Normalarbeit: Nur Vergangenheit oder auch Zukunft? 9783839434628

The concept and reality of 'normal' work - central challenges and future perspectives from an interdisciplinar

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Normalarbeit: Nur Vergangenheit oder auch Zukunft?
 9783839434628

Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Normalarbeit – Zukunft oder Vergangenheit?
Zur Geschichte des Normalarbeitsverhältnisses: Rekonstruktion und Kritik
Normalarbeit und Prekarität
Atypische Beschäftigung und Armutsgefährdung
Das Normalarbeitsverhältnis und die Firma als politische Institution
Bilder normaler Arbeit
Normalitätsvorstellungen von Arbeit im Kontext gewerkschaftlicher Organisierung
Normalisierung von Arbeit durch die Arbeitsmarktverwaltung (Österreich 1918-1938)
Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation Selbständiger
Reflexionen zur Arbeitszeit von älteren Beschäftigten – am Beispiel Österreich, Deutschland und UK (Schottland)
Die innerfamiliäre Arbeitsteilung und deren Konsequenzen für Normalarbeitsverhältnisse von Frauen
Herausforderungen an die Work-Life-Balance für Frauen und Männer im universitären Wissenschaftsfeld
Neue Beschäftigungsformen in Europa
Neue Arbeitsformen – Crowdwork
Neue Arbeit – altes Recht?
Arbeitskontexte und ihr Verhältnis zur Relevanzarbeit
Berufliche Qualifikationsrisiken jenseits des „Normalarbeitsverhältnisses“
Der Rationalisierungshorizont der Normalarbeit und die Digitalisierung von „non-routine tasks“
Normalarbeit(szeit) im Angesicht steigender Flexibilitätserfordernisse in der Wirtschaft
Auf zu neuen Normalitäten – wie weiter in der Arbeitszeitpolitik?
Autorinnen und Autoren

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Johanna Muckenhuber, Josef Hödl, Martin Griesbacher (Hg.) Normalarbeit

Gesellschaft der Unterschiede  | Band 37

Johanna Muckenhuber, Josef Hödl, Martin Griesbacher (Hg.)

Normalarbeit Nur Vergangenheit oder auch Zukunft?

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Inhalt

Einleitung: Normalarbeit – Zukunft oder Vergangenheit?

Johanna Muckenhuber / Josef Hödl / Martin Griesbacher | 7 Zur Geschichte des Normalarbeitsverhältnisses: Rekonstruktion und Kritik

Josef Ehmer | 21 Normalarbeit und Prekarität

Jörg Flecker | 41 Atypische Beschäftigung und Armutsgefährdung

Peter Stoppacher | 61 Das Normalarbeitsverhältnis und die Firma als politische Institution

Richard Sturn | 85 Bilder normaler Arbeit

Manfred Prisching | 103 Normalitätsvorstellungen von Arbeit im Kontext gewerkschaftlicher Organisierung

Saskja Schindler | 129 Normalisierung von Arbeit durch die Arbeitsmarktverwaltung (Österreich 1918-1938)

Irina Vana | 143 Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation Selbständiger

Johanna Muckenhuber | 157 Reflexionen zur Arbeitszeit von älteren Beschäftigten – am Beispiel Österreich, Deutschland und UK (Schottland)

Petra Ziegler und Heidemarie Müller-Riedlhuber | 171

Die innerfamiliäre Arbeitsteilung und deren Konsequenzen für Normalarbeitsverhältnisse von Frauen

Daniel Reiter und Cornelia Woller | 189 Herausforderungen an die Work-Life-Balance für Frauen und Männer im universitären Wissenschaftsfeld

Silvana Weiss | 205 Neue Beschäftigungsformen in Europa

Irene Mandl | 223 Neue Arbeitsformen – Crowdwork

Johannes Warter | 241 Neue Arbeit – altes Recht?

Günther Löschnigg | 253 Arbeitskontexte und ihr Verhältnis zur Relevanzarbeit

Arno Heimgartner | 273 Berufliche Qualifikationsrisiken jenseits des „Normalarbeitsverhältnisses“

Matthias Dütsch und Olaf Struck | 289 Der Rationalisierungshorizont der Normalarbeit und die Digitalisierung von „non-routine tasks“

Manfred Füllsack | 305 Normalarbeit(szeit) im Angesicht steigender Flexibilitätserfordernisse in der Wirtschaft

Florian Mosing und Ewald Verhounig | 325 Auf zu neuen Normalitäten – wie weiter in der Arbeitszeitpolitik

David Mum und Rudolf Wagner | 339 Autorinnen und Autoren | 353

Einleitung: Normalarbeit – Zukunft oder Vergangenheit? J OHANNA M UCKENHUBER / J OSEF H ÖDL / M ARTIN G RIESBACHER

„Die Mechanismen der Degradierung mögen subtiler geworden sein, die Konsequenzen zivilisierter; dennoch erzeugt die Schande der Arbeitslosigkeit Scham bei den einen, Verlegenheit bei den anderen, die einander nähren und aufschaukeln. Die Grundlage dieser Pathologie der Interaktion bildet die wechselseitige Wahrnehmung der Verletzung von Normalitätsstandards.“ HANS GEORG ZILIAN, DIE ZEIT DER GRILLE

1. E INLEITUNG Es gilt als weithin akzeptierte Einsicht in den Sozialwissenschaften, dass moderne Gesellschaften Arbeitsgesellschaften sind. Einerseits ist damit die Betonung der beruflichen Erwerbsarbeit verbunden, durch welche die Gesellschaftsmitglieder nicht nur ihre materielle Existenz, sondern auch Status, Prestige, Identität und soziale Sicherheit aufrechterhalten bzw. gar erst erreichen können (vgl. Flecker in diesem Band; Heimgartner i.d.B.). Damit Erwerbsarbeit aber diese materielle und gesellschaftliche Absicherung erfüllen kann, muss sie andererseits erst gewisse Kriterien erfüllen. Als „Goldstandard“ dieser Kriterienerfüllung hat sich im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das so genannte „Normalarbeitsverhältnis“ durchgesetzt. Dieser Begriff wurde, wie Josef Ehmer in seinem Beitrag nachzeichnet, maßgeblich durch Ulrich Mückenberger eingeführt und im späteren Verlauf über bis zu zwölf Kriterien definiert, wobei eine unbefristete und abhängige Vollzeitbeschäftigung in Verbindung mit einem angemes-

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senen Gehalt und sozialen Absicherungsmechnanismen im Regelfall im Zentrum stehen (vgl. Ehmer i.d.B.). Mehr oder minder starke Abweichungen von diesen Kriterien haben Gegenbegriffe zur Normalarbeit wie insbesondere jenen der „atypischen Beschäftigung“ entstehen lassen. In der Debatte um diese Gegenbegriffe stehen meist Flexibilisierungs- und Prekarisierungsprozesse im Vordergrund, die zum Teil erhebliche Nachteile für die Beschäftigten bedeuten können (vgl. Flecker i.d.B.; Stoppacher i.d.B.). Aber nicht nur die oft kritisierte „atypische“ Beschäftigung stellt sich als gesellschaftliche Herausforderung und Quelle von Risiken für die Beschäftigten dar, sondern auch die „typische“ Beschäftigung. Die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse wie auch vergleichsweise hohe Arbeitslosigkeitsraten sollten nicht davon ablenken, dass andere aktuelle Probleme der Arbeitswelt wie Altersarbeitslosigkeit, Frühpensionierungen, arbeitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bzw. allgemein die Frage nach der Intensität der Arbeit und damit der Arbeitsbelastung eine kritische Forschungsperspektive auch auf die Normalarbeit nahelegen. Die verbreitete Orientierung an einer 40-StundenWoche und die Bereitschaft oder Nötigung zu darüber hinausgehenden Arbeitsstunden, muss auch im Zusammenhang mit Problemen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesehen werden. Nicht zuletzt stehen Normalarbeitsverhältnisse nach wie vor in engem Zusammenhang mit einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, bei der ein Partner einen Großteil bzw. die gesamte Reproduktionsarbeit übernimmt. Neben diesem problemorientierten Zugang stellen sich aber auch noch weitere Definitionsprobleme. Als Normalarbeit können bspw. Arbeitsverhältnisse bestimmt werden, wenn sie ausgesuchte Merkmale aufweisen (z.B. „Vollzeit“ und „unbefristet“) oder in einem anderen Ansatz, wenn sie in offiziellen Statistiken besonders häufig vorkommen – Jörg Flecker bringt hier etwa die Teilzeitbeschäftigung von Frauen als Beispiel ein (Flecker i.d.B.). Je nachdem, welchen Begriffsaspekt man hervorhebt, verlieren sich dabei auch Gesichtspunkte der Arbeit aus dem Blick der Betrachtung. Die Akzeptanz von Normalitätsauffassungen kann außerdem je nach biographischer Situation und Milieu der Beschäftigten stark variieren. Die Normalität der Arbeit ist damit nicht nur eine Frage theoretischer Definitionsarbeit, sondern steht auch in Verbindung mit moralischnormativen Überlegungen: was soll als Normalität gelten bzw. was wird als Normalität herbeigesehnt? Diese Überlegungen führen zum eigentlichen Zweck dieses Buchs: die Untersuchung von „Normalarbeit“ aus unterschiedlichen Perspektiven, um ein vielseitigeres und tieferes Verständnis dieses doch noch immer leitenden Konzeptes für die Gestaltung von Arbeitswelt und Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Das

E INLEITUNG

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vorliegende Buch versammelt u.a. soziologische, ökonomische, historische, rechtliche und interessenspolitische Beiträge, die jeweils unterschiedliche Facetten und Implikationen des Normalarbeitsbegriffes ansprechen. Diese Einleitung soll ein Gesamtbild über diese verschiedenen Zugänge im Buch liefern, indem sie die verbindenden thematischen und analytischen Linien skizziert, die sich durch das gesamte Buch ziehen. Es geht um die interdisziplinäre Diskussion von Normalarbeit und gegenwärtigen Umbrüchen im Verständnis „normaler“ Arbeit. Die Auseinandersetzung beginnt bei den Merkmalen von Normalarbeit und des ambivalenten Diskurses um die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und nimmt anschließend die gesellschaftlichen Normalitätserwartungen an Arbeit und deren Entstehung breiter in den Blick. Danach werden die Normalitätsvorstellungen hinsichtlich des zeitlichen Arrangements zwischen Erwerbsarbeit und privaten Zeitanforderungen betrachtet. In der Frage der möglichen zukünftigen Herausforderungen der Normalarbeit befasst sich folgend ein Abschnitt mit neuen Arbeitstypen im Bereich der Erwerbsarbeit, aber auch mit teilweise fest etablierten und gesellschaftlich bedeutungsvollen Formen der Arbeit abseits des bezahlten Arbeitsbereiches. Darauf folgt ein abschließender wissenschaftlicher Themenblock zur Frage welche Kompetenzen in der heutigen Arbeitswelt gebraucht werden. Den Abschluss des Buches bilden zwei Beiträge mit Perspektiven aus Sicht von arbeitnehmerInnen- bzw. arbeitgeberInnenorientierten Interessensvertretungen. Die einzelnen Beiträge zeigen sukzessive eine kritische interdisziplinäre Auseinandersetzung, die auch den Blick auf arbeits-, sozial- und interessenpolitische Sichtweisen miteinbezieht. Insgesamt geht es um die zentralen und teilweise ambivalenten Merkmale von Normalarbeit sowie die Fragen, welchen Herausforderungen Normalarbeit momentan ausgesetzt ist und inwieweit sie sich, wie es der Titel des vorliegenden Buches andeutet, zur Beschreibung und Diskussion zukünftiger Bedingungen am Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt eignet. Die einzelnen Themenblöcke und Beiträge werden auf den folgenden Seiten kurz vorgestellt.

2. E ROSION

DER

N ORMALARBEIT ?

Eine der zentralen Fragen um den Begriff der Normalarbeit ist jene nach diesbezüglichen Auflösungstendenzen. Josef Ehmer führt in die Geschichte des Normalarbeitsbegriffes ein und weist bereits im Entstehungskontext des Begriffes der Normalarbeit auf auflösende Prozesse hin. Er prüft kritisch nach, für welche Beschäftigten „Normalarbeit“ tatsächlich historisch gesehen bestand hatte und

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stellt damit auch allgemein den Diskurs um den Aufstieg und die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in Frage. Ehmer geht dadurch auf kritische Distanz zur gerade in arbeitspolitischen Disputen verbreiteten Auffassung des Normalarbeitsverhältnisses als positiven Wert, der bewahrt werden muss. Insbesondere bemängelt er mit Bezug auf Ulrich Mückenberger, dass im Laufe der Zeit die kritische Auseinandersetzung mit der Normalarbeit bzw. dem Normalarbeitsverhältnis verloren ging. Kritisch auch, als dass gerade der Fokus auf Normalarbeitsverhältnisse zur politischen und wissenschaftlichen Vernachlässigung von anderen Beschäftigungsverhältnissen führen kann. Ehmer fügt hinzu: „Die Konzentration auf das Normalarbeitsverhältnis privilegiert nicht nur Erwerbsarbeit auf Kosten anderer gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten, sondern auch einen Typus von Erwerbsarbeit: abhängige und zugleich regulierte Arbeit. Das breite Spektrum an selbständigen Tätigkeiten – von ganz unten bis ganz oben auf der sozialen Leiter – kommt dabei nicht oder zu wenig in den Blick.“ Ebenso geht er auf mögliche Chancen und Gestaltungsspielräume ein, wenn es etwa um den Wechsel von Arbeitsplätzen und Berufen geht oder auch um Arbeitsformen abseits der Lohnarbeit. Jörg Flecker beschäftigt sich mit Bezug auf das politisch umkämpfte und von historischen Rahmenbedingungen beeinflusste internalisierte Lohnarbeitsverhältnis mit den grundlegenden soziologischen Zugängen zum Problem der Normalarbeit und der Erfassung von Abweichungen in Form von atypischer Beschäftigung und Prekarisierung. Einerseits macht er deutlich, dass nicht alle Beschäftigungsverhältnisse, die derzeit als atypische Beschäftigung bezeichnet werden, auch gleichsam als prekäre Abweichungen von Normalarbeitsverhältnissen gesehen werden sollten (wie z.B. die Teilzeitbeschäftigung, die sich nur hinsichtlich des Arbeitszeitausmaßes unterscheidet). Andererseits weisen seine Ausführungen zu den machtpolitischen Kämpfen um die Rahmenbedingungen und die politische Regulierung der Erwerbsarbeit auch auf tatsächliche Gefährdungen der sozialen Absicherung von Beschäftigten hin. Zentraler Bezugspunkt seines Beitrages bleibt die Frage, wie durch Lohnarbeit auch eine ausreichende soziale Absicherung für die Beschäftigten gewährleistet sein kann. Der Beitrag von Peter Stoppacher schließt an Fleckers Analysen vertiefend an, indem er deutlich macht, dass Arbeit nicht immer vor Armut schützt. Stoppacher erklärt, wie Armut gemessen wird und was unter dem Begriff „Working Poor“ zu verstehen ist. Der Beitrag zeigt, welche Beschäftigungsgruppen besonders stark und in welchem Ausmaß von Armutsgefährdung betroffen sind, welche Zusammenhänge mit atypischer Beschäftigung bestehen und beleuchtet kritisch, in welchem Ausmaß Transferzahlungen zwar unterstützen, aber oft nicht mehr existenzsichernd sind. Stoppacher betont, dass gerade die gezielte Ab-

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stimmung der gesellschaftlichen Absicherungssysteme (z.B. Sozial- und Pensionsversicherungen) auf Normalarbeitsverhältnisse Risiken für andere Beschäftigungsverhältnisse bedeuten kann. Richard Sturn diskutiert die ökonomische Rolle des Normalarbeitsverhältnisses in kapitalistischen Marktwirtschaften. Als Kontrastfolie wird jenes wirtschaftswissenschaftliche Standardkonzept von Arbeitsbeziehungen vorgestellt, das den Arbeitsmarkt als Markt wie jeden anderen behandelt und entsprechend regulierende Eingriffe ablehnt. Er zeigt, dass dieses Konzept oder die zugrundeliegende Arbeitsmarkttheorie den empirisch relevanten Eigenheiten von Arbeit nicht Rechnung tragen – denn sie enthalten eine inhärente Unvollständigkeit von Arbeitsverträgen. Firmen als Institution weisen eine Doppelnatur auf: einerseits als Netz vertragsförmiger Beziehungen und andererseits als politische Institution. Das Normalarbeitsverhältnis ist ein institutionelles Arrangement, das sich als Antwort auf die „politische“ Seite firmenförmiger Kooperationen begründen lässt. In Folge diskutiert er einige Gedankenexperimente, die auch als Stilisierung bestimmter historischer Epochen in der Geschichte kapitalistischer Marktwirtschaften aufgefasst werden können, u.a. die katallaktische bzw. kapitalistische Firma im Minimalstaat bzw. unter sozialliberaler Verteilungsregulierung. Diese Firmen müssen arbeitsrechtlichen Normen folgen, informelle Standards und ethische Normen beachten und die gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht der Beschäftigten in Rechnung stellen.

3. G ESELLSCHAFTLICHE E RWARTUNGEN AN „ NORMALE “ ARBEIT Manfred Prisching befasst sich mit verschiedenen Bildern der Arbeit, die mit unterschiedlichen Erwartungen und Hoffnungen verbunden sind. Er diskutiert beispielswiese romantische und moralische, wie auch individualistische und technokratische sowie marktliche und konsumistische Elemente in bestehenden gesellschaftlichen Diskursen. Dadurch wird deutlich, wie breit gesellschaftliche Normalitätserwartungen auch heute noch gestreut sein können. Eine protestantische Arbeitsethik vermittelt etwa ganz andere Vorstellungen normaler Arbeit als die Hoffnungen auf Selbstverwirklichung oder Karriere und Aufstieg in der Erwerbstätigkeit. Prischings Beitrag weist darauf hin, wie sehr verschiedene Bilder von Arbeit unsere Auseinandersetzung mit ihr beeinflussen können und wie diese Bilder auch eine Form von ambivalenten sozialen Druck auf die Gesellschaftsmitglieder auslösen können, da Beschäftigte heute in unterschiedlichem

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Ausmaß mit optimistischen bis negativen bzw. emotionalen bis kalkulierenden Perspektiven auf Arbeit konfrontiert sein können. Die Beiträge von Irina Vana und Saskia Schindler reihen sich im Anschluss als Beispiele für die Wirkung gesellschaftlicher Normalitätserwartungen an, indem sie in zentralen arbeitspolitischen Institutionen Kämpfe um Normalisierung untersuchen. Schindler identifiziert neben der Mitgliederkrise der österreichischen (und auch der deutschen) Gewerkschaften darüber hinausgehende Probleme wie ein zunehmendes Defizit in der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen auf Betriebsebene. Als Grund werden die zunehmenden atypischen Beschäftigungsverhältnisse in Österreich gesehen. Im Beitrag von Schindler wird thematisiert, welche Bedeutung die Normalitätsvorstellungen von GewerkschafterInnen1 für die alltägliche Organisationspraxis haben. Sie behandelt dabei, welche konkreten Probleme GewerkschafterInnen und BetriebsrätInnen im Versuch erfahren, unterschiedliche Gruppen von ArbeitnehmerInnen zu organisieren und kann aufzeigen, dass diese dabei gerade auf die Anwesenheit der Beschäftigten in einem Betrieb angewiesen sind. In dieser Hinsicht sind Gewerkschaften geradezu auf die traditionelle Normalarbeit angewiesen. Vana untersucht das Phänomen der Arbeit und die Normalisierung der Arbeit durch die Arbeitsmarktverwaltung aus historischer Perspektive für die Jahre von 1918 bis 1938 in Österreich. Sie stellt die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchung dar und erklärt, welche Tätigkeiten eher als Arbeit anerkannt wurden, wodurch der Bezug von Arbeitslosengeld ermöglicht wurde, aber auch die Probleme der Personen, die in Haushalt oder Landwirtschaft tätig waren und somit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld erwarben. Vanas Forschung gibt Einblick in den historischen Prozess der sozialstaatlichen Durchsetzung von normaler Berufsarbeit.

4. N ORMALARBEIT – N ORMALARBEITSZEIT ? Die Beiträge von Muckenhuber, Ziegler/Müller-Riedlhuber, Reiter/Woller und Weiss liefern einen Blick über bzw. an den „Tellerrand“ von Normalarbeitsverhältnissen, indem sie die Arbeitszeitarrangements von Selbständigen, älteren Beschäftigen, innerfamiliärer Arbeitszeitverteilung und Arbeitszeiten an Universitäten thematisieren. In den Beiträgen wird die Frage nach Normalarbeit stärker

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Den AutorInnen der einzelnen Beiträge wurde es selbst überlassen, sich für eine Variante der Berücksichtigung der Geschlechter zu entscheiden.

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auf die Arbeitszeitproblematik fokussiert: das alltägliche Wechselspiel von formellen Arbeitszeiten und informellen privaten Zeitarrangements außerhalb der Erwerbsarbeit. Johanna Muckenhuber beschäftigt sich mit Fragen der Arbeitsdefinition, Arbeitszeit und Arbeitsorganisationen von Solo- und Mikroselbständigen. Anders als in unselbständiger Beschäftigung ist die Frage, ob unproduktive Tätigkeiten, Stehzeiten und Weiterbildung zur Arbeitszeit gezählt werden, nicht eindeutig zu beantworten. Ausgehend von divergierenden Definitionen von Arbeit innerhalb der sozialwissenschaftlichen Literatur analysiert sie in einem qualitativen Forschungsansatz die subjektiven Sichtweisen und Deutungen von Arbeit und entwickelt eine Typologie der subjektiven Arbeitsdefinitionen. Festgehalten wird auch, da selbständig Beschäftigte ihre Arbeitszeiten selbst organisieren können und müssen, dass die Beschreibung der Arbeitszeiten und der Arbeitsorganisation die subjektive Definition der Arbeit und die Beantwortung der Frage, in welchem Ausmaß Reproduktionsarbeiten erfüllt werden müssen, zu berücksichtigen hat. Unter dieser Prämisse kann die Arbeitsorganisation sinnvoll abgebildet werden und der subjektive Bedeutungsgehalt und das Erleben der unterschiedlich langen Arbeitszeiten hinsichtlich der Intensität und Intensivierung der Arbeit gedeutet werden. Petra Ziegler und Heidemarie Müller-Riedlhuber bearbeiten in ihrem Beitrag das Thema der Arbeitszeiten älterer Beschäftigter in Österreich, Deutschland und Schottland. Sie beschreiben die demographische Entwicklung und die Erwerbsbeteiligung Älterer in den drei Ländern, die unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich des Pensionsalters und gehen schließlich auf die Verteilung von Voll- und Teilzeitarbeit sowie auf die Frage nach alter(n)sgerechten Arbeitszeiten ein. Die im Beitrag eher implizite Problematisierung von „normalen“ Arbeitszeiten für ältere Beschäftigte kann exemplarisch mit der Altersteilzeit in Deutschland und Österreich angedeutet werden. Während die sozialpolitische Erwartung eher in Richtung gesundheitsfördernder kürzerer Arbeitszeiten geht, wird diese in der Praxis eher als Blockvariante umgesetzt – die älteren Beschäftigten bleiben also bei den gewohnten längeren Normalarbeitszeiten und gehen dafür früher in Pension. Daniel Reiter und Cornelia Woller behandeln die innerfamiliäre Arbeitsteilung und die entsprechende Verbindung zu den Erwerbsmöglichkeiten von Frauen. Dabei diskutieren sie einerseits das Erwerbsarrangement als innerfamiliären Aushandlungsprozess und andererseits kulturell geformte soziale Normen, welche zu den derzeit ungleich verteilten Chancen auf Arbeitsmarktpartizipation beitragen. Etablierte Normalitätsvorstellungen in Bezug auf die Erwerbsarbeit spielen so eine gewichtige Rolle dabei, wie Erwerbsarbeitszeit und insbesondere

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traditionell unbezahlte Arbeit innerhalb von Familien überhaupt erst ausverhandelt werden kann. In diesem Sinne sind in der Frage der Arbeitsmarktpartizipation von Frauen nicht nur Bilder von normaler Arbeit, sondern auch von familiärer Arbeitsteilung relevant. Silvana Weiss beleuchtet das Spezifikum der Work-Life Balance am Beispiel der wissenschaftlichen Arbeit unter besonderer Berücksichtigung des Geschlechts. Sie fragt, ob an den Universitäten die Gleichstellung schon erreicht ist und welche Hürden noch bestehen und bearbeitet die Problemfelder der Karriereunsicherheit, der Erwartungen über die zeitliche Verfügbarkeit in Zusammenhang mit dem Ideal der Entgrenzung und der geographischen Mobilitätsanforderungen aber auch einer gesteigerten Arbeitsintensität und beendet ihren Beitrag mit dem Aufruf, bessere Karriereperspektiven für JungwissenschaftlerInnen zu gewährleisten.

5. ARBEIT ABSEITS DER N ORMALARBEIT VON ANGESTELLTENVERHÄLTNISSEN

UND ABSEITS

Die nachfolgenden Beiträge führen zunächst in der Europäischen Union neu aufkommende Beschäftigungsformen ein (Mandl) und schildern mit „Crowdwork“ vertieft eines der aktuell prominentesten neuen Beschäftigungstypen. Günther Löschnigg baut auf diesen Beiträgen auf, um die Herausforderungen für das aktuelle System des Arbeitsrechts zu schildern, die infolge derartiger neuer Beschäftigungsformen aufkommen. Dass Arbeit aber nicht nur eine Frage bezahlter Erwerbsarbeit ist, sondern dass es außerhalb der verberuflichten Lohnarbeit auch noch andere Arbeitskontexte gibt, die Aufmerksamkeit benötigen, zeigt der sozialpädagogische Beitrag von Arno Heimgartner. Irene Mandl erklärt in ihrem Beitrag, was unter verschiedenen neuen Beschäftigungsformen zu verstehen ist. Sie stellt in einem zwei-dimensionalem Raum mit den Achsen des Beschäftigungsverhältnisses (ArbeitnehmerInnen – Selbstständige) und der Arbeitsweise dar, wie Mitarbeitersharing, Job sharing, Beschäftigung auf Grund von Gutscheinsystemen, Interimsmanagement, Portfolioarbeit, Crowdsourcing, Gelgenheitsbeschäftigung, IKT-gestützte mobile Tätigkeiten und kooperatives Arbeiten funktionieren und welche Handlungsempfehlungen in Hinblick auf die Arbeitsbedingungen gegeben werden können. Als Herausforderung hebt sie dabei einerseits hervor, dass jene neuen Beschäftigungstypen, die Vorteile für Beschäftigte bedeuten könnten, kaum bekannt sind und andererseits dass es insbesondere für diese Beschäftigungsformen noch

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Maßnahmen für eine bessere rechtliche Erfassung und eine Stärkung der Sicherheitsnetze braucht. Johannes Warter erörtert, dass technologische Entwicklungen (besonders im Bereich der Kommunikations- und informationstechnologie) gravierende Auswirkungen auf unser gesamtes Leben haben. Sie entwickeln und verändern bestehende Arbeitsverhältnisse, schaffen neue Beschäftigungsformen, passen aber nicht in unsere bestehenden rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, da diese von einem Normalarbeitsverhältnis als Regelfall ausgehen. Der 2015 erschienene Bericht von Eurofound über „New Forms of Employment“ (auf dem Mandls Beitrag basiert) strukturierte und fasste neue Formen in neun verschiedenen Kategorien zusammen. Johannes Warter fokussiert mit Crowdwork auf eine dieser neuen Formen. Darunter versteht man eine Weiterentwicklung von Outsourcing und meint die Auslagerung und Vermittlung von Arbeitsund Kreativprozessen über Internetplattformen an die Masse der Internetnutzer. Crowdwork hat sich zu einer riesigen Industrie entwickelt, birgt erhebliche Vorteile für ArbeitgeberInnen und eine Vielzahl an Gefahren für ArbeitnehmerInnen: neben einer hohen Ausbeutungsgefahr für CrowdworkerInnen, kann durch das Entstehen einer zweiten Entgeltlinie bzw. eingesetzt als Streikbrecher erheblicher Druck auf Stammbelegschaften ausgeübt werden. Günther Löschnigg befasst sich mit den arbeitsrechtlichen Konsequenzen der neuen Arbeitsformen, indem er unterschiedliche Aspekte in etablierten Arbeitsrechtsnormen diskutiert, die durch neue Beschäftigungsformen herausgefordert werden. Beispielsweise entstehen durch neue flexiblere und durch Informationsund Kommunikationstechnologien veränderte Arbeitsbedingungen Schwierigkeiten, klassische Merkmale der unselbständigen Beschäftigung festzustellen. Die rechtliche Normierung von Arbeitsverhältnissen erfüllt nach Löschnigg einerseits eine wesentliche Schutzfunktion für Beschäftigte, verhindert aber andererseits auch eine produktive Anpassung an neue veränderte Arbeitsbedingungen. Denn neue Beschäftigungstypen müssten nicht automatisch dadurch als ungünstig für Beschäftigte wirken, als dass sie sich von etablierten Normalarbeitsverhältnissen unterscheiden. Arno Heimgartner setzt sich in seinem Beitrag allgemeiner mit dem Begriff der Arbeit auseinander. Er diskutiert, wie viel Zeit für bezahlte und unbezahlte Arbeit in unterschiedlichen Kontexten verwendet wird. Heimgartner setzt sich in seinem Beitrag auch kritisch damit auseinander, welche gesellschaftliche Relevanz eigentlich unterschiedlichen Arbeitstypen zukommt (etwa in Hinblick auf das freiwillige Engagement). Er wirft die Frage auf, wie sich Veränderungen im Zeitausmaß für Arbeit in unterschiedlichen Kontexten (privat wie beruflich) auswirken würden (beispielweise verstärkte soziale Inklusion durch mehr Zeit

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für Familienarbeit oder Zunahme von persönlichen Problemen bei zu geringer Zeit für Eigenarbeit).

6. W ELCHE K OMPETENZEN

BRAUCHT DIE

ARBEIT

HEUTE ?

Die folgenden beiden Beiträge befassen sich insofern auch mit der evtl. fraglichen Zukunft der Normalarbeit, indem sie der Frage nachgehen, welche Kompetenzen am Arbeitsmarkt benötigt werden und wie sich unterschiedliche Kompetenzen auf die Berufschancen auswirken. Matthias Dütsch und Olaf Struck verweisen auf neue Ansätze der Arbeitssoziologie, die argumentieren, dass in einem Normalarbeitsverhältnis sehr wohl der Aufbau und Erhalt von betriebs- oder berufsspezifischem Humankapital möglich ist. Jedoch zeigen in jüngerer Zeit Mobilitätsanalysen zunehmende Destabilisierungs- und Destandardisierungstendenzen im Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund gehen die Autoren der Frage nach, ob sich auch berufliche Mobilitätsprozesse am Arbeitsmarkt verändert haben und welche Relevanz verschiedenen Beschäftigungsformen dabei zukommt. Die Ergebnisse ihrer empirischen Längsschnittstudie zeigen, dass sich die Risiken der beruflichen Mobilität erhöht haben und dass sich diese veränderten Mobilitätsmuster auf die gestiegene Volatilität der Märkte und den Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses zurückführen lassen. Obwohl das Normalarbeitsverhältnis an Bedeutung verloren hat, bleibt es letztlich ein zentraler Orientierungspunkt in der Diskussion um die Stabilität bzw. Erosion der Beruflichkeit und stellt weiterhin ein wesentlicher Faktor für die Verringerung sozialer Ungleichheit dar. Manfred Füllsack konzentriert sich auf das für zukünftige Arbeitsmarktentwicklungen brisante Thema der weiter zunehmenden Automatisierung und Digitalisierung. Dafür thematisiert er auf Basis eines „task-based approaches“, welche Bedeutung den Routineelementen von Arbeitskompetenzen zukommt und wie infolge der Verbreitung digitaler Maschinen Bedrohungen für (Normalarbeits-)Arbeitsplätze entstehen. Um die mögliche Rolle digitaler Maschinen für den zukünftigen Arbeitsmarkt zu behandelt, bringt er eine systemwissenschaftliche Perspektive ein, die den Gesamtzusammenhang von wirtschaftlicher Produktionsweise und darauf abgerichteter Arbeitsverhältnisse theoretisch fassbar macht. Im Zuge seiner Auseinandersetzung weist er aber nicht nur auf die mögliche leichte Ersetzbarkeit von Jobs mit einem hohen Anteil von Routineaufgaben hin, sondern auch von höher qualifizierten Arbeitsaufgaben, die als vor der Ersetzung durch digitale Maschinen eher geschützt wahrgenommen werden (z.B. juridische Fachgutachten oder Wertpapierhandel). Neben dieser systemwissen-

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schaftlichen Untersuchung von Produktion und Routinearbeit geht er auch auf die Rolle jener eben nicht routineförmigen Arbeit ein, die zur Erstellung der digitalen Maschinen beiträgt. Füllsack erläutert, dass etwa Noch-Nicht-Beschäftigte in der Erwartung späterer kompensierender Erträge auch unentgeltlich Entwicklungsarbeit zur Verfügung stellen. In dieser Hinsicht stellt gerade der mittels unentgeltlich gewonnener Reputationsgewinne geführte Kampf um bessere Chancen auf Beschäftigung und Karriere – also die Hoffnung auf ein Normalarbeitsverhältnis – eine exemplarisch sehr ambivalente Entwicklung in der Frage nach den Zukunftschancen der Normalarbeit dar.

7. P ERSPEKTIVEN AUS S ICHT VON I NTERESSENSVERTRETUNGEN Das System der Normalarbeit ist historisch gesehen aus einer Reihe von politischen Aushandlungsprozessen entstanden. Die Frage der Erwerbsarbeit war immer Gegenstand unterschiedlicher Interessenskonstellationen zwischen ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInnenvertretungen. Aus diesem Grund schließt das Buch mit zwei interessenpolitischen Beiträgen, die insbesondere auf den arbeitsrechtlichen Rahmen der Arbeitszeitgestaltung fokussieren. Florian Mosing und Ewald Verhounig beschäftigen sich mit der Frage, wie flexible Arbeitszeiten im Interessenausgleich von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen aktuell gestaltet werden könnten. Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Entwicklungen und Strukturveränderungen diskutieren sie, inwieweit Normalarbeit dabei in Frage steht und welche Probleme damit verbunden sind. Als zentrale Herausforderung bestimmen sie erhöhte Flexiblitätserfordernisse der Wirtschaft und steigende Lohn- und Arbeitskosten. Das Normalarbeitsverhältnis aber müsse nicht starr verstanden werden, da es ohnehin immer schon einem gewissen Wandel unterliegt, und entsprechend könne es auch für neue veränderte Wirtschafts- und Lebensbedingungen angepasst werden. Rudolf Wagner und David Mum diskutieren verschiedene Konzepte der Arbeitszeitverkürzung. Ausgehend von steigenden Beschäftigtenzahlen bei einem stagnierenden Erwerbsarbeitsvolumen sinkt die durchschnittlich geleistete Wochenarbeitszeit. Konkret führt diese Entwicklung in Österreich zu einer stagnierenden (oder sogar leicht sinkenden) Vollzeitbeschäftigung bei starkem Anstieg der (weiblichen) Teilzeitbeschäftigung. Sie befassen sich mit der Beschäftigungswirksamkeit von Arbeitszeitverkürzungen sowie deren Beitrag zu einer angemesseneren Verteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit. Es bedarf allerdings der Berücksichtigung individueller und lebensphasenspezifischer

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Zeitbedürfnisse von ArbeitnehmerInnen. Der bevorstehende technologische Wandel und das hohe Ausmaß an Arbeitslosigkeit machen es nötig, bisherige Arbeitsstandards weiterzuentwickeln. Bei höheren Automatisierungswahrscheinlichkeiten für geringere Qualifikationen und der Annahme, dass die technologischen Veränderungen derzeit mehr Arbeitsplätze zerstören als sie neu schaffen, müsste neue Beschäftigung auch in anderen Branchen geschaffen werden.

8. R ESÜMEE Wie normal ist das Normalarbeitsverhältnis bzw. wie normal sollte es sein? Bedeuten Abweichungen bei zentralen Merkmalen zugleich neue Risiken für die Beschäftigten in Form von Prekarisierung? Welche Rolle spielt allgemein die sozialökonomische Absicherung der Erwerbstätigen in verschiedenen Beschäftigungstypen? Bringt die Dominanz des Normalarbeitsverhältnisses gar Probleme für andere bezahlte und auch unbezahlte Arbeitstypen hervor? Schränkt Normalarbeit zu sehr mögliche Gestaltungsspielräume von ArbeitgeberInnen aber auch ArbeitnehmerInnen ein? Sind gegenwärtige Normalitätserwartungen mit möglichen zukünftigen Entwicklungen kompatibel? Dies sind zentrale Fragen, die durch die Beiträge aufgeworfen werden. Die interdisziplinären Auseinandersetzungen bringen dabei vor Allem eines nicht hervor: die Diskussion einer singulären und mit einheitlichen Erwartungen konfrontierten Normalität. Insgesamt können wir sehen, dass historisch, gegenwärtig und zukünftig unterschiedliche Normalitätserwartungen an Arbeit gestellt wurden und werden. Normalarbeit stellt sich dabei zumindest zum Teil als ambivalentes Muster heraus. So entwickelte sich einerseits das Normalarbeitsverhältnis mit seinen abhängigen, unbefristeten und auf Vollzeit abgeschlossenen Dienstverträgen und dessen sozialökonomischer und -staatlicher Absicherung zu einem zentralen Anker gelungener gesellschaftlicher Teilhabe. Deutlich zeichnet sich aber auch eine Anerkennungs- und Absicherungsproblematik bei anderen Arbeitsformen, die abseits dieser Normalarbeit Bestand haben bzw. zunehmend Verbreitung finden. Trotz eines dominierenden Verständnisses von Normalarbeit bleibt also eine gegenwärtige und zukünftige Vielfalt an Normalitäten sichtbar. Das bedeutet aber nicht, dass die – wenn auch historisch gesehen relativ kurzzeitig – etablierten Normalitätserwartungen keinen grundlegenden moralischen Punkt treffen: Erwerbsarbeit soll mit einem niedrigen Risiko für Armut und Gesundheitsbelastung verbunden sein – was insbesondere eine arbeitsrechtliche und sozialstaatliche Herausforderung darstellt. Andere etablierte Merkmale der Normalarbeit

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scheinen strittiger zu sein. Vollzeit für einen Betrieb tätig zu sein, hat weniger mit der moralischen Verantwortung der Gesellschaft für ihre Mitglieder zu tun, als mit jenem Gleichgewicht der Interessen von ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen, das sich in einem auf Verteilungsgerechtigkeit ausgerichteten politischen Kampf historisch – zumindest scheinbar – etabliert hat.

D ANKSAGUNG Ein Großteil der Beiträge dieses Buches entstanden infolge der interdisziplinären Tagung „Denkwerkstätte Graz: Normalarbeit – Vergangenheit oder Zukunft?“, die 2015 in Graz an der Fachhochschule JOANNEUM in Kooperation mit der Karl-Franzens-Universität Graz stattfand. Die Denkwerkstätte Graz wurde zunächst zwischen 1995 und 2005 mehrmals unter der wissenschaftlichen Leitung des Soziologen Hans Georg Zilian, der sich in einer Reihe von Publikationen und Forschungsprojekten mit zentralen Entwicklungen am Arbeitsmarkt und in der Arbeitswelt befasst hat, organisiert und schließlich 2015 anlässlich seines zehnten Todestages von den HerausgeberInnen dieses Buches wieder ins Leben gerufen. Die Tagung wurde maßgeblich durch die finanzielle Unterstützung des Arbeitsmarktservice Steiermark ermöglicht, dem wir entsprechend großen Dank aussprechen möchten. Dank gilt auch der Stadt Graz, der Wirtschaftskammer Steiermark und der Arbeiterkammer Steiermark, die sich ebenso finanziell an der Tagung beteiligt haben. Schließlich danken wir noch allen AutorInnen in diesem Buch, die gemeinsam mit den FördergeberInnen zum intensiven Austausch mit der interdisziplinären Arbeitsforschung und auch mit PraktikerInnen am Arbeitsmarkt beigetragen haben.

Zur Geschichte des Normalarbeitsverhältnisses: Rekonstruktion und Kritik 1 J OSEF E HMER

1. E INLEITUNG Die Geschichte des Normalarbeitsverhältnisses ist ein umfassendes Thema, in das mein kurzer Beitrag nur wenige Schneisen schlagen kann. Drei Aspekte sollen dabei im Vordergrund stehen. Erstens möchte ich einen kurzen Blick auf die Begriffsgeschichte der „Normalarbeit“ werfen, also darauf, in welchem historischen Kontext der Begriff und das Konzept entstanden sind und welche historischen Veränderungen wir beobachten können. Zweitens interessiert mich die Realität der Arbeitsverhältnisse, also die Frage, ob bzw. wann, in welchem Ausmaß oder für wen es „Normalarbeit“ in der Vergangenheit überhaupt gegeben hat. Das Fragezeichen im Titel dieses Buches sollte sich also nicht nur auf die Zukunft beziehen, sondern auch auf die Vergangenheit. Und drittens gilt mein besonderes Interesse einem historischen Narrativ, das – in den Geschichtswissenschaften wie in den Sozialwissenschaften, im öffentlichen und im politischen Diskurs – zu einer Art Standarderzählung über die Geschichte des Normalarbeitsverhältnisses geworden ist, nämlich das Narrativ von seinem Aufstieg

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Eine erste und ausführlichere Version dieses Beitrags wurde im Jänner 2015 auf der Konferenz „Zum Verhältnis von global- und nationalhistorischen Ansätzen in der Arbeitergeschichte: Spannungen, Anregungen, Verbindungen“ am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ (re:work) an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Diskussion gestellt.

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und Niedergang bzw. von der Durchsetzung und anschließenden „Krise“ oder „Erosion“ der Normalarbeit.

2. V OM N ORMALARBEITSTAG ZUM N ORMALARBEITSVERHÄLTNIS Die begriffliche Zuschreibung von „Normalität“ zu spezifischen Formen von Arbeit, Arbeitsorganisation und Arbeitsverhältnissen beginnt mit dem Arbeitstag. Im 19. Jahrhundert entstand der Begriff des „Normalarbeitstages“, der von Anfang an als Acht-Stunden-Tag als Teil einer 48-Stunden-Woche verstanden wurde. Diese Begrifflichkeit entwickelte sich im Wechselspiel zwischen bürgerlichen Sozialreformern und Theoretikern der Arbeiterbewegung auf der einen Seite und realen Forderungen und Kämpfen von verschiedenen Gruppen der Arbeiterschaft auf der anderen. Am Beginn stand Robert Owen (1771-1858) und seine „Society for Promoting National Regeneration“, für die er 1833 einen Katechismus (Catechism) verfasste und in der von ihm herausgegeben Zeitschrift „The Crisis“ veröffentlichte. Darin verknüpfte er die Forderung nach einer maximalen Arbeitszeit von acht Stunden am Tag mit der Forderung nach einem Minimum an Bezahlung, die den Arbeitern einen – umfassend definierten – Lebensstandard garantieren sollte: „A sufficiency of good food, lodging, clothes, furniture, knowledge, and recreation for all thus employed and their families.“ (Owen 1833: 114) Diese Forderungen verbreiteten sich in den Arbeiterbewegungen der gesamten angelsächsischen Welt: Zunächst in England und Schottland, in den 1850erJahren in Australien, und in den 1860er-Jahren in den USA, wo – wenn ich richtig sehe – 1866 zum ersten Mal der Begriff des „normalen“ Arbeitstages Verwendung fand. „Eight hours shall be the normal working day“, lautete die Forderung der „Eight-Hour-League“ und der „National Labor Union“ (Gueorguieva 2009: 49). Von der (auch: deutschsprachigen) amerikanischen Arbeiterbewegung übernahm Karl Marx den Begriff, sowohl für den Forderungskatalog der Ersten Internationale, wie auch für seine theoretischen Überlegungen. Der Begriff des „Normalarbeitstags“ spielt bekanntlich eine wichtige Rolle im achten Kapitel des Ersten Bandes des „Kapital“, das den Arbeitstag behandelt. Marx widmet dabei dem „Kampf um den Normalarbeitstag“ eine längere und weit zurückgreifende historische Ableitung (Marx 1867/1969: 271-320). Während Owen den AchtStunden-Tag als historisch unveränderliche Obergrenze der physischen und geistigen Arbeitsfähigkeit des Menschen ansah („the utmost period that the human

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race can work physically or mentally per day“ Owen 1833: 114), spricht Marx von „elastischen Schranken“ des Arbeitstags und vom Arbeitstag als „variable Größe“. Die „Schöpfung eines Normalarbeitstags“ ist für ihn das Ergebnis von Klassenkämpfen, sowohl von unten wie von oben (Marx 1867/1969: 246, 249, 316). Zugleich stellt er ihn in den breiteren Rahmen gesellschaftlicher Regulierung: Der „Trieb des Kapitals nach maß- und rücksichtsloser Verlängerung des Arbeitstags“ rufe „dann im Gegensatz die gesellschaftliche Kontrolle hervor, welche den Arbeitstag mit seinen Pausen gesetzlich beschränkt, reguliert und uniformiert.“ (Marx 1867/1969: 315) Gesetzliche Regulierung bedeutete für Marx auch die Verallgemeinerung eines „normalen“ Arbeitstags über spezifische Arbeitsverhältnisse hinaus, von der modernen Fabrikindustrie hin zu allen abhängig Beschäftigten einschließlich der Heimarbeiter. Von den 1960er-Jahren an wurde der achtstündige Normalarbeitstags zu einer der zentralen und vereinheitlichenden Forderungen der internationalen Arbeiterbewegung. In der Zweiten Internationale verband sich eine pragmatische Zielstellung, der Ruf nach einer „Arbeiter-Schutz-Gesetzgebung“, mit einer revolutionären Rhetorik: Der „achtstündige Normalarbeitstag ist ein erster Schritt zur Befreiung der Arbeiter vom Kapital“, formulierte ein Redner auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale (Gueorguieva 2009: 105). In den sozialdemokratisch geprägten Sozialreformen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ging schließlich der Acht-Stunden-Tag in einigen europäischen Staaten (1919 in Deutschland und Österreich) in die Sozialgesetzgebung ein. Es handelte sich beim Normalarbeitstag also um ein normatives Konzept, das allerdings, so die Erwartung, in sozialen Auseinandersetzungen und durch staatliche Eingriffe in die kapitalistische Ökonomie zur Realität werden könne. Drei Punkte scheinen mir dabei interessant zu sein: Die früheste Realisierung eines Normalarbeitstags können wir in einer Reihe von amerikanischen Stadtverwaltungen beobachten, etwa in New York, Boston und Baltimore, die schon 1865 den Achtstundentag einführten – ein frühes Beispiel zur Rolle des öffentlichen Dienstes als Schrittmacher und idealtypische Verkörperung des sogenannten „Normalen“ in der Arbeitswelt (Gueorguieva 2009: 50). Zweitens fallen diese Anfänge zusammen mit der Durchsetzung des männlichen Alleinverdienermodells (male breadwinner/female housekeeper) in Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung, das Konzept war also von Anfang an männerzentriert. Und Drittens ist interessant, was im späten 19. Jahrhundert noch nicht zur Normalarbeit gezählt wurde, nämlich langfristige oder sogar lebenslange Tätigkeit beim selben Arbeitgeber oder im selben Beruf. Derlei war – außerhalb des öffentlichen Dienstes – vermutlich jenseits der Vorstellungswelt der Arbeiterschaft.

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Im Lauf des 20. Jahrhunderts weitete sich die Vorstellung darüber, was zu einem „normalen“ Arbeitsverhältnis gehören solle, immer mehr über die Arbeitszeit hinaus aus. Zugleich wurden diese Vorstellungen immer stärker zur Orientierungsgrundlage der Regulierung von Arbeitsverhältnissen und des Sozialrechts. Die verschiedenartigen Umsetzungen des normativen Konzepts kann man als Teil eines langen Prozesses der „Normalisierung von Arbeit“ verstehen, wie viele Historiker die zunehmend striktere „Definierung, Normierung und Institutionalisierung von Arbeit“ bezeichnen (Wadauer 2014: 12). Als zur Mitte der 1980er-Jahre der Hamburger Rechts- und Politikwissenschaftler Ulrich Mückenberger den Begriff des „Normalarbeitsverhältnisses“ prägte, umfasste dieses bereits ein umfassendes Paket, in dessen Zentrum ein „unbefristetes Vollzeitarbeitsverhältnis“ stand, das – so in einem Beschluss des Deutschen Juristentags 2010 – das „Rückgrat der Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber“ bildet (zit. nach Oschmiansky/Kühl/Obermeier 2014: 2). Gegenwärtige Definitionen gehen über dieses „Rückgrat“ aber weit hinaus. In einem weiteren Verständnis werden dem Normalarbeitsverhältnis heute – in aktuellen idealtypischen Definitionen – die folgenden Komponenten zugeschrieben: Es handelt sich um (1) abhängige Arbeit, die in einer (2) unbefristeten (potentiell dauerhaften) Beschäftigung in (3) „Vollzeit“ ausgeübt wird und (4) dem Erwerbstätigen und seiner Familie ein ausreichendes Einkommen sichert. Die abhängige Arbeit steht weiter unter dem Schutz tarifvertraglicher Regelungen, vor allem von (5) Arbeitszeitregulierung und (6) Kündigungsschutz. Das Normalarbeitsverhältnis ist eingebettet in und gesichert durch eine Betriebsverfassung, die (7) betriebliche Interessensvertretungen (v.a. Betriebsräte) und (8) eine bestimmte betriebliche Mitbestimmung der Arbeiternehmer garantiert. Sie ist in ein umfassendes System der gesetzlichen Sozialversicherung eingebunden, insbesondere in (9) Unfallversicherung, (10) Krankenversicherung, (11) Rentenversicherung und (12) Arbeitslosenversicherung (in Anlehnung an Kendzia 2010: 1; vgl. auch die Definition des Statistisches Bundesamts in: Oschmiansky/Kühl/Obermeier 2014). Seit dem „Wirtschaftswunder“ der 1950er-Jahre erscheint das Normalarbeitsverhältnis auch als Garant des Wohlstands der Arbeiterschaft und darüber hinaus der gesamten Gesellschaft (Holtwick 2015: 352). Das Konzept des Normalarbeitsverhältnisses in dieser umfassenden Ausprägung beschränkt sich also nicht auf die Sphäre der Arbeit oder der Ökonomie. Sein Kern liegt in der Beziehung zwischen Arbeitswelt, bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Schon der Normalarbeitstag des 19. Jahrhunderts beruhte auf staatlichen Regulierungen von Arbeit, in der Regel mittels Gesetzen, und unter dem Einfluss des politischen Handelns verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Das dichte System von Sicherung und Regulierung, das sich im Lauf des

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20. Jahrhunderts herausbildete, ist historisch verbunden mit und schwer vorstellbar ohne Rechtsstaat, Demokratie und ein bestimmtes Ausmaß an sozialpartnerschaftlichen Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital. Im Normalarbeitsverhältnis in seiner gegenwärtigen Ausprägung stehen demnach zwei Dimensionen im Zentrum, die einen engen Zusammenhang aufweisen, die aber auch ihrer jeweils eigenen Logik folgen: Zum einen eine zunehmend dichtere Regulierung von Arbeitsverhältnissen und eine zunehmende Integration von Arbeitnehmervertretungen in die konkrete Praxis und Kontrolle dieser Regulierung. Zum anderen die Entwicklung des Sozialstaats, der die Lohnarbeiterexistenz in ein dichtes System sozialer Sicherung einbettet und die ihr inhärente – marktbedingte – Unsicherheit reduziert. Der entwickelte Sozialstaat garantiert Ansprüche auf soziale Sicherheit, die man – mit Robert Castel – als „Sozialeigentum“ (propriété sociale) bezeichnen kann (Castel 2000: 237). In Pensions- und Rentenversicherungen findet dieses „soziale Eigentum“ seinen deutlichsten Ausdruck, und sie verweisen auf eine weitere Komponente, die man in den meisten Definitionen des Normalarbeitsverhältnisses nicht findet, die aber im allgemeinen Verständnis eine wesentliche Rolle spielt, nämlich „Beschäftigungskontinuität“. Für Ulrich Mückenberger ist sie das „Grundkriterium des Normalarbeitsverhältnisses“, sowohl in Form einer möglichst lückenlosen Anzahl von Versicherungsjahren, wie auch in dauerhafter Betriebszugehörigkeit (Mückenberger 1990: 231). Beides zusammen ergibt den „ein Erwerbsleben lang sichere[n] und übersichtlich geregelte[n] Arbeitsplatz“ (Zimmermann 2013: 20). Das Normalarbeitsverhältnis wird damit verknüpft mit einer „Normalbiografie“, zumindest aber mit einer „normal work biography“ (Kohli 2007; Garstenauer/Hübel/Löffler 2016: 7) von dauerhafter und ununterbrochener Erwerbsarbeit, am besten in ein und demselben Betrieb und Beruf. In dieser umfassenden Bedeutung ist das Konzept des Normalarbeitsverhältnisses auch politisch und moralisch hoch aufgeladen, vermutlich im deutschsprachigen Raum stärker als anderswo. Die englische Begrifflichkeit von „regular employment“, „standard employment“ oder „normal employment relation“ scheint mir weniger symbolisches Gewicht zu transportieren. In allen westlichen Gesellschaften ist die Begrifflichkeit des „Normalarbeitsverhältnisses“ aber vor allem deswegen ins Zentrum der Debatte gerückt, weil es als Kontrastfolie zu „atypischen“ Arbeitsverhältnissen und „prekären“ Lebensformen dient.

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3. Z UM N ARRATIV VOM AUFSTIEG UND N IEDERGANG DES N ORMALARBEITSVERHÄLTNISSES Aussagen zur historischen Entwicklung des Normalarbeitsverhältnisses fokussieren auf den Lebenslauf. Insbesondere in Aussagen über langfristige historische Entwicklungen dominiert in den historischen und Sozialwissenschaften eine „Standarderzählung“, die auf einer vierteiligen Phasenabfolge beruht: In „traditionellen“ Gesellschaften (Phase 1) herrsche Unsicherheit aufgrund der – wenig beeinflussbaren – demografischen, ökonomischen und politischen Wechsellagen, zugleich aber Stabilität und Immobilität, vor allem geringe berufliche, soziale und geografische Mobilität. Die Industrielle Revolution (2. Phase) habe diese traditionellen Strukturen beseitigt und eine Periode sozialer Unsicherheit hervorgebracht. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wären die Lebensläufe und Arbeitsbiografien von Lohnabhängigen von Instabilität und Diskontinuität geprägt gewesen. Die endgültige Durchsetzung des industriellen Kapitalismus (3. Phase) habe dann allerdings die Arbeits- und Lebensverhältnisse stabilisiert. Die industrielle Massenproduktion habe in allen westlichen Industriestaaten zu einer Standardisierung individueller Lebensläufe geführt. Insbesondere unter den Bedingungen einer „fordistischen“ Variante des Industriekapitalismus und des Wohlfahrstaats sei von etwa 1950/1955 bis 1973 eine Stabilisierung der Arbeitsverhältnisse erfolgt, die zu kontinuierlichen Erwerbsverläufen führte. Und schließlich habe in den 1970er-Jahren eine Trendwende hin zu einem post-industriellen, „post-fordistischen“ Lebenslaufregime stattgefunden (4. Phase), die eine neue Etappe der Flexibilisierung, der Instabilität und Diskontinuität eingeleitet habe (Mayer 2004: 171). Damit sei auch das Normalarbeitsverhältnis in die Krise geraten, seine „Erosion“ habe begonnen, die Erwerbsbiografien würden brüchiger und turbulenter. „Einen entsprechenden Wandel haben seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts sowohl der weibliche wie auch der männliche Lebenslauf erfahren. Tatsächlich erscheint die Entstandardisierung der Lebensläufe als ein Basiselement, vielleicht sogar das wichtigste Element in dem anhaltenden Wandlungsprozess der westeuropäischen Gesellschaften.“ (Wirsching 2009: 87) „Der ein Erwerbsleben lang sichere und übersichtlich geregelte Arbeitsplatz ist dabei für einen immer größeren Teil der Beschäftigten inzwischen zur Utopie geworden.“ (Zimmermann 2013: 20) Das methodische Hauptproblem dieses Narrativs liegt meines Erachtens darin, dass im umfassenden Verständnis des Normalarbeitsverhältnisses, das sich im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, zahlreiche Komponenten zusammenfließen. Weiter oben habe ich zwölf Komponenten angeführt, die

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in aktuellen Definitionen immer wieder genannt werden. Jede dieser Komponenten ist in einem spezifischen historischen Kontext entstanden und weist eine spezifische historische Entwicklung auf. Für jede von ihnen müsste die Geschichte ihrer normativen und diskursiven Grundlagen, ihrer rechtlichen Fixierungen, und der tatsächlichen Praxis berücksichtigt werden. Darüber hinaus ist die Entwicklung der einzelnen Komponenten in den verschiedenen Staaten keineswegs synchron, sondern mit großen zeitlichen Unterschieden verlaufen. Da das Narrativ länderübergreifende, zumindest (west-)europäische Geltung beansprucht, müsste auch dies berücksichtig werden. Erst auf dieser Grundlage könnten Wendepunkte identifiziert und Gesamteinschätzungen getroffen werden. Für eine umfassende historische Kritik dieser Art ist hier nicht der Platz. Ich beschränke mich im Folgenden auf einen einzelnen Aspekt, nämlich auf die Frage, wie stabil Erwerbsbiografien vor und nach der vermuteten Entstandardisierung seit den 1970er-Jahren waren und sind, und ich beschränke mich zugleich auf Deutschland. In den deutschen Sozialwissenschaften werden seit einigen Jahren Annahmen über den Aufstieg und Niedergang des Normalarbeitsverhältnisses der empirischen Prüfung ausgesetzt. Im Folgenden versuche ich, einschlägige Befunde der sozialwissenschaftlichen Forschung, vor allem von Ökonomen und Soziologen, zusammenzufassen. Historiker nehmen, soweit ich sehe, kaum an diesen Forschungen teil. Die ausgewertete Literatur stammt aus Forschungsinstituten und von Wissenschaftlern, die unterschiedliche sozialpolitische Positionen vertreten und zum Teil unterschiedlichen Interessensvertretungen nahestehen, darunter auch gewerkschaftlichen. Sie beruht auch auf unterschiedlichen Datensätzen. Ein politischer bedingter Bias kann meines Erachtens bestenfalls eine marginale Rolle spielen.

4. E ROSION SEIT DEN

DES N ORMALARBEITSVERHÄLTNISSES 1970 ER -J AHREN ?

Außer Streit und Frage steht, dass die Arbeitsverhältnisse in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden sind. In Deutschland war die Dynamik des Wandels in den1970er- und 1980er-Jahren noch gering und bestand vor allem in einer Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen, zu einem beträchtlichen Teil in Form von Teilzeitarbeit. Während Teilzeitarbeit bei Männern immer noch außergewöhnlich selten ist, stieg der Anteil der Frauen mit einer oder mehreren Teilzeitphasen in ihrer Erwerbsbiografie von Kohorte zu Kohorte (Klammer/Tillmann 2001). In den 1990er- und 2000er-Jahren beschleunigte sich der Trend, und Nicht- Normalarbeitsverhältnisse differenzierten sich weiter auf.

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Mittlerweile hat die amtliche Statistik die Terminologie von Normalarbeit und atypischer Beschäftigung übernommen. In Deutschland ist das Normalarbeitsverhältnis weiterhin vorherrschend, vor allem für Männer, seine Bedeutung hat aber abgenommen. Am Beginn der 1990er-Jahre standen rund drei Viertel aller Erwerbstätigen in einem Normalarbeitsverhältnis, 2012 waren es zwei Drittel (wenn man Teilzeit mit mehr als 20 Wochenstunden einbezieht). Zugenommen haben sowohl selbständige Erwerbstätigkeit, vor allem als allein arbeitender Selbständiger, wie auch „atypische Erwerbsformen“ wie in Teilzeit ausgeübte, befristete und „geringfügige“ Beschäftigung“ (vgl. Tabelle 1). Wenn man die absoluten Zahlen betrachtet, dann geht es weniger um den „Abbau von Vollzeitarbeitsplätzen“ als vielmehr um die „Zunahme von „anderen“ Arbeitsverhältnissen“, die überwiegend von Frauen eingegangen werden (Holtwick 2015: 334). Veränderungen der Beschäftigungsformen stehen also außer Zweifel, ebenso wie die weiterhin deutliche Dominanz des Normalarbeitsverhältnisses. Kann man daraus aber den Befund seiner Krise und einer Entstandardisierung von Arbeit und Lebenslauf ableiten? Die Antwort auf diese Frage ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und als man aufgrund der in Gesellschaft, Politik und auch großen Teilen der Wissenschaft dominierenden Entstandardisierungs-Rhetorik vermuten könnte. Welche Evidenz steht überhaupt zur Verfügung, um auf diese Frage empirisch abgesicherte Antworten zu finden? Die empirische Prüfung erfordert die Reduktion eines komplexen Sachverhalts auf wenige – operationalisierbare – Phänomene. Die sozialstatistische Forschung konzentriert sich dabei auf zwei Dimensionen der Stabilität bzw. Flexibilität von Beschäftigung, nämlich den Wechsel des Berufs und des Arbeitgebers in der Erwerbsbiografie (zu den methodischen Problemen vgl. etwa Auer/Cazes 2000: 397). Auf die Gesamtheit der Beschäftigten bezogene und statistisch abgesicherte Aussagen zu diesen Themen sind bisher nur für einen begrenzten Zeitraum möglich, im Großen und Ganzen für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Einige Forschungen, vor allem solche, die auf Befragungen beruhen, erfassen auch Menschen, die in der Zwischenkriegszeit geboren wurden, z.B. die Geburtskohorte 1929 in den Arbeiten von Karl Ulrich Mayer und seinen Mitarbeitern oder die Geburtskohorten vor 1936, wie bei Ute Klammer (z.B. Mayer/Grunow/Nitsche 2010; Klammer/Tillmann 2001). Die (meisten) Angehörigen dieser Kohorten sind erst nach 1945 in den Arbeitsmarkt eingetreten. Die statistische Evidenz beschränkt sich also etwa auf die Periode von 1950 bis 2010. Das ist immerhin der Zeitraum, auf den sich die Debatte über Aufstieg und Niedergang des Normalarbeitsverhältnisses überwiegend bezieht: Die „trente glorieuses“ der Etablierung und Durchsetzung des Normalarbeitsver-

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hältnisses und seine 1974 beginnende und sich bis heute verschärfende Krise. Was kann man das den Ergebnissen dieser Forschungen ableiten? Tabelle 1: Erwerbstätige* nach Erwerbsformen: Deutschland 1991-2012

Gesamtzahl (in 1.000) Anteile (in Prozent der Gesamtzahl): Selbständige davon „Solo-Selbständige“ mithelfende Familienangehörige abhängig Beschäftigte Normalarbeitnehmer/-innen zusammen** davon Teilzeitbeschäftigte über 20 Wochenstunden ohne Teilzeitbeschäftigte atypische Beschäftigte zusammen*** befristet Beschäftigte Teilzeitbeschäftigte geringfügig Beschäftigte Zeitarbeiter/-innen Arbeitslosenquote**** *

1991 34.680

2012 36.276

8,2 3,7 1,3 90,5 77,7 5,0 72,7 12,8 5,7 7,3 1,9 7,7

11,1 6,2 0,4 88,5 66,8 7,6 59,2 21,7 7,5 13,8 7,0 2,1 6,8

„Kernerwerbstätige“ = Erwerbstätige im Alter von 15-64 Jahren, nicht in Bildung oder Ausbildung, Wehr-/Zivildienst, Freiwilligendienst.

