reflexion aufzugeben, andererseits aber an der Sinnfrage - warum geschieht überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? und wohin führt uns das Geschehen, wenn wir seine Strukturlinien in die Zukunft verlängern? - festhalten müssen, wenn wir denn nicht im Denken selbst verzweifeln wollen. Hannah Arendt hat über das so genannte „Ende der Philosophie und Metaphysik" angemerkt: „nicht, daß die Fragen, die so alt sind wie die Menschen selbst, .sinnlos' geworden wären, sondern daß die Art, wie sie gefaßt und beantwortet wurden, nicht mehr einleuchtet."6 Das 5

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Vgl. O. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt am Main 1982. Marquard spricht explizit von „Vorbereitungen" zum Abschied von der Geschichtsphilosophie. H. Arendt, Vom Leben des Geistes, München 1979, S. 20: „Doch ehe wir über die möglichen Vorzüge unserer gegenwärtigen Situation zu spekulieren beginnen, dürfte es ratsam sein, zu überlegen, was eigentlich gemeint ist, wenn man feststellt, daß Theologie, Philosophie, Metaphysik ans Ende gekommen seien - gewiß nicht dies, daß Gott gestorben sei, denn darüber kann man ebensowenig wissen wie über die Existenz Gottes (und das ist so wenig, daß schon das Wort .Existenz' fehl am Platze ist), sondern vielmehr, daß die Art, wie man sich Gott seit Jahrtausenden vorgestellt hat, nicht mehr überzeugt; wenn etwas tot ist, dann kann es nur die herkömmliche

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ist eine wichtige Differenz, die unserem Nachdenken über das Geschichtsdenken nach dem proklamierten Ende der Geschichtsphilosophie als Leitfaden dienen soll. Es geht nicht darum, Fragestellungen für erledigt zu erklären, die in unserem Kulturkreis seit Jahrtausenden in mythischer, religiöser, philosophischer und wissenschaftlicher Form artikuliert wurden. Diese Hybris liegt bekanntlich dem Diskurs der Moderne nahe, ist aber dem Thema und seinem existenziellen Grund unangemessen. 7 Ganz im Gegenteil muss die Aufgabe lauten, aus den Forschungen zur Naturgeschichte und den Reflexionen zur Kulturgeschichte die strukturellen Momente zu isolieren, mit denen das Geschichtsdenken sich produktiv auseinander setzen muss. Dabei handelt es sich um die irreduzible Pluralität der Lebensformen, d. h. die Singularität der natürlichen und kulturellen Artikulationen und - damit zusammenhängend - ihre fundamentale Unvergleichbarkeit, und die Geschichtlichkeit der Erkenntnis, d. h. die Unmöglichkeit, den je eigenen Standort der Betrachtung vollständig objektivieren zu können. Der interne Zusammenhang dieser Momente zeigt sich immer dann, wenn ich daran scheitere, mir selbst und für andere Rechenschaft über den Standort zu geben, von dem aus ich Tatsachen und Ereignisse beurteile. William James hat diesen Zusammenhang in seiner Abhandlung The Will to Believe (1896) exemplarisch aufgezeigt. Die doppelte Problemstellung - Pluralität und Geschichtlichkeit - führt zu der weiterführenden Überlegung, wie der Geschichte, die sich in eine Vielzahl von Beziehungsgeflechten und in eine unendliche Zahl von Perspektiven verzeigt, überhaupt „Sinn" abzugewinnen ist.8 Wir können mit mehreren Wahrheiten leben, aber nur mit einem Sinn. Selbst wenn dieser Sinn flüssig ist und sich für jeden Einzelnen und seinen Kulturkreis wandelt, so ist er doch im Augenblick der Vergewisserung immer eindeutig. Hier liegt die Grenze des Widersprüchlichen und der „Kontingenz als Stimulans" (Blumenberg 9 ). Vieldeutigkeit muss auf Eindeutigkeit zurückführbar sein, wenn eine existenzielle Wahl angezeigt ist, sonst gleitet Pluralität in Beliebigkeit und Geschichtlichkeit in Indifferenz gegenüber dem Geschichtsverlauf ab. Diese Gefahr haben die philosophischen Betrachter der Geschichte gesehen. 10 Sie haben zugleich bemerkt, dass es Hegel selbst war, der in seiner Phänomenologie des Geistes diese

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Vorstellung von Gott sein. Und Ähnliches gilt für das Ende der Philosophie und Metaphysik: nicht, daß die Fragen, die so alt sind wie die Menschen selbst, .sinnlos' geworden wären, sondern daß die Art, wie sie gefaßt und beantwortet wurden, nicht mehr einleuchtet." Vgl. dagegen J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1988. Vgl. F. Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, München 1988, Buch 5, Aphorismus 374, S. 627: „Wir sind heute zum mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretieren, daß man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal .unendlich' geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt." H. Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie", in: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 7-54; hier: S. 47. Vgl. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus [Orig.: The Origins of Totalitarianism, New York 1951], München 2005, Kap. 13:

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Situation erkannt und gleichsam, wenn auch auf nicht mehr nachvollziehbare Weise, gebannt hat.11 Und es war Wilhelm Dilthey, der angesichts der für ihn heillosen Option, sich entweder dem Naturalismus oder dem Historismus seiner Zeit zu unterwerfen, die Prophezeiung gewagt hat, dass „die Zeit [kommen wird], in welcher auch sein Versuch [d. i. Hegel. G. H.], einen Zusammenhang von Begriffen zu bilden, der den unablässigen Strom der Geschichte bewältigen kann, gewürdigt und verwertet werden wird."12 Paul Ricoeur übernimmt diesen Gedanken und betrachtet Hegels Versuch einer begrifflichen Durchdringung des Geschichtsverlaufs als eine ständige „Versuchung" („la tentation hégélienne"13). Ich möchte dieser Versuchung in drei Schritten nachgehen, indem ich Ricceurs Geschichtsdenken in den Kontext zweier Entwürfe stelle, die in jeweiliger Nähe und Distanz aussagekräftig sind und Aufschluss über Ricceurs Position in der geschichtsphilosophischen Tradition geben. Es sind Ernst Cassirers Modell einer Teleologie der menschlichen Kultur und Paul Tillichs eschatologische Bestimmung der Kultur. In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, wie das Problem der Vieldeutigkeit und Geschichtlichkeit des Sinns von Geschichte auf ganz unterschiedliche, aber durchaus miteinander in Beziehung stehende Weise angefasst werden kann.

1.

„Humanity as the common end [of history]" - Ernst Cassirer

Wer Ernst Cassirers Arbeiten zur Kulturphilosophie - in ihrer Linie von der dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen, die im Jahr 1929 abgeschlossen vorlag, bis zum Essay on Man des Jahres 1944, der eine Einleitung in die Philosophie der menschlichen Kultur verspricht - in einem Text verdichtet betrachten möchte, der muss seine Abhandlung über Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie aus dem Jahr 1939 lesen. In keiner anderen Schrift benennt Cassirer in solcher Deutlichkeit seine Gegner für eine Theorie der Geschichte und Kultur und setzt sich vergleichsweise eindringlich mit ihren Theorien auseinander. Sein Gegner auf diesem Feld ist jeder theoretische Ansatz, der mit dem „Axiom des universellen Determinismus" operiert. Gemeint sind hier einerseits die idealistischen Kulturphilosophien im Schatten Hegels, andererseits die naturalistisch begründeten Kulturtheorien.14

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„Ideologie und Terror". Dann aber auch re-konstruktiv in Vita activa oder vom tätigen Leben, München 2002, Kap. 1: „Die menschliche Bedingtheit". Vgl. G. Härtung, „Noch eine Erbschaft Hegels. Der geistesgeschichtliche Kontext der Kulturphilosophie", in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft. 113/2, Freiburg i. Br., München 2006, S. 382-396. Vgl. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1910], Frankfurt am Main 1981, S. 137. P. Ricoeur, Temps et récit. Vol. 3: Le temps raconté, Paris 1985, S. 350-364. Vgl. E. Cassirer, „Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie", in: Göteborgs Kungl. Vetenskaps- och Vitterhets-Samhälles Handlingar. Femte Foljden. Ser. A. Band 7. Nr. 3, Göteborg 1939, S. 12ff.

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Cassirer erörtert angesichts dieser wirkungsmächtigen Tendenzen, ob es überhaupt noch eine Alternative gibt, eine Theorie von Kultur und Geschichte auf einem anderen Fundament zu gründen, und er stellt sich die Frage, „an welcher Stelle [...] wir den Hebel ansetzen [können], um dem individuellen Sein und dem individuellen 1\in wieder eine selbständige Bedeutung und einen selbständigen Wert zurück zu gewinnen?"15 Die Antwort auf diese Frage sucht Cassirer in einer geistesgeschichtlichen Rückbesinnung. Wie schon sein Lehrer Hermann Cohen bezieht auch er sich vor allem auf die Schriften von Herder und Kant, Goethe und Schiller so wie Wilhelm von Humboldt. In ihren Werken erkennt er einen „neuen Humanismus", weil sie mit dem Begriff der „humanitas" einen Sinnhorizont eröffnen, der das Ganze der geistigen Welt des Menschen umfasst. „Humanitas" meint nicht eine Form der Sittlichkeit oder eine bestimmte Sozialordnung, nicht also die bloß partikularen Momente des objektiven Geistes, sondern die Form menschlichen Daseins schlechthin: „Was sie unter dem Namen Humanität suchen, das [...] erstreckt sich vielmehr auf jegliche Gestaltung überhaupt, gleichviel in welchem besonderen Lebenskreise sie sich vollziehen mag. Als der Grundzug alles menschlichen Daseins erscheint es, dass der Mensch in der Fülle der äußeren Eindrücke nicht einfach aufgeht, sondern dass er diese Fülle bändigt, indem er ihr eine bestimmte Form aufprägt, die letzten Endes aus ihm selbst, aus dem denkenden, fühlenden, wollenden Subjekt herstammt."16 Humanität wird von Cassirer als ein „Medium" vorgestellt, in dem sich die menschliche Produktivität - die spezifisch menschliche Leistung, die ihn von allen Naturwesen unterscheidbar macht - realisiert. Die Produktivität der Formgebung ist der begrenzte, an ein Maß gebundene Lebensstrom, der weder in seiner Unmittelbarkeit erfasst noch in dieser Unmittelbarkeit repräsentiert werden kann. Alle Formgebung ist Vermitteltheit der Sinnproduktion, denn „was der Mensch vollzieht, ist die Objektivierung, die Selbstanschauung auf Grund der theoretischen, der ästhetischen, der ethischen Formung."17 Im Entwurf einer humanistischen Begründung des Geschichtsdenkens kehrt Cassirer zu der Frage nach den Begrenzungen des objektiven Geistes zurück, die er - ganz im Sinne der Hegeischen Phänomenologie des Geistes - als Frage nach dem Anfang und dem Ende eines Objektivierungsprozesses individueller Formungskräfte übersetzt. Im Prozess der Objektivierung tritt der Mensch aus der Naturgebundenheit heraus und schafft sich seine eigene, geistige Welt - er wird, was er seiner Möglichkeit nach ist: ein Kulturwesen. Ob er dieses Ziel erreicht, sich im Sinne Herders dem Ideal „wahrhafter Humanität" annähert, dafür gibt es allerdings keine Garantie. Für die Zukunft der Kultur trägt allein der Mensch die Verantwortung: „Alles was hier gesagt werden kann, ist, dass die Kultur sein und fortschreiten wird, sofern die formbildenden Kräfte, die letzten 15 16

17

Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Vgl. Cassirer, „Goethe und das 18. Jahrhundert", in: Goethe und die Geschichtliche Welt. Drei Aufsätze, Berlin 1932, S. 70-71. Cassirer, „Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie", S. 17. Vgl. G. Härtung, Das Maß des Menschen. Aporten der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Weilerswist 2003, S. 289-297.

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Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen. Diese Voraussage können wir machen und sie ist für uns selbst, für unser eigenes 1\in und für unsere eigenen Entscheidungen die einzig belangreiche. Denn sie versichert uns freilich nicht von vornherein der unbedingten Erreichbarkeit des objektiven Zieles; aber sie lehrt uns gegenüber diesem Ziele unsere eigene, subjektive Verantwortung kennen." 18 Die Alternative eines, nicht durch die Hegeische Methodik letztendlich gebannten, Geschichtsdenkens lautet: Entweder gibt es ein Weiterwirken der formbildenden menschlichen Kräfte, ein ständiges Verflüssigen der Formen des objektiven Geistes, stetiger Wandel und echte Geschichtlichkeit oder wir haben es mit einem Versagen dieser Kräfte, einem Erstarren der Formen des objektiven Geistes zu einem „stählernen Gehäuse" (Max Weber) und einem Abschließen des geschichtlichen Horizonts als Rückkehr in mythische Weltansichten zu tun. Dieses ,,Entweder-Oder'' weist in das Zentrum der Kulturphilosophie, wo Cassirer ein formbildendes Prinzip freizulegen sucht, das den Anfechtungen der sinnindifferenten Naturkräfte und des sinnwidrigen Kulturgeschehens standhalten kann. Seit dem Jahr 1939 münden seine Bemühungen in einer anthropologischen Problemstellung, deren abschließendes Konzept er im Essay on Man (1944) mit der Formel vom Menschen als „animal symbolicum" vorlegt.19 Mit dem Begriff vom „animal symbolicum" umschreibt Cassirer die Befähigung des Menschen, „constantly to reshape his human universe" - also der permanenten Veränderung der Formen des objektiven Geistes. Cassirer spricht vom Ensemble dieser Formen als von einem „universalen Subjekt", das den jeweiligen, partikularen Objektivationsformen der Kultur voraus liegt - es meint also keine Realform, sondern eine Idealform menschlicher Kultur. Dieser Idealform gibt er die Bezeichnung „Menschheit" und er erläutert diese Wahl: „If the term ,humanity' means anything at all it means that, in spite of all the differences and oppositions existing among its various forms, these are, nevertheless, all working toward a common end." 20 Die Pluralität der kulturellen Formen wird gleichsam unter der Perspektive einer letztendlichen Transformation in eine Einheit gestellt. Ihre Widersprüchlichkeit und Sinnwidrigkeit wird dadurch, zumindest idealiter, in eine höhere Einheit aufgehoben. Der Gesamtprozess der Entfaltung menschlicher Ausdrucksleistungen, vom mythischen Bilden, über die religiöse Sprache und die Ausdruckswelt der Kunst bis hin zur abstrakten Begriffssprache der Wissenschaften folgt einem Ziel. Die aktuell erfahrbare Vieldeutigkeit der Sinnkonzepte wird von Cassirer an das Versprechen einer zukünftigen Eindeutigkeit verwiesen. Hier nimmt das Konzept der „Humanität" als einer Idealform die Funktion einer regulativen Idee im Kantischen Sinne wahr. Es zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Theorie Cassirers einen idealistischen Kern hat und eine Utopie menschlicher Kultur, nicht aber den „actual state of affairs" beschreibt. Der Sinn eines utopischen Geschichtsdenkens ist es, die Fähigkeit des Men18 19 20

Cassirer, „Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie", S. 28. Vgl. Härtung, Das Maß des Menschen, S. 309-356. E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New HavenLondon, Neudruck der Ersten Auflage (1944), New Haven-London 1994, S. 70.

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sehen, seine Lebenswelt ständig neu zu deuten, freizulegen und den Spielraum für zukünftige Sinngebung offen zu halten. „The great mission of the Utopia is to make room for the possible as opposed to a passive acquiescence in the present actual state of affairs. It is symbolic thought which overcomes the natural inertia of man and endows him with a new ability, the ability constantly to reshape his human universe."21 Schon in seiner Rezension von Martin Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik (1929) hat Cassirer explizit gemacht, dass „nicht das Dasein des Menschen, sondern das .intelligible Substrat der Menschheit' [...] wesentliches Ziel" 22 seiner Theorie der menschlichen Kultur und Geschichte ist.23 Die Lösung der Realgeschichte aus ihrer Anbindung an die Naturgeschichte geht bei Cassirer den Weg ihrer Transformation in eine ideale Kulturgeschichte. Damit fordert er eine andere Teleologie, die aus jeglicher Bedingtheit durch die Gesetze der Natur herausgehoben ist. Schon Cassirers Lehrer Hermann Cohen hat diesen Gedanken prägnant formuliert: „Im Menschengeschlechte kann die Teleologie nicht Darwinismus bleiben, weil der ethische Sinn der Menschheit eine eigene Teleologie erfordert."24 Cassirers Teleologie der Kultur ist dezidiert ein ethisches Programm. Die Kulturgeschichte der Menschheit ist keine bloße Tatsachengeschichte, kein Summenverhältnis historischer Ereignisse. Cassirer fordert ein, dass wir im Prozess der Kultur selbst, aus den Kräften, die uns Menschen zur Verfügung stehen, ein Richtungsideal zu generieren haben. Sein Geschichtsdenken ist, das hat Hans Blumenberg richtig beobachtet, getragen vom Impetus der „Metaphysikvermeidung". Positiv gesagt: Cassirer geht von einer gelingenden Vermittlung der Gegensätze aus, für ihn hängt eine philosophische Betrachtung der Geschichte an der Voraussetzung, dass die Widersprüche und Vieldeutigkeiten unserer Lebenswelt auf ihre Überwindung ausgerichtet sind.

2.

„Kultur ist ihrem Wesen nach eschatologisch" - Paul Tillich

Paul Tillichs Beiträge zum Geschichtsdenken sind in die Zeitspanne zwischen einer Abhandlung mit dem Titel Eschatologie und Geschichte (1927) und dem dritten Band seiner Systematic Theology (Chicago 1963) eingefasst.25 Aber auch die Etappen seines Denkweges sind bemerkenswert. Seine Frankfurter Vorlesung zur Geschichtsphiloso21 22

23

24 25

Cassirer, An Essay on Man, S. 62. E. Cassirer, „Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers KantInterpretation (Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, 1929)", in: Kant-Studien 36 (1931), S. 1-26; hier: S. 18. Vgl. für die These, dass Cassirer Geschichts- und Kulturtheorie nicht trennt und damit im Horizont der Historismus-Debatte steht, Härtung, Das Maß des Menschen, S. 352-354. H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Köln 2 1959, S. 307. Vgl. W. Schüssler, E. Sturm, Paul Tillich - Üben - Werk - Wirkung, Darmstadt 2007, S. 88-95. Vgl. jedoch zur Genese von Tillichs Geschichtsdenken in den frühen Jahren (bis zur Kulturtheologieabhandlung von 1919) die Studie von F. Wittekind: ,„Sinndeutung der Geschichte'. Zur Entwicklung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie", in: C. Danz (Hg.), Theologie

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phie aus den Jahren 1929/1930 ist erst 2007 publiziert worden; sie ist instruktiv, weil sie Tillichs Weg zu einer eigenständigen geschichtsphilosophischen Konzeption vorführt.26 Die Vorlesung bietet auch eine pointierte Absetzung von konkurrierenden Ansätzen zum Geschichtsdenken. So fällt zum Beispiel Tillichs Darstellung der philosophischen Entwürfe von Dilthey und Cohen bis Cassirer negativ aus, weil sie sich seiner Ansicht nach durch einen Weltverlust auszeichnen.27 Statt die Welt von der im Welterleben sich artikulierenden, existenziellen Verfasstheit des Menschen zu erfassen, haben die Autoren dieser Schulrichtung es seiner Auffassung nach nur mit einer wissenschaftlich schon bearbeiteten, also vermittelten Welt zu tun. Für eine verstehende Geschichtsphilosophie im Stil Diltheys und seiner Nachfolger ist die Welt uns Menschen nur in den unterschiedlichen Weisen ihrer Bearbeitung, als Sprache, Mythos, Kunst, Politik, Religion usw., gegeben. „Welt" ist dann nur die Einheit dieser Bearbeitungen, daher kommt, wie Tillich hinzufügt, ihre radikale Pluralität und Geschichtlichkeit auch nicht direkt zum Vorschein. Es ist gleichsam „charakteristisch [für die Auffassung von Cohen und Cassirer, G. H.], daß es auf diesem Boden zu keiner Geschichtsphilosophie gekommen ist."28 Das Defizit dieser Auffassung zeigt sich darin, dass bei ihr zwar alle Teilgebiete der Kultur geschichtlich geworden sind, aber die Geschichtlichkeit selbst nicht thematisiert wird. „Damit weisen sie [die Kulturgebiete, G. H.] auf etwas hin, was nicht mit ihnen erfaßt ist, dessen sie nicht mächtig, sondern das ihrer mächtig ist."29 Tillichs theologisches Geschichtsdenken gründet in einer Voraussetzung: Alles Geschehen ist, wenn es nicht bloß naturhaft, sondern geschichtlich ist, gerichtet auf ein Eschaton. Dieses Ziel ist im Geschehenden selbst anschaubar - und zwar in einem inneren Akt der Transzendenz. Echtes Geschehen ist mehr als Entwicklung und Entfaltung, es ist ein Durchbruch zu einem Noch-Nicht-Dagewesenen, Zukünftigen. „Echtes Geschehen ist [...] Durchbrechung des Seinskreises."30 Erst im Durchbruch - und nicht, wie bei Cassirer, in einem Akt der Vermittlung - wird das Sein zum Sinn, weil es nur im Gerichtetsein auf ein zukünftiges Ziel sinnhaft ist. Jedes sinnhafte menschliche Geschehen wird „getragen" von einer „Geschehenstranszendenz", die nicht zu verwechseln ist mit einer Gegebenheit oder einem Resultat von Entwicklung. Was sich entwickelt in

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als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (Tillich-Studien. Bd. 9), Wien 2004, S. 135-172. P. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", in: E. Sturm (Hg.), Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30) (=Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich. Bd. XV), Berlin, New York 2007. Vgl. zur Einordnung dieser Vorlesungen in Tillichs Werk die Einleitung des Herausgebers, insbes. S. LID. Vgl. allgemein zur Auseinandersetzung Tillichs mit Cassirer, die gleichwohl mehrere Chancen produktiver Anknüpfung verpasst, M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, S. 102-106. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 5. Ebd. P. Tillich, „Eschatologie und Geschichte", in: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1963, S. 72-82; hier: S. 76.