**

„Unter einem Normalarbeitsverhältnis wird ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis verstanden, das in Vollzeit und unbefristet ausgeübt wird. Ein Normalarbeitnehmer arbeitet zudem direkt in dem Unternehmen, mit dem er einen Arbeitsvertrag hat. […] Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Normalarbeitsverhältnis sind weiterhin voll in die sozialen Sicherungssysteme wie Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung und Krankenversicherung integriert. Das heißt, sie erwerben über die von ihrem Erwerbseinkommen abgeführten Beiträge Ansprüche auf Leistungen aus den Versicherungen (oder haben entsprechende Ansprüche als Beamter).“ (Statistisches Bundesamt 2014)

***

die Gruppen der atypisch Beschäftigten sind nicht überschneidungsfrei, sodass die Summe der Prozentwerte der einzelnen Gruppen höher ist als der Wert für die atypisch Beschäftigten zusammen.

****

1992.

Quelle: Eigene Berechnung nach: Statistisches Bundesamt 2014 (beruhend auf den Ergebnissen des Mikrozensus).

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4.1 Wechsel des Berufs Erkenntnisse zum Berufswechsel beruhen überwiegend auf Forschungen von Karl Ulrich Mayer und seinem Team. Sie beruhen auf Repräsentativbefragungen von zwischen 1929 und 1971 geborenen Erwerbstätigen und führen zu einem Ergebnis, das hier nur in einem Zitat zusammengefasst werden soll: „Berufliche Wechsel sind verbreitet, und, wie der Kohortenvergleich zeigt, kein neues Phänomen. Der „lebenslange Beruf“ […] war immer schon ein Mythos. Im Durchschnitt wechselten 41% der männlichen und 38% der weiblichen Berufseinsteiger im Lauf der ersten acht Erwerbsjahre ihren Beruf. Dieser Prozentsatz variiert über die Kohorten, dabei ist jedoch kein eindeutiger historischer Trend erkennbar.“ Die berufliche Mobilität hat sich auch für die jüngeren Kohorten nicht erhöht (Mayer/Grunow/Nitsche 2010, 377). 4.2 Wechsel des Arbeitgebers Zum Wechsel des Arbeitgebers bzw. des Beschäftigungsverhältnisses gibt es mehr Studien, die überwiegend auf jährlich erhobenen Stichproben der zentralen Arbeitsmarktverwaltung beruhen. Die ersten betriebsübergreifenden Datenerhebungen wurden in Deutschland 1959, 1960 und 1961 durch die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Form einer Stichprobe von 1% bzw. 5% der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten durchgeführt. Sie erhob die Zahl der Arbeitnehmer, die im Lauf eines Jahres ein oder mehrmals das Arbeitsverhältnis gewechselt hatten. Das Ergebnis war eine „Wechselquote“ von 24% (bei 1,5 Wechselfällen pro Wechsler), was damals als Ausdruck einer „wachsenden Aktualität des Fluktuationsproblems“ erschien (Lutz 2007, 35). Seit 1975 erfasst in Deutschland die „Beschäftigtenstichprobe“ des Instituts für Arbeit und Beruf (IAB) ein Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse (d.h. auch „atypische“ über der Geringfügigkeitsgrenze), die zusammen rund 80% aller Erwerbstätigen repräsentiert. Überblickt man die Entwicklung der „Fluktuationsrate“ in dem halben Jahrhundert zwischen 1959 und 2012, kann man – ähnlich wie beim Berufswechsel – durchaus zeitliche Variationen, aber keinen historischen Trend in Richtung kleinerer oder größerer Beschäftigungsstabilität erkennen. Auf derartigen Daten beruht die vorherrschende Meinung unter deutschen Ökonomen, dass sich die Beschäftigungsstabilität seit den 1970er-Jahren kaum verändert habe, und dass sie, wenn überhaupt, seit den 1990er-Jahren nicht abgenommen, sondern eher zugenommen hat (vgl. Tabelle 2). Hinter den Durchschnittswerten verbergen sich allerdings enorme Differenzierungen nach Geschlecht, Alter, Qualifikation, Bran-

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che und Betriebsgröße. Schon die Erhebung 1961 zeigt große Unterschiede zwischen den einzelnen Berufen und Branchen (vgl. dazu Tabelle 3). Tabelle 2: Fluktuationsrate (labour turnover rate), Deutschland 1959-2012* Jahr 1959 1976 1982 1990 1994 1996 2002 2005 2008 2012 * **

Fluktuationsrate** 24 30 24 29 24 30 28 24 28-31 24

Quelle (Lutz 2007) (Erlinghagen 2002)

(Rhein 2010; Gianelli et al. 2013) (Gianelli et al. 2013) (Gianelli et al. 2013; Rhein 2010)) (Gianelli et al. 2013)

1959-1994: Westdeutschland; 1996-2012: Deutschland. Eintrittsrate/Austrittsrate: Eintritte in bzw. Austritte aus Beschäftigungsverhältnis pro 100 Beschäftigte eines Jahres; Fluktuationsrate/labour-turnover-rate: Durchschnitt der Eintritts- und Austrittsrate (zur Berechnung: Erlinghagen 2002: 79) Beschäftigtenzahl: meist: alle sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten; mitunter: alle Beschäftigten 15-64. Berechnet für den Jahresdurchschnitt der Zahl der Beschäftigten (Rhein 2010); den Stichtag 30.9. (Erlinghagen 2002); den Durchschnitt des ersten Quartals (Gianelli et al. 2013).

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach den angegebenen Quellen.

Tabelle 3: Fluktuationsrate nach Branchen und Berufen, Deutschland 1961 Branche/Beruf Angestellte (m) aller Wirtschaftszweige Facharbeiter Verkehr/öffentlicher Dienst (m) Facharbeiter Industrie/Handwerk (m) Nicht-Facharbeiter Industrie/Handwerk (m) Facharbeiter Baugewerbe (m) Nicht-Facharbeiter Dienstleistungen (w) Nicht-Facharbeiter Baugewerbe (m) *

Definition wie in Tab. 2.

Quelle: Lutz 2007: 37.

Fluktuationsrate* 3,8 5,5 12,6 22,5 31,9 33,3 52,5

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Sichtbar werden eine klare Differenzierung zwischen Angestellten und Arbeitern sowie zwischen Facharbeitern und ungelernten Arbeitern, und eine besonders hohe Fluktuation in saisonabhängigen Branchen wie dem Baugewerbe. Man könnte aber auch zugleich darüber erstaunt sein, dass auch bei Hilfsarbeitern im Baugewerbe kaum mehr als die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse kürzer als ein Jahr dauerte. Ein wesentlicher differenzierender Faktor ist die Betriebsgröße. Aus den Untersuchungen von Erlinghagen und Knuth zeigt sich für die Periode von 19751995, dass mit steigender Betriebsgröße die Fluktuation deutlich abnimmt (vgl. Tab. 4). Interessanterweise erhöhte sich 1975 bis 1995 allerdings die Beschäftigungsstabilität in Kleinbetrieben, vermutlich aufgrund des starken Wachstums gerade dieses Segments (Erlinghagen/Knuth 2003). Tabelle 4: Fluktuationsrate nach Betriebsgrößen, Deutschland 1975-1996 Betriebsgröße Großbetriebe (>500) Mittelbetriebe (100-499) kleinere Mittelbetriebe (20-99) Kleinbetriebe (1-19)

Fluktuationsrate* bei rund 15 (ziemlich konstant 1975-95) bei rund 25 (ziemlich konstant 1975-95) bei rund 30-35 (schwankend, leicht abnehmend) sehr stark abnehmend von rund 45 auf rund 35.

* Definition wie in Tab. 2. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Erlinghagen/Knuth 2003.

Versucht man, die verschiedenen Befunde in Bezug auf Arbeitsmobilität seit den 1970er-Jahren zusammenzufassen, ergibt sich folgendes Bild: Eine zunehmende Instabilität von Arbeitsverhältnissen zeichnet sich nicht ab, eher wird eine leichte Zunahme der Stabilität sichtbar. Die Häufigkeit des Wechsels des Arbeitsplatzes ist in Phasen von Konjunktur und Prosperität höher als in Krisenzeiten (Gianelli/Jaenichen/Rothe 2013: 6). Dies hängt auch damit zusammen, dass der Arbeitsplatzwechsel überwiegend freiwillig erfolgt (für Deutschland 1985-2001: Erlinghagen 2005: 153). Er führt überwiegend zu Verbesserungen der Arbeitssituation. Allerdings sind die Chancen und Risiken der Flexibilität ungleich verteilt. Gruppen mit deutlich erhöhtem Risiko für unfreiwillige Mobilität sind (meist jüngere) Berufseinsteiger, Ältere, Frauen, gering Qualifizierte, befristet und geringfügig und in Deutschland speziell in den neuen Ländern Beschäftigte (Klammer/Tillmann 2001: 118, 317). Für gering qualifizierte Erwerbstätige scheinen sich die Chancen auf stabile Erwerbsverläufe im Zeitvergleich verschlechtert zu haben. Daten für Großbritan-

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nien (für die 1990er-Jahre) zeigen zudem eine hohe Geschlechterdifferenz bei allen „standard measures of labour turnover and job tenure“ (Hakim 1996). Trotz dieser Ungleichheit bleibt aber der Befund einer insgesamt hohen Beschäftigungsstabilität auch in den letzten Jahrzehnten bestehen. Er wird bestätigt durch international vergleichende Studien über den Zeitraum 1992-2008, die neben der Fluktuationsrate auch die durchschnittliche Dauer der Arbeitsverhältnisse in den Blick nehmen. Beide Werte zeigen in diesem Zeitraum für Deutschland wie auch für andere große westeuropäische Industriestaaten nur geringe Schwankungen mit einer Fluktuationsrate um die 30 und einer durchschnittlichen Dauer der Arbeitsverhältnisse zwischen 10 und 11 Jahren (Rhein 2010). Eine international vergleichende Untersuchung der Arbeitsmärkte in den hochentwickelten Industriestaaten für die letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass „job stability as measured by employment tenure seems to be generally stable in the great majority of industrialized countries“ (Auer/Cazes 2000: 405). Sichtbar wird in diesen Daten die hohe Kontinuität einer relativ geringen Flexibilität: Wechsel des Arbeitgebers kamen immer vor und waren immer eine Option, aber sie wurden und werden in relativ geringem Ausmaß erzwungen oder genützt. 4.3 Wechsel von Arbeiterverhältnissen im Lebenslauf Dieser allgemeine Befund koexistiert mit durchaus wahrnehmbaren Veränderungen. Wie weiter oben schon dargestellt wurde, weitete sich das Spektrum der verfügbaren Arbeitsverhältnisse aus. Während bei Männern das Normalarbeitsverhältnis weiterhin dominiert, machen Frauen in großem und zunehmendem Maß von der Vielfalt der Arbeitsverhältnisse Gebrauch bzw. sind auf diese verwiesen, zum Teil auf sie beschränkt. Die Forschungen von Ute Klammer und Katja Tillmann zeigen, dass die Erwerbsbiografien von Frauen weniger von einer Polarisierung zwischen Normalarbeitsverhältnissen und atypischen Arbeitsverhältnissen geprägt sind, sondern dass die Kombination unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse im Lebenslauf zunimmt und dominiert. Der Anteil der Frauen mit Vollzeit- und Teilzeitphasen in ihrer Erwerbsbiografie ist schon zwischen den Geburtskohorten 1936-40 und 1951-55 deutlich angestiegen, in Westdeutschland von knapp weniger als der Hälfte auf mehr als drei Viertel (Klammer/Tillmann 2001: 153). Noch deutlicher tritt diese Entwicklung bei der Untersuchung von diskontinuierlichen Erwerbsverläufen hervor. Während bei Männern Unterbrechungen des Normalarbeitsverhältnisses ganz überwiegend von Arbeitslosigkeit verursacht sind, sind weibliche Erwerbsbiografien (zusätzlich zu Phasen der Arbeits-

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losigkeit) von mehreren – voneinander getrennten – Phasen der Teilzeitarbeit charakterisiert. Der Anteil von Frauen mit mehreren Teilzeitphasen ist zwischen den Kohorten 1936-40 und 1951-55 von 50 auf 77 Prozent gestiegen. Haushaltsführung ist für Frauen immer weniger Anlass zur Unterbrechung oder vollständigen Aufgabe der Berufstätigkeit, ein lebenslanges Normalarbeitsverhältnis ist für sie allerdings die Ausnahme geblieben (Klammer/Tillmann 2001: 160).

5. Z UR K RITIK DES N ORMALARBEITSVERHÄLTNISSES Seit sich der Begriff des Normalarbeitsverhältnisses in den 1980er-Jahren zu verbreiten begann, steht er auch im Zentrum einer kritischen Diskussion. Als Ulrich Mückenberger in der Mitte der 1980er-Jahre den Begriff des Normalarbeitsverhältnisses prägte und seine beginnende Krise konstatierte, tat er dies durchaus in kritischer Absicht (Mückenberger 1985). Seine ersten Aufsätze zu diesem Thema und alle seine folgenden Publikationen bieten bis heute grundlegende und überaus anregende Ansätze der Kritik. Die breite wissenschaftliche und öffentliche Rezeption des Begriffs ging allerdings in die entgegengesetzte, nämlich in eine affirmative Richtung: Das Normalarbeitsverhältnis erschien als positiver Wert, sowohl anstrebenswert wie auch – in seiner Krise – bewahrenswert und verteidigungswürdig. Der Siegeszug des Begriffs war eng an seine positive Interpretation geknüpft, er eignete sich zum Leitbegriff in Abwehrkämpfen von realen oder vermeintlichen arbeitsrechtlichen und sozialen Verschlechterungen. In den Sozialwissenschaften passte die „Krise des Normalarbeitsverhältnisses“ zur „Krise der Moderne“ und zur Diagnose einer entstehenden „Risikogesellschaft“ (Beck 1986). Mückenberger selbst verweist auf den Gegensatz zwischen seinen Intentionen und der folgenden Rezeption: „Eingeführt wurde der Begriff zur Beschreibung und kritischen Analyse eines Leitbildes gesellschaftlicher Reproduktion, das um fremdbestimmte Erwerbsarbeit gruppiert ist und das noch den einzelnen Arbeitsverhältnissen die herrschaftlichen Maßstäbe einer kapitalistischen Marktgesellschaft aufprägt. In der weiteren Debatte verlor der Begriff seinen gesamtgesellschaftlichen Bezug und wurde auf die Beschreibung einzelner Arbeitsverhältnisse reduziert. Dabei büßte die Bezugnahme auf die „Normalität“ ihre kritische Bedeutung ein: Normalarbeitsverhältnis wurde gleichbedeutend mit wünschenswertem Arbeitsverhältnis. Der Weg war dann nicht weit, das Normalarbeitsverhältnis zum positiven Bezugspunkt gewerkschaftlichen Handelns zu machen: es zu sichern, allenfalls auszubauen.“ (Mückenberger 1989: 220)

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Mückenbergers Kritik beruht auf der Unterscheidung von drei Funktionen des Normalarbeitsverhältnisses: erstens einer – von ihm positiv bewerteten „historisch bedeutsamen Schutzfunktion“, die der „Durchsetzung von Mindeststandards und/oder kollektiver Teilhabe an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen“ dient. Zweitens aber auch in einer „Antriebsfunktion“ als ein System von Leistungsanreizen, das die Verinnerlichung einer kapitalistischen Arbeitsmoral und -disziplin fördere. Das Normalarbeitsverhältnis liege damit nicht nur im Interesse von Teilen der Arbeiterschaft, sondern diene auch den Interessen des Kapitals. Und drittens in einer „Selektionsfunktion“, die „Chancen differenziert zuweist und verteilt“. Sie verschafft Arbeitnehmern mit hoher Beschäftigungs- und Betriebszugehörigkeit Vorteile, aber jenen mit geringen Kontinuitätschancen (wie z.B. Frauen) Nachteile. „Arbeitsmarktschwächere Gruppierungen“ werden ausgegrenzt und diskriminiert (Mückenberger 1989: 212-214). Auch 20 Jahre später gelte noch immer: „Unter diesen Bedingungen wirkt sich die Strategie der bloßen Verteidigung des Normalarbeitsverhältnisses zu Gunsten der ohnehin besser geschützten Segmente des Arbeitsmarktes aus – sie zeichnet sozusagen die hierarchischen Segregationslinien des Arbeitsmarktes zulasten der weniger geschützten Gruppen und Segmente nach.“ (Mückenberger 2010b: 407)

Aktuelle international vergleichende Studien bestätigen diesen Zusammenhang: „[…] more stability and standardization for the core means higher risk of nonstandard employment for others.“ (Eichhorst/Marx 2015: 16) Es sind diese letzten beiden Funktionen, an denen Mückenberger seine Kritik am Normalarbeitsverhältnis entwickelt. Zusätzlich weist er darauf hin, dass seine „eindimensional positive Bewertung“ zunehmende Ansprüche an Individualität, Freiheit und Selbstverwirklichung nur als Risiken wahrnehmen lässt, und die ihnen innewohnenden Chancen negiert. Darin komme ein „Utopieverlust“ der Arbeiterbewegung und insbesondere der Gewerkschaften zum Ausdruck. Seine eigenen sozialpolitischen Zukunftsentwürfe gehen in die Richtung, im Lebenslauf die Wahlmöglichkeit zwischen Erwerbsarbeit und anderen gesellschaftlich notwendigen und nützlichen Tätigkeiten zu erleichtern, den Wechsel zwischen Erwerbs- und Nichterwerbsphasen vor Diskriminierung zu schützen – nicht als Alternative zur Erwerbsarbeit, sondern als deren bessere Integration in andere Lebenszusammenhänge (Mückenberger 1989: 222). Mückenbergers Kritik scheint mir weiterhin grundlegend für die Auseinandersetzung mit dem normativen Gehalt und der Praxis des Normalarbeitsverhältnisses zu sein (vgl. dazu auch das Resümee von Holtwick 2015: 352).

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Ich füge einen weiteren Kritikpunkt hinzu. Die Konzentration auf das Normalarbeitsverhältnis privilegiert nicht nur Erwerbsarbeit auf Kosten anderer gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten, sondern auch einen Typus von Erwerbsarbeit: abhängige und zugleich regulierte Arbeit. Das breite Spektrum an selbstständigen Tätigkeiten – von ganz unten bis ganz oben auf der sozialen Leiter – kommt dabei nicht oder zu wenig in den Blick. Dies ist auch einer der Gründe, warum dem Konzept des Normalarbeitsverhältnisses nur geringe globale Relevanz zukommt. In den Worten von Andreas Eckert: „While in Western societies the model of lifelong occupation is still prevalent, some African societies practice another system.“ (Eckert 2010: 176) Hier sei der Wechsel zwischen zeitweiliger Lohnarbeit und Arbeit als unabhängiger „business man“ häufig anzutreffen, und auch jahrelang in multinationalen Unternehmen in Form eines Normalarbeitsverhältnisses Beschäftigte wandten sich nach ihrer (in der Regel frühen) Pensionierung einer selbstständigen Tätigkeit zu. Lebenslange Lohnarbeit ist in großen Teilen der Welt immer noch ein Minderheitenprogramm (Zimmermann 2013: 22). Zusammenfassend: Beschäftigung und Beruf enthalten immer – wenn auch in historisch, wirtschaftszyklisch, alters-, geschlechts- und branchenspezifisch sehr unterschiedlichem Ausmaß – Elemente von Mobilität und Flexibilität. Häufig werden sie von den Arbeitenden selbst und freiwillig praktiziert und auch positiv wahrgenommen. In der Regel ist Motivation für den Wechsel des Berufs oder des Arbeitgebers mit der Hoffnung auf Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Lebensumstände oder dem Wunsch nach sozialem Aufstieg verbunden. Freie Lohnarbeit bedarf nicht nur des Schutzes, sie enthält auch – im Unterschied zur Zwangsarbeit – die prinzipielle Freiheit des Arbeitnehmers, seinen Arbeitgeber zu verlassen. Diese Freiheit verleiht abhängig Beschäftigten eine bestimmte Macht gegenüber ihren Arbeitgebern. Die praktischen Möglichkeiten, sie zu realisieren, hängen natürlich stark von den jeweils vorherrschenden Strukturen der Arbeitsmärkte und von den Spielräumen ab, die sie einzelnen Individuen oder sozialen Gruppen bieten. Die sozialen Netze des Sozialstaats erhöhen allerdings diese Spielräume. Die Gestaltungsspielräume, die Arbeitsplatz- und Berufswechsels wie auch die Wahl zwischen Erwerbstätigkeit und anderen Arbeitsformen eröffnen, sind in der Debatte über die „Krise des Normalarbeitsverhältnisses“ zu sehr an den Rand gedrängt worden.

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Normalarbeit und Prekarität J ÖRG F LECKER

1. E INLEITUNG Von der Lohnarbeit im Manchesterkapitalismus bis zur heutigen Schichtarbeit in der Industrie, Teilzeitbeschäftigung im Handel oder zum crowdemployment einer Grafikdesignerin führte eine lange und widersprüchliche Entwicklung. Darin wechselten einander Phasen relativer Stabilität und solche dynamischer Veränderungen ab. Glaubt man der vorherrschenden aktuellen Diskussion in Wissenschaft und Öffentlichkeit, befinden wir uns derzeit wieder in der Phase raschen Wandels, nachdem sich die „Lohnarbeitsgesellschaft“ (Castel) und in ihr die relativ gesicherten Arbeitsverhältnisse und Lebenslagen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer relativ großen Stabilität erfreut hatte. Das in dieser Zeit etablierte Normalarbeitsverhältnis (Mückenberger) wird in den letzten Jahrzehnten immer stärker in Frage gestellt. Das betrifft sowohl die Verbreitung der spezifischen Vertragsformen als auch die Stabilität der Normen, die ihnen zu Grunde liegen, sowie die Normvorstellungen über Arbeit in der Gesellschaft. Für die Debatte über das angebliche Ende oder das hartnäckige Weiterleben der Normalarbeit sind theoretische und begriffliche Klärungen dringend nötig. Häufig wird das „Ende der Normalarbeit“ mit dem Verweis auf die Ausbreitung sogenannter atypischer Beschäftigungsformen eingeläutet, wobei darunter auch die Teilzeitarbeit subsumiert wird, die formal in den meisten Merkmalen außer der vereinbarten Arbeitszeit dem Normalarbeitsverhältnis gleichgestellt ist. Dabei geht es nicht nur um den Schutz, der über das Arbeitsrecht erzielt wird, sondern auch um die sozialen Rechte aus – sowie die Beitragspflichten zu – den Sozialversicherungen. Im Vergleich dazu bilden jene Vertragsformen, wie freie Dienstverträge oder neue Selbständige, ein Minderheitenprogramm, die auch arbeits- und sozialrechtlich gravierend von der Normalarbeit abweichen. Jüngst haben neue, durch das Internet ermöglichte Arbeits- und Vertragsformen der

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Debatte einen neuen Aufschwung gebracht. Online-Portale, wie Helpling, AirBnB oder Uber, die sich, wenn überhaupt, als elektronische Marktplätze definieren, auf denen Angebot und Nachfrage zueinander finden, hebeln nicht nur den üblichen Dienstvertrag, sondern gleich auch das Gewerberecht aus. Der Unterschied zwischen Teilzeitarbeit oder auch befristeter Beschäftigung und freien Dienstverträgen einerseits und den Vertragsbeziehungen der sogenannten Sharing Economy andererseits könnte größer nicht sein: Die ersteren, häufig als atypische Beschäftigung bezeichnet, verbleiben innerhalb des in die Organisation internalisierten Abhängigkeitsverhältnisses. Dagegen vermeiden letztere zumindest formal und nach außen den Anschein eines solchen Arbeitsverhältnisses und stellen es als reine Marktbeziehung dar, die freundlicherweise von einem Vermittler gegen ein kleines Entgelt unterstützt wird. Deshalb kann nur Verwirrung entstehen, wenn man beispielsweise die arbeits- und sozialrechtlich umfassend geschützte und sehr weit verbreitete Teilzeitarbeit in einen Topf wirft mit Austausch- und Ausbeutungsbeziehungen, die sich außerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses bewegen. Normalarbeit entstand aus einem Klassenkompromiss über die Ausgestaltung des internalisierten Arbeitsverhältnisses, in dem Disziplin und Unterordnung unter industrielle Arbeitsprozesse gegen relative Stabilität der Beschäftigung und Sicherheit des Auskommens getauscht wurden. Im Kern ging es also um Gegengewichte gegen die Marktkräfte, denen die Arbeitenden unterworfen sind, konkret um die teilweise Rücknahme des Warencharakters der Arbeitskraft. Nach vielen Jahren der Verherrlichung marktförmiger Vergesellschaftung und des Unternehmertums verschwimmen diese Konturen der Normalarbeit heute in der wissenschaftlichen wie öffentlichen Debatte zunehmend. Vom Normalarbeitsverhältnis abweichende Beschäftigungsformen werden einerseits als Prekarisierung beklagt, andererseits aber auch als Befreiung von den Überbleibseln der Industriegesellschaft oder als Überwindung männlicher Privilegien gutgeheißen. Doch die Institution Normalarbeitsverhältnis ist zu vielschichtig und die Folgen ihres Wandels sind zu tiefgreifend, als dass solche vereinfachten Einschätzungen berechtigt wären. Weder ist diese Beschäftigungsform obsolet geworden, noch zeichnet sich eine Alternative ab, welche annähernd ihre gesellschaftlichen Funktionen zu erfüllen in der Lage wäre. Der folgende Beitrag beginnt damit, die Bedeutung des internalisierten Arbeitsverhältnisses herauszustreichen, um darauf aufbauend das Normalarbeitsverhältnis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Daran schließen Überlegungen über die viel besprochene Erosion des Normalarbeitsverhältnisses insbesondere am Beispiel Österreichs an. Der danach angesprochene Kampf um die Normalarbeit wird nicht nur in der Gesetzgebung, in

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den Betrieben und vor den Arbeitsgerichten ausgefochten, sondern auch in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen über sogenannte Strukturreformen auf europäischer Ebene. Dass wir es hier mit einem „Kampf“ zu tun haben, sollte dabei am wenigsten überraschen. Von Anfang an war das Arbeitsverhältnis eine umkämpfte Institution und seine jeweilige Ausgestaltung umstritten – und das wird es wohl auch bleiben.

2. D AS

INTERNALISIERTE

ARBEITSVERHÄLTNIS

Jede Auseinandersetzung mit dem Thema Normalarbeit muss zunächst von der historischen wie theoretischen Besonderheit ausgehen, dass kapitalistische Ökonomien auf Lohnarbeit in Form eines mittels Arbeitsvertrags geregelten Abhängigkeitsverhältnisses basieren. Sowohl Karl Marx als auch Max Weber machen den spezifischen Charakter dieser sozialen Beziehung am Übergang von der Marktsphäre in die „verborgene Stätte der Produktion“ bzw. einen Herrschaftsverband fest. Während einander Arbeitgeber/in und Arbeitnehmer/in auf dem Markt als formal gleichgestellte Bürger/innen begegnen und infolge einer „Interessenkonstellation“ (Weber) miteinander in Beziehung treten, herrschen im Betrieb Direktions- oder Weisungsrecht und entsprechend Befehl und Gehorsam. „Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warentausches […] verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unserer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markt getragen hat und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.“ (Marx 1964: 191)

Zumindest jedoch haben die Arbeitnehmer/innen zu erwarten, dass sie ihre Autonomie für die vereinbarte Arbeitszeit aufgegeben und den Befehlen des Arbeitgebers bzw. des Management zu gehorchen haben, wie dies im Arbeitsvertrag vorgesehen ist. Hier liegt der entscheidende Unterschied, der heute in gleicher Form zwischen Werkvertrag und Anstellungsverhältnis besteht: Es wird nicht eine Leistung gegen Bezahlung getauscht, sondern das Arbeitsvermögen für fremde Nutzung über eine bestimmte Zeitdauer zur Verfügung gestellt. Dass dieses Lohnarbeitsverhältnis zunächst historisch überhaupt entstanden ist und sich über die lange Entwicklungsdauer des Kapitalismus gehalten hat, lässt sich mit dem Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen von Kapital und Arbeit erklären. Für die Unternehmen bietet das Lohnarbeitsverhältnis die Mög-

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lichkeit des flexiblen Einsatzes der Arbeitskraft und der Kontrolle über den Arbeitsprozess, womit die Chance einer ständigen Rationalisierung zur Absicherung der Gewinnerzielung einhergeht. Im Gegensatz zu einer marktförmigen Beziehung und dem Werkvertrag braucht der Arbeitsvertrag weder im Detail spezifiziert zu sein noch alle in der Zukunft möglicherweise eintretenden Änderungen zu berücksichtigen. Für die Arbeitenden lagen die Vorteile eher in Verteilungsaspekten, nämlich in der relativen Sicherheit von Beschäftigung und Einkommen – man denke an die historische Alternative des Taglöhnertums und der Heimarbeit im Verlagssystem. Zwei soziologisch wichtige Merkmale sind kennzeichnend für das internalisierte Arbeitsverhältnis: Aus Konflikten und Kompromissen entstanden, ist das Lohnarbeitsverhältnis erstens bis heute umkämpft: „The employment relationship is by nature a contested institution that has evolved to achieve cooperation between capital and labour in productive activities through mediating their conflicting interests with respect both to control and distribution.“ (Rubery 2010: 502)

Zweitens ist es als gesellschaftliche Institution von den jeweiligen historischen und politischen Rahmenbedingungen beeinflusst. Es ist gesetzlich aber auch durch gesellschaftliche Normen und Sitten reguliert. Entsprechend groß sind die Variationen, die wir im Hinblick auf seine Ausgestaltung über die Zeit und zwischen den Ländern feststellen können. Zwar findet sich in allen europäischen Staaten ein „standard employment relationship“, doch wie das Beschäftigungsverhältnis darin grundsätzlich konzipiert ist und welche Rechte damit verbunden sind, hängt vom Rechtssystem – kontinentaleuropäisch oder britisch – und von den historischen Klassenkompromissen ab (Rubery 2010: 501). Was die Ausgestaltung des internalisierten Arbeitsverhältnisses betrifft, sind zudem die jeweiligen Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis und die Stufen zwischen ihm und dem reinen Marktaustausch von besonderem Interesse. Hier zeigen Gesetzgeber/innen nicht wenig Phantasie, wenn es darum geht, die jeweiligen Zwischenstände des Kampfes um das institutionalisierte Arbeitsverhältnis in immer neue Normen zu gießen. Die gesellschaftliche Einbettung wird am offensichtlichsten, wenn der Zusammenhang zwischen dem Arbeitsverhältnis und dem Wohlfahrtsstaat hergestellt wird: So legen das überwiegend nationalstaatliche Arbeitsrecht und die Kollektivverträge die Rechte und Pflichten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmer/innen im Rahmen des internalisierten Arbeitsverhältnisses von den Formen des Vertragsabschlusses bis zu den Kündigungsregeln fest. Darüber hinaus be-

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einflussen die sozialen Rechte der Arbeitnehmer/innen auf Krankengeld, Arbeitslosengeld oder Alterspension ihre Abhängigkeit vom Arbeitgeber bzw. von der Erwerbsarbeit. Insofern wurde mit der Einrichtung wohlfahrtsstaatlicher Sicherheiten der Warencharakter der Arbeitskraft etwas zurückgenommen. Und schließlich knüpfen diese Absicherungen an bestimmten Vertragsformen an. So wird das Normalarbeitsverhältnis als jene Vertragsform besonders hervorgehoben, die Beitragspflichten und Ansprüche an Leistungen der sozialen Sicherheit begründet.

3. D AS N ORMALARBEITSVERHÄLTNIS Bereits seit 30 Jahren wird nun schon über den Niedergang oder die Erosion dieser Institution diskutiert, seit Mückenberger (1985) die „Krise des Normalarbeitsverhältnisses“ erstmals thematisierte. Doch wann ist es entstanden und inwiefern unterscheidet es sich vom internalisierten Arbeitsverhältnis, das im 19. Jahrhundert zunehmende Verbreitung fand? Zunächst fand die abhängige Beschäftigung als Arbeiter/in oder Angestellte/r über einen langen Prozess, der vom frühen 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte, immer größere Verbreitung, bis es zu einer statistischen Normalität wurde. Dazu kam, dass es zum Bezugspunkt für Arbeitsgesetze, Kollektivverträge und sozialrechtliche Bestimmungen wurde und sich so als Norm, als „juristisch anerkannte und deshalb herrschende Fiktion“ (Mückenberger 1985) etablierte. Die Verbindung einer Vertragsform mit bestimmten sozialen Rechten geht insbesondere auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. In einer „Gegenbewegung“ gegen die Kommerzialisierung der Arbeit und der „Entbettung“ des Arbeitsmarktes aus der Gesellschaft (Polanyi 1944), waren mit Arbeitsrecht und Sozialversicherung das Überleben der Arbeiter/innen und letztlich der Gesellschaft insgesamt gesichert worden. Nach dem Ersten Weltkrieg erkämpfte die Arbeiterbewegung mit dem Acht-Stunden-Tag eine zentrale Norm abhängiger Arbeit. Dazu trat mit der Einführung von Betriebsräten der Anspruch auf Vertretung der Interessen der Arbeitenden innerhalb des Betriebs. Auch wenn diese historischen Entwicklungen trotz der späteren Rückschläge in der Zeit des Nationalsozialismus und Austrofaschismus ganz entscheidend für die Herausbildung des Normalarbeitsverhältnisses waren, gelten die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als wichtigste Periode und Blütezeit dieser Institution. Die Phase des „Fordismus“ (Aglietta 1979), die „glorreichen dreißig Jahre (trente glorieuses)“ (Fourastié 1979), die endgültige Durchsetzung der „Lohnarbeitsgesellschaft“ (Castel 2000) – aus unterschiedlichen Perspektiven wurde

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diese Phase des Kapitalismus analysiert, welche durch einen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit gekennzeichnet war, der Massenproduktion mit Massenkonsum verband und die soziale Teilhabe der Arbeitenden durch deutlich ausgebaute Sicherheiten unterstützte. Damit erhielt das Recht der Arbeitgeber/innen, Arbeitskraft für bestimmte Zeiten zu nutzen, sie also – in Marx’scher Terminologie – zur Mehrwertproduktion auszubeuten, einen klar umschriebenen Rahmen, der im Normalarbeitsverhältnis zum Ausdruck kommt. Zwar setzte es sich in allen kapitalistischen Ländern Europas in dieser Phase als Ausdruck der Verbindung von kapitalistischer Marktwirtschaft und Sozialstaat durch, nahm aber jeweils unterschiedliche Formen an. Je nach Ausmaß und Gestaltung der sozialen Rechte und je nachdem, wie weit die Rücknahme des Warencharakters der Arbeitskraft ging, lassen sich Typen von Wohlfahrtsstaaten unterscheiden (Esping-Andersen 1990). Gemeinsam war ihnen aber der Klassenkompromiss, der für die Kapitalseite eine hochgradige Unterordnung und Disziplinierung der Arbeitskräfte brachte, während letztere von einem vergleichsweise hohen Ausmaß an Stabilität der Beschäftigung und von sozialstaatlichen Garantien profitierten (Supiot 2001). Diese „De-Kommodifizierung“ der Arbeitskraft ging allerdings auch in dieser historischen Phase in den kapitalistischen Staaten nicht allzu weit. Das wird deutlich, wenn man Esping-Andersens Definition von De-Kommodifizierung als Maßstab heranzieht: „Eine minimalistische Definition derselben müsste beinhalten, dass ihre Bürger ungehindert und ohne drohenden Verlust des Arbeitsplatzes, ihres Einkommens oder überhaupt ihres Wohlergehens ihr Arbeitsverhältnis verlassen können, wann immer sie selbst dies aus gesundheitlichen, familiären oder altersbedingten Gründen oder auch solchen der eigenen Weiterbildung für notwendig erachten; sprich: wenn sie dies für geboten halten, um in angemessener Weise an der sozialen Gemeinschaft teilzuhaben.“ (Esping-Andersen 2012: 358)

Die Normalarbeit mit unbefristeter, voll sozialversicherungspflichtiger und dem Arbeitsrecht unterliegender Vollzeitbeschäftigung mit Einbindung in einen Betrieb und Vertretung durch einen Betriebsrat erlangte auch in den kapitalistischen europäischen Wohlfahrtsstaaten nicht für alle Geltung. Je nach nationaltypischem Geschlechterverhältnis blieb es überwiegend auf männliche Beamte, Arbeiter und Angestellte beschränkt. In die Normvorstellungen war überwiegend das Modell des männlichen Familienerhalters oder Ernährers (male breadwinner model) inkludiert, demzufolge das männliche Oberhaupt der Familie primär für die außerhäusliche Erwerbsarbeit zuständig ist, während die unbezahlte Haus-

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halts- und Sorgearbeit den Frauen überlassen bleibt (Pfau-Effinger 2000). Dem entspricht auch, dass die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen in Ländern wie Deutschland, Österreich, den Niederlanden oder Schweden insbesondere in der Familienphase überwiegend in Teilzeit erfolgte – ganz abgesehen von den prekären und vielfach informellen Beschäftigungsformen der Migrantinnen, die in Privathaushalten arbeiten. Genau genommen war also in den Nachkriegsjahrzehnten ein männliches und kein universelles Normalarbeitsverhältnis zur statistischen Normalität und zur Normvorstellung von Erwerbsarbeit avanciert. Abweichungen von dieser Norm, wie sie für viele Frauen mit Familienpflichten die Regel waren, aber auch auf die vielfältigen informelle Arbeit zutreffen, hatten verminderte soziale Rechte zur Folge. Somit wurde das Normalarbeitsverhältnis nicht auf alle internalisierten, unselbständigen Arbeitsverhältnisse ausgedehnt. Auch blieb die geschichtliche Periode, in der es zumindest für Männer als Norm uneingeschränkte Geltung beanspruchen konnte, zeitlich begrenzt. „Die Blütezeit dieses spezifischen Arrangements von sozialpolitisch regulierter abhängiger Beschäftigung war […] bereits Mitte der 1980er Jahre vorbei. Trotzdem prägen die damit verbundenen Integrationsstandards bis heute die Vorstellungen von „normaler Arbeit“, während sich prekäre Beschäftigung […] durch die Unterschreitung dieser Standards auszeichnet.“ (Mayer-Ahuja 2003: 35)

Die Normvorstellungen wirken also fort, aber auch in der Praxis der Vertragsbeziehungen in der Arbeitswelt zeigt sich, dass Totgesagte bisweilen ein recht langes Leben haben.

4. ATYPISCHE B ESCHÄFTIGUNG UND P REKARISIERUNG Wie stark das Normalarbeitsverhältnis die Vorstellungen von Erwerbsarbeit prägt, ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass alle Beschäftigungsformen, die davon abweichen, bis heute als „atypisch“ bezeichnet werden. Dies gilt sogar für die Teilzeitarbeit von Frauen, obwohl diese inzwischen in den Rang der statistischen Normalität aufgestiegen ist: In Deutschland erreichte die Teilzeitquote von Frauen im Jahr 2014 45% (Bundesanstalt für Arbeit 2015), einschließlich der geringfügigen Beschäftigung 57,8% (Wanger 2015: 2). In Österreich stieg der Anteil der weiblichen Erwerbstätigen in Teilzeit ebenfalls stark an und erreichte 2014 47,3% (Statistik Austria 2015). Zum einen ist also die Erwerbstätigkeit von

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Frauen stark gestiegen und gilt heute als „normal“, zum anderen sind Teilzeitarbeit und Vollzeitarbeit von Frauen beinahe gleich häufig. Die arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung der Teilzeitarbeit spricht ebenfalls dagegen, diese nach wie vor als atypisch zu bezeichnen. Dennoch: Die Beharrlichkeit der Normalitätsvorstellungen zeigt sich in den nicht unerheblichen Nachteilen, mit denen Teilzeit noch immer verbunden ist: Die Aufstiegschancen sind geringer, das Einkommen – nicht nur gesamt, sondern auch pro Stunde – ist niedriger und damit ist auch eine schlechtere Absicherung gegen Arbeitslosigkeit sowie eine niedrigere Altersrente verbunden. Auf die seltene qualifizierte Teilzeitarbeit mit hohem Einkommen treffen die genannten Nachteile aber nicht zu (Bergmann u.a. 2003). Kurze Teilzeit in denjenigen Branchen, in denen Teilzeitarbeit leicht zu bekommen ist, wie Handel oder Gastgewerbe, weicht nicht nur vom Normalarbeitsverhältnis stärker ab, sie ist auch mit dem Risiko der Prekarität verbunden, wie generell atypische Beschäftigung nicht per se als prekär gelten können, aber ein größeres Potenzial an Prekarität mit sich bringen (Mayer-Ahuja 2003: 51, Bartelheimer 2011). Nun ist es in der Diskussion über Normalarbeit wichtig, nicht nur Gruppen zu definieren, die unterschiedliche Beschäftigungsformen aufweisen und damit abgestufte gesellschaftliche Teilhabechancen genießen, sondern auch einen Bezug zum Lebensverlauf herzustellen. Vom Standard abweichende Beschäftigung kann auf Phasen im Erwerbsverlauf begrenzt sein und damit eine andere Bedeutung annehmen. Dies trifft etwa auf die Rolle der Teilzeitarbeit in der „Familienphase“, also bei der konsekutiven (im Vergleich zur simultanen) Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu. Allerdings widerspricht die Empirie, dass Frauen nach einer Teilzeitphase in der Regel wieder in Vollzeitbeschäftigung zurückkehren. O’Reilly und Bothfeld (2002) stellten für Großbritannien und Deutschland fest, dass ein solcher Übergang sogar sehr selten vorkommt. Dazu tragen segmentierte Arbeitsmärkte, Segregation nach Geschlecht und die Rolle von Frauen im Haushalt bei. Die These von der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses wird häufig mit der Zunahme atypischer Beschäftigung begründet. Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache – vor allem wenn man von Prozentwerten ausgeht: Der Anteil der Beschäftigten in Normalarbeit sank in Österreich von 2005 bis 2014 von 68% auf 60%, während die atypische Beschäftigung gegengleich von 32 auf 40% zulegte1. Betrachtet man allerdings die absoluten Zahlen, so zeigt sich eine

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Arbeitskräfteerhebung; Auswertung von Roland Teitzer, Institut für Soziologie, Universität Wien.

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beachtliche Stabilität der Normalarbeit: 2005 waren etwas unter, 2014 etwas über 2 Millionen Erwerbstätige „normal“ beschäftigt. Das Normalarbeitsverhältnis blieb also quantitativ stabil, während der Zuwachs an Beschäftigung überwiegend in die atypische Beschäftigung ging. Bei letzterer überwiegt wiederum die Teilzeitarbeit. Daneben ist geringfügige Beschäftigung mit 319.000 im Jahr 2014 in Österreich quantitativ von erheblicher Bedeutung, während Neue Selbständige und Freie Dienstverträge kaum eine Rolle spielen (BMASK 2014). Die Beschäftigungsform der Freien Dienstverträge ist in unserem Zusammenhang besonders interessant, weil sich daran die Spirale des rechtlichen „Öffnens“ und „Einfangens“ atypischer Beschäftigungsformen gut zeigen lässt: Als Mischtyp zwischen internalisiertem Arbeitsverhältnis und Werkvertrag wurde es in Österreich geschaffen, um den Arbeitgeber/inne/n eine Option für „flexible“ Beschäftigung zu bieten und so den Missbrauch von Werkverträgen einzuschränken. Anfangs unterlagen diese Verträge weder dem Arbeits- noch dem Sozialrecht. Später wurden die Freien Dienstverträge in die Sozialversicherungspflicht einbezogen. Das hatte zusammen mit Initiativen zur besseren Durchsetzung der Bestimmungen, wann überhaupt ein Freier Dienstvertrag zur Anwendung gelangen darf, zur Folge, dass immer weniger solche Arbeitsverhältnisse eingegangen wurden. So ging die Zahl der Freien Dienstverträge in Österreich von 24.000 im Jahr 2008 auf 16.000 im Jahr 2014 zurück (BMASK 2014), womit diese Vertragsform quantitativ relativ bedeutungslos wurde. In Deutschland nahm die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse von 1995 bis 2005 von 23,3 Mio. auf 19,7 Mio. ab. Doch zwischen 2005 und 2011 stieg sie wieder auf 21,1 Mio. an – bei insgesamt 39,9 Mio. Erwerbstätigen (Walwei 2015). Trotz ihres Bedeutungsverlusts durch die Zunahme abweichender Arbeitsformen prägt das Normalarbeitsverhältnis also weiterhin die Erwerbstätigkeit in Ländern wie Österreich und Deutschland sowohl hinsichtlich der statistischen Normalität als auch im Hinblick auf die Normvorstellungen sehr stark. Dennoch verweisen das Wachstum atypischer Beschäftigung aber auch die Veränderungen im Inneren des Normalarbeitsverhältnisses (siehe weiter unten) darauf, dass der fordistische Klassenkompromiss um die Normalarbeit heute nur noch eingeschränkt Geltung hat. Hier setzte die Debatte über die Prekarisierung der Arbeit an. In ihr ging es weniger um den Wandel der Beschäftigungsverhältnisse oder Vertragsformen, die allenfalls als Indikatoren für grundlegendere Veränderungen in der Gesellschaft gelten können, als vielmehr um die zunehmende soziale Verwundbarkeit oder um nicht weniger als die „Wiederkehr der sozialen Frage“ (Castel 2000). Denn seit den 1980er Jahren nehmen unsichere Beschäftigung und Lebenslagen wieder zu, die in der Nachkriegszeit als überwunden galten, aber historisch als eine zentrale Begleiterscheinung des Kapita-

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lismus zu verstehen sind. Prekarisierung meint einen Prozess abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die „Zone der sozialen Verwundbarkeit“ wächst, in der prekäre Arbeit und fragile Unterstützung durch die nächste Umgebung zusammentreffen. Sie schiebt sich zwischen die „Zone der Integration“, in der sich die Gesellschaftsmitglieder in stabiler Beschäftigung und integriert in Beziehungsnetzwerke der Familie und der Gemeinschaft befinden, und die Randzonen der „Fürsorge“ und „Ausgrenzung“. Verschiebungen zwischen den verschiedenen Zonen lassen auf Veränderungen im Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt schließen, auch deshalb, weil die Zonen aufeinander einwirken und prekäre Arbeit Rückwirkungen auf den stabilen Kern der Arbeitsgesellschaft in Form einer „Destabilisierung des Stabilen“ zeitigt (Castel/Dörre 2009). „Im Hinblick auf Ausgrenzungsprozesse kommt der Zone der „sozialen Verwundbarkeit“ eine zentrale Bedeutung zu. Denn dort werden die Weichen gestellt, die darüber entscheiden, ob die sozialen Destabilisierungen sich zur Exklusion verschärfen oder ob Übergänge in die „Zone der Integration“ gelingen.“ (Kronauer 2010: 259).

Prekarisierung bedeutet also nicht nur eine Zunahme der Arbeitsverhältnisse, die potentiell prekär sein und zu prekären Lebenslagen führen können, sondern verweist als Gesellschaftsdiagnose auf eine Abnahme sozialer Kohäsion. Die Betrachtung der Beschäftigungsformen und insbesondere der Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses spielt dabei eine Rolle, insofern sie auf einen „Platzmangel in der Sozialstruktur“ (Castel 2000) verweisen, also einen Mangel an Positionen, mit denen gesellschaftliche Nützlichkeit und öffentliche Anerkennung verbunden sind. Damit betont Castel, dass es ihm nicht nur um materielle Ungleichheit, sondern auch um symbolische Ordnungen geht. Genau das ist auch in der Frage des Normalarbeitsverhältnisses von großer Bedeutung: Zwar stehen vielfach die Verteilungsinteressen der Arbeitnehmer/innen an Einkommen, sicherer Beschäftigung und sozialer Absicherung im Vordergrund der Diskussion über die Erosion der Normalarbeit, doch wird damit zugleich ein Problem der Anerkennung angesprochen. „Ausgrenzung bedeutet, in der Gesellschaft keinen anerkannten Ort zu haben“ (Kronauer 2010: 150). Normalarbeit hängt nämlich mit zentralen Anerkennungsordnungen der Gesellschaft eng zusammen, welche aus der Sicht ihrer Mitglieder die soziale Wertschätzung regeln, die ihnen entgegengebracht wird. So stellen Voswinkel und Wagner (2013) eine Erosion der Anerkennungsordnungen Organisation, Beruf und Leistungsprinzip fest, also von Institutionen, die mit der Normalarbeit eng verbunden sind. Beruf und Organisationsmitgliedschaft verleihen den Beschäftigten Status, denn an sie ist differenzierte Wertschätzung geknüpft. Das Nor-

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malarbeitsverhältnis impliziert stabile Organisationsmitgliedschaft und weist die konkrete Position aus, die jemand bekleidet. Durch den Wandel in den Strukturen und Strategien von Unternehmen und öffentlichen Organisationen in den beiden letzten Jahrzehnten verminderte sich nicht nur die Dauerhaftigkeit und Stabilität der Organisationsmitgliedschaft, diese wird auch nur noch in abgestufter Form gewährt, das heißt, die Unterschiede in der Anerkennung zwischen Stamm- und Randbelegschaften bzw. zwischen Kernarbeitskräften und Leiharbeiter/innen werden häufiger. Dieses Abdrängen auf die billigen Plätze kann anerkennungstheoretisch als Platzmangel im Sinne von Castel interpretiert werden, insofern den prekarisiert Beschäftigten zwar Teilnahmechancen in der Wirtschaftssphäre vorfinden, sie aus dieser Teilnahme aber keine stabile Selbstachtung mehr beziehen können (Honneth 2013: 35). Wenig überraschend fällt daher die Sortierung gesellschaftlicher Gruppen auf die verschiedenen Segmente des gespaltenen Arbeitsmarktes aus. Frauenarbeit kam historisch sowohl die Rolle der „Bewahrerin“ traditioneller als auch jene der „Wegbereiterin“ moderner Formen der Prekarität zu (Mayer-Ahuja 2003: 89). Ob man atypische oder prekäre Beschäftigung in den Blick nimmt, die besondere Betroffenheit von Frauen ist eklatant. Neben der Mehrheit der Frauen konnten auch Migranten „in der Blütezeit des fordistischen Kapitalismus allenfalls partiell an einem durch Normalarbeit konstituierten Bürgerstatus partizipieren“ (Dörre 2006: 13). Der abgestufte Zugang zu Erwerbsarbeit, die Probleme in der Anerkennung von Qualifikationen und die Praktiken der Diskriminierung weisen Personen mit Migrationshintergrund den Segmenten ungesicherter Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu (Krenn/Saunders 2012). Die Diskussion über Prekarisierung im Wortsinne einer Verschiebung von gesicherten hin zu prekären Beschäftigungspositionen und Lebenslagen provozierte daher die Kritik, primär das Leid der männlichen Industriearbeiter und Angestellten zu beklagen (Aulenbacher 2009, Motakef 2015). Es gelte demgegenüber Prekarität in den Blick zu nehmen ohne unterschwellig patriarchale und rassistische Logiken zu akzeptieren (Woltersdorff 2010). Andererseits sollte diese berechtigte Kritik m.E. das männliche Normalarbeitsverhältnis aber nicht zum Privileg stilisieren, dem man im Sinne größerer Gleichheit nicht nachtrauern müsse. „The chance to be exploited in a long-term job is now experienced as a privilege.“ (Žižek 2012: 9, zitiert nach Hewison 2016: 428) Eine solche Wirkung der Prekarität als Herrschaftsform sollte nicht sozialwissenschaftlich verdoppelt werden. So wies schon Bourdieu darauf hin, dass die „Existenz einer beträchtlichen Reservearmee jedem Arbeitnehmer das Gefühl einflöße, dass er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes

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Privileg“ (Bourdieu 2004: 97). Damit sind Praktikanten und Praktikantinnen, Leiharbeitskräfte, Scheinselbständige, freilich aber auch die vielen Personen in Arbeitslosigkeit angesprochen, auf die ein großer Teil der prekären Arbeit und der prekären Lebenslagen entfällt.

5. AUSWEITUNG DER K AMPFZONE Es wäre verfehlt, eine klare Grenze zwischen Normalarbeitsverhältnis und atypischer Beschäftigung, zwischen stabiler Integration in Erwerbsarbeit und Prekarität anzunehmen. Vor allem sollte den Vertragsformen nicht zu viel Gewicht beigemessen werden – bedeutete das doch wieder eine Kapitulation der Sozialwissenschaft vor der Sozialversicherung, wie das Kadritzke einmal im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Arbeiter/innen und Angestellten ausgedrückt hat. Entwicklungen innerhalb des Normalarbeitsverhältnisses führten dazu, dass sich die tatsächlichen Bedingungen nur begrenzt von den formalen Bestimmungen ablesen lassen. Schützt die Hülle der Normalarbeit noch vor der vielfach konstatierten Zunahme von materieller Unsicherheit und Erosion der Anerkennung? Die Institution des Normalarbeitsverhältnisses ist nicht nur von außen durch atypische Beschäftigung bedrängt, sie ist auch in ihrem Inneren zur Kampfzone geworden: Prozesse der internen Flexibilisierung in zeitlicher, funktionaler und finanzieller Hinsicht (Flecker 2005) ebenso wie die Anforderungen an die Mobilität der Beschäftigten reduzieren die früher mit Normalarbeit assoziierte Stabilität. Niedriglohn und „Armut trotz Arbeit“ dringen auch in die Vollzeitbeschäftigung ein (Bosch/Weinkopf 2007, Teitzer et al. 2014). Projektförmige Arbeitsorganisation und Management by Objectives vervielfachen die Auswahlprüfungen und damit Unsicherheiten auch in unbefristeter Beschäftigung. Rasch wandelnde Qualifikationsveränderungen ohne ausreichende Weiterbildung und insbesondere die verbreitete Leistungsintensivierung (Gallie 2013) werfen für viele Beschäftigte auch in Normalarbeit die Frage auf, ob gestiegene Belastungen physisch und psychisch lange durchzuhalten sind. Aus diesen und weiteren Gründen muss „prekäre Normalarbeit“ kein Widerspruch sein (Jürgens 2011). Auf der Seite der Anerkennungsverhältnisse verschoben sich die Regeln sozialer Wertschätzung im Inneren des Normalarbeitsverhältnisses erheblich. „Eine auf Zugehörigkeit und sozialer Reziprozität basierende Form der Anerkennung, die sich als Wertschätzung des Leistungsbeitrags der Arbeitenden in relativer Beschäftigungsstabilität, Senioritätsregeln und sozialstaatlicher Absicherung ausdrückt, [verliert] relativ an Gewicht […] gegenüber einer Anerkennungsform, die herausragende Leistungen und

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vor allem Markterfolgen in enger Kopplung an kurzfristige Beiträge zuteilwird.“ (Voswinkel/Wagner 2013: 87)

Damit kommt nur einem Teil der in Normalarbeit Beschäftigten Wertschätzung in Form von „Bewunderung“ zu, während bisher alle mit einem gewissen Maß an „Würdigung“ ihrer Zugehörigkeit und ihres Beitrags rechnen konnten. Die (statistische) Normalleistung, also das bloß Durchschnittliche, zählt deutlich weniger, wodurch per Definition die Mehrheit einer Abwertung und Missachtung ausgesetzt wird. Der Kampf um die Normalarbeit hat sich in eine Zone ausgeweitet, die bisher dafür nicht anfällig schien, nämlich den öffentlichen Dienst und die öffentlichen Dienstleistungen. Historisch gesehen stammt das Normalarbeitsverhältnis von den Beschäftigungsformen staatlicher Bürokratien ab, deren Merkmale zum Teil zunächst auf die „Privatbeamten“, also die Angestellten, und dann auch auf die Arbeiter/innen übertragen wurden. Lange Zeit bildete der öffentliche Dienst daher den stabilen Kern der Arbeitsgesellschaft, der zentrale Elemente des Normalarbeitsverhältnisses, wie feste Anstellung, Beschäftigungssicherheit oder Senioritätsregeln der Bezahlung prägte (Keller 2010). Mit dem Einzug des New Public Management wandelten sich nicht nur die Organisations- und Arbeitsweisen im Inneren der Organisationen, durch Auslagerungen von Teilen der Aufgaben konnten das öffentliche Beschäftigungsverhältnis umgangen und neue Arbeitsmarktsegmente sowie minder geschützten Arbeitsformen genutzt werden. Von den notorisch knappen Kassen geht, noch verstärkt durch die Austeritätspolitik, ein Druck auf die Gemeinden, Länder und Bundesbehörden aus, billigere und schlechter abgesicherte Arbeitskraft einzusetzen. Gerade im öffentlichen Dienst sind Befristungen, aber auch Praktika oder Leiharbeit deshalb stark verbreitet (Hohendanner 2010). Standing (2011: 51) kommt zu dem Schluss, dass „globally, the public sector is being turned into a zone of precarity“. In Großbritannien sind befristete Verträge im öffentlichen Dienst sogar häufiger als in der Privatwirtschaft. Dies lässt sich aber damit erklären, dass dort Arbeitsverträge ohnehin leicht beendet werden können, und die öffentlichen Arbeitgeber/innen mit einer Befristung auf die Erwartungen reagieren, dass die Beschäftigung im öffentlichen Dienst generell unbefristet sei, außer sie ist eben ausdrücklich als befristet deklariert (Rubery 2010: 508). Nach Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 und den Krisenerscheinungen im Euroraum führte die Europäische Union die sogenannte European Economic Governance ein. Mit dieser und ähnlichen Maßnahmen wurde die Kampfzone um die Normalarbeit auf die supranationale Ebene gehoben. Die im Jahr 2011 eingeführten Verfahren zur Vermeidung wirtschaftli-

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cher Ungleichgewichte zielten auf die Durchsetzung der Sparpolitik und „struktureller Reformen“ in den Mitgliedsstaaten (Hermann 2015). Neben der öffentlichen Budgetpolitik wird die Lohnpolitik in die Koordinierung einbezogen (Schulten/Müller 2013). Die Auswirkungen der verstärkten Interventionen in die Politik und in die Arbeitsbeziehungen der Mitgliedstaaten sind in jenen Ländern am deutlichsten zu erkennen, die unter den direkten Einfluss der „Troika“ aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds geraten sind. Insgesamt wurden in Ländern wie Griechenland, Lettland, Rumänien und Portugal nicht nur die Einkommen im öffentlichen Dienst reduziert und eingefroren, um die Staatsausgaben zu senken, sondern auch die Mindestlöhne in der Privatwirtschaft gekürzt oder nicht mehr angepasst (Hermann/Hinrichs 2012). In diesem „neuen europäischen Interventionismus“ (Schulten/Müller 2013) wird zudem auf eine Schwächung und Dezentralisierung kollektivvertraglicher Verhandlungssysteme in der Privatwirtschaft gedrängt, während die Lohnfindung im öffentlichen Sektor stärker einer einseitigen Bestimmung durch die Regierungen unterworfen wird (Allinger et al. 2014). In den Rechtfertigungen der Maßnahmen werden die sozialen Rechte der Arbeiter/innen und Angestellten, wie Mindestlöhne oder Kündigungsschutzbestimmungen, die ihnen ein Mindestmaß an Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt bieten, als „Rigiditäten“ dargestellt, die mitverantwortlich für die Arbeitslosigkeit seien. Gegen sie müsse mit „strukturellen Reformen“ vorgegangen werden. Ein explizites Ziel der Politik ist es auch, den Entscheidungsspielraum für die Unternehmen auszuweiten und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu schwächen. So nennt der Bericht über „Labour Market Developments in Europe 2012“ der Generaldirektion ECFIN der Europäischen Kommission folgende Zielsetzungen für „beschäftigungsfreundliche Reformen“: Reduzierung der Generosität in der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld, Bezugsdauer usw.), Abbau des Kündigungsschutzes, Erhöhung des Renteneintrittsalters, Dezentralisierung der Tarifverhandlungen, Aufhebung des Günstigkeitsprinzips, Reduzierung der Tarifbindung und „allgemeine Reduzierung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften“ (European Commission 2012, 103 f., zitiert nach Schulten/Müller 2013, S. 187). In all diesen Maßnahmen und Argumenten zeigt sich sehr deutlich, dass die dekommodifizierende Wirkung des Normalarbeitsverhältnisses einschließlich der kollektiven Lohnfindung reduziert werden soll, ohne die Vertragsform als solche in Frage zu stellen.