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Natur und Geschichte, bleibt zufällig; was aber sinnhaft geschieht, das hat eine eschatologische Struktur und steht außerhalb von Fragwürdigkeit und Zufälligkeit. Tillich insistiert dahingehend, dass das Ziel der Geschichte nicht in mythische Symbole eingekleidet werden darf. Das Eschaton ist nicht Gegenstand von Erzählung und bildhafter Darstellung; es ist vielmehr ein Erlebniszusammenhang, der an unserer Einsicht in die Unumkehrbarkeit der Zeit - Vorlauf zum Tod - und der aus ihr resultierenden Spannung unserer Existenz - Endlichkeit/Unendlichkeit - hängt. Inmitten der Bedingtheit alles Seienden und inmitten der Fragwürdigkeit alles Geschehenssinnes „erleben" wir „die Unbedingtheit des Geschehenssinnes [...], auf den hin Geschichte gerichtet ist."31 Religiös gesprochen geht es hier um Gewissheit der Transzendenz.32 Für das Geschichtsdenken, das gleichwohl in einer Theologie gründet, ist ein Erleben der „Gerichtetheit von Zeit" gemeint. Gegen die Kulturteleologie Cohens und Cassirers führt Tillich an, dass das geschichtliche Geschehen, wenn es als ein bloßer Prozess, ein Kontinuum von Zeitmomenten verstanden wird, auf einer Stufe der Betrachtung stehen bleibt, wo Seinsentwicklung und Sinnentfaltung in Korrelation gedacht werden. In dieser Perspektive wird übersehen, dass das Ziel des geschichtlichen Geschehens transzendent ist (Eschaton) und auch sein muss, weil es sonst der offensichtlichen Sinnindifferenz und Sinnwidrigkeit unterliegen würde. Gleichfalls wird übersehen, dass die Ausrichtung des Geschehens auf das Ziel einen Moment der Entscheidung (Kairos33) voraussetzt, der keineswegs ein bloßes Moment in einem für es gleichgültigen Gesamtprozess sein kann. Nur in der Perspektive auf ein sinnerfülltes Sein - das Eschaton als unbedingter Erfüllungsort - kann das geschichtliche Geschehen als ein Prozess der Anreicherung des Seins mit Sinn begriffen werden; das aber setzt eine Entscheidung, einen unbedingten Entscheidungsort voraus. „Ein Sinngeschehen, eine kulturelle Sinn-Verwirklichung ist ein bloßer Vorgang, sofern er nicht Entscheidungscharakter hat. [...] Jede Entscheidung wählt zwischen Möglichkeiten der Sinnverwirklichung."34 Erst mit der Entscheidung wird das Eschaton gesetzt; es ist das mit Sinn erfüllte Sein, das entschiedene Sein. Das Eschaton ist keine neue Wirklichkeitsform, die am Ende der Geschichte steht, es darf nicht als ein Ende der Geschichte oder eine End-Katastrophe missverstanden werden. Es ist die Entscheidung in der Zeit und die Erfüllung 31 32

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Tillich, „Eschatologie und Geschichte", S. 78. Vgl. zum Thema „Symbolik der Transzendenz und religiöse Sprache: Das Symbol als Sprache der Religion", in: C. Danz, W. Schüßler, E. Sturm (Hg.), Internationales Jahrbuch für die TillichForschung. Bd. 2 (2006), Wien, Berlin 2007. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 289: „Das Ziel kann nie erreicht werden, das ist fortschrittliche Symbolisierung des Auf-zu in der Geschichte. [...] Das ist das geschichtsphilosophische Symbol des Kairos-Gedankens. Gedanke der Fülle der Zeit in ihrem konkreten Sinn. [...] Der Kairos-Gedanke versucht, die Alternative transzendent-immanent aufzulösen. Fülle der Zeit = Herannahen des Transzendenten." Vgl. auch: P. Tillich, „Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919)", in: C. H. Ratschow (Hg.), Main Works/Hauptwerke. Bd. 2, Berlin New York 1990, S. 69-85. Tillich, „Eschatologie und Geschichte", S. 79.

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des Geschehens auf dem Grund seines Transzendenzbezugs. Hier wird die trennende Grenze zu einer Teleologie der Kultur prägnant fassbar. Während für diese der kulturelle Prozess Teil einer Erfahrungswelt und ihres Kontinuums ist, weist das Eschaton auf Diskontinuität, auf einen Bruch mit der Ordnung des Seins, einen Sprung im Sein hin.35 Mit dieser Doppelbestimmung von Geschichte als Prozesskontinuum und als echtem Geschehen in diskontinuierlichen Entscheidungen kommt, wie Tillich anmerkt, eine sonst nicht zu erkennende „Zweideutigkeit" in das Gesamtgeschehen, denn „der Geschehenssinn könnte sinnwidrig, das Eschaton könnte dämonisch sein."36 Es ist nicht auszuschließen, dass das geschichtliche Gesamtgeschehen von Naturkräften, von sinnloser Gewalt und den Strukturen der Unterdrückung beherrscht wird; ebenso ist es nicht auszuschließen, dass die Entscheidung gegen die Mächte des naturhaften Seins nur ein dämonisches Moment belebt. Sinnlosigkeit und Sinnwidrigkeit drohen in jedem Moment, die Möglichkeit echten geschichtlichen Geschehens zu vereiteln. Diese Zweideutigkeit ist auf zwei Ebenen aufzeigbar, die bei Tillich wesenhaft korrelieren. Während es in geschichtsphilosophischer Reflexion um das Verstehen oder Nicht-Verstehen von geschichtlichem Sinn geht, wird diese Differenz in theologischer Beurteilung in diejenige von Heil und Unheil transformiert. Für den Geschichtsphilosophen gibt es nur ein Aushalten dieser Zweideutigkeit, für den Theologen hingegen ist ihre Überwindung in einer konkreten eschatologischen Entscheidung möglich, wenn nicht gar existenziell notwendig. Nur in der Perspektive des Heils bekommt die Entscheidung eine Tiefe, die zugleich den „Sieg über die Zweideutigkeit" der Geschichte anzeigt.37 In seiner Vorlesung zur Geschichtsphilosophie aus den Jahren 1929/1930 hat Tillich diese Denkfiguren entwickelt. Zentral ist für ihn die Frage, wie wir über geschichtlichen Sinn jenseits der angesprochenen Zweideutigkeit handeln können. Diese Überlegung führt ihn zur Skizze einer „Philosophie des Begegnens".38 Was sich begegnet, das sind das menschliche Selbst und die Welt im Modus der Geschichtlichkeit. Von einem Begegnen von Welt können wir, so Tillich, nur sprechen, wenn das Begegnende für uns „sinnhaft" ist. Sinn-Indifferentes begegnet uns nicht, sondern stößt uns zu. Welt ist für uns in der Begegnung demnach ein Sinnkonzept, das sich allerdings erst in der Bezugnahme als solches konstituiert. Das macht den geschichtlichen Charakter von Welt aus, deren Sinn wir nicht haben, für den wir uns vielmehr entscheiden. „Wir schaffen 35 36 37

38

Vgl. Moxter, Kultur als Lebenswelt, S. 66-75: Exkurs zur Metapher Durchbruch. Tillich, „Eschatologie und Geschichte", S. 81. Vgl. W. Schüßler, Paul Tillich (Beck'sche Reihe Denker. Bd. 540). München 1997, S. 95-109; hier aber verkürzt auf die Phänomenbereiche „Macht" und „technischer Fortschritt". Die „Philosophie des Begegnens" ist ein viel versprechender Denkansatz, den Tillich nicht entwickelt hat. Vgl. P. Tillich, „Reply to Interpretation and Criticism", in: C. W. Kegley u. R. W. Β retall (Hg.), The Theology of Paul Tillich (=The Library of Living Theology), New York 1952, S. 342: „In the light of such questions [nach seinem Konzept von Selbst und Welt] I cannot suppress some regret that world history combined with physical limitations have prevented me from developing a 'philosophy of encounter' whose rudimentary elaboration was presented in a Francfort lecture course." Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 37

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uns Sinn in der Begegnung."39 Und eine Begegnung meines Selbst mit anderem findet immer in einem geschichtlichen Kontext statt - d. h. sie betrifft die existentielle Wahl meiner selbst und die Forderung eines anderen an mich. So verstanden ist Geschichte für Tillich „die konkret-gegenwärtige Begegnungsart."40 Begegnung und Gegebenheit sind nicht zu verwechseln. Was mir in der historischen Zeit begegnet, ist mir keineswegs gegeben, sondern wird von mir in der Weise des „Auf-zu-Gehens" erlebt.41 Der Charakter der historischen Zeit wird von dieser Ausrichtung auf Zukünftiges bestimmt. „Historische Zeit ist gerichtete Zeit; und diese Richtung reißt jede begrenzte Spanne, die des einzelnen, die eines Volkes, die der Menschheit in sich hinein und transzendiert sie."42 Der Vorgang des Transzendierens eröffnet erst den Zeit-Raum der Begegnung. Nur jenseits der Begrenzung widerfahrt mir nicht bloß etwas, sondern begegnet mir ein Anderes resp. ein Anderer. Erst im Begegnen wird die Zukunft, das also, was noch nicht ist, als Sinnrichtung meiner Existenz seinsmächtig. „Wer vom Begegnen ausgeht, holt sich Realität aus der Zukunft." 43 Die Konkretheit und Realität dieses Vorgangs hängt damit zusammen, dass wir nicht ideell etwas vorwegnehmen, sondern real im Modus der Zukunft uns Zeit schaffen. „Wir sind jetzt Zukünftige, das ist unsere Realität."44 Im Gegensatz zu den utopischen Entwürfen einer noch-ausstehenden Zukunft kommt es Tillich nicht auf Verwirklichungsphantasien an, sondern vielmehr auf die Spannung, die in unserer Existenz durch eine Ausrichtung auf Zukünftiges erzeugt wird, und auf das Gewicht des Kommenden im Gegenwärtigen. An der Bestimmung des Menschen im Zukünftigsein hängt die ganze Geschichtsphilosophie - und in ihrem Hintergrund die Theologie (Lukas 17.21: Das Himmelreich ist ... mitten unter Euch).45

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Ebd. Ebd., S. 40. Vgl. dagegen M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1 6 1986. Drittes Kapitel, § 15, S. 66-72: Das Sein des in der Umwelt begegnenden Seienden. Im Gegensatz zu Heidegger hebt Tillich hervor, dass der „Umgang mit Welt" eine Tätigkeit des Zu-Gehens einschließt. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 51. Ebd., S. 57. Vgl. hierzu auch H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Köln 2 1959, S. 291: „Die Zeit wird Zukunft und nur Zukunft. Vergangenheit und Gegenwart versinken in diese Zeit der Zukunft. Dieser Rückgang in die Zeit ist die reinste Idealisierung. Alles Dasein verschwindet vor diesem Standpunkt der Idee. Das Dasein der Menschen hebt sich auf in dieses Sein der Zukunft." Im Vergleich zu Cohen bestimmt Tillich den Realitätsbegriff nicht über das Moment der Idealisierung, sondern über die Begegnung, d. h. nicht nur als „Korrelation" von Selbst und Welt, sondern als faktisches Beisammensein. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 58. Hier kristallisiert sich der Gegensatz zwischen der Erwartung einer messianischen Zeit im Sinne Cohens und Rosenzweig (und in abgeschwächter Form auch Cassirers) und einer christlichen Eschatologie des Reich Gottes, z.B. bei Albert Schweitzer, „Reich Gottes und Christentum", Hg. v. Ulrich Neuenschwander, Tübingen 1967. Vgl. dazu G. Härtung, „Albert Schweitzer als Kulturphilosoph", in: M. Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph, Zug/Schweiz 2006, S. 88-111.

A B S C H I E D VON DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE?

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Tillich skizziert die Leitlinien einer Anthropologie, der er einen unaufhebbaren Widerspruch einschreibt. Menschsein steht in der Doppelheit der Aufnahme von Vergangenem - als Herkunft, Tradition, Schuld - und der Möglichkeit einer Entscheidung für die Zukunft. Menschsein erhebt sich auch über den bloßen Vollzug von Leben im Seienden der vegetativen und animalischen Sphäre. Menschsein ist Sinngeschehen und ist gebunden an die Begegnung in der Richtung der historischen Zeit. Andere Lebewesen sind in ihrem lebendigen Ausdruck über ihre Wirklichkeit hinaus; der Mensch ist über seine Möglichkeit hinaus, d. h. sein Sein hat den Sinn, sich über den Tod hinaus Zeit zu schaffen.46 Eine weitere Präzisierung führt zu der These, dass wir nur von Geschichte sprechen können, soweit von Begegnung die Rede sein kann. „Geschichte ist Geschehen mit Menschen. [...] Wo Mensch ist, ist Geschichte, und wo Geschichte ist, ist Mensch. Geschichtlich sein gehört zur Definition des Menschen, wie menschlich sein zur Definition der Geschichte gehört."47 Weder dieser Begriff von Geschichte noch der Begriff des Menschen sind empirisch gemeint, wie Tillich herausstreicht. Der Mensch wird vielmehr aus der Möglichkeit geschichtlicher Begegnung heraus verstanden, denn er ist nur geschichtlich, insofern er sich historische Zeit schafft. Wir sind nur Menschen in den Akten, in denen wir Zeit schaffen. „Unser Sein ist unser Uns-Zeit-Schaffen."48 In einer impliziten Antwort auf Heidegger spricht Tillich davon, dass das Geschichtsdenken der Moderne nicht mehr in metaphysischer Absicht - auch nicht in einer destruktiven Tendenz - an die Konstellation von „Sein und Zeit" gebunden ist. Aus der Destruktion der Metaphysik bei Dilthey und deren Zuspitzung bei Heidegger folgt mit unabweislicher Konsequenz, dass es für uns Menschen um die Begegnung - nicht die Korrelation - von „Sinn und Zeit" geht. Für den Menschen, dem in der Zeit Sinnhaftes begegnet, während ihm Sinnindifferentes und Sinnwidriges bloß zustößt, ist das Sein von Zeit eine Begegnungsdimension. Mensch und Zeit sind sich wechselseitig Begegnende; der Mensch ist nicht abseits von Zeit und Welt denkbar. In jeder Anschauung sind der Mensch und die historische Zeit und die sich durch ihn eröffnende Welt gleichursprünglich gegeben. Jede Abstraktion, die diesen Zusammenhang ignoriert, ob in (anti-) metaphysischer oder erkenntnistheoretischer Absicht, läuft hier ins Leere. Selbstbegegnung und Begegnung mit anderen sind nicht voneinander zu trennen. Der menschlich-sinnhafte Gestaltungszusammenhang umschließt immer schon beides. Sowohl in der Begegnung des Selbst wie auch in der Begegnung des Anderen wird die Ordnung des Seienden hin auf eine Sinnerfüllung transzendiert. Dies macht die eschatologische Struktur menschlicher Existenz und menschlicher Kultur aus. Der Gedanke der 46 47

48

Tillich, Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik, S. 81. Ebd., S. 83. Vgl. hierzu die Vorläufergeschichte dieser These bei F. A. Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, Leipzig 1860, S. 41: „Der Mensch ist ein historisches Wesen, ein Wesen in der Gemeinschaft der Geschichte, in der geistigen Substanz einer Geschichte geboren, auferzogen, von ihr genährt und wiederum sie fortsetzend [...]." W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 187: „Das geschichtliche Leben schafft". Tillich, Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik, S. 85.

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Entbindung von Natur, Herkunft und Gegenwart, Max Scheler hat hierfür den Begriff der „Weltoffenheit"49 reserviert, ist nach Tillichs Auffassung „in seiner Wurzel immer eschatologisch". Nur dieser Gedanke überhaupt verbürgt eine Tiefe des Kulturbegriffs, die ihm im üblichen Diskurs abgesprochen wird. 50 „Kultur ist wesensmäßig eschatologisch." 51 Dieser Satz geht einher mit der Behauptung, dass erst die Eschatologie, die Ausrichtung der Zeit auf eine zu schaffende Zeit, die Ordnung des Seienden aufbricht und die Kategorie des Neuen in die kulturelle Sphäre einführt. 52 Nur im Hinausgreifen über diese Grenzen kann die Kultur als Prozess utopischer Immanenz (im Sinne Cassirers) kritisiert werden. Eschatologie und Geschichte resp. Kultur stehen damit nicht in einem Gegensatz, wie fälschlicherweise oft behauptet wird, sondern „in der strengsten Korrelation." 53 Mit diesem Gedanken deutet Tillich in seiner Vorlesung von 1929/1930 an, dass es die vornehmste Aufgabe der Geschichtsphilosophie bleibt, die Zweideutigkeit von Kulturgeschichte und Heilsgeschichte zu überbrücken, indem sie die menschliche Kultur als Dimension des Sinnhaften von der Herrschaft sinnindifferenter Naturverhältnisse und sinnwidriger Realgeschichte ablöst. Und indem sie letztendlich diese Zweideutigkeit im Hinblick auf ein Leben im Glauben aufhebt, das sie nur vorbereiten und das nur im Sprung erreicht werden kann. In seinem Spätwerk, der Systematic Theology (Bd. 3.) von 1963, hat Tillich den Grundgedanken der Zweideutigkeit (ambiguity) ausformuliert. Das beeindruckende Panorama zum Thema Geist und Leben kann hier nur punktuell besprochen werden. Das Verhältnis von Leben und Geist wird von Tillich als ein dynamischer Prozess vorgestellt, der seine Bewegungsmomente aus den Zweideutigkeiten des Lebens Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Wachstum und Siechtum, Sinnhaftigkeit und Sinnwidrigkeit, von Theorie und Praxis in der Kultur usw. - und der sie transzendierenden Frage nach einer Unzweideutigkeit des Lebens bezieht. Diese Wechselbewegung reicht von der Sphäre des organischen bis zum kulturellen Leben hinauf. So zeigt sich zum Beispiel, dass die fundamentale Tendenz des Lebens zur Selbsterhaltung, wenn sie als Selbst-Integration verstanden wird, über ein bloß

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M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos [1928], M. S. Frings (Hg.), Bonn 141998, S. 3. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 87: „Das Wort Kultur ist bis zur Unbrauchbarkeit mißbraucht. Es muß in seiner universalen Bedeutung und seiner eigentlichen Tiefe wiederhergestellt werden." Vgl. hierzu auch Moxter, Kultur als Lebenswelt. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 88. Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 7 1979, S. 26: „Das eschaton setzt dem Verlauf der Geschichte nicht nur ein Ende, es gliedert und erfüllt ihn durch ein bestimmtes Ziel. Der eschatologische Gedanke vermag die Zeitlichkeit der Zeit zu beherrschen, die ihre eigenen Geschöpfe verschlingt, wenn sie nicht durch ein letztes Ziel sinnvoll begrenzt wird." Vgl. B. Liebsch, Verzeitlichte Welt. Variationen über die Philosophie Karl Löwiths, Würzburg 1995. Tillich, „Geschichtsphilosophie (Vorlesungsmanuskript)", S. 89.

ABSCHIED VON DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE?

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mechanisches Verhältnis hinausweist. Der Grund hierfür liegt in der Struktur des Lebens selbst, das schöpferisch ist. Tillich spricht vom Leben als einer „vieldimensionalen Einheit" und lehnt sowohl den lebensphilosophischen Dualismus als auch den biologistischen Monismus ab.54 Der Geist ist die Instanz, die - sowohl als menschlicher als auch als göttlicher Geist - auf den Prozess der physischen und biologischen Selbst-Integration des Lebens „einwirkt" das aber nicht in einer kausalen Bewirkung, sondern als eine schöpferische Einwirkung. Er weist zudem alle Vorstellungen eines göttlichen DirekteingrifFs in das kosmische Geschehen zurück und spricht von einer indirekten und begrenzten Einwirkung, denn der göttliche Geist ergreift in direkter Weise nur den menschlichen Geist. „Das Universum ist noch nicht verwandelt; es .wartet' auf Verwandlung. Verwandlung durch den göttlichen Geist ist aktuell nur im menschlichen Geist; die Menschen sind die ,Erstlinge' des Neuen Seins. Das Universum folgt."55 In einem Kapitel über Das Ziel der Geschichte und das ewige Leben umschreibt Tillich die letztgültige Erfüllungsfigur: Im ewigen Leben sind die Zweideutigkeiten des Lebens aufgehoben. Das ewige Leben markiert das Ende von Moralität, von Kultur/ Geschichte und Religion.56 Die theologische Symbolik verdichtet sich in der Rede vom „neuen Himmel" und das Symbol der Auferstehung verweist auf den Begriff des „neuen Seins". In dieser Bedeutung wird der Ausdruck „Auferstehung" gleichsam zu einem „universalen Symbol für die eschatologische Hoffnung". Erst in dieser Universalität des Geschehens werden die Zweideutigkeiten aufgehoben, die alle vorläufigen Versuche der Selbst-Integration, des Sich-Schaffens der Geschichte und der Selbst-Transzendierung von Institutionen (Staat, Kirche) und Einzelnen an sich haben. Auch die Menschheit, dieses vorletzte, mögliche Symbol erweist sich erst in dieser letzten Aufhebung in seiner Konkretion. Es ist mehr als eine bloße Phantasievorstellung der Utopisten, auch mehr als eine bloß „sentimentale Idee" (Albert Schweitzer57), sondern erweist sich für Tillich als eine konkrete Symbolik der Sinnerfüllung.

3.

„Das Drama der Zweideutigkeit und der verborgene Sinn der Geschichte" - Paul Ricoeur

Es ist nicht nur die Namensverwandtschaft und die Tatsache, dass Paul Ricoeur dem anderen Paul im Jahr 1967 als John Nuveen professor of philosophical theology an der University of Chicago folgte, es ist vor allem das gemeinsame Thema, die Zweideutigkeit (ambiguïté) des Geschichtsdenkens aufzuhellen, die meinen Vergleich beider Gelehrten motiviert. Schon in Ricceurs Buch Geschichte und Wahrheit geht es um 54

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P. Tillich, Systematische Theologie. Bd. 3. Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes, Stuttgart 1966, S. 39. Ebd., S. 317. Ebd., S. 454-456. A. Schweitzer, Kultur und Ethik. Kulturphilosophie. Zweiter Teil, München 2 1926, S. 261. P. Ricoeur, Geschichte und Wahrheit (Orig.: Histoire et Vérité, Paris 1955), München 1974 (=GW).

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diese Frage, die in den Schriften über die Symbolik des Bösen, im großen Freudbuch und in Zeit und Erzählung in der Auseinandersetzung mit Hegel immer wiederkehrt: die doppelte Deutung der Geschichte als Teleologie, d. h. von der Immanenz des absoluten Wissens her, oder als Eschatologie, d. h. von der Transzendenz des Glaubens her. Diese Unterscheidung ist für Ricoeur fundamental. Das Geschichtsdenken gibt nach Ricœurs Auffassung eine Antwort auf die „geschichtliche Befindlichkeit" der Moderne.59 Diese ist unausweichlich an eine Wahl der Geschichte, an die Wahl einer bestimmten Erkenntnis und an einen Willen zum rationalen Verstehen gekoppelt. Zwei Lesarten der Geschichte zeichnen sich im Horizont der Moderne ab. Zum einen kann Geschichte als Ankunft eines Sinnes verstanden werden. Diese Variante setzt voraus, dass der Philosoph „einer gewissen Teleologie der Geschichte" vertraut.60 Die historische Betrachtung der Ereignisfolge unterscheidet sich jedoch kategorial von einer teleologischen Perspektive. Daher betont Ricoeur die Berechtigung einer zweiten Variante des Geschichtsdenkens, die am singulären Ereignis, an den unterschiedlichen Motivationslagen der Akteure und an der soziokulturellen Variabilität alles Sinnverstehens Halt macht. Zwischen beiden Lesarten der Geschichte besteht eine unaufhebbare Spannung.61 Jeder Versuch, die Kluft nicht nur zu überbrücken, sondern zu schließen, führt in einen Akt der Gewalt. Entweder wird das singuläre Ereignis, das individuelle Moment in der Geschichte einem Allgemeinen geopfert oder aber es wird der Anspruch auf Kohärenz im Geschichtsdenken unterlaufen. Wer wie Ricoeur die Unaufhebbarkeit dieses Gegensatzes sieht und anerkennt, der muss allerdings mit der Zweideutigkeit leben, das in jedem Versuch, Geschichte als Ereignisfolge und als Ganzheit zu denken, Sinn und Un-Sinn in der Betrachtung korrelieren. Die Differenz von Ereignis (événement) und Ankunft (avènement) des Sinns von Geschichte bleibt bestehen und damit auch die Erinnerung daran, welchem Un-Sinn jeder Sinn entnommen ist."62 Nur die erste Lesart der Geschichte hat für Ricoeur philosophische Tiefe. Dies zeigt sich, insofern nur eine philosophische Analyse der Geschichte die Paradoxien einer singulären Geschichte im Erlebnis des einzelnen Menschen und einer allgemeinen Geschichte der menschlichen Gattung, die Widersprüchlichkeit von Diskontinuität und Kontinuität und damit auch die antinomische Struktur der Zeit und der Wahrheit integrieren kann. Die Antinomie der geschichtlichen Zeit ist die Antinomie des Sinns 59

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Dieser Zusammenhang von Anthropologie und Geschichtsdenken ist bislang in der Ricœur-Forschung kaum berücksichtigt worden; vgl. exemplarisch S. Orth, „Von der Anthropologie der Fehlbarkeit zur Hermeneutik des Selbst. Stationen auf dem Denkweg von Paul Ricoeur", in: S. Orth, R Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg i. Br., München 2004, S. 15-36. Ricoeur, GW, S. 56. Und er fügt hinzu: „Die Geschichte als Ereignisfluß muss so beschaffen sein, daß in diesem Fluß der Mensch auftritt und eine Ankunft des Menschen vermittelt wird." Ebd., S. 59. Vgl. hierzu die grundlegende Studie von A. Breitling, Möglichkeitsdichtung — Wirklichkeitssinn. Paul Ricœurs hermeneutisches Denken der Geschichte, München 2007, insb. S. 50-61. Ricoeur, GW, S. 59.

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der Geschichte selbst. Der Begriff „Sinn" erschöpft sich nicht in den Beschreibungen von Entwicklung und Kausalitätslinien. Sinn reichert sich nach Ricœurs Ansicht nicht in einem linearen Geschichtsprozess kontinuierlich an, sondern manifestiert sich diskontinuierlich um die, von den Ereignissen gebildeten, Knotenpunkte der Geschichte. Die Ereignisse selbst sind für uns Menschen organisierte Zentren des Sinns, wir deuten unser Leben im Licht prägnanter Ereignisse. Geschichte ist allerdings mehr als ein einzelnes Leben und mehr als eine bloße Summe individueller Erlebnisse. So stehen wir vor der Schwierigkeit, den Sinn der Geschichte weder außerhalb der Ereignisse, noch unmittelbar in ihnen zu finden. „Die Geschichte kann deshalb gelesen werden als extensive Ausdehnung des Sinns und als Einstrahlung des Sinns aus einer Vielfalt organisatorischer Zentren heraus, ohne daß dabei irgendein in der Geschichte stehender Mensch den totalen Sinn dieser ausgestrahlten Sinne konstruieren könnte." 63 Tatsächlich ist das Geschichtsdenken an die „Aporie des Verstehens in der Geschichte" gekettet, die sich als Einheit in Vielheit darstellen lässt. Unser Verstehen zielt auf eine Einheit des geschichtlichen Sinns ab und kann doch nicht die Vielheit der Erlebniszentren, der singulären Ereignisse vollständig transzendieren. In jedem Gesamtentwurf regt sich der Einspruch des individuellen Anderserlebens, der Differenz in der Erfahrung des Einzelnen. Es ist Hegels Leistung, diese letzte Aporie in einer Synthese aufgehoben zu haben, in dem das Geschichtsdenken mit der Bewegung des Ganzen, d. h. mit einer die Einzigartigkeit des Erlebens und Verstehens absorbierenden Totalität verbunden ist. Diesseits der Hegeischen Problemlösung gibt es für Ricœur eine doppelte Grenze des Verstehens: „Auf der einen Seite ist es nicht ganz einfach, bis zum System zu gelangen, und vielleicht ist selbst bei Hegel nicht alles System. Es ist aber ebenfalls schwierig, bis zur Einzigartigkeit zu gelangen." 64 Das geschichtliche Verstehen bewegt sich zwischen den Extremen des Systems eines allgemeinen Sinns von Geschichte und der Einzigartigkeit des geschichtlichen Erlebens. Die philosophische Betrachtung vollzieht sich im Aufstieg von der Einzigartigkeit über die Typologie bis zur Aufhebung im Ganzen. 65 Erst in dieser Bewegung wird die Geschichte menschlich und sinnhaft - und wir erwarten von der Aufhebung die „Ankunft eines Sinns". Jede Aufhebung ist nach Ricœur unzweifelhaft an ein Moment der Entscheidung geknüpft. Sobald ich einen Sinn wähle, bleibt der Un-Sinn, das „Brachland der Geschichte" an seinen Rändern übrig. Sinn, Geschichte, Kultur sind nur Aspekte in einem Meer der Sinn-Möglichkeiten. Für Ricœur liegt jenseits unserer Wahl nicht die Grenze des Sinn-indifferenten und Sinnwidrigen, sondern andere Wahlmöglichkeiten und andere Sinnkonzepte. 66 Ich wähle immer zwi63 64 65

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Ricœur, GW, S. 62-63. Ricœur, GW, S. 72. Vgl. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 242-246: Der Zusammenhang des Lebens. Vgl. dagegen M. Weber: „Die .Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904)", in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1988, S. 146-214; hier S. 175 u. 180: „Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die

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sehen zwei Weisen des Sinns und wähle nicht den Sinn als Ganzheit (jenseits dessen Grenzen der bare Unsinn ist). „Aus diesem Grunde ist es unmöglich, Hegelianer zu sein."67 Die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Nachfolge Hegels markiert die Grenze des Geschichtsdenkens bei Ricoeur im Vergleich zu Hegel. Für ihn gibt es weder das Versprechen einer prozessualen Vermittlung von Vielheit in Sinn-Einheit (Cassirer) noch dasjenige einer letztgültigen Aufhebung der Zweideutigkeit (Tillich). Ricoeur bleibt vor der ,,ungeheure[n] Paradoxie" stehen, dass Geschichte immer - und auf immer - zugleich als „Ankunft eines Sinns und als Auftreten von Einzigartigem" zu verstehen ist. Nur im Aushalten dieser Paradoxie haben wir es mit Geschichte im emphatischen Sinn zu tun.68 Geschichte bleibt nur Geschichte, wenn sie weder zur Einzigartigkeit (Zerlegung) noch zum Diskurs (Aufhebung) durchbricht; „kurz: wie ihr Sinn dunkel und verworren bleibt." Anders gesagt: „geschichtlich ist das, was nicht gänzlich erhellt werden kann, weder im System noch im Einzigartigen."69 Im Geschichtsdenken zeigt sich diese Zweideutigkeit von Geschichte, die in der Aporie von System und Einzigartigkeit steckt, als eine Unvollkommenheit. Grundsätzlich muss eine geschichtsphilosophische Betrachtung diese Zweideutigkeit aushalten. Das aber darf nicht heißen, dass sie bloß verweist, sie muss die Ereignisse auch deuten und sich für eine der Sinnmöglichkeiten entscheiden. So bleibt Hegel in seinem Versuch, den „Strom der Geschichte zu bewältigen" (Dilthey), auch für Ricoeur Vorbild - und „wenn das Wort auch ein bißehen zu sehr nach Hegel klingt - : nur das, was aufhebt, ist auch das, was aufzeigt."70 Ricoeur umschreibt in Geschichte und Wahrheit und späteren Büchern die Zweideutigkeit einer Bewegung, die den Grundwiderspruch der Geschichte aushält und zugleich seine Aufhebung anzeigt. Er bekennt, dass diese Denkbewegung einem christlich geprägten Geschichtsdenken verpflichtet ist. In christlicher Sicht wird

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empirische Wirklichkeit ist für uns .Kultur', weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese. [...] ,Kultur' ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens. " Ricoeur, GW, S. 74. Festzuhalten ist: das Aushalten der Paradoxie impliziert, das Hegeische Projekt als Grenzbestimmung des Geschichtsdenkens nicht gänzlich zu verabschieden. Vgl. Ricoeur, GW, S. 83-85: „Selbst wenn wir uns nicht zu den Schülern Hegels und den Philosophen des Ganzen rechnen, so haben wir doch das Gefühl, das alles, was die Philosophen immer und überall gesagt haben, ein Stück, eine Realität aus einem Guß bilden können muß: diese Realität, das ist die menschliche Sprache, der Diskurs, der Logos." Allerdings zeigt der Übergang Hegels von der Phänomenologie des Geistes zur Logik, dass geschichtliche Gestalten zu bloßen Kategorien verflüchtigt werden. Das aber meint das Ende der Geschichte. „Der Übergang von der Geschichte zur Logik bedeutet den Tod der Geschichte." Ricoeur, GW, S. 86 u. 87. Ricoeur, GW, S. 87

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der Geschichte ein umfassender Sinn zugeschrieben, um die „christliche Hoffnung im Verhältnis zu diesem offenen, zweideutigen Abenteuer zu bestimmen."71 Ricoeur bietet eine anthropologische Deutung des Christentums an. Dessen Leistungsfähigkeit zeigt sich über die Jahrhunderte darin, die Zweideutigkeit der Geschichte - hervorgerufen durch die Einsicht in die Vielheit der Kulturen, ihr Entstehen und Vergehen, den unabweislichen Sinnverlust (statt seiner Sedimentierung) und die fehlende Teleologie der Geschichte/Kultur - in unserem Denken zu integrieren. Wir müssen uns Ricœurs geschichtsphilosophisches Konzept als ein großartiges Panorama der Integration vorstellen. Im christlichen Geschichtsverständnis sieht er das Musterbild für ein Denken der Geschichte gegeben, das deren Zweideutigkeit freilegt ohne sich mit ihr bloß abzufinden. „Der Christ ist [...] ein Mensch, der in der Zweideutigkeit der profanen Geschichte lebt [...]. Der Christ sagt, daß dieser Sinn eschatologisch ist, und damit meint er, daß sein Leben sich in der Zeit des Fortschritts und der Zweideutigkeit abspielt, ohne daß er jenen höheren Sinn sehen, ohne daß er den Zusammenhang zwischen den beiden Geschichten, der profanen und der heiligen, erkennen könnte."72 Der Christ artikuliert seine Hoffnung auf eine Einheit des Sinns, diese ist aber, wie Ricoeur hinzufügt, Sache des Glaubens. Im Gegensatz zu falschen politischen Prophetien flieht der christliche Glaube nicht vor der Zweideutigkeit der Geschichte, wenn er die Einheit des Sinns in Aussicht stellt. Die Hoffnung des christlichen Geschichtsdenkens steht inmitten der Probleme einer modernen Lebenswelt, sie kommt „aus der tiefen Verstrickung im Absurden heraus." Für einen christlichen Denker ist die Zweideutigkeit nicht das letzte Wort; sie ist zwar die Signatur seiner Lebenswirklichkeit, aber in dieser Realität immer nur ein vorletztes Wort. „Deshalb wird der Christ durch seinen Glauben und im Namen dieses Vertrauens auf einen verborgenen Sinn in dem Versuch bestärkt, Verstehensmuster zu erproben, ein Stück Geschichtsphilosophie zumindest als Hypothese einmal anzunehmen."73 In einer christlich geprägten Geschichtsphilosophie hüllt sich der Sinn der Geschichte in ein „Geheimnis". Ricoeur betont, durchaus im Gegensatz zu Tillich, dass es vor allem auf das menschliche Verhalten im Angesicht einer nicht zu erkennenden Ganzheit von Geschichte ankommt. Das Geheimnis der Geschichte impliziert eine Warnung vor Entscheidungen, die auf Kosten möglicher Sinnwelten und zu Lasten anderer Menschen gehen.74

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Ricœur, GW, S. 90. Ricœur, GW, S. 105. Vgl. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 173-174. Ricœur, GW, S. 107. Ricœur, GW, S. 108: „Das Geheimnis der Geschichte warnt mich vor dem theoretischen und dem praktischen, vor dem intellektuellen und dem politischen Fanatismus. [...] Wichtig ist schließlich noch, unter dem Zeichen des Geheimnisses das Gefühl für die Vielfalt der geschichtlichen Berufungen sowohl der Kulturen als auch der Personen zu bewahren."

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4.

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„La tentation hégélienne" - oder: Geschichte ohne Telos?

Ricoeurs Geschichtsdenken weist sich schon in dem frühen Werk über Geschichte und Wahrheit als eine implizite Anthropologie aus. Das Thema der Zweideutigkeit des Lebens wirft die große Frage auf, wie es möglich ist - diesseits der Hoffnung des christlichen Glaubens, aber durchaus in einer durch ihn hervorgerufenen Spannung - das Projekt der Selbstintegration des Menschen75 und der Integration von Selbst und kultureller Wirklichkeit weiter zu denken. Letzteres ist das Thema von Ricoeurs Vorlesungsreihe zu L'idéologie et l'utopie (1986)76, die bislang in der Forschung kaum berücksichtigt wurde, im Gegensatz zur Abhandlung La mémoire, l'histoire, l'oubli (2000).77 Die Zweideutigkeit des Geschichtsdenkens wird im dritten Band des großen Werks Temps et récit noch einmal grundsätzlich erörtert.78 Ricoeur sucht hier in einer berühmten Passage die Konfrontation mit der Hegeischen Geschichtsphilosophie. Das Leitthema von Geschichte und Wahrheit wird aufgenommen, nun aber auf eine Betrachtung der Ebenen historischer (Selbst-)Darstellung übertragen. Wenn wir uns eingestehen, so formuliert es Ricoeur, dass das erinnernde Denken der Vergangenheit daran scheitert, dass ihm ein lebendiger Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft verschlossen bleibt, dann könnte doch die Antwort in einem Denken zu suchen sein, das die Dimensionen der Zeit als ein Ganzes zusammenfasst. Dieser Gedanke gemahnt an die „Hegeische Versuchung" und ihren doppelten Trick: Sie unterläuft nämlich zum einen die Trennung von Deutung und Beschreibung und erhebt diese Engführung zur eigentlichen Methodologie der Geschichtsschreibung; zum anderen setzt sie die Wirklichkeit mit der Gegenwart in eins und bindet die Entwicklung des geschichtlichen Sinns an diese weltimmanente Form ewiger Gegenwart. Ricoeur zeigt in seiner Analyse, dass Hegels Geschichtsdenken in der Zusammenführung aller Zeitdimensionen in einer ewigen Gegenwart in eine weitere Zweideutigkeit gerät, nämlich entweder einer säkularisierten Theologie oder einer theologischen Aufladung des Geschichtsdenkens das Wort zu reden. Diese Zweideutigkeit wurde früh erkannt, aber zu keinem Zeitpunkt - weder bei Feuerbach noch bei Dilthey und ihren Nachfolgern - wirkungsvoll kritisiert. Das ist auch der Grund dafür, dass 75

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78

Vgl. P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, insbes. Abhandlung 6: „Das Selbst und die narrative Identität", S. 173-206. Vgl. P. Ricoeur, „Ideologie und Utopie: zwei Ausdrucksformen des sozialen Imaginären (1976)", in: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hamburg 2005, S. 135-151; ders., L'Idéologie et l'Utopie, Paris 1997. Vgl. dazu G. Härtung, „Ideologie und Anthropologie. Von Marx' Ideologiekritik zu Ricoeurs Theorie des Imaginären", in: B. Kremberg u.a. (Hg.), Symbol und Sprache, Leipzig (im Erscheinen). Vgl. das Paul Ricoeur gewidmete Heft 2 der Revue de Métaphysique et de Morale (Avril-Juin 2006), Paris 2006, insbes. die Abhandlung des Herausgebers J. A. Barash, „Qu'est-ce que la mémoire collective? Réflexions sur l'interprétation de la mémoire chez Paul Ricoeur", S. 185— 195. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung. Bd. III. Die erzählte Zeit, München 1991.

ABSCHIED VON DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE?

331

die Geschichtsphilosophien im Schatten Hegels die Zweideutigkeit des Hegeischen Geschichtsdenkens nur in gebrochener Form und in wechselnder äußerer Gestalt transportieren. Erst in einer bestimmten Abkehr von Hegel erarbeiten wir uns die Chance, den Bann seines Denkens zu brechen. Dann jedoch stellt sich das Problem des Geschichtsdenkens in folgender Weise dar: „Wir suchen nicht mehr nach der Formel, die es erlauben soll, die Weltgeschichte als eine verwirklichte Totalität zu denken, selbst wenn diese Verwirklichung erst in Entwicklung begriffen oder nur im Keim vorhanden sein soll; wir sind uns nicht einmal sicher, ob diese Verwirklichung ihren Brennpunkt in der Idee der Freiheit hat [...]. Und selbst wenn diese Idee als Leitfaden in Betracht käme, sind wir uns nicht sicher, daß deren historische Inkarnationen eine Stufenfolge bilden." 79 Der Auszug aus dem Hegeischen System, wie er in Temps et récit vorgeführt wird, mündet in der Forderung, das Geschichtsdenken Hegels selbst als eine Erzählung unter anderen und als ein hermeneutisches Problem zu behandeln. Aber auch hier vollzieht sich wiederum nur eine Abkehr vom Hegeischen System, aber keineswegs eine Verabschiedung der Problemstellung Hegels. Denn zum einen wird in Hegels Geschichtsdenken nur die Endlichkeit der Perspektive eingeführt, die ihr nach Ricceurs Ansicht in einer säkularen Lektüre aufgrund der proklamierten Weltimmanenz des Wissens sowieso zukommt. Zum anderen betont Ricoeur noch einmal, dass mit der Überantwortung Hegels an die Endlichkeit noch nicht die „Wahrheit des Hegeischen Denkens" erledigt ist. Die Hegeische Wahrheit artikuliert sich - das bleibt die zentrale These des Geschichtsdenkens bei Cassirer, Tillich und Ricoeur - immer dort, wo wir Menschen uns nicht mit der Vorstellung einer bloß relativen, sozio-kulturell bedingten Vermittlung von Geschichte und Wahrheit abfinden können. 80 Die genannten Denker sind keineswegs, das galt es darzustellen, Geschichtsphilosophen à contrecœur. Vielmehr stehen sie implizit in wechselseitiger Bezugnahme, insofern sie die Denkmöglichkeiten einer vieldeutigen Geschichte im Hinblick auf ihre Ausrichtung auf Einheit (Cassirers Kulturteleologie), ihre fundamentale Zweideutigkeit und deren Überwindung (Tillichs Geschichtseschatologie) oder die Möglichkeit eines Aushaltens der Zweideutigkeit (Ricceurs Geschichtsanthropologie) vermessen. Sie bezeugen auf diese Weise die Unmöglichkeit einer letztgültigen Abschiednahme von der Geschichtsphilosophie und die notwendige, uns vorantreibende Spannung im Denken der Geschichte.

79

80

Ricoeur, Zeit und Erzählung III, S. 331. Vgl. Temps et récit. Vol. 3: Le temps raconté, S. 350: „La tentation hégélienne". Vgl. P. Ricoeur, La mémoire, l'histoire, l'oubli, Paris 2000, „Troisième partie: La condition historique", S. 373-535; hier ist es mir nicht möglich, Ricœurs Analyse zur Spannung von Erinnern und Vergessen für die Bestimmung der geschichtlichen Existenz des Menschen herauszuarbeiten.

CHRISTINA KLEISER

Autobiografie, Geschichtspolitik und die Pflicht zur Gerechtigkeit Zur historischen Bedingtheit von Paul Ricœurs Alterswerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen

1.

Vorbemerkung

Seit der Mitte der 1990er Jahre setzte sich der 1913 geborene und 2005 verstorbene Philosoph Paul Ricoeur differenziert wie kaum eine andere Autorin oder ein anderer Autor mit den Begriffen der Erinnerungspflicht („devoir de mémoire") und der Erinnerungsarbeit („travail de mémoire") im Kontext seines Nachdenkens über das Verhältnis von „Geschichte" und „Gedächtnis" auseinander. Im September 2000 legte er den französischsprachigen Leserinnen mit seinem Alterswerk La mémoire, l'histoire, l'oubli1 einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis dieses Verhältnisses vor. Der missbräuchlichen Form eines „verpflichtenden Gedächtnisses" („mémoire obligée") kam dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Dieser Form stellte Ricoeur das Konzept der Erinnerungsarbeit entgegen. Er wies darauf hin, dass „die Erinnerungspflicht heute gerne in der Absicht angemahnt wird, die kritische Arbeit der Geschichtswissenschaft kurzzuschließen, wobei die Gefahr besteht, das Gedächtnis dieser oder jener historischen Gemeinschaft auf ihr einzigartiges Unglück festzulegen, sie in der Haltung des Opfers erstarren zu lassen, sie dem Sinn für Recht und Gerechtigkeit zu entfremden. Das ist der Grund", betonte Ricoeur in einem Vortrag, den er am 13. Juni 2000, wenige Monate vor der Veröffentlichung der französischen Originalfassung von Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, vor zahlreich erschienenem Publikum im großen Amphitheater der Pariser Sorbonne hielt, „weshalb ich vorschlage, von Erinnerungsarbeit zu sprechen und nicht von Erinnerungspflicht". 2

1

2

P. Ricoeur, La mémoire, l'histoire, l'oubli, Paris 2000 (=MHO); auf dt.: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, übers, von H.-D. Gondek, H. Jatho, M. Sedlaczek, München 2004 (=GGV). P. Ricoeur, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, übers, von A. Breitling, Münster, Hamburg, London 2002, S. 19f. (=GRV). Ein Erstabdruck des französischen Vortrags

334

2.