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6. S CHLUSSFOLGERUNGEN Wie denken und reden wir also heute angesichts dieser vielschichtigen Entwicklungen über Normalarbeit? Eine höchst relevante Unterscheidung wird meines Erachtens häufig übersehen: Wird das Ende des Normalarbeitsverhältnisses ausgerufen, dann wird selten klargelegt, ob es sich um Verschiebungen innerhalb des internalisierten Arbeitsverhältnisses – etwa, quantitativ am wichtigsten, von Vollzeitbeschäftigung auf Teilzeitarbeit – oder aber um Alternativen zum internalisierten Arbeitsverhältnis handelt, also um Marktbeziehungen oder zumindest um Arbeitsverhältnisse, denen der Mantel von Marktbeziehungen umgehängt wird. Letzteres finden wir in den neuen Entwicklungen des Crowdsourcing über Internet-Plattformen, sei es bei digitaler Arbeit in kreativen Berufen, sei es bei der Vermittlung von Haushaltshilfen über das Internet. Verzichten also die Vertreter/innen des Kapitals auf ihre seit über 200 Jahren genutzten Vorteile aus dem im Hinblick auf konkrete Tätigkeiten und Leistungsniveaus relativen offenen Arbeitsvertrag oder geht es darum, wie denn dieser Arbeitsvertrag auszugestalten sei und welche sozialen Rechte mit ihm verknüpft sind? Es ist offensichtlich, dass ein Ausstieg aus dem internalisierten Arbeitsverhältnis auf breiter Basis viel weitreichendere gesellschaftliche Folgen hätte als eine neue Runde in der langen Auseinandersetzung um die konkrete und landesspezifische Form seiner Institutionalisierung. Ein zweiter wichtiger Punkt betrifft die Debatte über prekäre Arbeit. Reden wir von Prekarisierung als Verlust bisheriger Stabilitäten und Anerkennungsformen, obwohl diese auch früher nicht allen Beschäftigten zugutekamen, oder gilt uns vielmehr das Normalarbeitsverhältnis historisch und global betrachtet als Ausnahme, als Insel in einem Meer von Prekarität? Betonen wir in diesem Zusammenhang ganz besonders, dass diese Ausnahme im „Postfordismus“ dysfunktional für die Kapitalakkumulation geworden sei, so laufen wir Gefahr, dem „Schein der Unausweichlichkeit“, hervorgerufen durch die „Arbeit der Einprägung“ des Neoliberalismus (Bourdieu 2004), zu erliegen. Ähnlich verhält es sich mit dem Blick auf das Normalarbeitsverhältnis als Privileg der weißen, heterosexuellen Männer. Zwar weisen materielle Besserstellung und symbolische Aufwertung auf eine Teilhabe an der Herrschaft hin, die aus der Verbindung von Kapitalismus, Patriarchat und Kolonialismus hervorgegangen ist. Doch sollte nicht übersehen werden, dass die Ungleichheit zwischen Normalarbeit und Prekarität auch auf Strategien des Teile-und-Herrsche zurückgeht und dass die heute in durchschnittlicher Normalarbeit Beschäftigten im Gesamtbild der sozialen Ungleichheit zumindest in Ländern wie Österreich und Deutschland doch nur sehr begrenzte Privilegien genießen.

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Während manche Kommentatoren und Kommentatorinnen die Überwindung der persönlichen Unterordnung durch einen Ausstieg aus dem Normalarbeitsverhältnis und die Verlockungen des Unternehmertums ansprechen, also auf Arbeitsformen jenseits des Arbeitsvertrages abzielen, bleibt der politische Kampf, der gegenwärtig in der Europäischen Union um „Strukturreformen“ am Arbeitsmarkt geführt wird, ganz klar im Rahmen des internalisierten Arbeitsverhältnisses. Es geht darum, Schutzbestimmungen für den Einsatz, die Entlohnung und Kündigung der Arbeitskräfte abzubauen und damit dem Warencharakter der Arbeitskraft wieder stärker Geltung zu verschaffen. Auf diese Weise soll der Klassenkompromiss um das „fordistische Normalarbeitsverhältnis“ zurückgenommen werden, indem jene Sicherheiten der Beschäftigung und des Einkommens, die gegen Disziplin und Unterordnung getauscht worden waren, abgebaut werden. Warum aber sollte dieser Kompromiss heute für die Kapitalseite weniger attraktiv sein? Die Zeiten des kalten Krieges und der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und realem Sozialismus sind vorbei. Heute reichen teils die hohe Arbeitslosigkeit und die Prekarität als Herrschaftsform aus um Disziplin zu sichern, teils konnte die Steuerung der Arbeitskraft weiter in die Personen hinein verlagert werden. Somit scheint die Unterordnung unter betriebliche Hierarchien vordergründig kein so relevantes Thema mehr zu sein, auch wenn Kräfteverhältnisse und hegemoniale Denkweisen sich wieder ändern können. Um das Schicksal der Normalarbeit angemessen zu erfassen, wird eine funktionalistische Sicht, sei es neomarxistischer, sei es neoliberaler Provenienz, nicht ausreichen. Die Erfordernisse „der Wirtschaft“ oder der „postfordistischen Akkumulation“ erklären uns nur zum Teil, warum die Arbeitsverhältnisse in einer gewissen Weise umgeformt werden. Aus der Perspektive der Systemintegration betrachtet ist die Dynamik des Lohnarbeitsverhältnisses vielmehr aus den einander wechselseitig beeinflussenden Veränderungen des Produktionssystems, des Wohlfahrtsstaates und der Familienformen zu verstehen. Ohne eine auf Sozialintegration eingestellte Brille kommt man allerdings nicht aus: Als eine von Beginn an umkämpfte Institution wird das Schicksal des internalisierten Arbeitsverhältnisses und mehr noch jenes des Normalarbeitsverhältnisses von den Kämpfen zwischen individuellen und kollektiven Akteuren entschieden. Die Schauplätze reichen vom Betrieb über das Arbeitsgericht und die Kollektivvertragsverhandlungen bis zur European Economic Governance, mit der die europäischen, wirtschaftlichen und politischen Eliten derzeit Einfluss auf die Arbeitsmarktregulierung der Mitgliedstaaten zu nehmen versuchen. Im Kleinen wie im Großen steht auf dem Spiel, ob und wie das Arbeitsverhältnis gesellschaftlich eingehegt ist und mit dem Arbeitsvertrag jene sozialen Rechte ver-

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bunden bleiben, die sowohl für die sozialen Teilhabechancen der Individuen als auch für die Integration der Gesellschaft essentiell sind.

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Atypische Beschäftigung und Armutsgefährdung P ETER S TOPPACHER

Österreich ist eines der reichsten Länder der Erde. Wenn auch nicht in dem Ausmaß wie in anderen Ländern konzentrieren sich zusehends Vermögen und damit verbunden Macht. Gleichzeitig drohen immer mehr Menschen in Armut bzw. ein Leben am Rande der Gesellschaft abzurutschen, ohne Perspektiven für sich selbst, aber oft auch für ihre Angehörige. Ebenso wächst der Konkurrenzdruck auf dem flexibilisierten Arbeitsmarkt. Die Zahl der sogenannten prekären Arbeitsplätze, die kaum mehr das Existenzminimum erbringen und im Falle des Verlustes bei weitem keine ausreichende Versicherungsleistung garantieren, steigt, jene der lange Zeit dominierenden „normalen“ Vollzeitarbeitsplätze sinkt. Mit massiver Arbeitslosigkeit schwinden die Perspektiven vieler Betroffener. Eine Schlüsselrolle für solche Entwicklungen besitzt der Arbeitsmarkt. Die Einbindung in den Arbeitsmarkt und die Erwerbseinkommen sind zentral für die Teilhabe an der Gesellschaft sowie für die soziale Absicherung, zumindest für jenen großen Teil der nicht von vornherein vermögenden Bevölkerung. Einkommen, die am Arbeitsmarkt erzielt werden, bestimmen nicht nur zu einem hohen Anteil das Haushaltseinkommen und die Kaufkraft Einzelner oder ganzer Familien, sondern auch die Höhe jener Sozialleistungen, die auf dem Versicherungsprinzip basieren (Arbeitslosenunterstützung, Pensionen) (Fink 2009: 198). Der Arbeitsmarkt ist damit nach wie vor entscheidend für gesellschaftliche Inoder Exklusion und damit auch soziale Ungleichheit. Die Bedingungen am Arbeitsmarkt haben sich in den letzten Jahrzehnten nachhaltig geändert: Das idealtypische Modell einer durchgängigen vollzeiterwerbstätigen Normalerwerbsbiografie verlor an Bedeutung, heutzutage ist es nicht mehr, wie noch in den 60ern und 70ern des vergangenen Jahrhunderts, die (vor allem Männer betreffende) Regel, dass zwischen Erwerbseintritt nach der Lehre und Pensionierung eine langandauernde Beschäftigung in einem Betrieb

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liegt. Spätestens seit den 1980er Jahren sind die Arbeitsmärkte auch von einer zunehmenden Heterogenisierung der Arbeitsbedingungen – vermittelt über sogenannte „atypische Beschäftigungsverhältnisse“ – gekennzeichnet, was mit einer wachsenden Umverteilung von Chancen und Risiken am Arbeitsmarkt verbunden ist. Immer deutlicher bilden sich „neue soziale Risiken“ heraus, die durch traditionelle sozialstaatliche Sicherungsmodelle nur mehr unzulänglich abgedeckt sind (ebd.). Ebenso wurde Arbeitslosigkeit in diesem Zeitraum zu einem Phänomen, das immer breitere Bevölkerungsschichten betrifft. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, hier vor allem gemeint als Aufweichung des durch Arbeitsverträge abgesicherten Normalarbeitsverhältnisses, wurde von konfligierenden Interessen begleitet. Das Normalarbeitsverhältnis als umkämpfte Institution der Lohnarbeitsgesellschaft wirkte sich sowohl auf die Produktionssysteme, den Wohlfahrtsstaat als auch auf den Rahmen für außerberufliche Aktivitäten in und mit der Familie, für soziale Beziehungen und Freizeit aus. Vor allem aber sind damit aber auch Rechte für ArbeitnehmerInnen verbunden, die fixen Arbeitszeiten haben auch positive Effekte auf die Planbarkeit jeglicher außerberuflicher Bereiche. Die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse bzw. die Deregulierung weicht diesen Bezugsrahmen auf, je nach Perspektive werden im Diskurs Chancen oder Risiken besonders hervorgehoben. Auf der einen Seite betonen FlexibilisierungsbefürworterInnen die Vorteile der weitergehenden Auflösung herkömmlicher Arbeitszeitmodelle für einzelne und Betriebe und fordern weitergehende Deregulierung und mehr Entscheidungsfreiheiten (für wen auch immer) als Lösung für Probleme der modernen Arbeitsgesellschaft und des Wohlfahrtsstaates. Auf der anderen Seite werden vor allem negative finanzielle und soziale Folgen für ArbeitnehmerInnen befürchtet. Für beide Positionen lassen sich Fallbeispiele anführen, wobei im Folgenden auf die Auswirkungen für ArbeitnehmerInnen fokussiert wird. Es liegt auf der Hand, dass Teilzeitarbeit als häufigste Form der Flexibilisierung für funktionierende Familien mit Betreuungspflichten, zumeist der schlechter verdienenden Frau, vielerlei Vorteile hat, vor allem wenn der andere Partner ein gutes Einkommen hat. Zerbricht aber das Familienidyll, kann das schnell massive Folgen zeitigen. Aber auch, wenn die durch Betreuung gekennzeichnete Lebens- und Familienphase sich dem Ende zuneigt und der Wunsch nach einer intensivierten Erwerbstätigkeit, die eine gewisse Unabhängigkeit vom zweiten Einkommen sichert, stärker wird, kann sich dieser als unrealisierbar erweisen, mit allen Folgen für die spätere Pension. Für Selbständige oder Honorarbeschäftigte in beispielsweise der EDV-Branche, im Sektor Marketing und Kommunikation oder im Interimsmanagement erlaubt ihr flexibles Beschäftigungsverhältnis mehr persönliche Entscheidungsfreiheit und eventuell auch eine höhere Work-

A TYPISCHE B ESCHÄFTIGUNG

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A RMUTSGEFÄHRDUNG

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Life-Balance, sofern das Einkommen und die Nachfrage nach ihren Fertigkeiten so hoch ist, dass sie die Risiken längerer Erwerbsunfähigkeit und von unerwarteten Verdienstausfällen durch entsprechende Vorsorgemaßnahmen minimieren können. Etwas gefährdeter sind neue Selbständige in weniger exklusiven und nachgefragten Tätigkeiten, etwa scheinselbständige BuchhalterInnen, die als „versteckte Angestellte“ die gleiche Arbeit wie vorher für ihren ehemaligen Dienstgeber erbringen, nur mit einem anderen Rechtstitel, der zumeist z.B. im Fall von Arbeitslosigkeit auch weniger soziale Absicherung mit sich bringt. Es erfolgt ein Risikotransfer vom Betrieb zum nunmehr selbstständig Tätigen. Für Beschäftigte am „anderen Ende“ – in Hilfsarbeiten oder im schlecht bezahlten Dienstleistungsbereich – beispielsweise als LeiharbeiterIn mit kurzen, nicht selten auch nur tageweisen Beschäftigungsepisoden und häufiger Arbeitslosigkeit dazwischen oder als neue Selbstständige in der Reinigung, der Pflege oder in der Zustellung – ist die persönliche Entscheidungsfreiheit weniger gegeben, wenn eine Krankheit, ein Unfall, eine familiäre Krise eine längere Pause notwendig macht, ein wichtiger Auftrag wegfällt oder – nicht selten z.B. in der Baubranche – die Bezahlung erbrachter Leistungen unterbleibt. Vor allem in Verbindung mit familiären Versorgungspflichten, dem Bedienen von Krediten für eine Wohnung, ein Haus oder auch für die notwendigen Betriebsmittel im Falle einer Selbständigkeit (z.B. das Dienstfahrzeug) ist der Verdienstausfall bald existenzbedrohend, wenn kein „Notgroschen“ erspart werden konnte, was bei niedrigem Einkommen und mittleren Haushaltsführungskosten nicht leicht ist. In diesem Fall schwindet die persönliche Entscheidungsfreiheit, die als ein Versprechen mit der Flexibilisierung einhergeht oder eher oft vorhergeht. Ähnlich ergeht es Höhergebildeten der „Generation Praktika“ die trotz vielfacher Versuche keinen stabilen Einstieg in das Berufsleben finden, noch keine Anwartschaft auf ausreichende Transfereinkommen erworben haben und daher oft auf jede Verdienstmöglichkeit angewiesen sind. Sie können aber zumindest hoffen, dass der „Trumpf“ einer guten Ausbildung irgendwann einmal „sticht“. Bei den anderen aber, jenen leicht Ersetzbaren und Austauschbaren mit geringer und/oder nicht nachgefragter Qualifikation, wird nach längeren erfolglosen Versuchen, wieder aus dieser Situation hinauszufinden, auch das Selbstwirksamkeitsgefühl, nämlich selbst in entscheidendem Ausmaß zur Lösung der Problematik beitragen und das eigene Schicksal beeinflussen zu können, untergraben. Diese „VerliererInnen“ werden zunehmend zu „Überflüssigen“ (vgl. Trojanow

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2013: 1)1, leben in unsicheren Arbeitsverhältnissen, sind häufig auf Sozialleistungen angewiesen und fühlen sich – verstärkt durch einen weit verbreiteten Sozialschmarotzerdiskurs – häufig individuell „überzählig“. Zwischen jenen, die einer langfristigen Vollbeschäftigung nachgehen, und jenen, die aus der Sozialversicherung gefallen sind und zwischen „bedarfsgeprüften Leistungen“ [wie der Mindestsicherung], atypischen Beschäftigungen und Aktivierungsmaßnahmen pendeln, werden die Unterschiede in der Lebensführung immer klarer (vgl. Leibetseder 2012: 21).2 Damit in Zusammenhang stehen auch Kluften in der gesellschaftlichen Anerkennung der beiden Gruppen mit ihren unterschiedlichen kulturellem, sozialem, ökonomischem und symbolischem Kapital: Plakativ gesprochen erfahren gescheiterte Industrielle oder ehemals anerkannte WissenschaftlerInnen oder KünstlerInnen, selbst wenn sie finanziell arm sind, noch immer gesellschaftliche Anerkennung, hingegen ist dies bei unfreiwillig prekär Beschäftigten, vor allem wenn sie auf das letzte soziale Netz, die Mindestsicherung zurückgreifen, oft nicht der Fall: In der „Arena der Anerkennung“ wird Beschämung als „soziale Waffe“ eingesetzt, fehlendes Vertrauen und Schuldzuschreibungen untergraben ihre Perspektiven und fördern den Abstieg (Schenk 2012: 1). Die Liste solch idealtypischer Beispiele, anhand derer individuelle Chancen und Risiken der Flexibilisierung anschaulicher werden, ließe sich mühelos erweitern, etwa in Richtung Jobsharing, All-inclusive-Verträgen, Crowdworking etc.3 Im Folgenden aber werden nach einem kurzen Exkurs zur Erfassung von Armut- und Armutsgefährdung einige Entwicklungen am Arbeitsmarkt nachge-

1

Langzeitarbeitslose würden als Belastung der Gesellschaft gesehen und in einer Vermengung „neomalthusianischer und neoliberaler Positionen“ indirekt „überflüssig“. Sie stellten schichtspezifische Nachfolger des früheren Lumpenproletariats dar. Als Motto gelte, „wer nichts produziert und – schlimmer noch – nichts konsumiert, existiert gemäß den volkswirtschaftlichen Bilanzen nicht“.

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Sie verweist im Bereich der Arbeitslosenversicherung beispielsweise auf den erschwerten Zugang durch verlängerte Anwartschaftszeiten, die häufigere Anwendung von Sperren, die Verringerung der Nettoersatzraten für das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe, den Wechsel vom Berufsschutz zum Entgeltschutz etc.

3

Die Beispiele entstammen zahlreichen qualitativ Forschungsarbeiten zum Thema Arbeitsmarktintegration, Arbeitslosigkeit, arbeitsmarktferne Personen und Armut. Beispielsweise sei auf die explorative Studie „Leben in Armut. Lebenslagen und Bewältigungsstrategien“ oder auf „Armutsberichte“ für die Stadt Graz oder das Land Steiermark hingewiesen.

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zeichnet, die empirische Zusammenhänge zwischen atypischer Beschäftigung und Armutsgefährdung veranschaulichen sollen (vgl. Stoppacher/Edler: 2016). Dazu dient unter anderem eine Übersicht über den Arbeitsmarkt in der Steiermark, die anlässlich einer Arbeit über Armut für das Land Steiermark erarbeitet wurde, die Zahlen stehen aber paradigmatisch für Österreich ebenso wie für andere postindustrielle europäische Gesellschaften.

1. D IE M ESSUNG

VON

ARMUT

„Arm zu sein, bedeutet nicht nur, wenig Geld zu haben. Armut hat nicht nur eine ökonomische Dimension, sondern vor allem eine soziale“ (Roubicek 2010). Zum Begriff Armut findet man weder im alltäglichen Sprachgebrauch noch in der wissenschaftlichen Diskussion eine einheitliche Definition. Ähnlich verhält es sich beim Phänomen Reichtum. Im Alltag wird Armut häufig mit materiellem Mangel gleichgesetzt – Armut steht als Synonym für Mittellosigkeit und Bedürftigkeit und liegt dann vor, wenn es an ausreichend Geld, Nahrung oder Kleidung fehlt. Armut wird oft auch mit spezifischen sozialen Randgruppen in Verbindung gebracht, die nur wenig in die Gesellschaft integriert sind (vgl. Hauser 2008: 9495). Wie sich Armut messen lässt und wer in einer Gesellschaft als arm gilt, hängt vom jeweils verwendeten Armutskonzept ab. Eine grundlegende Unterscheidung ist zwischen „absoluter“ und „relativer“ Armut zu treffen: Absolute Armut besteht, wenn Menschen das zum Überleben Notwendige fehlt – dazu zählen Nahrung, Wasser, Kleidung, Heizung, Wohnen, medizinische Hilfen. Diese Menschen leben unter dem absoluten Existenzminimum. Von relativer Armut wird gesprochen, wenn in einem Land der Lebensstandard und die Lebensbedingungen von Menschen weit unter dem durchschnittlichen Lebensstandard liegen. Diese Menschen leben unter dem in einem Land geltenden soziokulturellen Existenzminimum. Unter den Armutskonzepten sind der „Ressourcen-“ und der „Lebenslagenansatz“ zu unterscheiden. Diese beiden Zugänge spiegeln den Zwiespalt zwischen einer rein ökonomischen und einer soziokulturellen Messung von Armut wider: Im Ressourcenansatz wird Armut als Mangel an finanziellen Mitteln angesehen, Armut wird mit Einkommensarmut gleichgesetzt, die finanziellen Mittel von Haushalten stehen im Blickpunkt der Betrachtung. Ausgegangen wird davon, dass ein Haushalt je nach Größe und Zusammensetzung eine definierte Menge an finanziellen Mitteln benötigt, das als Äquivalenzeinkommen bezeich-

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net wird. Relative Einkommensarmut liegt dann vor, wenn eine prozentuelle Unterschreitung des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens gegeben ist. Einen anderen Fokus verfolgt der Lebenslagenansatz: Dieser misst den tatsächlichen Verfügungsspielraum über Güter und Dienstleistungen, die zur Befriedigung zentraler Bedürfnisse vorhanden sind. Damit rücken weitere Aspekte, die für das Wohlergehen von Menschen von Bedeutung sind, ins Zentrum der Analyse von Armut: der Gesundheitszustand, die Wohnsituation und Wohnumgebung, das Vorhandensein eines Arbeitsplatzes mit akzeptablen Arbeitsbedingungen, der Bildungsstand, die Teilhabe an gesellschaftlichen, politischen sowie kulturellen Aktivitäten u.v.m. (vgl. Hauser 2008: 98). Insgesamt sind damit Lebens-, Entwicklungs- und Verwirklichungschancen von Menschen subsumiert (vgl. MA 24 2012). Armut ist nicht nur auf ökonomische Faktoren beschränkt, sondern umfasst unterschiedliche Lebensbereiche. Nichts desto trotz haben finanzielle Ressourcen eine Schlüsselfunktion, wenn es um individuelle Gestaltungsspielräume und die gesellschaftliche Teilhabe geht. Wichtige Grundlage, um die Lebenssituation und Armutsgefährdung von Menschen in Privathaushalten abzubilden, ist die jährlich europaweit durchgeführte Erhebung EU-SILC („Statistics on Income and Living Conditions“). Sie basiert auf einer für Österreich repräsentativen Stichprobe, was bedeutet, dass regionale Ergebnisse für Bundesländer, größere Städte oder Regionen nur vorsichtig zu interpretieren sind. Die regionale Darstellung der Einkommens- und Lebenssituation ist andererseits aber erforderlich, da sich die soziale Lage in Ballungsräumen wie Wien anders gestaltet als in Landeshauptstädten oder in stark ländlich geprägten Gebieten. Der materielle Lebensstandard einer Person wird an den finanziellen Möglichkeiten gemessen, die sich durch die Höhe des äquivalisierten Haushaltseinkommens4 eröffnen. Zur Berechnung des Jahreseinkommens werden die Einkommen auf Haushaltsebene und alle Einkommen von Personen ab 16 Jahren getrennt erfasst und summiert – dazu zählen auf der Haushaltsebene z.B. Fami-

4

Das so genannte äquivalisierte Haushaltseinkommen ergibt sich, indem das verfügbare Haushaltseinkommen durch die Zahl der Konsumäquivalente (eine erwachsene Person entspricht einem Konsumäquivalent, ein weiterer Erwachsener einem zusätzlichen Konsumäquivalent von 0,5; jedes Kind unter 14 Jahren einen von 0,3) des Haushalts dividiert wird. Argumentiert wird diese Äquivalisierung des Haushaltseinkommens damit, dass mit zunehmender Haushaltsgröße und abhängig vom Alter der Kinder eine Kostenersparnis im Haushalt durch gemeinsames Wirtschaften erzielt wird (vgl. Statistik Austria 2010: 40).

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lienleistungen, Wohnungsbeihilfen, Einkommen aus Vermietung und Verpachtung etc. und auf Personenebene z.B. Einkommen aus unselbständiger und selbständiger Arbeit, Arbeitslosenleistungen, Pensionen, Krankengeld etc. Personen, die in Haushalten leben, die über ein Jahreseinkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle verfügen, werden als „armutsgefährdet“ bezeichnet. Die jeweilige Armutsgefährdungsschwelle ist je nach Haushaltszusammensetzung unterschiedlich hoch und bildet die Grenze, unterhalb derer von Armutsgefährdung gesprochen wird. Sie liegt bei 60% des Medians der äquivalisierten Einkommen. 2014 betrug die Armutsgefährdungsschwelle für Alleinlebende 1.161 Euro pro Monat. Für jeden weiteren Erwachsenen im Haushalt erhöht sie sich um 580 Euro, für jedes Kind unter 14 Jahren um 348 Euro (vgl. Statistik Austria 2015: 10). Diese Armutsdefinition ist nicht unumstritten, da sie sich allein auf Einkommensdaten stützt. Die mit diesen Einkommen zu finanzierenden Ausgaben für Wohnen, Bildung, Verbindlichkeiten (Kredite, Alimente etc.) oder soziale und gesundheitliche Dienste sind ebenso nicht berücksichtigt wie regional unterschiedliche Lebenshaltungskosten. Gerade für einkommensschwache Personen ist es von großer Bedeutung, wie viel sie für Wohnen, Bildung, Gesundheit, einen öffentlichen Kindergartenplatz etc. bezahlen müssen. Auch wird mit einer einheitlichen Armutsgefährdungsschwelle ein für alle Menschen gleich hoher Mindestlebensbedarf unterstellt. Es ist aber beispielsweise davon auszugehen, dass Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen höhere Alltagsaufwendungen haben als Personen ohne gesundheitliche Probleme. Aus diesen Gründen werden im Rahmen der EU-SILC Erhebung auch Dimensionen der Lebensführung und des Lebensstandards berücksichtigt. Wenn mangelnde Ressourcen zu Einschränkungen im Lebensstandard führen, wird von finanzieller Deprivation gesprochen. Zur Abbildung von finanziell deprivierten Lebenslagen werden Merkmale herangezogen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung als „absolut notwendig“ für einen angemessenen Lebensstandard in Österreich bezeichnet werden. Dazu zählen folgende Möglichkeiten (ebd.: 18): • Die Wohnung angemessen warm zu halten • Regelmäßige Zahlungen (Wohnungskosten, Kreditrückzahlungen, Gebühren

für Wasser, Müll, Kanal, sonstige Rückzahlungsverpflichtungen) rechtzeitig zu begleichen • Notwendige Arzt- oder Zahnarztbesuche in Anspruch zu nehmen • Unerwartete Ausgaben bis zu 1.100 Euro zu finanzieren (z.B. für Reparaturen) • Bei Bedarf neue Kleidung zu kaufen

68 | P ETER STOPPACHER • Jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine vergleichbare vegetarische Speise

zu essen • Freunde oder Verwandte einmal im Monat zum Essen einzuladen

Je mehr Bereiche dieses gesellschaftlich anerkannten Mindeststandards nicht gedeckt werden können, desto eher ist von einer finanziell deprivierten Lebenslage auszugehen. Wer sich aufgrund geringer finanzieller Ressourcen mindestens zwei der genannten Merkmale nicht leisten kann, gilt als finanziell depriviert. Damit wird sichtbar, wie gut die Menschen mit ihrem Einkommen auskommen können. Finanzielle Deprivation kann auch Personen betreffen, deren Einkommen über der Armutsgefährdungsschwelle liegt, die aber mit hohen Lebenshaltungskosten oder Schulden kämpfen (vgl. Statistik Austria 2010: 85). Mit den beiden Indikatoren Armutsgefährdung und finanzieller Deprivation ergeben sich verschiedene Armutslagen, die viel weiter als der herkömmliche einkommensbezogene Armutsbegriff reichen. Lebt beispielsweise eine Person in einem Haushalt mit einem Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle, und ist weiters nicht in der Lage, sich mindestens zwei der oben angeführten Merkmale zu leisten, so ist diese Person manifest arm. Liegt bei einer Person das Haushaltseinkommen hingegen über der Gefährdungsschwelle und ist diese dennoch nicht in der Lage, sich gewisse Lebensstandards zu erfüllen, so wird von einem Teilhabemangel gesprochen.

2. ARMUTSGEFÄHRDUNG

UND

E RWERBSBETEILIGUNG

Die Armutsgefährdungsquote in Österreich lag im Jahr 2014 bei rund 14%, die Erwerbsbeteiligung ist dabei ein maßgeblicher Faktor. In modernen Wohlfahrtsstaaten basiert die soziale Absicherung des Einzelnen auf der Teilhabe am Arbeitsmarkt, weitere wichtige Einflussfaktoren sind das Vorhandensein von familiären und sozialstaatlichen Unterstützungsstrukturen. Die Einbindung in den Arbeitsmarkt besitzt auch deswegen eine so hohe Bedeutung, da vom Erwerbsverlauf viele weitere sozialstaatliche Sicherungsleistungen abhängen. Erwerbstätige Personen weisen trotz Deregulierung in der Arbeitswelt und der dadurch bedingten Zunahme des Phänomens der „Working Poor“ insgesamt betrachtet noch immer eine deutlich geringere Armutsgefährdungsquote auf: War eine Person ein Jahr hindurch voll- oder teilzeiterwerbstätig, so lag ihre Armuts-

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gefährdungsquote im Referenzjahr 20135 bei 6%, war dies nicht der Fall, so bestand mit 21% ein beinahe dreimal so hohes Armutsrisiko. Personen, die mindestens sechs Monate lang arbeitslos waren, wiesen bereits eine Armutsgefährdungsquote von 43% auf (Statistik Austria 2015: 78). Sich nicht oder nicht im ausreichenden Maße am Erwerbsleben beteiligen zu können, ist ein Faktor, der das Risiko, armutsgefährdet oder arm zu sein, maßgeblich erhöht. In diesem Zusammenhang sind auch Familienstrukturen entscheidend, die eine Erwerbsbeteiligung ermöglichen oder verhindern. Von ihnen hängen die Teilhabechancen am Arbeitsmarkt ab. Spezifische Familienkonstellationen haben vor allem einen großen Einfluss auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen und damit auf das Armutsrisiko. So haben Alleinlebende und Alleinerziehende ein überdurchschnittliches Armutsrisiko, weil sich Einkommensnachteile oder soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit unmittelbar auf ihre soziale Situation auswirken und sie in diesem Fall durch kein weiteres Haushaltseinkommen abgesichert sind. Verhindern Betreuungsnotwendigkeiten in Mehrpersonenhaushalten die Erwerbstätigkeit der Frauen, dann ist auch die Armutsgefährdungsquote überdurchschnittlich hoch. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist also zentral, um Familien ein Einkommen über der Armutsgefährdungsschwelle zu ermöglichen. Frauen weisen noch immer eine geringere Erwerbsbeteiligung als Männer auf. Sind sie am Arbeitsmarkt aktiv, so sind sie überdurchschnittlich häufig in Niedriglohnbereichen und/oder in atypischen Beschäftigungsformen tätig. Die ungünstige Positionierung am Arbeitsmarkt hat unmittelbare Konsequenzen für ihre sozialstaatliche Absicherung. In einem erwerbszentrierten System sozialer Absicherung werden hohe Arbeitseinkommen und ununterbrochene Beschäftigungskarrieren „belohnt“, während geringe Erwerbseinkommen und von Unterbrechungen geprägte Erwerbsbiografien „bestraft“ werden. Dadurch entstehen Abhängigkeitsverhältnisse, die im Falle einer Scheidung oder Trennung nicht selten dazu führen, dass Frauen in die Armut abrutschen. Für Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern sind auch staatliche Transferleistungen angesichts des höheren Einkommensbedarfs kein gleichwertiger Ersatz für fehlende Erwerbseinkommen. In Haushalten mit der Haupteinkommensquelle Sozialleistungen beträgt das Armutsrisiko 48%, in solchen mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität 54% (ebd.: 71). Vor allem im Bereich jener staatlichen Leistungen, die auf dem Sozialversicherungsprinzip basieren, reproduziert das sozialstaatliche Unterstützungsnetz soziale Ungleichheitslagen in einem gewissen Ausmaß, da die Höhe der individuellen Ansprüche

5

Daten für die ganzjährige Erwerbstätigkeit liegen nur für das Referenzjahr 2013 vor.

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maßgeblich vom Ausmaß der Erwerbseinbindung und der Arbeitsmarktposition bestimmt wird. Niedrige Erwerbseinkommen, z.B. von MigrantInnen, Geringqualifizierten etc. führen so im Falle von Alter, Arbeitslosigkeit oder Invalidität zu einer geringen sozialen Absicherung und zu einer erhöhten Armutsgefährdung. Dabei fällt ins Gewicht, dass Arbeitslosigkeit als relevanter Faktor für die Armutsgefährdung seit langem massiv zugenommen hat. Das erhöhte Arbeitslosigkeitsrisiko zeigt sich u.a. daran, dass 2010 in Österreich in etwa 240.000 Personen mindestens einmal im Jahr von Erwerbslosigkeit betroffen waren, 2015 waren es bereits über 951.034 Personen (AMS Österreich 2016). Beinahe ein Viertel aller Erwerbstätigen war in diesem Jahr zumindest einmal arbeitslos gemeldet. Vor allem Personen mit geringer Qualifizierung weisen eine hohe Betroffenheitsquote auf. Auch nach dem Erwerbsleben ist dieses entscheidend für die Armutsgefährdung. Der altersbedingte Ausstieg aus dem Erwerbsleben ist meist mit finanziellen Einbußen verbunden. Zur Armutsfalle wird die Alterspension vor allem für Frauen, deren Erwerbsbiografien häufig durch Brüchigkeit und niedrige Einkommen charakterisiert sind. Hinzu kommt, dass gesundheitliche Einschränkungen und Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Alter meist zu höheren finanziellen Alltagsaufwendungen führen. Für Nachkommen hat eine geringe Erwerbsintensität in der Familie ebenso gravierende Folgen, die bis hin zur Vererbung von Armut bzw. Bildungsarmut reichen. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in Haushalten leben, deren Haupteinkommen Sozialleistungen sind oder in denen ein Erwachsenenteil langzeitbeschäftigungslos ist, sind mit 61% bzw. 45% besonders durch Armut gefährdet (vgl. Statistik Austria 2015: 102). Kindern, die in Armut aufwachsen, stehen weniger Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung, ihren weiteren Lebensweg zu gestalten. Im Zusammenhang mit Armutsgefährdung sind regionale Unterschiede zu beachten. Besonders geprägt ist die Armutsgefährdung allen Erfahrungen nach durch die Situation in den großen Ballungsräumen, in denen sowohl großer Wohlstand als auch massive soziale Probleme anzutreffen sind. Armut und Armutsgefährdung sind vor allem in Ballungszentren sichtbar, in ländlichen Regionen mit geringerer Anonymität wird es lange vermieden, auf öffentliche Unterstützung zurück zu greifen und sich damit als „arm“ zu outen. Aus unterschiedlichen Gründen kommt es zu einer starken räumlichen Konzentration von armutsgefährdeten Haushalten: Viele der neuen prekären Arbeitsverhältnisse sind in den städtischen Dienstleistungsbranchen entstanden. Für die Beschäftigten bedeutet dies oft, nicht nur geringe Einkommen erzielen zu können, sondern auch häufig von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Auch Einpersonenhaushalte, die

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sozialen Risiken unmittelbarer ausgesetzt und häufiger von Armut bedroht sind, sind in Städten vermehrt anzutreffen. Ein Überblick über die Risikogruppen von Armutsgefährdung verdeutlicht nochmals die wichtige Funktion des Arbeitsmarktes für die existentielle Absicherung: Haushalte, die eine geringe Beteiligung im Beschäftigungssystem haben, sind einem besonders hohen Armutsgefährdungsrisiko ausgesetzt. Auch nach Erhalt der Transferleistungengehören bis zur Hälfte und mehr von ihnen zu den Armutsgefährdeten (vgl. ebd.: 70). Abbildung 1:Armutsgefährdungsquote nach Risikogruppen 2014

Quelle: Einkommen, Armut und Lebensbedingungen. Tabellenband – Ergebnisse aus EUSILC 2014, S. 71/S.126.

3. W ORKING P OOR –

ARM TROTZ

ARBEIT

Die Entwicklungen am Arbeitsmarkt bewirken letztlich auch, dass Erwerbsarbeit zunehmend ihren existenzsichernden Charakter verliert. Die Anzahl der sogenannten „Working Poor“, also jener Personen, die trotz Ausübung einer Erwerbstätigkeit von Armut bedroht sind, ist im Steigen begriffen. Von insgesamt 266.000erwerbstätigen Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren, die im Jahr 2014

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von Armut gefährdet sind und damit zu den Working Poor zählen 6,waren 193.000 Personen ganzjährig erwerbstätig, rund zwei Drittel davon arbeiteten Vollzeit. 73.000 waren nicht ganzjährig erwerbstätig. 41.000 Working Poor haben als Haupteinkommensquelle eine selbständige Arbeit. Erwerbsarbeit schützt immer öfter nicht mehr unmittelbar vor Armut. Ein hohes Risiko, zu dieser Gruppe zu zählen, weisen Alleinerziehende, Haushalte mit mindestens drei Kindern sowie alleinlebende Frauen auf. Teilzeitbeschäftigte müssen ebenso wie Personen mit geringen Bildungsabschlüssen wesentlich häufiger mit kaum existenzsichernden Einkommen ihr Auskommen finden. Dasselbe gilt für Personen mit Migrationshintergrund. Die EU-SILC-Erhebung belegt auch den Zusammenhang zwischen zunehmender Prekarisierung und steigender Armutsgefährdung. So waren im Jahr 2014 österreichweit rund 848.000 Personenoder etwas mehr als 20% aller Erwerbstätigen prekär beschäftigt, beispielsweise über freien Werkvertrag oder befristeten Dienstvertrag, in Teilzeitarbeit unter 12 Stunden in der Woche oder in einer Niedriglohnbeschäftigung (vgl. ebd.: 116). 2013 betrug die Anzahl der prekär Beschäftigten rund 496.0000 Personen. Neben einer geringen Entlohnung ist unregelmäßige Beschäftigung ein weiteres Merkmal für prekäre Beschäftigung, die nur geringe oder keine soziale Absicherung bietet. Betroffen sind wiederum vor allem HilfsarbeiterInnen aber auch sogenannte „neue Selbständige“ (vgl. ebd.). Personen in prekärer Beschäftigung haben nicht nur in Phasen der Arbeitslosigkeit ein hohes Armutsrisiko, sondern auch während der Erwerbsarbeit. Ein interessanter Aspekt ist, dass bei höherem Bildungsniveau vermehrt Tätigkeiten auf Werkvertragsbasis oder mittels befristetem Dienstvertrag vorzufinden sind. Im Jahr 2014 befanden sich nur wenige Personen, die maximal über einen Pflichtschulabschluss verfügten, in einer Tätigkeit auf Werkvertragsbasis und lediglich 4% waren in einem befristeten Dienstverhältnis tätig. Je höher der Bildungsabschluss der Personen ist, desto höher wird der Anteil an Personen, die sich in solch prekären Beschäftigungsformen befinden. 6% der AkademikerInnen waren auf Werkvertragsbasis und 9% in einem befristeten Dienstverhältnis beschäftigt. Im Vergleich arbeiteten 2% aller ÖsterreicherInnen auf Werkvertragsbasis und 4% in einem befristeten Dienstverhältnis. Weiters üben 4% oder

6

Ab der Berichterstattung 2012 handelt es sich bei Working Poor um Personen im Erwerbsalter zwischen 18 und 64 Jahre, die armutsgefährdet sind, obwohl sie im Referenzjahr laut Haupttätigkeitskalender sechs Monate oder länger Vollzeit oder Teilzeit erwerbstätig waren (vgl. Statistik Austria 2015: 120).

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221.000 Personen im Erwerbsalter einen Job im Niedriglohnbereich aus, bei dem trotz Vollzeitarbeit kein Monatslohn von 1000 € brutto erreicht wird (vgl. ebd.). Auch der jährliche Arbeitsklimaindex der Arbeiterkammer Oberösterreich zeigt, dass immer weniger Beschäftigte mit ihrem Einkommen auskommen (vgl. AK Oberösterreich 2013). Prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit oft einhergehender unzureichender sozialer Absicherung verunsichern ArbeitnehmerInnen, die Sorge um den Arbeitsplatz nimmt zu. Unumstritten geht ein derartiger Wandel am Arbeitsmarkt mit einer zunehmenden Verarmung der Gesellschaft einher, ohne regelmäßige Einkünfte und finanzielle Absicherung ist eine Einbindung in den Sozialstaat erschwert und eine Ausbeutung der ArbeitnehmerInnen erleichtert. Dabei verfestigt sich Prekarität mehr und mehr zu einer Lebenslage, die durch Anerkennungsdefizite geprägt ist und eine längerfristige Lebensplanung unmöglich macht (vlg. Dörre 2005: 53-71). Insgesamt kann diese Entwicklung als Alarmsignal gesehen werden, dass die Einkommensschere weiter auseinandergeht und der Riss in der Gesellschaft größer wird.

4. B ESCHÄFTIGUNGSVERHÄLTNISSE UND W ANDEL AM ARBEITSMARKT AM B EISPIEL DER S TEIERMARK Der drohende Verlust der existenzsichernden Funktion der Arbeit im Gefolge der Erosion des lange Zeit „normalen“ Modells einer durchgängigen Vollzeitbeschäftigung lässt sich exemplarisch auch in der Steiermark nachvollziehen. Diesbezüglich werden zunächst die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen, hierauf die auch damit zusammenhängende Verteilung von Erwerbseinkommen in der Steiermark7, abschließend die Folgen für die soziale Absicherung durch Transfereinkommen aus der Arbeitslosenversicherung oder durch die Pension aufgezeigt. Dabei wird ersichtlich, dass das System sozialer Absicherung auf Vollzeitarbeit zugeschnitten ist, für atypisch Beschäftigte tun sich beträchtliche Lücken auf.

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Die verwendeten Daten im zugrundeliegenden Armutsbericht beziehen sich aus unterschiedlichen Gründen auf teilweise länger zurückliegende Jahre, sind aber tendenziell noch immer „stimmig“.

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4.1 Von der Normalarbeit zur atypischen Beschäftigung Die Deregulierung am Arbeitsmarkt, die einerseits immer mehr das traditionelle Normalarbeitsmodell in Frage stellt, andererseits eine Reihe von sonstigen Formen selbständiger und unselbständigerBeschäftigung mit Folgen für die soziale Absicherung und auch die Armutsgefährdung mit sich bringt, ist auch in der Steiermark deutlich zu sehen. Die fortschreitende Globalisierung, die Marktliberalisierung sowie der steigende Grad an Flexibilisierung bewirkten einen starken Wandel bei den Beschäftigungsverhältnissen. Während sich im Jahr 1999 steiermarkweit 367.543 Personen in einer Vollzeitbeschäftigung befanden, waren 14 Jahre später 366.400 Personen vollzeiterwerbstätig, die Zahl an Vollzeitbeschäftigten sank leicht. Atypische Beschäftigungsverhältnisse haben im Vergleich in den letzten 14 Jahren wesentlich stärker zugenommen. Teilzeitarbeit hat sich zwischen den Jahren 1999 und 2013 von 62.203 auf 139.500 Personen mehr als verdoppelt. Die gestiegene Erwerbsquote von Frauen steht vor allem damit in Zusammenhang. Bei geringfügiger Beschäftigung gab es einen Zuwachs von mehr als 18.600 Personen, besonders gravierend ist der Anstieg von Leiharbeit von 3.320 Personen auf 12.381. Auch der Anteil an WerkvertragsnehmerInnen hat sich im Vergleich zwischen den Jahren 1999 und 2013 weit mehr als verdoppelt (AK Steiermark 2014: 80). Insgesamt ist die Zahl an „Normalarbeitsverhältnissen“ in den letzten Jahren leicht gesunken, während atypische Beschäftigung, also all jene Arbeitsverhältnissen, die vom herkömmlichen kontinuierlichen Vollzeitarbeitsverhältnis abweichen, zugenommen hat. Im Jahr 2013 befanden sich 85% der Männer in der Steiermark in normalen Arbeitsverhältnissen und 15% in atypischen. Bei den Frauen gingen hingegen nur 48% keinem atypischen Beschäftigungsverhältnis nach, 52% waren atypisch tätig.

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Abbildung 2: Normalarbeitsverhältnisse versus atypische Beschäftigungsformen in der Steiermark 2004-2013

Quelle: Regionalstatistik 2014, Arbeiterkammer Steiermark, S. 84.

4.2 Verteilung der Erwerbseinkommen Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung ist auch die Einkommensverteilung mit einem beträchtlichen Anteil an niedrigen, kaum existenzsichernden Einkommen und in weiterer Folge niedrigen Pensionen zu sehen. Die zugrundeliegenden Daten der Lohnsteuerstatistik 8 umfassen die Einkommen sämtlicher unselbständig Beschäftigten, Lehrlinge, ArbeiterInnen, Angestellte, BeamtInnen sowie von geringfügig Beschäftigten. Im Jahr 2011 waren rund 582.000 Personen mit Wohnsitz in der Steiermark unselbständig beschäftigt. Während gleichverteilt nach dem Geschlecht knapp drei Viertel ganzjährig beschäftigt (74% der Frauen und 73% der Männer) waren9, zeigt sich beim Teilzeitanteil die Problematik von Frauen am Arbeitsmarkt: Die Hälfte der etwa 270.500 Frauen am

8

Die Daten der Lohnsteuerstatistik erlauben es, das Durchschnittseinkommen sämtlicher in der Steiermark erfassten Personen zu berechnen. Diese Einkommensstatistik nach dem Wohnort liefert Anhaltspunkte für regionale Kaufkraftunterschiede. Die Lohnsteuerdaten erfassen auch Lehrlinge, geringfügig Beschäftigte und pragmatisierte DienstnehmerInnen, auch Spitzenverdienste werden berücksichtigt (die in der Sozialversicherung wegen der Höchstbeitragsgrenze fehlen) (vgl. AK Steiermark 2014: 10).

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Für die ganzjährig Beschäftigten kann auch sinnvollerweise ein monatlicher Nettobezug errechnet werden.

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Arbeitsmarkt war teilzeitbeschäftigt, bei den Männern betraf dies lediglich etwas über ein Zehntel. Die Teilzeitquote ist in den letzten Jahren kontinuierlich sowohl bei Männern als auch Frauen gestiegen. Rund 164.000 unselbständig beschäftigte SteirerInnen (60% davon Frauen) oder 28% erzielten ein Erwerbseinkommen, das unter 12.000 € brutto/Jahr lag. Bei den Männern betrug der Anteil 21%, bei den Frauen 36%. Besonders sie tun sich schwer, wenn das Haushaltseinkommen nicht durch sonstiges Vermögen erhöht wird, sich ohne weitere familiäre Unterstützung und/oder sozialstaatliche Transferleistungen einen als normal geltenden Lebensstandard leisten zu können. Der durchschnittliche Nettomonatsgehalt bei ganzjährig unselbständig Beschäftigten10 – es handelt es sich um 7.119 Männer und 6.893 Frauen – in dieser untersten Einkommensgruppe betrug bei vollzeitbeschäftigten Männern 658 €, bei vollzeitbeschäftigten Frauen 624 €. Ganzjährig teilzeitbeschäftigte Männer verdienten 455 €, Frauen mit 501 € geringfügig mehr. In die Einkommensstufe von 12.000 bis 20.000 € brutto /Jahr bei ganzjähriger Vollzeitbeschäftigung fallen rund 26.400 Personen, davon 10.650 Männer und 15.681 Frauen. Das monatliche Nettoeinkommen in dieser Kategorie betrug bei Männern 1.102 €, bei Frauen 1.155 €. Das durchschnittliche Nettomonatsgehalt aller ganzjährig unselbstständig vollzeitbeschäftigten Männer lag 2011 bei 2.455 €, bei teilzeitbeschäftigten Männern bei 1.083 €. Die entsprechenden Nettoeinkommen bei Frauen betrugen 1.947 € sowie 1.097 €. Geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede in den niedrigen Einkommensklassen sind gering, bei den Teilzeitbeschäftigten verdienen Frauen mehr. Die Verteilung der Erwerbseinkommen spiegelt damit geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeitsmarkt wider. Frauen sind in den unteren Einkommensschichten stärker vertreten, Männer in den oberen Einkommensklassen. Dies ist einerseits mit der hohen Teilzeitquote von Frauen in Verbindung zu bringen, andererseits aber auch darauf zurückzuführen, dass Frauen nach wie vor häufig in Bereichen mit geringer Entlohnung und geringen Aufstiegschancen tätig sind.

10 Dazu zählen Personen, die mindestens 334 Tage im Jahr ein Einkommen aus unselbständiger Beschäftigung bezogen haben. Vollzeit bedeutet 35 Stunden und mehr, Teilzeit weniger als 35 Stunden.

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Abbildung 3: Verteilung der Erwerbseinkommen (Bruttojahresbezüge) nach Einkommensklassen 2011

Quelle: Statistik Austria. Lohnsteuerstatistik 2011, IFA Eigenberechnung.

Das Erwerbseinkommen schlägt auch auf die Pensionen durch. Instabile Beschäftigungsverläufe, häufige Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse und niedrige Einkommen erhöhen das Armutsrisikoim Alter. Im Jahr 2011 bezogen 108.000 Personen oder 35% aller PensionistInnen eine Brutto-Jahrespension unter 12.000 €. 17% der Pensionisten und 50% der Pensionistinnen befinden sich in dieser untersten Bezugsgruppe. Frauen stellen 77% der Niedrigpensionsgruppe, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass Frauen aufgrund der bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten am Arbeitsmarkt geringere Pensionsansprüche erwerben. Der durchschnittliche monatliche Nettobezug der ganzjährigen Pensionsbezieher in dieser untersten Einkommensgruppe lag bei 684 €, jener der ganzjährigen Pensionsbezieherinnen bei 671 €. Bei allen ganzjährigen Pensionsleistungen sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlicher: Männer erhalten im Schnitt 1.653 €, Frauen hingegen lediglich 1.150 € bzw. um ca. ein Drittel weniger als Männer.

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Abbildung 4: Verteilung der Pensionsleistungen (Bruttojahresbezüge) nach Einkommensklassen 2011

Quelle: Statistik Austria. Lohnsteuerstatistik 2011, EigenberechnungIFA Steiermark.

4.3 Arbeitslosigkeit und Transferleistungen Die niedrigeren Einkommen, die im Rahmen von prekären Beschäftigungsverhältnissen erzielt werden, tragen dazu bei, dass die daran geknüpften Transferleistungen häufig nicht mehr existenzsichernd sind. Das System der sozialen Absicherung ist auf die „industrielle“ Vollzeitarbeit und nicht auf davon abweichende „postindustrielle“ Erwerbsformen zugeschnitten. Der Verlust der Arbeit bzw. ein Leben ohne Erwerbseinkommen erschwert es Personen, sich finanziell über Wasser zu halten. Vor allem eine längere Dauer von Arbeitslosigkeit erhöht das Risiko für Armutsgefährdung. Immer mehr Arbeitslose erfüllen weiters die erforderlichen Versicherungsvoraussetzungen für einen Leistungsanspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandhilfe nicht mehr. Eine besonders armutsgefährdete Problemgruppe sind Langzeitarbeitslose und Langzeitbeschäftigungslose. 11 In der Steiermark waren im Jahresdurchschnitt 2014 rund 10.000 Personen als langzeitbeschäftigungslos registriert.

11 Für die Berechnung der Langzeitbeschäftigungslosigkeit werden nicht nur, wie bei Langzeitarbeitslosigkeit, Personen mit dem Vormerkstatus „arbeitslos“, sondern auch mit „Schulung“ oder „Lehrstellensuche“ berücksichtigt. Als langzeitbeschäftigungslos wird eine Person registriert, wenn die Summe von Arbeitslosigkeit, Lehrstellensuche, Schulungsteilnahme oder kurzer Beschäftigung 365 Tage überschreitet.

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UND

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Arbeitslosigkeit kann vor allem für GeringverdienerInnen mit zunehmender Dauer existenzgefährdend werden. Die Leistungen gemäß Arbeitslosenversicherungsrecht (Arbeitslosengeld und Notstandshilfe) stellen das „erste Netz“ sozialer Absicherung dar, das mit den Prekarisierungstendenzen am Arbeitsmarkt aber immer löchriger wird. Unter den LeistungsbezieherInnenam Anfang des Jahres 2013 stellten Männer mit 58% die Mehrheit dar. Ein Grund liegt in der nach wie vor höheren Erwerbsquote der Männer. Frauen sind noch immer im geringeren Ausmaß am Arbeitsmarkt aktiv und weisen aufgrund brüchiger Erwerbsbiografien häufiger nicht die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch auf und ziehen sich infolgedessen öfters in die „stille Arbeitskraftreserve“ zurück. Mit Blick auf die überwiegend niedrigen Leistungshöhen in der Arbeitslosenversicherung wird schnell klar, dass sie kaum als soziale Hängematte fungieren können. 30% aller LeistungsbezieherInnen oder 14.104 Personen erhielten monatlich weniger als 750 Euro und lagen damit deutlich unterhalb des Richtsatzes der Mindestsicherung für Alleinstehende. 4.250 Personen erhielten lediglich bis zu 450 Euro. Der Anteil der NiedrigleistungsbezieherInnen war vor allem unter den Frauen sehr hoch: Über die Hälfte von ihnen bezog lediglich bis zu 750 Euro, 18% unter 450 Euro monatlich, weitere 37% erhielten zwischen 450 bis 750 Euro. Insgesamt 51% oder 23.693 Personen hatten einen Bezug zwischen 751 bis 1.050 Euro. Die NiedrigleistungsbezieherInnen sind oft auf familiäre und weitere sozialstaatliche Unterstützungsleistungen angewiesen, um ihren Lebensunterhalt decken zu können. Eine Möglichkeit dazu bietet das „letzte soziale Netz“, die bedarfsorientierte Mindestsicherung. Zu geringe oder nicht vorhandene Transferleistungen aus der Arbeitslosenversicherung werden mit der Mindestsicherung „aufgestockt“. Differenziert nach Bezugsart gehören 21% der ArbeitslosengeldbezieherInnen zu den NiedrigbezieherInnen (Frauen wesentlich öfter), 6% davon mussten mit einem Monatsbudget von höchsten 450 Euro auskommen. Weitere 54% erhielten zwischen 751 und 1.050 Euro monatlich, was einem „Einkommen“ unter der Armutsgefährdungsschwelle für Alleinstehende von 1.066 Euro entspricht.

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Abbildung 5:Leistungshöhe beim Arbeitslosengeld (ALG) Ende Jänner 2013

Quelle: Extraauswertung AMS Steiermark, Eigenberechnung IFA Steiermark

Bei den BezieherInnen der Notstandshilfe ist die Einkommenssituation noch drastischer: 48% bezogen bis zu 750 Euro, 16% davon gar nur unter 450 Euro monatlich, 4% erhielten monatlich über 1.050 Euro. Zwei Drittel der Frauen bezogen unter 750 Euro. Dies ist zum einem auf bestehende geschlechtsspezifische Ungleichheiten am Arbeitsmarkt zurückzuführen. Zum anderen muss berücksichtigt werden, dass beim Notstandshilfebezug das Einkommen des Partners mit eingerechnet wird. Da Männer meist höhere Einkommen erzielen als ihre Partnerinnen/Ehefrauen, führt dies dazu, dass Frauen oft nur eine geringe Notstandshilfe oder gar keine beziehen.

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UND

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Abbildung 6:Leistungshöhe bei der Notstandshilfe (NH) Ende Jänner 2013

Quelle: AMS Steiermark, Eigenberechnung IFA Steiermark

5. F AZIT Viele Erfahrungen belegen die individuellen und gesellschaftlichen Folgen von Armut und sozialer Benachteiligung. Soziale Ausgrenzung tangiert viele Bereiche und birgt nicht zuletzt große Risiken für die Gesellschaft an sich. Mit Bezug auf die Komplexität des Phänomens Armut ist es offensichtlich, dass Aktivitäten zur Bekämpfung von Armut zu kurz greifen, wenn sie nur auf die Beseitigung unmittelbarer monetärer Engpässe gerichtet sind und nicht auf die Verringerung gesellschaftlicher Ungleichheit. Ist die soziale Benachteiligung massiv, bedroht das auch das Vertrauen in die Politik und das demokratische System. Soziale Ungleichheit geht – über vielfältige empirische Befunde erhärtet (vlg. Wilkinson/Pickett 2010) – einher mit einer Vielzahl sozialer Probleme. Eine wichtige Funktion für die gesellschaftliche Teilhabe nimmt dabei der Arbeitsmarkt ein. Vor allem die veränderten Arbeitsmarktbedingungen stehen ursächlich mit sozialer Exklusion und vermehrter Verunsicherung in der Bevölkerung in Zusammenhang. Die Prekarisierung der Arbeitswelt bildet ein Einfallstor von Armut. Erwerbsarmut führt langfristig zur Altersarmut und beschränkt vor allem auch die Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen in den betroffenen Haushalten. Durch die weitreichende Deregulierung der Arbeitsmärkte lösen sich langfristige Beziehungen zwischen ArbeitgeberInnen

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und -nehmerInnen immer mehr auf. Unsichere atypische oder prekäre und nicht existenzsichernde Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitigem Umbau oder auch Abbau der sozialen Sicherungssysteme führen zu einer Destabilisierung auf gesellschaftlicher Ebene sowie zu Abstiegsängsten auf individueller Ebene. Die weitergehende Flexibilisierung und Deregulierung ist vor allem für atypisch und prekär Beschäftigte mit einem hohen Verarmungsrisiko verbunden, weil das System der sozialen Absicherung noch immer vor allem auf das lange Zeit dominierende Modell durchgängiger Vollzeitarbeitsverhältnisse abgestimmt ist. Damit verbundene Armut und gesellschaftliche Marginalisierung sind gesellschaftliche Probleme, die langfristig den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch den sozialen Frieden bedrohen sowie letztendlich auch die Voraussetzung für eine erfolgreiche Wirtschaft untergraben. Zu befürchten ist, dass das gesellschaftliche Auseinanderdriften, dessen Konturen derzeit in Ansätzen sichtbar sind, weiter gehen wird, z.B. wenn mit der Industrie 4.0 massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen sollten und es keine Gegensteuerung, um die Erwerbsbeteiligung hoch zu halten gibt. Diese Gegensteuerung kann sowohl in der Umverteilung der Arbeit, gewissen Grenzen für prekäre Arbeit (z.B. auch in Bezug auf Förderungen) oder in einer geänderten und existenzsichernden Form der sozialen Absicherung liegen. Wichtig dabei ist es aber auch, dass der Aspekt der individuellen Sinnstiftung, der in hohem Ausmaß mit Arbeit verbunden ist, ebenso bedacht wird.

L ITERATURVERZEICHNIS AK Oberösterreich (Hg.) (2013): Arbeitsklimaindex, Linz. Arbeiterkammer Oberösterreich. AK Steiermark (Hg.) (2014): Regionale Einkommensstatistik unselbstständig Beschäftigter 2013, in: Steirische Statistiken 13. AMS Österreich, Abt. Arbeitsmarktforschung und Berufsinformation (2016): AMS Spezialthema zum Arbeitsmarkt März 2016, Wien: Arbeitsmarktservice Österreich. Dörre, Klaus (2005): „Prekarisierung contra Flexicurity. Unsichere Beschäftgungsverhältnisse als arbeitspolitische Herausforderung“, in: Martin Kron auer/Gudrun Linne: Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität, Berlin: Edition Sigma, S. 53-71. Fink, Marcel (2009): „Erwerbslosigkeit, Prekarität (Working Poor) und soziale Ungleichheit/Armut“, in: Nikolaus Dimmel/Karin Heitzmann/Martin Schenk

A TYPISCHE B ESCHÄFTIGUNG

UND

A RMUTSGEFÄHRDUNG

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(Hg.), Handbuch Armut in Österreich, Innsbruck-Wien-Bozen: Studienverlag, S. 198-210. Hauser, Richard (2008): „Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext“, in: Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeckh/Hildegard MoggeGrotjahn (Hg.), Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 94-95. Leibetseder, Bettina (2012): „Spaltung oder gesellschaftliche Stratifizierung durch Sozialpolitik. Kurswechsel.“, in Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen. Heft 3: Die gespaltene Gesellschaft. MA 24 (2008): 2. Armuts- und Reichtumsbericht für Österreich. ÖGPP: Wien. MA 24 (2012): Reichtumsbericht. ÖGPP: Wien. Roubicek, Barbara (2010): Präsentation Europäische Initiativen zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Regionalkonferenz gegen Armut, Graz, 17. März. Statistik Austria im Auftrag des BMASK (2010): Armutsgefährdung in Österreich. Eingliederungsindikatoren, in: Statistik Austria, Tabellenband EUSILC 2008 Sozialpolitische Studienreihe Band 2, Wien: Statistik Austria. Statistik Austria (2015): Einkommen, Armut und Lebensbedingungen, in Statistik Austria, Tabellenband EU-SILC 2014, Wien: Statistik Austria. Stoppacher, Peter (2011): Leben in Armut. Lebenslagen und Bewältigungsstrategien. Eine explorative Studie im Auftrag des Vereins ERfA, Graz: IFA Steiermark. Stoppacher, Peter/Edler, Marina (2016): Armut in der Steiermark – eine Bestandsaufnahme in unterschiedlichen Bereichen. Hrsg. vom Land Steiermark. Statistik Austria (2013): Studie zu Armut und sozialer Eingliederung in den Bundesländern, Wien: Statistik Austria. Trojanow, Ilija: „Wie überflüssig sind Sie?“, in: Die Presse vom 9.3.2013, S. 12. Wilkinson, Richard/Pickett, Kate (2010): Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. 2. verbesserte Auflage, Frankfurt: Tolkemitt Verlag bei Zweitausendeins.