CHRISTINA KLEISER

Ein „Zuviel an Gedächtnis hier", ein „Zuviel an Vergessen dort"

„Ich bin weiterhin beunruhigt", schreibt Ricoeur in seinem Vorwort zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, „über das Schauspiel, das von einem Zuviel an Gedächtnis hier und einem Zuviel an Vergessen dort veranstaltet wird, ganz zu schweigen vom Einfluß der verschiedenen Formen des Gedenkens sowie des Mißbrauchs des Gedächtnisses und des Vergessens. Die Idee einer Politik des maßvoll-gerechten Gedächtnisses (juste mémoire) ist daher eines der Themen, die ich in die öffentliche Debatte einbringen möchte" (GGV, S. 15). Der Topos des schädlichen Übermaßes (ein „Zuviel an Gedächtnis hier" und ein „Zuviel an Vergessen dort"), zuweilen ergänzt um den Topos eines gleichfalls problematischen Defizits oder Mangels (das komplementär gedachte „Zuwenig an Gedächtnis" 3 ), zieht sich - im Rückgriff auf Nietzsche 4 - wie ein roter Faden durch Ricœurs Arbeiten zum Verhältnis von „Geschichte" und „Gedächtnis". Dabei ist eine eigentümlich polemische und moralisierende Einbettung dieser Topoi augenfällig, so etwa im metaphorischen Gebrauch der Formulierung des „veranstalteten Schauspiels". Mit der Rede vom Schauspiel („le spectacle") problematisiert Ricoeur den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit, indem er dem „Zuviel an Gedächtnis" den Charakter des Inszenierten, Nicht-Authentischen verleiht, das von der Ernsthaftigkeit des Gedenkens wegführt. 5 Ricceurs Art und Weise der Einlassung auf die in seinem Vorwort zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen nicht näher ausgewiesene „öffentliche Debatte" - die rhetorische Vehemenz, mit der der Autor seine Beunruhigung mitteilte, bei gleichzeitiger Nichtnennung der Adressatinnen und des Gegenstands des „Zuviel" - erregte Widerspruch: Es

3

4 5

erfolgte in Le Monde (Paris), 15.6.2000, S. 1 und 16; ein Nachdruck ist erschienen in: Annales, Nr. 4, Juli-August 2000, S. 731-747. Siehe P. Ricoeur, „Gedächtnis - Vergessen - Geschichte", in: K. E. Müller, J. Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 433-454, insbes. S. 433, 444 und 450, hier S. 433 (=GVG): „Bevor ich mich dem Problem des Vergessens direkt zuwandte, habe ich mich nun zunächst gefragt, inwiefern die Geschichte, so wie sie von den Historikern geschrieben wird, als eine kritische Instanz zu betrachten ist, um zwischen diesem Zuviel an Gedächtnis und dem Zuwenig an Gedächtnis zu unterschieden." Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den Ricoeur 1994 in Bielefeld gehalten hat; dazu genauer auf S. 339f. Siehe GVG, S. 450. Vgl. dazu bereits GVG, S. 433, wo Ricoeur vom „Schauspiel der schwierigen Verarbeitung traumatischer, aus der Zeit des Totalitarismus stammender Erinnerungen", spricht, „das sich uns seit Ende des Kalten Krieges darbietet." Auch hier moduliert die Metaphorik des Schauspiels den Topos des Übermaßes beziehungsweise des Defizits. Ricoeur hält fest: „Bei einigen beanstandet man - vor allem im Westen - gern ein Defizit an Gedächtnis und ein Übermaß an Vergessen. Bei anderen, wo sich - wie etwa auf dem Balkan - Erfahrungen vergangener Größe, aber auch vergangener Demütigungen dem Vergessen widersetzen, ließe sich hingegen eher ein Übermaß an Gedächtnis beklagen." (Kursivsetzung von P. R.) Einige Seiten später (S. 444) stellt Ricoeur diesem Übermaß an Gedächtnis, das dem Freudschen Wiederholungszwang ähnle, die „authentische Erinnerung" explizit gegenüber.

AUTOBIOGRAFIE, GESCHICHTSPOLITIK UND DIE PFLICHT ZUR GERECHTIGKEIT

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wurde unter anderem kritisiert, dass der eigentlich gemeinte Gegenstand, auf den sich Ricœurs „Zuviel an Gedächtnis" beziehe, der nationalsozialistische Massenmord sei, der in Frankreich ohne die Kollaboration des Vichy-Regimes samt seiner die Regierung stützenden Bevölkerung nicht in dem tatsächlichen Ausmaß durchzuführen gewesen wäre. Dies bleibe implizit. So schreibt der Übersetzer der ersten beiden Bände von Zeit und Erzählung sowie von Die lebendige Metapher, Rainer Rochlitz, mit Blick auf die bereits zitierte und eine weitere Passage des Pariser Vortrage: „Pour l'instant, ce qui nous est donné à lire est une conférence savante sur la méthode de l'historien. D'austères distinctions s'y mêlent à de savantes citations. Mais à deux reprises, le ton change à des endroits stratégiques. L'enjeu de ce texte soigneusement construit se concentre dans deux passages consacrés à la mémoire de la Shoah. [...] ,Telle mémoire', ,telle communauté historique', .malheur singulier': il n'y a guère de doute sur l'identité en question."6 Ähnlich äußerte sich die Historikerin Annette Wieviorka über La mémoire, l'histoire, l'oubli". „II y a dans cet ouvrage un angle mort [...] Si la mémoire de la Shoah est peu nourrie, elle est constamment présente comme un implicite: quelle autre mémoire donnerait ,l'inquiétant spectacle' du ,trop de mémoire' ou ,d'abus' de mémoire'?" 7 Tatsächlich macht Ricoeur in den zitierten Passagen keine Angaben zur Frage, wer „heute", also zum Zeitpunkt des Erscheinens von La mémoire, l'histoire, l'oubli, eine Erinnerungspflicht einmahne, und auch nicht zur Frage, um welches „Gedächtnis", welche „historische Gemeinschaft" und welches „einzigartige Unglück" - als Gegenstand der geforderten Erinnerungspflicht oder aber von Ricoeur vorgeschlagenen Erinnerungsarbeit - es sich handle. Gleichwohl äußerte er seine voraussetzungsreich formulierte Wahrnehmung in einem spezifischen zeitlichen, örtlichen und personalen Zusammenhang, der es für Rochlitz und Wieviorka nahe legte, Ricœurs abstrakt und allgemein gehaltene Kritik zu kontextualisieren und zu konkretisieren, das heißt, den französischen geschichtspolitischen Kontext, die Adressatinnen und den konkreten historischen Bezug des Gedächtnisses - wessen Gedächtnis an wen oder welches Ereignis? - zu ergänzen. Was genau, fragt man sich angesichts der kritischen Stimmen, hat es mit Ricœurs unbestimmt beziehungsweise unterbestimmt bleibendem „Zuviel" auf sich, wegen dessen seine Arbeiten über „Geschichte" und „Gedächtnis" Gefahr laufen, auf eine Weise gelesen zu werden, die sie unter anderem dem Verdacht des aus einer vermeintlichen Überlegenheit des Christentums gespeisten Antisemitismus aussetzen?8 Es ist das von Ricoeur artikulierte Gefühl der Beunruhigung, das neben einem gegenwärtigen (die Be6

7

8

R. Rochlitz, „La mémoire privatisée", in: Le Monde (Paris), 25.6.2000, S. 14. Siehe auch die Besprechung von La mémoire, l'histoire, l'oubli von R. Rochlitz, „Mémoire et pardon. Signification politique des actes symboliques", in: Critique, Nr. 646 (März 2001), S. 163-186. A. Wieviorka, in: Le Monde, zit. nach F. Dosse, Paul Ricœur. Les sens d'une vie (1913-2005) [1997], Éd. revue et augmentée, Paris 2008, S. 665, ohne genaue Angabe. Einen Überblick über die weitreichenden Diskussionen, die La mémoire, l'histoire, l'oubli in Frankreich auslöste, gibt ebenfalls F. Dosse, ebd., S. 659-669. Siehe A. Badiou, „Le sujet supposé chrétien de Paul Ricœur. À propos de La Mémoire, l'histoire, l'oubli", in: Elucidation, Nr. 6 - 7 (2003), S. 19-23.

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unruhigung auslösenden) Anlass auch tiefer liegende, in der je eigenen Lebensgeschichte zu suchende Gründe haben kann, das uns hier auf eine Spur bringt, die auf die historische Bedingtheit eines jeden Nachdenkens über Erinnerungspflicht und Erinnsrungsarbeit verweist. Dieser Spur möchte ich in meinem Beitrag nachgehen, wobei ich zwischen gegenwärtigem Anlass und in der Vergangenheit liegenden Gründen unterscheide: Woher - aus welcher persönlichen Erfahrung - rührte Ricœurs Beunruhigung, die seine philosophische Reflexion seit Mitte der 1990er Jahre begleitete und mitbestimmte, deren subjektiv empfundene Dauer das deutsche Temporaladverb „weiterhin" („je reste troublé", MHO, S. I) indiziert? Diese Frage bildet meinen Ausgangspunkt für einen rekonstruierenden und kontextualisierenden Zugang zu Ricœurs Alterswerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. Aus dem Vorangegangenen ergibt sich, dass sich das Ricoeursche „Zuviel" nicht allein philosophiegeschichtlich erklären lässt und auch nicht mit dem lapidaren Hinweis darauf, der Autor habe die Antwort im Vorwort zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen bereits gegeben. Mitte der 1990er Jahre entbrannte in Frankreich eine heftige geschichtspolitische Debatte. Sie bezog sich auf die Zeit des autoritären, in seinen Grundzügen reaktionären und antisemitischen sowie tendenziell faschistischen Vichy-Regimes (1940-1944). Das französische Regime von Vichy, benannt nach einem Kurort in der Auvergne, etablierte sich nach der militärischen Niederlage Frankreichs gegen das Deutsche Reich und ging unter der Führung von „Staatschef ' Philippe Pétain eine weitreichende Kollaboration mit der nationalsozialistischen Besatzungsmacht ein. Die äußerst kontrovers geführte Auseinandersetzung hatte zum einen die Haltung der französischen Bevölkerung zum Vichy-Regime, sprich, die spezifische Vichy-Vergangenheit der französischen Bevölkerung zum Gegenstand. Zum anderen ging es - und geht es noch heute um den spezifischen Umgang mit den in dieser Zeit verübten nationalsozialistischen Verbrechen und Kollaborationsverbrechen sowie um die Art und Weise der Erinnerung an die Ermordeten. 9 9

Der französische Historiker Henry Rousso bezeichnet das kaum vier Jahre dauernde Vichy-Regime „trotz eines begrenzten Handlungsspielraums [als] eines der repressivsten und gewaltsamsten Regimes in der Geschichte Frankreichs". Seinen Angaben zufolge hat „die antisemitische Politik Vichys für 80.000 Juden aus Frankreich, die fast alle durch französische Ordnungskräfte verhaftet wurden, den Untergang bedeutet"; siehe H. Rousso, Vichy. Frankreich unter deutscher Besetzung 1940-1944, übers, von M. Grässlin, München 2009, S. 132. Vgl. W. Benz, „Einleitung", in: ders. (Hg.), Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1996, S. 1-20, hier S. 15; Benz geht von über 76.000 Personen aus, die als Jüdinnen und Juden von Frankreich aus deportiert und ermordet wurden. Als einer der ersten setzte sich Rousso mit der Nachgeschichte und der Frage der Aufarbeitung der Vichy-Vergangenheit auseinander, siehe H. Rousso, Le Syndrome de Vichy: De 1944 à nos jours, Paris 1987, 2. Überarb. Aufl., Paris 1990. Zur genannten geschichtspolitischen Debatte siehe richtungweisend das streitbare Buch von E. Conan und H. Rousso, Vichy. Un passé qui ne passe pas [1994], Paris 2 1996, und D. Lindenberg, „Guerres de mémoire en France", in: Vingtième Siècle, Nr. 42 (April-Juni 1994), Π-95, sowie für die neuere Entwicklung exemplarisch N. Leonhard unter Mitarbeit von A. Pilleul-Arp, „Autour de , devoir de mémoire'. Ein Gespräch mit der französischen Soziologin

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Erst das Ausweisen dessen, worüber in dieser „öffentlichen Debatte", die Ricoeur vor Augen hatte, gestritten wurde, erlaubt es, danach zu fragen, was für einen persönlichen Bezug der Autor zu ihrem Gegenstand hatte, das heißt, wie Ricoeur in ideologischer Hinsicht zum Nationalsozialismus und zum Vichy-Regime stand, was genau der in diesen Jahren politisch äußerst engagierte agrégé de philosophie in der Zeit zwischen 1933 und 1945 tat, wie er mit diesem Teil der Vergangenheit in seinem späteren Leben umgehen konnte und wie sich dieser in den Blick zu nehmende historische Zusammenhang in einer Zeit, die einen Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzung und zugleich Ricceurs Hinwendung zur Gedächtnisthematik markiert, in Form eines Gefühls der Beunruhigung auf sein philosophisches Nachdenken über die Begriffe der Erinnerungspflicht und Erinnerungsarbeit auswirkte. Ich versuche im Folgenden zu zeigen, dass Ricœurs Umgang mit der eigenen Vergangenheit, die Art und Weise, wie er Stellung bezog, nachdem er im Sommer 1994 mit Schriften aus dem Jahr 1941 konfrontiert worden war, die mit dem „ideologischen Synkretismus" (Rousso) des Vichy-Regimes konform gingen, für seine philosophische Reflexion von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Zur Stützung meiner Behauptung werde ich zunächst die spezifische Entwicklung von Ricceurs begrifflicher Auseinandersetzung mit Erinnerungspflicht und Erinnerungsarbeit nachzeichnen.10

3.

Von der Psychoanalyse zum Gerechtigkeitsprojekt - Ricœurs Auseinandersetzung mit den Begriffen der Erinnerungspflicht und Erinnerungsarbeit

Als Ricoeur im November 1996 anlässlich eines Doktorandinnenkolloquiums in Madrid darauf aufmerksam machte, dass er in seiner philosophischen Poetik „die Vermittlungsfunktion des Gedächtnisses zwischen der gelebten Zeit und den narrativen Konfigurationen" vernachlässigt hätte, indem er nämlich Zeit und Erzählung direkt miteinander in Beziehung setzte, war er in seinem 84. Lebensjahr.11 Im Jahr zuvor, 1995, erschien die

10

11

Maire-Claire Lavabre zur aktuellen Debatte über den .richtigen' Umgang mit der Vergangenheit in Frankreich", in: Zeitgeschichte-online international, 31.1.2006, URL: http://www.zeitgeschichteonline.de/Portals/_Rainbow/documents/pdf/zoLint/lavabre_interview.pdf (10.6.2009). Ich danke Burkhard Liebsch, Corinna Oesch, Gilles Carme sowie Martin Reisigl für ihre wertvollen Kommentare und Elise Julien, die mir bei der Beschaffung von Ricœurs frühen Texten sehr geholfen hat. Siehe P. Ricoeur, „Die vergangene Zeit lesen: Gedächtnis und Vergessen", in: ders., Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen, übers, von A. Breitling und H. R. Lesaar, mit einem Vorwort von B. Liebsch, Göttingen 2000, S. 69-156, hier S. 72 (=VZL). Dass mit Geschichte, Gedächtnis, Vergessen eben diese Lücke geschlossen werden soll, kündigt auch der Zweizeiler unter der Abbildung einer Barockskulptur von Chronos und Geschichte an, die Ricoeur seiner Abhandlung voranstellt: „Zwischen dem ZERREISSEN durch die geflügelte Zeit und dem SCHREIBEN der Geschichte und ihrem Griffel" (Hervorhebung von P. R.), siehe auch GGV, S. 15.

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Schriftfassung eines ausführlichen Gesprächs, das François Azouvi und Marc de Launay mit Ricoeur über sein Leben und Werk führten. Zudem legte Ricoeur Réflexion faite, seine „intellektuelle Autobiografie", als einen „Versuch, mich selbst zu verstehen", in englischer und französischer Sprache vor.12 Diese augenfällige Parallele von Autobiografie und philosophischer Beschäftigung mit dem Gedächtnis ist über den geschichtspolitischen Kontext hinaus vor dem Hintergrund einer Ethik der Erinnerung zu sehen, deren philosophische und theologische Ausformulierung, paradigmatisch bezogen auf die nationalsozialistischen Verbrechen, seit den 1990er Jahren allmählich an Kontur gewinnt.13 Sie wird zur selben Zeit um einen weiteren Arbeitsschwerpunkt ergänzt: ,,[L]'absence d'une réflexion sur le domaine juridique", hält Ricoeur in dem erwähnten Gespräch fest, ,,m'apparaît rétrospectivement comme un manque stupéfiant" (CC, S. 177). Seine Auseinandersetzung mit Recht und Gerechtigkeit schlägt sich in zwei Bänden nieder: Le Juste I und Le Juste II.14 Im Titel der schmalen Schrift Erinnerung - Entscheidung - Gerechtigkeit, die im Wintersemester 1998/99 aus einer Vorlesungsreihe an der Universität Ulm hervorging, deutet sich denn auch der entscheidende Zusammenhang zwischen Erinnerung, Recht und Gerechtigkeit an.15 Die vorerst mehrgleisigen Reflexionen kulminieren schließlich in seinem Buch Gedächtnis, Geschichte, Vergessen in der „Idee einer Politik des maßvollgerechten Gedächtnisses", in deren Perspektive Ricoeur Erinnerungsarbeit als „Gerechtigkeitsprojekt" konzipiert, das gerade nicht auf den Begriff der Pflicht, verstanden als Pflicht zur Gerechtigkeit, verzichten mag. Was ist der Grund für diese Richtungsänderung, war doch eingangs von Ricoeurs Vorschlag zu lesen, man möge statt von Erinnerungspflicht doch lieber von Erinnerungsarbeit sprechen? Meines Erachtens manifestiert sich in Ricœurs Nachdenken über „Geschichte" und „Gedächtnis" eine in ihrer Bedeutung weitreichende Ambivalenz, die den Umgang des Philosophen mit der eigenen Vichy-Vergangenheit widerspiegelt. In diesem Sinne lässt sich werkgeschichtlich eine Entwicklung des begrifflichen Verhältnisses von Erinnerungspflicht und Erinnerungsarbeit nachweisen, die Ricoeur, von der Psychoanalyse herkommend, vorbereitet und der er mit seiner These vom 12

13

14 15

Siehe P. Ricoeur, La critique et la conviction. Entretien avec François Azouvi et Marc de Launay, Paris 1995 (=CC) und P. Ricoeur, Réflexion faite. Autobiographie intellectuelle, Paris 1995, zuerst auf Englisch veröffentlicht in: L. E. Hahn (Hg.), The Philosophy of Paul Ricoeur, Chicago / Lasalle, Illinois 1995. Eine deutsche Übersetzung ist unter dem gekürzten Titel „Eine intellektuelle Autobiographie" enthalten in: P. Ricoeur, Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), übers, und herausgegeben von P. Welsen, Hamburg 2005, S. 3-78 (=IA). Überlegungen, die ethische Dimension des Erinnerns betreffend, wurden von unterschiedlichen disziplinären Warten aus vorgebracht und verstehen sich keineswegs im Rahmen eines homogenen Projekts. Siehe dazu genauer in: Ch. Kleiser, Erinnerungsarbeit und nationalsozialistische Verbrechen. Über den Begriff der Erinnerungsarbeit und seine Bedeutung fur die Geschichtswissenschaft (i. V.). P. Ricoeur, Le juste I, Paris 1995, und P. Ricoeur, Le juste II, Paris 2001. P. Ricoeur, Erinnerung - Entscheidung - Gerechtigkeit, übers, von P. Welsen, Ulm 1999; siehe auch den Abschnitt „Devoire de mémoire, devoire de justice" in: CC, S. 177-191.

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Gerechtigkeitsimperativ der Erinnerung letztlich eine (gar nicht so) unerwartete Wende gibt. Um diese Entwicklung aufzuzeigen, orientiere ich mich an einer Unterscheidung zwischen (a) Vorarbeiten, (b) Kommentierung und (c) dem Hauptwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen.

a.

Vorarbeiten

(A.) Der Bielefelder Vortrag: „Gedächtnis - Vergessen - Geschichte" (1994) Die Auseinandersetzung mit dem „verpflichtenden Gedächtnis" kündigt sich in zwei Beobachtungen an, die ihn, so Ricoeur, „verwundert haben" und die er am 4. Oktober 1994 einem Vortrag in Bielefeld voranstellt: „Die erste [Beobachtung, C. K.] hat mit meinem eigenen Ort innerhalb des Generationengefüges zu tun: Ich gehöre einer Generation an, deren Gedächtnis noch Ereignisse aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg einschließt. Neben diesem Gedächtnis existiert jedoch bereits eine Überfülle an Gesc/nc/ifsschreibung, die dem Gedächtnis nicht selten widerstrebt. [...] Die zweite Beobachtung scheint mit der ersten zunächst in keinerlei Zusammenhang zu stehen." Sie betrifft das bereits zitierte, auf der gesellschaftlichen Ebene ansetzende „Schauspiel der schwierigen Verarbeitung traumatischer [...] Erinnerungen". Diese Schwierigkeit bringt Ricoeur zufolge sowohl ein „Zuviel" als auch ein „Zuwenig an Gedächtnis" hervor (GVG, S. 433, Kursivsetzung von P. R.).16 Für eine nähere Bestimmung des „Zuviel" und „ Z u w e n i g an Gedächtnis" gibt es zeitliche und geografische Anhaltspunkte: Neben dem Zweiten Weltkrieg ist von der Zeit des Totalitarismus und vom Ende des Kalten Kriegs die Rede, der „Westen" wird als Beispiel für ein „Übermaß an Vergessen" im Gegensatz zum „Balkan" als Beispiel für ein „Übermaß an Gedächtnis" angeführt (siehe Anm. 5). Die Trägerinnen und der konkrete Gegenstand des Gedächtnisses bleiben jedoch ungenannt, wiewohl Ricoeur mehrfach Adressierungen vornimmt. 17 Sein philosophisches Augenmerk

16

Neben der in Anm. 5 zitierten Stelle in GVG gibt es eine weitere Stelle im genannten Gespräch (siehe CC, S. 187f.), an der Ricoeur für seine „Verwunderung" respektive „Beunruhigung" sowohl ein persönliches Motiv (hier: seine Zugehörigkeit zu einer Generation, die am Verschwinden sei und die „des horreurs accomplies entre 1933 et 1945" noch bezeugen könne) angibt als auch einen gesellschaftlichen Bezug („la mémoire collective") aufweist. Im Unterschied zum Bielefelder Vortrag thematisiert Ricoeur in diesem Gespräch allerdings noch kein „Zuviel" oder „Zuwenig an Gedächtnis", sondern sieht sich vielmehr hinsichtlich der Frage eines „kollektiven Gedächtnisses" im Zusammenhang mit der Frage, ob es eine „kollektive Schuld" gebe, beunruhigt: „Cette question touche à une autre, qui me trouble beaucoup [...]: c'est celle de mémoire collective. [...] C'est vraiment la mémoire collective qui est le lieu de l'humiliation, de la revendication, de la culpabilité, des célébrations, donc de la vénération comme de l'exécration." Siehe auch R Ricoeur, „Das Rätsel der Vergangenheit", in: ders., Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen, übers, von A. Breitling und H. R. Lesaar, mit einem Vorwort von B. Liebsch, Göttingen 2000, S. 19-67, insbesondere S. 56-63.

17

Siehe GVG, S. 444: „manche Völker", „die einen" und „die anderen".

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richtet sich vielmehr auf die theoretische Ebene: Hier begegnet der Autor der „Diskrepanz zwischen dem Übermaß und dem Mangel" mithilfe der Psychoanalyse: „[Sie, die Diskrepanz, C. K.] läßt sich nun mit den Kategorien von ,Widerstand' und ,Wiederholungszwang', von .Übertragung', .Durcharbeiten' und .Erinnerungsarbeit' reinterpretieren. Das Übermaß an Gedächtnis ähnelt dabei dem .Wiederholungszwang', von dem Freud sagt, daß er an die Stelle der authentischen Erinnerung, durch die Gegenwart und Vergangenheit miteinander versöhnt werden könnten, die Wendung zur Tat setzt. Wieviel Gewalt geschieht doch auf der ganzen Welt, die als ein solches acting out anstelle von Erinnerung zu werten ist! Angesichts solcher Todesfeiern ließe sich auch von einem wiederholenden Gedächtnis sprechen. Daß sich dieses der Kritik widersetzt, das eigentliche Erinnerungsgedächtnis aber ein fundamental kritisches Gedächtnis ist, sollte dabei jedoch stets mitbedacht werden. Und wenn dem so ist, dann gilt die gleiche Interpretation ebenso für den Mangel an Gedächtnis. Stets ist es das gleiche wiederholende Gedächtnis, das die einen mit krankhaftem Genuß pflegen, andere hingegen mit schlechtem Gewissen meiden. Sich in ihm zu versenken, lieben die einen; von ihm verschlungen zu werden, befürchten die anderen. Doch die einen wie die anderen leiden stets unter dem gleichen Mangel an Kritik; was Freud .Erinnerungsarbeit' genannt hatte, erlangen sie nicht." (GVG, S. 444)18 Von Erinnerungspflicht ist in diesem frühen Text nicht die Rede, wohl aber bringt Ricoeur die von Freud hergeleitete Problematik mit der Formel .„Erinnerungsarbeit' gegen .Wiederholungszwang'" auf den Punkt (siehe GVG, S. 443).19 Des Weiteren diskutiert Ricoeur hier bereits die Idee des „Missbrauchs", allerdings noch nicht hinsichtlich der verschiedenen Formen des erinnernden Vergangenheitsbezugs, sondern in Auseinandersetzung mit Nietzsche (siehe GVG, S. 450). (B.) Die Madrider Vorlesungen: „Die vergangene Zeit lesen: Gedächtnis und Vergessen" (1996) In den Madrider Vorlesungen, die in der Textsammlung Das Rätsel der Vergangenheit veröffentlicht sind, führt Ricoeur seine Gedanken zur psychoanalytischen Erinnerungsarbeit weiter aus: „Ich möchte am ArbeitsbegrifF festhalten, der von Freud [...] verwendet wird: Erinnerungsarbeit und Trauerarbeit. Er impliziert, daß die Schwierigkeiten nicht nur erlitten werden, sondern daß wir auch für sie verantwortlich sind" (VZL, S. 110). Ricoeur differenziert nun den Arbeitsbegriff hinsichtlich eines „rechten Gebrauchs" und eines „Missbrauchs" oder „pervertierten Gebrauchs": Es sei im Wesentlichen der selektive Charakter der Erinnerung, der zur Manipulation und Instrumentalisierung des Gedächtnisses führe. Zudem liege „etwas von Überlegung, Verabredung und Zielgerichtetheit in dem Arbeitsbegriff, der auf die Erinnerung 18

19

Zu Ricceurs Verwendung der Freudschen Kategorien siehe den Beitrag von Ilka Quindeau in dieser Sondernummer. Vgl. VZL, S. 103, ebenfalls auf Freud bezogen: „Das Wort Arbeit wird f...] dem Zwang systematisch entgegengesetzt: Erinnerungsarbeit gegen Wiederholungszwang."

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angewandt wurde". Eben diese Charakteristik des auf die Erinnerung bezogenen Arbeitsbegriffs legt für Ricoeur die Unterscheidung in „Formen des Gedächtnisgebrauchs" und „Formen des Gedächtnismißbrauchs" nahe (VZL, S. llOf.). In der weiteren Reflexion über den „guten" Gedächtnisgebrauch und den Gedächtnismissbrauch erkennt Ricoeur drei Problembereiche: den erkenntnistheoretischen, den moralischen und den politischen. - Nichts weniger als eine „Ethik und [...] Politik der gerechten Erinnerung" stehen für ihn auf dem Spiel (VZL, S. 112f.). (C.) Die Gastprofessur in Ulm: „Erinnerung und Vergessen" (1998/99) In seinem Vortrag über Erinnerung und Vergessen, den Ricoeur neben Vorträgen zur Rechtsphilosophie anlässlich einer Gastprofessur im Wintersemester 1998/99 an der Universität Ulm hielt, nimmt er die für seine weiteren Überlegungen folgenreiche Unterscheidung zwischen dem „kognitiven" und dem „pragmatischen" Aspekt der Erinnerung vor, die er später mit der Was-Frage (Was wird erinnert?) und der Wie-Frage (Wie wird erinnert?) verknüpfen wird (siehe GGV, S. 21f.). Zwar würden diese beiden Aspekte beziehungsweise Dimensionen einander durchdringen, dennoch sei es möglich und sogar notwendig, so Ricoeur, sie zum Zweck der Analyse voneinander zu trennen. 20 Damit ist in methodischer Hinsicht ein Erklärungsangebot gegeben, weshalb Ricoeur die Wie-Frage, die Frage nach den Formen des guten und schlechten Gedächtnisgebrauchs, diskutiert und dabei immer weiter ausdifferenziert, ohne zugleich die WasFrage hinsichtlich des Gegenstands der Erinnerung zu konkretisieren. Ganz im Sinne der analytischen Trennung ist auch in diesem Text der Grad der Abstraktion bemerkenswert, mit dem Ricoeur erneut über „das bedrückende Schauspiel in unseren Ländern" spricht, „die bald einem Übermaß an Erinnerung (man hat von einer Vergangenheit gesprochen, die nicht vergehen will)21 oder einem Mangel an Erinnerung - das heißt einem Übermaß an Vergessen - zum Opfer fallen" (EV, S. 17). Diese Beobachtung bietet für Ricoeur die Überleitung, um die drei Problembereiche, die er bereits in Madrid absteckte, genauer in den Blick zu nehmen. In der Folge unterscheidet Ricoeur drei Formen des Missbrauchs: die „verhinderte Erinnerung", die „manipulierte Erinnerung" und die „angeordnete Erinnerung". Die „verhinderte Erinnerung" als eine Form der „wiederholenden Erinnerung" falle in den Aufgabenbereich der Psychoanalyse. Eine zweite Form der „wiederholenden Erinnerung" sei die „manipulierte Erinnerung". Sie finde auf der gesellschaftlichen Ebene statt. Der Missbrauch zeige sich hier in der „ideologischen Manipulation" der Erinnerung „durch äußere Kräfte" (siehe EV, S. 15-17). 22 Hinzu komme als eine dritte Form des Missbrauchs die „angeordnete" oder „verordnete 20

21

22

Siehe P. Ricoeur, „Erinnerung und Vergessen", in: ders., Erinnerung - Entscheidung - Gerechtigkeit, übers, von P. Welsen, Ulm 1999, S. 11-30, hier S. 11 (=EV). Ricoeur nimmt hier das bekannte Nolte-Diktum auf und spielt mit ihm auf das erfolgreiche und in kürzester Zeit neu aufgelegte Buch von E. Conan und H. Rousso über den problematischen Umgang der Französinnen und Franzosen mit der Vichy-Vergangenheit an, siehe Anm. 9. Beide Formen subsumierte Ricoeur in Madrid noch unter die metaphorische Klammer des „verletzten Gedächtnisses", siehe VZL, S. 98-114.

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Erinnerung". Sie hänge mit dem Begriff der „Pflicht zur Erinnerung" zusammen. Diese Verknüpfung kündigte sich in den Madrider Vorlesungen bereits an: Im Rückgriff auf die theologische Sinndeutung stellte sich da bereits für Ricoeur das „moralische Problem [...] im Begriff des Gebots, nicht zu vergessen" (VZL, S. 112). Im Ulmer Text betont Ricoeur nun, dass es gut sei, „den achtenswerten Ursprung dieser angeblichen Pflicht der Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen." Er liege in einer Ermahnung, die in der hebräischen Bibel im Buch Deuteronominum im Verb zakhor enthalten sei: „Erinnere dich!" Ricoeur möchte in diesem Zusammenhang allerdings nicht von einem Befehl, wie er sagt, im Sinne des Kantischen Imperativs sprechen, sondern lediglich von einer Ermahnung. Diese Ermahnung mache man missbräuchlich zur Pflicht (siehe EV, S. 17). Ricceurs Aufforderung, der Rede von der Erinnerungsarbeit gegenüber jener von der Erinnerungspflicht den Vorzug zu geben, hat an dieser Stelle ihren abgeschwächten Ursprung, wenn er schreibt: „Ich schlage einstweilen vor, den nochmals mißbräuchlichen Ausdruck der Pflicht zur Erinnerung durch den bescheideneren einer Arbeit der Erinnerung zu ersetzen, unter der Bedingung, ihm überdies die Arbeit der Trauer und der Versöhnung mit dem Verlust des geliebten Objekts zur Seite zu stellen, ohne welche die Arbeit des Gedächtnisses wieder der Manipulation anheimfällt" (ebd.).

b.

Kommentierung

(A.) Der Pariser Vortrag: „Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit" (frz. 2000 / dt. 2002) In diesem Text mit dem Originaltitel „L'écriture de l'histoire et la représentation du passé", den Ricoeur erstmals im Juni 2000 in Paris vortrug, befindet sich der bereits zitierte knappe und dadurch sehr bestimmte Vorschlag, „von Erinnerungsarbeit zu sprechen und nicht von Erinnerungspflicht" (GRV, S. 20; siehe Anm. 2). Der Text stellt insofern eine Kommentierung zu Gedächtnis, Geschichte, Vergessen dar, als davon auszugehen ist, dass das französische Originalmanuskript, das im September in die Buchhandlungen kam, bereits in Druck war. Abermals dekliniert Ricoeur die drei Formen missbräuchlicher Erinnerung durch. Dabei warnt er diesmal mit Nachdruck vor der „Falle der Erinnerungspflicht" - „Warum? Weil das Wort ,Pflicht' den Anspruch erhebt, einen Imperativ, ein Gebot einzuführen, wo es anfangs nur eine Ermahnung im Rahmen der Nachkommenschaft gibt, entlang der Generationenfolge [...]" (GRV, S. 19). Auf diesen „Anfang", den Ricoeur in Ulm noch als Imperativ in der hebräischen Bibel ausgewiesen hatte, geht er in Paris nicht mehr ein.

c.

Hauptwerk

(A.) Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (frz. 2000 / dt. 2004) Die detaillierteste Diskussion zur nach wie vor distanzierend als „sogenannt" bezeichneten „Pflicht zur Erinnerung" (GGV, S. 139) führt Ricoeur in Gedächtnis, Geschichte,

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Vergessen. Wollte man nach dem bisher Gesagten annehmen, dass Ricœurs Beharren auf der lediglich ermahnenden im Gegensatz zur verpflichtenden Bedeutung des Erinnerungsgebots letztlich auf eine Frage der Graduierung hinaus laufen würde, die der in seinen Vorarbeiten nachweisbaren Akzentuierung einer psychoanalytisch motivierten Erinnerungsarbeit Vorschub leistet, so ist demgegenüber festzuhalten, dass sich Ricoeur in seinem Buch hinsichtlich des begrifflichen Verhältnisses von Erinnerungspflicht und Erinnerungsarbeit neu positioniert. Angesichts der vorangegangenen Diskussion zieht der Autor nicht die Konsequenz, die Idee der „Erinnerungspflicht" gänzlich zu verabschieden. Vielmehr legt er es darauf an, den Begriff der Pflicht zur Erinnerung gerechtigkeitstheoretisch aufzuwerten und zu „legitimieren" (siehe GGV, S. 143). Die „versöhnende" Pointe der Ricœurschen Argumentation besteht dabei darin, „sich darauf [zu beschränken], diese beiden Bemühungen [gemeint sind die Trauer- und Erinnerungsarbeit und die Erinnerungspflicht, C. K.] unter das Zeichen der Idee der Gerechtigkeit zu stellen" (GGV, S. 146). An diesem Punkt ist es nötig, einen genauen Blick auf die Chronologie zu werfen, um die Tragweite dieser Reorientierung im Hinblick auf das begriffliche Verhältnis im Pariser Vortrag einschätzen zu können. Im Gegensatz zu Rochlitz, der in seiner kritischen Besprechung des Vortrags in Le Monde ankündigte, man müsse das nächste Buch über „Gedächtnis" und „Geschichte" abwarten, um mehr zu erfahren (siehe Anm. 6), spricht Catherine Colliot-Thélène in ihrem Vorwort zu der 2002 erschienenen deutschen Übersetzung des Pariser Vortrags, mithin rückblickend, davon, dass dieser Text eine „Fortsetzung" von Gedächtnis, Geschichte, Vergessen sei, der stärker noch als das Buch „den fragwürdigen Charakter des in den 90er Jahren aufgetauchten und schnell zur politischen Floskel gewordenen Ausdrucks .Erinnerungspflicht'" betone.23 Vom Standpunkt der (Rochlitzschen) Rezeption aus gesehen, die erst den Vortrag (im Juni) und dann das Buch (im September) aufnimmt, könnte man zunächst von einer Zuspitzung der begrifflichen Opposition und dann von einer deutlichen Reorientierung sprechen, die Ricoeur im Vergleich zu seinen vorigen Arbeiten in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen vollzog. Bedenkt man allerdings, dass Ricoeur den komprimierten Vortragstext, der in gewisser Weise eine werbende Funktion im Hinblick auf das in Bälde erscheinende, nahezu 700 Seiten fassenden Werk zu erfüllen hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach erst im Anschluss oder parallel zur Drucklegung des Buchmanuskripts verfasste, so ist von einer Ambivalenz des „beunruhigten" Autors auszugehen. Sie manifestiert sich in einem Schwanken, was die Bedeutung und Funktion von Erinnerungspflicht und Erinnerungsarbeit sowie die Bestimmung ihres begrifflichen Verhältnisses zu einander anbelangt. Bevor ich der aufgezeigten Ambivalenz weiter nachgehen werde, indem ich mich der Frage nach Anlass und Grund für Ricœurs Beunruhigung zuwende, interessiert, wie es Ricoeur möglich ist, in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen die Pflicht zur Erinnerung als eine Pflicht zur Gerechtigkeit aufzuwerten.

23

Siehe C. Colliot-Thélène, „Vorwort", in: GRV, S. 1-6, hier S. 5 (Anm. 2).

344

4.

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Ricœurs Aufwertung der Erinnerungspflicht: Erinnerungsarbeit als Gerechtigkeitsprojekt24

Mit Blick auf die Gefahr, die eine Verpflichtung zur Erinnerung nach wie vor in sich birge, attestiert Ricoeur dem Begriff eine besondere Zweideutigkeit und sich selbst eine gewisse Empfindlichkeit („ich für meine Teil reagiere um so empfindlicher"). Denn, so Ricoeur, in der Erinnerungspflicht gipfle beides, sowohl rechter Gebrauch als auch Missbrauch der Praxis des Gedächtnisses. Neu ist nun, wie Ricoeur den Pflichtbegriff in sein bisheriges Verständnis der psychoanalytischen Arbeit integriert: Im Rahmen der therapeutischen Behandlung werde die Pflicht zur Erinnerung als Aufgabe formuliert: Sie kennzeichne den Willen der Analysierten, der die Form eines Imperativs annehme. Die sich hier bereits andeutende begriffliche Annäherung geht soweit, dass sich Ricoeur schließlich fragt: „Was fehlt nun der Erinnerungs- und der Trauerarbeit, um mit der Pflicht der Erinnerung gleichzuziehen?" In der Folge verweist er auf das „Imperativische Element" des Pflichtkonzepts, das im Begriff der Arbeit eben „nicht ausdrücklich" präsent sei. Laut Ricoeur fehle der Doppelaspekt der Pflicht: der sowohl von außen auferlegte als auch subjektiv empfundene Zwang (siehe GGV, S. 141). Ricoeur bringt nun die Idee der Gerechtigkeit ins Spiel. In ihr vereine sich der genannte Doppelaspekt der Pflicht. Die Idee der Gerechtigkeit, so Ricoeur, werde sowohl „subjektiv als Verpflichtung empfunden" als auch „von außen auferlegt". Konsequenterweise spricht Ricoeur in der Folge von einem „Gerechtigkeitsimperativ", der im „Gerechtigkeitsprojekt" manifest werde: „Indem die Gerechtigkeit aus den traumatisierenden Erinnerungen den exemplarischen Wert herauszieht, verwandelt sie das Gedächtnis wieder in ein Projekt zurück; und ebendieses Gerechtigkeitsprojekt gibt der Pflicht zur Erinnerung ihre futurische und Imperativische Form" (ebd.). Es ist Ricoeur bewusst, dass seine These vom Gerechtigkeitsimperativ der Erinnerung der Begründung bedarf. Sie erfolgt denn auch in den für das Ricoeursche Denken charakteristischen drei Schritten: In einem ersten Schritt weist der Autor darauf hin, dass sich die lügend der Gerechtigkeit „ihrem Wesen nach" dem Anderen zuwende. Mit Bezug auf Aristoteles bestimmt Ricoeur die Pflicht zur Erinnerung als „die Pflicht, einem anderen als man selbst durch Erinnerung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen." Im zweiten Schritt verweist er auf den Begriff der Schuld im Sinne der Dankesschuld („dette"), die wir, und das sei wesentlich, auch fühlen könnten: „Wir sind jenen gegenüber schuldig, die uns mit einem Teil dessen, was wir sind, vorangegangen sind." Zuletzt verweist Ricoeur auf eine Vorrangstellung, die an Walter Benjamin denken lässt: „Unter diesen anderen, denen wir etwas schuldig sind, besitzen die Opfer moralische Priorität" (GGV, S. 142f.). Indem sich Ricoeur auf die Idee der Gerechtigkeit beruft, formuliert er eine starke These. Folgt man dem Philosophen, so ist mit dem genannten Dreischritt „die Pflicht 24

Ricoeur führt diese Auseinandersetzung in GGV, S. 139-146, unter der Überschrift: „Die ethischpolitische Ebene: das verpflichtende Gedächtnis".

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zur Erinnerung nun als Pflicht zur Gerechtigkeit legitimiert", so dass er sich erneut der Reflexion über den rechten Gebrauch und Missbrauch der Erinnerung zuwenden kann.

5.