Das Normalarbeitsverhältnis und die Firma als politische Institution R ICHARD S TURN

„The firm […] has […] no authority, no disciplinary action any different in the slightest degre from ordinary market contracting between any two people. […] Wherein then is the relationship between a grocer and his employee different from that between a grocer and his customer?“ ALCHIAN/DEMSETZ (1972: 72)

1. E INLEITUNG Dieser Aufsatz diskutiert die ökonomische Rolle des Normalarbeitsverhältnisses in kapitalistischen Marktwirtschaften. Als Kontrastfolie wird zunächst jenes wirtschaftswissenschaftliche Standardkonzept von Arbeitsbeziehungen vorgestellt, das den Arbeitsmarkt als Markt wie jeden anderen behandelt. Firmen werden darin als Netz von Verträgen begriffen. Damit findet so etwas wie ein Normalarbeitsverhältnis (wie auch andere Normen) keinen Platz. Allfällige Muster von Marktergebnissen sind demnach kontingente Resultate subjektiver Präferenzen. Dieses Konzept bzw. die zugrundeliegende Arbeitsmarkttheorie kann aber einigen empirisch relevanten Eigenheiten von Arbeit nicht Rechnung tragen, welche zu einer inhärenten Unvollständigkeit von Arbeitsverträgen führen. Diese Unvollständigkeit wiederum führt dazu, dass Firmen als Institutionen eine Doppelnatur besitzen: Sie sind einerseits als Netze vertragsförmiger Beziehungen zu verstehen. Andererseits stellen sie faktisch längerfristig bestehende „politische“ Institutionen dar. Damit hängt auch die Rolle des Normalarbeitsverhältnisses zusammen. Das Normalarbeitsverhältnis ist Teil eines institutionellen Arrangements, das sich gleichsam als Antwort auf die „politische“ Seite firmenförmiger

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Kooperation herausbildet. Die Zukunft von Normalarbeit würde demnach mit den entsprechenden Eigenschaften von Arbeit stehen und fallen, welche diese „politische“ Seite begründen. Der Aufsatz schließt mit einigen Spekulationen darüber, inwiefern technologische oder kulturelle Trends die eine oder andere Richtung der Entwicklung begünstigen könnten.

2. N EOKLASSISCHE W ETTBEWERBSMÄRKTE K ONTRAKTE

UND

Im Anschluss an die einflussreichen Principles von Alfred Marshall (1920) kam in der Ökonomik die Diskussion auf, ob der Produktionsbereich und dessen organisatorische Gestaltungen (die Firma, der Betrieb) in der vorherrschenden neoklassischen Ökonomik zureichend behandelt werde. Es wurde kritisiert, die darin enthaltene Tauschtheorie der Produktion sei inadäquat 1 und führe dazu, dass der Produktionsbereich nur als black box in dieser Theorie präsent sei (z.B. Dobb 1925). Paul Samuelson hat den institutionellen Abstraktionsgrad dieser Theorie en passant mit dem berühmten Diktum pointiert, in dieser Theorie des Produktionsbereichs spiele es keine Rolle, ob das Kapital die Arbeiter anstellt oder die Arbeiter das Kapital mieten. Wohl unter dem Einfluss der radikalen „Katallaktik“ Ludwig von Mises’ (1940), gehen Alchian/Demsetz (1972: 777) einen Schritt weiter. Sie postulieren explizit eine katallaktische Theorie der Firma, welche diese zur Gänze katallaktisch (d.h. als Netz von freiwilligen, für alle vorteilhaften Tauschbeziehungen) modelliert. Das Marktmodell wird dabei als universelle Modellierung des Optionengefüges verstanden, welches daraus erwächst, dass Vorteile der produktiven Kooperation tauschförmig zu nutzen sind. Weil unter der Voraussetzung der Kontraktfreiheit niemand gezwungen ist, auf dem Markt etwas zu kaufen oder zu verkaufen, können die marktförmigen Austauschbedingungen keine Beschränkungen, sondern nur zusätzliche Optionen erzeugen. Wenn sie durch Konkurrenz bestimmt sind, dann werden diese Austauschbedingungen auch nicht durch unfaire einseitige Vorteile determiniert sein. Schließlich wird die Ausnutzung aller wechselseitig vorteilhaften KontraktMöglichkeiten zu Effizienz führen. Warum sollte dies für Arbeitsmärkte nicht gelten? Gewiss: Moderne Gesellschaften haben zur praktischen Durchführung des Kaufs und Verkaufs von

1

Ein anderer Kritikpunkt bezog sich auf die fehlende Kompatibilität von betrieblichen Fixkosten-Strukturen und Konkurrenzannahmen bezüglich des Marktes.

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Arbeitsleistungen einen ausgedehnten, mitunter von Machtasymmetrien durchzogenen Komplex sozialer Institutionen hervorgebracht (vgl. dazu u.a.: Knight 1933, Coase 1937, Alchian/Demsetz 1972, Solow 1990, Williamson 1975, 1985, Grossmann/Hart 1986, Hart/Moore 1990, Holmstrom/Milgrom 1988, Milgrom/Roberts 1992, Bowles/Gintis 1992, 1993a,b). Aber die am Arbeitsmarkt gehandelten Leistungen sind private, rivale Nutzungen von Arbeitskraftressourcen: Zeit und Anstrengung, die in einem bestimmten Arbeitsprozess verausgabt werden, können in einem anderen Arbeitsprozess nicht verausgabt werden. Von der Nutzung von Arbeitskraft können sodann Dritte ausgeschlossen werden. Auch im Hinblick auf die Ausschließbarkeit hat Arbeitskraft also grundsätzlich die Eigenschaften einer privaten Ressource. Den Stellenwert der traditionellen ökonomischen Orientierung an kontraktförmigen Transaktionen privater Güter und Ressourcen bringt Abba Lerner (1972: 3) in seiner Presidential Address vor der American Economic Association prägnant zum Ausdruck: „An economic transaction is a solved political problem. […] Economics has gained the title Queen of the Social Sciences by choosing solved political problems as its domain.“ Lerners Diktum bietet sich für eine praxisbezogene Paraphrase an: Das theoretische Ideal einer nicht durch Konflikte kontaminierten Tauschsphäre wird in ein praktisches Ideal umgemünzt. Dieses Ideal besagt: Möglichst viele politische Probleme sollten auf eine Art und Weise gelöst werden (insb. durch Spezifikation stabiler, wohldefinierter Eigentumsrechte: Ökonomen sprechen gerne von „Rahmenordnung“), sodass sie ein für allemal einen stabilen Rahmen für katallaktische Transaktionen bilden. Letzteres ist genau dann eine bestechende Idee der Entlastung von Politik, wenn die Charakteristika der zugrundeliegenden Probleme eine derart wohldefinierte und stabile Herauslösung der Sphäre von Allokation/Katallaktik erlauben. In der Folge wird nun gezeigt, dass und inwiefern genau dies für die Arbeitswelt im Allgemeinen nicht zutrifft: auch wenn über Arbeit kontraktförmig disponiert wird, ist die Arbeitswelt nicht auf der Basis von „solved political problems“ zu modellieren. Sie ist ambivalent, institutionell hybrid, tendenziell semi-öffentlich und daher (zumindest latent) politisch – und bietet daher funktionalen Raum für so etwas wie das Normalarbeitsverhältnis, das sowohl der Koordination von Erwartungen in einer Sphäre unvollständiger Kontrakte als auch einer bestimmten Form der Balance von Arbeitswelt und anderen Lebenswelten einschließlich der Reproduktionssphäre dient. Empirieorientierte Arbeitsmarktforscherinnen werden nun argumentieren, es liege ohnedies auf der Hand, dass der Arbeitsmarkt nicht ein Markt wie jeder andere sei – auch wenn die katallaktische Engführung des Themas, die in Teilen

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der Ökonomik üblich ist, dies suggeriert. Indes bietet die katallaktische Kontrastfolie einen Vorteil: Sie regt zur Ausarbeitung eines analytischen Rahmens an, in dem das rein katallaktische Arbeitsmarktmodell als Grenzfall gedacht werden kann, der zwar aktuell unrealistisch ist, aber die Voraussetzungen der Handelbarkeit von Arbeit scharf zu fokussieren erlaubt.

3. P RODUKTION UND DIE H ANDELBARKEIT

VON

ARBEIT

Betrachten wir Firmen als Institutionen, welche zum Zweck der Ausnutzung der Skalenertragseigenschaften der Produktionstechnologie bzw. von Unteilbarkeiten und damit verbundener Fixkosten entworfen und gegründet werden. Kapitalistische Firmen unterscheiden sich von anderen vorstellbaren Firmentypen dadurch, dass residuale Autorität und das exklusive Recht auf residuale Überschüsse mit der Bereitstellung von Kapital verknüpft sind. Wie ist nun dieses Arrangement überhaupt zu erklären, ist doch unter den Annahmen einer perfekten neoklassischen Welt das Muster von Kontrakten, das produktive Kooperation stützt, strikt symmetrisch. Folgende Erklärungsansätze für die Kontroll- und Leitungsrolle der Kapitalseite wurden vorgeschlagen (vgl. Dow 1993), die − isoliert betrachtet − das katallaktische Modell der Firma nicht fundamental relativieren: • Risiko: Knight (1933: 267) weist darauf hin, dass es bei perfekter Information

bzw. Abwesenheit von Risiko und Unsicherheit keine funktionale Rolle für verantwortliches Management, Kontrolle und Residualgewinnansprüche der Kapitalseite gibt. • Überwachung: Alchian/Demsetz (1972) identifizieren die Unternehmerfunktion mit leistungskontrollierender Überwachung bei Teamproduktion. Sie bringen die Überwachungsrolle der Kapitalseite in Zusammenhang mit den Residualgewinnansprüchen der Kapitalseite, weil dies die einzig praktikable Antwort auf die Frage sei: Welche Anreize haben die Überwacher, effizient zu überwachen? • Spezialisierte Investitionen: Bei kooperativen Produktionsprozessen tragen oft die verschiedenen Parteien ungleiche Spezialisierungsrisiken. In Hinblick auf die Anreize zur Tätigung dieser spezialisierten Investitionen ist es vorteilhaft, die Residualgewinnansprüche jener Partei zuzusprechen, deren Investitionen den höheren Spezialisierungsgrad aufweisen (Hart/Moore 1990). • Humankapital kann im Gegensatz zu Realkapital deutlich schwieriger als hypothekarische Sicherheit herangezogen werden, was dazu beitragen mag,

D AS N ORMALARBEITSVERHÄLTNIS UND DIE FIRMA ALS POLITISCHE I NSTITUTION

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dass die Ausstattung der Kapitalseite mit Rechten der Kontrolle und der Residualgewinnansprüche die Möglichkeiten der Außenfinanzierung verbessert. Diese Erklärungsansätze können durchaus kritisch in einer umfassendere Theorie der Firma integriert werden. Aber sie sind nur an bestimmten Symptomen der grundlegenden Probleme der marktförmigen Allokation von Arbeit orientiert. Welche speziellen Eigenschaften von Arbeit und Arbeitsmärkten verursachen diese Probleme? Welches sind die Gründe für die Vermutung, bei der Bestimmung von Lohnsätzen seien nicht nur jene Kräfte am Werk, welche die Preise für Äpfel und Birnen determinieren? Die Antwort ist einfach: Die Sicht, die im katallaktischen Szenario zum Ausdruck kommt, hat zur Voraussetzung, dass Arbeit in Form von Leistungseinheiten handelbar ist. Dies ist zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber es ist ein empirisch bisher nicht sehr häufiger Grenzfall, in dem kooperative Arbeit über Marktbeziehungen und nur über Marktbeziehungen organisiert werden kann. Eine an diesem Grenzfall festgemachte Theorie versagt in der Erklärung wichtiger Arbeitsmarktphänomene: Für Lohnrigidität und unfreiwillige Arbeitslosigkeit kann sie nur inkohärente Hypothesen2 anbieten, und für den ganzen Komplex der Institutionen zur Durchsetzung von Arbeitsverträgen (Firmen, Arbeitsrecht, usf.) überhaupt keine. Theorien, welche diese Mängel beheben, gehen von der Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten aus: Typischerweise ist es unmöglich oder zu teuer, alle von den Kontraktparteien intendierten Leistungspflichten ex ante zu spezifizieren. Welche Leistungen im Produktionsprozess erforderlich sind, hängt oft von nicht kontrollierbaren und eingeschränkt prognostizierbaren Umweltzuständen ab, die mit der Dynamik von Märkten, Technologie und dem fortschreitenden Prozess der Arbeitsteilung zu tun haben. Arbeitsverträge sind durch die Probleme von hidden knowledge und hidden action kompliziert. Hidden knowledge bedeutet, dass es unmöglich oder „zu teuer“ ist, die Fähigkeiten bzw. die Eignung von Arbeitsanbietern ex ante genau zu eruieren. Hidden action heißt, dass es unmöglich oder „zu teuer“ ist, die Leistung eines Beschäftigten zu beobachten und/oder gegenüber Dritten zu verifizieren (zum Beispiel gegenüber einem Ge-

2

Lohnrigiditäten setzen voraus, dass der Lohn durch außermarktliche Kräfte determiniert wird. Monopolistische Praktiken von Gewerkschaften sind gerade in einem Modell, in dem von den Besonderheiten von Produktion und Arbeit abstrahiert wird, nur mit einer weitgehenden Macht der Gewerkschaften zu stützen, den Marktzutritt zu verhindern. Aber genau diese Gewerkschaftsmacht ist ihrerseits in einem derartigen Modell nicht leicht zu motivieren.

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richt). Arbeit ist kein Faktor von bekannter, ein für alle Mal gegebener und homogener Qualität. Sie kann im Allgemeinen auch nicht in beliebig teilbaren Mengen verkauft und gekauft werden. Sie ist an die Präsenz von Personen gebunden. Wegen der Such- und Anlernkosten wird es typischerweise vorteilhaft sein, dass Arbeitsanbieter einige Zeit an einem bestimmten Arbeitsplatz oder in einer bestimmten Firma verbringen. Vor allem aber sind Institutionalisierungen, Anreizmuster und informelle Normen, die letztlich als „Antwort“ auf Probleme der hidden action und des hidden knowledge zu verstehen sind, in ihrer Wirksamkeit von der zeitlichen Perspektive der Arbeitsverhältnisse abhängig. So wird es schwer möglich sein, Arbeitskräfte mit ganz kurzfristiger Beschäftigungsperspektive in einen Prozess firmenspezifischen kulturell-sozialen Lernens einzubeziehen. Auch die Erzeugung langfristiger Anreizstrukturen, wie sie sich etwa aus Aufstiegserwartungen, Zusagen von Betriebsaltersrenten oder steilen Lohnprofilen ergeben, stößt an Grenzen. Es gibt – damit zusammenhängend – natürliche Grenzen für Fluktuation und Flexibilität. Damit ist die Rolle des Normalarbeitsverhältnisses noch nicht vollständig erklärt. Aber einige seiner Charakteristika finden sich in den eben ausgeführten Überlegungen, darunter Stabilität, längere Dauer und der Umstand, dass ein bestimmter Arbeitsplatz die Haupteinkommensquelle von Arbeitsanbietern ist. Um den Blick auf bestimmte historischinstitutionelle kontingente Ausprägungen des Normalarbeitsverhältnisses zu schärfen, müssen wir aber die Firma als politische Institution in Betracht ziehen. Als solche ist sie zunächst negativ definiert: Sie ist eine politische Institution, weil sie mehr ist als ein Netz von Kontrakten (also mehr als eine katallaktische Firma): vielmehr sind fortlaufend neue Aushandlungsprozesse vor dem Hintergrund von Interessengegensätzen zu erwarten. Dabei spielen Machtasymmetrien eine Rolle, welche in der reinen Ökonomie der Katallaktik fehlen, in der alles durch machtfreien vollständigen Wettbewerb determiniert wird. Mit diesem Verständnis der Firma als politischer Institution ist aber noch nicht festgelegt, inwiefern sich so etwas wie ein Normalarbeitsverhältnis ergibt, in welchem die Beschäftigten auch in gewisser Weise zu Wirtschaftsbürgerinnen werden, die mit bestimmten spezifischen Rechten ausgestattet sind. Dies scheint ja mitzuschwingen, wenn das Normalarbeitsverhältnis mit prekären Arbeitsverhältnissen kontrastiert wird. Um diese Dimension zu beleuchten, diskutieren wir in der Folge einige Gedankenexperimente, die zum Teil auch als Stilisierung bestimmter historischer Epochen in der Geschichte kapitalistischer Marktwirtschaften aufgefasst werden können.

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4. U NVOLLSTÄNDIGE K ONTRAKTE UND DIE KATALLAKTISCHE F IRMA IM M INIMALSTAAT Unvollständige Arbeitskontrakte implizieren auch unter Bedingungen von NichtRegulierung der Arbeitswelt und weitgehender privater Rechte eine politische Dimension: Sie bringen einen Hobbesschen Naturzustand en miniature mit sich: einen lokalen Naturzustand in der Firma. Man betrachte folgendes, teilweise kontrafaktische Szenario: Angenommen, es existiere eine individualistische Gesellschaft und ein imaginärer Minimalstaat, etwa nach der Facon von Nozick (1974), der sich durch perfekte Durchsetzung privater Eigentumsrechte und der dazugehörigen Rechte auf betrugs- und gewaltfreie, konsensuelle Eigentumstransfers auszeichnet. Weiter sei angenommen, in dieser Gesellschaft gelte eine sehr rigorose Version von self-ownership: Zwar seien Arbeitsverträge zulässig, es sei aber nicht möglich, im Zusammenhang mit der Verfügung über Humanressourcen residuale Autorität vertraglich zu begründen. Ansonsten existiere aber keine Arbeitsgesetzgebung. Die Produktionstechnologie in dieser Gesellschaft weise Skalenertragseigenschaften auf, die Kooperation in der Produktion aufgrund von Größen- und Verbundvorteilen nahe legen. Die Individuen können die zur Realisierung der Skalenvorteile notwendigen Kooperationen unter Voraussetzung dieser Rechtsstruktur nur mittels einfacher Verträge organisieren. Die Arbeits-Leistungseinheiten seien nicht direkt handelbar; daher bleiben diese Verträge unvollständig. Sie lassen offen, welche genauen Verpflichtungen die Kontraktparteien in den vielen verschiedenen Situationen zu erfüllen haben, die im Zuge des Arbeitsprozesses eintreten können. Die Annahmenkombination Minimalstaat (das heißt: kein Arbeitsrecht), individualistische Gesellschaft (das heißt: keine traditionellen Normen) und Abwesenheit von residualer Autorität führt dazu, dass Kooperation permanent von unaufgelösten Bargaining-Problemen überlagert bleibt, weil die unvollständigen Kontrakte nicht die genauen Verpflichtungs- und Leistungsprofile in Hinblick auf Sorgfalt, Anstrengung und Entwicklung der Humanressourcen spezifizieren. Ein am katallaktischen Konzept vollständiger Kontrakte orientiertes Recht kann kaum Standards hervorbringen, um zu entscheiden, ob implizite Verpflichtungen unvollständiger Kontrakte erfüllt wurden oder irgendwelche Sanktionen, die im Rahmen des Arbeitsverhältnisses (wegen mangelnder Leistung) ergriffen wurden, vertretbar sind. Katallaktische Standards sind vom Leitmotiv bestimmt, private Eigentumssphären bzw. Aktionsräume „als Startpunkt für Kontrakte“ abzugrenzen. Arbeitsprozesse bringen eine temporär begrenzte, aber für diese Zeit weitgehende Suspendierung einer solchen Privatsphäre. Akzeptable Modalitäten dieser Suspendierung sind aber nur zu formulieren, wenn der öffentlichen Natur

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von Arbeitsprozessen Rechnung getragen wird. Denn Kooperation erfordert, dass Privatheit in einer Weise relativiert wird, die dem Vermittlungsmodus kontraktlich-konsensuell organisierter symmetrischer Beziehungen zwischen autonomen und rationalen Eigentümern Grenzen setzt (vgl. Marx 1857/58: 566). Beschäftigungsverhältnisse bringen es mit sich, in nicht-anonymen Kontexten mit anderen Personen zusammenzuarbeiten, mit ihnen soziale Beziehungen zu etablieren, Verantwortung zu übernehmen, sich in einer bestimmten Weise zu kleiden oder gefährliche Aktivitäten auszuführen wie brennende Ölfelder zu löschen. Sie können − man erinnere sich an die früher in einigen westlichen Ländern üblichen marriage bars für Frauen – sogar explizit auf Entscheidungen in der Familiensphäre Einfluss nehmen (dass sie diese faktisch implizit tun, ist ohnedies vielfach anzunehmen). Die unter einem individualistisch-katallaktischen Produktionsregime ungelösten Koordinations- und Konfliktprobleme sind auch vor folgendem Hintergrund zu sehen: Wichtige Aspekte von Arbeitsprozessen können als Probleme lokaler öffentliche Güter im Sinn der Mikroökonomik konzeptualisiert werden: Es sind dies all jene Aspekte, in denen zu gewissen Opportunitätskosten für alle gemeinsam zu „konsumierende“ Arbeitsbedingungen variiert werden können (Lärm und Luftgüte am Arbeitsplatz, Bandgeschwindigkeit). Weder diese noch andere Probleme unvollständiger Kontrakte können über rein kontraktförmige Mechanismen der Ab- und Zuwanderung im Allgemeinen effizient vermittelt werden.

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5. D IE

KAPITALISTISCHE

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F IRMA IM M INIMALSTAAT „It is important to note the character of the contract into which a factor enters that is employed within a firm. The contract is one whereby a factor, for a certain remuneration […], agrees to obey the directions of an entrepreneur within certain limits.“ RONALD COASE (1937: II) „Die Konsumtion der Arbeitskraft […] vollzieht sich außerhalb des Markts oder der Cirkulationssphäre. […] Die Sphäre der Cirkulation oder des Warentausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der That ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was hier allein herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigenthum, und Bentham. […] Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Cirkulation oder des Waarentausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urtheil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt verwandelt sich, so scheint es, schon etwas in der Phsyiognomie unserer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter.“ KARL MARX (1867: 184)

Angenommen, statt der imaginären Firma als Netz symmetrischer Kontrakte organisiere die kapitalistische Firma in der Marx-Coase-Perspektive die kooperative Produktion, wie sie aus den vorangestellten Zitaten deutlich wird3. Einseitige Autorität im Kontext der Verfügung über fremdes Humankapital und speziell

3

Diese Verbindung stellt im Übrigen nicht nur ein Apercu dar. Coase dürfte über Maurice Dobb (vgl. insb. Dobb 1925), auf den Coase (1937) Bezug nimmt, die Marxsche Perspektive auf die kapitalistischen Institutionen der Produktion kennengelernt haben.

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diskretionäre Anweisungen im Rahmen von Arbeitskontrakten seien nunmehr zulässig. Die Annahme einer individualistischen Gesellschaft und eines Minimalstaats wird jedoch beibehalten. Diese institutionelle Konfiguration führt zu einer Art Leviathan-Lösung des zugrunde liegenden Problems der Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten. Einer Seite wird das Recht zugesprochen, in den Fällen, in denen die Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten zum Tragen kommt, zu bestimmen, was zu tun ist. Diese einseitige Autorität übersetzt sich nicht notwendigerweise in individuelle Rechte verletzenden Zwang. Denn was als arbiträrer Zwang erscheint, mag zum impliziten Teil des Arbeitskontraktes gehören. Außerdem ist es möglich, dass Abwanderungs-/Zuwanderungsmechanismen auch die mit Autorität ausgestattete Partei gleichgewichtig „disziplinieren“. Asymmetrische Ausstiegs-Kosten zu Ungunsten der Beschäftigten heben diesen Disziplinierungsmechanismus allerdings auf oder schwächen ihn ab. Der meisterörterte (wenn auch nicht der einzige) systematische Grund für asymmetrische Ausstiegskosten ist unfreiwillige Arbeitslosigkeit. 4 Durch Arbeitslosigkeit ist der disziplinierende Effekt der Ausstiegsoption der Beschäftigten abgeschwächt. Somit hängt es von den Marktbedingungen ab, in welcher Weise Self-ownership Rechte und die Entwicklungsperspektiven der Humanressourcen in der Produktionssphäre berücksichtigt werden. Man kann sich leicht eine Situation vorstellen, in welcher die spezielle Beschaffenheit des „Datenkranzes“ einer Ökonomie die Ausstiegsoption für die Beschäftigten zur Fiktion macht. Diese Konfiguration kann dazu führen, dass Self-ownership Rechte zum Schutz von Humanressourcen nicht als Beschränkungen für die marktliche und politische Vermittlung von Interdependenzen fungieren, sondern dass der Grad ihrer Durchsetzbarkeit von den Marktbedingungen abhängt. Die Marktbedingungen sind jedoch selbst wiederum im Allgemeinen abhängig von der Verteilung der Rechte bezüglich externer (nicht-humaner) Ressourcen. Nun ist es möglich, dass eine bestimmte Verteilung dieser Rechte die „schlechte“ Arbeitsmarktposition von Arbeitsanbietern „verursacht“. „Verursacht“ ist dabei in dem Sinn zu verstehen, dass ceteris paribus bei (einer) anderen Verteilung(en) deren Position „besser“ wäre und ihre Rechte „besser“ durchsetzbar wären. Die reale Reichweite von Rechten hängt somit von der Verteilung der Realvermögen ab. Die klassisch-liberale Eigentumsrechtsbegründung gemäß Locke läuft genau in

4

Arbeitslosigkeit kann systembedingt sein, wenn die Interaktion von Märkten und den übrigen institutionellen Arrangements endogen „Unterbeschäftigungs-Gleichgewichte“ produziert. Die Effizienzlohntheorie untersucht genau diese Situation. Zur Effizienzlohn-Theorie vgl. Akerlof (1982), Akerlof und Yellen (1988, 1990).

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die Gegenrichtung: Sie leitet Eigentumsrechte an Realvermögen von Selfownership-Rechten ab. Fazit: Die kapitalistische Firma löst das Problem unvollständiger Kontrakte in einer bestimmten Weise. Diese Lösung hat politische Implikationen: Die Stützung institutioneller Produktionsarrangements auf die Leistungsfähigkeit von Ab- und Zuwanderungsprozessen ist durch Asymmetrien verzerrt. Sie ist im Sinne der Respektierung von Self-ownership-Rechten und der dynamischen Entwicklung von Humanressourcen prekär.

6. D IE KAPITALISTISCHE F IRMA UNTER SOZIALLIBERALER V ERTEILUNGSREGULIERUNG „An economic system based upon private enterprise can take but very imperfect account of the alternatives sacrificed in production. Most important alternatives, like life, security, and health of the workers, are sacrificed without being accounted for as a cost of production. A socialist economy would be able to put all the alternatives into its economic accounting.“ OSKAR LANGE (1938: 104)

Ich werde im Folgenden argumentieren, dass zur Realisierung dieser Anliegen nicht Langes Marktsozialismus nötig ist, sondern dass ein verteilungsregulierender Kapitalismus dies auch praktikabel bewerkstelligen kann 5. „Reale“ Firmen im demokratischen Kapitalismus unter sozialliberaler Verteilungsregulierung sind keine Leviathan-Firmen, die unbegrenzt arbiträre Anweisungen geben können. Sie sind mit einem dichteren Netz von Beschränkungen konfrontiert als jenem, welches die Arbeitsmarkt-Konkurrenz fixiert. Diese Firmen müssen arbeitsrechtlichen Normen folgen, müssen informelle Standards und ethische Normen beachten und müssen die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht der

5

Ein Katallaktiker wie Stigler (1975: 113) hält nicht Langes institutionelles Rezept, sondern Langes Anliegen als solches für lächerlich. Er kommentiert: „This last sentence would not lose content or meaning if Lange had written ‚Almighty Jehovah would be able to put all the alternatives into economic accounting“. Für eine gut lesbare moderne Formulierung eines Lange-Ansatzes vgl. Roemer (1994).

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Beschäftigten in Rechnung stellen. Und sie operieren unter Bedingungen eines Normalarbeitsverhältnisses, das die Beschäftigten als Träger relevanter ökonomischer Rechte sieht. Der demokratische Kapitalismus des 20. Jahrhunderts entwickelte überdies eine Politik der Verteilungsregulierung und der sozialen Sicherung, welche die endogene Durchsetzung der Rechte der Beschäftigten der Tendenz nach stärken, weil sie die Ausstiegs-Kosten für sie senkten. Auch diese Regulierungen waren weithin mit dem Normalarbeitsverhältnis abgestimmt. Welches sind die für den Bereich der Arbeitswelt relevanten Leistungen und Probleme sozialliberaler Verteilungsregulierung? Diese Ordnung kann als ein Modell gelten, das folgende Eigenschaften vereint: • Arbeit ist weitgehend handelbar. • Das Problem unvollständiger Kontrakte ist im Wesentlichen durch einseitige

residuale Autorität gelöst (kapitalistische Firma). • Die Rechte der Beschäftigten sind durch eine Kombination der eingangs dieses

Abschnitts aufgezählten Restriktionen geschützt. • Die Beschäftigten sind in gewisser Weise Wirtschaftsbürgerinnen, welche die-

se Restriktionen auf zwei Ebenen aktiv beeinflussen können: auf der MakroEbene über den Prozess demokratisch fundierter Gesetzgebung und durch kollektive Organisation auf betrieblicher Ebene. Es geht nun nicht darum, zu diskutieren, wie gut dieses Modell in verschiedenen Ländern, institutionellen Ausprägungen und historischen Phasen funktioniert. In jedem Fall dämpfen die im Modell des sozialliberalen Kapitalismus enthaltenen Normen, Beschränkungen, Kollektiv-Entscheidungsprozeduren und Verteilungspolitiken die oben skizzierten negativen Effekte.6 Das Normennetz und die Verteilungsregulierung (Transfers, progressive Besteuerung und Sozialversicherung) der sozialliberalen Demokratie schützen vor Risiken und reduzieren das Ausmaß der Unvollständigkeit von Arbeitskontrakten in Zonen möglicher Gefährdung.

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Nicht zuletzt schufen die erfolgreichen Ordnungsmodelle Rahmenbedingungen, welche einseitige Vorteile gewisser Interessengruppen neutralisierten. Seit Adam Smith wird auf unterschiedliche Voraussetzungen für kollektives Handeln hingewiesen, was zu entsprechenden Verzerrungen führt.

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7. K ATALLAKTIK

ALS

U TOPIE

ODER

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D YSTOPIE

Wenn die Heterogenität der Interessen, Lebenssituationen und Humankapitalausstattung der Beschäftigten zunimmt, könnten zentralisierte Formen kollektiver Regulierung jedoch an Attraktivität einbüßen. Gerade in den 1970er und 1980er Jahren gewannen einschlägige Vermutungen an Einfluss. In seinem Anarchy, State, and Utopia (1974) setzte Robert Nozick der eben skizzierten Regulierung eine von der katallaktischen Perspektive geprägte Verteidigung des Minimalstaats entgegen. Sozialliberale Verteilungsregulierung und die Normen, die das Normalarbeitsverhältnis stützen, sind für Nozick illegitim, verletzen individuelle Rechte bzw. schränken unbilligerweise die Kontraktfreiheit ein. Nozick artikuliert indes nur besonders scharf, was ab den 1970ern in der Ökonomik und darüber hinaus mehr und mehr gängig wurde. Stellt man allerdings die technologischen Bedingungen und die Problematik der unvollständigen Kontrakte in Rechnung, wie sie im Bereich der Produktion vorausgesetzt werden müssen, dann ist Nozicks Apologie des Minimalstaats in folgendem Sinn zweifelhaft: Es ist nicht zu erwarten, dass − von den existierenden institutionellen Arrangements in der Produktion (kapitalistische Firma) ausgehend − die Durchsetzung eines Minimalstaats die Gesellschaft dem Ideal Nozicks näher bringen würde. Es ist vielmehr denkbar, dass so etwas wie eine nicht-perfekte sozialliberale Marktregulierung eine zweitbeste Lösung ist − ausgehend von der Annahme, dass kapitalistische Arrangements im Produktionsbereich durch nichts zu ersetzen sind. Eine Bewegung hin zum Minimalstaat könnte allenfalls attraktiv sein, wenn die katallaktische Sicht von Produktion empirisch an Plausibilität gewinnt und ein kontraktförmiges Szenario ohne residuale Autorität als realisierbare institutionelle Alternative erscheint – oder aber die Meso-Ebene der Firma eine demokratische Transformation jenseits des Kapitalismus durchmacht. Der Minimalstaat würde kapitalistische Gesellschaften dem Nozickschen libertären Ideal nur dann näher bringen, wenn eine der folgenden zwei Bedingungen zuträfe: • Bedingung 1: Die Produktion ändert ihren Charakter, sodass sie ausschließlich

über vollständige Kontrakte und neoklassisch-walrasianische Märkte organisierbar ist. Arbeit wird in Effizienzeinheiten handelbar • Bedingung 2: Die Entscheidungsstrukturen in Firmen entwickeln sich zu leistungsfähigen kollektiven Entscheidungsstrukturen, welche Koordinationsprobleme zu lösen imstande sind, die über katallaktische Ab-/Zuwanderungsmechanismen nicht zu lösen sind. Staatliche und kollektivvertragliche Regulierungen als Remedium gegen Kontraktunvollständigkeit bzw. Begrenzung einseitiger Autorität werden überflüssig. Die Firma wird von einer latent poli-

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tischen Institution (im theoretischen Sinn) zu einer Institution, die praktisch die Koordinationspotentiale politikförmiger Mechanismen nutzt Wie realistisch sind diese Bedingungen? Man kann spekulieren, dass die beiden hier angedeuteten Bedingungen, wenn überhaupt, dann eher getrennt als kombiniert auftreten. Nicht abwegig ist ein Szenario, in dem bereichsweise Bedingung 1, in anderen Bereichen Bedingung 2 und in den restlichen Bereichen keine der beiden Bedingungen gilt. Bedingung 2 ist plausibel für einen Bereich „qualifizierter“ Tätigkeiten, in dem die spezifische Humankapitalausstattung von Wissensarbeitern eine zentrale Rolle spielen, während Bedingung 1 standardisierbare und teilbare Tätigkeiten, symmetrische Abwanderungskosten u.dgl. voraussetzt. Ausgehend von Bedingung 1 lässt sich ein Szenario von Arbeitsbeziehungen „on the basis of solved political problems“ konstruieren (Sphäre des Outsourcing). Selbst wenn dieses Szenario bereichsweise plausibel wäre, sind Modellierungen, die politisch unkontaminierte Arbeitsbeziehungen mit fair-diziplinierender Wirkung von Konkurrenz verallgemeinern (Weizsäcker 1999: 8), problematisch. Denn da die Unvollständigkeit von Kontrakten und relevante Asymmetrien nicht in allen Bereichen der Arbeitswelt verschwinden werden, geraten dadurch Tendenzen in Richtung Arbeitsmarktsegmentation außerhalb des Blickfelds. Im Anschluss an diese Überlegungen liegt die Vermutung nahe, dass das die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses und das Vordringen „prekärer“ Arbeitsbeziehungen sowie flexibler marktförmiger Organisation der Arbeitswelt bis zu einem gewissen Grad das Ergebnis einer politisch propagierten Utopie ist, welche aufgrund realer Verhältnisse oft eher zur Dystopie gerät. Dies heißt freilich nicht, dass technologische und lebensweltliche Dynamiken nicht Transformationsprozesse in der Institutionalisierung von Arbeitsbeziehungen auslösen, begünstigen oder fordern könnten. Plausibel wäre etwa eine Auffächerung von Normalarbeit, die nach differenzierten Funktionalitäten strukturiert sein könnte. Diese Diagnose schließt aber die Möglichkeit von krisenhaften Segmentationsprozessen ein, die politisch bearbeitet werden müssen. Das marktlibertäre Programm eines ersatzlosen Absterbens öffentlicher Arbeitsmarktinstitutionen inklusive des Normalarbeitsverhältnisses (die allesamt als effizienzstörende und freiheitsbeschränkende Rigiditäten begriffen werden) sieht aber genau dies nicht vor. Die zugrundeliegenden ökonomisch-sozialtheoretischen Argumente werden nicht nur von Marktlibertären, sondern oft auch von jenen übersehen, die pauschal von einer Krise marktförmig organisierter Arbeit sprechen. Insofern es eine solche Krise gibt, ist sie nicht eine Krise der Erwerbsarbeit per se, sondern eine Krise der (historisch kontingenten) institutionellen Arrangements, ohne die „Arbeitsmärkte“ im Allgemeinen nicht funktionieren.

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Werle, Klaus (2010): Die Perfektionierer. Warum der Optimierungswahn uns schadet – und wer wirklich davon profitiert. Frankfurt am Main: Campus.

Bilder normaler Arbeit M ANFRED P RISCHING

1. E INLEITUNG Jeder weiß, was Arbeit ist: Sägen und Schweißen, Kochen und Putzen, am Computer sitzen, Fahrkarten kontrollieren, Busse lenken, Menschen operieren, an der Supermarktkasse sitzen, Regale einräumen, Bäume fällen, Weinstöcke schneiden, Kinder unterrichten, Leute massieren, Waschen und Bügeln, T-Shirts verkaufen, Kleinkinder erziehen, Autos reparieren, … Man braucht sich bloß die Liste der insgesamt 200 Lehrberufe in Österreich ansehen: Augenoptik, Bankkaufmann, Chemielaborant, Dachdecker, EDV-Kaufmann, Fitnessbetreuer, Gartengestaltung, Hafner, Installations- und Gebäudetechnik, Kälteanlagentechnik, Lackiertechnik – und so geht es weiter. Eine komplexe Gesellschaft hat eine komplexe Arbeitswelt. Obwohl wir „wissen“, was „Arbeit“ ist, kennen wir auch die Abgrenzungsschwierigkeiten: Ist jede private Arbeit auch normale Arbeit? Oder meinen wir damit nur bezahlte, berufliche Arbeit? Ist Arbeit nur etwas Unangenehmes? Oder fällt es auch unter Arbeit, wenn man eine Sache freiwillig macht, als „zivilgesellschaftliche“ Tätigkeit? Ist ein „Ehrenamt“ Arbeit? Ist Arbeit entfremdend oder selbstentfaltend (oder je nachdem)? Muss Arbeit mühsam sein, damit es Arbeit ist? Und was wäre das schließlich: „Normalarbeit“? Es gibt aber nicht nur die handfesten Dimensionen, schließlich leben wir (trotz aller „Rationalitätsbehauptungen“) in einer symbolisch durchwirkten Welt (Soeffner 2010). Der Begriff der „Arbeit“ ruft allein schon Appräsentationen wach, die ihre individuell-biografischen, aber auch ihre kollektiven Elemente und Muster aufweisen. Arbeit wird – als wesentliches Element unseres Lebens – ideologisiert, d.h. weltanschaulich dekoriert, psychologisiert, utopisch überhöht, mit Erwartungen überfrachtet, nüchtern kalkuliert, geliebt und gehasst. Die Einschätzungen wandeln sich: Das Normalarbeitsmodell ist beispielsweise seinerzeit als einschränkendes Korsett skeptisch betrachtet worden, gerade ob seiner

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„Normalität“, bis zu dem Zeitpunkt, als es zunehmend der Erosion preisgegeben war, und dann hat man festgestellt, dass die angestrebte „Flexibilität“, ob sie nun eher in Prekarität oder in Selbstverantwortung mündet, nicht immer nur erfreulich ist. Arbeit, so haben wir vielfach gelesen, findet meist in einem Kontext statt, der zur „Entfremdung“ führt – oder führt sie neuerdings vielleicht doch zur „Selbstentfaltung“? Manche flüchten vor der Arbeit in die Frühpension, andere sind beleidigt, wenn sie sich zum („normalen“) gesetzlichen Pensionsalter verabschieden müssen. Die „Bilder“ der Arbeit – also das, was es an Assoziationen und Suggestionen, Gefühlen und Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erwartungen im Bewusstsein der Menschen gibt – sind recht unterschiedlich. Wir müssen davon ausgehen, dass die Menschen in einer „Normalität“ leben, die ihre „Lebenswelt“ darstellt und in der sie mit „Selbstverständlichkeit“ zu Hause sind, in der sie sich „auskennen“, in der sie auf das „Rahmenwerk“ vertrauen können. Aber die Grundkategorien dieser Normalität, die ihrerseits ein ganzes Repertoire von unterschiedlichen, auch widersprüchlichen Elementen eingeschlossen hat, sind in der spätmodernen Gesellschaft – auch im Arbeitsleben – nicht mehr so selbstverständlich, wie sie es vor Jahrzehnten gewesen sind (Lorenz und Schneider 2007; Simon 2012) – nicht nur deswegen, weil neuerdings zahlreiche „Sonderformen“ von Arbeitsverhältnissen um sich greifen, sondern auch deswegen, weil das „Normale“ selbst in den Sog der Reflexion, der Diskussion, der Umgestaltung und des Experiments geraten ist. Wie so vieles in der Spätmoderne, ist auch die Normalarbeit nicht mehr „normal“, sondern vielfältig, reflexiv, wandelbar und hinterfragbar geworden. Das heutige „Normale“ ist nicht mehr das Normale von damals, auch wenn nur wenige Jahrzehnte dazwischen liegen. Wir werden einige Elemente von Arbeitsbeschreibungen, mit positiver und negativer Akzentsetzung, in ihrer konkreten zeitdiagnostischen Ausprägung besichtigen.

2. R OMANTISCHE E LEMENTE Zur klassischen Bildung gehört es im Abendland, dass man über romantische Gesellschaftsbilder Bescheid weiß: Den Kindern werden die Geschichten vom goldenen Zeitalter und vom Schlaraffenland erzählt, für die Erwachsenen sind ein paar Bücher über das „Lob der Faulheit“ verfügbar (Lafargue 2013; Hodgkinson und Schwarz 2005; Schneider 2005) und neuerdings quasipsychologische Ratschläge über „Entschleunigung“ (Reheis 2003). Ethnologen und Wirtschaftshistoriker haben zuweilen die Beschaulichkeit primitiver Urwaldvölker geschildert, die mit wenig Anstrengung überleben konnten, während

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in der viel produktiveren Moderne „Zeitdruck“ und „Arbeits-Stress“ herrschen (Fritzsche 1998). Die romantischen Bilder haben sich mittlerweile auf touristische Wahrnehmungen zurückgezogen – das bessere, entspannte Arbeitsleben findet sich etwa in mediterranen Ländern; freilich hat die minimierte Produktivität auch relativ geringe Einkommen zur Folge, was die Romantik des Blicks nicht irritiert, sondern als zusätzlicher Flair („glückliche Armut“ und „Bescheidenheit“) in ihn eingegliedert wird. Doch der urlaubend-flanierende Beobachter fühlt sich ein wenig im „Paradies“: Siesta halten, im Schatten sitzen, Tee trinken; und er konfrontiert diese Beschaulichkeit mit seiner eigenen StressNormalität im heimischen Arbeitsleben (Rosa 2006; Lübbe 1981; Rosa und Scheuerman 2009). Die Idee entspannter, vielseitiger und abwechslungsreicher Arbeit lässt sich schon mit der Marxschen Vision (und mit manchen anderen Utopien und „Heilserzählungen“) in Verbindung bringen: Arbeit in einer kommunistischen Gesellschaft würde Abwechslung mit sich bringen, sie würde nicht so einseitig sein wie im Kapitalismus, das entfremdende Spezialistentum wäre aufgehoben, das „Reich der Freiheit“ verwirklicht (Prisching 2005). Marx hat ein bürgerliches Bildungsideal vertreten. In der Realität ist daraus bloß das Reich des Totalitarismus geworden, und nachdem viele, die von dieser Vision gefangen waren, ein wenig zeitliche Distanz zu den realen Manifestationen solcher Ideen eingelegt haben, wird zugegeben, dass die Beseitigung des Spezialistentum in einer Gesellschaft, in der alles immer komplizierter wird, eine skurrile, jedenfalls ziemlich übertriebene Idee gewesen ist. Nicht nur Hightech-Arbeit, sondern viele Varianten von Normalarbeit werden differenzierter und anspruchsvoller, auch im ganz alltäglichen Job-Bereich, und diesem Prozess kann man sich nicht entziehen. Manche haben die Vorstellung nicht aufgegeben, dass das Außerordentliche und Ausnahmsweise zum Normalen werden könnte und sollte, und so werden romantische Arbeitsvorstellungen auch heute vorgetragen, bis hin zur Gemeinwohlökonomie (Felber 2010). Alle diese Modelle leiden unter dem Problem, dass im Allgemeinen nicht weniger vorausgesetzt wird als ein homo novus, ein „neuer Mensch“, der gutwillig und altruistisch, leistungsbereit und gemeinwohlorientiert ist, und dass keine Vorschläge mitgeliefert werden, was denn zu tun wäre, wenn andere „Typen“ auftauchen – die beispielsweise egoistisch, hinterlistig und selbstzentriert sind und lieber von der anderen Hände Arbeit leben wollen. Gleichwohl sind derartige Visionen einer „ganz anderen“ gesellschaftlichen Konfiguration mit einer „ganz anderen“ Arbeitswelt ein ständig auftauchendes Element, welches von Zeit zu Zeit unterschiedliche Akzentsetzungen erhält, aber den Grundgedanken: „weniger Arbeit bei gleichem Lebensstandard“, alles auf

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der Grundlage solidarisch-altruistischer Gefühle, immer wieder vorbringt, ohne das damit verbundene ökonomische Grundproblem zu lösen.

3. ATTRAKTIVE E LEMENTE Nun muss Arbeit nicht nur bedeuten: Unterdrückung, Disziplinierung, Repression, Leiden. Freilich hieß es einst, dass man im Schweiße seines Angesichtes sein Brot würde verdienen müssen, aber auch in den westlichen Luxusländern hat sich das Selbstverständnis verbreitet, dass die Arbeit nicht nur mit negativen Emotionen verbunden sein und nach Tunlichkeit vermieden werden muss (wie das bei den Griechen und Römern als selbstverständlich angesehen wurde). Selbst Managementmodelle zielen darauf, die Normalarbeit in ein „erfülltes Arbeitsleben“ einzubauen. Schon in den sechziger und siebziger Jahren hat sich eine reichliche Literatur mit Varianten wie job enrichment, job enlargement, job rotation und dergleichen beschäftigt, also organisatorischen Arrangements, welche die Normalarbeit anreichern, vielfältiger machen und demokratisieren sollten: enriched job design, empowerment, high involvement jobs (Matthes 1983). Die Idee dahinter war üblicherweise: Menschen sollen nicht nur passive Anhängsel von Maschinerien sein, sie wollen selbstständig entscheiden, Verantwortung übernehmen, involviert werden; sie sollen nicht nur Objekte einer Organisation sein, sondern – in ihrem Verantwortungsbereich – Subjekte und als solche interne „Entrepreneure“ (Pinchot 1996). Damit können ihre Fähigkeiten und Begabungen ausgeschöpft werden, dann macht ihnen ihre Arbeit mehr Freude und sie sind produktiver – ein Vorteil für alle Seiten. Und umgekehrt: Wer andauernd in fremdbestimmten Lebensverhältnissen existieren muss, der verliert den Bezug zum Sinn des Daseins. Manche dieser Vorschläge wurden aufgegriffen und in neue Organisationskonzepte eingebaut; denn schließlich waren solche Visionen auch aus der Sicht von Unternehmern und Managern durchaus attraktiv: die Fähigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren vollen Dimensionen nutzen, ihr Mitdenken anregen; und sie damit auch ein wenig unter Druck setzen, nicht durch Überwachung, sondern durch verschiedene Mechanismen der Selbstkontrolle. Das wurde eine Zeitlang für das „Zukunftsbild“ der Arbeit gehalten. Aber mancherorts hat es einen Wahrnehmungs-„Switch“ gegeben: Was auf dem Papier attraktiv geklungen hat, hat sich in der Praxis in manchen Fällen viel weniger attraktiv „angefühlt“. Man hat den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Freiräume geschaffen und Verantwortung übertragen, aber ihnen wurde dergestalt auch das Endergebnis zugerechnet – denn am Ende der Periode muss die

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Rechnung stimmen. Für viele Menschen ist dies eine permanente Belastung, die sie länger arbeiten und nächtens nicht schlafen lässt. Viele sehnen sich nach der früheren „verantwortungsgeminderten“ Tätigkeit zurück. „Arbeit entfremdet sich [heute] nicht mehr durch eine Abkoppelung der Arbeit vom produzierenden Subjekt, sondern eher dadurch, dass das produzierende, arbeitende Subjekt selbst keine Distanz mehr zu seiner Arbeit aufbauen kann. Es geht also inzwischen weniger darum, ob der Produzent etwas mit dem Produkt anfangen kann, sondern nun darum, dass sich der Arbeitsprozess selbst in den Produzenten hineinverlagert.“ (Nassehi 2014: 150)

Natürlich kann man Arbeit unterschiedlich organisieren. Organisationen sind nicht nur moralisch „karge“ Vertragsverhältnisse, in denen jeder seinen Teil des Vertrages – und nicht mehr – zu erfüllen hat, sie sind, wenn sie funktionieren sollen, allemal auf freiwillige Zusatzleistungen ihrer Mitarbeiter angewiesen, die sich nicht durch Anweisungen herstellen lassen. Normale Arbeit ist eingebettet in betriebliche „Sozialordnungen“ und „Organisationskulturen“ (Deutschmann 2014), und die Ansprüche, dass das „Betriebsklima“ stimmen muss, sind gestiegen. Das zeigen insbesondere Befragungen bei Jugendlichen, die auf derartige immaterielle Bedingungen (Arbeit muss „Spaß“ machen) großen Wert legen (allerdings vor allem deswegen, weil sie ohnehin damit rechnen, dass die materiellen Bedingungen „stimmen“). „Kreativität stellt sich als Anforderung des postmodernen Subjekts an sich selbst und als Anforderung dar, welche die postbürokratischen Arbeitsformen an das Subjekt herantragen. Es will seine Arbeit nur mit intrinsischer Motivation betreiben – während ihm die bloße extrinsische Motivation etwa durch den sozialen Status unbefriedigend erscheint – gleichzeitig soll es intrinsisch motiviert sein, die Wirksamkeit einer starken Motivation zum kreativen Handeln wird in einer Arbeitsweise vorausgesetzt, welche die minutiöse extrinsische Kontrolle durch Hierarchien reduziert.“ (Reckwitz 2010: 513)

4. H YBRIDE E LEMENTE Normale Jobs sind in unterschiedlicher Weise mit Zusatzverpflichtungen, etwa mit moralischem Selbstverständnis, aufgeladen. Die Moralität des Baggerfahrers in einer Baufirma wird sich darauf richten, dass er seine Arbeit ordentlich erledigt; aber viel mehr ist nicht gefordert. Doch insbesondere im Bereich der Professionssoziologie (Pfadenhauer 2003) ist immer wieder die spezifische Berufs-

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ethik von bestimmten anderen Jobs analysiert worden: Von Medizinern erwartet man „mehr“, von Lehrern, von Wissenschaftlern. Die Arbeit der Ärzte ist beispielsweise weniger gut kontrollierbar und quantifizierbar, es besteht eine hohe Informationsasymmetrie zwischen Arzt und Patient, es handelt sich um ein „Vertrauensverhältnis“, Schlampigkeit oder Ignoranz kann dramatische Folgen haben. Die Unkontrollierbarkeit soll durch Berufsethik aufgewogen werden, das heißt: Von Ärzten wird erwartet, dass sie nicht ausschließlich dem „Code Geld“ (Luhmann 1987) folgen. Bei Managern wird unterstellt, dass es sich um keinen Vierzigstundenjob handelt, deshalb gibt es ganz andere Vertragskonstellationen; da ist weniger die Berufsethik als die zeitlich unbeschränkte „Einsatzfreude“ im Spiel. In manchen (besonders glücklichen) Fällen hebt sich die Trennung von Arbeit und Leben weitgehend auf, so etwa bei Künstlern und Wissenschaftlern. Das Modell der Normalarbeit wird gewissermaßen nach oben aufgebrochen: Man arbeitet mehr, das Leben ist Arbeit – und das ist schön. Es ist wohl nicht die „Massenarbeit“, die in solchen Kategorien beschrieben werden kann, wohl aber sind es temporäre Erfahrungen in bestimmten (meist in hohem Maße selbstgesteuerten) Berufen, in denen ein „Flow-Erlebnis“ möglich ist (Csikszentmihalyi 1985): Der Künstler malt die ganze Nacht durch; der Lyriker kalkuliert nicht die Auflage seines Buches; der Wissenschaftler will sein Experiment zu Ende bringen, und der Aufwand ist ihm egal. Da es sich dabei um Ausnahmen handelt, haben gängige Beschreibungen von Arbeit die Normalarbeit im Gegensatz zum „Spiel“ definiert. Arbeit ist der „Ernst des Lebens“, und was jenseits der Arbeit übrig bleibt, ist Freizeit und Spiel. Spielen ist das Unernsthafte, das Leichtlebige, das Lustige (Huizinga 1981). Es ist nicht mehr im Bereich der Notdurft angesiedelt, es ist der „freie Kräfteüberschuss“. Wenn Arbeit dazu da ist, den Lebensunterhalt zu finanzieren, dann sind alle anderen Tätigkeiten bloßes Hobby (Arendt 1960). Wir geraten damit in die prekäre Unterscheidung bezahlter und nicht bezahlter Arbeit, und das ist am Beispiel der Frauenarbeit bereits ausgiebig diskutiert worden. Wenn aber Arbeit selbst „spielerisch“ wird, wie dies in manchen neueren Konzeptionen angedeutet wird, verschwindet die Konfrontation dieser beiden Kategorien.

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5. M ORALISCHE E LEMENTE Zu jeder soziologischen Grundausbildung gehört das Modell der protestantischen Ethik, mittels dessen Max Weber wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung eines kapitalistischen Systems beschrieben hat (Weber 1992). Wie weit das Modell trägt, wollen wir dahingestellt sein lassen (Steinert 2010), aber die Beschreibung von Pflichterfüllung und Selbstdisziplinierung in der alltäglichen Arbeit – Arbeit als „hygienisch-asketisches Mittel“ (Weber 1976: 336), ursprünglich verwirklicht in den Mönchsorden – war einflussreich und für die europäische (und besonders amerikanische) Tradition „wiedererkennbar“. Gerade Max Webers Beschreibung soll auf die normale tägliche Arbeit zutreffen. Christian von Ferber hat vor Jahrzehnten argumentiert, dass unter den Bedingungen von Differenzierung und Individualisierung eine Verlagerung der Statuskonkurrenz auf das Feld der Berufsleistung eintritt: „Der Verlust jenseitiger Hoffnungen, die für diesseitige Mühen und Entbehrungen entschädigen, so gut wie die bürgerlichen Tugenden der „Produktion“ machen die Berufsarbeit zum bevorzugten Feld, auf dem individuelle Lebensbefriedigung („Rechtfertigung“ der eigenen Existenz) gesucht und sozialer Status erworben wird. Arbeitsfreude ist ein zutiefst „bürgerliches“ Verlangen und breitet sich mit der Verwirklichung der kulturellen Vorstellungen über alle produzierenden Schichten der Gesellschaft aus.“ (Ferber 1969: 45, 1959)

Die „Arbeitsgesellschaft“ (Matthes 1983; Offe 1984) ist wesentlich mit dem Normalarbeitsverhältnis verkoppelt. Dieses bedeutet: eine unbefristete Vollzeitstelle; sowie einige Basisüberzeugungen: die Vollerwerbstätigkeit sichert die materielle Versorgung und befreit von Existenzängsten; Arbeitsleistung manifestiert sich in Geldgrößen; Erwerbsarbeit ist Zentrum des Lebens; Erwerbsrollen prägen Lebensführung; Vollzeitarbeit schafft Ansehen und moralische Anerkennung; Arbeit prägt die Freizeitvorstellung (vgl. Hörning et al. 1990). Auch christliche Soziallehren haben Arbeit nicht nur als Notwendigkeit für die Einkommenserzielung, sondern auch als Sinnerfüllung im menschlichen Leben verstanden. So heißt es etwa im Katholischen Soziallexikon, dass die Arbeit als Leistung der Person von vornherein etwas anderes sei als nur Kraftanwendung zur Lebensfristung oder bloße Dienstleistung mit Warencharakter. Menschliche Arbeit sei in ihrem Vollzug stets zielstrebiges, Werte und Dienstleistungen schaffendes Tätigwerden, ein immerwährender Lernprozess und als solcher entscheidende Charakter- und Lebensschule, die auf die personale Selbstverwirklichung durch Leistung nicht verzichten könne (Nawroth 1980). Um die „Leis-

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tung“ gibt es freilich sonderbare Streitigkeiten: Für manche Kommentatoren aus dem progressiven Lager ist „Leistung“ mit „Ausbeutung“ identisch, und wer für Leistung eintritt, erledigt gewissermaßen die Propaganda des Kapitals. Die Alternative zur Leistung ist in diesem Lager allerdings schwer zu erkennen, es kann sich wohl nur um das Leben auf Kosten der anderen handeln. Webers alter Geist des Kapitalismus hat gewisse Schwächen, wenn man die postmodernen Wirtschaftsverhältnisse durchmustert. Es ist eine biedere, solide, bürgerliche Welt, die Weber geschildert hat, auch wenn sich Kernelemente im „American Dream“ glänzend erhalten haben (Prisching 2013). Aber zum einen ist das Normalarbeitsmodell gleichzeitig mit den Familienverhältnissen ins Schwanken geraten. Wolfgang Bonß vermerkt: „Eine Normalarbeitskarriere kann nur dann problemlos durchlaufen werden, wenn es außerhalb der Erwerbsarbeit jemanden gibt, der/die für die Familienarbeit zuständig ist, also für jene Leistungen außerhalb des Systems der Erwerbsarbeit, die meist gar nicht als Arbeit anerkannt werden, aber flankierend erledigt werden müssen.“ (Bonß 2001: 339)

Neuerdings läuft jedoch alles anders, nicht nur durch die faktische Zunahme der weiblichen Erwerbsquote; vielmehr sind die Frauen sogar Trendsetter auf dem Arbeitsmarkt, sie nehmen die fluktuierende Zukunft jenseits des Normalarbeitsverhältnisses voraus, mit der Auswirkung einer „Abwertung“ der typisch männlichen Arbeitsparadigmen – eine durchaus ambivalente Entwicklung (Bonß 2001: 340). Doch die „Vergesellschaftung durch Arbeit“, die Prägekraft von Arbeitsrollen, nimmt dabei ab. Aber Boltanski und Chiapello haben einen „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello 2003) beschrieben, der einerseits dem flexiblen Entreupreneurialismus der Spätmoderne, andererseits der (normativen und vorgeblichen) „Leichtigkeit des Seins“ in dieser Gesellschaftsformation Rechnung trägt. Die neue Normalität bedeutet: „Die Unterschiede zwischen Arbeit und Nichtarbeit, zwischen Lohnarbeit und Ehrenamt, zwischen unternehmerischer und unselbstständiger Tätigkeit werden überwunden. Der traditionelle Arbeitsbegriff wird durch das Modell eines Portfolios von Tätigkeiten ersetzt, in denen jeder letzten Endes unternehmerisch tätig ist. Zu diesen Tätigkeiten gehören auch die Hausarbeit, die Fortbildungsarbeit, die ehrenamtliche Tätigkeit, das Privatleben.“ Es ist die Welt des Projektismus: „Aktiv sein, bedeutet, Projekte ins Leben zu rufen oder sich den von anderen initiierten Projekten anzuschließen.“ Das Projekt ist allerdings eine temporäre Form, seine Gestalt wechselt. „Insofern bedeutet Aktivität charakteristischerweise, dass man sich in Netze eingegliedert und sie erkundet, um so seine Isolation zu durchbrechen.“ (Boltanski und Chiapello 2003: 156)

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Die „neue Normalität“ ist flexibel und unverlässlich, sie wird immer wieder hergestellt und durchbrochen. Aber das ist natürlich ein neuer Begriff von Normalität, denn um ein verlässliches Gefüge, in dem man sich orientieren und auf das man Erwartungen richten kann, handelt es sich nicht mehr.