Anlass und Grund von Ricceurs „Beunruhigung"

Eine der wenigen Stellen, an denen Ricoeur in seiner theoretischen Ausdifferenzierung der verschiedenen Formen eines Gedächtnisgebrauchs und Gedächtnismissbrauchs auch Angaben hinsichtlich des Gegenstands, der Frage nach dem zu erinnernden „Wer" und „Was", macht, ist die folgende: „Wir können nämlich nicht von den historischen Bedingungen abstrahieren, in denen die Pflicht zur Erinnerung eingefordert wird, womit insbesondere Westeuropa und Frankreich einige Jahrzehnte nach den schrecklichen Ereignissen Mitte des 20. Jahrhunderts gemeint sind. Dieser Imperativ erscheint nur dann sinnvoll, wenn man ihn mit den Schwierigkeiten in Verbindung setzt, die die nationale Gemeinschaft oder verletzte Teile des politischen Körpers damit haben, sich dieser Ereignisse auf ruhig-abgeklärte Art und Weise zu erinnern. Über diese Schwierigkeiten aber kann man erst dann in verantwortlicher Weise sprechen, wenn man die trockene Ebene der Epistemologie der historischen Erkenntnis durchquert und das Konfliktfeld zwischen dem individuellen, dem kollektiven und dem historischen Gedächtnis erreicht hat, an einem Punkt also, an dem die lebendige Erinnerung der Überlebenden dem kritisch-distanzierten Blick des Historikers - von dem des Richters ganz zu schweigen gegenübersteht" (GGV, S. 139). Die wichtige Einsicht in die historische Bedingtheit erinnert an Überlegungen in Zeit und Erzählung. Gleichwohl bleiben die nachfolgenden Angaben („Westeuropa", „Frankreich", die „schrecklichen Ereignisse Mitte des 20. Jahrhunderts") abstrakt. Dass Ricoeur mit den „schrecklichen Ereignissen" keineswegs selbstverständlich die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus den westlichen Ländern Europas und insbesondere aus Frankreich vor Augen hatte, die schließlich zum Massenmord in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern führte, zeigt sich fünf Seiten weiter, wenn er von einer „historischen Situation" spricht, die „durch die Heimsuchung durch jene Traumata" gekennzeichnet sei, „die die Franzosen in den Jahren 1940-1945 erlitten" (GGV, S. 144). Hier verweist der Ausdruck „Traumata", vor der Folie der Arbeiten des Historikers Henry Rousso (auf den sich Ricoeur explizit bezieht), in erster Linie synekdochisch auf die militärische Niederlage Frankreichs und im Weiteren auf jene Ereignisse und Entwicklungen im Gefolge der Niederlage, die ein Großteil der französischen Bevölkerung von einer patriotischen und nationalistischen Warte aus als besonders entehrend und beschämend erlebten.25 Im Gespräch mit Azouvi und de Launay wird diese Sicht 25

Roussos Thesen vom „Syndrom Vichy" und von der „Vergangenheit, die nicht vergeht" haben Ricoeur nachweislich beeinflusst. In Le Syndrome de Vichy charakterisiert Rousso im Rückgriff auf psychologische und psychoanalytische Termini die Nachgeschichte von Vichy als „nationale Neurose" und teilt diese in mehrere Phasen ein: Nach einer Phase der „unvollendeten Trauer" (1944-1954), der „Unterdrückung" (1954-1971) und einer Phase, die er „Der zerbrochene

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durch die Aussagen des ehemaligen Soldaten Ricoeur bestätigt. Ricoeur, der im Juni 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft kam, die fünf Jahre dauern sollte, spricht hier zudem von einer persönlichen Schuld („culpabilité personnelle") im Hinblick auf sein politisches Engagement und den von ihm vertretenen Pazifismus der Vorkriegszeit: „Dès septembre 1939, j'ai été affecté à un régiment breton de Sain-Malo; des gens remarquables. J'ai vécu l'effondrement de 1940 sur fond de culpabilité personnelle. Je garde en mémoire les images intolérables de la fuite des armées du Nord; je vois encore cette sorte de stéréotype d'un soldat, coiffé d'un chapeau melon et poussant une voiture d'enfant remplie de bouteilles de vin. Je ne pouvais m'empêcher de me dire: ,Voilà, voilà ce que j'ai produit, par faute politique, par passivité, pour n'avoir pas compris que, face à l'hitlérisme, il ne fallait pas désarmer la France.' Ce reproche m'a poursuivi, et m'a conduit à me méfier toujours de mon jugement politique. Même si j'ai conservé des allégeances à l'égard du socialisme, et q u e j e n'en renie pas certains présupposés, je pense que mes positions politiques d'alors étaient erronées et même coupables" (CC, S. 30f.). Es ist im Zuge des Gesprächs, das im Oktober und November 1994 und im September 1995 in mehreren Einheiten in Ricoeurs Arbeitszimmer in Châtenay-Malabry stattfand, dass der Autor einräumt: „Je dois à la vérité de dire que, jusqu'en 1941, j'avais été séduit, avec d'autres - la propagande était massive - , par certains aspects du pétainisme. Probablement ai-je retourné contre la République le sentiment d'avoir participé à sa faiblesse, le sentiment qu'il fallait refaire une France forte. [...] Mais je regrette mon erreur de jugement, pendant la première année" (CC, S. 31f.).

a.

Die Koinzidenz von öffentlicher Debatte und persönlicher Konfrontation

In einer seit Beginn der 1990er Jahre erhitzten Atmosphäre der öffentlichen Auseinandersetzung über den Umgang mit der Vichy-Vergangenheit lösten zwei im September 1994 neu erschienene Bücher eine heftige Debatte aus: Zusammen mit dem Journalisten Eric Conan veröffentlichte Rousso das Buch über die „Vergangenheit, die nicht vergeht". Und in Une jeunesse française klärte der Journalist Pierre Péan über die Jahre 1934 bis 1947 im Leben des damaligen Staatspräsidenten François Mitterrand auf. 26 Mitterrand stand, bevor er sich auf die Seite des linken Widerstands schlug, dem rechts-

26

Spiegel" nennt (1971-1974), will er eine in zwei Richtungen weisende Phase der „Obsession" erkennen (ab 1974). Die eine betreffe das „jüdische Gedächtnis", die andere die „Welt der Politik". Zu den Arbeiten von Rousso siehe Anm. 9. P. Péan, Une jeunesse française. François Mitterrand. 1934-1947, Paris 1994. Eine Chronologie der Ereignisse von 1990 bis 1994 bzw. 1996 ist in E. Conan, H. Rousso, Vichy, enthalten, siehe Anm. 9. Zum Gegenständlichen siehe genauer Th. Angerer, „Zur Kritik an NS-Fixierungstendenzen der österreichischen Zeitgeschichtsforschung. Mit einem Blick auf den französischen Vergleichsfall", in: K. Stuhlpfarrer, L. Retti (Hg.), Demokratie - Zivilgesellschaft - Menschenrechte. Österreichischer Zeitgeschichtetag 2001, der für 2002 angekündigte Band ist nie erschienen,

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nationalistischen sowie fremdenfeindlichen Lager nahe und propagierte die Ideen der „nationalen Revolution" des Vichy-Regimes. Als skandalös an den Enthüllungen des Journalisten empfand man unter anderem, „daß sich die französische Presse 50 Jahre lang mit der offiziellen Biographie hatte abspeisen lassen."27 1994, im selben Jahr, in dem die geschichtspolitische Debatte um die Vichy-Vergangenheit in Frankreich einen vorläufigen Höhepunkt erreichen sollte, wurde Ricoeur mit seiner persönlichen Vichy-Vergangenheit konfrontiert.28 Robert Lévy, Philosophieprofessor am Pariser Lycée Fénelon, stieß laut eigener Angabe zunächst zufällig auf Texte von Ricoeur. Im Zuge einer Vorbereitung des Themas der „Handlung" als Gegenstand einer Erörterung, die seine Schülerinnen verfassen sollten, blätterte Lévy in einer Buchhandlung die zweite Nummer der Zeitschrift L'Unité Française von JuliSeptember 1941 durch: Diese Ausgabe enthält zwei Artikel, „La jeunesse et le sens du service social" und „Le risque", als deren Autor Paul Ricoeur firmiert.29 Eine Recherche am Institut d'histoire du temps présent (IHTP) ergab, dass auch in der ersten Nummer der Zeitschrift von April-Juni 1941 ein Artikel von Ricoeur veröffentlicht wurde. Er trägt den Titel „Propagande et culture".30 In einem vom 11. Juli 1994 datierenden Schreiben wurde Ricoeur nun zum einen gefragt, was der Grund dafür sei, dass drei Texte, die zusammengefasst unter dem Namen „Paroles de Prisonniers" 1941 in der pétainistischen Zeitschrift L'Unité Française erschienen sind und seine Autorschaft aufweisen, bislang nicht in der systematischen Bibliografie des Philosophen aufscheinen würden. Zweitens fragte man nach der Notwendigkeit, diese Texte der Forschung zugänglich zu machen. Ricoeur reagierte auf die Anfrage mit einer Stellungnahme, die er im Herbst 1994 an den damaligen Leiter des IHTP, Henry Rousso, adressierte.31 In dieser Stellungnahme, der „Note sur certaines .Paroles de Prisonniers'", gab Ricoeur zunächst an, nichts von der Veröffentlichung die-

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30

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das Manuskript ist online abrufbar unter URL: http://www.univie.ac.at:80/igl.geschichte/angerer/ IfG_homepage/Aufsaetze/Angerer_Zur_Kritik_an_NS-Fixierungstendenzen.pdf (10.6.2009). Th. Angerer, „Zur Kritik", S. 2 (Anm. 26). Siehe R. Lévy, „Sur la passade pétainiste de Paul Ricoeur: un bref épisode?", in: Sens public. Revue électronique international, 2008/03, URL: http://www.sens-public.org/ article.php3? id_article=537 (10.6.2009), 14 Seiten. L. Estrangin, P. Ricoeur, „Paroles de prisonniers. I. La jeunesse et le sens du service social", in: L'Unité Française. Cahiers d'Etudes de la Fédération des cercles Jeune France (de Vichy), Nr. 2 (Juli-September 1941), S. 162-172 (=JSS), und P. Ricoeur, „Paroles de prisonniers. III. Valeurs d'action. Le risque", ebd., S. 206-208 (=R). P. Ricoeur, „Paroles de prisonniers. IX. Propagande et culture", in: L'Unité Française. Cahiers d'Etudes de la Fédération des cercles Jeune France (de Vichy), Nr. 1 (April-Juni 1941), S. 54— 59 (=PC). Zum Hergang, wie es zur Anfrage kam, siehe detailliert R. Lévy, „Sur la passade pétainiste", S. 2 - 4 . (Anm. 28). Einen Abriss des Hergangs aus der Sicht Ricœurs enthält seine Stellungnahme, siehe P. Ricoeur, „Note sur certaines .Paroles de Prisonniers'", 17. 10. 1994, unpag., 5 Seiten, hier S. [2] (=N), ursprünglich ausschließlich zugänglich am IHTP, jüngst online abrufbar unter URL: http://www.fondsricoeur.fr/photo/note%20sur%20certaines%20%20paroles% 20de%20 prisonniers.pdf (10.6.2009).

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ser Texte gewusst zu haben: „Concernant les textes [...], je déclare avoir ignoré jusqu'à ce jour leur publication à Vichy sous le titre »Paroles de Prisonniers'. Quant à l'original, j'en ai perdu la trace: feuilles volantes? journal du camp de l'Oflag IIb32?" Was die zweite Frage der Notwendigkeit des Zugangs zu den Texten anbelangt, bemerkte Ricoeur mit Hinweis auf das IHTP, dass der Zugang bereits gegeben sei: „j'estime qu'ils sont déjà effectivement à la disposition des chercheurs" (N, S. [2]). Seine Stellungnahme wollte Ricoeur ebenfalls am IHTP hinterlegt wissen.33 Lévy, der Anfang des Jahres 1994 über einen Mittelsmann seine Anfrage bezüglich der drei Texte von 1941 an Ricoeur richtete, verarbeitete diese Erfahrung und die Ergebnisse seiner weiteren Nachforschungen in einem kritischen Essay, der 2008 in der Internetzeitschrift Sens public veröffentlicht wude.34 In diesem Essay, der unter anderem die von Ricoeur angegebene Dauer seiner „pétainistischen Episode" - im ersten Jahr der Kriegsgefangenschaft, „jusqu'en 1941" - stark in Zweifel zieht, befasst sich Lévy, um seine Argumentation zu belegen, neben den drei bereits genannten Texten von 1941 auch mit einem Artikel, den Ricoeur unter dem Titel „Où va la France? Perte de vitesse" im März 1939 in der christlich-revolutionären Zeitschrift Terre Nouvelle publizierte.35

Bevor ich mich Ricoeurs Umgang mit jenem Teil seiner Vergangenheit, auf den die genannten vier Texte aus den Jahren 1939 und 1941 verweisen, anhand seiner autobiografischen Äußerungen in den 1990er Jahren (in der Stellungnahme 1994, in der „intellektuellen Biografie" 1995 und im Gespräch mit Azouvi und de Launay 1994/95)

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33

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Mit „Oflag IIb" ist das Offizierslager in Pommern bezeichnet, in dem Ricoeur einen Teil seiner Kriegsgefangenschaft zubrachte. Dies geht aus einem Kommentar auf der Website des Fonds Ricoeur hervor, siehe URL: http:// www.fondsricoeur.fr/photo/prisonner%20of%20war%20camp.pdf (10.6.2009). Zum Kontext dieses Kommentars siehe Anm. 34. Siehe R. Lévy, „Sur la passade pétainiste" (Anm. 28). Lévys Artikel veranlasste die Nachlassverwalterinnen des Philosophen zu einer Gegendarstellung, die auf der Website des Fonds Ricoeur unter dem Stichwort „La guerre" einzusehen ist, siehe URL: http://www.fondsricoeur.fr/ index.php?m=72&dev=&lang=fr&rub=3&ssrub= (10.6.2009). Mit der Beteuerung, man wolle jedem erlauben, sich eine begründete Meinung zu bilden („pour permettre à chacun de se faire une opinion juste et réfléchie"), machte der Comité Editorial des Fonds Ricoeur mehrere Texte online zugänglich: Zusätzlich zu einer „kurzen Antwort" des Präsidenten des wissenschaftlichen Beirats Olivier Abel (= „Une brève réponse d'Olivier Abel") sind Ricoeurs „Note" von 1994 (siehe Anm. 31) sowie das neu hinzugefügte achte Kapitel „Du cercle Pétain à la .résistance'" der durchgesehenen und erweiterten Ricoeur-Biografie von François Dosse über den angegebenen Link abrufbar. Siehe alternativ F. Dosse, Paul Ricoeur, S. 94-101 (Anm. 7). Der strittige Gegenstand, Ricoeurs Texte von 1941, wurde bedauerlicherweise nicht online zugänglich gemacht - ein Manko, das im vorliegenden Zusammenhang den Anspruch der objektiven Meinungsbildung fraglich erscheinen lässt. P. Ricoeur, „Où va la France? Perte de vitesse", in: Terre Nouvelle. Organe des chrétiens révolutionnaires (März 1939), S. 2 (= OF). Ricoeur veröffentlichte in Terre Nouvelle, einem Publikationsorgan der extremen Linken, das Ansprüche eines sozialen Christentums mit marxistischen Ideen zu vereinen suchte, seine ersten Artikel, siehe dazu ausführlich F. Dosse, Paul Ricoeur, S. 57-63 (Anm. 7).

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zuwenden möchte, sollen im Folgenden die Texte selbst einem näheren Augenschein unterzogen werden.

b.

Der Text vom März 1939: „Où va la France? Perte de vitesse"

Der Grundton dieses schmalen Texts ist resignativ. Ricœurs Kernbotschaft lautet, dass man es nicht verstanden habe, ein wahrhaft demokratisches Frankreich zu schaffen, dass dieses Land nicht mehr fähig sei, ein Ideal zu haben, ja, dass es nicht einmal fähig zu sein scheine, faschistisch zu sein: „Ce pays n'est plus capable d'idéal. Il ne semble même pas capable d'être fasciste." Es fehle an Reinheit im Hinblick auf die vertretenen Werte und an Größe, daher verliere Frankreich an „Geschwindigkeit" („ce pays est en pleine perte de vitesse"). Maßstab für diese aus einer nationalistischen Perspektive vorgebrachte rigorose „Selbstkritik" (insofern als einer personifizierten Nation die eigenen Fehler zugeschrieben werden) ist Deutschland: „Je crois que les idées allemandes de dynamisme, d'énergie vitale des peuples, ont plus de sens que notre idée vide et hypocrite du droit" (OF, S. 2). Unverhohlen kommt an dieser Stelle der Vorbildcharakter zum Ausdruck, den die „deutschen Ideen der Tatkraft" 1939 fìir Ricoeur besitzen. Ein Vorbild ist in gewisser Weise auch Hitler: „J'avoue avoir éprouvé une véritable angoisse en lisant le discours d'Hitler: non que je croie ses intentions pures, mais dans un langage d'une belle dureté - j'allais écrire d'une belle pureté - , il rappelle aux démocraties leur hypocrite identification du droit avec le système de leurs intérêts, leur dureté pour l'Allemagne désarmée, l'interdiction qu'elles lui signifiaient de se créer des zones de puissance, comme l'Angleterre et la France impériales, le refus quand elles étaient les plus fortes de partager les matières premières du monde. / Hélas, cela ressemble étrangement à notre argumentation, à notre rêve. Je le sais bien, Hitler ne songe pas du tout à organiser le monde sous le signe de la collaboration, mais lui au moins, parle du dynamisme de son peuple, et non du droit éternel, ...et puis il nous éveille à la mauvaise conscience." Bemerkenswert an der in dieser Passage verwendeten rhetorischen Nein-aber-Figur (,.Nicht dass ich glauben würde..., aber...") ist, dass Ricoeur über das adversative „aber" seiner Bewunderung für die Form und Funktionalität der Sprache Hitlers in aller Deutlichkeit Ausdruck verleiht („un langage d'une belle dureté - j'allais écrire d'une belle pureté") - ohne dabei den auf eine solche Weise transportierten nationalsozialistischen Inhalt zu problematisieren. Es ist in diesem Text vom März 1939 keine Rede davon, was Hitler für „sein Volk" bis dato bereits alles erreicht hatte. Ausgeblendet bleiben sämtliche rassistischen, antisemitischen und verbrecherischen Maßnahmen, die aus der Sicht des Nationalsozialismus ausschließlich der „deutschen Volksgemeinschaft" zugute kommen sollten. Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass das nationalsozialistische Deutsche Reich von allem Anfang an ein Unrechtsstaat war und die Machtübertragung im März 1933 pseudolegal erfolgte. Mit dem Schlagwort des „dynamisme" nimmt Ricoeur eine zentrale ideologische Komponente der „nationalen Revolution" vorweg: In der neuen Sprachregelung kom-

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me, so Rousso, „der Wille Vichys zum Ausdruck, explizit an die dynamische Tradition des Nazismus und Faschismus anzuknüpfen."36

c.

Die Texte von 1941 : „Le Risque", „La jeunesse et le sens du service social" und „Propagande et culture"

Der erste Text, auf den sich Ricoeur in seiner Stellungnahme 1994 bezieht, ist „Le Risque". Sein Kommentar zu ihm fällt, verglichen mit dem zu den anderen beiden Texten, am kürzesten aus. Ricoeur stellt lediglich richtig, dass „Le Risque" bereits 1936 in der Zeitschrift Etre erschienen und ohne Erlaubnis neuerlich publiziert worden sei: „Ce premier texte est donc purement et simplement extorqué et déplacé de son contexte d'origine qui n'a rien à voir avec Vichy. Ce texte, au reste, exprime une idéologie volontariste et héroïque que Vichy a pu utiliser, mais qui ne lui était pas destiné" (N, S. [2]). Mit dieser Bemerkung ist für Ricoeur der Fall erledigt. „Le Risque" handelt zunächst von der Schwierigkeit, in der Praxis Entscheidungen zu treffen. Angesichts dieser Schwierigkeit fordert Ricoeur in einer politisch unsicheren Zeit Courage und die Bereitschaft zum Wagnis: „Voici un homme honnête qui se décide politiquement. Il n'a pas le temps matériel de refaire pour son compte toutes les conquêtes que l'on a entreprises au sujet de la crise des régimes sociaux et politiques. Son information est limitée voire courte. Et pourtant il se peut qu'il ait une vocation politique indiscutable; il doit se décider, sous peine d'être le complice muet et immobile des injustices de son temps. [...] Se décider dans l'action: résoudre un cas de conscience, embrasser une opinion politique, si provisoire soit-elle, adhérer à une confession religieuse, sont des actes qui demandent autre chose qu'une évidence, intellectuelle, ou même qu'une évidence de foi; autre chose qu'une vérité entendue, qu'une présence rencontrée, qu'une personne accueillie. Ces actes sont au plus haut degré une avance, une audace, un risque couru. C'est moi qui choisis, c'est moi qui ose. Le risque est l'expression la plus haute de la personne" (R, S. 207). Der in dem mit „Valeurs d'action" überschriebenen Text von Ricoeur gezeichnete Protagonist, d. i. der „ehrliche Mann", der sich - inmitten von Unsicherheit und Ungewissheit - politisch entscheiden müsse und der riskieren müsse, sowie die über dieses anthropozentrische Bild transportierten Werte fügen sich in der Tat perfekt in die VichyIdeologie ein.

36

H. Rousso, Vichy, S. 32 und S. 24 (Anm. 9): „Die Themen der europäischen Faschismen beeinflussen [sie!] in unterschiedlichen Varianten zahlreiche Intellektuelle, Schriftsteller und Politiker. Wenn der Faschismus am Vorabend des Krieges auch keine reale Bedrohung für die Republik ist, so bildet er doch den geistigen Horizont eines Teils der französischen Gesellschaft, die dann mehrheitlich einen Mann und ein Regime akzeptieren wird, die sich eindeutig in dieses ideologische Lager einreihen." Rousso hält es resümierend für müßig, der Frage nachzugehen, ob das VichyRegime nun zur abstrakten Kategorie der Faschismen gehört oder nicht; wichtig bleibe die Tatsache, dass es sich eng an das nationalsozialistische Europa angeschlossen habe; siehe ebd., S. 133f.

AUTOBIOGRAFIE, GESCHICHTSPOLITIK UND DIE PFLICHT ZUR GERECHTIGKEIT

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Dem zweiten Text, zu dem sich Ricoeur in seiner Stellungnahme äußert, „La jeunesse et le sens du service social", möchte Ricoeur, gleich dem ersten, ebenfalls keine große Beachtung schenken. Dieser Text, der als Koautor Louis Estrangin ausweist, komme ihm heute sehr suspekt vor: ,,[0]utre qu'il sent la manipulation, je suis incapable d'y démêler ma propre contribution" (N, S. [2]). Ricoeur konstatiert lediglich, dass das Insistieren in diesem Text auf einer „Ethik des Dienstes" den Ideologen von Vichy gepasst haben musste: ,,[I]ci aussi, l'insistance sur l'éthique du service, qui en est le fil conducteur, a dû convenir aux idéologues de Vichy, experts en amalgame." Mit seiner knappen Kommentierung legt Ricoeur nahe, dass „La jeunesse et le sens du service social" unabhängig, ohne von der ideologischen Ausrichtung des VichyRegimes gewusst zu haben, während der deutschen Kriegsgefangenschaft geschrieben worden wäre. Das vorgeschobene „auch hier" („ici aussi") suggeriert einen Zusammenhang mit dem zuvor behandelten Text „Le Risque", von dem Ricoeur, wie bereits erwähnt, sagt, dass er - aufgrund seiner frühen Veröffentlichung 1936 - nichts mit „Vichy" zu tun habe. Damit rückt „La jeunesse et le sens du service social", gleich dem vorangegangenen Text, aus dem Fokus des in politischer und ideologischer Hinsicht Erklärungsbedürftigen, in dem das Textensemble von 1941 aufgrund der Anfrage von Lévy steht. Gegen das Argument der Irrelevanz und ein damit einhergehendes schnelles Beiseitelegen des Texts spricht allerdings, dass dieser zu einer Zeit geschrieben und veröffentlicht wurde, in der sich Ricoeur in einem Umfeld bewegte und betätigte, das ganz auf die Verwirklichung der autoritären Ideale der „nationalen Revolution" ausgerichtet war: Sowohl die im Gefangenenlager für französische Offiziere in Pommern errichtete und von Ricoeur nicht ohne Stolz beschriebene „Lageruniversität" (siehe CC, S. 33, und LA, S. 12) als auch die ebendort existierenden „cercles Pétain", an denen sich Ricoeur laut eigener Angabe aktiv beteiligte (siehe N), waren Früchte der letztlich von den Deutschen diktierten sowie kontrollierten Kollaboration und dienten der propagandistischen Einflussnahme.37 Die verbreitete Meinung, dass die Schwäche der III. Republik einem Verfall der traditionellen Werte und einer Dekadenz der für die militärische Niederlage verantwortlichen Generation zuzuschreiben sei, führte zu einer betonten Ausrichtung auf die Jugend. Jugendpolitik bildete neben der Familienpolitik eine „wesentliche Achse der Nationalen Revolution".38 Vor diesem Hintergrund geht es Estrangin und Ricoeur in ihrem Text um zwei Anforderungen: Zum einen gelte es, die gesamte Masse („la masse elle-même et toute la masse") zu mobilisieren, zum anderen gelte es, die Frage der Betreuung - und 37

Zu den Umständen und Bedingungen der Kriegsgefangenschaft von französischen Soldaten in Deutschland existiert mittlerweile eine detaillierte Forschungsliteratur. Die Soldaten stellten zum einen für das Deutsche Reich im Rahmen der Kollaboration ein wichtiges Faustpfand dar. Zum anderen erkannte das Vichy-Regime das intellektuelle Potenzial der Soldaten, das man etwa über das Ausverhandeln von Bildungseinrichtungen im Sinne der „nationalen Revolution" zu Nutzen suchte. Siehe informierend L. Hannemann, „Der entfesselte Geist. Die französischen Lageruniversitäten im Zweiten Weltkrieg", in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, Bd. 33/3 (2006), S. 95-120.

38

Siehe H. Rousso, Vichy, S. 67 (Anm. 9).

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zwar „par de vrais chefs" - zu klären: „II s'agit de concevoir et de créer des organismes tels qu'ils puissent atteindre toute la jeunesse. [...] Problème aussi d'éducateurs: [...] les .ingénieurs de jeunes' 39 , les animateurs ruraux, les chefs compagnons, les chefs scouts, les chefs de chantier [Bezeichnungen diverser Jugendbewegungen; Anm. C.K.]. Il faut qu'une sélection et qu'une formation rigoureuse les préparent à leur tâche" (JSS, S. 171f.).40 Einzig der dritte Text, so Ricoeur in seiner Stellungnahme, sei es wert, dass man sich mit ihm genauer befasse, wobei er vorausschickt, dass er auch bei diesem Text nicht versichern könne, dass er weder gekürzt, noch angereichert oder in sonst einer Form manipuliert worden sei; jedenfalls, so betont der Autor, habe er ihn nie publiziert.41 War der Text von 1939 noch von einer starken Kritik an der Verfasstheit der damaligen Demokratien bestimmt, so erteilt Ricoeur 1941 in „Propagande et culture" der demokratischen Idee eine klare Absage. Die Auseinandersetzung beginnt mit einer „Hommage à l'État fort": „S'il est une leçon politique de notre défaite que nul ne puisse contester, c'est qu'aujourd'hui nous n'avons plus le choix entre un régime autoritaire et un régime parlementaire. La seule question est de savoir quelle autorité il nous faut, quelle autorité nous appelons de nos vœux" (PC, S. 54). Im Weiteren konzentriert sich Ricoeur auf das Problem, die Forderung nach einem starken Staat mit der Idee der Freiheit der Kultur zusammenzudenken. Eine „Versöhnung" der problematisierten Antinomie gelingt Ricoeur, indem er sich von der Idee der Gleichheit aller Menschen distanziert und stattdessen von einer hierarchischen sozialen Ordnung ausgeht, für die er das Bild der „Pyramide" bemüht. In dieser Ordnung gelte es, an der Spitze die Idee der Freiheit und insbesondere die der Freiheit der Kultur an die Verantwortung und Befehlsgewalt der „Eliten" rückzubinden. Es folgen Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gruppe sowie zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die in eine Rechtfertigung des „État fort" und seiner Autorität münden, die beide ohne einzugehendes Wagnis („le risque"!) nicht zu haben seien (siehe PC, S. 57f.). Ricoeurs prononcierte Ausrichtung auf die Aktion, zumal in politisch bewegten Zeiten, und damit die implizite Abgrenzung von jeglichem zeitgenössischen Attentismus,

39

40

41

Das dürfte eine Anspielung auf Georges Lamirand sein, seines Zeichens Ingenieur, Verfasser der Schrift Le Rôle social de l'ingenieur (1933) und Leiter des im Juli 1940 vom Vichy-Regime geschaffenen „Generalsekretariat für die Jugend". Im Gespräch mit Azouvi und de Launay hält Ricoeur rückblickend fest: ,,[J]e crois qu'aucun d'entre nous n'a cédé sur la question de la collaboration. L'idée qui nous guidait était plutôt celle d'un redressement intérieur, dans la ligne des mouvements de jeunesse, dans une sorte de continuité avec ce qu'avait été le scoutisme d'avant-guerre; et c'est à cela que nous avons cru pendant la première année où nous étions brisés et coupés de tout" (CC, S. 33). Tatsächlich erweckt die Gliederung dieses sechseinhalb Seiten langen Texts den Eindruck der Unvollständigkeit: Auf der vierten Seite (PC, S. 57) setzt unvermittelt ein Punkt „4) Plaidoyer pour la culture libre" ein, auf den ein abschließender Punkt „5) La culture dirigée" folgt (S. 58). Diesen beiden Punkten gehen jedoch keine der Gliederungsebene entsprechenden Punkte 1, 2 und 3 voran.

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korrespondiert in diesem Text zudem mit einem für die Zeit typischen Streben nach Erlösung. Nun gehören Vorstellungen von einer in die Perspektive der Erlösung gestellten neuen sozialen und spirituellen Ordnung ebenso zu den ideologischen Versatzstücken des Vichy-Regimes,42 wie es resümierend festzuhalten gilt, dass sämtliche der von Rousso beschriebenen zentralen Begriffe, die den „ideologischen Synkretismus" des Vichy-Regimes charakterisieren, in Ricceurs Texten von 1939 und 1941 auf affirmierende Weise enthalten sind. Der Einbezug des Texts von 1939 sowie der Umstand, dass „Le Risque" bereits 1936 erstmals publiziert wurde, erlauben es, eine gewisse ideologische Kontinuität über die vielfach als „Schock" und „Trauma" beschriebene und jedenfalls als einschneidend erlebte militärische Niederlage hinweg auszumachen, etwa im Hinblick auf die allen besprochenen Texten mehr oder weniger explizit zugrundeliegenden Konzepte der „Autorität" und des „starken Staats". Diese Kontinuität im Denken des Autors, die Ricceurs späterer Rechtfertigung der Texte von 1941 als eine „ideologische Episode" entgegensteht, wurde bislang nicht beachtet oder in Abrede gestellt.43 Die Art und Weise einer vermeintlich notwendigen Ehrenrettung Ricœurs, wie sie in dem Zusammenhang von einigen wenigen betrieben wird, die um die Texte von 1939 und 1941 wissen, sie aber dennoch nicht oder nur halbherzig problematisierten, hat einen seltsamen Beigeschmack. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier auf Geschichtspolitik gesetzt wird - wo Erinnerungsarbeit, unter anderem in Form einer seriösen, historisch umfassend kontextualisierenden Aufarbeitung der frühen politischen und ideologischen Arbeiten des Philosophen, dringend angebracht wäre.44

d.

„Note sur certaines ,Paroles de Prisonniers'" (1994)

Ricoeur selbst spricht, nachdem er als erstes eine Klärung formaler Fragen angekündigt hatte, von einem „travail plus intéressant de mémoire portant sur le fond". Die explizit 42 43

44

Siehe H. Rousso, Vichy, S. 34 (Anm. 9). Nimmt man den Inhalt dieser frühen Arbeiten im Kontext von Ricœurs Stellungnahme ernst, so ist etwa Dosse nicht zuzustimmen, der keinerlei Bezug der Texte von 1941 zu Ricœurs Position vor und nach dem Krieg erkennen kann oder will und davon ausgeht, dass es sich bei diesen Texten um eine nachträgliche und zudem verfälschte Transkription von lediglich mündlich vorgebrachten Äußerungen handle. Dosse geht in seinem Bemühen, Ricœurs „ephemere Unterstützung Pétains" in ein wohlmeinendes Licht zu rücken, weiter als Ricoeur selbst, der seine Autorschaft nicht grundsätzlich in Frage stellte. Für Dosse hingegen scheint es schlicht nicht vorstellbar, dass der Philosoph die Texte von 1941 wirklich geschrieben haben soll: „La confusion des esprits était grande mais pas à ce degré"; siehe F. Dosse, Paul Ricœur, S. 98f. (Anm. 7). Für eine solche Aufarbeitung wäre beispielsweise die systematische Auswertung des in Ricœurs Nachlass enthaltenen Tagebuchs, der ebenfalls erhaltenen Korrespondenz aus der Zeit der Gefangenschaft sowie des von den Insassen des Offizierslagers in Großborn geführten Journals Écrit sur le sable unerlässlich, wobei auch die mittlerweile höchst detaillierte Forschungsliteratur unter anderem zu den politischen und ideologischen Positionen der Vorkriegszeit sowie in VichyFrankreich und zu den französischen Kriegsgefangenen in Deutschland einbezogen werden sollte.

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als solche benannte Erinnerungsarbeit, zu der ihn die Texte von 1941 veranlassen, steht für den Autor zunächst im Zeichen der Frage nach den Bedingungen, unter denen er als ein vor dem Krieg „junger militanter Sozialist" in der Zeit von 1940 bis 1941 in einem deutschen Gefangenenlager für Offiziere aktiver Teilnehmer der „cercles Pétain" hatte werden können (siehe N, S. [3]). Als ein frühes gravierendes Ereignis nennt Ricœur die persönlich erfahrene Ungerechtigkeit, die für ihn der Vertrag von Versailles bedeutete, in dessen Perspektive es schließlich zu „München" (gemeint ist das Münchner Abkommen 1938) als einer verständlichen, ja, „gerechten" Revanche hatte kommen müssen. Im Weiteren weist er auf drei verschiedene zeitliche Momente hin, die, geprägt von der Erfahrung der militärischen Niederlage im Juni 1940, seiner Meinung nach bedeutsam sind, um seine „nouvelle prise de position" von 1940/41 zu verstehen. Bezogen auf diese Momente setzt nun Ricœur zu einer komplexen psychologischen Erklärung für seine „volte-face idéologique" an: Nachdem er sich zunächst persönlich schuldig gefühlt habe, indem er mit seiner politischen Betätigung zur Schwächung der III. Republik beigetragen habe, habe er die Verantwortung für die Niederlage auf die Republik „verschoben": „Ce transfert [...] constitue pour moi le point aveugle de ma volte-face idéologique."45 Ricœur legt mit diesem Erklärungsansatz nahe, dass, gewissermaßen als „logische" Folge, mit der vorgenommenen „Verschiebung" respektive „Übertragung" eine deutliche Distanzierung zur vorangegangenen politischen Position einhergehen musste, die es ihm erlaubte, die durch die „vormalige" Position evozierten - destruktiven - Schuldgefühle dank seines „neuen" Engagements für einen „starken Staat" sinnvoll zu ersetzen. In diesem Sinne äußert er sich über seinen Text „Propagande et culture": ,,[L]es esquisses politiques sur l'État fort, le civisme viril, l'esprit de service, et la part octroyée, hélas!, à la propagande, se comprennent aussi come une riposte à l'auto-accusation et à l'attitude négative à l'égard des institutions de la République, qui sévissaient dans le camps. Il s'agissait précisément de ne plus gémir, mais de reconstruire" (N, S. [3]). Es ist Ricœur wichtig, die historische Bedingtheit der „ideologischen Episode" von 1940/41, gleichsam eine „discontinuité idéologique", auf die seine Erzählung hinausläuft, aufzuzeigen - auf dass man sein einstiges Sprachhandeln verstehe: „C'est dans ce contexte que le texte intitulé propagande et culture' doit être replacé" (N, S. [3f.]). Wenn Ricœur im Folgenden betont, dass „Propagande et culture" nichts mit Kollaboration und noch weniger mit Antisemitismus zu tun habe, so sind - gleichfalls unumgänglich - die von Ricœur in diesem Text bemühten ideologischen Elemente in den größeren historischen Zusammenhang von „Vichy" zu stellen. Aus einer solchen kontextualisierenden Sicht, wie sie Ricœur für ein Verstehen („pour la compréhension") als notwendig erachtet und einfordert, drängt sich die Frage auf: Bedeutet die Unterstützung der vom Vichy-Regime propagierten Idee eines „starken Staats", ohne sich explizit gegen dessen Kollaboration mit dem Deutschen Reich und gegen die das Regime kennzeichnende antisemitische Grundhaltung auszusprechen, nicht, sowohl das eine wie das andere, wenn nicht zu befürworten, so doch hinzunehmen? Selbst wenn Ricœur einen Mangel an un45

Vgl. dazu Ricceurs Ausführung im Gespräch (CC, S. 31f.), zitiert auf Seite 346.

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abhängiger Information in seiner Gefangenschaft beklagt, so wurden die Gefangenen doch fortlaufend mit Vichy-Propaganda versorgt (siehe CC, S. 31). Weder die Frage der Kollaboration mit den Nazis noch ein genuin französischer Antisemitismus waren 1940 und 1941 in deutschen Kriegsgefangenenlagern ein Geheimnis. Ricoeurs Stellungnahme zu „Propagande et culture" (als einzigem Text, mit dem er sich näher befasst) ist gerahmt durch die Hinweise, dass es weder um eine Selbstrechtfertigung noch um eine Selbstgeißelung gehe, dass er sich weder anklage, noch von Schuld frei sprechen wolle. Es handle sich um eine Art Selbstbefragung („un examen de moi-même"), die darauf abziele, sich zu akzeptieren als jemand „qui est passé par une telle phase de sa vie, de sa pensée et de son action" (N, S. [3] und [5]). Eine genauere Analyse, die hier lediglich in Ansätzen vorgestellt wurde,46 zeigt, dass Ricoeurs „Selbstbefragung", die er im Oktober 1994 niederschrieb, einem solchen „abgeklärten" Anspruch (siehe das Zitat auf S. 345) nicht gerecht zu werden vermochte. Sie bewegt sich vielmehr zwischen Distanznahme, beschönigender Rechtfertigung und schlechtem Gewissen. Konfrontiert mit der Frage, was es mit dem pétainistischen Inhalt der Texte von 1941 auf sich habe, vermittelt Ricoeur den Eindruck eines Suchenden - bestimmt von den Polen einer von außen an ihn herangetragenen „Erinnerungspflicht" und der inneren Notwendigkeit, sich diesem Teil seiner Vergangenheit zu stellen: „Erinnerungsarbeit" zu leisten. Bei der Lektüre dieser Stellungnahme wird eine Ambivalenz spürbar, die auf das Problem der Beunruhigung in Ricoeurs Nachdenken über „Geschichte" und „Gedächtnis" zurückweist.

6.

Ricoeurs Umgang mit der eigenen Vergangenheit

In seiner 1995 erstmals veröffentlichten „intellektuellen Autobiografie" Réflexion faite räumt Ricoeur der Darstellung der Zeit des Krieges und seiner Gefangenschaft genau eine Seite ein. Sie beginnt damit, dass ihn der Krieg „am Ende eines schönen Sommers, den ich mit meiner Frau an der Universität München in einem Kurs zur Verbesserung meiner Deutschkenntnisse verbrachte", „überrascht" habe. Über die Zeit der Gefangenschaft äußert er sich dann durchwegs positiv: Sie „bot Gelegenheit zu einer außergewöhnlichen menschlichen Erfahrung: einem Alltagsleben, das ständig mit Tausenden von Menschen geteilt wurde, der Pflege intensiver Freundschaften, dem regelmäßigen Rhythmus eines improvisierten Unterrichts, der ungehinderten Lektüre der im Lager verfügbaren Bücher." So seien diese Jahre der Gefangenschaft, resümiert Ricoeur, sowohl in menschlicher als auch in intellektueller Hinsicht sehr fruchtbar gewesen (LA, S. 12f.). In seiner Stellungnahme 1994 zu den Texten von 1941 ist Ricoeur am deutlichsten: Ja, er habe im ersten Jahr seiner Gefangenschaft die Idee von Vichy unterstützt, er sei Teil des „Cercle Pétain" gewesen. Zugleich relativiert Ricoeur seine Teilnahme, indem er sich verschiedener - klassischer - Topoi der Rechtfertigung bedient wie zum Beispiel, 46

Für eine ausführliche Diskussion siehe C. Kleiser, Erinnerungsarbeit

(Anm. 13).

356

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dass er einer von vielen gewesen sei, dass er naiv und blind gewesen sei, dass es ihm an Urteilskraft gemangelt habe und man die Situation falsch eingeschätzt habe (siehe N). Am Ende seiner Stellungnahme unterstreicht Ricoeur, dass dies keine Rechtfertigung sei, dass er sich für sein damaliges Verhalten weder beschuldige noch entschuldige. In der Zusammenschau der drei autobiografischen Texte nimmt das ausführliche Gespräch, das Ricoeur mit Azouvi und de Launy 1994 und 1995 führte, eine besondere Position ein. Es ist bemerkenswert, dass sich einzig in diesem Gespräch Stellen finden, an denen Ricoeur sein Bedauern über sein damaliges Verhalten und sein Verhältnis zu Vichy auszudrücken vermag. Zwar ist Ricoeur im Gespräch weniger deutlich als in seiner schriftlichen Stellungnahme, und er rekurriert auch hier auf die bereits genannten Topoi der Rechtfertigung, doch lässt sich eine markante Änderung des Tons ausmachen. Ausschlaggebend dafür ist meines Erachtens der einem Gespräch eigentümliche Charakter - gemäß dem Sinnspruch audi alteram partem, mit dem Ricoeur seine Überlegungen zu einer „Ethik des besseren Arguments" als „desjenigen, das der Andere verstehen kann"47 entscheidend akzentuiert. Es zeigt sich hier, dass eine Erinnerungsarbeit, die im dialogischen Rahmen des Gefragtwerdens und des Erzählens stattfindet, zu anderen Ergebnissen führt als eine monologische „Selbstbefragung": In dem Moment, in dem es Ricoeur möglich ist, zu bedauern („je regrette mon erreur de jugement"), ändert er den Blick auf die Vergangenheit und schafft damit die Bedingung für eine andere, eine gerechtere Zukunft.

47

P. Ricoeur, „Das Gerechte zwischen dem Legalen und dem Guten", in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hamburg 2005, S. 269-293, hier S. 293 (Kursivsetzung von P. R.).

Angaben zu den Autoren

Hans-Christoph Askani, geb. 1954; Studium der ev. Theologie, Philosophie und Germanistik in Tübingen, Zürich, Paris und Berlin; Diss.: Das Problem der Übersetzung dargestellt an Franz Rosenzyveig (1997); Habilitation: Schöpfung als Bekenntnis (2006); seit 1994 Professor an der Faculté libre de théologie protestante de Paris', seit 2005 an der Universität Genf. Daniel Bradley, lehrt Philosophie an der Gonzaga University in den Vereinigten Staten. Er hat an der National University of Ireland, Galway, mit einer Dissertation über Teresa von Avila und den christlichen Mystizismus promoviert. Seine gegenwärtigen Forschungsinteressen liegen sowohl in der Religionsphilosophie als auch in der Geschichtsphilosophie (vor allem mit Bezug auf Ricoeur) und in der Philosophie des Geistes (mit Blick auf Husserl und die analytische Tradition). Andris Breitling, 1990-1994 Studium der Philosophie an den Universitäten von Kent und Warwick, England. 1994—1998 Mitglied des Graduiertenkollegs „Phänomenologie und Hermeneutik" an der Ruhr-Universität Bochum. 1998-2004 Wiss. Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin. 2005 Promotion. 2006 Forschungsaufenthalt an der École Normale Supérieure, Paris. Seit Mai 2006 wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Arbeitsschwerpunkte: Ethik der Kommunikation, Sprachphilosophie, Geschichtsphilosophie, Phänomenologie und Hermeneutik. Veröffentlichungen u.a.: Möglichkeitsdichtung - Wirklichkeitssinn. Paul Ricœurs hermeneutisches Denken der Geschichte (2007). Hrsg. (mit S. Orth): Vor dem Text. Hermeneutik und Phänomenologie im Denken Paul Ricœurs (2002); Erinnerungsarbeit. Zu Paul Ricœurs Philosophie von Gedächtnis, Geschichte und Vergessen (2004). Aufsätze und Rezensionen zur Hermeneutik, Poetik und Geschichtsphilosophie.