6. I NDIVIDUALISTISCHE E LEMENTE Die Spätmoderne ist eine individualistische Gesellschaft (Abels 2006; Berger 1996; Berger und Hitzler 2010), und das Gebot der Individualisierung hat alle Bereiche der sozialen Ordnung durchdrungen. Deshalb gibt es nicht nur Rationalitätsmythen und Organisationsmythen, welche die Gestaltung der Arbeit betreffen, sondern auch Selbstentfaltungsmythen, in denen sich Wünsche und Erwartungen bündeln. Auch wenn empirische Umfragen, besonders bei Jugendlichen, regelmäßig als Antwort auf die Frage: Was erwarten sie sich von ihrer Arbeit? zu hören bekommen: Sie muss Spaß machen, ist die Frage nicht geklärt, was die Menschen tatsächlich von ihrer Arbeit erwarten. So dumm können sie nicht sein, dass sie nicht wissen, dass es in jeder Arbeit wesentliche Elemente und Zeiten gibt, in denen die Arbeit keinen Spaß macht – und eigentlich ist doch nicht „Spaß“, sondern wohl eher „Freude“ gemeint. Aber die individualistische Gesellschaft verschärft natürlich das Problem, wie eine Gesellschaft gestaltet wird, die einerseits Unabhängigkeits- und Authentizitätsforderungen, andererseits eine wesentlich gestiegene wechselseitige Abhängigkeit (Durkheim 1988; Elias 1978/79) unter einen Hut bringen muss. Möglicherweise können die beiden Prinzipien nur durch eine „gute Story“, also durch Bluff (Prisching 2009), überbrückt werden. Individualisierung war ein langer Prozess, und er hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm beschleunigt. „Wegen der Pluralität der sozialen Welten in der modernen Gesellschaft werden die Strukturen jeder einzelnen Welt als relativ labil und unverläßlich erlebt. In den meisten vormodernen Gesellschaften lebt das Individuum in einer Welt, die viel einheitlicher ist. Deshalb erscheint sie ihm als festgefügt und möglicherweise als unausweichbar. Im Gegensatz dazu wird beim modernen Menschen durch seine Erfahrung der Pluralität der sozialen Welten jede einzelne von ihnen relativiert. Infolgedessen erfährt die institutionelle Ordnung einen gewissen Wirklichkeitsverlust. Der „Wirklichkeitsakzent“ verlagert sich von der objektiven Ordnung der Institutionen in das Reich der Subjektivität. Anders ausgedrückt: Für das Individuum wird die Selbsterfahrung realer als seine Erfahrung der objektiven sozia-

112 | M ANFRED PRISCHING len Welt. Es sucht deshalb seinen „Halt“ in der Wirklichkeit mehr in sich selbst als außerhalb seiner selbst. “ (Berger et al. 1975: 70)

Aber die Arbeitswelt ist eine institutionelle Ordnung, an der man nicht so recht vorüber kommt und die ihre eigene „Härte“ entwickelt. Dennoch haben sich die Institutionen der Arbeitswelt die „Sprache der Individualität“ angeeignet. Manche Organisationen stellen sich dar, als ob es sich um einen „Freundeskreis“ drehte, und manche Jobs werden beschrieben, als ob es sich um einen „Abenteuerurlaub“ handelte (Prisching 2003). Die Stilisierung von Einzigartigkeit, Authentizität und Genialität findet sich auch in den Inseraten für „bessere“ Positionen – als ob es nicht ziemlich anstrengend wäre, mit „einzigartigen“, also wenig anschlussfähigen Menschen zu kommunizieren (und dass ihnen auch noch regelmäßig „Teamfähigkeit“ abgefordert wird, stellt gewissermaßen eine Paradoxie dar). Doch in der Praxis funktionieren die Organisationen nicht mit „Selbstverwirklichungsspezialisten“ oder mit „Pflichterfüllern“, die meisten benötigen die ganz normale Qualität der durchschnittlichen Bürgerinnen und Bürger (Soeffner 2000: 380). Doch die Wahrnehmung ist eine andere: „Kreativität stellt sich für das Arbeitssubjekt als Kern eines libidinös besetzten Ich-Ideals dar, das Künstlerideal des Schaffens von neuen, die „Individualität“ der eigenen Person bestätigenden Artefakten. Gleichzeitig bezeichnet sie eine Arbeitsanforderung an das Subjekt, sich so zu modellieren, dass es angesichts veränderlicher Märkte kulturelle (Produkt)Innovationen hervorzubringen vermag. Das post-bürokratische Subjekt versucht, sich als eine permanent Neues produzierende Instanz zu kultivieren, weil dies dem ästhetischen Ideal individueller, authentischer Befriedigung entspricht und weil die Arbeit im Angesicht der Dynamik des individualästhetischen Konsums das Ziel der reibungslosen Massenproduktion durch das der Innovationsorientierung ersetzt: Die Kultur der quasikünstlerischen Kreativität und jene der ökonomischen „Innovation“ verstärken sich hier gegenseitig.“ (Reckwitz 2010: 510)

Die symbolische Aufladung von Arbeit zeigt sich besonders deutlich an einer ideologischen Kehrtwendung, die in Bezug auf Entfremdung und Selbstentfaltung in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. Noch in den (progressiv geprägten) siebziger Jahren wurde die Arbeitswelt eher mit Kategorien der Entfremdung in Verbindung gebracht, während man die private Lebenswelt als jene der Selbstentfaltung ansah. Es war nun allerdings die Zeit, in der großer Arbeitskräftebedarf herrschte und Frauen zunehmend in das Bildungssystem vordrangen, sodass sich ein interessantes Arbeitspotenzial entwickelte, welches man zugleich zur Förderung der Absatzchancen zahlreicher Produkte aus der konkurrie-

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renden Haushaltsproduktion entfernen wollte. Dazu war es nur erforderlich, die Normalarbeit „umzuwerten“: Erwerbsarbeit, so hieß es nun gerade im progressiven Lager, sei eben nicht Entfremdung, sondern Selbstentfaltung; und der bisher selbstentfaltende Haushaltsbetrieb sei in Wahrheit das Reich der Entfremdung. Diese schroffe Kehrtwendung der Interpretation fanden die meisten Frauen überzeugend und strömten auf den Arbeitsmarkt; Berufsarbeit wurde mit einer neuen Bewertung (freilich auch verbunden mit gewissen Ansprüchen an die Arbeitsqualität) versehen (Prisching 2014). Aber eigentlich sind alle, nicht nur die Frauen, mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert. Boltanski und Chiapello beschreiben Employability als die Chance, an Projekten beteiligt zu sein. Projekte sind Aktivitätseinheiten, die den Fokus aller relevanten Eigenschaften von Personen aufweisen: Begeisterungsfähigkeit, allseitige Verfügbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Polyvalenz, Risikofreudigkeit. Die ideale Person ist immer bereit, Beziehungen aufzubauen und abzubrechen, zu kommunizieren und zu diskutieren, alle Informationsquellen zu nutzen (also auch private Kenntnisse und Bekannte für die berufliche Perspektive zu nutzen), stets in einer Lauerstellung zu sein (um keine Chancen zu verpassen), seine kostbarste Ressource Zeit optimal zu nutzen (also nicht mit Personen zu reden, die ihm nichts bringen, aber auch potentielle Kontakte vorsorglich zu sammeln), sich fremde Ideen anzueignen, eine gewisse Hartnäckigkeit aufzuweisen (sich nicht abweisen zu lassen, gezielte Sympathien aufzubauen, von sich selbst eingenommen zu sein), einen umgänglichen Charakter und einen offenen Geist nach außen deutlich zu machen, in geschickter Selbstkontrolle richtige Signale zu streuen, seine Selbstdarstellung je nach Person und Gruppe unauffällig zu modifizieren (sich auf andere einzustellen), seine Aktivitäten als sozialverträglich (allenfalls sogar als gemeinwohlorientiert) darzustellen (Boltanski und Chiapello 2003: 157). Irgendwie klingt das nicht besonders sympathisch – eigentlich ist es die Beschreibung eines Monsters.

7. T ECHNOKRATISCHE E LEMENTE Der Weg in die moderne Welt wird mit Begriffen wie Rationalisierung, Technisierung und Automatisierung verbunden, und die Arbeitswelt war an diesen Prozessen beteiligt. Am Beginn des vorigen Jahrhunderts ist versucht worden, Arbeit durch Taylorisierung sowohl effizienter als auch menschenfreundlicher zu machen; und die rational-technische Perspektive ist in der Human-RelationsBewegung durch soziale Aspekte angereichert worden. Man nennt das heute die „fordistische Zeit“:

114 | M ANFRED PRISCHING „Man betrat den klar definierten Ort der Arbeit kollektiv zu einem festgeschriebenen Zeitpunkt und wurde ungefähr acht Stunden später in die Freizeit entlassen. From nine to five, immer werktags, bis zur Rente. Im Bann des Flexibilisierungsimperativs erscheint diese Ordnung derzeit allerdings zu ungelenk. […] Teilarbeitskräfte werden zu Stoßzeiten eingesetzt, bewegliche Schichtsysteme sollen mit der mittelfristigen Variation des Arbeitsaufkommens korrespondieren, während Zeitkonten […] die längerfristige Variation verrechnen.“ (Opitz 2010: 134)

Das ist effizient, und dafür braucht es flexible Menschen. „Der flexible Mensch ist der Mensch des Abrufs, der kurzfristigen Mehrarbeit und der Nachtschicht. Seine Zeit ist aus den Fugen.“ (Opitz 2010: 135) Die technokratische Option hat sich semantisch transformiert. Denn die alte Sprache war jene der Kommandobrücke, der Stäbe, der Befehlsketten; die neue Sprache ist jene der Mobilität und der Improvisation, der Verantwortung und der Beweglichkeit, des Wettbewerbs und der Kommunikation. Feste Strukturen und Routinen sind suboptimal, es muss eine Permanenz von Variabilität und Volatilität geschaffen werden – die festen Strukturen werden nur sichtbar, wenn der eine Akteur den anderen Akteur „entlassen“ kann. Bis dahin sind es ständige Turbulenzen, in denen jener, der sich zurechtfindet, zur Effizienzsteigerung beiträgt. Selbst die Grenzen der Organisation werden variabel, flexibel, liquide: Es wird permanent entscheidbar, ob man etwas im eigenen Arbeitsbereich macht, ob man „flexible Arbeitskräfte“ (wie Zeitarbeiter) temporär in die Organisation hereinholt, ob man Aufgaben „auslagert“. – Für Normalarbeitsverhältnisse entstehen Paradoxien. Wenn Organisationen nur aus einer „Assemblage lose gekoppelter Projekte“ bestehen, haben diese nichthierarchischen Kooperationsformen immer schon ihr eigenes Ende im Blick. „Mit der zeitlichen Limitierung korrespondieren jedoch erhöhte Freiheitsgrade in der Zusammensetzung des Projekts. Die Mitgliedschaft zur Organisation wird transitorisch und diffus.“ (Opitz 2010: 137) Gleichzeitig werden, wie kaum zuvor, Loyalität und Engagement für das Unternehmen gefordert. De facto lebt man jedoch in einer Projektlogik, deren Flexibilität schon Richard Sennett zweifelnd beschrieben hat (Sennett 1998): „Weil nämlich jedes Projekt mittelfristig endet, zwingt es zur ständigen Neuorientierung. Mit den Übergängen von Projekt zu Projekt vervielfältigen sich die Bewährungsproben, in denen der Einzelne sich seiner Wertigkeit zu versichern hat. Der immer schon abzusehende Projektwechsel gemahnt zudem zu einer umfassenden Aktivität bei der Initiierung neuer Projekte. Kontinuität findet der flexible Mensch folglich nur noch in der Diskontinuität.“ (Sennett 1998: 138)

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Freilich gibt es Vertreter des Flexibilitätspostulats, die die Vorteile für beide Seiten herausstreichen – bis hin zur Einhaltung des jeweils individuellen Biorhythmus durch freie Verfügung über die Arbeitszeit (Seifert 2005; Teriet 1976). Häufiger hört man Klagen, dass Flexibilisierung bloß eine Chiffre sei für schlechte Bezahlung und schlechte Karrierechancen, für Unsicherheit und Überlastung. In der Tat: Wenn eine attraktive Symbolisierung von Arbeitsverhältnissen gelingt, erspart man sich eine attraktive Bezahlung. Wenn man klarmachen kann, dass 60 Stunden Arbeit zum Preis von 40 Stunden die Chance eröffnen, sein Selbstverwirklichungsdeputat noch einmal um die Hälfte aufzustocken, dann ist dies aus der Sicht von Arbeitgebern eine durchaus sinnvolle Option. Arbeitspolitik findet auch als Symbolisierungspolitik statt.

8. M ARKTLICHE E LEMENTE Der Arbeitsmarkt ist ein Markt, so wie andere Märkte auch – das ist das Verständnis der ökonomischen Theorie. Schon Max Weber hat gesagt: „Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen. Sie alle bilden Hemmungen der freien Entfaltung der nackten Marktvergemeinschaftung.“ (Weber 1976: 383)

Da in der Industriegesellschaft Arbeitsverhältnisse in Form von Marktverhältnissen verallgemeinert worden sind, ist in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung ein dichtes Netz von arbeitsrechtlichen Vorschriften und sozialrechtlichen Absicherungen um den Arbeitsmarkt gewoben worden. Denn das Bild eines ganz normalen Marktes ist immer bestritten worden, da in diesem Angebots- und Nachfrageverhältnis doch Arbeitskraft gehandelt wird, d.h. aber: „Menschen“, die in existenziellen Bedürfnissen stecken, „verkauft“ werden. Nun steckt möglicherweise nicht nur Simplifizierung, sondern auch ein gewisser Hochmut dahinter, wenn die Menschen einerseits auf die kalkulierenden Bürger, andererseits auf die „tribalistischen Gemeinschaftsmenschen“ projiziert werden. „Man leistet sich den Hochmut dessen, dem es auf eine Kenntnis der eigenen Interessen nicht ankommt, und rechtfertigt dies mit einem Appell an jene allzeit verfügbare Gemeinschaft, die auch dann weiterhilft, wenn die eigenen Mittel versagen. Man deklariert das

116 | M ANFRED PRISCHING eigene Tun als altruistisch, unbekümmert um die Frage, ob auch andere es zu würdigen wissen, und leitet daraus den Anspruch ab, unterstützt zu werden. Man abstrahiert das menschliche Verhältnis zu einem Verhältnis wechselseitiger Anerkennung und hält die Rückfrage, ob dieser Anerkennung auch ein Verdienst gegenübersteht, für spießig.“ (Baecker 2014: 121)

Es sind überhaupt sonderbare Konfrontationen, die bei der Betrachtung von Arbeitsmärkten gängig sind, auch die klassenkampfgeprägte Gegenüberstellung von Arbeitnehmer und Unternehmer, die auf „verdächtige“ Weise im Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ (Pongratz und Voß 2004; Pongratz 2004) synthetisiert wird. Doch eine gewisse Effizienzlogik des Marktes, die ihre Beschränkungen allemal zu umgehen trachtet, lässt sich im Zuge der gegenwärtigen Entwicklung nur schwer in den Griff bekommen; neuerdings handelt es sich um den Aufstieg von irregulären Arbeitsverhältnissen, in denen sozialpolitische Errungenschaften teilweise wieder rückgängig gemacht werden: Prekarisierung , Minijobs, Praktikantenverhältnisse, befristete Verträge, Zeitarbeit und Leiharbeit, modernes Tagelöhnerwesen, unechte Selbstständigkeit. Doch diese Verhältnisse werden im vorherrschenden Diskurs nicht als Verschlechterung oder als Beeinträchtigung beschrieben, sondern als Übergangsverhältnisse, als Lernchancen, als Wettbewerbserfordernisse, als Flexibilisierungsoptionen. Eine symbolische Meliorisierung ist deshalb notwendig, weil Verhältnisse gefährdet sind, sobald Menschen beginnen, über Rollen, Identitäten, Interpretationsschemata, Werte und Weltsichten nachzudenken, sobald diese jedenfalls als machbare, gestaltbare Phänomene (und nicht mehr als Schicksal oder göttliches Gebot) wahrgenommen werden. Wenn gestaltbare Phänomene „verschlechtert“ werden (besonders nach einer Phase des steten Ausbaus und Erfolges), benötigt man eine besonders eindrucksvolle Ideologie, um die Realität zu kompensieren bzw. sie in den Köpfen der Menschen „zurechtzurücken“. Deshalb muss propagiert werden: Wir wollten eigentlich schon immer flexibel sein.

9. L EISTUNGSELEMENTE Die Normalität einer Leistungsgesellschaft, also gewissermaßen die Basis einer Marktwirtschaft, befindet sich aus mehreren Gründen in Erosion (Neckel 2008). Der eine Grund ist die Zunahme von „Zufälligkeiten“: Dorthin, wo es sich „abspielt“, wo es sich finanziell also wirklich lohnt, kommt man nur, wenn man die richtigen Leute kennt, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, wenn

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man Glück hat. Dann schaufelt man Millionen, auch wenn man gerade erst zwei Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Denn mit ordentlicher Arbeit (mit Normalarbeit) ist man für die Verliererecke vorgesehen. Der zweite Grund ist die anteilige Zunahme von Winner-take-all-Spielen (Frank 1995; Neckel 2008). Es sind Regelsysteme, bei denen nur der Sieger zählt; wer nur um ein Geringes langsamer oder schlechter ist, geht leer aus. Solche Spiele bieten natürlich keine Leistungsentlohnung, denn die Leistungen sind bei einer größeren Gruppe von Spitzenkräften beinahe dieselben, es handelt sich also um „Entmeritokratisierung“. Das hat Implikationen für das Verhalten: Alle müssen besser sein als der Durchschnitt, ja sie müssen ganz vorne sein, wenn sie nicht enttäuscht werden wollen – was sich statistisch nicht ausgehen kann.

10. Q UALIFIKATORISCHE E LEMENTE Die entwickelten westlichen Länder bezeichnen sich als Informationsgesellschaften, Wissensgesellschaften, Kommunikationsgesellschaften, Innovationsgesellschaften (Engelhardt 2010). Niemand wird leugnen, dass Produktion und Konsum sich stärker bei „verwissenschaftlichten“ Gütern abspielen, also Produkten, die Wissen als Input benötigen. T-Shirts mögen in der Dritten Welt produziert werden, die entwickelten Länder brauchen hochqualifizierte Arbeit, um wettbewerbsfähig zu bleiben: „neue Professionelle“ (Bell 1979), „Symbolanalytiker“ (Reich 1991). Diese werden eine stabile Erwerbskarriere aufbauen können, weil sie ein Projekt oder einen Auftrag an den nächsten reihen können – aber es werden den Schätzungen zufolge kaum mehr als zehn Prozent sein. Bei den übrigen Arbeitskräften wird Instabilität (auch Arbeitslosigkeit) zur normalen Erfahrung gehören. Und das Normalmodell der Arbeit passt nicht immer zu den Anforderungen. Denn es kann viele Mismatches (Kalleberg 2007) geben: Überqualifikation (die Produktion eines „akademischen Proletariats“, das sich mit irgendwelchen Jobs behelfen muss) und Unterqualifikation (das Überangebot an qualifikatorisch und psychosozial „unterausgestatteten“ Arbeitskräften); geographische Differenzen (Divergenzen zwischen der Mobilität von Produktionsstrukturen und jener von Arbeitskräften); zeitliche Differenzen (Überarbeitung/ Burnout in bestimmten Lebensphasen, erzwungene Untätigkeit in anderen), Arbeit-Familie-Mismatches (Karrieremuster und biologische Begrenzungen). Tatsächlich besteht ein immer größerer Teil der Arbeit darin, einzelne Problemlösungselemente zu wirklichen Problemlösungen zu kombinieren, einzelne ästhetische Elemente zu einem Design zu konfigurieren und einzelne Werk- und Wertschritte zu einer komplizierten Wertschöpfungskette zusammenzustellen. In

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der vierten industriellen Revolution (also in der Industrie 4.0) werden technische Abläufe gestaltet, die sich partiell selbst steuern und optimieren. Es ist die alte Vorstellung, dass die Menschen denken und die Maschinen arbeiten; in Zukunft arbeiten und denken die Maschinen. Tatsächlich ist die Qualifikationskonfiguration der Normalarbeit verändert. Ganz unten, bei den Unqualifizierten, sind deren Jobs in andere Länder abgewandert, aber Immigranten verstärken das Arbeitsangebot in den unteren Etagen der Gesellschaft. Ganz oben, bei den Hochqualifizierten, besteht stärkere Nachfrage, die durch das Angebot nicht abgedeckt wird. Beide Prozesse lassen die Einkommen auseinanderklaffen. Aber das Drama spielt sich in den unteren Etagen ab, denn dort häufen sich die Überflüssigen. „Die Überflüssigen“, so sagt Heinz Bude, „sind im Prinzip beschäftigungsfähig, zivilisationsfähig und verwendungsfähig. Aber was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner, und was sie fühlen, kümmert keinen.“ (Bude 2010: 440) Es sind jene Bereiche eines mittlerweile normal gewordenen Arbeitslebens, in denen Vorsorge und Prävention nicht helfen und die durch Konjunkturpolitik nicht zu vermeiden sind, in denen aber auch eine schlichte wohlfahrtsstaatliche Versorgung, verbunden mit Ignoranz, gefährlich werden kann. Es ist der „Ausschuss“ des Normalarbeitsmarktes, „Trash“, der mit schlechter Wohnlage, schlechten Nahrungsmitteln und schlechtem Fernsehen ruhiggestellt wird, damit er sich nicht in eine radikale Gegengesellschaft konsolidiert – das „Normalnichtarbeitsverhältnis“. Es kann noch einen Schritt weitergehen, denn alle Prozesse, die sich derzeit unter dem Etikett Industrie 4.0 versammeln, haben unabsehbare Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Die Arbeit der Unqualifizierten ist die erste, die durch Robotisierung beseitigt wird; aber die intelligenter werdenden Computer arbeiten sich das qualifikatorische Ranking empor; sie werden in absehbarer Zeit nicht nur bei den medizinischen Standardfällen, sondern gerade bei den ausgefallenen und komplexen Fällen leistungsfähiger und treffsicherer sein als der Durchschnittsmediziner. Sie werden Pflegekräfte ersetzen, denn sie können rund um die Uhr im Einsatz sein. Sie werden Teile des Lehrangebots an Universitäten erledigen. Im Konkreten lassen sich kaum Voraussagen treffen. Aber es gibt keinen volkswirtschaftlichen Grund an zunehmen, dass jede Arbeitsersparnis durch starkes Wachstum (über)kompensiert wird.

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11. L IQUIDE E LEMENTE Gängige Analysen haben Modernisierung als Entwicklung zu Vereinheitlichung, Vermessung, Standardisierung, Disziplinierung (alles zusammen: Normalisierung) betrachtet, und auch die moderne Normalarbeit bzw. das Normalarbeitsverhältnis fügen sich in diesem Zusammenhang – Normalität schlechthin, in allen Dimensionen, ist das Dispositiv der Moderne (Link 2013). Das Normalarbeitsverhältnis hat zwei Gesichter. Es ist eine (gesetzliche) „Norm“, die arbeitsrechtlich definiert bzw. erkämpft wurde, mit allen Absicherungen. Es handelt sich aber auch um eine normative Vorgabe: für Arbeitgeber, für die entsprechende Arbeitskräfte gewissermaßen die „Zähleinheit“ darstellen (auch für Statistiker: das „Arbeitszeitäquivalent“), es ist aber auch die „Norm“ für Arbeitnehmer. Wer das Verlangen äußert, nur 30 Stunden arbeiten zu wollen (bei entsprechender Entgeltanpassung), setzt sich dem Verdacht aus, „faul“ zu sein, und für Führungspositionen kommt er/sie ohnehin nicht mehr in Frage. Doch für die Gegenwartsgesellschaft typisch ist das „Pluralisierungsvokabular“: Pluralisierung, Flexibilisierung, Differenzierung, Postmaterialisierung; Vielfalt, Verunsicherung, Desorientierung. Alles wird „unterschiedlich“ (und unsicher). Darin sind sich viele Autoren einig (Reich 1991; Rifkin 1995; Beck 1999). Das klingt nach „Normalitätsatrophie“, und natürlich sind die Arbeitsverhältnisse (wie vieles andere auch) von solchen Prozessen betroffen. Die neue Welt steht der Normalität feindselig gegenüber. Normalität wird als Durchschnittlichkeit oder Mittelmäßigkeit abgetan – entwickelte Gesellschaften müssen (wirtschaftlich und wissenschaftlich) an die Spitze, sie müssen innovativer, fantasievoller und dynamischer als die anderen sein: „Arbeitskraftunternehmer“ (Pongratz und Voß 2004), „Humankapitalisten“, „Ich-Verwerter“. Da wird die Normalität langweilig, zur schweren Sünde, zur Spielwiese der Versager. Und die Arbeit wird in ein anderes „assoziatives Umfeld“ verfrachtet: Sie wird zu einer aktiven, innovativen, dynamischen, unternehmerischen Aufgabe, an der man sich bewähren muss. Fatalerweise sind die meisten Menschen nichts anderes als normale Menschen. Die Arbeitswelt stellt ihnen nun aber leuchtende Bilder der Exzellenz vor Augen, denen sie entsprechen sollten, denen die meisten aber niemals entsprechen können. Das gilt nicht nur für die „Fußmaroden“ des Arbeitsmarktes, sondern selbst für die Spitzenmanager, die das Gefühl entwickeln, dass sie permanent auf dünnem Eis tanzen (Bude 2014). Es verbreitet sich deshalb eine Stimmungslage des Unbehagens und Ungenügens, die nur durch narzisstische und selbstüberschätzende Typen, die sich bekanntlich unter Managern überproportional finden (overconfidence), durchbrochen werden kann. Der Normalarbeiter

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aber gerät unter Druck, wenn ihm Exzellenz als Normalität verkauft und angesonnen wird, diesen Standards zu entsprechen. Da hilft nur noch beinhartes SelfTracking im Dienste der Perfektionierung (Bonelli 2014, Werle 2010). Storys definieren eine Wirklichkeit. Es ist dasselbe, was auf Facebook stattfindet: Andauernd trudeln die Meldungen herein, dass der eine New York besichtigt, die andere in der Karibik am Strand liegt, die dritte ein Foto von der chinesischen Mauer schickt; und selbst sitzt man da, als „Normalarbeitender“, kommt nicht weg und kann es sich auch nicht leisten. Was in diesem Fall für die Freizeit gilt, gilt durch überhöhte Narrative auch für die Arbeitswelt: Sie wird – auf illusorische Weise – umdefiniert. Alle sind erfolgreicher. Nichtarbeit wird Zeitvergeudung, und Arbeit wird zu einem großartigen Erlebnis. Denn es wird um die „Bilder der Arbeit“ gerungen. Die angemessenen Bilder verbinden Arbeit mit Erlebnis, Individualität, Selbstbestätigung, Gefühl, mit der „ganzen Persönlichkeit“. Da fällt es zunehmend schwerer zuzugeben, dass man manchmal gar nicht gut drauf ist.

12. K ONSUMISTISCHE E LEMENTE Der europäische Lebensstil verbindet bestimmte Weltbildelemente. Es handelt sich erstens um ein materialistisch-ökonomistisches Weltbild, welches von der Dominanz des wirtschaftlichen „Codes“ in zunehmend mehr Lebensbereichen geprägt ist. Zweitens gehört dazu eine technizistisch-insensible Gestaltung der Welt, die einem als „fremdes Objekt“ gegenübersteht. Und drittens entwickelt sich eine hedonistische-narzisstische Massenkultur des Kitsches (Kondylis 2001). Ohne die starke konsumistische Grundorientierung lassen sich ökonomisch stabile Gesellschaften der westlichen Welt kaum denken. Bestimmte Kritiken an der Arbeitsgesellschaft nehmen das Thema der überflüssigen Arbeit, welches in verschiedenen utopischen Gemälden abgehandelt worden ist, wieder auf; allerdings nicht in der Weise, dass sie mit mythischen Füllhörnern operieren, denen der Reichtum entspringen sollte, sondern mit einer Kritik an der Konsumgesellschaft, der sie die Konstruktion von vermeintlichen Notwendigkeiten in der Gefühlswelt der Menschen zuschreiben, deren Erwerb wiederum einen Arbeitsaufwand bedeutet, der im Grunde eingespart werden könnte: weniger konsumieren, besser leben (Schönburg 2007). Es sind verschiedene „Tretmühlen“, die nicht liefern, was man sich von ihnen erwartet: die anderen durch Status übertreffen (aber das wollen alle, und so bleibt trotz größter Anstrengung alles beim Alten); die eigenen Ansprüche steigern (aber die Zusatzobjekte sind letztlich enttäuschend, man wird dadurch nicht glücklicher); alle Optionen des Le-

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bens ausschöpfen (aber gerade in reicher werdenden Gesellschaften ist es logisch unmöglich, der „Fülle“ hinterherzulaufen); durch Apparaturen Zeit sparen (aber dabei ist der Erwerb von Apparaturen und die Wartung der unbändigbaren Informationsströme und Wartungsnotwendigkeiten nicht einkalkuliert) (Binswanger 2006). „Aber vielleicht hat das Befriedigende am Entertainment irgendwo doch seine Grenzen, bleibt es also ein Problem, wie sich die von Arbeit nicht mehr erfüllten Erwartungen, Hoffnungen, Sinnbedürfnisse, Energien und Phantasien wieder einfangen werden.“ (Meier 1998: 212)

Auch in den Arbeitsverhältnissen haben sich Signalsysteme entwickelt, die fatale Folgen haben. Wenn man nicht an die „Spitze“ kommen will, also Karriere anstrebt und „hungrig“ ist, gilt das als Mangel an Ambition, und eine solche Einschätzung bedroht selbst das Erreichte: Man muss die „Hungrigkeit“ demonstrieren, auch wenn sie nicht vorhanden ist. Bei der Arbeit, die wesentliches Element der Identität ist, macht jeder Karriereschritt Freude, aber nur kurze Zeit, dann ist er selbstverständlich geworden und wird durch weitere Meilensteine ersetzt. Man macht Fitness, um fit zu bleiben, nicht aus Freude. Man setzt sich hohe (unerreichbare) Ziele, denn sonst ist man schon in der Verliererecke. Zufriedenheit, Bescheidenheit, Mäßigkeit – diese klassischen Tugenden gelten dann nur noch als Ausreden für jene, die nicht mithalten können. Es ist ein Mechanismus der Enttäuschungsproduktion auf allen Linien (Prisching 2006). Stilvolle Bescheidenheit ist in der Übertreibungsgesellschaft keine Option (Schönburg 2007), dem Goffmenschen (Hitzler 1992) wird mehr abverlangt. Stattdessen wird eine Welt der Überlastung beschrieben, die zwischen Narzissmus (Lasch 1995, Haller 2013, Sennett 1983) und Burnout (Neckel und Wagner 2013) angesiedelt ist. Denn dem Normalarbeiter wird heute nicht nur abverlangt, dass er seine Arbeit ordentlich erledigt, er muss dabei auch positives Denken kultivieren und ein glückliches Gesicht machen. Die um sich greifenden Depressionen, so sagen Sozialpsychologen, sind nicht zuletzt Ergebnis einer „verordneten Positivität“ (Ehrenberg 2004). Unsichere, oft projektformatierte „neue Normalarbeit“, die mit einem strahlenden Gesicht einhergehen muss, ist eine belastende Angelegenheit.

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13. S CHLUSSBEMERKUNGEN Sind schon die natürlichen Objekte auf dieser Welt keine naturgegebenen und in diesem Sinne „objektiven“, sondern zumeist interpretationsbedürftige, mit Deutungen überladene Sachverhalte, so gilt dies noch weit mehr für die „menschengemachten“, „konstruierten“, „geschaffenen“ Dinge – so wie die Welt der Arbeit, die Jobs, die Karrieren, die lebenserhaltenden Tätigkeiten. Um eine Landkarte solcher Perspektiven auf die Arbeit, wenn auch eine notwendigerweise unvollständige, zu entwerfen, spannen wir die Deutungsmöglichkeiten zwischen zwei Dimensionen auf: Die eine Dimension geht von den positiven, optimistischen, attraktiven oder affirmativen Visionen der Arbeit zu den negativen, pessimistischen, leidenden, ablehnenden Visionen. Die andere Dimension erstreckt sich von einer romantischen, emotionalen Perspektive zu einer nüchternen, kalkulierenden, rationalen Perspektive. Wie in der Abbildung 1 dargestellt, können die meisten in gängigen Diskussionen erörterten Bilder der Arbeit in der auf diese Weise entworfenen Landkarte untergebracht werden. Diese Landkarte stellt nicht nur – mit einem kurzen Blick – die Vielfalt, sondern auch die Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit der Betrachtungen dar, die sich mit dem Phänomen der Arbeit beschäftigen. Und in einigen Fällen suggeriert die Landkarte der Arbeit auch das „Umschlagen“ von Phänomenen – wenn etwa der „Arbeitskraftunternehmer“ sowohl als positive Option für das Ausleben des entrepreneurialen Geistes als auch als negative Option für zusätzliche eine „Ausbeutungslegitimation“ in den praktischen Arbeitsverhältnissen betrachtet werden kann. Die Landkarte verzeichnet die wichtigsten Modelle der Arbeit, wie sie in den letzten Jahrzehnten diskutiert worden sind.

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Abbildung 1: Eine Landkarte von Arbeitsperspektiven

Quelle: Eigene Darstellung.

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Normalitätsvorstellungen von Arbeit im Kontext gewerkschaftlicher Organisierung S ASKJA S CHINDLER

1. E INLEITUNG Seit etwa Mitte der 1990er-Jahre sehen sich die österreichischen Gewerkschaften mit einem signifikanten Rückgang der Mitgliederzahlen sowie der Organisationsdichte konfrontiert (Traxler/Pernicka 2007, Pernicka/Stern 2011). Pernicka/ Stern (2011: 335) sprechen in diesem Zusammenhang von einer zweifachen Krise: zum einen konstatieren sie eine Mitgliederkrise und zum zweiten eine dadurch ausgelöste Finanzkrise. Hermann und Flecker (2006) identifizieren weitere Probleme u.a. die zunehmende Lücke in der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen auf Betriebsebene. Gleichzeitig kommt den BetriebsrätInnen, als wichtigste „Vermittler(n) kollektiver Werte“ (Pernicka 2008: 28) im österreichischen System der Arbeitnehmerinteressenvertretung, das als „duales Mitbestimmungsmodell der Interessenvertretung“ (Schneller/Vlastos 2002) charakterisiert wird, ein zentraler Stellenwert zu.1

1

Mit dem Begriff „duales Mitbestimmungsmodell“ ist gemeint, dass die Interessenvertretung der Arbeitenden über zwei formal getrennte Ebenen verfügt: Eine Ebene bilden Gewerkschaften, die auf gesamtwirtschaftlicher- bzw. Branchenebene agieren und zum Abschluss von Kollektivverträgen berechtigt sind. Auf der anderen Ebene agieren die BetriebsrätInnen, die die Interessen der Arbeitenden auf Betriebs- bzw. Unternehmensebene vertreten. Dieser institutionellen Trennung liegt das Arbeitsverfassungsgesetz zugrunde demzufolge Betriebsräte Informations- und Anhörungsrechte haben jedoch keine Kollektivverträge abschließenen dürfen (Hermann/Flecker 2006). Trotz der formellen Trennung sind Gewerkschaft und BetriebsrätInnen in der Praxis

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Ein bedeutender Grund für diese Entwicklungen wird u.a. in der Zunahme der so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse in Österreich gesehen (Hermann/Flecker 2006, Traxler/Pernicka 2007). Diese finden sich seit den frühen 1980er-Jahren und haben im Laufe der 1990er-Jahre einen bedeutenden Zuwachs verzeichnet (Talos 1999, Stadler 2005). Die Gruppe der atypisch Beschäftigten gilt zum einen als schwierig zu organisieren (Traxler/Pernicka 2007, Holst et al. 2008), zum anderen werden durch atypische Beschäftigungsverhältnisse bestehende gewerkschaftsinterne Zuständigkeitsbereiche durchkreuzt (Traxler/ Pernicka 2007). Weiters wird in diesem Zusammenhang auf Schwierigkeiten durch die damit verbundene Bündelung von potenziell widersprüchlichen Interessen und eine Schwächung der Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen durch die Konkurrenz zwischen Stammbeschäftigten und atypisch Beschäftigten verwiesen (Holst et al. 2008). Mein Beitrag nähert sich dem skizzierten Phänomen mithilfe eines Perspektivenwechsels: anstatt der atypischen Beschäftigungsverhältnisse und deren Probleme für Gewerkschaften fokussiere ich explizite und implizite Normalitätsvorstellungen von GewerkschafterInnen über Arbeit und deren Bedeutung für gewerkschaftliche Organisierung in Österreich. 2 Die zentrale Frage lautet also: Welche Bedeutung haben Normalitätsvorstellungen der Gewerkschaften für die schwindende Vertretung von ArbeitnehmerInnen? Ich untersuche diese Frage am Fall der Arbeitskräfteüberlassung. Unter der Bezeichnung „Arbeitskräfteüberlassung“ oder auch „Leiharbeit“ wird die Beschäftigung von Arbeitskräften verstanden, „die zur Arbeitsleistung an Dritte überlassen werden“ (Springer 2002: 13). Es handelt sich um ein atypisches Beschäftigungsverhältnis, das durch ein spezifisches Dreiecksverhältnis charakterisiert ist: Dem/der Arbeitenden stehen in diesem Fall zwei Arbeitgeber gegenüber, zum einen der rechtliche Arbeitgeber, der Überlasser und zum anderen der faktische Arbeitgeber, der Beschäftiger (Schapler 2009: 29, Sacherer 2003: 90). Der Arbeits- bzw. Dienstvertrag wird zwischen dem/der Arbeitenden und dem Überlasser abgeschlossen, die tatsächliche Arbeitsleistung aber für und im Be-

eng miteinander verbunden: erstens durch wechselseitige Abhängigkeiten sowie zweitens durch personal-funktionale Verschränkungen (Schneller/Vlastos 2002). 2

Unter der Bezeichnung „GewerkschafterInnen“ subsumiere ich in diesem Beitrag sowohl GewerkschaftsmitarbeiterInnen (FunktionärInnen und hauptamtliche MitarbeiterInnen) als auch BetriebsrätInnen. Wo sich Unterschiede in den Normalvorstellungen zwischen den befragten Gruppen zeigen, verwende ich die konkrete Gruppenbezeichnung.

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schäftigerbetrieb erbracht. Somit sind für die überlassenen Arbeitskräfte im Arbeitsalltag die Arbeitsbedingungen und Regelungen im Beschäftigerbetrieb ausschlaggebend. Rechtlich besteht aber keine direkte Beziehung zwischen der Leiharbeitskraft und dem Beschäftiger. Das Fehlen einer arbeitsvertraglichen Bindung zwischen der Arbeitskraft und dem Beschäftiger stellt das besondere Wesensmerkmal dieser Arbeitsform dar (Schapler 2009: 88). Leiharbeit ist als Gegenstand für eine empirische Untersuchung besonders interessant, weil sie in den letzten Jahren quantitativ stark zugenommen hat und schwerpunktmäßig in der Industrie eingesetzt wird (vgl. Statistik zur Arbeitskräfteüberlassung 2016a, 2016b). Der Schwerpunkt des Einsatzes liegt damit gerade in einem vormals gut abgesicherten Beschäftigungsbereich mit starker gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Wie oben bereits erwähnt, stehen in meiner Untersuchung aber nicht die Probleme von Leiharbeit im Vordergrund, sondern die Bilder, die Gewerkschaften vom „Normalarbeitsverhältnis“ haben. Meine Frage lautet folglich: Was ist die „Normalitätsfolie“ vor der Leiharbeit als das Andere abgegrenzt wird? Konkrete Fragen in diesem Zusammenhang sind: Welche Bilder von „normalen“ Arbeitsverhältnissen und Arbeitsumständen zeigen sich in den Darstellungen der befragten GewerkschafterInnen? Welches Bild von Belegschaften sowie ArbeitnehmerInnen beschreiben sie? Welche Bedeutung haben diese Bilder für die alltägliche gewerkschaftliche Organisierungspraxis? Im Folgenden werde ich zuerst den theoretischen Rahmen und die methodische Konzeption der Untersuchung beschreiben (Abschnitt 1). Im Anschluss daran stelle ich die zentralen Ergebnisse der Untersuchung vor (Abschnitt 2) und diskutiere die daraus resultierenden Schlussfolgerungen (Abschnitt 3).

2. T HEORETISCHER R AHMEN

UND

M ETHODIK

Bisherige Untersuchungen zur Problematik gewerkschaftlicher Organisierung und atypischer Beschäftigung analysieren vorwiegend die strategische Ausrichtung gewerkschaftlicher Organisierungspolitik und damit explizite Entscheidungsdimensionen oder die Handlungsorientierungen und Motive von atypisch Beschäftigten selbst (z.B. Holst et al. 2008, Pernicka 2008). Mein Beitrag fokussiert die alltägliche Organisierungspraxis von GewerkschafterInnen. Dadurch soll der Blick auf das untersuchte Phänomen von den expliziten strategischen Entscheidungen, auf implizite, alltägliche Dynamiken gewerkschaftlicher Organisierung erweitert werden. Der Beitrag versteht sich daher als Ergänzung zu jenen Studien im Bereich der Gewerkschaftsforschung die vorwiegend strategi-

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sche Positionierungen und aktive Entscheidungen der Gewerkschaften untersuchen. Der theoretische Hintergrund des vorliegenden Projekts liegt im Bereich der sogenannten Praxistheorien. Darunter werden sehr unterschiedliche Ansätze subsumiert, deren Gemeinsamkeit ein modifiziertes Verständnis von „Handeln“ ist: Statt der rationalen Absichten eines Akteurs geraten die Abläufe und Eigenlogiken sozialen Geschehens in den Fokus der Analyse (Reckwitz 2003). Diesem Verständnis zufolge basiert Handeln nicht primär auf der bewussten Ausführung abstrakter Normen und Werte oder den Intentionen der Akteure, sondern auf in Körpern und Wahrnehmungsschemata inkorporiertem, vielfach vor-reflexivem Wissen, einem „sozialen Sinn“ (Bourdieu 1993). Bewusste Handlungsdimensionen können menschliches Verhalten demzufolge nur partiell erklären, demgegenüber wird auf die Relevanz von impliziten Wissensbeständen und präreflexiven Handlungsroutinen zur Erklärung menschlichen Verhaltens verwiesen. Methodisch basiert dieser Beitrag auf qualitativen Interviews (Kaufmann 1999, Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009) mit GewerkschafterInnen (BetriebsrätInnen und GewerkschaftsfunktionärInnen bzw. -mitarbeiterInnen, N=10), die über ihre Organisierungsversuche von Leiharbeitskräften erzählen. Im Vordergrund stehen dabei die alltägliche Organisierungspraxis sowie die konkreten Probleme, die GewerkschafterInnen in dem Versuch erfahren, unterschiedliche Gruppen von ArbeitnehmerInnen zu organisieren. Die Durchführung der Interviews erfolgte anhand eines Leitfadens, der als flexible Themenliste zum Einsatz kam (Gläser/Laudel 2009: 42). Dadurch wurde gewährleistet, dass alle relevanten Themen im Verlauf des Interviews zur Sprache kamen, die Abfolge der Themen, der thematische Zusammenhang in dem sie angesprochen wurden u.ä. wurde aber von den Befragten selbst bestimmt. Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte nach theoretischen Erwägungen mit dem Ziel, verschiedene Perspektiven zu integrieren. Befragt wurden Gewerkschaftsmitarbeitende aus verschiedenen Landesorganisationen, unterschiedlichen Hierarchieebenen und verschiedenen Gewerkschaften (ProGe und GPAdjp). Aufgrund des besonderen Interesses an der Industrie lag der Schwerpunkt auf GewerkschafterInnen der ProGe. In der Gruppe der befragten BetriebsrätInnen finden sich sowohl Beschäftiger- als auch ÜberlasserbetriebsrätInnen verschiedener Unternehmen, sowie Arbeiter- und AngestellenbetriebsrätInnen. Die Auswertung der Interviews orientierte sich am Codierverfahren der Grounded Theory, d.h. relevante Kategorien wurden aus dem empirischen Material heraus entwickelt, nicht vorab aus bestehender Theorie abgeleitet (Mey/Mruck 2011).

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3. E RGEBNISSE Der folgende Abschnitt beschreibt Normalitätsvorstellungen von GewerkschafterInnen über Arbeit und Arbeitsverhältnisse, Arbeitende und Belegschaften sowie Arbeitsorte und Arbeitsumstände und ihre Bedeutung für die alltägliche gewerkschaftliche Organisierungspraxis. 3.1 ArbeitnehmerInnen als passive, zu organisierende „Immobilien“ „Normale“ ArbeitnehmerInnen werden von den Befragten als passive, zu organisierende und in dreifacher Hinsicht „immobile“ Gruppe beschrieben. Eigeninitiative setzen ArbeitnehmerInnen den Befragten zufolge vorwiegend bei individuellen Problemen. Der folgende Interviewauszug bringt diese Wahrnehmung deutlich zum Ausdruck: „[…] natürlich auch immer mit dem Ziel unsererseits, nicht nur dass die Kollegin oder der Kollege den zustehenden Lohn kriegt, sondern natürlich denken wir auch weiter was gewerkschaftliche Organisation betrifft, was Betriebsrat betrifft, und das ist ein sehr schwieriger Prozess, weil zuerst schaut er [der/die ArbeitnehmerIn; Anm. d. A.] mal, dass er selber seine Ansprüche kriegt, und denkt nicht daran, dass es ja vernünftig wäre à la longue eine Organisation zu haben.“ (Interview Landessekretär)

Eine ähnliche Struktur zeigt sich in anderen Interviews. Sie beschreiben gewerkschaftliche im Sinne von kollektiver Organisierung vorwiegend als Aktivität von Seiten der Gewerkschaft. Als aktiver Part in strategischer Hinsicht ebenso wie beim Setzen von konkreten Handlungen und Handlungsimpulsen werden die GewerkschaftsmitarbeiterInnen beschrieben. Umgekehrt werden die Arbeitenden eher passiv dargestellt: sie werden kontaktiert, sie werden als Mitglieder angeworben, sie werden zur Gründung von Betriebsräten angeregt. Eigenaktivität in Hinblick auf z.B. eine eigeninitiierte Kontaktaufnahme mit Gewerkschaften wird ArbeitnehmerInnen nur im Fall von eigenen, konkreten Problemen mit dem Betrieb und mit dem Interesse einer Verbesserung des eigenen Anliegens zugeschrieben. Kollektive Anliegen bzw. Aktivitäten werden dagegen als von den GewerkschafterInnen initiiert beschrieben. „Normale“ ArbeitnehmerInnen werden in den Interviews als Gruppe charakterisiert, die über ein „normales“ Arbeitsverhältnis verfügt. Darunter wird – wie der untenstehende Interviewauszug zeigt – ein Beschäftigungsverhältnis verstanden, das zwei zentrale Komponenten beinhaltet: zum einen inkludiert es zwei

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und nur zwei Vertragspartner, den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer. Zum anderen ist ein Kollektivvertrag anzuwenden und damit ein klares Entlohnungssystem. Außerdem wird damit eine – relativ – dauerhafte und stetige Arbeit in demselben Betrieb assoziiert. „Es gibt ja bei einem normalen Arbeitsverhältnis nur zwei Vertragspartner, es gibt den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer, und der Arbeitgeber unterliegt im Normalfall einem Kollektivvertrag, der dann für den Arbeitnehmer, die Arbeitnehmerin anzuwenden ist.“ (Interview Branchensekretär)

Damit geht in dieser Sichtweise auch eine „Immobilität“ von „normalen“ ArbeitnehmerInnen einher, die sich in drei wesentlichen Aspekten äußert: „Normale ArbeitnehmerInnen“ werden – in Abgrenzung zu LeiharbeiterInnen – erstens als Gruppe charakterisiert, die in einem Betrieb dauerhaft angestellt ist. Damit wird auch eine dauerhafte örtliche Anwesenheit im Betrieb verknüpft, d.h. keine häufigen Wechsel des Arbeitsortes. Zweitens findet sich eine „betriebliche Bodenständigkeit“ (Interview Landessekretär). Darunter wird eine Identifikation mit der konkreten Arbeit bzw. dem Betrieb verstanden und in weiterer Folge auch ein Interesse an Verbesserungen vor Ort. Als Folge dieser „betrieblichen Bodenständigkeit“ wird der Gruppe der „normalen ArbeiterInnen“ auch attestiert im Fall von Problemen nicht schnell den Betrieb zu wechseln, sondern im Rahmen des aufrechten Arbeitsverhältnisses vor Ort eine Lösung zu suchen. Drittens werden „normale ArbeitnehmerInnen“ als Gruppe beschrieben, die formal und praktisch über gesicherte Rechte verfügt und daher auch nicht einfach von Seiten des Arbeitgebers vom Arbeitsplatz entfernt werden kann. Diese Gruppe ist damit im Hinblick auf die beschriebenen Aspekte gewissermaßen „immobil“ und somit an ihrem Arbeitsort für GewerkschaftsmitarbeiterInnen und BetriebsrätInnen zugänglich. Die folgende Interviewpassage thematisiert die „ungewöhnliche Mobilität“ von Leiharbeitskräften und die damit einhergehenden Probleme für gewerkschaftliche Organisierung: „Das Hauptproblem ist, dass der Wechsel sehr, sehr stark ist, der ist drei Wochen dort und vier Wochen dort, zum zweiten ist die betriebliche Bodenständigkeit, dass sie sich identifizieren mit den verschiedenen Dingen und eine längere Phase in einem Unternehmen sind, nicht gegeben, das heißt wenn eine Schwierigkeit auftaucht, ist der relativ schnell weg, nicht nur leider von Seiten des Arbeitgebers […] wir haben schon viele Betriebe, wo wenn dort die Vorgesetzten merken, dass es einen [Leiharbeitskraft; Anm. d. A.] gibt, der bereit ist sich zu organisieren, mit der Gewerkschaft zusammenzuarbeiten, dass die Kolle-

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ginnen und Kollegen sofort wieder woanders sind, die arbeiten halt dann woanders.“ (Interview Landessekretär)

Der Befragte beschreibt den häufigen Wechsel des Arbeitsortes von Leiharbeitskräften als Problem für gewerkschaftliche Organisierung und damit implizit eine länger andauernde Anwesenheit der Arbeitenden an ein und demselben Arbeitsort als „Normalfall“ für gewerkschaftliche Organisierung. Gleichzeitig verweist die Beschreibung darauf, dass für die Einrichtung von BetriebsrätInnen eine Gruppe kontinuierlich anwesender Arbeitender im selben Betrieb „notwendig“ ist, die bereit ist bei Problemen für deren Verbesserung vor Ort zu kämpfen (statt den Arbeitsplatz zu wechseln) und auch soweit rechtlich abgesichert ist, dass sie nicht einfach von Seiten des Arbeitgebers an einen anderen Arbeitsort verlegt werden kann. Die beschriebene Passivität und Immobilität der Arbeitenden sind insbesondere für die räumliche Organisation gewerkschaftlicher Praxis relevant: zum einen müssen Arbeitende aufgrund ihrer Passivität lokalisiert und kontaktiert werden, zum anderen macht ihre Immobilität sie dauerhaft lokalisierbar und ansprechbar. Der folgende Abschnitt erläutert die Bedeutung des Betriebs als gewerkschaftlicher Organisierungsraum.3 3.2 Der Betrieb als zentraler gewerkschaftlicher Organisierungsraum Die „Immobilität“ der ArbeitnehmerInnen, und damit ihre kontinuierliche Anwesenheit in einem Betrieb ist von zentraler Bedeutung für die alltägliche gewerkschaftliche Organisierungspraxis. Der Betrieb als konkreter Ort, an dem die Arbeitenden tagtäglich anwesend sind wird als zentraler gewerkschaftlicher Organisierungsraum beschrieben. Dabei ist zum einen die grundsätzliche Erreichbarkeit der Arbeitenden für GewerkschafterInnen bzw. insbesondere BetriebsrätInnen durch die tagtägliche Anwesenheit am selben Ort relevant sowie zum anderen die dadurch mögliche dauerhafte Kopräsenz von Arbeitenden und BetriebsrätInnen. Die Erreichbarkeit der Arbeitenden sowie die dauerhafte Kopräsenz von Arbeitenden und BetriebsrätInnen sind für die gewerkschaftliche Organisie-

3

Die Begriffe Organisierungsraum sowie Organisierungspraxis beziehen sich in diesem Beitrag nicht nur auf die Mitgliederwerbung, sondern auf sämtliche Bereiche gewerkschaftlicher Organisierung und Mobilisierung.

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rungspraxis in mehreren Belangen bedeutsam: Bereits für die Wahl eines Betriebsrats ist die Erreichbarkeit bzw. die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit den Beschäftigten eine grundsätzliche Notwendigkeit. Ist diese Möglichkeit nicht gegeben, ist es zum einen schwierig KandidatInnen zu finden, und zum anderen entstehen Probleme bei der Organisation und Durchführung der Wahl. Der folgende Gesprächsauszug thematisiert Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Gründung eines Betriebsrats in einem Überlasserbetrieb, d.h. einer Situation in der die Erreichbarkeit der Arbeitenden sehr eingeschränkt ist: „[…] da sind eine Menge von Beschäftigerbetriebsräten eingebunden gewesen, allein zu eruieren, wo arbeiten tausend Leute […], es gibt keine Stelle, wo ich anrufen kann und sagen Guten Tag Gewerkschaft, sagen Sie mir wo ihre Leute arbeiten […] allein von der Logistik, man muss ja dann alles über Wahlkarten organisieren, tausend eingeschriebene Schriftstücke zustellen, dass das rechtlich alles passt, das ist schwierig und kompliziert gewesen.“ (Interview Landessekretär)

Darüber hinaus wird der Betrieb auch als zentraler Ort für die Mitgliederwerbung der Gewerkschaften i.d.R. über die BetriebsrätInnen beschrieben. Der folgende Interviewauszug illustriert die Bedeutung des Betriebs in Hinblick auf die Praxis der Mitgliederwerbung: „Die Gewerkschaft ist gewohnt: schöner großer Industriebetrieb, Riesenhalle, da gehst du als Betriebsrat rein, gibst die Hand und hast alle bei der Gewerkschaft.“ (Interview Arbeiterbetriebsrat Überlasserbetrieb)

Eine Schlüsselrolle spielt die dauerhafte Kopräsenz von Arbeitenden und BetriebsrätInnen auch für die Einhaltung arbeitsrechtlicher Bestimmungen im Betrieb: Zum einen haben BetriebsrätInnen dadurch die Möglichkeit, die Beschäftigten regelmäßig über Regelungen sowie etwaige Veränderungen zu informieren – über die viele Beschäftigte andernfalls gar nicht Bescheid wüssten: „Letztendlich ist der Punkt jener, dass man [die Gewerkschaft; Anm. d. A.] nicht immer nachrennen kann und überprüfen, sondern wir brauchen da betrieblich einen Mechanismus und das geht nur über einen Betriebsrat.“ (Interview Landessekretär)

Zum anderen wird die Kontaktaufnahme zum – in der Regel eben gerade durch die dauerhafte Kopräsenz bereits bekannten – Betriebsrat in Falle von arbeitsrechtlichen Problemen bzw. Zweifeln als für die Beschäftigten einfacher – und

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daher auch in der Praxis häufiger in Anspruch genommen – beschrieben als der Gang zur Gewerkschaft. Von zentraler Bedeutung für diese Aspekte gewerkschaftlicher Organisierungspraxis ist dabei, dass die dauerhafte Kopräsenz von BetriebsrätInnen und ArbeitnehmerInnen den Aufbau einer persönlichen Beziehung zwischen den ArbeitnehmerInnen und dem Betriebsrat sowie eine Identifikation der ArbeitnehmerInnen mit „ihrem“ Betriebsrat ermöglicht, wie im folgenden Gesprächsauszug thematisiert wird: „Im Metallbereich […], die Mitarbeiter kennen ihre Betriebsräte auf der betrieblichen Ebene und identifizieren sich auch mit den Betriebsräten […]. Im Bereich der Arbeitskräfteüberlassung haben wir das Problem […] sehr viele Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer kennen nicht einmal ihren eigenen Betriebsrat, weil wenn der Betriebsrat auch bei großen Betrieben durchwegs im Bereich der Zentrale sein Büro hat und es wird ein Arbeitnehmer über irgendeine Außenstelle zum Beispiel in Vorarlberg angeheuert, und sofort verliehen an irgendeinen Beschäftiger im Westen Österreichs, dann ist es natürlich sehr schwierig, die Mitarbeiter dem Betriebsrat näher zu bringen bzw. auch zur Gewerkschaft zu werben.“ (Interview Branchensekretär)

Relevant für die Organisierung der Arbeitenden – die hier v.a. auf die Anwerbung von Gewerkschaftsmitgliedern bezogen wird – wird die Kopräsenz oder zumindest örtliche Nähe von Arbeitenden und BetriebsrätInnen beschrieben. Sie wird quasi als Bedingung für ein Kennen der BetriebsrätInnen und eine Identifikation mit ihnen durch die Arbeitenden in einem Betrieb beschrieben und das wiederum als Voraussetzung für ihre Anwerbung als Gewerkschaftsmitglieder. Ohne diese soziale Beziehung und Identifikation wären die meisten genannten Punkte nicht realisierbar. Die Bedeutung des Arbeitsortes/Betriebs, der als hauptsächlicher und zentraler gewerkschaftlicher Organisierungsraum beschrieben wird, liegt den Befragten zufolge also v.a. darin, dass die ArbeitnehmerInnen hier tagtäglich anwesend und ansprechbar sind. Der Betrieb als Ort schafft dadurch für die BetriebsrätInnen die Möglichkeit mit den Beschäftigten Kontakt herzustellen, aufrecht zu erhalten und eine soziale Beziehung zu den Beschäftigten aufzubauen, ihre Rechte auf Betriebsebene durchzusetzen, sie als Belegschaft zu organisieren und sie als Gewerkschaftsmitglieder anzuwerben. Der Betrieb als Organisierungsraum und die damit einhergehende kontinuierliche Kopräsenz von BetriebsrätInnen und Arbeitenden ist nicht nur für die bereits beschriebenen Elemente gewerkschaftlicher Organisierungspraxis, die v.a. die Beziehung zwischen BetriebsrätInnen und Arbeitenden betreffen, bedeutsam. Sie hat auch zentrale Bedeutung für die Kommunikation zwischen Gewerkschaf-

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ten und BetriebsrätInnen bzw. zwischen Gewerkschaften und Belegschaften, die i.d.R. über die BetriebsrätInnen vermittelt wird. Der folgende Abschnitt beschreibt, wie Kommunikation entlang dieser räumlichen Anordnung organisiert wird. 3.3 Der Betriebsrat als „eigenwillige ausführende Gewerkschaft“ im Betrieb Die gewerkschaftliche Organisierungspraxis orientiert sich auch insofern am Betrieb als Organisierungsraum als Kommunikation zwischen Gewerkschaft und ArbeitnehmerInnen vorwiegend über BetriebsrätInnen in den Betrieben organisiert wird. Im folgenden Interviewauszug beschreibt ein befragter Gewerkschaftsfunktionär diese Praxis: „Wir sind halt noch ausgeprägt, dass wir wenn wir in einen Betrieb fahren, der Sekretär der Gewerkschaft, dort ist die Stammbelegschaft, dort ist der Betriebsrat und da haben wir alle schön beieinander.“ (Interview Landessekretär)

Die BetriebsrätInnen kümmern sich zum einen – wie oben bereits beschrieben – um arbeitsrechtliche Anliegen der ArbeitnehmerInnen bzw. die Einhaltung von arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen im Betrieb. Zum zweiten kommunizieren und vermitteln sie gewerkschaftliche Anliegen an die Beschäftigten vor Ort. Direkte Kommunikation zwischen GewerkschaftsfunktionärInnen und ArbeitnehmerInnen ohne Einbezug von BetriebsrätInnen wird in gewerkschaftlich organisierten Betrieben kaum praktiziert. Strategiefindung, Handlungsinitiative und Kommunikation wird allerdings als weitgehend unidirektional beschrieben. Paradigmatisch zeigt das der folgende Gesprächsauszug: „wir versuchen auch die Betriebsrätinnen, die Betriebsräte verstärkt zu motivieren, dass sie in die Betriebe, in die Beschäftigerbetriebe gehen.“ (Interview Branchensekretär) Der Handlungsimpuls kommt in den Darstellungen der Befragten durchgängig von der Gewerkschaft, die versucht die BetriebsrätInnen zu einer bestimmten Handlungsweise im Umgang mit Leiharbeitskräften zu bewegen. Gleichzeitig wird daran deutlich, dass Gewerkschaften und BetriebsrätInnen nicht als ein Kollektiv wahrgenommen werden. Sie werden als zwei getrennte Entitäten beschrieben, von denen das „wir“, die Gewerkschaft versucht, „die“ zu motivieren. Eine gemeinsame Strategieentwicklung zwischen Gewerkschaften und BetriebsrätInnen bzw. Belegschaften wird von den Befragten idR nicht thematisiert. Eine Ausnahme davon wird im Fall von Kollektivvertragsverhandlungen beschrieben, in deren Vorfeld ein gemein-

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sames Treffen von GewerkschaftsmitarbeiterInnen sowie BetriebsrätInnen stattfindet, um gemeinsame Forderungen zu überlegen. Allerdings wird auch in diesem Fall die Gewerkschaft als „(betriebs)übergreifende“ Strategin beschrieben, die die betrieblich bedingten „Einzelinteressen“ der BetriebsrätInnen zu einer umfassenden, kollektiven Strategie zusammenführt. Die BetriebsrätInnen werden von den befragten GewerkschafterInnen aber durchaus als „eigenwillige“ AkteurInnen beschrieben, die keineswegs immer die (neuen) Beschlüsse, Strategien u.ä. der Gewerkschaften sofort umsetzen und auf die die Gewerkschaft nur bedingt einwirken kann. Das kommt bereits an der Stelle „wir versuchen […] zu motivieren“ zum Ausdruck, noch klarer im folgenden Gesprächsauszug: „Die Regel ist eher so, dass die überlassenen Arbeitnehmer als Konkurrenz gesehen und deswegen oft von der Stammbelegschaft nicht akzeptiert werden, wir müssen auch derzeit noch zur Kenntnis nehmen, dass oftmals auch Betriebsrätinnen und Betriebsräte der Stammbelegschaft nicht unbedingt die großen Freunde der überlassenen Arbeitnehmer sind, und die Integration dadurch auch nicht so stattfindet.“ (Interview Branchensekretär)

Den BetriebsrätInnen der Stammarbeitskräfte wird vom befragten Gewerkschaftsmitarbeiter eine Schlüsselrolle im Hinblick auf die Integration von Leiharbeitskräften zugeschrieben: Ihre Einstellung zu Leiharbeitskräften bestimmt demzufolge maßgeblich über die Integration von Leiharbeitskräften in die Belegschaft. Sie erscheinen als die wesentlichen Akteure in dieser Frage. Entgegen der von der Gewerkschaft gewünschten Integrationsstrategie – wie an dieser Stelle insbesondere der Ausdruck „wir müssen auch derzeit noch zur Kenntnis nehmen“ deutlich macht – erfolgt von Seiten der BetriebsrätInnen der Stammbeschäftigten oftmals keine Integration der Leiharbeitskräfte in die Stammbelegschaft, d.h. keine unmittelbare Umsetzung gewerkschaftlicher Strategien. Allerdings zeigt an dieser Stelle insbesondere der Ausdruck „derzeit noch“, dass der befragte Gewerkschaftsmitarbeiter davon ausgeht, dass die BetriebsrätInnen der Stammbeschäftigten auf Dauer von der Linie der Gewerkschaften überzeugt werden können. Eine umgekehrte Einflussnahme – Positionsänderung der Gewerkschaften in dieser Frage aufgrund der ablehnenden Position der BetriebsrätInnen – wird in den Interviews nicht thematisiert. Deutlich wird hier außerdem, dass eine Einflussnahme auf Belegschaften von Seiten der Gewerkschaft als selbstverständlich über die Betriebsräte vermittelt verstanden wird. Stammarbeitskräfte werden als quasi homogene Einheit beschrieben, die gemeinsam agiert und auf Konkurrenz durch Leiharbeitskräfte mit Ausgrenzung reagiert. BetriebsrätInnen wird – wie oben erläutert – eine Schlüs-

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selrolle in der Frage zugeschrieben, ob eine Integration von Leiharbeitskräften in die Belegschaft erfolgt.