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A N G A B E N ZU DEN A U T O R E N

Jean Grondin, lehrt Philosophie an der Université de Montréal. Gastprofessuren in Lausanne (1998, 2000), Nizza (1999), Minsk (2001, 2002), San Salvador (2005), Port-auPrince (2008), Tucuman (2009). Bücher (u. a.): Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers (21994); Le tournant dans la pensée de Martin Heidegger (1987); Kant et le problème de la philosophie: l'a priori (1989); Einführung in die philosophische Hermeneutik (22001); L'horizon herméneutique de la pensée contemporaine (1993); Der Sinn für Hermeneutik (1994); Kant zur Einführung (1994); Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie (1999); Einführung zu Gadamer (2000); Von Heidegger zu Gadamer (2001); Introduction à la métaphysique (2004); Vom Sinn des Lebens (2006); Hermeneutik (2009). Gerald Härtung hat Philosophie, Literatur- und Religionswissenschaften studiert. Er ist zur Zeit Privatdozent für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Heidelberg und leitet den Arbeitsbereich Theologie und Naturwissenschaft an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e. V. in Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Anthropologie, Religionsphilosophie, Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts und Kulturphilosophie. Publikationen: Die Naturrechtsdebatte (1998), Maß des Menschen. Aporien der philosophischen Anthropologie und ihre Auflösung in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers (2003), sowie Philosophische Anthropologie. Reclam-Grundwissen Philosophie (2008). Er ist Mitherausgeber einzelner Bände der Nachlassausgabe Ernst Cassirers. Andreas Hetzel, wiss. Mitarbeiter für Philosophie an der Universität Darmstadt sowie Lehrbeauftragter für Medienwissenschaften in Klagenfurt. Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, antike Rhetorik, Politische Philosophie, Kultur- und Sozialphilosophie. Habilitationsprojekt zum Sprachdenken der antiken Rhetorik. Veröffentlichungen: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur (2001); Interpretationen: Hauptwerke „Sozialphilosophie" (mit G. Gamm, M. Lilienthal; 2001). Herausgeberschaften: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung (hg. mit P. Wiechens;1999); Die Gesellschaft im 21. Jahrhundert (hg. mit G. Gamm, M. Lilienthal; 2004); Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien der Gegenwart (hg. mit O. Flügel und R. Heil; 2004). Unbestimmtheitssignaturen der Technik (hg. mit G. Gamm; 2005); Die unendliche Aufgabe. Perspektiven und Grenzen der Demokratietheorie (hg. mit R. Heil; 2006); Pragmatismus. Philosophie der Zukunft? (hg. mit J. Kertscher und M. Rölli; 2008); Negativität und Unbestimmtheit. Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens (2009). Karen Joisten, api. Professorin für Philosophie an der Universität Mainz; Arbeitsschwerpunkte: Hermeneutik und Phänomenologie, narrative Philosophie, Ethik, Kulturphilosophie und Anthropologie. Veröffentlichungen u.a.: Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche (1994); Philosophie der Heimat - Heimat der Philosophie (2003); Aufbruch. Ein Weg in die Philosophie (2007); Philosophische Hermeneutik (2009). Herausgeberin u.a. von: Zwischen Mensch und

A N G A B E N ZU DEN AUTOREN

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Übermensch. Nietzsche unterwegs. Sonderband der Synthesis philosophica (1996); Abschied vom Ganzen? 2 Sonderbände der Synthesis philosophica (Nr. 25 und 26; 1998); Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (2007; Sonderband 17 der Deutschen Zeitschrift fiir Philosophie). Christina Kleiser, Lektorin am Institut für Zeitgeschichte und wiss. Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte: Geschichtstheorie und ethische Fragestellungen mit Blick auf den Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte; laufendes Forschungsprojekt: zur Fortwirkung nationalsozialistischer Vorstellungen von Recht und Moral (finanziert vom Zukunftsfonds der Republik Österreich). Der Beitrag der Autorin ist Teil ihrer Dissertation über den Begriff der „Erinnerungsarbeit". Jüngste Publikationen: „Avishai Margalit's Idea of an Ethics of Memory and its Relevance for a pluralistic Europe", in: Time, Memory, and Cultural Change, ed. S. Dempsey and D. Nesbit, Vienna: IWM Junior Visiting Fellows' Conferences 25 (2009); „Wer spricht für wen? Repräsentations- und sprachkritische Bemerkungen zur Rede vom europäischen Gedächtnis', ausgehend von der politischen Essayistik Jorge Semprúns", in: Zeitgeschichte 35 (2008) Heft 3, S. 123-137. Burkhard Liebsch, api. Prof. Dr., lehrt derzeit Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Leipzig; weitere Arbeitsschwerpunkte: Praktische, Politische und Sozialphilosophie in kulturwissenschaftlicher Perspektive; Philosophie der Geschichte, Phänomenologie, Hermeneutik. Veröffentlichungen u. a.: Geschichte im Zeichen de Abschieds (1996); Geschichte als Antwort und Versprechen (1999); Moralische Spielräume (1999); Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit - Differenz - Gewalt (2001); Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen euorpäischer Kultur (2005); Revisionen der Trauer (2006); Subtile Gewalt (2007); Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie (2008); Für eine Kultur der Gastlichkeit (2008); Menschliche Sensibilität (2008); Renaissance des Menschen? Zum polemologisch-anthropologischen Diskurs der Gegenwart (2010). (Mit-)Hrsg. u.a. von: Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs (1999); Vernunft im Zeichen des Fremden (mit M. Fischer, H.-D. Gondek, 1999); Gewalt Verstehen (mit D. Mensink, 2003); Lebensformen im Widerstreit (mit J. Straub, 2003); Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd.l (mit F. Jaeger, J. Straub, J. Rüsen, 2004); Kreuzungen - Brüche - Überschreitungen: Zwischen Hegel und Lévinas (mit B. Keintzel, i. V.). Felix Ó Murchadha, hat an der Bergischen Universität Wuppertal promoviert und ist zur Zeit Senior Lecturer an der National University Ireland, Galway. Seine Hauptforschungsinteressen sind Religionsphilosophie, Politische Philosophie (besonders Fragen der Gewalt), Heidegger, Husserl, Merleau-Ponty, Lévinas und Ricoeur. Er ist der Verfasser von Zeit des Handelns und Möglichkeit der Verwandlung (1999) und Herausgeber von Violence, Victims, Justifications (2006).

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A N G A B E N ZU DEN AUTOREN

Ilka Quindeau, Diplom-Psychologin, Diplom-Soziologin und Psychoanalytikerin (DPV/IPV), arbeitet als Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Fachhochschule Frankfurt und in eigener Praxis. Arbeitsschwerpunkte und Publikationen: psychoanalytische Konzeptforschung (Erinnerung, Trauma, Sexualität); Geschlechterforschung, individuelle und gesellschaftliche Folgen des Nationalsozialismus (v. a. Extremtraumatisierung, aktuelle gesellschaftliche Diskurse); Antisemitismus; psychoanalytische Filminterpretation. Zuletzt erschienen: Verführung und Begehren. Die psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud (2008); Psychoanalyse. Eine Einführung für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Paul Ricoeur, geboren 1913 in Valence, gestorben 2005 in Châtenay-Malabry, nach dem Studium an der Sorbonne 1945-48 Philosophielehrer, danach Dozent für Philosophiegeschichte an der Straßburger Universität; 1957-1966 Professur für Allgemeine Philosophie an der Sorbonne, ab 1966 in Nanterre; 1970-1973 in Leuven; ab 1970 zugleich regelmäßige Lehrtätigkeit an der Universität Chicago. Bis zum Ende seiner akademischen Laufbahn im Jahre 1981 wieder in Nanterre (Paris X). Wichtigste übersetzte Schriften: Geschichte und Wahrheit (1955), Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 1 (1960), Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 2 (1960), Die Interpretation: ein Versuch über Freud (1965), Hermeneutik und Strukturalismus (1969), Hermeneutik und Psychoanalyse (1969), Die lebendige Metapher (1975), Zeit und Erzählung, 3 Bde. (1983-85); Das Selbst als ein Anderer (1990), Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (2000), Wege der Anerkennung (2004). Inga Römer, geboren 1978 in Hamburg, studierte in Hamburg und Bordeaux Philosophie, Neuere Deutsche Literatur und Volkswirtschaftslehre. Danach promovierte sie in Wuppertal im Fach Philosophie mit einer Dissertation über das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricoeur. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Phänomenologie, Hermeneutik und Ethik. Derzeit ist sie wiss. Mitarbeiterin im Fach Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Dirk Rustemeyer, lehrt Philosophie an der Universität Witten/Herdecke und Bildungsphilosophie an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Kultur, Semiotik, Ästhetik und Theorie der Gesellschaft. Veröffentlichungsauswahl: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral (2001); Oszillationen. Kultursemiotische Perspektiven (2006); Diagramme. Dissonante Resonanzen: Kunstsemiotik als Kulturtheorie (2009); zus. mit D. Baecker u. M. Kettner (Hg.): Über Kultur. Theorie und Praxis der Kulturreflexion (2008). Philipp Stoellger, Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Rostock. Vorsteher des Institute for Iconicity der Universität Rostock. Studium der Theologie und Philosophie in Göttingen, Tübingen und Frankfurt a. M. Mitbegründer des Zürcher Kompetenzzentrums Hermeneutik. Publikationen (Auswahl): Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebensweltherme-

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neutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (2000); Passivität aus Passion (i. Dr.). Hg. u. a.: mit I. U. Dalferth, Vernunft, Kontingenz und Gott (2000); Wahrheit in Perspektiven (2004); Krisen der Subjektivität (2005); Interpretation in den Wissenschaften (2005); Hermeneutik der Religion (2007); mit B. Boothe, Moral als Gift oder Gabe? Zur Ambivalenz von Moral und Religion (2004); mit J. Albrecht/J. Huber/K. Imesch/K. Jost, Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung (2004); mit J. Huber/G. Ziemer/S. Zumsteg, Ästhetik der Kritik oder: Verdeckte Ermittlung (2007); Genese und Grenzen der Lesbarkeit (2007); mit J. Huber, Gestalten der Kontingenz (2008). Mirko Wischke, derzeit Gastprofessor an der Taras Shevchenko National University of Kiew, Ukraine. 1993 Promotion: Kritik der Ethik des Gehorsams. Zur Moralphilosophie von Th. W. Adorno, HU Berlin; 2000 Habilitation: Die Schwäche der Schrift und das Widerfahrnis des Denkens. Eine Untersuchung über die Philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers (2001); Gastdozent an der European Humanities University Minsk, Belarus; 2002-2005 Gastprofessor an der Philosophischen Fakultät der Palacky's University Olmiitz/Olomouc im Rahmen des Fachlektorenprogramms der Robert Bosch Stiftung; 2003-2006 Gründungsdirektor und Leiter des Deutschsprachigen Zentrums für Philosophie Scientia Humana an der Palacky's University Olmiitz/Olomouc-, 2006/07 DAAD-Gastprofessor an der Kiev Mohyla Academy Graduate School und der Solomon Universität Kiew, Ukraine; 2008 Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.

Personenregister

Adorno, T. W. 121, 148, 220 Agamben, G. 16, 26, 39-42, 44, 213 Améry, J. 46, 147 Ankersmit, F. 8 Antelme, R. 39f. Antigone 124, 142 Arendt, H. 8, 13, 32, 46, 55, 144, 192, 197, 208, 220, 226, 231, 268, 284, 305, 313f. Aristoteles 43, 57, 61, 75, 84, 86, 88, 102, 106, 116, 123, 179, 182, 188, 207, 220, 305, 344 Aron, R. 9, 298 Askani, H.-C. 11 Assmann, A. 15, 249, 257 Assmann, J. 19, 28, 248f„ 254-262 Augustinus 116f„ 123, 200, 235 Austin, J. L. 81 Azouvi, F. 10, 47, 149, 338, 345, 348, 352, 356 Baal Schern Tow (Ben Elieser, I.) 177 Barschel, U. 129 Bataille, G. 229 Beck, U. 18, 267 Benjamin, W. 14, 52, 85, 94, 219, 224, 270, 344 Benn, G. 108

Benveniste, É. 81 Benz, W. 336 Bergson, H. 9, 45, 54, 63, 106, 185, 199, 201 f. Bernet, R. 222 Bernini, X. 125 Bernstein, J. 139 Betti, E. 63 Birnbaum, D. 222 Bismarck, O. v. 124 Blanchot, M. 10, 38, 40, 210, 262 Bloch, M. 27 Blumenberg, H. 26, 194, 205, 213, 224, 255, 314, 318 Boeckh, Α. 78 Boehm, G. 180, 187 Bollnow, O. F. 284 Borges, J. L. 101 Bourdieu, P. 229 Bradley, D. 13 Brandt, W. 125 Breitling, A. 13f„ 163 Bultmann, R. Κ. 62, 64, 76 Butler, J. 87, 267 Carme, G. 337 Cassirer, E. 113, 194, 315-320, 322, 324, 328, 331

364 Certeau, M. de 149, 279f. Chladenius, J. M. 27 Cicero, M. T. 13 Cohen, H. 316, 318-320, 322 Collingwood, R. G. 34 Colliot-Thélène, C. 343 Conan, E. 336, 341, 346 Danto, A. C. 40 Darwin, C. 312 Demand, T. 115,128-131 Derrida, J. 12, 18, 42f„ 47, 52f„ 58, 61, 63, 66, 97, 118, 205, 222, 229-231, 262, 264, 266, 300, 302, 304 Descartes, R. 288 Descombes, V. 29 Diderot, D. 185, 198 Didi-Huberman, G. 180, 183, 185, 190-192, 194-196, 200 Dilthey, W. 15, 25, 62f„ 66-68, 76, 280f„ 315, 319, 323, 328, 330 Donatello 195 Dosse, F. 11,348,353 Droysen, J. G. 23, 26, 28 Dulong, R. 27 Durkheim, E. 229, 251 D'Alembert 198 D'Ans, D. 136 Eichmann, A. 145 Eliade, M. 64 Esposito, E. 122 Estrangin, L. 351 Faurisson, R. 42, 141 Feuerbach, L. 330 Fiedler, Κ. 210 Finkielkraut, Α. 43 Foucault, M. 8, 12, 192, 246-248, 250, 262 Frank, M. 88, 145 Frei, Ν. 28 Freud, S. 51, 54, 63, 65f„ 73, 134, 152f„ 163f., 166-168, 170-175, 202f„ 242, 265, 285, 287, 297, 340 Friedländer, S. 134, 143, 145f. Fukuyama, F. 218

PERSONENREGISTER

Gadamer, H-G. 11, 25, 50, 61-76, 80, 86, 144, 252, 282 Gawoll, H.-J. 82 Geertz, C. 113 Goethe, J. W. v. 316 Greisch, J. 64, 67, 76, 284, 308 Grillparzer, F. 247 Griswold, C. L. 18, 23, 53 Grondin, J. 11 Grossman, W. 32, 39, 257 Grünberg, A. 170 Günther, G. 111 Habermas, J. 58, 63, 140 Halbwachs, M. 36, 224, 249-252, 254f. Hamann, J. G. 78 Hartmann, N. 204 Härtung, G. 12, 21, 318, 322, 330 Hegel, G. W. F. 9-11, 16, 24, 31, 36, 48f„ 54, 57, 61, 82-84, 112, 117f., 124, 133, 136, 139, 218f., 227f„ 235, 239, 280, 292-294, 312-315, 317, 326-328, 330f. Heidegger, M. 15, 25, 30, 49f., 61-64, 67-70, 73, 75f„ 112, 116, 201, 213, 274-284, 286, 288, 293-295, 300, 318, 322f. Heraklit 286 Herder, J. G. 218f„ 226, 312, 316 Hetzel, A. 17, 227f. Hitler, A. 126, 145, 349 Hobbes, T. 84, 302 Hölderlin, F. 289 Homer 26 Horkheimer, M. 121, 270 Humboldt, W. v. 316 Hume, D. 217 Husserl, E. 20, 24, 50, 54, 61, 63f„ 68-70, 82-84, 98, 108, 113, 116, 182f„ 196, 199, 221f„ 235, 293f„ 296 Imdahl, M.

210

James, W. 314 Janicaud, D. 292 Jankélévitch, V. 53, 203, 265 Jaspers, Κ. 10, 63 Jauss, H. R. 63 Jenninger, R 169 Joisten, K. 20

365

PERSONENREGISTER

Jonas, H. 34 Joyce, J. 97, 147 Julien, E. 337 Jung, C. G. 64 Kant, I. 8-10, 17, 24, 39, 47, 55, 83f., 116, 135-137, 185, 206, 208, 218, 222, 227, 264f„ 268, 270, 287, 293f„ 296, 301, 306, 316f„ 342 Kertész, I. 265 Kettner, M. 170 Kierkegaard, S. 30, 213, 281, 289 Kleiser, C. 21, 172 Knopp, G. 127 Kodalle, K.-M. 230 König, H. 28 Kojève, Α. 218 Koselleck, R. 149, 250, 258-260, 312 Kracauer, S. 27 Kripke, S. 145 Kuhn, T. S. 71 Lacan, J. 54 LaCapra, D. 17, 54 Lachelier, J. 63 Lamirand, G. 352 Laplanche, J. 170 Launay, M. de 10, 47, 338, 345, 348, 352 Leenhardt, M. 64 Leeuw, G. van der 64 Lefort, C. 229 Leibniz, G.W. 2 7 , 5 2 , 7 5 , 1 1 9 Lessing, T. 219 Levi, P. 40, 42f„ 45f„ 147 Lévinas, E. 10, 26, 30-34, 36f„ 39, 41, 44, 47, 50, 190, 202, 222, 264, 277 Lévi-Strauss, C. 7, 65-67, 229, 300 Levy, D. 267 Lévy, R. 347f„ 351 Liebsch, B. 146, 173, 292, 311, 313, 337 Locke, J. 225 Löwith, Κ. 312 Loraux, Ν. 47 Lotze, R. H. 23 Ludwig XIV. 125 Lurija, Α. 17, 270 Lyotard, J.-F. 9, 42, 133-137, 139-149

Macintyre, A. 285 Mann, T. 104f. Mannheim, Κ. 250 Marcel, G. 63 Margalit, A. 39, 263 Marin, L. 136, 180, 187, 189, 193, 207 Marion, J.-L. 228, 300 Marquard, O. 313 Marrou, H.-I. 9, 27 Marx, K. 65 Mauss, M. 228f., 300 Merleau-Ponty, M. 7-9, 38, 45, 95, 97f„ 116 Michaels, A. 41 Michel, J. 67 Mitscherlich, A. 175 Mitscherlich, M. 175 Mitterrand, F. 346 Mol, H. 255 Mounier, E. 63 Moxter, M. 319, 321, 324 Nabert, J. 34, 63 Nagel, T. 52 Nietzsche, F. 15, 65, 71, 78, 113, 124, 126, 224, 246f., 254, 264f„ 285, 334, 340 Nolte, E. 143, 269, 341 Noor, A. 20 Nora, P. 28, 56, 156, 248-255, 261f. Ó Murchadha, F. Oesch, C. 337 Orth, S. 326 Osiel, M. 143

13

Palmer, R. 74 Panofsky, E. 194 Péan, P. 346 Peirce, C. S. 121 Pétain, P. 336, 348, 351, 353-355 Platon 52, 61, 82, 115, 152, 179, 181, 188, 195f., 199, 202, 207, 237, 287, 308 Proust, M. 147, 167 Quindeau, I.

13, 148, 340

Rancière, J. 13, 145 Ranke, L. v. 34, 218, 279

366 Raulff, U. 263 Ravaisson, F. 63 Reichel, P. 267 Reisigl, M. 337 Riedel, M. 286 Rochlitz, R. 335, 343 Römer, I. 20 Rorty, R. 74 Rosenzweig, F. 31, 228, 322 Rousso, H. 19, 202, 263, 268, 336f„ 341, 345-347, 350, 353 Rustemeyer, D. 11 Saint-Pierre, Β. de 270 Sartre, J.-P. 26, 30, 154, 186 Scham, S. 160 Scheler, M. 324 Schelling, F. W. J. 64 Schiller, F. 220, 316 Schlant, E. 148 Schleiermacher, F. D. E. 62, 64 Schlink, B. 148 Schmitt, C. 255 Schweitzer, A. 322, 325 Semprun, J. 41, 267 Simmel, G. 27, 126, 250 Simonides von Keos 222 Sokrates 82 Spielberg, S. 125 Spinoza, B. de 49, 75, 287 Stalin, J. W. 145 Stauffenberg, C. Schenk Graf v. 129 Stegmaier, W. 56

PERSONENREGISTER

Stoellger, P. 15, 89 Sznaider, N. 267 Taylor, C. 48, 74 Theißen, G. 262 Thukydides 27, 245 Tillich, P. 315, 318-325, 328f„ 331 Todorov, T. 19, 41 Tolstoi, L. 219 Trendelenburg, F. A. 323 Troeltsch, E. 258 Valéry, P. 91, 108 Vasari, G. 194f. Vattimo, G. 76 Veyne, P. 11 Voltaire 10, 217-219 Wajcman, G. 190 Waidenfels, B. 92-99, 107f„ 144, 148, 202 Walser, M. 169 Walzer, M. 238 Weber, M. 239, 317, 327 Weil, É. 239 Weinrich, H. 222f„ 270 Wieviorka, A. 335 Wittekind, F. 318 Wittgenstein, L. 86, 225 Wyschogrod, E. 38, 45, 47 Yorck v. Wartenberg, L. Young, J. E. 259

69, 280

Kommunitarismus und Religion M i c h a e l K ü h n l e i n (Hrsg.) Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 2 5 2 0 1 0 . 3 9 6 S. - 1 7 0 χ 2 4 0 mm, Festeinband, € 5 9 , 8 0 (für Abonnenten der DZPhil € 4 9 , 8 0 ) ISBN 9 7 8 - 3 - 0 5 - 0 0 4 6 8 7 - 7 Das normative Leitideal des Westens, der politische Liberalismus, ist in eine Krise geraten. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine Re-Lektüre der kommunitaristischen Kritik am Liberalismus, da diese in ihren vielfältigen Stellungnahmen zur Religion immer wieder vor den autonomen Verselbstständigungen einer liberalistischen Vernunft gewarnt hat. In der kommunitaristischen Reflexion geht es um die normative Präsenz der Religion in einer lebendigen pluralistischen Demokratie und um die Verwirklichung von M o r a l in Freiheit unter Bedingungen von Instrumentalismus, Schuld und Versagen. Die Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Religionskonzeptionen der kommunitaristischen Autoren; im Fokus der Aufmerksamkeit steht dabei vor allem die je spezifische Verbindung von Religion und Liberalismuskritik, wie sie uns beispielsweise in der Ablehnung der Moderne, in der zivilreligiösen Unterfütterung gesellschaftspolitischer Legitimationsverfahren oder aber in der Kritik am Rechten und der daraus resultierenden Priorisierung des Guten begegnet. Und es wird die Frage diskutiert, wie sich der Religionsbegriff des Kommunitarismus zu den reflexiven Erfordernissen einer global organisierten und pluralistisch strukturierten Welt verhält.

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Schmerzen, körperliche Erschöpfung, Erosionen oder Spuren zeitlichenVerfu* falls und ähnliches verweisen auf PltllOSOfHU Sonderbond Erfahrungen, die sich diskursiver là Einholung nicht ohne weiteres fügen. Akademie Verlag Mit dem Formlosen, der bloßen Materialität oder dem Chaos assoziiert, widersetzen sie sich den generellen Begriffen des Textes und des Verstehens. Zudem verweigern sie sich ihrer Entschlüsselung als Konstruktion - im Sinne ihrer begrifflichen Bezeichnung und Unterscheidung - wie auch ihrer Inszenierung als einer ästhetischen Praxis, weil sie in allen ihren Hervorbringungen als eine nicht aufgehende Heterogenität immer schon mitschwingen. Denn es gibt keine Arbeit ohne den Rest, keinen Diskurs ohne das Nichteinholbare oder Undarstellbare, keine Technik ohne Versagen, kein Denken ohne die Widerständigkeit der Dinge, worin sie ebenso sehr verwickelt sind, wie sie diese verleugnen. oeuTscHf

Posthermeneutik ist der Versuch, diese ,andere',,negative' Seite neu zu denken - und damit das mit einzubeziehen, was nicht Verstehen ist, aber ins Verstehen eingeht, was nicht Zeichen ist, aber notwendige Voraussetzung aller Zeichenprozesse bleibt, was nicht Sinn ist, aber die Bedeutungen stört, was nicht Medium ist, aber alle Medialität mitprägt.