4. S CHLUSSFOLGERUNGEN Die Untersuchung zeigt, dass die gewerkschaftliche Organisierungspraxis auf eine konstante Anwesenheit von ArbeitnehmerInnen in einem Betrieb und auf die dauerhafte Kopräsenz von BetriebsrätInnen und ArbeitnehmerInnen ausgerichtet ist. Die Logik gewerkschaftlicher Organisierungspraxis folgt somit einem Normalitätsbild von Arbeitsverhältnissen und -umständen. Dieses Bild trifft aber auf verschiedene Beschäftigtengruppen, insbesondere Leiharbeitskräfte, nicht zu. Die relative Ineffizienz gewerkschaftlicher Organisierung in diesem Bereich kann daher aus dieser Perspektive als Konsequenz veränderter Bedingungen gesehen werden, die nicht mit einer entsprechenden Transformation der Organisierungspraktiken einhergegangen ist. Ein zentrales Problem in der Organisierung von Leiharbeitskräften liegt demzufolge nicht primär in der expliziten strategischen Ausrichtung gewerkschaftlicher Organisierungspolitik, sondern v.a. auch in der unveränderten impliziten Logik der alltäglichen gewerkschaftlichen Organisierungspraxis.

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Normalisierung von Arbeit durch die Arbeitsmarktverwaltung (Österreich 1918-1938) I RINA V ANA

Die Neuordnung sozialstaatlicher und arbeitsrechtlicher Arrangements und die Globalisierung führen heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zu einem grundlegenden Wandel unserer Vorstellungen und Praktiken von Arbeit (vgl. Minssen 2006: 175). Kern der Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen ist die wahrgenommene Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in Europa. Vor diesem Hintergrund kommt der Frage nach der historischen Genese von Arbeit erneut ein wichtiger Stellenwert zu (Ehmer 2002). So zeigt sich, dass das Normalarbeitsverhältnis, dessen Ende heute problematisiert wird, selbst ein historisch relativ neues, soziales Phänomen beschreibt. Seine Wurzeln liegen, wie Toni Pierenkemper (2009) ausführt am Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals veränderten sich die mit Arbeit verbunden Vorstellungen und Praktiken so sehr, dass Historiker_innen es als legitim bezeichneten, von einer „Erfindung“ (Conrad/Macamo/ Zimmermann 2000) der Arbeit zu dieser Zeit zu sprechen. Normatives Leitbild bzw. dominante Vorstellung von Arbeit wurde damals immer eindeutiger die außerhäusliche Berufsarbeit. Von ihr wurden andere Tätigkeiten unterschieden und abgegrenzt und in Bezug auf die Berufsarbeit umgewertet, abgewertet und neu bewertet. Arbeit kann in diesem Sinn auch als Produkt der historischen, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Grenzziehungen zwischen Arbeiten und Nicht-Arbeiten verstanden werden. Sie konstituiert einen sozialen Tatbestand, der, wie Sigrid Wadauer (2016) argumentiert, aus seinem jeweiligen histo-

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rischen Kontext her erklärt werden muss.1 Wesentlich für die Durchsetzung von Berufsarbeit, als dominante Vorstellung von Arbeit, war die Etablierung der ersten sozialstaatlichen Regelungen und Einrichtungen. Zu diesen zählten unter anderem die öffentlichen Arbeitsämter, mit welchen ich mich in diesem Beitrag auseinandersetzte.

1. ARBEITSLOSENVERWALTUNG IN DER Z WISCHENKRIEGSZEIT Die Schaffung eines bundesweiten Netzwerks öffentlicher Arbeitsvermittlungsstellen und die Einführung der Arbeitslosenunterstützung, zählten zu den ersten sozialpolitischen Maßnahmen der Ersten Republik. Die öffentliche Arbeitsvermittlung sollte eine „planmäßige Verteilung der Arbeitskräfte auf die einzelnen Industriezweige“ (Kaff 1920: 33) ermöglichen und den „Wirtschaftsprozeß“ (ebd.: 33) nach dem Krieg befördern. Das Arbeitslosengeld wurde im November 1918 eingeführt um Erwerbslosen eine vorübergehende „Sicherung ihrer Existenz“ (Pribram 1920: 632) zu ermöglichen und damit einen ordnungspolitischen Effekt zu erzielen (Palla 1919: 842). Es wurde 1920 zu einer Versicherungsleistung (AlVG) ausgestaltet. Nach dem Gesetz waren erwerbslose, arbeitsfähige und arbeitswillige Personen, die zuvor in einem dauerhaften, krankenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden hatten und vorübergehend keine „entsprechende“ Beschäftigung finden konnten (§1 AlVG 1920) nach einer Meldung beim Amt, zum Bezug der Unterstützung berechtigt. Land- und forstwirtschaftliche Arbeiter_innen und Angestellte, Dienstpersonal, Personen, die im Betrieb eines Familienmitglieds tätig waren und solche, die bei mehr als einem/einer Arbeitgeber_in beschäftigt waren, waren vom Bezug des Arbeitslosengeldes ausgeschlossen (Hammerl/Kraus 1936: 4). Zudem wurde die Unterstützung nur über einen begrenzten Zeitraum ausbezahlt und war oftmals so gering, dass der Lebensunterhalt damit nicht zur Gänze finanziert werden konnte (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1999: 40).

1

Meine Dissertation ist Teil des Projekts „Production of Work“ (Sigrid Wadauer), welches durch den European Research Council im Siebenten Rahmenprogramm der Europäischen Union (FP7/2007-2013 /ERC grant agreement No. 200918) und vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF START-project Y367-G14) finanziert wurde. Zusätzlich erhielt ich durch die Universität Wien im Rahmen des Forschungsstipendiums 2012 Unterstützung.

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Andere Einkünfte neben dem Arbeitslosengeld blieben daher für Personen, die ihren Arbeitsplatz verloren, weiter relevant. Und Viele konnten gar keinen Anspruch auf Unterstützung erwerben. Sie waren auf persönliche Hilfen, Fürsorgeleistungen oder darauf, wasch in anderer Form einen Lebensunterhalt zu finden, angewiesen. Nicht alle Tätigkeiten über die Personen ihren Lebensunterhalt fanden, waren gleichermaßen als Arbeit anerkannt. Was für den/die Eine_n eine Gelegenheitsarbeit oder Pfusch darstellte, war für andere ein Form der Mithilfe. Die Differenzierungen zwischen Arbeiten und Tätigkeiten, die gerade nicht mehr als solche Geltung beanspruchen konnten, steht zur Debatte, wenn es darum geht zu konstatieren, wie Arbeit in dem spezifischen historischen Kontext kodiert und praktiziert wurde, und welche Einrichtungen und Institutionen dazu beitrugen (Wadauer 2016). Die Arbeitsämter, die mit der Verwaltung und Kontrolle des Arbeitslosengeldes betraut waren, und zu entscheiden hatten, wer Arbeitslosengeld beziehen konnte, welche zugewiesenen Arbeitsgelegenheiten Erwerbslose zu akzeptieren hatten, wer als arbeitsfähig und arbeitswillig zu werten war und wem, aufgrund der bisherigen Tätigkeiten oder aufgrund von vorhandenem Besitz keine Unterstützungsleistung zukommen sollte, kam in dieser Auseinandersetzung, wie Historiker_innen ausführen, eine wichtige Rolle zu. Sie trugen zur Herstellung neuer Vorstellungen von Arbeitsmärkten (Buchner 2011) und Arbeitslosigkeit (Zimmermann 2006) bei und können als Element der Durchsetzung eines neuen Regimes der Arbeit (Wadauer/Buchner/Mejstrik 2012) gewertet werden.

2. ANNÄHERUNG

AN DEN

F ORSCHUNGSGEGENSTAND

Um die praktische Wirkung der Etablierung der Arbeitsämter auf die Normalisierung von Arbeit und Nicht-Arbeit im Österreich der Zwischenkriegszeit zu untersuchen, habe ich gefragt wie diese durch Arbeitssuchende und Erwerbslose genutzt wurden und welche Vorstellungen und Praktiken der Arbeit und von Lebensunterhalten damit jeweils in Zusammenhang standen. Für meine Untersuchung habe ich insgesamt 67 Erzählungen, in denen auf vielfältige Weise über Arbeitssuche und Arbeitsannahme berichtet wird, systematisch miteinander verglichen (Vana 2013). Ich habe unter anderem danach gefragt ob ein Kontakt zum Arbeitsamt bestand, wie Arbeitsplatzwechsel und Lebensunterhalte in den unterschiedlichen Erzählungen dargestellt wurden und über welche Einkommen, Familien- und Haushaltssituationen berichtet wurde. Zudem habe ich Redeweisen

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und Textmerkmale im Vergleich berücksichtigt.2 Die konstruierte Erhebungstabelle habe ich mittels des Verfahrens einer spezifischen multiplen Korrespondenzanalyse ausgewertet (Le Roux/Rouanet 2010: 11). Durch diese werden Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Erzählungen einerseits und den sie charakterisierenden Antwortmodalitäten andererseits, in Distanzen zweier homologer, mehrdimensionaler Punktwolken3 übersetzt (Mejstrik 2006). Die Struktur der Punktwolken zeigt, nach welchen Kriterien sich die Gebrauchsweisen der Arbeitsämter unterschieden und/oder ähnlich waren. Jede Dimension der Wolken funktioniert nach einem eigenen „Unterscheidungs- bzw. Verteilungsprinzip“ (Bourdieu 2000: 9) und ist hierarchisch strukturiert. Anhand von Kontrast und Variation der eindimensionalen Spektren kann dargestellt werden, welche Elemente dafür entscheidend waren, dass sich bestimmte Praktiken und Vorstellungen, gegenüber anderen durchsetzen konnten und wogegen diese durchgesetzt wurden. Die Regelmäßigkeit der Spektren zeigen welche normativen Vorstellungen durch die Grenzsetzungen und Differenzierungen durchgesetzt wurden. Die einzelnen Dimensionen können somit auch als soziale Institution (Florian 2008: 4297) interpretiert werden. Die jede Dimension des Feldes bezieht sich hierarchisch auf die jeweils darauf folgende. Die ersten beiden Dimensionen liefern damit die bestmögliche Annäherung an die Gesamtstruktur des konstruieren Feldes der möglichen Gebrauchsweisen öffentlicher Arbeitsämter4. Sie beschreiben Formen und Grade der Normalisierung von Arbeit (erste Dimension) und Haushalt (zweite Dimension) und konstituieren gemeinsam ein zweidimensionales Feld der Lebensunterhalte. Zur Beschreibung der möglichen Orientierungen in diesen Feldern beziehe ich mich im Folgenden auf Zitate aus Erzählungen, die in der Struktur besonders eindeutig positioniert sind.

3. D AS S PEKTRUM

DER

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Anhand des Spektrums (siehe Abbildung 1; vgl. Mejstik 2006: 181) der Arbeit – der wichtigsten Dimension – kann gezeigt werden, welche Tätigkeiten, eher als

2

355 Fragen mit 861 Antwortmöglichkeiten. Die hier präsentierten Ergebnisse sind

3

Der Wolke der Modalitäten einerseits und der Wolke der Beobachtungseinheiten/

4

Insgesamt umfasst die konstruierte Punktwolke 66 Dimensionen. Die beiden ersten

Teil meiner Dissertation. Texte andererseits. Dimensionen beschreiben gemeinsam rund 15% der Gesamtvariation.

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Arbeit anerkannt waren, welche Elemente dafür entscheidend waren, und gegen welche anderen Tätigkeiten sie abgrenzt wurden.5 Kontrast und Variation ermöglichen es damit zu konstruieren, wie Arbeit normalisiert wurde. Die in der Struktur dominante Orientierung (zur rechten Seite der Achse), beschreibt jenen Pol des Spektrums, an dem sich Tätigkeiten finden, die eindeutig als Arbeit anerkannt war. Sie konstituieren Berufsarbeit. Besonders wichtig für deren Herstellung waren – wie anhand der Modalitäten nachvollzogen werden kann – eine formale Berufsausbildung in Form der Lehre6 und die sozialrechtliche Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses, die den Bezug von Arbeitslosengeld ermöglichte. Der Mangel an Lehrausbildungen für Frauen in der Zwischenkriegszeit bewirkte dabei, dass die Berufsarbeit eher von Männern verwirklicht werden konnte, während Frauen zumeist Hilfsarbeiten verrichteten oder in Haushalten und der Landwirtschaft tätig wurden (Leichter 1930: 39). Ebenso wichtig für die Herstellung von Berufsarbeit war die Geltendmachung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld. Denn jene, die am Arbeitsamt Unterstützung bezogen, konnten über einen begrenzten Zeitraum, offiziell vom Arbeitslosengeld leben und die Annahme berufsfremder Arbeiten vermeiden. Das schloss jedoch nicht aus, dass die im Bezug stehenden Arbeitslosen, neben dem Arbeitslosengeld, weitere Einkünfte hatten. Arbeitslos zu sein hieß nicht, keine Arbeitsgelegenheit zu haben oder nicht zu arbeiten, sondern keine Beschäftigung in dem erlernten Beruf finden zu können. So berichtete beispielsweise der 1927 beim Arbeitsamt registrierte Werkzeugmacher Franz Engelmann:

5

Die Wolke der Beobachtungseinheiten und die Wolke der Modalitäten sind simultan dargestellt (symmetrische Darstellung). Die y-Achse beschreibt den relativen Anteil, der einzelnen Modalitäten an der Dimension. Ein ctr-Anteil von 10 heißt, dass die entsprechende Modalität 10-mal mehr zur Erklärung der Dimension beiträgt, als alle Modalitäten des Samples das im Durchschnitt (ctr-Anteil=0) tun. Der Durchschnittswert der relativen Beiträge (CTR) ist jener Wert, den alle Modalitäten hätten, wenn sie in gleicher Weise zur Variation der Achse betragen würden. Die unbeschrifteten Punkte zeigen die Position von in der ersten Dimension überdurchschnittlich wichtigen Modalitäten und Beobachtungseinheiten des Samples, die hier aus Gründen der Lesbarkeit nicht abgebildet sind. Modalitäten in () bedeuten, dass diese nicht vorkommen. Sind die Modalitäten unter „“ gesetzt bedeutet dies, dass der/die Erzähler/in das Wort verwendet.

6

Die Positionen der kursiv gesetzten Modalitäten sind in der Struktur des eindimensionalen Spektrums dargestellt.

148 | I RINA V ANA „Mein Vermittler konnte mir nicht helfen. Ich probierte es selbst […], konnte aber nicht einmal eine Hilfsarbeiterstelle erhalten. Darauf begann ich in meiner Umgebung kleinere Pfuscharbeiten […], was immer sich bot, zu suchen, um etwas Geld zu verdienen.“ (1997: 48)

Abbildung 1: Spektrum der Arbeit – erste Dimension

Quelle: Eigene Darstellung.

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Gelegenheitsarbeiten, bzw. Pfusch, die Arbeitssuche oder das Anstellen beim Amt zum Arbeitslosengeldbezug – das Stempeln, konstituieren jeweils ein wesentliches Element der Berufsarbeit und trugen zu deren Ausdifferenzierung gegenüber anderen Tätigkeiten bei. Die Einführung des Arbeitslosengeldes war damit nicht nur für die Normalisierung von Arbeitslosigkeit (Zimmermann 2006), sondern auch für die von Arbeit entscheidend, beispielsweise indem Tätigkeiten, die im Falle der Arbeitslosigkeit ausgeübt wurden, in Referenz auf die Berufsarbeit, neu bewertet wurden. Je weniger die Tätigkeiten den formalen sozial- und arbeitsrechtlichen Anforderungen von Beschäftigung entsprachen und je weniger berufliche Fertigkeiten für die Arbeit relevant waren, umso stärker weichen diese von der dominanten Orientierung der Berufsarbeit ab (zur linken Seite der Achse). Im stärksten Kontrast zu dieser stehen Tätigkeiten, die offiziell nicht Arbeit sein sollten, von den sie ausführenden Personen aber als solche erzählt wurden. Dazu zählen beispielsweise die von schulpflichtigen (Pflege)Kindern geforderte Mithilfe. Diese, im Verhältnis zur Berufsarbeit dominierten Praktiken der Arbeit, sind ein ebenso wichtiger Aspekt der Erzeugung von Arbeit im Zuge der Etablierung des Sozialstaats, wie die rechtliche und verwaltungstechnische Normierung und Durchsetzung von Berufsarbeit. Denn ihre Position in dem Spektrum ergibt sich aufgrund ihrer Differenz zur Berufsarbeit und konstituiert diese, als negative Referenz, mit. Personen die im Haushalt oder in der Landwirtschaft tätig waren, erhielten keine Möglichkeit zum Arbeitslosengeldbezug und mussten daher, im Falle des Arbeitsplatzverlustes, jede mögliche Tätigkeit annehmen oder private Unterstützung suchen. Zeiten ohne Arbeit wurden von diesen, da sie rasch wieder Tätigkeiten aufnahmen, durch die sie ein Auskommen finden konnten, nicht als Arbeitslosigkeit erlebt, sondern eher als Wechsel zwischen verschiedenen Posten beschrieben. Vielfach verwendeten die Protagonist/innen für die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten keine einheitlichen Bezeichnungen sondern sprachen davon, dass sie gebraucht wurden (Konrad 1974: 1) oder in einem Haushalt aufgenommen wurden.

4. D AS S PEKTRUM

DES

H AUSHALTS

Die zweite Dimension des konstruierten Feldes bildet der Haushalt. Auf die Struktur dieser Dimension will ich nur knapp eingehen. Als zweitwichtigste Institution, die von der Arbeit unterschieden ist, definiert sie zugleich deren Sinngrenze mit und bildet mit dieser gemeinsam einen zweidimensionalen Raums der

150 | I RINA V ANA

Lebensunterhalte. Das Spektrum beschreibt, anders als in der ersten Dimension, Haushalt nicht als einen möglichen Arbeitsort, sondern Formen und Grade der Organisation des Zusammenlebens, welche in unterschiedlichem Maße Versorgung, Fürsorge und Umsorge bieten konnte. Als anerkannteste Haushaltskonstellation setzte sich der Familienhaushalt durch, der nach einem bürgerlichen Ideal ausgestaltet sein sollte. In diesem Haushaltsmodell galt der Vater der Familienernährer – die Mutter sollte keiner außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen. Die in diesen Haushalten aufwachsenden Kinder konnten erst später ins Erwerbsleben eintreten und durch die Versorgung im Haushalt Arbeitslosigkeit vermeiden. Am anderen Ende des Spektrums finden sich Fürsorgeeinrichtungen, welche nur temporäre Versorgung boten. In Bezug auf das Spektrum des Haushalts zeigt sich, dass die Nutzung der öffentlichen Ämter nicht nur eine Frage von Inklusion und Exklusion in einen offiziellen Arbeitsmarkt und von formaler Beschäftigung, war sondern auch davon, welche weiteren Alternativen und Versorgungsmöglichkeiten Personen hatten und nutzten. Eine Registrierung bei öffentlichen Ämter zeigt sich in diesem Zusammenhang als mögliche Reaktion auf einen Mangel an Versorgung durch einen Familienhaushalt.

5. D AS F ELD DER L EBENSUNTERHALTE Arbeit und Haushalt konstituieren zusammen das zweidimensionale Feld der Lebensunterhalte (siehe Abbildung 2).7 Die Hierarchie zwischen den beiden Institutionen, für die Konstitution der Struktur des zweidimensionalen Feldes der Lebensunterhalte, entspricht der Institutionalisierung der neuen Ordnung von Lebensunterhalt im Sozialstaat, wonach die formale Berufsarbeit und die darüber erworbenen Ansprüche die legitimste Art sich den Lebensunterhalt zu sichern

7

Die Wolke der Beobachtungseinheiten und die Wolke der Modalitäten sind simultan dargestellt. (symmetrische Darstellung). Die Kreise stellen jeweils Beobachtungseinheiten (Texte) dar, die Kreuze hingegen jene Modalitäten, die durch die beiden (wichtigsten) dargestellten Dimensionen der Wolke überdurchschnittlich gut erklärt werden (cos²). Ein Ausdruck in Klammer bedeutet, dass die Frage nicht zutrifft. Wurden Anführungszeichen gesetzt, bedeutet das, dass der Ausdruck vom Autor/von der Autorin verwendet wird. Die unterstrichenen Modalitäten werden durch die beiden Dimensionen besonders gut beschrieben (d.h. die entsprechenden Punkte weisen in beiden Dimensionen die höchsten Cos²-Werte auf). Helle Modalitäten sind weniger gut in der Fläche repräsentiert.

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darstellten, deren Fehlen idealer Weise über eine Versorgung im (Familien)haushalt abgesichert werden sollte. Die Hierarchien der ersten beiden Dimensionen wirken auch im zweidimensionalen Feld, wobei im Folgenden die vier am eindeutigsten voneinander kontrastierenden Orientierungen beschrieben werden. Den legitimsten und erstrebenswertesten Unterhaltsmodus beschreibt das Fortkommen durch den Beruf (rechts oben). Im Kontrast dazu konstituieren abhängige Unterhalte im Haushalt (wie Mithilfen) einen offiziellen Mangel. Die klare Trennung von außerhäuslicher Berufsarbeit und Haushalt, als ein Ort der gerade nicht Arbeit sein sollte, war hier nicht umgesetzt. Die Orientierung darauf sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen (rechts unten) implizierte eine affirmative Haltung zu formaler Berufsarbeit, durch welche die mangelnde Versorgung im Familienhaushalt kompensiert wurde. Eine skeptische Haltung beschreibt dagegen den Verzicht auf formale Berufsarbeit zu Gunsten des Erhalten Werdens (links oben) im (Familien)haushalt. Abbildung 7: Feld der Lebensunterhalte

Quelle: Eigene Darstellung.

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Berufsarbeit versprach ein „Vorwärtskommen“ (Kastner 1936: 10), eine sozial anerkannte Stellung (Lazarsfeld 1931: 45) und galt als „Grundlage einer kontinuierlichen [sic!] Versorgungs- und Erwerbschance“ (Weber 1985: 80). Diese Eigenschaften privilegierten sie gegenüber anderen Unterhalten, die keine stabile und dauerhafte Einkommens- und Unterhaltsbasis und kein Prestige schufen und damit in der Struktur des zweidimensionalen Feldes von diesem dominanten Unterhaltsmodus abweichen. Ein Fortkommen durch den Beruf zu finden und in diesem kontinuierlich tätig zu sein, erforderte einen Einsatz, ein „Verwirklichungsstreben“ wie beispielsweise Lilly Lösch (1986: 26) berichtet und Versorgung im Familienhaushalt, die es den Protagonist_innen ermöglichte eine, den persönlichen Eignungen und Neigungen entsprechende Berufsausbildung zu verwirklichen. Kontinuität im Beruf wurde schließlich, nicht nur durch den persönlichen Einsatz für eine „Berufslaufbahn“ (Lösch 1986: 24) und die Nutzung von Ressourcen des Familienhaushalts hergestellt, sondern auch durch die Vermeidung berufsfremder Arbeiten. Dafür war das Arbeitslosengeld bedeutsam. Die Meldung am Arbeitsamt zum Bezug des Arbeitslosengeldes wird von Lilly Lösch daher als eine Pflicht kommuniziert. Eine unangenehme, ungewünschte Pflicht – aber dennoch eine Selbstverständlichkeit, zu der es aus ihrer Perspektive keine Alternative gab: „Also arbeitslos habe ich mich anmelden müssen. Ich mag mich wirklich nicht mehr erinnern […] da musste man in die Finanz hinunter sein Arbeitslosengeld holen, das ist wirklich so hingefeuert. Erstens einmal anstellen müssen usw. […], es war schrecklich.“ (Ebd.: 24)

Im Kontrast zum Streben nach einem Vorwärtskommen durch den Beruf konstituieren abhängige Unterhalte im Haushalt einen offiziellen Mangel. Als haushaltsabhängig sind diese in zweierlei Hinsicht zu begreifen: einerseits durch die Teilhabe der Protagonist_innen am Haushalt als Arbeitskräfte und nicht als Familienmitglied und andererseits, da die dort positionierten Lebensunterhalte von den Protagonist_innen oftmals eher als Gegensatz zum Beruf verstanden wurden. Hier finden sich etwa Mithilfen und land- und hauswirtschaftliche Dienste. Diese wurden bestenfalls als Verdienstmöglichkeit, als ein Auskommen, beschrieben, aber niemals als Beruf bezeichnet der ein Fortkommen bieten konnte. Die Erzählung des ehemaligen Pflegekindes Hanna Konrad, die bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr unbezahlt auf dem Hof ihres Onkels ihren Lebensunterhalt erwirtschaftete, kommt in der Struktur eine besonders eindeutige Position zu. Sie berichtet, dass sie im Alter von sechs Jahren am Hof des Onkels als

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Arbeitskraft aufgenommen wurde da dieser sie „gut gebrauchen“ (Konrad 1974: 1) konnte. Eine Ausbildung, wie sie für einen Beruf verlangt wurde, wurde Konrad nicht in Aussicht gestellt: „Was du dir einbildest du blödes Mensch, du gehörst zur Mistgabel und sonst nirgends hin,“ berichtet Konrad (ebd.: 8) über die ablehnende Haltung ihrer Stiefmutter. Da sie an dem Erlernen eines Berufs gehindert wurde, blieb sie auch in Folge in unterschiedlichen Haushalten sowie Land- und Gastwirtschaften zumeist als Dienstbotin tätig. Doch auch jene, die eine Facharbeiter_innenausbildung abschlossen fanden nicht automatisch durch den Beruf ihren Unterhalt. Vielmehr war die dauerhafte Ausübung eines den Neigungen und Interessen der Protagonist_innen entsprechenden Berufs, in der Zwischenkriegszeit eher schwierig zu verwirklichen. Die als Prätention charakterisierte Orientierung in der Fläche (unten rechts) beschreibt das Bemühen darum sich den „Lebensunterhalt selbst [zu] verdienen“ (Winkler 1986: 10) – mittels einer eigenständigen Erwerbstätigkeit und ohne vom Staat, der Wohlfahrt oder der Familie abhängig zu sein. Hier finden sich Erzählungen von Arbeitslosen, die die Unterstützung bereits verloren hatten oder diese nicht nutzten, Hilfsarbeiter_innen und Gelegenheitsarbeiter_innen, die mangels einer ausreichenden Versorgung durch ihren Familienhaushalt, oder weil sie dort nicht bleiben wollten, unterschiedlichste Einkünfte kombinierten, um sich selbst zu erhalten. Hier finden sich auch Arbeitslose, die an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen teilnahmen und Wanderer die berufs- und erwerbsbezogene Unterstützungen durch Gesellenvereinigungen, Gewerkschaften und Innungen nutzten. Das Handwerk und die Berufung auf gewerbliche Traditionen wurde einerseits zur Substitution der staatlichen Unterstützung genutzt oder wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld bereits erloschen war, andererseits bezogen sich Wandernde darauf als eigenständiger Unterhalt, der ihnen durch ihren Beruf möglich wurde (vgl. Wadauer 2011: 48). Anstelle das Arbeitslosengeld zu beziehen, beschloss beispielsweise der Schneidergeselle Josef Winkler (1996:14) auf Wanderschaft zu gehen. „Hier bleiben und Stempeln gegen, wie man den Bezug der Arbeitslose damals nannte, wollte ich nicht.“ Es erschien ihm, obschon er einen Anspruch erworben hatte, „gar nicht richtig“ (ebd.: 78) das Arbeitslosengeld zu beziehen, denn „Stempeln gehen, das heißt zur Kontrolle“ (ebd.: 72). Im Kontrast dazu steht der Lebensunterhalt jener, die durch einen Familienhaushalt erhalten wurden. Durch die Investition in höhere Ausbildungen (meist schulischer Art) konnten der Status des Familienhaushalts und der eigene Status hergestellt und gesichert und Arbeitslosigkeit durch diese vermieden werden.

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6. S CHLUSSFOLGERUNG Die Auseinandersetzung darum, was in der Zwischenkriegszeit in Bezug auf den neu etablierten Sozialstaat als Arbeit gelten konnte, habe ich über den Vergleich unterschiedlicher Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsämter, die zu den zentralen sozialstaatlichen Einrichtungen nach dem Ersten Weltkrieg zählten, konstruiert. Indem Arbeit durch den Vergleich, gegenüber anderen Institutionen ausdifferenziert wurde, und die Variationen zwischen unterschiedlichen Formen der Arbeit dargestellt wurden, habe ich die Grenzen von Arbeit und die Auseinandersetzung um diese zum Thema meiner Untersuchung gemacht. Diese Annäherung macht deutlich, dass es nicht ausreicht theoretisch und normativ zu bestimmen, was „Arbeit“ ist bzw. sein konnte. So bildeten (illegale) Gelegenheitsarbeit und Pfusch ebenso einen Aspekt der Berufsarbeit – als dominantes Leitbild von Arbeit – wie die formale Ausbildung und deren sozialrechtliche Ausgestaltung. Auch Arbeitslosigkeit war Teil der beruflichen Beschäftigung und wurde erst in Bezug auf die Berufsarbeit als solche gegenüber benennbar und erfahrbar. Das Spektrum der Arbeit zeigt auch eine durch den Sozialstaat und die darin etablierten erwerbsbezogenen Ansprüche, etablierte soziale Stratifikation, die insbesondere Tätigkeiten die oftmals von Frauen ausgeübt wurden – wie Mithilfen und den Dienst – ausschloss. Sie zeigt jedoch auch Praktiken der Vermeidung der neu geschaffenen Institutionen. Das wird insbesondere in Bezug auf die Ausdifferenzierung von Haushalt – als Ort des Zusammenlebens und der Versorgung – gegenüber der Arbeit deutlich, die in dem zweidimensionalen Feld als Elemente der Institutionalisierung einer neuen, hierarchischen Ordnung von Lebensunterhalten im Sozialstaat eingeordnet werden können und damit ein Verständnis für die praktische Wirkung sozialstaatlicher Einrichtungen aufgrund ihrer Nutzung vermitteln.

L ITERATURVERZEICHNIS Bourdieu, Pierre (2000): „Sozialer Raum und „Klassen“„, in: Pierre Bourdieu (Hg.), Sozialer Raum und „Klassen“. Lecon sur la lection. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7-47. Buchner, Thomas (2011): „Orte der Produktion von Arbeitsmarkt. Arbeitsämter in Deutschland, 1890-1933“, in: Peter Becker (Hg.), Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung in Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript Verlag, S. 305-334.

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Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation Selbständiger J OHANNA M UCKENHUBER

1. E INLEITUNG Der Begriff der Normalarbeit beinhaltet unter anderem die Vorstellung einer geregelten Arbeitswoche mit 35 bis 40 Stunden, die tagsüber an einen festgelegten Arbeitsplatz geleistet werden. Die Diskussion um Arbeitszeiten, die Länge der Arbeitszeiten, maximale Wochenarbeitszeiten, Überstunden und deren Bezahlung aber auch die Ausgestaltung der Arbeitszeiten und deren Flexibilität ist zentraler Bestandteil gesellschaftlicher Diskurse. In Österreich verhandeln die Sozialpartner von ArbeitgeberInnen- und ArbeitnehmerInnenseite und VertreterInnen der Politik regelmäßig über diese Themen. Vielfach werden Wünsche nach einer Reduktion der Arbeitszeit aber auch nach flexiblen Arbeitszeiten diskutiert. Diese Diskussionen betreffen jedoch nur abhängig Beschäftige, in Österreich ArbeiterInnen und Angestellte. Arbeitszeiten Selbstständiger werden auf Ebene der Interessensvertretungen und Politik nicht diskutiert. Selbstständige haben keine Vertretung, die sich für kürzere Arbeitszeiten einsetzen könnte und sie haben kein gesetzliches Regulativ, das ihre Arbeitszeiten begrenzt oder überwacht, aber sie haben auch keine Vorgesetzten, die Überstunden und lange Arbeitszeiten anordnen können. Gleichzeitig gehören Selbstständige zu den Personen mit den längsten Arbeitszeiten (Muckenhuber 2009). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, auf Grund welcher Bedingungen wie allgemeinen gesellschaftlichen Normen, konkreten wirtschaftlichen Erfordernissen aber auch intrinsischen Motivationen diese langen Arbeitszeiten zustande kommen. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Arbeitszeiten Selbstständiger ein Produkt dieser externen Bedingungslagen in Zusammenhang mit innerfamiliären aber auch innerpsychischen Aushandlungsprozessen sind, wird in diesem Beitrag folgenden Fragen nachgegangen:

158 | J OHANNA M UCKENHUBER • Was verstehen Solo- und Mikroselbstständige unter Arbeit? Welche Tätigkei-

ten beziehen Sie in ihren Arbeitsbegriff ein? • Wie gestalten Solo- und Mikroselbstständige ihre Arbeitszeiten? • Welche Problemlagen ergeben sich in Zusammenhang mit reproduktiven Ver-

pflichtungen? Dieser Beitrag präsentiert eine Zusammenfassung und neue Zusammenstellung und Re-Analysen ausgewählter Ergebnisse einer Studie zu Arbeitszeiten von Solo- und Mikroselbstständigen, die detailliert in dem Buch Arbeit ohne Ende? Zur Arbeitsrealität der „neuen“ Selbstständigen (Muckenhuber 2014) dargelegt wurden. Die Untersuchung basiert auf der Analyse von 36 Leitfadeninterviews und weiteren 26 ethnographischen Interviews mit Solo- und Mikroselbstständigen1. Im Sinne eines theoretischen Samplings wurden mit dem Ziel, eine maximale Streuung bei ausreichender Dichte zu erreichen, Männer und Frauen ausgewählt und kontrastierende InterviewpartnerInnen hinsichtlich ihres Alters, ihres Bildungsniveaus, ihres beruflichen Erfolges, ihrer Arbeitszeiten, aus verschiedenen Branchen, mit und ohne direktem KundInnenkontakt und mit und ohne Kinder ausgewählt. Die Interviews wurden für die Analyse zuerst offen und danach selektiv kodiert. Typenbildungen wurden vorgenommen.

2. V OR DER O RGANISATION DIE D EFINITION . O DER DIE F RAGE NACH DEM B EGRIFF : ARBEIT VON UND BEI S ELBSTSTÄNDIGEN Für die Auseinandersetzung mit den Arbeitszeiten und der Arbeitsorganisation von Solo- und Mikroselbständigen ist es notwendig, in einem ersten Schritt zu definieren, was unter Arbeit verstanden wird. Im Falle abhängig Beschäftigter also Angestellter ist dies verhältnismäßig einfach. Für Personen mit fixen Arbeitszeiten, die an einem bestimmten Arbeitsplatz geleistet werden müssen, gilt, dass Arbeit alles ist, was in der Zeit die am Arbeitsplatz verbracht wird, geleistet wird. Für Selbstständige jedoch gestaltet sich diese Definition schwieriger. Um ihre Arbeitszeiten bestimmen zu können, ist es notwendig genau zu klären, welche Tätigkeiten zur Arbeit gezählt werden und welche nicht. Der Unterschied soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Man stelle sich eine Fri-

1

Eine genaue Auflistung der InterviewpartnerInnen muss in diesem Beitrag aus Platzgründen entfallen, kann aber in der Buchpublikation nachgelesen werden.

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seurin vor, die in einem nicht ganz ausgelasteten Frisiersalon arbeitet. Im Laufe eines Tages verbringt sie also Zeiten in direktem Kontakt mit Kunden und Kundinnen, aber auch Zeiten des Wartens auf Kundschaft. Im Falle einer angestellten Friseurin kann die Anzahl an Stunden, die der Friseurin im Frisiersalon als Arbeit gewertet werden, unabhängig vom KundInnenaufkommen sein. Im Falle einer selbstständigen Friseurin jedoch ist es nicht mehr so eindeutig, wie die Zeiten, in denen sie auf Kundschaft wartet, bewertet werden sollen. Handelt es sich hierbei um Arbeit, oder um Freizeit? In der sozialwissenschaftlichen Literatur finden sich stark divergierende Definitionen von Arbeit. Anthony Giddens ist ein Vertreter einer soziologischen Richtung mit einer sehr breiten Definition von Arbeit. Er subsummiert alle Tätigkeiten, für die geistige oder körperliche Energie aufgewandt wird und das Ziel verfolgen, Güter und Dienstleistungen hervorzubringen, die sich an menschliche Bedürfnisse wenden, als Arbeit (vgl. Giddens 1999: 335). Giddens bezieht sich in seiner Definition auf bezahlte aber auch auf unbezahlte Arbeit. Dies hat seine Definition gemeinsam mit feministischen Definitionen von Arbeit, die auch reproduktive Tätigkeiten als Arbeit verstanden haben wollen. Feministische Definitionen grenzen sich von einem klassisch industriesoziologischen Arbeitsbegriff besonders dadurch ab, dass sie beanstanden, dass die Industriesoziologie nur Lohnarbeit und damit nur Tätigkeiten als Arbeit definiert, die mit Anstrengung verbunden ist und unter Zwang erfolgt. Dem wird entgegengehalten, dass für reproduktive Tätigkeiten wie Hausarbeit und Kindererziehung kein Lohn ausbezahlt wird, dass diese Tätigkeiten jedoch auch nicht einem Reich der Freiheit zugerechnet werden können, sondern sehr wohl ein Zwang dazu bestehe, diese Tätigkeiten durchzuführen (vgl. Notz 1999: 155). Hans Georg Zilian führt das Konzept des Kriteriums der dritten Person ein. Grundlegend für dieses Konzept ist die Idee, dass Tätigkeiten einen direkten oder indirekten Nutzen bringen. So bringt das Ansehen eines Fußballspiels einen direkten Nutzen für die Person, die das Spiel ansieht. Das Kriterium der dritten Person verfolgt die Idee, dass eine Tätigkeit nur dann als Arbeit bezeichnet werden könnte, wenn sie einer Person auch dann einen Nutzen bringt, wenn die Tätigkeit von der dritten Person ausgeführt wird. Das Putzen einer Wohnung wäre somit Arbeit, da die saubere Wohnung auch dann von Nutzen für die BewohnerInnen ist, wenn die Tätigkeit des Saubermachens von einer dritten Person ausgeführt wurde (vgl. Zilian 1999: 19). Zilian erwähnt aber auch selbst, dass das Kriterium der 3. Person problematisch ist, wenn es auf Tätigkeiten aus der Sphäre der Lohnarbeit angewandt wird, in denen sich Personen in hohem Ausmaß verwirklicht fühlen. Als letzte Definition und Operationalisierung von Arbeit soll an dieser Stelle auf Grund seiner hohen Relevanz für die empirische Forschung das Konzept von

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EUROSTAT für den Labour-Force-Survey vorgestellt werden (vgl. Klapfer/Mitterndorfer 2007: 8). Dieses Konzept kann in einer Tradition klassisch industriesoziologischer Definitionen der Arbeit gesehen werden. EUROSTAT definiert Arbeit als tatsächlich gegen eine Form von Lohn oder Gehalt geleistete Arbeitsstunden pro Woche. Dies sollte beinhalten: produktive Arbeitszeit, Arbeitszeit in Nebentätigkeiten, Vorbereitung, Reinigung, Reparaturen, vom Arbeitgeber finanzierte Weiterbildung, Dienstreisen, unproduktive Stunden „in the course of work“, Stehzeiten, Bereitschaftsdienst am Arbeitsplatz, Weiterbildung und kurze Pausen (unter 30 Minuten). Diese Auflistung zeigt, dass die letzten Zeiten (beginnend mit unproduktiven Stunden) für abhängig Beschäftigte zur Arbeitszeit gezählt werden können, bei Selbstständigen hingegen ist die Frage, ob unproduktive Tätigkeiten und Stehzeiten aber auch Weiterbildung zur Arbeitszeit gezählt werden oder werden sollten, nicht mehr so eindeutig zu beantworten. Im Zentrum dieses Beitrages stehen die Arbeitszeiten und die Arbeitsorganisation Selbstständiger. Die Angabe geleisteter Arbeitsstunden aber auch die Ausgestaltung der Arbeitsorganisation und das subjektive Erleben derselben steht unter anderem in Zusammenhang mit der Frage, welche Tätigkeiten und welche Zeiten zur Arbeit gezählt werden und welche nicht. Dies wie auch die Divergenz in den Definitionen von Arbeit und die Unschärfe in der Zuordnung verschiedener Tätigkeiten zu Arbeit beziehungsweise Nicht-Arbeit macht deutlich, dass es für die Auseinandersetzung mit den Arbeitszeiten Selbstständiger notwendig ist, deren subjektive Sichtweisen und deren subjektive Definitionen von Arbeit zu erfassen und darzustellen. Die Analyse der Interviews zeigte, dass sich die Divergenz in den theoretischen Definitionen der Arbeit auch in den subjektiven Definitionen der Selbstständigen wiederspiegelt. Aus den Interviews konnten die folgenden drei Unterscheidungsdimensionen mit unterschiedlichen Kategorien abstrahiert werden: Das Ausmaß der finanziellen Abgeltung der Arbeit Ein Teil der InterviewpartnerInnen bezeichnet ausschließlich Tätigkeiten als Arbeit, für die sie angemessen entlohnt werden, wobei der Stundensatz, der als angemessene Entlohnung verstanden wird, unterschiedlich hoch ist. Eine andere Personengruppe versteht auch unbezahlte Tätigkeiten als Arbeit, wenn sie in einem inhaltlichen Zusammenhang mit ihren bezahlten Tätigkeiten stehen. Eine dritte Personengruppe spricht von Arbeit, wenn es sich um Tätigkeiten handelt, für die sie angemessen oder zumindest durch einen Freundschaftspreis entlohnt werden.

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Die Tätigkeiten, die in den Arbeitsbegriff einbezogen werden Die zweite Unterscheidungsdimension betrifft die Art der Tätigkeiten. Diese Dimension kann in fünf Möglichkeiten unterteilt werden. Ein Teil der Selbstständigen versteht nur direkte Arbeitstätigkeiten als Arbeit, ein Teil inkludiert auch Netzwerkaktivitäten und informelle Arbeitsgespräche in ihren Arbeitsbegriff. Eine weitere Personengruppe ordnet auch Weiterbildung im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung der Arbeit zu. Schließlich gibt es noch Personen, die auch Tätigkeiten, die in keinem direkten Zusammenhang mit der primären Erwerbsarbeit stehen, der Arbeit zuordnen und Personen, die Reproduktionsarbeit zur Arbeit und in weiterer Folge zur Darstellung ihrer geleisteten Arbeitsstunden zählen. Pausen Als dritte Dimension der Unterscheidung dienen der Umgang und die Interpretation der Pausen. Diese Dimension kann in die Kategorien keine Pausen, kurze Pausen (ca. 5 min – eine Zigarettenlänge), mittlere Pausen (bis zu 30 min), lange Pausen (z.B. einen halben Tag shoppen gehen, Sport betreiben) und die Kategorie „Zwangspausen“ unterteilt werden. Diese letzte Kategorie beschreibt die Zeiten in denen Selbstständige, die in direktem KundInnenkontakt stehen, auf Kundschaft warten. Im Gegensatz zu unterschiedlich langen freiwillig gewählten Pausen werden solche erzwungene Pausen häufig als große Belastung erlebt und die Betroffenen sind sich oft nicht ganz sicher, ob sie die Zeit, in der sie auf Kunden warten, als Arbeitszeit bezeichnen sollen oder nicht. So beschreibt die Kosmetikerin Ingrid „Weil es ist selbstverständlich, dass ich [die KundInnen] nach 20 Uhr kommen kann offenbar oder, dass ich einfach kurzfristig einen Termin absage und dann eben [in]zwei oder in drei Wochen wiederkomm. Man möchte oder so, dass es dann wieder einen Termin gibt oder dass es einen Samstagtermin gibt. […] Das heißt, Termine werden sowieso am Samstag gemacht, zwei Termine werden mir in der Früh abgesagt, ja, weil was Wichtiges dazwischen gekommen ist.“ (Interview Nr. 27)

Ingrid erzählt, dass sie in solchen Situationen oft nicht weiß, was sie machen soll, ob sie die plötzlich frei gewordene Zeit dafür nutzen soll, andere Arbeiten in ihrem Studio vorzunehmen, oder ob sie dann in die Stadt spazieren und die gewonnene Zeit als Freizeit nutzen soll. Gleichzeitig ist es aber nur bedingt möglich, kurze und kurzfristig frei gewordene Zeitfenster für Entspannung und Freizeit zu nutzen. Ingrid fühlt sich in solchen Zeiten eher unter Druck und inkludiert solche Zwangspausen daher in die Zeit, die sie als Arbeitszeit erlebt.

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Anhand der drei dargestellten Dimensionen können folgende sieben unterschiedliche Typen subjektiver Definitionen von Arbeit unterschieden werden (siehe Tabelle 1). Typ 1: Arbeit im engsten Sinne, Typ 2: Arbeit im engeren Sinne, Typ 3: Arbeit im weiteren Sinne, Typ 4: Arbeit im weitesten Sinne, Typ 5: Arbeit mit Zwangspausen, Typ 6: Arbeit mit Ehrenamt und Typ 7: Alles ist Arbeit. Tabelle 1: Typologie der subjektiven Arbeitsdefinitionen.

Quelle: Muckenhuber 2014.

In diesem Beitrag werden exemplarisch zur Kontrastierung Typ 1 und Typ 7 vorgestellt. Die genauere Darstellung der anderen Typen kann im Buch zu dieser Arbeit (Muckenhuber 2014) nachgelesen werden. Typ 1: Arbeit im engsten Sinne Personen, die entweder nur direkte Arbeitstätigkeiten und kurze bis mittellange Pausen als Arbeit verstehen oder aber Personen, die neben ihrer direkten Arbeitstätigkeit auch Netzwerkaktivitäten und Weiterbildung im Bereich der Persönlichkeit einschließlich kurzer Pausen (maximal 5 Minuten) als Arbeit bezeichnen, werden zu diesem Typus zusammengefasst. Die Marktforscherin Marianne (Interview Nr. 8) zählt zu den Personen dieses Typus. Die Mutter zweier Kinder muss sich ihre Arbeits- und ihre Freizeit gut einteilen, da sie nur begrenzte zeitliche Ressourcen für die Arbeit zur Verfügung hat. Zu dieser Einteilung gehört auch die genaue Erfassung ihrer Arbeitszeit. „Das war früher anders. Also bevor ich damit begonnen habe, meine Arbeitszeiten genau aufzuschreiben. Am Anfang, da habe ich schon gedacht, dass ich den ganzen Tag, eigent-

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lich immer, arbeite. Aber dann habe ich festgestellt, wenn ich meine Arbeitszeit genau mitschreibe und mir genau überlege, mach ich das jetzt für die Arbeit oder wozu, dann bringt mir das einfach mehr, dann weiß ich besser, wann ich frei habe. Da kann ich mich dann auch besser entspannen.“ (Interview Nr. 8)

Wesentlich für das Verständnis von Marianne und ihrem Arbeitsbegriff ist, dass sie zwar gerne arbeitet, dass für sie die Arbeit aber trotzdem Mittel zum Zweck ist. Marianne hat in der Familie die Hauptverantwortung für ihre Kinder, sie hätte also gar nicht die Möglichkeit unbegrenzt lange zu arbeiten. Sie begrenzt ihre Arbeitszeiten auch dadurch, dass sie sehr kurze Pausen macht und die Zeit, die sie für die Arbeit zur Verfügung hat, nur direkten Arbeitstätigkeiten widmet. Die Personen mit einem Arbeitsbegriff im engsten Sinne haben gemeinsam, dass für sie die Arbeit nicht den zentralen Sinn ihres Lebens darstellt. Es ist ihnen selbst ein Bedürfnis ihre Arbeitszeiten zu begrenzen, da sie auch Zeit für andere Lebensbereiche (wie die Familie) haben möchten. Im Sinne der Darstellung des größtmöglichen Kontrastes wird an dieser Stelle ein zweiter Typus etwas ausführlicher dargestellt. Typ 7: Alles ist Arbeit Am anderen Ende eines Kontinuums enger und weiter gefasster Definitionen der Arbeit stehen Personen, die sehr viel unter den Begriff ihrer Arbeit subsummieren. Personen dieses Typus verstehen bezahlte wie unbezahlte Tätigkeiten, die mit ihrer bezahlten Arbeit in Zusammenhang stehen, Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung aber auch Netzwerkbildung, Reproduktionsarbeit und längere Pausen, wenn sie für Tätigkeiten genutzt werden, die im weitesten Sinne mit ihrer beruflichen Tätigkeit in Zusammenhang gebracht werden können, als Arbeit. Eine Vertreterin dieses Typus ist die Unternehmensberaterin Andrea. Sie versteht auch Pausen, die sie dazu nutzt sich für den Beruf einzukleiden, als Arbeitszeit. „Weil schließlich muss ich mich ja auch repräsentativ herrichten. Und dazu gehört eben auch, dass ich was z’gleich schau. Und freiwillig geh ich sicher nicht in den ersten Bezirk zum Shoppen. Also das können Sie mir glauben.“ (Interview Nr. 23)

Ein anderer Vertreter dieses Typus ist der Kommunikationsberater Andreas. „Hmmm. Also ich unterscheid nicht zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Ich unterscheide zwischen Tun und Nicht-Tun, und Nicht-Tun heißt wirklich annähernd reizlos, das heißt weder Musik hören, Zeitung lesen. Also null Input und dann auch versuchen den Kopf

164 | J OHANNA M UCKENHUBER auszuschalten, also nicht an was zu denken. Dahingehend unterscheide ich.“ (Interview Nr. 4)

Für Andreas gehört daher nahezu jede Tätigkeit zur Sphäre der Arbeit. Im Verlaufe des Interviews ergeben sich in seiner Selbstdarstellung jedoch ach Brüche und er reflektiert darüber, ob er nun eher 40 Stunden arbeitet, was eher der Zeit entspricht, die er konkreten Arbeitstätigkeiten widmet, oder doch viel mehr, da ja auch jeder Gedanke an Themen der Arbeit der Arbeitszeit zugerechnet werden müsste. Am Beispiel von Andreas zeigt sich hier, dass es nicht nur aus Sicht der Wissenschaft schwierig ist, die Entscheidung für einen eindeutigen Begriff der Arbeit zu treffen, sondern dass die Frage, welche Zeiten und Tätigkeiten der Sphäre der Arbeit und welche der Sphäre der Freizeit zugeordnet werden sollen, auch für die betroffenen Selbstständigen mitunter schwierig sein kann. Eine Gegenüberstellung der sozialwissenschaftlichen mit den subjektiven Definitionen der Arbeit zeigt, dass es nur für vier der sieben empirischen Typen von Arbeitsdefinitionen möglich ist, sie einer der sozialwissenschaftlichen Theorien zuzuordnen. Die Typen 1 (Arbeit im engsten Sinne), 2 (Arbeit im engeren Sinne) und 3 (Arbeit mit Zwangspausen) können der Definition von EUROSTAT für den Labour Force Survey zugeordnet werden. Typ 7 (Alles ist Arbeit) passt am besten zur Definition von Giddens. Die anderen drei Typen (Typ 4 Arbeit im weiteren Sinne, Typ 5 Arbeit im weitesten Sinne und Typ 6 Arbeit mit Ehrenamt) entziehen sich einer klaren Zuordnung. Im Gegensatz zur EUROSTAT Definition werden nicht nur finanziell vergütete Tätigkeiten und auch längere Pausen zur Arbeit gerechnet. Im Gegensatz zu feministischen Definitionen wird bei diesen drei Typen Reproduktionsarbeit jedoch nicht zur Arbeit gezählt. Im Gegensatz zu Giddens gibt es neben der Reproduktionsarbeit auch noch in anderen Tätigkeitssphären Abgrenzungen zur Verrichtung von Aufgaben, die zwar der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen können, jedoch in keinem Zusammenhang zur Erwerbsarbeit stehen. Typ 6 Arbeit mit Ehrenamt könnte noch am ehesten dem Giddensschen Begriff zugeordnet werden, wobei jedoch auch bei diesem Typus nur spezielle Formen des Ehrenamtes zur Arbeit gezählt werden und andere Tätigkeiten mit Mehrwert für die Allgemeinheit nicht. So zeigt sich also, dass für Selbstständige im Gegensatz zu abhängig Beschäftigten immer wieder die Notwendigkeit besteht, für jede Tätigkeit zu definieren, ob diese der Arbeit oder der Freizeit zugeordnet werden sollte. So reflektiert der Kameramann Leo über ein berufliches Nebenprojekt, das ihm kein Geld einbringt, von dem er sich aber als interessantes Referenzprojekt Vorteile für die

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Auftragsakquise erhofft und das ihm außerdem einen Mehrwert im Sinne seiner beruflichen Selbstverwirklichung bietet: „Ich würde nicht sagen Freizeit, das ist der falsche Ausdruck, aber es ist auch nicht eigentliche Arbeit. Es ist eine Arbeit, aber an die man anders herangeht, mit viel mehr Idealismus. Man ist auch bereit, sich viel mehr auszubeuten dafür, selber. Weil es einem halt wichtig ist.“ (Interview Nr. 11)

Die Darstellung der subjektiven Definitionen der Arbeit hat gezeigt, wie stark diese innerhalb des empirischen Samples dieser Studie divergieren und dass es für Selbstständige nicht möglich ist, eine sozialwissenschaftliche Definition der Arbeit auf alle Selbstständigen anzuwenden. Für die Darstellung und Analyse der Arbeitsorganisation der Selbstständigen im nächsten Abschnitt ist es von zentraler Bedeutung, die große Bandbreite der subjektiven Definition der Arbeit zu bedenken.

3. S ELBSTSTÄNDIGE ARBEITSORGANISATION ARBEITSZEITEN

UND

Ein Spezifikum der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeiten Solo- und Mikroselbständiger ist, dass sich diese ihre Arbeit selbst organisieren können und müssen. Im Gegensatz zu abhängig Beschäftigten haben sie keine fix vorgegebenen Arbeitszeiten und keinen vorgegebenen Arbeitsort. Sie können unter Maßgabe ihrer Auftragslage und innerfamiliärer Abstimmungen ihre Arbeitszeiten selbst festlegen. Für die Beschreibung der Arbeitszeiten und unterschiedlichen Formen der Arbeitsorganisation ist es essentiell, die subjektiven Definitionen der Arbeit der einzelnen Selbstständigen zu berücksichtigen. Nur unter dieser Prämisse kann die Arbeitsorganisation sinnvoll abgebildet werden und gleichzeitig der subjektive Bedeutungsgehalt derselben und auch das Erleben der unterschiedlich langen Arbeitszeiten gedeutet werden. In der Gruppe der Selbstständigen finden sich, wie unter abhängig Beschäftigten, Personen mit unterschiedlich langen Arbeitszeiten mit einer Bandbreite von Teilzeitbeschäftigung bis hin zu überlangen Arbeitszeiten, wobei die Ergebnisse einer quantitativen Analyse der österreichischen Arbeitskräfteerhebung zeigen, dass eine überdurchschnittlich hohe Personenzahl sehr lange Arbeitszeiten angibt (Muckenhuber 2009). Dieses Ergebnis zeigt sich auch im qualitativen Sample, das dieser Untersuchung zugrunde liegt. Die Selbstständigen können in drei Gruppen unterteilt werden: Personen mit weniger als 30 Arbeitsstunden pro

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Woche, Personen mit einer regulären Arbeitszeit von etwa 40 Stunden pro Woche und Personen mit überlangen Arbeitszeiten (48 Stunden oder mehr). Generell kann auf Basis dieser qualitativen Studie angenommen werden, dass kein direkter Zusammenhang zwischen der Arbeitszeit und dem beruflichen Erfolg und dem Verdienst besteht. So scheint der Stundensatz relativ unabhängig von der Wochenarbeitszeit der Selbstständigen zu sein. Gleichzeitig war aber unter den für diese Studie Befragten keine Person, die trotz eines Stundenausmaßes von unter 30 Wochenstunden einen sehr guten Verdienst erreichen konnte. So berichtet Michaela, dass sie heute bei weniger Arbeitsstunden auch weniger verdient als früher. „Das war eben, wie ich in der Agentur war, zwischen 23 und 28, da war das super, da war man cool, wenn man erst um 12 Uhr [Mitternacht] aus der Agentur rausgewappelt ist. Da haben auch alle so viel gearbeitet und viel verdient. Das ändert sich halt drastisch, wenn man Kinder hat logischerweise, und ich hab das auch sehr zu schätzen gelernt.“ (Interview Nr. 17)

Michaela ist mit ihren Arbeitszeiten und ihrer Arbeitsorganisation zufrieden. Um Arbeit und Kinder vereinbaren zu können, ist ihr eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatleben sehr wichtig. In ihrem Fall weichen die aufgezeichneten Stunden nur geringfügig ab von ihrer empfundenen Arbeitszeit. So zeigen ihre Stundenaufzeichnungen eine mittlere Stundenanzahl von 25 Stunden, während sie davon spricht „es bewegt sich wirklich so um die 30 Stunden herum“ (Interview Nr. 17). 3.1 Intensität und Intensivierung der Arbeit Im Gegensatz zu Michaela gibt es aber auch Selbstständige, die laut ihren Stundenaufzeichnungen, die die Basis für die Abrechnungen mit ihren Auftraggebern darstellen, unter 30 Stunden arbeiten, deren gefühlte Arbeitszeit jedoch weit über diesem Stundenausmaß liegt. So erzählt der Computertechniker Willi (ethnographisches Interview Nr. 12), dass er sich oft am Abend darüber wundert, dass er von 9h bis 20h im Büro im Büro war, jedoch laut seinen Zeitaufzeichnungen nur sieben Stunden effektiv gearbeitet hat. Er schreibt diese Diskrepanz einerseits kurzen Kaffeepausen zu, andererseits auch Zeiten, die er dazu nutzt, im Internet zu surfen anstatt tatsächlich effizient zu arbeiten. Diese Diskrepanz zwischen gefühlten und aufgeschriebenen und somit verrechenbaren Arbeitsstunden macht einen großen Unterschied zwischen selbstständig und unselbstständig Beschäftigten deutlich. Während viele unselbstständig Beschäftigte immer wieder in

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ihrem Tagesablauf auch Zeiten der Ruhe und der Entspannung haben, müssen sich Selbstständige selbst überlegen, ob sie solche Ruhe- bzw. Pausenzeiten zur Arbeit rechnen oder nicht. In diesem Zusammenhang soll auch auf das Konzept der Intensität und der Intensivierung der Arbeit hingewiesen werden. Der Begriff findet sich schon bei Karl Marx, in Zusammenhang mit der Steigerung des Mehrwerts, der durch die Arbeit der Proletarier erzeugt werden kann. So schreibt er „Der Ausbeutungsgrad der Arbeit, die Aneignung von Mehrarbeit und Mehrwert wird erhöht namentlich durch Verlängerung des Arbeitstags und Intensivierung der Arbeit.“ (Marx/Engels 1962: 242). Das Thema findet sich auch in vielen neuen Arbeitsund Industriesoziologischen Publikationen. So wird auch in neueren Arbeiten in Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung psychischer Arbeitsbelastung auf die Intensivierung der Arbeit verwiesen (Lenhardt/Priester 2015). Die meisten Arbeiten beziehen sich in diesem Zusammenhang auf zunehmenden Zeitund Leistungsdruck und die Überforderung durch die Arbeitsmenge bei abhängig Beschäftigten. Die Auseinandersetzung mit den Arbeitsrealitäten von Solound Mikroselbständigen zeigt jedoch, dass die Intensität der Arbeit auch für diese Personengruppe eine wichtige Kategorie für die Analyse von Belastungsfaktoren durch die Arbeit darstellt. Je enger definiert die Tätigkeiten sind, die von den Selbstständigen verrechnet werden können, je enger also der Begriff der Arbeit für die Verrechnung sein muss, je weniger Pausen und unproduktive Zeiten Eingang in die Definition der Arbeit finden und somit in die Arbeitszeit einberechnet werden können, desto intensiver und teilweise auch anstrengender gestaltet sich die Arbeit. Gleichzeitig können aber auch ein hoher Druck und starke psychische Arbeitsbelastungen entstehen, wenn bei einer Person eine Diskrepanz zwischen einer relativ geringen Anzahl an Arbeitsstunden, gemessen mit einem sehr engen Arbeitsbegriff, und einer bedeutend höheren Anzahl an gefühlten Arbeitsstunden, mit einem weiten Arbeitsbegriff, entsteht. Dies könnte einen Beitrag zur Erklärung liefern, warum sich Willi nach einem Arbeitstag nach seinem eigenem Ermessen zu erschöpft für die aufgeschriebenen sieben Arbeitsstunden fühlt. Seine Erschöpfung entspricht einem Tag, an dem er elf mittelmäßig intensive Stunden im Büro hinter dem PC gesessen ist, selbst wenn er nur sieben Stunden davon effektiv und intensiv gearbeitet hat und verrechnen kann. Die Problematik der Intensität und Intensivierung der Arbeit trifft auch auf Selbstständige mit einer Normalarbeitszeit von etwa 40 Stunden und auf Selbstständige mit überlangen Arbeitszeiten von 48 Stunden pro Woche oder mehr zu. Das Erleben dieser Arbeitszeiten und auch die Belastung durch sehr lange Arbeitszeiten stehen in einem engen Zusammenhang mit der Intensität der Arbeit und damit auch mit der subjektiven Definition der Arbeit der Personen.

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Sowohl für Personen mit regulären 40 Stunden Wochen als auch für die mit überlangen Arbeitszeiten gilt, dass die Arbeitszeit alleine kein Garant für beruflichen Erfolg und hohes Einkommen ist. In beiden Gruppen finden sich Personen aus jedem Typus subjektiver Definitionen der Arbeit. Das erlebte Wohlbefinden bei langen und überlangen Arbeitszeiten kann in einem engen Zusammenhang mit der Arbeitsdefinition gesehen werden. Damit gehen auch die Formen der Arbeitsorganisation einher. Die Wahl des Arbeitsortes steht in keinem direkten Zusammenhang mit den Arbeitszeiten. Sowohl aus der Gruppe der Selbstständigen mit kurzen als auch welche mit normalen und langen Arbeitszeiten finden sich Personen, die überwiegend von zuhause aus arbeiten und andere, die ihren Arbeitsort vom Wohnort trennen. Für die Grenze zwischen der Arbeit und dem Privatem zeigt sich, dass Selbstständige mit kurzen Arbeitszeiten überwiegend klare Grenzen zwischen den beiden Sphären ziehen; dies findet sich sowohl bei den normal als auch bei den überlang Arbeitenden nur teilweise. Besonders in der Gruppe der Personen, die eine sehr hohe Stundenzahl als Arbeitszeit angibt, spielt die Entgrenzung eine große Rolle und auch der Arbeitsbegriff ist bei einem Teil dieser Personen sehr weit gefasst. Personen wie Andreas mit einem sehr weiten Arbeitsbegriff lehnen eine Grenzziehung zwischen Arbeit und anderen Bereichen ihres Lebens weitgehend ab. Er wechselt bruchlos zwischen Phasen der Arbeitstätigkeit und anderen Tätigkeiten und ist zufrieden damit, manchmal bis in die Nacht hinein zu arbeiten oder auch erst in der Nacht mit der Arbeit zu beginnen um dann wieder einen Vormittag lang beim Frühstück in einem Café am Laptop die Zeitung zu lesen, was er aber auch als Arbeit bezeichnen würde. Diese Form einer entgrenzten Arbeitsorganisation ist aber nicht für alle Selbstständigen möglich. 3.2 Entgrenzung der Arbeit und Grenzen durch Pflichten aus der Sphäre der Reproduktion „Mein Kind war immer der Rahmen, das heißt, die Zeiten, wo es, also Frühstück, aufstehen, Schule bringen, abholen, einkaufen, spielen, wieder kochen und Bett gehen, Wochenende, Spieletag, Kinotag, Ausflüge, Freunde besuchen, Partys, die sind fix reserviert.“ (Interview Nr. 23)

Selbstständige mit Kindern haben nicht die Möglichkeit, grenzenlos in Raum und Zeit zu arbeiten. Reproduktive Verpflichtungen besonders Kindern gegenüber fordern eine Arbeitsorganisation von Selbstständigen, die klare Grenzen und Pausen von der Arbeit beinhaltet. Die Zeit für die Kinder begrenzt also die Zeit, die in die Erwerbsarbeit investiert werden kann. Je nach subjektiver Defini-

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tion der Arbeit kann die Anzahl der Arbeitsstunden dennoch unterschiedlich hoch ausfallen. So gibt die oben zitierte Unternehmensberaterin Andrea (Interview Nr. 23) eine Wochenarbeitszeit von 120 bis 200 Stunden an. Sie wertet bewusst auch sämtliche Tätigkeiten aus der Sphäre der Reproduktion und Kinderbetreuung als Arbeit. Diese weite Definition der Arbeit trägt dazu bei, dass sie trotz einer sehr hohen Anzahl an Arbeitsstunden ein hohes Ausmaß an Wohlbefinden erlebt und berichtet, dass sie ihre Berufstätigkeit gut mit ihrer Rolle als Mutter verbinden kann. Auch bei Michaela, die wegen ihrer Kinder nicht mehr als 30 Stunden pro Woche, mit einem engen Arbeitsbegriff, arbeitet, stellt die Vereinbarkeit von Selbstständigkeit und Familie kein Problem dar. Unabhängig davon jedoch, ob die Reproduktionsarbeit in die eigene Definition der Arbeit integriert wird oder nicht, sehen sich Selbstständige mit Kinderbetreuungspflichten mit deren Anforderungen an Zeit konfrontiert, was teilweise zu Konflikten mit den Anforderungen aus der Sphäre der Erwerbsarbeit führt. Gerlinde (Interview Nr. 13) zum Beispiel erzählt, dass sie sich oft durch ihre Tochter doppelt unter Druck gesetzt fühlt. Einerseits wünscht sich ihre Tochter teure Urlaube und Markenkleidung, die Gerlindes budgetären Rahmen häufig zu sprengen drohen, andererseits beklagt sich ihre Tochter, wenn sie zu wenig Zeit für sie hat und zu viel arbeitet. In sehr arbeitsintensiven Phasen führt dieser Konflikt zwischen den Anforderungen der Arbeit und ihrer Tochter dazu, dass sie auch spätabends und nachts arbeiten muss. Solche Konflikte erleben Selbstständige ohne reproduktive Verpflichtungen kaum.

4. F AZIT Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation der Selbstständigen in hohem Ausmaß mit ihrer subjektiven Definition der Arbeit aber auch damit zusammenhängen, in welchem Ausmaß sie Reproduktionsarbeiten zu erfüllen haben. Für die Gruppe der Selbstständigen kann genauso wenig wie für die Gruppe der abhängig Beschäftigten eine allgemein gültige Aussage über ihre Situation getroffen werden. Vielmehr ist diese Gruppe in hohem Ausmaß heterogen, was sich in allen untersuchten Dimensionen widerspiegelt. Die teilweise sehr weite Definition der Arbeit mag ein Unterscheidungskriterium zu abhängig Beschäftigten darstellen. In diesem Zusammenhang ist es jedoch notwendig, sich vor Augen zu halten, dass eine Umdefinierung der Arbeit zu einem engeren Arbeitsbegriff auch zu einer Intensivierung der Arbeit und der erlebten Arbeitszeit führen würde.

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Für die Analyse der Arbeitsorganisation, der Vereinbarkeit der Selbstständigkeit mit der Familie und auch der Wahrnehmung des Arbeitsalltags ist es jedenfalls notwendig die subjektiven Definitionen der Arbeit zu berücksichtigen, da eine Vernachlässigung derselben zu groben Fehlschlüssen führen könnte.

L ITERATURVERZEICHNIS Giddens, Anthony (1999): Soziologie (2. überarbeitete Auflage), Wien-Graz: Nausner & Nausner. Klapfer, K./Mitterndorfer, B. (2007): LFS-Quality of Data on Hours Worked. Pilot Study, Wien: Statistik Austria. Lenhardt, Uwe/Priester, Klaus (2015): „Flexibilisierung – Intensivierung – Entgrenzung: Wandel der Arbeitsbedingungen und Gesundheit“, in WSI Mitteilungen, 9, 491-497. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1962): Das Kapital. Drittes Buch. (Vol. 23), Berlin: Dietz Verlag. Muckenhuber, Johanna (2009): Arbeit ohne Ende? Arbeitszeiten Solo- und Mikroselbstständiger zwischen Mythos und Realität. (PhD thesis), University of Vienna, Vienna. Muckenhuber, Johanna (2014): Arbeit ohne Ende? Zur Arbeitsrealität der „neuen“ Selbstständigen. Konstanz und München: UVK Verlagsgesellschaft. Notz, Gisela (1999): „Über den traditionellen Arbeitsbegriff und die Notwendigkeit seiner Veränderung“, UTOPIE Kreativ, 109/110, S. 151-161. Zilian, Hans G. (1999): Die Zeit der Grille? Eine Phänomenologie der Arbeit, Amsterdam: GIB Verlag.

Reflexionen zur Arbeitszeit von älteren Beschäftigten – am Beispiel Österreich, Deutschland und UK (Schottland) P ETRA Z IEGLER UND H EIDEMARIE M ÜLLER -R IEDLHUBER

Der folgende Beitrag gibt einen kurzen Einblick zur Arbeitszeit von älteren Beschäftigten in Deutschland, Großbritannien (Schottland) und Österreich. Zunächst wird überblicksartig auf einzelne Aspekte zur Situation in ausgewählten Ländern hingewiesen, z.B. zur demographischen Entwicklung oder gesetzlichen Rahmenbedingungen, wie der Altersteilzeit. Anschließend werden Daten zur Arbeitszeit von älteren Erwerbstätigen präsentiert sowie auf Elemente alter(n)sgerechter Arbeitszeit hingewiesen. Abschließend werden Schlussfolgerungen zur Arbeitszeitgestaltung für Ältere gezogen.

1. E INLEITUNG Innerhalb der kommenden 30 Jahre soll die arbeitende Bevölkerung in Europa um 1-1,5 Millionen pro Jahr schrumpfen; gleichzeitig wird die Anzahl der Personen über 60 Jahre pro Jahr um ca. 2 Millionen ansteigen. Somit ergibt sich die Notwendigkeit, Ältere besser und länger in den Erwerbsprozess zu integrieren (Bell/Rutherford 2013: 4). Einige Staaten reagieren auf diese Entwicklung mit einem Anheben des Pensionsantrittsalters (z.B. Großbritannien1 oder Deutsch-

1

Zur Situation in Großbritannien/Schottland ist voranzustellen, dass das schottische Parlament für viele Dienstleistungen für ältere Menschen verantwortlich ist, wie in den Bereichen Gesundheit, Transport oder Sozialarbeit. Beschäftigung, Sonderleistungen und Pensionen werden jedoch zentral durch die Regierung Großbritanniens ge-

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land, wobei in Deutschland die Anhebung auf 67 durch die „Rente mit 63“ teilweise rückgängig gemacht wurde); allerdings führt eine solche gesetzliche Anhebung nicht automatisch zu einem effektiven Anstieg des Pensionsantrittsalters und muss durch zusätzliche Maßnahmen unterstützt werden. Arbeitsbedingungen sind ein wichtiger Einflussfaktor auf das tatsächliche Pensionsantrittsalter und ein Aspekt von Arbeitsbedingungen ist die (Wochen-)Arbeitszeit. Die Arbeitszeitgestaltung hat großen Einfluss auf die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Bschäftigten und den Verbleib im Erwerbsleben. Bei älteren Beschäftigten ist zu beachten, dass es eine Art „Zwei-KlassenGesellschaft“ gibt: Einerseits sehr gut abgesicherte, großteils Vollzeit beschäftigte Personen, die oft gut ausgebildet und in höheren Positionen anzutreffen sind, andererseits schlecht abgesicherte bzw. in den Arbeitsmarkt integrierte Personen, die zwischen Phasen der Arbeitslosigkeit und Beschäftigung wechseln; wobei während der Beschäftigungsphase verschiedene Arbeitsformen, wie befristete Verträge, Werkverträge, Dienstverträge etc. und unterschiedliche Arbeitszeiten anzutreffen sind. Die häufigste Form von „atypischer“ Arbeitszeit, wenn man vom fordistischen Normalarbeitsverhältnis und damit von Vollzeitarbeit als Norm ausgeht (vgl. z.B. Hauer 2007, Giesecke 2006), ist die Teilzeit. In Österreich und Deutschland ist diese besonders von Frauen dominiert und auch bei den älteren Beschäftigten zeigen sich hohe Teilzeitquoten: In Österreich liegen Frauen zwischen 55 und 59 Jahren mit 44,7% im Jahr 2013 noch ein wenig unter der Frauen-Gesamtquote von 45,5%; bei Frauen zwischen 60 und 64 Jahren steigt sie auf 66,0%. Frauen, die auch mit über 65 Jahren erwerbstätig sind, arbeiten sogar zu 80,2% in Teilzeit.2 Auch bei den Männern zeigt sich eine klare Tendenz: Zwischen 55 und 59 Jahren liegen auch sie mit 7,3% unter der Teilzeitquote von Männern ingesamt (10,0%). Zwischen 60 und 64 Jahren sind es dann schon 26,0% und ab 65 Jahren arbeiten 67,3% der noch erwerbstätigen Männer Teilzeit (Statistik Austria 2013).

regelt; daher werden im Rahmen der Darstellung zur Situation in Schottland gesetzliche Vorgaben für das gesamte Vereinigte Königreich vorgestellt. Auch statistische Informationen liegen v.a. zu Großbritannien vor; allerdings werden auch Daten zu Schottland – wo vorhanden, wie z.B. zur demographischen Entwicklung – angeführt. 2

Vergleiche dazu die Information zu Altersteilzeit im Kapitel „Gesetzliche Rahmenbedingungen“.

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2. D EMOGRAPHIE , GESETZLICHE R AHMENBEDINGUNGEN UND ARBEITSZEIT 2.1 Demographische Entwicklung, Erwerbsbeteiligung Älterer Wie in Österreich wird in Deutschland der Anteil der älteren Erwerbstätigen in den nächsten Jahrzehnten zunehmen, wobei jedoch die Bevölkerung nach einem leichten Wachstum insgesamt bis 2060 stark schrumpfen soll. Der demographische Wandel ist gekennzeichnet durch eine niedrige Geburtenrate und wachsende Bevölkerungsanteile von Älteren und Personen mit Migrationshintergrund.3 Aktuelle Prognosen des Statistischen Bundesamtes gehen von einer annähernden Verdoppelung der Zahl der RentnerInnen im Verhältnis zu einer gleichbleibenden Anzahl von Erwerbstätigen aus (Statistisches Bundesamt 2015: 6). Die Erwerbsbeteiligung Älterer in Deutschland ist jedoch mit 65,6% (3. Quartal 2014) verglichen mit Österreich (45,4%) und Großbritannien (61%) (OECD Data 2015) überdurchschnittlich hoch und wird voraussichtlich in den kommenden Jahren aufgrund von Arbeitsmarktreformen, die Ältere länger in Beschäftigung zu halten versuchen, noch weiter ansteigen. Die Arbeitslosenquote Älterer ist in Deutschland insgesamt rückläufig und auch die Unterbeschäftigung4 der 55- bis 64-Jährigen hat in den letzten Jahren abgenommen: 2014 waren 844.000 Menschen in Unterbeschäftigung, um 17.000 Personen bzw. 2% weniger als 2013 und 15,8% weniger als 2009 (Bundesagentur für Arbeit 2015: 21). In Schottland waren bei der Volkszählung 2011 erstmals mehr Personen über 65 als unter 15 Jahre. Das zeigt, dass die Alterung der Bevölkerung weiter rasant

3

Wie sich die seit 2015 stark ansteigende Zuwanderung von Flüchtlingen auf die Bevölkerungsentwicklung langfristig auswirkt, ist derzeit schwer einschätzbar. Die beispielhafte Modellrechnung der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes ergibt aber selbst ausgehend von einer starken Zuwanderung (permanenter Wanderungssaldo von 300.000 Personen/Jahr) eine Prognose von rund 77,8 Mio. Menschen für 2060 (im Vergleich zu 81,2 Mio. im Jahr 2014) und einen Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter (Statistisches Bundesamt 2015: 22).

4

Unterbeschäftigung erfasst neben registrierten Arbeitslosen auch diejenigen Personen, die an Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik teilnehmen, sich in einem Sonderstatus befinden oder zeitweise arbeitsunfähig erkrankt sind und deshalb nicht als arbeitslos gezählt werden (Bundesagentur für Arbeit 2015: 21).

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ansteigt und der Anteil älterer Beschäftigter am Arbeitsmarkt zunimmt. Laut Annual Population Survey sind 63% der 50- bis 64-Jährigen in Beschäftigung, wobei Ältere aber weiterhin Schwierigkeiten gegenüberstehen, Arbeit zu finden bzw. zu behalten (vgl. Employability in Scotland 2015). Bei den Projektionen zur Bevölkerungsentwicklung bis 2022 wird vorhergesagt, dass zwar die unter 15-Jährigen um 4% im Vergleich zu 2012 zunehmen, die über 75-Jährigen aber um 28% und die 65- bis 74-Jährigen um 16% zulegen werden. Rückgänge sind hingegen bei den 16- bis 29-Jährigen (-7%) und den 30bis 49-Jährigen (-4%) zu erwarten. Somit zeigt sich in Schottland eine deutlich andere Entwicklung als z.B. in England, wo v.a. aufgrund der starken Zuwanderung aus der EU (insbesondere den östlichen Mitgliedsländern) eine wachsende Bevölkerung prognostiziert wird. Die Beschäftigungsquote von 55- bis 64-Jährigen ist in Großbritannien 2003 bis 2014 nur wenig gestiegen (2003: 55,4%, 2014: 61%), wobei ältere Männer deutlich stärker am Erwerbsprozess beteiligt sind als Frauen: 67,8% der 55- bis 64-jährigen Männer gegenüber 54,4% gleichaltriger Frauen (Eurostat-Abfrage 2015). Nach Alter differenziert zeigt sich, dass Ältere bei der Arbeitslosenquote im Vergleich zu Jüngeren mit 4,9% besser abschneiden. Gleichzeitig ist bei den 50bis 64-Jähren mit 29,2% ein großer Anteil inaktiv und steht dem Arbeitsmarkt aus unterschiedlichen Gründen (Ruhestand, krankheitsbedingt) nicht mehr zur Verfügung. In Großbritannien ist Betreuungsarbeit, vor allem bei Frauen, oft ein Grund für Nichterwerbstätigkeit (Mayrhuber/Rocha-Akis 2013: 12). In Schottland zeigt sich bei Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ein ähnliches Bild, die Beschäftigungsquote der 50- bis 64-Jährigen sowie von Personen 65+ ist aber niedriger als in Großbritannien. Tabelle 1: Beschäftigung, Arbeitslosigkeit nach Alter differenziert, Schottland (2013) Alter 16-64 Jahre 16-24 Jahre 25-34 Jahre 35-49 Jahre 50-64 Jahre 65+

Beschäftigung (in %) 71 52,6 79,1 81,7 64,9 8,3

Quelle: Annual Population Survey 2013.

Arbeitslosigkeit (in %) 7,7 20,6 7,6 4,8 4,8 k.A.

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Die Bevölkerung in Österreich wird in den nächsten Jahrzehnten laut Prognosen weiter zunehmen. Allerdings wirkt sich dieser Zuwachs aufgrund des demographischen Wandels und der Alterung der Bevölkerung nicht voll auf die Erwerbsbevölkerung aus: 2020 wird ein Maximum an Erwerbspersonen (4,244 Millionen) erreicht (2013: 4,124 Millionen), danach wird ein Rückgang der erwerbsfähigen Bevölkerung prognostiziert (vgl. Demographienetzwerk 2015)5, weshalb das Erwerbspotential in Zukunft quantitativ und qualitativ besser ausgeschöpft werden muss (Statistik Austria 2015c; Horvath/Mahringer 2014: 3). Bei der Erwerbsbevölkerung kommt es schon seit einiger Zeit zu einer Verschiebung hin zu den Älteren: 2013 war rund ein Achtel der Erwerbstätigen (12,7%) über 55 Jahre alt (2005: 8,9%). Gleichzeitig reduzierte sich der Anteil der 15- bis 24-Jährigen von 13,6% (2005) auf 12,8% (2013; Statistik Austria 2014: 33). 2014 gab es erstmals mehr Erwerbstätige über 55 Jahre als 15- bis 24Jährige (Statistik Austria 2015c: 37). Horvath und Mahringer (2014) vom WIFO argumentieren, dass, aufgrund des starken Zusammenhangs zwischen Ausbildung und Erwerbsbeteiligung und der sich deutlich verändernden Ausbildungsstruktur der Bevölkerung, sich das langfristig beobachtbare Erwerbsverhalten deutlich verändern wird. Auch durch die pensionsrechtlichen Änderungen wird es zu einer starken Zunahme des Arbeitskräfteangebots Älterer und insgesamt kommen. Die deutliche Veränderung der Altersstruktur der Erwerbsbevölkerung erfordert es, die Beschäftigungsfähigkeit („employability“) auch im höheren Erwerbsalter zu erhalten (z.B. durch verstärkte betriebliche Gesundheitsförderung oder Weiterbildung auch im Alter). Neben verbesserten Übergangsmöglichkeiten aus der Arbeitslosigkeit in den Arbeitsmarkt (z.B. berufliche Rehabilitationsmaßnahmen, temporäre Lohnzuschüsse) und Anreize auf betrieblicher Ebene (z.B. Bonus-Malus System) kann vor allem eine alter(n)sgerechte Arbeitsplatzgestaltung eine längere Erwerbstätigkeit Älterer fördern (Horavth/Mahringer 2014: 27). 2.2 Gesetzliche Rahmenbedingungen Angesichts der demographischen Entwicklungen kam es in vielen europäischen Ländern zur Anhebung der Regelaltersgrenze: In Deutschland ist sie mit 65 bzw. 67 Jahren für beide Geschlechter höher als in Österreich mit 60 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer (BMAS 2014: 18). In Schottland wurde das Regel-

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Allerdings wurden diese Prognosen vor den großen Flüchtlingsbewegungen ab Sommer 2015 angestellt und müssen mittlerweile (Jänner 2016) hinterfragt werden.

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antrittsalter gänzlich abgeschafft und stattdessen ein Korridor (derzeit 63 bis 68 Jahre) eingeführt. Bei Altersteilzeitarbeit können in Deutschland Beschäftigte ab 55 Jahren, wenn ihre ArbeitgeberInnen einverstanden sind, ihre Arbeitszeit halbieren (Reduktion der Wochenarbeitszeit oder Blockmodell) und erhalten ihr (Teilzeit-) Arbeitsentgelt um mindestens 20% aufgestockt. Innerhalb der fünf Jahre vor der Altersteilzeit muss mindestens drei Jahre lang einer arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen werden (Arbeitslosengeldbezug ist einer Beschäftigung gleichgestellt) und die Altersteilzeit muss bis zum Zeitpunkt der möglichen Beanspruchung der Altersrente dauern (BMAS 2015: 22). Bis 2010 war die Arbeitsteilzeit mit 55% die häufigste flexible Übergangsmöglichkeit und besonders beliebt im Dienstleistungs- und Industriesektor. Sie wurde jedoch fast ausschließlich zur Frühverrentung im Blockmodell genutzt und nicht für einen gleitenden Übergang (IAB 2015: 3). Ein anderes Flexibilisierungsmodell bietet die Teilrente, die eine laufende Erwerbstätigkeit bei gleichzeitigem Rentenbezug ermöglicht. Sie kann – je nach Höhe des Hinzuverdienstes – die Form einer 1/3-, 1/2- oder 2/3-Rente annehmen und frühestens ab dem 63. Lebensjahr bezogen werden. Die Teilrente wird laut IAB allerdings kaum genutzt: nur etwa 0,2% der Rentenzugänge sind Teilrenten (ebd.: 2). Lebensarbeits- und Langzeitkonten sind im deutschen Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen („Flexi II“-Gesetz 2008) geregelt. Durch die Einführung von Zeitwertkonten wird Beschäftigten ermöglicht, Zeitguthaben anzusparen und in Phasen, in denen sie weniger arbeiten möchten, abzubauen. Werden die angesparten Zeiten nicht in Anspruch genommen, können sie in Beiträge zur Altersvorsorge umgewandelt oder vor dem Renteneintritt aufgebraucht werden, z.B. für die abschlagsfreie Überbrückung von Übergangszeiten bis zum gesetzlichen Rentenantrittsalter 6 (ebd.: 2) Im Oktober 2011 wurde das „Standard-Pensionsantrittsalter“ in Großbritannien durch ein neues Gesetz (Employment Equality (Repeal of Retirement Age Provision) Regulations) gekippt, das Teil des Equality Act wurde, der gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft gerichtet ist. Seither können ArbeitgeberInnen ArbeitnehmerInnen nicht mehr mit 65 ohne Angabe

6

Laut IAB werden Maßnahmen zum flexiblen Übergang jedoch eher bei großen und tarifgebundenen Betrieben angeboten. Betriebe mit höheren Anteilen an Älteren oder Frauen bieten seltener flexible Ruhestandsoptionen (IAB 2015: 2).

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von Gründen kündigen.7 Ältere können somit weiterarbeiten, solange sie wollen bzw. können, wobei es aber auch Anreize gibt, länger im Erwerbsprozess zu bleiben (z.B. teilweiser Pensionsbezug neben der Erwerbsarbeit). Die Pensionen in Großbritannien sind im europäischen Vergleich eher gering und ein Teil der ArbeitnehmerInnen muss sie durch eine Betriebspension aufbessern (McNair 2011: 128) bzw. ist aufgrund der geringen Höhe gezwungen weiterzuarbeiten. Seit Juni 2014 gibt es in Großbritannien das Recht auf „flexible working“, welches verschiedene Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung umfasst (Gleitzeit, Job Sharing, variierende Wochenarbeitszeit bei fixer Jahresarbeitszeit, Komprimierung der vereinbarten Arbeitszeit auf weniger Tage, gestaffelte Arbeitszeit mit frei wählbarem Arbeitszeitbeginn und -ende). Anträge auf Arbeitszeitflexibilisierung können nur abgelehnt werden, wenn es objektive wirtschaftliche Gründe dafür gibt. Zusätzlich zu flexiblen Arbeitszeiten bieten viele ArbeitgeberInnen flexible Pensionierungsmodelle, die es erlauben, die Arbeitszeit zu reduzieren und gleichzeitig betriebliche Alterspension zu beziehen (Taskyla et al. 2015: 17). Das österreichische Altersteilzeitmodell erlaubt – ähnlich wie das deutsche – die Aufrechterhaltung der Beschäftigung Älterer bei verkürzter Arbeitszeit (um 40 bis 60%) und teilweisem Lohnausgleich (70 bis 80%) ab einem Zugangsalter von 53 Jahren für Frauen und 58 für Männer. Die Reduktion kann entweder über eine Verringerung der Wochenarbeitszeit oder in geblockte Form erfolgen. Beim Blockmodell muss spätestens zu Beginn der Freistellungsphase eine Ersatzarbeitskraft eingestellt werden (Arbeiterkammer 2016). 2013 wurde die Möglichkeit geschaffen, Altersteilzeit bis zum gesetzlichen Pensionsantrittsalter, längstens jedoch für fünf Jahre, in Anspruch zu nehmen (Sozialministerium 2014: 63). Mit 1.1.2016 wurde in Österreich eine Teilzeitpensionsregelung eingeführt, die auf einer kontinuierlichen Reduktion der Arbeitszeit und den Anspruchsvoraussetzungen der Korridorpension basiert. Die Regelung zielt darauf ab, Beschäftigungsverhältnisse in Teilzeit bis zum Regelpensionsalter zu fördern und den Erwerbsaustritt über Korridorpensionen zu reduzieren (BMASK 2015).

7

Weiterführende Informationen dazu auf der Website age UK: http://www.ageuk. org.uk/work-and-learning/discrimination-and-rights/the-equality-act/ vom 03.02.2015.

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2.3 Arbeitszeit Laut OECD-Statistik war die Vollzeitarbeit zwischen 2005 und 2014 bei den 55bis 64-jährigen Beschäftigten in Österreich deutlich (-2,2%) und in Deutschland geringfügig (-0,3%) rückläufig und Teilzeit hat entsprechend zugenommen. In Großbritannien sind die Werte hingegen fast gleich geblieben (+/- 0,1%) (OECD.Stat 2016: eigene Abfrage). Im Juni 2014 arbeiteten in Deutschland gut ein Viertel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten vereinbarungsgemäß weniger als die übliche bzw. tariflich festgesetzte Arbeitszeit. 55- bis 64-Jährige arbeiten aufgrund von Altersteilzeit mit 29% anteilsmäßig mehr (Bundesagentur für Arbeit 2015: 14). 2014 war sowohl im Durchschnitt über alle Altersklassen als auch bei den 55- bis 64-Jährigen jeder Vierte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in einem Minijob8 tätig. Bei den Älteren steigt die Bedeutung von Minijobs jedoch mit zunehmendem Alter und ausschließlich ausgeübte Minijobs sind verbreiteter als solche in Nebentätigkeit (ebd.). Mit zunehmendem Alter gewinnt auch die Selbständigkeit als Erwerbsform für Ältere an Bedeutung: 2014 waren rund 39% der 65- bis 69-jährigen Erwerbstätigen selbständig (oder mithelfende Familienangehörige) und 16% bei der 60bis 64-Jährigen (vgl. DeStatis 2015). In Bezug auf die durchschnittliche Wochenarbeitszeit fällt im Vergleich zu Österreich und Großbritannien auf, dass Deutschland 2014 sowohl bei der Vollzeit, als auch bei der Teilzeit (bei Männern und Frauen) die niedrigste Wochenstundenzahl aufweist:

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Geringfügige Beschäftigungen, bei denen eine Verdienstgrenze von € 450 besteht und maximal 52,9 Stunden/Monat gearbeitet werden darf.

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Tabelle 2: Durchschnittsarbeitszeit in Wochenstunden 2014, nach Geschlecht

AT DE UK

Vollzeitstd. Vollzeitstd. Vollzeitstd. Teilzeitstd. Teilzeitstd. Teilzeitstd. gesamt Männer Frauen gesamt Männer Frauen 41,5 42 40,6 20,9 18,9 21,4 40,5 40,9 39,7 19,1 16,6 19,7 42,4 43,7 40,5 19,7 19,1 19,9

Quelle: Eurostat 2016: eigene Darstellung.

Das WSI GenderDatenPortal kommt für 2015 sogar auf 9 Stunden Unterschied zwischen Frauen und Männern und weist auf einen Rückgang bei beiden Geschlechter in den letzten Jahren hin, wofür der Teilzeitanstieg bei Frauen als Hauptgrund gilt (WSI Report 2015: 3). Für Schottland liegt die tatsächlich geleistete wöchentliche Arbeitszeit 2014 bei 36,6 Stunden für Männer und 26,8 Stunden für Frauen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern kann ebenfalls mit der hohen Teilzeitquote bei Frauen erklärt werden: diese arbeiteten 2014 zu 42,8% in Teilzeit. Tabelle 3: Tatsächlich geleistete wöchentliche Arbeitszeit, Schottland (20132014) 2013 2014

Männer Frauen Männer Frauen

gesamt 36,2 26,7 36,6 26,8

Vollzeit 38,8 33,6 39,2 33,7

Teilzeit 16,4 16,5 16,9 16,6

Quelle: Labour Market Publications 2015.

Daten der britischen Arbeitskräfteerhebung von 2012 zeigen, dass ältere Personen ihre Arbeitszeit gerne reduzieren würden: 14,6% der 50- bis 64-jährigen und 13% der 65- bis 69-jährigen Angestellten geben dies an; bei den Selbständigen sind es 12,3% (50-65 Jahre) bzw. 15,2% (65-69 Jahre). Gleichzeitig meinen aber auch 7,9% der Angestellten zwischen 50 und 64 Jahren, dass sie gerne mehr Stunden arbeiten würden, bei den 65- bis 69-Jährigen sind es noch 4,1%. Selbständige (50-64 Jahre) geben zu 10,4% an, dass sie gerne mehr Stunden arbeiten möchten, 65- bis 69-Jährige stimmen dem zu 5,5% zu (Eurostat-Abfrage 2015; Bell/Rutherford 2013). Altersspezifisch zeigt sich, dass Ältere im Vergleich zu

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Jüngeren öfter ihre Arbeitszeit verringern möchten 9, dennoch würden 12% gerne ihre Wochenarbeitszeit verlängern. Dem Wunsch Älterer mehr Stunden zu arbeiten, wurde in Untersuchungen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die verbesserte Gesundheit dieser Altersgruppe und unerwarteten Reduktionen der Pensionsansprüche (z.B. wegen Finanzierungsschwierigkeiten bei einigen Pensionsfonds) könnten Gründe für die gewünschte Arbeitszeitaufstockung sein. 2012 waren 17,8% der Personen zwischen 50 und 64 Jahren in Großbritannien selbständig, jenseits der 65 waren es 32,5%; und bei den Personen 70+ sogar 43,2%. Somit ist Selbständigkeit eine wichtige Einkommensquelle für Ältere, vor allem für jene, die über das Pensionsalter hinaus weiterarbeiten. Interessant ist, dass Selbständige über alle Alterskategorien hinweg mehr Stunden arbeiten als Angestellte. In Österreich war im Jahresdurchschnitt 2014 die normale wöchentliche Arbeitszeit für alle Erwerbstätigen mit 36,8 Stunden niedriger als 2013 (37,3 Stunden; Statistik Austria 2015a). Nach Altersgruppen und Geschlecht differenziert zeigt sich, dass weibliche Teilzeitarbeit v.a. im Haupterwerbsalter zwischen 35 und 54 Jahren anfällt (fast 54% arbeiteten 2013 in dieser Altersgruppe Teilzeit), insgesamt liegt die Teilzeitquote bei Frauen 2013 bei 45,5%. Wohingegen bei den Männern vor allem Jüngere (13,1% der 25- bis 29-Jährigen und 14,7% der 20- bis 24-Jährigen) und insbesondere Ältere (26% der 60- bis 64-Jährigen und sogar 67,3% der Personen 65+) Teilzeit arbeiten; insgesamt liegt die Teilzeitquote bei den Männern bei 8,8%. Werden Personen nach den Gründen gefragt, warum sie Teilzeit arbeiten, zeigt sich vor allem bei den Älteren, dass diese oft keine Vollzeitbeschäftigung wünschen; gefolgt von anderen persönlichen oder familiären Gründen (Statistik Austria 2013).

3. W AS

SIND ALTER ( N ) SGERECHTE

ARBEITSZEITEN ?

Die Gestaltung von Arbeitszeit ist eine wichtige Determinante für die Arbeitsfähigkeit10, für die wiederum Gesundheit und Arbeitszufriedenheit zentrale Faktoren sind. Die Dimensionen von Arbeitszeit – Dauer, Lage und Verteilung –

9

Bei den 25- bis 49-jährigen Angestellten geben 8,6% an, dass sie ihrer Arbeitszeit verringern möchten; 10% würden sie gerne erhöhen (Eurostat-Abfrage 2015).

10 Zum Konzept der Arbeitsfähigkeit siehe z.B. Popp (2011) oder Ilmarinen (2008).

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nehmen darauf erheblichen Einfluss. Die Arbeitsdauer und die Effizienz der Arbeitsleistung hängen (empirisch gut belegbar) eindeutig zusammen: Ab ca. der achten Arbeitsstunde sinkt die Effizienz und das Unfallrisiko steigt erheblich; wobei weitere Belastungsfaktoren wie Intensität der Arbeit, Termindruck etc. dies weiter verstärken können. Auch die Arbeitszeitlage, wie Nacht- oder Schichtarbeit, kann Auswirkungen haben und die Gesundheit beeinträchtigen. Die Gesundheitsrisiken wachsen mit der Dauer, denen die Personen diesen atypischen Arbeitszeiten ausgesetzt sind. Geldzuschläge für Nacht- oder Schichtarbeit kompensieren die Belastungen nicht, sondern üben vielmehr einen Anreiz aus, diese Arbeitszeiten zu wählen. Aber auch wenige Arbeitsstunden, die z.B. zeitlich für ein Familienleben ungünstig liegen, können beeinträchtigen: Dies trifft v.a. auf Personen im Reinigungsgewerbe zu (zumeist Frauen), die frühmorgens oder spätabends ihrer Arbeit nachgehen, dazwischen (unbezahlte) Betreuungsarbeit leisten und zweimal täglich Anreisezeiten für wenige Stunden Arbeit auf sich nehmen müssen. Die Arbeitszeitverteilung kann ebenfalls zu gesundheitlichen Einschränkungen beitragen: Unterschiedliche Dauer und Lage von Arbeitszeit, vor allem wenn sie von außen, und nicht selbst-, bestimmt sind, können negative Auswirkungen zeitigen (Seifert 2008: 24). Flexible Arbeitszeiten mit hoher Variabilität, das sind Arbeitszeiten, deren Dauer und Lage häufig wechselt, bei denen es keine fixen Anfangs- und Endzeiten gibt und somit keine Planbarkeit der Arbeits- und Freizeitphasen, sind sehr problematisch, da die ArbeitnehmerInnen selbst keinen Einfluss auf die Arbeitszeiten nehmen können und führen oft zu gesundheitlichen und psychosozialen Beschwerden (Haidacher 2011: 60). Aktuelle Arbeitszeitentwicklungen bei Vollzeitbeschäftigten können nicht als altersgerecht bezeichnet werden, da diese durchwegs länger arbeiten als vorgeschrieben.11 Gleichzeitig ist, wie bereits erwähnt, die Teilzeitarbeit – vor allem in Deutschland und Österreich – bei Frauen stark verbreitet. 2014 arbeiten Frauen in Teilzeit in Österreich durchschnittlich 20,9 Stunden (Statistik Austria 2015b), wobei sich dies negativ auf die Pensionsansprüche auswirkt und daher die Notwendigkeit länger im Erwerbsprozess zu verbleiben zunimmt. Dazu kommt, dass Teilzeitbeschäftigte in der Regel geringere Stundenlöhne erhalten als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte und kurze Teilzeit mit geringeren Lohnsätzen zu einem erhöhten Armutsrisiko führt.

11 Siehe Tabelle 2, Durchschnittliche Arbeitszeit in Wochenstunden 2014 und nationale Statistiken laut Statistik Austria (2015b).

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In einigen europäischen Ländern wird Selbständigkeit gezielt mittels Beratungsangeboten für Ältere beworben. Wobei sich aber in Großbritannien zeigte, dass diese durchschnittlich mehr Stunden arbeiten als Angestellte und sich somit die Frage stellt, ob diese Erwerbsform tatsächlich besonders für Ältere geeignet ist. Oft handelt es sich bei den „Spätberufenen“ um Solo- bzw. Mikroselbständige, und nicht um klassische UnternehmerInnen mit mehreren Angestellten, die sich ihre Arbeitsplätze selbst geschaffen haben und über deren Arbeits- und Lebenswelten bisher noch wenig bekannt ist.12 3.1 Elemente alter(n)sgerechter Arbeitszeiten Generell kann zwischen zwei Ansätzen zur Gestaltung von Arbeitszeiten für einen längeren Verbleib im Erwerbsleben unterschieden werden: Die Arbeitszeitpolitik kann sich auf die gesamte Erwerbsphase beziehen, dies wird als alternsgerechte Arbeitszeitgestaltung bezeichnet, oder nur auf Abschnitte beschränken, wie z.B. der Altersphase ab 55, was als altersgerechte Arbeitszeitpolitik bezeichnet wird. Die alternsgerechte Arbeitszeitgestaltung ist prozessorientiert, weist einen präventiven Charakter auf und versucht frühzeitig, mögliche langfristige Folgen belastender Arbeits- und Arbeitszeitbedingungen zu vermeiden bzw. diesen gegenzusteuern (Barkholdt 2007). Alternsgerechte Arbeitszeitgestaltung ist umfassender und schließt den altersgerechten Ansatz ein. Es gibt verschiedene Möglichkeiten Arbeitszeit alter(n)sgerecht zu gestalten, z.B. Langzeit- bzw. Lebensarbeitszeitkonten in Deutschland, bei denen angesammelte Zeitguthaben für Weiterbildung, Sabbaticals oder auch eine vorzeitige Beendigung des Erwerbslebens genutzt werden können. Bei dieser Form stellt sich allerdings die Frage, ob Langzeitkonten auf die Gesundheit nicht auch einen gegenteiligen Effekt haben könnten, da sich ohne zwischenzeitliche Zeitentnahmen gesundheitliche Belastungen verschärfen können (Seifert 2008: 27). Das Konzept der lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung basiert auf dem Prinzip des Freizeitausgleichs, das Geldzuschläge ganz oder teilweise ersetzen soll. Dabei sollen präventiv Belastungen durch lange und ungünstige Arbeitszeiten verringert, die Arbeitsfähigkeit erhalten und ein längerer Verbleib im Erwerbsleben unterstützt werden. Belastungen wie Wochenend-, Schicht-

12 In Österreich wurde 2014 eine Studie von Johanna Muckenhuber zur Arbeitsrealität von neuen Selbstständigen veröffentlicht, die sich vor allem dem Thema Arbeitszeit von Selbstständigen widmet.

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oder Nachtarbeit sollten von der Häufigkeit her vor allem bei Älteren reduziert und mit Freizeit ausgeglichen werden, was für Unternehmen kostenneutraler sein könnte (ebd.: 29).

4. S CHLUSSFOLGERUNGEN Eine umfassende Neugestaltung von Arbeitszeit kann zum längeren Verbleib im Erwerbsleben und somit zur tatsächlichen Anhebung des Pensionsantrittsalters beitragen. Vor allem dem Trend zu längeren Arbeitszeiten und Überstunden, welcher zwar seit der Krise 2008/09 zurückgegangen, aber immer noch anzutreffen ist, sollte zeitnaher Zeitausgleich entgegengesetzt werden. Lange oder ungünstige gelegene Arbeitszeiten sollten v.a. für Ältere reduziert bzw. umgestaltet und durch Freizeitphasen unterbrochen werden. Hinsichtlich der stärkeren Flexibilisierung der Arbeitszeit, wie sie derzeit z.B. in Großbritannien stattfindet, ist auf die Gefahr einer zu starken Entgrenzung von Privat- und Arbeitsleben (fehlende work-life-balance) hinzuweisen. Bei der Altersteilzeit kommt sowohl in Deutschland als auch in Österreich vor allem die Blockvariante zum Einsatz. Dadurch bleiben Personen nicht länger im Erwerbsprozess, sondern arbeiten Vollzeit bis zu einem bestimmten Alter, um dann anschließend – früher, aber ohne Abschläge – in Pension zu gehen. In Österreich kam es daher auch zu einer Änderung im Gesetz, die die Blockvariante weniger attraktiv machen soll. Hinsichtlich der Motivation des Pensionsantritts und der Rolle von Arbeitszeitmodellen wäre eine vertiefende Forschung ebenso wünschenswert wie branchenspezifische Differenzierung. Bei der Selbstständigkeit, die in allen drei Ländern als Möglichkeit für Ältere propagiert wird länger im Erwerbsprozess zu bleiben, stellt sich die Frage, ob diese Erwerbsform für Ältere tatsächlich geeignet ist, v.a. auch da sie im Durchschnitt mit längeren Arbeitszeiten verbunden ist bzw. für manche Personen nicht geeignet erscheint. Besonders Personen, die es nicht gewohnt sind, ihre Arbeitszeiten selbst festzulegen und auch die Inhalte der Tätigkeiten selbst zu definieren und zu organisieren, kann diese Form auch zu negativen Auswirkungen hinsichtlich Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit führen, was sich wiederum negativ auf einen längeren Verbleib am Arbeitsmarkt auswirken kann. Das Phänomen der weiblichen Altersarmut, das bereits auf viele Frauen zutrifft, wird derzeit in den Diskussionen um z.B. die Verlängerung des Frauenpensionsalters oder die Notwendigkeit von mehr staatlicher Unterstützung (Vereinbarkeit von Beruf und Familie) zu wenig berücksichtigt. Auch andere häufig

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in Teilzeit bzw. geringfügig oder für geringen Lohn arbeitende Personen sind von Altersarmut betroffen. Dieser Aspekt sollte bei der Konzeption von Maßnahmen stärker berücksichtigt werden.

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Die innerfamiliäre Arbeitsteilung und deren Konsequenzen für Normalarbeitsverhältnisse von Frauen D ANIEL R EITER UND C ORNELIA W OLLER

1. E INLEITUNG In Österreich dominiert das „Modell des männlichen Alleinverdieners“ (18,2% der Paarhaushalte) sowie das „Mann Vollzeit/Frau Teilzeit – Modell“ (43,7%). Nicht einmal jedes fünfte Paar setzt sich aus zwei Vollzeitbeschäftigten zusammen. Im Gegensatz dazu sind Haushalte, in denen lediglich die Frau erwerbstätig ist (insgesamt 4,5%) ebenso selten wie Haushalte, in denen sowohl die Frau als auch der Mann teilzeitbeschäftigt sind (etwa 2%) (Statistik Austria 2015). Folglich sind Frauen in Österreich viel seltener in einem Normalarbeitsverhältnis bzw. in einer „typischen“ Beschäftigung anzutreffen als Männer. Dabei spielt die Arbeitsaufteilung innerhalb der Familie eine übergeordnete Rolle, da Frauen oftmals einen Großteil der unbezahlten Arbeit wie die Kinderbetreuung oder Haushaltstätigkeiten übernehmen, während der Mann die traditionelle Rolle des Familienernährers einnimmt. Lässt sich die empirische Beobachtung, dass Frauen in Österreich weniger häufig einem Normalarbeitsverhältnis nachgehen als Männer, anhand der Intrahaushaltsverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit erklären? Die These ist, dass das Ausmaß der Arbeitsmarktpartizipation von Frauen Gegenstand von innerfamiliären Aushandlungsprozessen ist, die von unterschiedlichen ökonomischen Ansätzen ins Zentrum der Analyse gestellt und im Folgenden näher erläutert werden. Dabei wird argumentiert, dass sich Frauen oftmals in einer schlechteren Verhandlungsposition als ihre Partner befinden,

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unter anderem aufgrund von niedrigeren Erwerbseinkommen 1. Dass Entscheidungen bezüglich der innerfamiliären Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit aber auch häufig das Produkt von kulturell geformten sozialen Normen sein können, wird im zweiten Teil dieses Beitrags demonstriert.

2. E IN Ü BERBLICK

ÜBER ÖKONOMISCHE M ODELLE ZUR INNERFAMILIÄREN ARBEITSTEILUNG

Das folgende Kapitel widmet sich der Frage, was uns die ökonomische Theorie über die innerfamiliäre Arbeitsteilung lehrt, um zu erörtern, warum ein Normalarbeitsverhältnis für Frauen nicht die Norm darstellt. Zwei Ansätze dominieren die ökonomische Literatur der Intrahaushaltsentscheidungsfindung: Einerseits neoklassische Modelle, in welchen eine gemeinsame Nutzenfunktion für alle Haushaltsmitglieder unterstellt wird, und andererseits Aushandlungsmodelle, in denen die Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit im Haushalt das Produkt von Verhandlungen zwischen den Partnern ist. Nachstehend werden diese beiden Zugänge beschrieben und einander gegenübergestellt. 2.1 Neoklassische Ansätze Lange Zeit betrachteten ÖkonomInnen die Mitglieder eines Haushaltes ausschließlich so, als ob diese kongruente Interessen aufweisen und deshalb wurde eine gemeinsame Nutzenfunktion für alle Angehörigen einer Familie angenommen (Mader/Schneebaum 2013: 363). Unterschiede in den Interessen bzw. Präferenzen der einzelnen Familienmitglieder wurden dadurch weitgehend ausgeklammert. Das „Consensus Model“ von Paul A. Samuelson (1956) war das erste formale Modell, das der neoklassischen Marktlogik folgt und in welchem die Heterogenität von Präferenzen keine Berücksichtigung findet. In seinem Ansatz geht Samuelson von zwei interagierenden Individuen aus, die durch Konsens ihre individuellen Wünsche („Nutzenfunktionen“) in ein gemeinsames Paket („soziale Wohlfahrtsfunktion“) zusammenführen. Dieses unterliegt einer Budgetrestriktion, in der die jeweiligen Markteinkommen der Partner zusammengelegt („ge-

1

Geisberger und Glaser (2014) zeigen, dass der geschlechtsspezifische Lohnunterschied in Österreich mit 24% deutlich über dem EU-Durchschnitt von 16.2% liegt.

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poolt“) sind. Sodann ist es möglich dieses Aggregationsschema so zu analysieren, als ob der Haushalt ein einzelnes Individuum ist, das danach strebt, seine bzw. ihre Nutzenfunktion zu maximieren. Allerdings erhob Samuelson nicht den Anspruch zu erklären, wie die Familienmitglieder zu einem Konsens über eine gemeinsame Wohlfahrtsfunktion gelangen noch wie dieser aufrechterhalten wird. Ihm ging es lediglich darum, die Institution Familie konsistent in die traditionelle mikroökonomische Nachfragetheorie einzubetten. So machte er in seinem Originalpaper klar, dass sein Modell zur Analyse der innerfamiliären Arbeitsteilung nicht geeignet sei (Lundberg/Pollak 1996: 143). Das ökonomische „Standardmodell“ zur Intrahaushaltsverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit ist das „Altruist Model“ von Gary S. Becker (1981), der damit die Lücke von Samuelson schließt. Sein theoretischer Ansatz basiert auf der Annahme, dass jeder Haushalt über einen altruistischen Haushaltsvorstand2 verfügt, dessen Interessen die Sorge um das Wohlergehen der anderen Familienmitglieder widerspiegelt. Laut Becker ist die Präsenz eines altruistischen Haushaltsmitglieds hinreichend dafür, um rein egoistische aber rational handelnde Familienangehörige dazu zu bewegen, die individuellen Einkommen zu poolen, womit das Familienoberhaupt versucht, seine Nutzenfunktion stellvertretend für die ganze Familie zu maximieren (Mader/Schneebaum 2013: 363). Wesentlich in Beckers Ansatz ist zudem, dass die Arbeitsteilung in Haushalten ökonomischen Kriterien folgt. Für alle Tätigkeiten im Haushalt müssen bestimmte Fähigkeiten, also Humankapital, vorhanden und Zeit, also Kosten, aufgewendet werden. Die Zeitkosten entsprechen dem Stundenlohn eines Haushaltsmitglieds, der zugleich für das marktfähige Humankapital steht. Geht man mit der Prämisse konform, dass sich Individuen ökonomisch rational verhalten, lässt sich aus Beckers Modell folgern, dass Haushaltsmitglieder mit hohen Zeitkosten eher die bezahlte Erwerbsarbeit übernehmen und Haushaltsmitglieder mit geringen Zeitkosten die zeitintensive unbezahlte Hausarbeit (Haberkern 2007: 162). Die Kombination aus Zeitkosten und Humankapitalausstattung ist Becker zufolge die Basis für die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Zeitverwendung, die in Abbildung 1 für Österreich illustriert sind. Es zeigt sich, dass Männer in fast allen betrachteten Alterskohorten durchschnittlich mehr Zeit als Frauen für berufliche Tätigkeiten aufwenden. Auch hinsichtlich Schule und Weiterbildung investieren Männer im Durchschnitt mehr Zeit als Frauen. Demgegenüber wenden Frauen deutlich mehr Zeit für die Haushaltsführung auf, vor allem

2

Becker spricht diese Rolle dem Vater bzw. dem Familienpatriarchen zu.

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die Alterskohorten 20-39 und 40-59. Weniger gravierend sind die Unterschiede in der durchschnittlichen Zeitverwendung zwischen Männern und Frauen in Österreich für soziale Kontakte, Kinderbetreuung und Freiwilligenarbeit. Eine Ausnahme bildet dabei die Alterskohorte 20-39 der Frauen, die durchschnittlich eine Stunde mehr in die genannten Aktivitäten bzw. Aufgaben investiert. Dies liegt am Mehraufwand für die Betreuung und Erziehung der Kinder sowie die Pflege von hilfsbedürftigen Erwachsenen, welche in Österreich traditionell in die Hände der Frauen gelegt werden3. Darüber hinaus verstärken geringere Stundenlöhne für Frauen und ein, wie es Becker formuliert, biologisch bedingter Vorteil in der Kindererziehung die geschlechtsspezifische Aneignung von Humankapital und dadurch die traditionelle innerfamiliäre Aufteilung von bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Hausarbeit (ebd.).

3

In der Haupttätigkeit „Soziale Kontakte, Kinderbetreuung und Freiwilligenarbeit“ sind viele Facetten von „Care-Arbeit“ inkludiert. Beispielsweise unterteilt sich der Teilbereich Freiwilligenarbeit in formelle Freiwilligenarbeit (aktive Mitarbeit ohne Bezahlung in einer formellen Organisation wie zum Beispiel dem Rettungsdienst) und informelle Freiwilligenarbeit (aktive Hilfe ohne Bezahlung außerhalb des eigenen Haushaltes wie die Altenpflege). Auch die Betreuung und Pflege sowie die Versorgung von kranken Erwachsenen im eigenen Haushalt gehört der Rubrik „Soziale Kontakte, Kinderbetreuung und Freiwilligenarbeit“ an.

D IE INNERFAMILIÄRE A RBEITSTEILUNG

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Abbildung 1: Durchschnittliche Zeitverwendung pro Tag nach (ausgewählten 4) zusammengefassten Haupttätigkeiten

Quelle: Statistik Austria 2009, eigene Darstellung.

4

Aktivitäten wie Persönliche Tätigkeiten (dazu zählen Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen und Körperpflege) sowie Freizeitaktivitäten (die restliche Zeit die übrigbleibt, wenn die täglich anfallenden beruflichen und familiären Aufgaben erledigt wurden) sind in dieser Darstellung nicht inbegriffen.

194 | DANIEL REITER UND CORNELIA W OLLER

Die in diesem Abschnitt vorgestellten Ansätze von Becker und Samuelson weisen zwei Parallelen auf: Einerseits wurde eine potentielle Heterogenität der individuellen Interessen nicht in die Analyse miteinbezogen und andererseits wurde die autonome Kontrolle über das individuelle Einkommen ausgeklammert5. Neben den Ansätzen von Samuelson und Becker gibt es mittlerweile einige andere ökonomische Zugänge, die verhandlungs- und machttheoretische Aspekte der innerfamiliären Arbeitsteilung hervorheben (Mader/Schneebaum/SkinaTabue/Till-Tentschert 2012: 985). Wie die Verteilung von Ressourcen innerhalb des Haushaltes erfolgt, wird nicht durch eine Haushaltsproduktionsfunktion oder durch einen gemeinschaftsdienlichen Haushaltsvorstand bestimmt. Vielmehr ist die Verteilung Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Partnern, die auf den eigenen Vorteil bedacht sind und nicht etwa auf den des gesamten Haushaltes (Haberkern 2007: 163). 2.2 Verhandlungsmodelle Manser/Brown (1980) und McElroy/Horney (1981) waren die ersten, die anhand von Bargaining-Modellen verhandlungs- und machttheoretische Gesichtspunkte als essentielle Elemente der Entscheidungsfindung im Haushalt hervorhoben. Dabei wird die innerfamiliäre Ressourcenallokation als kooperatives Spiel behandelt. Das Resultat der Ressourcenverteilung hängt wesentlich von der jeweiligen Verhandlungsmacht der Haushaltsmitglieder ab, die wiederum durch den Zugang zu Ressourcen außerhalb des Haushaltes bestimmt wird, in erster Linie durch das Erwerbseinkommen. Wenn keine Übereinkunft erzielt wird, ist das Ergebnis des Verhandlungsspiels der sogenannte Drohpunkt. Definiert ist dieser als der „Wert“ einer Scheidung, der von seinem „Preis“ und von externen Bedingungen wie das rechtliche und politische Setting sowie soziale und religiöse Normen und Traditionen abhängig ist (Mader/Schneebaum 2013: 364). Lundberg/Pollak (1993; 1996) entwickelten den „Separate Spheres“-Ansatz, wo, im Gegensatz zu Manser/Brown und McElroy/Horney, der Drohpunkt nicht außerhalb der Partnerschaft, also durch Scheidung definiert ist, sondern innerhalb der Ehe (Van Aelst 2014: 15). Im „Separate Spheres“-Ansatz werden die individuellen Wünsche durch eine Nutzenfunktion repräsentiert, die einerseits vom Konsum privater Güter und andererseits vom Konsum quasi öffentlicher Güter, und zwar vom Haushalt durch Kooperation bereitgestellte Güter, abhän-

5

Sowohl Samuelson als auch Becker ließen diese Tatsachen bewusst außen vor, um das Aggregationsproblem zu lösen.

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gig ist. Kommt es zu keiner Übereinkunft zwischen den Verhandlungspartnern, stellt sich ein nicht-kooperatives Gleichgewicht ein, das durch den Drohpunkt wiedergegeben wird. Dieser ist abhängig von den individuellen Einkommen. Ein höheres individuelles Einkommen impliziert eine bessere Verhandlungsposition und so können eher „unangenehme“ Tätigkeiten dem anderen Partner aufgebürdet und die innerfamiliäre Arbeitsteilung zu eigenen Gunsten beeinflusst werden. Führt man sich einen gewöhnlichen Tag einer Familie vor Augen, wird klar, dass nicht bei jeder anfallenden Hausarbeit diskutiert und verhandelt werden kann. Darüber hinaus führt die Frage, wer was machen soll und kann, oftmals zu Konflikten (Haberkern 2007: 163). Bei derartigen Situationen, oder aber auch bei gescheiterten Verhandlungen, spielen laut Lundberg/Pollak (1996) ohne explizite Absprachen gesellschaftliche bzw. soziale Normen eine essentielle Rolle. Die anfallenden Aufgaben werden in separate Bereiche entsprechend den gesellschaftlich definierten Geschlechterrollen eingeteilt. So sind Kindererziehung und Altenpflege Arbeiten, die traditionell die Frau übernimmt, wohingegen der Mann jene Tätigkeiten verrichtet, die der Gesellschaft entsprechend seinem Aufgabenbereich zugeschrieben werden, wie beispielsweise Reparaturarbeiten (Haberkern 2007: 163). In Amartya Sens „Cooperative Conflict Model“ wird der Haushalt als soziale Institution konzeptualisiert, die sowohl Konflikte lösen als auch Kooperation bewerkstelligen muss (Van Aelst 2014: 16). Mader/Schneebaum (2013) erläutern, dass während in anderen Verhandlungsmodellen das Hauptaugenmerk auf den Zugang zu Ressourcen gelegt wird, der die innerfamiliären Arbeitsteilung wesentlich beeinflusst, werden in Sens Ansatz in erster Linie die Möglichkeiten der jeweiligen Haushaltsmitglieder aufgezeigt. In seinem Modell wird die Verhandlungsmacht einer Person bestimmt durch zwei Faktoren: Einerseits von der Ausstattung („endowment“), die zusammenfasst, über was eine Person verfügt, wie ihre Arbeitskraft, Ressourcen und das Einkommen. Andererseits von Tauschberechtigungen („exchange entitlement mapping“). Diese umfassen die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die ein Individuum bei vorhandenem Eigentumsbündel für den Konsum vorfindet. Darüber hinaus wird die Intrahaushaltsverteilung in Sens Theorie über folgende Merkmale erklärt: Über das „breakdown well-being“, über die wahrgenommenen Interessen („perceived interests“) und über die gefühlten Beiträge („perceived contributions“). Die Stärke aber auch die Verwundbarkeit einer Person im Verhandlungsprozess wird durch das „breakdown well-being“ wiedergegeben. Der Wert, den eine Person seinem bzw. ihrem Wohlergehen beimisst, wird durch die „perceived interests“ erfasst. Über die „perceived contributions“

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erklärt Sen, für wie wesentlich ein Verhandlungspartner sein bzw. ihr Eigeninteresse im Zuge des Aushandlungsprozesses erachtet. Sen argumentiert, dass Frauen – im Durchschnitt – benachteiligt sind, da das geringere Erwerbseinkommen die gefühlten Beiträge zum ökonomischen Wohlstand der Familie negativ beeinflusst. Dies wiederum verschlechtert das „breakdown well-being“ und somit die Verhandlungsstärke bzw. Verhandlungsposition (Van Aelst 2014: 16). Darüber hinaus nehmen Frauen ihre eigenen Interessen oftmals weniger wichtig als die Interessen und das Wohlergehen der gesamten Familie, was eine Ungleichverteilung von Entscheidungsmacht und Ressourcen innerhalb des Haushaltes weiter aufrechterhalten kann (Mader/Schneebaum 2013: 367). Weiters weist Sen darauf hin, dass individuelle Präferenzen nicht von kulturellen Normen getrennt werden können. Selbst Wahrnehmungen und Ansichten der einzelnen Personen sind nicht strikt individuell, da diese vornehmlich im Sozialisationsprozess gebildet werden und tief verwurzelte soziale und kulturelle Normen, wie Geschlechternormen, widerspiegeln (Van Aelst 2014: 17).

3. D IE R OLLE VON S OZIALEN N ORMEN UND G ESCHLECHTERBEZIEHUNGEN IN DER INNERFAMILIÄREN ARBEITSTEILUNG Wie bereits angedeutet, wird die Intrahaushaltsverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit nicht nur von quantifizierbaren Faktoren wie Erwerbs- oder Vermögenseinkommen bestimmt, sondern auch soziale Normen sowie institutionelle Aspekte tragen erheblich zur Entscheidungsfindung innerhalb des Haushaltes bei. Denn oftmals ergeben sich innerfamiliäre Entscheidungen aus der alltäglichen Praxis bzw. Routine (Dema-Moreno 2009: 34), wie in diesem Abschnitt gezeigt werden soll. Eine Analyse zu Verteilungs- und Entscheidungsmechanismen zwischen Frauen und Männern in Österreich zeigt, dass die innerfamiliäre Arbeitsteilung bei heterosexuellen Paaren vor allem durch das Geschlecht bestimmt wird. Frauen sind demnach viel häufiger für Entscheidungen gemäß ihrer traditionellen Rolle als Mutter und Hausfrau verantwortlich (Mader/Schneebaum/Skina-

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Tabue/Till-Tentschert 2012: 9936). Selbst bei Frauen, die ein höheres Einkommen als ihre Partner erzielen, nimmt die Entscheidungsmacht nicht automatisch mit dem Einkommen zu. So treffen Frauen in Familien mit einem männlichen Hauptverdiener bis zu 36% der Entscheidungen über alltägliche Besorgungen. Dagegen treffen Frauen als Hauptverdiener nur bis zu 26% der Entscheidungen über alltägliche Einkäufe. Durch die Untersuchung wird aber auch gezeigt, dass ähnliche soziodemografische und sozioökonomische Merkmale, wie beispielsweise ähnliche Einkommensniveaus oder ein ähnlicher Bildungsabschluss der Partner, eine egalitäre Entscheidungsfindung bedingen kann (Mader/ Schneebaum/Skina-Tabue/Till-Tentschert 2012: 989). Diese kurze Ausführung unterstreicht, warum die Verteilung von Ressourcen und Macht zwischen Paaren nicht allein von der Einkommensposition determiniert wird und hebt gleichzeitig die Bedeutsamkeit von sozialen Normen und Geschlechterrollen bei der Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit hervor. 3.1 Innerfamiliäre Aushandlungsprozesse und der Einfluss von sozialen Normen Laut Agarwal (1997) spielen im innerfamiliären Aushandlungsprozess gesellschaftliche Normen in mehrfacher Hinsicht eine essentielle Rolle. Erstens können soziale Normen den Verhandlungsspielraum einschränken, indem sie bestimmte Themen oder Belange als verhandelbar definieren und andere, welche als ein natürlicher und selbstverständlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung angesehen werden, als nicht verhandelbar. Sie konstituieren also einen nicht-verhandelbaren Raum, zu welchem in erster Linie die in einer Gesellschaft weitreichend akzeptierten Normen und Praktiken zählen. Außerhalb des Verhandlungsspielraumes steht beispielsweise die hier bereits mehrfach erwähnte geschlechtsspezifische Rollenaufteilung (Frauen übernehmen vornehmlich die Betreuung der Kinder und Männer übernehmen die Rolle des Familienernährers) innerhalb des Haushaltes. Existiert bereits ein gesellschaftlich legitimierter Anspruch und geht es nunmehr um die Größe des Anteils der unter Disput steht, dann ist es laut Agarwal einfacher jenen Anspruch in den Entscheidungsfindungsprozess mit aufzunehmen. Beispielsweise haben der Anstieg des Bildungsniveaus beider Geschlechter, Veränderungen von Lebensfor-

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Die Untersuchung basiert auf dem Sondermodul des EU-SILC (Statistics on Income and Living Conditions) 2010, welches Analysen zur Intrahaushaltsverteilung von Ressourcen ermöglicht.

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men und Haushaltsstrukturen sowie die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen zu einem Wertewandel in den letzten Jahrzehnten beigetragen (Wernhart/Neuwirth 2007: 6). Vergleicht man aber die Arbeitsaufteilung im Haushalt von noch kinderlosen Paaren mit Jungeltern, zeigt eine Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung (ÖIF), die unter Zuhilfenahme des „Generations and Gender Survey (GGS)“ durchgeführt wurde, dass die Geburt des ersten Kindes die zuvor vergleichsweise gerechte Aufteilung von Erwerbs- und Hausarbeit nachhaltig ändert (Berghammer/Neuwirth 2015: 5). Demnach ist der Anspruch einer egalitäreren Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit aufgrund des soziostrukturellen Wandels zwar gesellschaftlich legitimiert, das Ausmaß wird aber nach wie vor von geschlechterkulturellen Vorstellungen beeinflusst. Zweitens bestimmen soziale Normen die Grenzen der Verhandlungsmacht und/oder stellen selbst Grenzen dar. Beispielsweise können gesellschaftliche Werte und Normen Frauen im innerfamiliären Aushandlungsprozess benachteiligen, indem sie Frauen entmutigen (oder sogar daran hindern) eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Dadurch werden sie in die Abhängigkeit gedrängt, während der Mann die traditionelle Rolle des Familienernährers einnimmt (Agarwal 1997: 16). Drittens wird das zwischenmenschliche Verhalten der beiden Partner im Aushandlungsprozess von sozialen Normen und Werten beeinflusst. Das unterschiedliche Verhalten der interagierenden Partner kann auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden, wie zum Beispiel auf das Geschlecht, den Familienstand oder den kulturellen Hintergrund. Viertens können soziale Normen auch grundlegenden Veränderungen unterliegen und selbst Teil der Verhandlungen werden, was bedeutet, dass sie als endogene Größe in den Entscheidungsfindungsprozess eingehen. Das Bewusstsein dafür, dass die ungleiche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern nicht genetisch begründet, sondern sozial konstruiert ist, sowie, dass Geschlechterverhältnisse gerechter gestaltet sein können, wäre solch ein grundlegender Wandel, der nicht nur auf einer Ebene stattfindet (Agarwal 1997: 19). Es ist vielmehr ein wechselseitiges Zusammenspiel von ökonomischen Faktoren, deren Anreizmechanismen gesellschaftliche Werte und Normen in Frage stellen können, und von sozialen Gruppen und Institutionen, die eine Plattform für Veränderungen bieten (Van Aelst 2014: 20). Finden Konventionen auf gesellschaftlicher Ebene weitgehende Akzeptanz, werden sie auch Teil des Entscheidungsfindungsprozesses zwischen Frauen und Männern. So hat die Akzeptanz einer weniger traditionellen Rollenverteilung von Frauen und Männern in der österreichischen Gesellschaft laut einer Studie des

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ÖIF zum Geschlechterrollenwandel stark zugenommen. Während im Jahr 1988 noch 59% der Männer und 52% der Frauen der Ansicht waren, dass es die Aufgabe des Ehemannes sei, Geld zu verdienen und die der Ehefrau, sich um den Haushalt und die Familie zu kümmern, waren im Jahr 2002 nur mehr 35% der Männer und 29% der Frauen dieser Meinung. Was die Einstellungen zum Arbeitsausmaß der Frau betrifft, zeigen sich je nach Lebensabschnitt große Unterschiede. 91% der Männer und 94% der Frauen sprachen sich im Jahr 2002 für eine Vollzeitbeschäftigung von verheirateten Frauen ohne Kinder aus, wohingegen die Ansichten über das Arbeitsausmaß von Frauen mit noch nicht schulpflichtigen Kindern konträr ausfielen: 55% der Männer und 47% der Frauen sprachen sich im Jahr 2002 gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen in diesem Lebensabschnitt aus. Was Teilzeitarbeit von Frauen mit Kindern betrifft, haben sich die Ansichten im Zeitraum zwischen 1988-2002 auch deutlich gewandelt. Immerhin befürworteten im Jahr 2002 42% der Männer und 49% der Frauen, dass Mütter mit noch nicht schulpflichtigen Kindern Teilzeit erwerbstätig sein sollen, während im Jahr 1988 nur 25% der Männer bzw. 30% der Frauen diese Meinung vertraten (Wernhart/Neuwirth 2007). Außerhalb der Familie spielt neben der Gesellschaft vor allem der Staat für den Aushandlungsprozess zwischen Frauen und Männern eine tragende Rolle. Dieser beeinflusst die innerfamiliäre Arbeitsteilung indirekt, und zwar durch den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt, zu Bildung und zu produktiven Ressourcen. Beckmann (2007) argumentiert, dass wohlfahrtsstaatliche Politik auf Annahmen über bestimmte geschlechterkulturelle Vorstellungen und soziale Normen basiert. In jeder Gesellschaft existieren kulturelle Leitbilder und Werte, beispielsweise über die Zuordnung und Organisation von unbezahlter Arbeit. Diese Geschlechterkultur spiegelt sich laut Beckmann in den Bereichen Arbeit und Familie von Wohlfahrtsstaaten wieder. Anhand von Abbildung 2 wird versucht, die unterschiedlichen Einstellungen zur innerfamiliären Arbeitssteilung sowie hinsichtlich der Geschlechterrollen für ausgewählte Wohlfahrtsstaaten darzustellen.

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Abbildung 2: Tendenz in Richtung „Male Breadwinner Model“ (für ausgewählte Länder)

Quelle: ISSP 2012: eigene Darstellung.7

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Ausgewertete Frage: Denken Sie an eine Familie mit einem Kind, das noch nicht zur Schule geht. Welches ist Ihrer Meinung nach die beste Möglichkeit, um Familie und Beruf miteinander zu vereinen?

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Während sich in Schweden rund 22% für eine Vollzeitbeschäftigung und rund 54% der Befragten für eine Teilzeitbeschäftigung von Müttern mit noch nicht schulpflichtigen Kindern aussprechen, stimmen in Österreich insgesamt nur 43% für die Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern. Für die Mehrheit der in Österreich befragten Personen (rund 48%) ist das Modell des männlichen Alleinverdieners die beste Möglichkeit um Familie und Beruf miteinander zu vereinen. In Frankreich, sowie in Westdeutschland spricht sich ein Großteil für die Teilzeitarbeit von Frauen mit Kindern aus. Die Ansichten zur innerfamiliären Arbeitsteilung decken sich weitgehend mit der Analyse von Beckmann (2007) zur Entwicklung über die Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten. Während sich in Schweden der Wandel vom Modell des männlichen Alleinernährers zum Modell der „Dual Breadwinner/Dual Carer“ bereits vollzogen hat, dominiert in Westdeutschland und Österreich nach wie vor die traditionelle Rollenverteilung. Die Förderung einer egalitären Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit muss aber nicht immer mit einer gerechten Verteilung der Haushaltstätigkeiten und der Betreuung und Erziehung der Kinder einhergehen. Wie Beckmann zeigt, beteiligen sich beispielsweise in Frankreich, trotz umfangreicher öffentlicher Bereitstellung von Kinderbetreuungsplätzen und einer hohen Erwerbsbeteiligung von Frauen, Männer nach wie vor nur im geringen Ausmaß an der Haus- und Familienarbeit.

4. R ESÜMEE Das Ausmaß der Arbeitsmarktpartizipation von Frauen wird von der innerfamiliären Arbeitsteilung in hohem Ausmaß beeinflusst. Ökonomische Theorien führen dies im Wesentlichen auf die Humankapitalausstattung und Einkommensressourcen zurück, aber auch verhandlungs- und machttheoretische Aspekte werden von der Ökonomie ins Feld geführt. Jedoch gilt es zu beachten, dass die Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit innerhalb des Haushaltes neben den quantifizierbaren Faktoren wie Erwerbs- und Vermögenseinkommen auch essentiell von sozialen Werten und Normen und Geschlechterbeziehungen bestimmt wird. Es muss daher nicht zwingend zu Verhandlungen zwischen den Ehepartnern über eine egalitärere Aufteilung kommen, vielmehr werden traditionelle Rollen in der alltäglichen Routine einfach übernommen. Soziale Normen beeinflussen den innerfamiliären Aushandlungs- und Entscheidungsprozess und somit den Erwerbsumfang von Frauen und Männern durch gesellschaftliche Legitimation. Sie schränken die Verhandlungsmacht der

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Partner ein und dies zumeist zuungunsten der Frauen. Um eine egalitäre innerfamiliäre Arbeitsteilung zu erreichen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass ein neues – auf soziale, politische und ökonomische Gleichheit gerichtetes – Leitbild von Familie, Arbeit und Geschlecht sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf staatlicher Ebene getragen und unterstützt wird. Die Politik ist daher gefordert, eine egalitäre Arbeitsteilung der Geschlechter sowohl im Erwerbsarbeitsmarkt als auch und insbesondere in der Aufteilung der Haus- und Familienarbeit zu unterstützen. Frauen können nur dann um „Normalarbeitsverhältnisse“ mit Männern konkurrieren, wenn letztere ihren Anteil an der unbezahlten Arbeit in der Familie übernehmen.

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Herausforderungen an die Work-Life-Balance für Frauen und Männer im universitären Wissenschaftsfeld S ILVANA W EISS

1. E INLEITUNG Die Arbeitsverhältnisse an den österreichischen Universitäten haben sich seit der Jahrtausendwende mit dem Wandel hin zu „unternehmerischen Universitäten“ deutlich verändert. Durch die Dienstrechtsreform 2001 wurde die bis dahin übliche Verbeamtung von ProfessorInnen (und teilweise anderem Personal) aufgegeben, das Universitätsgesetz 2002 brachte den Universitäten Personalautonomie und seit 2009 regelt ein Kollektivvertrag die Arbeitsverhältnisse des universitären wissenschaftlichen Personals (vgl. Kreckel/Zimmermann 2014). Mit dieser Entwicklung hat der Anteil unbefristeter Stellen ab- und jener befristeter Stellen deutlich zugenommen: mittlerweile hat etwa ein Drittel des wissenschaftlichen Personals an österreichischen Universitäten einen befristeten Arbeitsvertrag 1 (BMWFW 2016a). Auch wenn Karrieren im Wissenschaftsfeld schon zu Webers Zeiten durch Unsicherheit geprägt waren, scheint diese in den vergangenen Jahren – nicht nur in Österreich – zugenommen zu haben (Beaufaÿs, Engels/Kahlert 2012; Hakala 2009; Höge/Brucculeri/Iwanowa 2012; Raupach et al. 2014; Ylijoki 2010).

1

Im Jahr 2015 waren rund 63 Prozent des wissenschaftlich-künstlerischen Personals befristet angestellt, ausgenommen LektorInnen und Studentische MitarbeiterInnen. Würde man diese beiden Gruppen inkludieren, würde sich der Anteil der befristet Beschäftigten auf 77 Prozent erhöhen.

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Dieser Beitrag diskutiert Herausforderungen, die sich im Wissenschaftsfeld unter relativ unsicheren Karrierebedingungen für die Gestaltung von Berufs- und Privatleben für Frauen und Männer ergeben. Dabei werden neben der Karriereunsicherheit noch weitere Charakteristika des universitären Wissenschaftsfeldes in den Blick genommen, welche die Work-Life-Balance von WissenschaftlerInnen beeinflussen: hohe zeitliche Verfügbarkeitserwartungen, das (männliche) Ideal einer entgrenzten Lebensführung, zeitliche Beschleunigung und gestiegene Arbeitsintensität sowie geographische Mobilitätsanforderungen. Work-Life-Balance (WLB) ist ein relativ junger Begriff, der mit dem Ziel der Gleichstellungsförderung auch Einzug in wissenschaftliche Institutionen – wie Universitäten – fand. Anders als ältere Konzepte, wie jenes des WorkFamily-Konflikts, strebt der WLB-Ansatz an, nicht nur familiäre Verpflichtungen, sondern alle Lebensbereiche in den Blick zu nehmen. WLB birgt daher das Potential in sich, die Lebenssituationen von Frauen und Männern mit und ohne Sorgearbeit ganzheitlicher zu beleuchten. Die Definition von „Work-Life Balance als Einstellung gegenüber der eigenen Lebenssituation […], die sich auf das Vereinbaren verschiedener Lebensbereiche, Rollen und Ziele bezieht“ (Syrek/Bauer-Emmel/Antoni/Klusemann 2011: 135) impliziert die Vorstellung, dass Individuen frei darüber entscheiden, wie sie verschiedene Lebensbereichen organisieren. Individuelle Einstellungen und Entscheidungen sind jedoch verwoben mit Erwartungen, die in einem beruflichen Feld hinsichtlich der Gestaltung von Berufs- und Privatleben vorherrschen (Warhurst/Eikhof/Haunschild 2008). Im universitären Wissenschaftsfeld gelten Spielregeln, die bedeutsamen Einfluss auf die Arbeits- und Lebensgestaltung jener nehmen, die sich längerfristig in diesem Arbeitsfeld behaupten wollen (vgl. Bourdieu 1992). Aufgrund der „doppelten Vergesellschaftung“ von Frauen (Becker-Schmidt 2003) stehen diese bei der Vereinbarung privater und beruflicher Lebensbereiche zumeist vor größeren Herausforderungen. Dass Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern im universitären Wissenschaftsfeld trotz massiver Fortschritte in den letzten Jahren noch nicht erreicht ist, davon zeugen die numerische Unterrepräsentanz von Frauen in höheren Positionen (vgl. Fotaki 2013) oder die geringere Kinderanzahl von Wissenschaftlerinnen im Vergleich zu männlichen Kollegen (Buber/Berghammer/Prkawetz 2011; Metz-Göckel/Heusgen/Möller 2012). Das WLB-Konzept lässt sich jedoch nicht reibungslos auf die wissenschaftliche Arbeit übertragen. Die dem Begriff implizit zugrunde liegende Annahme, „Work“ und „Life“ seien zwei getrennte Sphären, die es zu „balancieren“ gelte, widerspricht dem in der Wissenschaft vorherrschenden Leitbild einer entgrenzten Lebensführung, die nicht zwischen Arbeits- und Privatleben trennt. „In the traditional academic culture the question about work-life balance is almost ab-

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DIE

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surd, since no boundary is made between the two: work is life“ (Ylijoki 2013). Dieses Leitbild vernachlässigt jedoch die Lebensrealitäten vieler WissenschaftlerInnen, die vor der Herausforderung stehen, verschiedene Lebenssphären zu koordinieren. Das WLB-Konzept richtet den Blick auf Bereiche, die in der Vorstellung der sich vollkommen der Forschung hingebenden WissenschaftlerInnen oft unsichtbar bleiben. Daher erweist es sich als hilfreich, um exkludierende Mechanismen sichtbar zu machen, die direkt oder indirekt mit privaten oder anderen außeruniversitären Interessen oder Verpflichtungen in Verbindung stehen. Die Anwendung des WLB-Konzepts auf die wissenschaftliche Arbeit zeigt Spannungsfelder und Widersprüche auf. Einerseits verfügen WissenschaftlerInnen über eine hohe Arbeitszeitflexibilität und in der Regel liefert wissenschaftliches Arbeiten mehr als nur den Lebensunterhalt, sondern geht mit intrinsischer Motivation, Interesse und Freude an der Wissenschaft einher. Andererseits ist das Bild des/der WissenschaftlerIn stark verknüpft mit normativen Vorstellungen darüber, wie Berufs- und Privatleben zu gestalten seien, woraus sich Herausforderungen für die Lebens- und Karrieregestaltung – vor allem für NachwuchswissenschaftlerInnen und Frauen – ergeben.

2. G LEICHSTELLUNG FAST ERREICHT ?

AN DEN

U NIVERSITÄTEN –

SCHON

Die Chancen für die Gleichstellung von Frauen und Männern an Österreichs Universitäten scheinen so gut zu stehen wie noch nie. Gleichstellungsbemühungen und Frauenförderpläne der letzten Jahrzehnte tragen zunehmend Früchte: der Frauenanteil an der ProfessorInnenschaft ist innerhalb der vergangenen zehn Jahre österreichweit von 15 Prozent auf fast 23 Prozent angestiegen (BMWFW 2016b). Trotzdem sind Frauen im Wissenschaftsfeld vor allem in höheren Positionen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Bedenkt man, dass bereits im Jahr 1993 im österreichischen Bundes-Gleichbehandlungsgesetz Chancengleichheit für Frauen und Männer an den Universitäten gefordert wurde und dass schon seit der Jahrtausendwende Frauen häufiger ein Universitätsstudium abschließen als Männer, bleibt der Professorinnenanteil hinter den Erwartungen zurück (z.B. Eckstein 2014) – dies gilt nicht nur für Österreich, sondern die meisten Länder weltweit (vgl. z.B. Danell/Hjerm 2013; Van den Brink/Benschop 2012a). Außerdem gilt zu hinterfragen, in wieweit ein rein numerischer Anstieg einen aussagekräftigen Indikator für Chancengleichheit darstellt. Nach Bourdieu gelangt jene Person ins Innere des universitären Feldes, die „am meisten Neigung und Fähigkeiten aufweist, es unverändert zu reproduzieren“ (Bourdieu

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1992: 148). Die Anpassungsleistungen, die neu in das System Eintretende zu bewältigen haben, sind mitunter mit hohen Kosten im Privatleben verbunden (Nikunen 2012). So bleibt beispielsweise fast die Hälfte der Wissenschaftlerinnen in Österreich kinderlos, während sich männliche Wissenschaftler oder Akademikerinnen, die außerhalb des Wissenschaftsbereichs arbeiten, ihren Kinderwusch viel häufiger erfüllen (Buber et al. 2011; Metz-Göckel et al. 2012). Offensichtlich verlangt eine Laufbahn in der Wissenschaft Einschränkungen und Entbehrungen in der privaten Lebensführung – wer zu diesen Konzessionen nicht bereit sein will oder kann, hat geringere Chancen, langfristig im Wissenschaftsfeld zu arbeiten. Dies trifft zwar beide Geschlechter – doch aufgrund der „doppelten Vergesellschaftung“ von Frauen, denen nach wie vor mehr Verantwortung für die Übernahme der unbezahlten Reproduktionsarbeit außerhalb der Erwerbsarbeit zugeschrieben wird, sind diese in stärkerem Ausmaß betroffen (Becker-Schmidt 2003). Warum lohnt sich die Anwendung des WLB-Konzepts auf das Wissenschaftsfeld und warum sollte Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen an den Universitäten ein erstrebenswertes Ziel sein? Da die Wissensproduktion in engem Zusammenhang mit jenen steht, die Wissen produzieren, ist Wissen, das durch WissenschaftlerInnen mit ähnlichen, auf die Forschung fokussierten Lebensformen hervorgebracht wird, weniger heterogen als Wissen, das durch Menschen aus verschiedenen Geschlechts- und Statusgruppen mit unterschiedlichen Lebensweisen erarbeitet wird und das vielfältige Perspektiven, Meinungen und Brüche zulässt (Mannheim 1970). Durch das Ausschließen bestimmter Personengruppen wird aber nicht nur die Wissensproduktion eingeschränkt, sondern es wird auch das Vertrauen in die durch öffentliche Gelder finanzierte Universitäten reduziert, wenn diese Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern (re)produzieren anstatt sie aufzuheben. Baruch und Hall (2004) zufolge, übt das universitäre Arbeitsfeld eine Vorbildwirkung auf andere Arbeitsfelder aus. Somit könnte eine Erhöhung der Chancengleichheit an den Universitäten auch Gleichstellungsbestrebungen in anderen Arbeitsbereichen positiv beeinflussen. Außerdem funktionieren Universitäten als Organisationen nicht losgelöst von gesellschaftlichen Bedingungen und sind daher mitverantwortlich für die Gestaltung der Lebensrealitäten von Frauen und Männern (vgl. Calas/Smircich/Holvino 2014).

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DIE

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3. K ARRIEREUNSICHERHEIT BEI N ACHWUCHSWISSENSCHAFTLER I NNEN Die Arbeitssituation von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen an Österreichs Universitäten ist durch eine weitere Ungleichheit gekennzeichnet, und zwar eine zwischen jenen mit unbefristeten Arbeitsverträgen – zumeist ProfessorInnen und jenen mit befristeten Arbeitsverträgen – zumeist NachwuchswissenschaftlerInnen (vgl. Kahlert 2013). Während die Ersteren hohe Sicherheit in Bezug auf Ihre zukünftige Beschäftigung genießen, befinden sich die meisten NachwuchswissenschaftlerInnen bis zu ihrer Etablierung meist durchgehend in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, die durch Befristung und häufig Teilzeitanstellung gekennzeichnet sind (vgl. Kahlert 2013). Typisch für das universitäre Wissenschaftsfeld ist, dass unbefristete Arbeitsverträge in der Regel erst sehr spät vergeben werden – durchschnittlich erreichen WissenschaftlerInnen erst im Alter von über 40 Jahren eine unbefristete Position (Janson/Schomburg/Teichler 2006). Gleichzeitig verlangt das universitäre Karrieresystem – nach dem Motto „up or out“ – einen Aufstieg in der Karriereleiter, solange bis eine unbefristete Stelle erreicht wurde (Fitzenberger/Schulze 2014). In Österreich verhindern befristete Arbeitsverträge in Kombination mit der Kettenvertragsregelung2 einen längeren Verbleib in derselben Karrierestufe3. Im pyramidenförmig aufgebauten Karrieresystem nehmen die Stellen mit jeder Stufe zahlenmäßig rapide ab (siehe Kreckel 2012). Im Jahr 2015 standen etwa 17.500 wissenschaftliche MitarbeiterInnen in Prä- oder Postdoc-Positionen zirka 3.000 ProfessorInnen gegenüber (BMWFW 2016b). Die Wahrscheinlichkeit, eine unbefristete Stelle oder gar eine Professur an einer österreichischen (oder deutschen) Universität zu erhalten, ist äußerst gering (vgl. Raupach et al. 2014). Die Zunahme befristeter Stellen ist auch auf den Anstieg von über Drittmittel finanzierten Projektstellen zurückzuführen (BMWFW 2016b). Diese großteils zeitlich befristeten Projektstellen werden fast ausschließlich von Nachwuchswis-

2

Die Kettenvertragsregelung ist im österreichischen Universitätsgesetz (UG 2002, §109) festgeschrieben und besagt, dass befristet beschäftigte ArbeitnehmerInnen nicht länger als sechs Jahre (bzw. maximal acht Jahre bei Teilzeitanstellung) in derselben Verwendungsgruppe verbleiben dürfen.

3

Eine Ausnahme stellen Laufbahnstellen für NachwuchswissenschaftlerInnen dar: werden die damit verbundenen Qualifizierungsvereinbarungen durch den/die wissenschaftliche MitarbeiterIn innerhalb des vereinbarten Zeitrahmens erfüllt, geht dies zumeist mit einer Entfristung des Arbeitsvertrags einher.

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senschaftlerInnen besetzt. Dadurch sind zwar mehr bezahlte Arbeitsplätze im Wissenschaftsfeld entstanden – derzeit arbeiten mehr junge Menschen denn je an Österreichs Universitäten (BMWFW 2016a) – allerdings hat die Anzahl an weiterführenden Stellen nicht im selben Verhältnis zugenommen, sodass sich der Wettkampf um die wenigen unbefristeten Positionen weiter verschärft hat (siehe auch Hakala 2009; Ylijoki 2010). Dies führt dazu, dass „Karrieren in der Wissenschaft […] in hohem Maß von Unsicherheit geprägt [sind]“ (Beaufaÿs/Engels/Kahlert 2012, S. 7) und dass sich viele talentierte NachwuchswissenschaftlerInnen gegen eine universitäre Laufbahn entscheiden (Fritsch 2014; Langenberg 2001). „[Most junior researchers did] not wish to leave academia […] – but they felt forced to do it“ (Hakala 2009: 187). Bourdieu (1992) beschreibt, dass unsichere Bedingungen unter neu ins System Eintretenden dazu beitragen, die bestehende Machtordnung an den Hochschulen aufrecht zu erhalten: „Dieser Kampf aller gegen alle birgt nun freilich alles andere als die Gefahr einer permanenten Revolution in sich; vielmehr trägt er – vom permanenten Wettbewerb zwischen den einmal in den Wettlauf eingetretenen Protagonisten mit der erforderlichen (und dann durch das Rennen auch immer wieder gestärkten) Wettkampfeinstellung gestiftet – kraft seiner Logik gerade zur Reproduktion der Ordnung als System zeitlicher Abstände bei: zum einen, weil die Tatsache des Mitlaufens selbst schon die Anerkennung dessen voraussetzt und hervorruft, worum es beim Rennen geht; zum anderen, weil die eigentliche Konkurrenz in jedem Augenblick auf die Mitläufer beschränkt ist, die sich auf etwa gleicher Höhe befinden, und Schiedsrichter die jeweils davorliegenden sind.“ (Bourdieu 1992, S. 154)

Dieser Wettkampf im unsicheren Wissenschaftsfeld beeinflusst die Lebensgestaltung und das Wohlbefinden von NachwuchswissenschaftlerInnen (vgl. Boswell/Olson‐Buchanan/Harris 2014; Vostal 2015), wobei Frauen eine höhere Karriereunsicherheit aufweisen als ihre männlichen Kollegen (Höge et al. 2012). Die AutorInnen erklären diesen Unterschied einerseits dadurch, dass Frauen in Fachdisziplinen zahlenmäßig unterrepräsentiert sind, die objektiv mehr Karrieresicherheit bieten (z.B. Ingenieurwissenschaften), andererseits würden Frauen ihre Chancen am Arbeitsmarkt im Vergleich zu Männern subjektiv schlechter einschätzen, sodass sie unsichere Karrierebedingungen stärker belasten. Die unterschiedlichen Vertrags- und damit einhergehenden Arbeits- und Lebensbedingungen von etablierten WissenschaftlerInnen und jenen Frauen und Männern, die sich erst im Feld behaupten müssen, sind bei der folgenden Diskussion von WLB im Wissenschaftsfeld stets mit zu bedenken.

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4. Z EITLICHE V ERFÜGBARKEITSERWARTUNGEN „Wer in der Wissenschaft die Stunden zählt, dem kann […] schnell unterstellt werden, es mangele ihr oder ihm an innerer Leidenschaft und möglicherweise grundlegend an Befähigung.“ BEAUFAŸS (2006: 11)

Zeit gilt in der Wissenschaft – so wie in anderen Bereichen – als knappe und entscheidende Ressource im Kampf um begehrte Positionen (Bourdieu 1992). Für die alltägliche Lebensgestaltung von WissenschaftlerInnen gilt das Ideal, möglichst viele Stunden in die Forschungsarbeit zu investieren. „The long hours culture […] can become an internalized drive: people can continue to work longer hours than they actually want or prefer and generate a form of „constrained autonomy“ (Perrons/Fagan/McDowell/Ward 2005: 56). Ein hohes „freiwilliges“ Zeitinvestment zeigt sich im Phänomen, dass Überstunden im universitären Wissenschaftsfeld in der Regel nicht durch Zeitausgleich oder durch finanzielle Entschädigung ausgeglichen werden (vgl. Ackers 2007). Das lässt sich dadurch erklären, dass WissenschaftlerInnen durchaus auch aus Eigeninteresse Mehrarbeit leisten: einerseits arbeiten viele WissenschaftlerInnen intrinsisch motiviert aus Neugierde und Freude mehr als vertraglich vereinbart. Andererseits dient Mehrarbeit der Akkumulation von wissenschaftlichem und universitärem Kapital, welches die Chancen auf einen Verbleib im Wissenschaftsfeld im Vergleich zu KonkurrentInnen stark erhöht (vgl. Albrecht 2004). Das hohe Zeitinvestment dient somit verschiedensten Zwecken: z.B. dem Ausleben der eigenen Passion zur Wissenschaft, der Erfüllung normativer Erwartungen, der Erhöhung der eigenen Karrierechancen im Feld, dem Einhalten einer Deadline für das Einreichen einer wissenschaftlichen Arbeit usw. Diese Motive sind im wissenschaftlichen Arbeitsalltag miteinander vermengt und führen zu stillschweigendem Einvernehmen darüber, dass Überstunden nicht durch klassische Formen, wie Auszahlung oder Zeitausgleich, abgegolten werden. Personen, die aufgrund von Verpflichtungen oder Interessen, die außerhalb der Wissenschaft liegen, keine Überstunden leisten können oder wollen, haben geringere Chancen auf die Akkumulation von wissenschaftlichem und universitärem Kapital. Außerdem kann die Priorisierung privater Belange schnell als Symbol für Desinteresse und Disengagement gewertet werden. Zeitliche Einschränkungen betreffen nicht ausschließlich, aber immer noch verstärkt Frauen, sodass sie durch die Forderung des (freiwilligen) hohen Zeitin-

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vestments stärker von Exklusion betroffen sind (vgl. auch Hofbauer 2006; Rafnsdóttir/Heijstra 2013). Eine Befragung von NachwuchswissenschaftlerInnen an einer österreichischen Universität ergab, dass die Vorstellung, eine Wissenschaftskarriere sei nur durch immenses Zeitinvestment zu erreichen, den Wunsch von Nachwuchswissenschaftlerinnen reduziert, langfristig in der Wissenschaft zu bleiben (Weiss/Ortlieb 2013). Nicht nur für die alltägliche Arbeitsgestaltung, sondern auch für die Wissenschaftslaufbahn, gelten hohe zeitliche Verfügbarkeitserwartungen. Für wissenschaftliche Lebens- und Karriereverläufe gilt das Ideal der „lückenlosen ForscherInnenbiographie“ (Beaufaÿs 2006) – sofern die Lücke nicht durch eine forschungsrelevante Aktivität verursacht wird, wie z.B. einen ForschungsAuslandsaufenthalt. Lücken, die aufgrund zeitweiliger Priorisierung anderer Lebensbereiche außerhalb der Forschung bedingt sind – wie z.B. Elternkarenz oder auch Zeiten der Erwerbsarbeit außerhalb der Wissenschaft – gelten als Zeichen für schwaches Engagement und geringes Interesse an der Wissenschaft (vgl. Paulitz/Goisauf/Zapusek 2015). Weibliche Erwerbsbiographien weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit für Unterbrechungen aus privaten Gründen auf, die noch dazu häufig in karriererelevanten Phasen stattfinden.

5. E NTGRENZUNG

ALS I DEAL „In this sense the cultural imperative of total commitment can be seen as a masculine norm, relying on a hidden assumption that there are others who take care of the private sphere of life.“ YLIJOKI (2013: 249)

Erwartungen an die zeitliche Verfügbarkeit im Wissenschaftsfeld sind tief verwoben mit dem bereits vor 100 Jahren durch Max Weber beschriebenen Idealbild des zur Wissenschaft Berufenen, der sich mit voller Leidenschaft ganz seinem Forschungsleben hingibt (Weber 1992 [1917]). Das Gefühl der Berufung zur Wissenschaft und die Freude, die mit der wissenschaftlichen Arbeit verbunden ist, tragen wesentlich zu einer zufriedenstellenden WLB bei (vgl. Lichtenberger-Fenz/Ingrisch 2009; Weiss/Ortlieb 2013). Dies ist aber nur eine Seite der Medaille. Das (männliche) Idealbild des entgrenzt lebenden Wissenschaftlers ist eines, das „Wissenschaft als Lebensform“ begreift und demnach nicht vorsieht „neben der Wissenschaft noch Anderes zu betreiben, sondern das Leben aus-

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schließlich der Wissenschaft zu widmen“ (Paulitz et al. 2015: 141). Diese Auffassung von Entgrenzung vernachlässigt Bedürfnisse, Verpflichtungen oder Aspirationen außerhalb der Wissenschaft bzw. geht davon aus, dass diese den beruflichen Verpflichtungen unterzuordnen sind (Acker/Armenti 2004; Beaufaÿs 2006; Nikunen 2012). Universitäten werden in diesem Zusammenhang auch als „greedy institutions“ beschrieben, die von den MitarbeiterInnen erwarten, im Zentrum ihrer Lebenspläne zu stehen und kaum Platz für andere Lebensbereiche lassen (Currie/Harris/Thiele 2000; Sullivan 2014). Jene WissenschaftlerInnen, die sich den ungeschriebenen Normen dieses entgrenzten Zeitkanons unterwerfen, können sich im universitären Wissenschaftsfeld erfolgreicher durchsetzen und halten durch ihr „grenzenloses“ Engagement die vorherrschenden Machtstrukturen weiter aufrecht (Buchinger/Gödl/Gschwandtner 2002). Dadurch werden verstärkt Frauen, aber auch andere Personen, die diesen zeitlichen Anforderungen nicht entsprechen können oder wollen, ausgeschlossen (Pellert 2006). Barnes, Agago und Coombs (1998: 466) untersuchten die Auswirkungen zeitlicher Verfügbarkeitserwartungen auf die Absicht, eine Wissenschaftskarriere abzubrechen. Sie kamen zu dem Schluss, dass „a sense of the job having taken over one’s personal life“ ein Hauptgrund dafür ist, dass Frauen und Männer sich gegen eine Wissenschaftskarriere entscheiden. Entgrenzung als Charakteristikum der wissenschaftlichen Arbeit wird nicht nur durch Leitbilder bestimmt, sondern auch durch die zunehmende Bedeutung moderner Kommunikationsmedien. Diese erhöhen die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen verschiedenen Lebensbereichen: Privates kann leichter zum Arbeitsplatz mitgenommen werden und Berufliches kann eher in andere Lebensbereiche dringen. Die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Sphären kann konzeptionell auf einem Kontinuum zwischen völliger Trennung (Segmentation) und völliger Überlappung (Integration) angesiedelt werden (Nippert-Eng 1996). Während dem Konzept der Integration die Vorstellung zugrunde liegt, dass verschiedene Lebensbereiche gleichberechtigt organisiert sind – mit Abstrichen und Kompromissen in mehreren Lebenssphären – stellt Entgrenzung als Lebensführung die Erwerbsarbeit in den Mittelpunkt und alle anderen Lebensbereiche werden dieser Domäne untergeordnet (Hoff 2006). Empirische Befunde weisen darauf hin, dass eine unscharfe Grenzziehung zwischen beruflichen und privaten Lebensbereichen kombiniert mit wenigen Möglichkeiten der Distanzierung zur Arbeitswelt sich negativ auf das Wohlbefinden und das Arbeitsengagement von Beschäftigten auswirken (z.B. Sonnentag/Binnewies/Mojza 2010).

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6. B ESCHLEUNIGUNG UND GESTIEGENE ARBEITSINTENSITÄT „[W]hat was once done in a month is now done in a day.“ ZITAT EINES PROFESSORS, YLIJOKI (2013: 246)

An der „high speed university“ (Ylijoki 2013) ist in den vergangenen Jahren eine Beschleunigung der wissenschaftlichen Arbeit zu beobachten (siehe auch Müller 2014; Thomas/Davies 2002). Moderne Kommunikationsmedien erlauben den zeitnahen Zugang zu rasant ansteigenden Informationsmengen. Zudem wurden seit dem Wandel hin zur „unternehmerischen Universität“ Leistungsindikatoren eingeführt mit dem Ziel einer objektiven und transparenten Leistungsbeurteilung. Die wissenschaftliche Arbeit per se steht zunehmend unter dem Zwang, effizient zu sein und zählbare „Produkte“ hervorzubringen, die auch extern bewertbar sind (vgl. Hakala 2009: 176). Einerseits können Leistungsindikatoren als Instrumente der Gleichstellung bei der Stellenvergabe dienen und den Einfluss von sozialen Beziehungen oder des von Weber beschriebenen „wilden Hazards“ (Weber 1992) auf die Wissenschaftslaufbahn reduzieren. Andererseits beruhen die vorherrschenden Leistungsindikatoren auf männlich geprägten Vorstellungen von Berufs- und Laufbahnmodellen und tragen hiermit weiterhin zu einer Verfestigung des männlich geprägten Leitbildes an den Universitäten bei (Beaufaÿs 2006; Fotaki 2013; Van den Brink/Benschop 2012b). Thomas und Davies (2002) kommen in einer Studie zur Auswirkung des New Public Managements auf die Karrierechancen von Frauen an britischen Universitäten zu dem Schluss „that the central tenets of these university organizations remain highly masculinist, with asymmetrical gender power relations“ (ebd.: 390). Vermeintlich neutrale und objektive Leistungskriterien sichern demnach nicht unbedingt Chancengleichheit, sondern sie können Ungleichheiten sogar weiter legitimieren (vgl. Nikunen 2014). Wissenschaftliches Arbeiten folgt zunehmend einer Projektlogik, was sich auch in der großen Zahl an Drittmittelstellen widerspiegelt (Ylijoki 2013). Derzeit wird fast ein Viertel der wissenschaftlichen Stellen an Österreichs Universitäten extern über Drittmittel finanziert (BMWFW 2016b). Projektarbeit ist gekennzeichnet durch das Einhalten vorab klar definierter Ziele, die in einem vorgegebenen Zeitraum zu erfüllen sind. Der damit einhergehende Zeitdruck kann zu erhöhtem Stress in der alltäglichen Arbeits- und Lebensgestaltung führen und auch Einfluss auf die längerfristige private Lebensplanung von WissenschaftlerInnen nehmen.

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Beschleunigung betrifft auch Vorstellungen von akademischen Lebensläufen: möglichst schnell die wissenschaftliche Karriereleiter emporzuklettern gilt als Zeichen von Talent und hoher Einsatzbereitschaft. „Inzwischen wird davon ausgegangen, dass die wichtigsten Barrieren für wissenschaftliche Karrieren von Frauen in vergeschlechtlichen, aber als geschlechtsneutral wahrgenommenen und dargestellten Arbeitskulturen, Laufbahnmodellen und Leistungsprofilen liegen, die allgemeinverbindlich und alternativlos gelten“ (Beaufaÿs 2012: 91).

7. ANFORDERUNGEN

AN DIE GEOGRAPHISCHE

M OBILITÄT

Eine weitere Herausforderung für die Koordination verschiedener Lebensbereiche stellen geographische Mobilitätsanforderungen dar, die im Wissenschaftsfeld an Bedeutung gewinnen (Leemann/Boes 2012). Geographische Mobilität gehört mittlerweile zum Selbstverständnis von WissenschaftlerInnen und ist nicht nur allgemein karrierefördernd, sondern erhöht auch schlichtweg die Anzahl der potentiellen Anschlusspositionen nach Ablaufen eines befristeten Arbeitsverhältnisses. Dadurch verringert eine hohe Mobilitätsbereitschaft auch die subjektiv wahrgenommene Karriereunsicherheit (Ortlieb/Weiss 2016). Weitere Argumente sprechen für die Mobilität von WissenschaftlerInnen, z.B. Horizonterweiterung, internationaler Austausch von Ideen, Forschungskooperationen usw. Doch es kann davon ausgegangen werden, dass der zunehmend institutionalisierte Mobilitätsimperativ jene NachwuchswissenschaftlerInnen längerfristig aus dem universitären Wissenschaftsfeld ausschließt, die nicht mobil sein können oder wollen. Für manche WissenschaftlerInnen ist der Preis, den sie für die geographische Mobilität mit Einschränkungen und Entbehrungen im Privatleben bezahlen müssten, eine unüberwindbare Barriere für eine Wissenschaftskarriere – dies betrifft im Besonderen Personen mit Betreuungspflichten und wiederum Frauen durchschnittlich stärker als Männer (Kulis/Sicotte 2002; McBrier 2003; Nikunen 2014). Leemann und Boes (2012) zeigen in einer Studie, dass „die gestiegenen Anforderungen an Mobilität und Internationalität zu neuen Hürden bei der Gestaltung wissenschaftlicher Laufbahnen führen, die für Frauen höher sind als für Männer“ (ebd.: 198). In Zeiten, in denen moderne Kommunikationsmedien alternative Wege der ortsunabhängigen (internationalen) Zusammenarbeit ermöglichen, könnte der Stellenwert der geographischen Mobilität als unbedingte Voraussetzung für eine Wissenschaftskarriere durchaus hinterfragt werden. Insbesondere dann, wenn dadurch motivierte und talentierte NachwuchswissenschaftlerInnen von einer Wissenschaftskarriere abgehalten bzw. ausgeschlossen werden.

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8. S CHLUSSFOLGERUNGEN

UND

AUSBLICK

Hohe zeitliche Verfügbarkeitserwartungen, das Ideal der entgrenzten Lebensführung und Mobilitätsanforderungen in einem Arbeitsfeld, das durch Beschleunigung und Karriereunsicherheit gekennzeichnet ist, stellen Herausforderungen für die Koordination und Integration beruflicher und privater Lebensbereiche für WissenschaftlerInnen dar. Jene, die den vorherrschenden Leitbildern nicht genügen (können oder wollen), sind einem höheren Risiko ausgesetzt, aus dem Feld ausgeschlossen zu werden. Nachdem die beschriebenen Idealbilder vergeschlechtlicht sind (Paulitz et al. 2015) und implizit von entgrenzt lebenden, sich vollkommen der Wissenschaft hingebenden WissenschaftlerInnen ausgehen, sind Frauen stärker von Ausschließung aus dem Wissenschaftsfeld betroffen als Männer (Beaufaÿs 2006). Trotz der aufgezeigten Herausforderungen scheinen akademische Karrieren derzeit für junge Frauen und Männer sehr attraktiv zu sein. Noch nie waren so viele junge WissenschaftlerInnen an Österreichs Universitäten angestellt. Nach wie vor bietet die wissenschaftliche Arbeit ein hohes Maß an Autonomie, Arbeitszeitflexibilität, Weiterentwicklungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten und auch wenn Universitäten zunehmend „unternehmerisch“ funktionieren, ermöglichen sie häufig mehr Freiräume für die Gestaltung von Berufs- und Privatleben als manch andere Organisationen, die dem direkten Druck des Marktes viel stärker unterworfen sind. Außerdem sind die tatsächlichen Arbeits- und Lebensweisen von WissenschaftlerInnen vielfältiger als die vorherrschenden Leitbilder und Diskurse es vermuten lassen (vgl. Paulitz et al. 2015). Mit dem Ziel, die besten Arbeitskräfte anzuziehen und zu halten, bieten Universitäten zunehmend Unterstützungsangebote, die eine Integration und Koordination unterschiedlicher Lebensbereiche erleichtern und somit das wissenschaftliche Arbeiten attraktiver machen sollen, beispielsweise durch uniinterne Kinderbetreuungseinrichtungen, durch die Vermittlung von Hilfen bei der Pflege betreuungsbedürftiger Personen oder durch Betriebsvereinbarungen, die auch Vätern mehr Möglichkeiten bieten, sich um Kinderbetreuung zu kümmern. Nur die wenigsten Menschen, die sich für die wissenschaftliche Arbeit interessieren, tun dies ausschließlich aus monetären Gründen; die meisten haben große Freude an der wissenschaftlichen Arbeit und wünschen sich längerfristig in der Wissenschaft zu bleiben (vgl. Weiss/Ortlieb 2013). Dennoch oder genau deswegen sollte es langfristig ein Anliegen der Universitäten sein, NachwuchswissenschaftlerInnen mehr Karriereperspektiven und -sicherheiten zu bieten, denn „[t]he lack of security, […] and poor career prospects cannot be substituted by satisfaction provided by the work itself (Hakala 2009: 187).

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Neue Beschäftigungsformen in Europa I RENE M ANDL

1. E INLEITUNG Wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Entwicklungen führen europaweit zum Entstehen neuer Beschäftigungsformen, die von den traditionellen Modellen am Arbeitsmarkt abweichen. Da bislang jedoch wenig Informationen über die Charakteristika dieser neuen Beschäftigungsformen, sowie über deren Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und den Arbeitsmarkt, vorliegen, führte die Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) eine Studie durch, deren Zielsetzung eine erste Bestandsaufnahme der Arbeitsmarkttrends in Europa war. Dafür wurde in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und Norwegen erhoben, welche neue Entwicklungen aus nationaler Sicht seit etwa 2000 zu beobachten sind. Als „neue Beschäftigungsform“ wurden Beschäftigungsverhältnisse verstanden, die einer oder mehrerer der folgenden Kategorien zuzurechnen sind: • Beziehungen zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen, die von der tra• • • •

ditionellen 1:1 Beziehung abweichen; Arbeit auf diskontinuierlicher Basis oder für sehr kurzfristige Zeiträume; Unkonventionelle Arbeitsplätze; Starke Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien; Zusammenarbeit zwischen Selbstständigen, die über die Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungskette hinausgeht.

Die berücksichtigten Beschäftigungsformen können entweder in der Gesamtwirtschaft/am gesamten Arbeitsmarkt Anwendung finden oder lediglich in ausgewählten Sektoren oder Berufen. Des Weiteren wurden sowohl Beschäftigungsformen berücksichtigt, die auf einer spezifischen arbeits- oder zivilrechtlichen

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Regelung beruhen, als auch solche, die auf Grund von allgemeinen Regelungen Anwendung finden oder bislang überhaupt nicht in besonderer Form rechtlich gestützt sind. Basierend auf dieser Arbeitsdefinition konnten neun neue Beschäftigungsformen in Europa identifiziert werden (Eurofound 2015). Einige dieser neuen Beschäftigungsformen sind ausschließlich für ArbeitnehmerInnen relevant, andere ausschließlich für Selbstständige, und eine dritte Gruppe findet für beide Anwendung. Manche der neuen Trends beziehen sich auf unkonventionelle Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten, andere auf neuartige Arbeitsorganisation/Arbeitsprozesse, und eine dritte Gruppe ist durch Elemente von beidem charakterisiert. Die neun identifizierten neuen Beschäftigungsformen schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus – ein konkretes Arbeitsverhältnis kann mitunter gleichzeitig mehreren der neuen Beschäftigungsformen zugerechnet werden. Abbildung 1: Identifizierte neue Beschäftigungsformen in Europa

Quelle: Eurofound, 2015.

N EUE B ESCHÄFTIGUNGSFORMEN

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2. M ITARBEITER - SHARING Beim Mitarbeiter-sharing (in Österreich: Arbeitgeberzusammenschlüsse) rekrutierte eine Gruppe von Arbeitgebern gemeinsam ArbeitnehmerInnen, die wiederholt bzw. regelmäßig zu einzelnen Arbeitseinsätzen in die teilnehmenden Unternehmen entsandt werden. Es wird eine eigenständige Rechtspersönlichkeit (der Arbeitgeberzusammenschluss) gebildet, an dem alle teilnehmenden Betriebe beteiligt sind und die der formale Arbeitgeber der MitarbeiterInnen wird und die Koordination des Personaleinsatzes zwischen den teilnehmenden Unternehmen koordiniert. Das Modell ist der Leiharbeit ähnlich, unterscheidet sich jedoch dadurch, dass die ArbeitnehmerInnen ausschließlich in den teilnehmenden Betrieben arbeiten, die Entsendung der ArbeitnehmerInnen nicht auf die Erwirtschaftung eines Gewinnes ausgerichtet ist, und die teilnehmenden Betriebe eine gemeinsame Verantwortung gegenüber den MitarbeiterInnen haben. Mitarbeiter-sharing kann als Instrument des kooperativen Personalmanagements verstanden werden, das es Unternehmen ermöglicht, ihren flexiblen (aber gut planbaren) Personalbedarf zu decken, während stabile und sichere Beschäftigungsverhältnisse für die ArbeitnehmerInnen geschaffen werden (Europäisches Ressourcenzentrum der Arbeitgeberzusammenschlüsse, 2008; Wölfing et al, 2007; Osthoff et al, 2011; Baumfeld und Fischer, 2012; Baumfeld, 2012). Wölfing et al (2007) führen die folgenden Personalbedarfe an, die sich gut für den Einsatz von Mitarbeiter-sharing eignen: • Saisonale Tätigkeiten, die mit antizyklischen Tätigkeiten in anderen Sektoren

kombiniert werden; • Teilzeitstellen in verschiedenen Unternehmen, deren Ausmaß und Lage der

Arbeitszeit miteinander kombiniert werden können; • Qualifizierte Tätigkeiten, für die insbesondere kleine und mittlere Unterneh-

men Bedarf haben, jedoch nicht in Vollzeitausmaß (z.B. IT-Spezialist, Marketing-Spezialist); • Tätigkeiten, die zur Weiterentwicklung des Unternehmens beitragen sollen, für die aber während der normalen Geschäftstätigkeit kaum Ressourcen zur Verfügung stehen (z.B. Entwicklung neuer Produkte oder Märkte). Mitarbeiter-sharing trägt zur Arbeitsmarktstabilität bei, da Unternehmen ihren flexiblen Personalbedarf decken können, während gleichzeitig permanente Vollzeitstellen geschaffen werden (Antoine/Rorive 2006; Vötsch/Titz 2011, Delalande/Buannic 2006). Den „geteilten“ MitarbeiterInnen werden die gleichen Arbeitsbedingungen garantiert wie der Kernbelegschaft der teilnehmenden Be-

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triebe, und durch die unterschiedlichen Arbeitsaufgaben in den verschiedenen Unternehmen kann es zur Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten kommen, wodurch die Beschäftigungsfähigkeit gefördert wird (Antoine/Rorive 2006; Hertwig/Kirsch 2013; Vötsch/Titz 2011). Gleichzeitig kann der regelmäßige Wechsel zwischen den Arbeitsplätzen dazu führen, dass die MitarbeiterInnen nicht umfassend in die betriebliche Arbeitsorganisation eingebunden sind, und die Notwendigkeit, sich wiederholt an andere Arbeitsweisen, Vorgesetzte und Teams anzupassen, kann zu erhöhtem Stress und Arbeitsintensität führen.

3. J OB SHARING Beim Job sharing rekrutiert ein Arbeitgeber mehrere (i.d.R. zwei) ArbeitnehmerInnen für eine einzelne Vollzeitstelle. Es handelt sich um eine Art der Teilzeitbeschäftigung, die sicherstellen soll, dass die Arbeitsstelle kontinuierlich besetzt ist. Dies bedingt, dass die Position in vernünftiger Weise auf verschiedene MitarbeiterInnen aufgeteilt werden kann. In manchen Ländern haben die Job sharer jeweils separate Arbeitsverträge, in anderen Ländern kommt ein gemeinsamer Arbeitsvertrag für die ArbeitnehmerInnen zur Anwendung (Eurofound 2009). Manche Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben eine spezifische Rechtsgrundlage entwickelt, die die Rechte und Pflichten von Arbeitergebern und ArbeitneherInnen im Fall von Job sharing festlegen; in anderen werden die Regelungen bezüglich Teilzeitarbeit angewandt. Unabhängig davon, ob es eine spezifische Rechtsgrundlage gibt oder nicht, ist die Ausgestaltung des Job sharings Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen überlassen. Dies beinhaltet die Wahl der Vertragsart (befristet vs. unbefristet), das Ausmaß der Arbeitsstunden der beteiligten MitarbeiterInnen und die Arbeitsorganisation. In manchen Fällen wird Job sharing so ausgestaltet, dass die beteiligten ArbeitnehmerInnen komplementäre Fähigkeiten haben und unterschiedliche Tätigkeiten ausführen, die gemeinsam die Abdeckung aller Arbeitsaufgaben der Position erfüllen (Dubourg et al 2006). In anderen Fällen erledigen die Job sharer die gleichen Tätigkeiten und teilen sich lediglich die Gesamtarbeitszeit (Hajn 2003; Stowarzyszenie na Rzecz Rozwoju Rynku Pracy STOS 2007). Des Weiteren variiert die Autonomie der Arbeitsteilung: Während manchmal der/die Vorgesetzte genau festlegt, wer welche Tätigkeit wann ausführen soll, wird in anderen Fällen die gesamte Aufgabe den Job sharern übergeben und ihnen überlassen, wie sie die Arbeitsteilung unter sich regeln.

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Ein bedeutender Unterschied zur traditionellen Teilzeitarbeit ist, dass eine gemeinsame Verantwortung der Job sharer für die Erledigung der Gesamtaufgaben der Position verlangt wird. Dies kann z.B. dazu führen, dass ein Job sharer kurzfristig einspringen muss, wenn der andere Job sharer erkrankt, und es nicht (mehr) die Aufgabe des Arbeitgebers ist, für eine Besetzung der Stelle zu sorgen. Dementsprechend ist es für die erfolgreiche Anwendung von Job sharing wichtig, dass die Job sharer ein gutes Verhältnis zueinander haben, dass ein extensiver und kontinuierlicher Kommunikationsfluss etabliert wird und dass vorab geregelt wird, wie die Arbeitsaufgaben von einem/einer an den/die andere/n übergeben werden (Dubourg et al 2006). Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht kann Job sharing positiv zur Arbeitsmarktintegration jener beitragen, die aus diversen Gründen keine Vollzeitbeschäftigung eingehen können oder wollen. Des Weiteren kann es als generationenübergreifendes Instrument eingesetzt werden, z.B. wenn ältere MitarbeiterInnen im Rahmen eines Job sharing Modells ihre künftigen NachfolgerInnen über einen längeren Zeitraum hinweg schulen.

4. I NTERIMSMANAGEMENT Beim Interimsmanagement werden ArbeitnehmerInnen – ähnlich wie bei der Leiharbeit – an andere Betriebe überlassen, allerdings wird der Empfängerbetrieb der formale Arbeitgeber. Es handelt sich um befristete Beschäftigungsverhältnisse (allerdings bis zu einigen Jahren) für SpezialistInnen, die eine bestimmte Aufgabe im Unternehmen erfüllen sollen (z.B. die Lösung einer Unternehmenskrise, die Entwicklung von Produkten oder Märkten, das Füllen einer unternehmenskritischen Position bis ein/e neue/r MitarbeiterIn rekrutiert werden kann). InterimsmanagerInnen werden fast umfassend in die Unternehmensorganisation eingebunden (haben somit fast die gleichen Weisungsbefugnisse die „normale“ ManagerInnen im Betrieb), sollen jedoch wie externe UnternehmensberaterInnen ihr Expertenwissen einbringen (Bruns/Kabst 2005; Inkson et al 2001; Isidor et al 2014; Russam GMS 2012). Auf Grund der Befristung des Arbeitsverhältnisses ist Interimsmanagement durch Beschäftigungsunsicherheit geprägt (Jas 2013). Dies wird jedoch durch ein höheres Einkommen kompensiert (Inkson et al 2001). Interimsmanager profitieren von einem großen Ausmaß an Autonomie und Flexibilität (inkl. Zeit und Ort der Arbeitsverrichtung) (Inkson et al 2001; Pollit 2008). Gleichzeitig sind sie jedoch mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich schnell an neue Arbeitssituatio-

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nen und -organisationen anzupassen und mit professioneller Isolation im Unternehmen umzugehen.

5. G ELEGENHEITSBESCHÄFTIGUNG Bei der Gelegenheitsbeschäftigung ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, die ArbeitnehmerInnen regelmäßig und kontinuierlich mit Arbeit zu versorgen, sondern kann sie flexibel zur Erbringung der Arbeitsleistung einberufen. Im Allgemeinen rekrutiert der Arbeitgeber einen Pool von ArbeitnehmerInnen, die kontaktiert werden, sobald spezifischer Personalbedarf entsteht. Die Benachrichtigung der ArbeitnehmerInnen kann dabei mitunter sehr kurzfristig erfolgen, die MitarbeiterInnen haben jedoch die Möglichkeit, ein bestimmtes Arbeitsangebot abzulehnen (der Arbeitgeber kontaktiert dann den nächsten Kandidaten). Eurofound (2015) unterscheidet zwei Arten der Gelegenheitsbeschäftigung: • Sporadische Arbeit: Der Arbeitgeber tritt an ArbeitnehmerInnen zur Erfüllung

einer bestimmten Aufgabe (vielfach projektbezogen oder für saisonale Tätigkeiten) heran und bietet ihnen ein befristetes Arbeitsverhältnis. Um zu verhindern, dass durch die Anwendung von sporadischer Arbeit Arbeitnehmerrechte umgangen werden, legen einige der diese Beschäftigungsform regelnden rechtlichen Rahmenbedingungen ein maximales Ausmaß (z.B. Tage pro Jahr) fest oder machen sie lediglich für ausgewählte Sektoren oder Tätigkeiten zugänglich. • Bei der Arbeit auf Abruf besteht in den meisten Fällen zwar ein kontinuierliches und unbefristetes Arbeitsverhältnis, aber der Arbeitgeber bestellt die MitarbeiterInnen nur dann, wenn tatsächlich Arbeit zu erledigen ist. In manchen Ländern müssen die Arbeitsverträge eine Mindest- und Maximalstundenzahl festlegen, während in anderen Ländern „Zero-Hours-Verträge“ möglich sind, bei denen der Arbeitgeber überhaupt nicht verpflichtet ist, die MitarbeiterInnen je mit Arbeit zu beauftragen. Im Gegensatz zur sporadischen Arbeit führen die meisten analysierten nationalen Regelungen zur Arbeit auf Abruf keine Beschränkung der Anwendbarkeit an und selten wird den ArbeitnehmerInnen ein Einkommen für die inaktive/Wartezeit garantiert. Gelegenheitsbeschäftigung findet in erster Linie in saisonalen Sektoren und jenen mit stark schwankendem und langfristig schwer zu planendem Personalbedarf (z.B. Gesundheitswesen, Pflegebereich) Anwendung (IFAU 2001; ISTAT 2010; Walsh 2013; Pennycook et al 2013; De Graaf-Zijl 2012). In den meisten

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Fällen handelt es sich um unqualifizierte Tätigkeiten (ISTAT 2010; Eurofound 2010), die von jungen ArbeitnehmerInnen mit niedrigem Bildungsniveau, vielfach Frauen, ausgeführt werden (IFAU 2001; Mandrone/Radicchia 2010; De Graaf-Zijl 2012; Pennycook et al 2013). Während Gelegenheitsbeschäftigung in einem hohen Ausmaß an Flexibilität für die Arbeitgeber resultiert, führt es für die ArbeitnehmerInnen zu Unsicherheit. In vielen Fällen werden sie nur sporadisch und in geringem Ausmaß mit Arbeit versorgt, und es ist für sie selten längerfristig planbar, wann sie das nächste Mal arbeiten. Diese Situation ist mit geringem und instabilem Einkommen und sozialem Schutz, Prekarität, geringer Autonomie, eingeschränktem Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen, schlechter Work-Life-Balance und geringer Arbeitszufriedenheit verbunden (ILO 2004; Layte et al 2008; Pennycook et al 2013; IFAU 2001).

6. IKT- GESTÜTZTE

MOBILE

T ÄTIGKEITEN

IKT-gestützte mobile Tätigkeiten werden zumindest teilweise, aber regelmäßig, außerhalb der Räumlichkeiten des Arbeitgebers oder Kunden1 durchgeführt, indem durch die intensive Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf das Computer-/Datensystem des Unternehmens zugegriffen wird (Andriessen/Vartiainen 2006; Europäische Kommission 2010; Eurofound 2012; Corso et al 2006). Die Arbeit wird zu jenem Zeitpunkt und von jenem Ort aus erledigt, die der Tätigkeit, der Anforderung des Arbeitgebers/Kunden und den Präferenzen der ArbeitnehmerInnen entspricht und ist somit mobiler als Telearbeit. Im Allgemeinen werden IKT-gestützte mobile Tätigkeiten von ArbeitnehmerInnen auf der Basis von unbefristeten Vollzeitstandardarbeitsverträgen durchgeführt, vielfach auf Wunsch der MitarbeiterInnen, um eine bessere Work-LifeBalance zu erzielen. Die Implementierung und Anwendung erfolgt informell, in bilateraler Absprache zwischen Arbeitgeber und ArbeitnehmerIn – nicht zuletzt, da es europaweit kaum spezifische rechtliche Regelungen für diese Beschäftigungsform gibt. Wenngleich davon ausgegangen werden kann, dass zumindest Teile der meisten Berufe IKT-gestützt mobil erledigt werden können, müssen bestimmte Voraussetzungen vor der Nutzung dieser Beschäftigungsform berücksichtigt werden:

1

Diese Beschäftigungsform wird sowohl von ArbeitnehmerInnen als auch von Selbstständigen angewandt.

230 | I RENE M ANDL • Die Arbeit kann unabhängig vom Unternehmensstandort oder einem anderen

bestimmten Arbeitsplatz erledigt werden. • Es muss den ArbeitnehmerInnen technisch ermöglicht werden, ihre Aufgaben

orts- und zeitunabhängig zu erfüllen. • Kommunikations- und Informationsprozesse müssen angepasst werden. • Die Unternehmenskultur bedarf eines ausreichenden Niveaus an gegenseiti-

gem Vertrauen zwischen Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen. • Die ArbeitnehmerInnen müssen fähig sein, ihre Arbeit selbst zu organisieren. MitarbeiterInnen, die IKT-gestützt mobil arbeiten, sind meistens männlich, höher qualifiziert und jung. Sie profitieren von einem höheren Ausmaß an Autonomie und Flexibilität, was im Allgemeinen zu höherer Arbeitszufriedenheit führt. Beides kann allerdings in konkreten Fällen auch negative Auswirkungen haben, da die Informations- und Kommunikationstechnologien dem Arbeitgeber gegebenenfalls die Möglichkeit bieten, zu kontrollieren, wo, woran und wann die ArbeitnehmerInnen arbeiten. In Bezug auf die Arbeitszeit kann die tatsächlich oder wahrgenommen erwartete 24/7 Verfügbarkeit zu Überstunden, höherer Arbeitsintensität und schlechterer Work-Life-Balance führen (Maschke et al 2014; Europäische Kommission 2010; Popma 2013; Unionen 2013). Durch ihre häufige Abwesenheit vom Arbeitsplatz kann es vorkommen, dass mobile MitarbeiterInnen von professioneller und sozialer Isolation betroffen und nicht umfassend in die Arbeitsorganisation eingebunden sind, wodurch es auch zu mangelnder Kommunikation und Konflikten im Team kommen kann (Meyer et al 2007; Europäische Kommission 2010). Des Weiteren führt IKT-gestützte mobile Arbeit dazu, dass klassische Arbeitgeberpflichten in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit an die ArbeitnehmerInnen ausgelagert werden, da z.B. lediglich ergonomische Ratschläge erteilt werden können, die Umsetzung jedoch ausschließlich den MitarbeiterInnen obliegt, da die Arbeitgeber nicht in die externen Arbeitsplätze eingreifen können.

7. B ESCHÄFTIGUNG AUF G RUNDLAGE VON G UTSCHEINSYSTEMEN Bei dieser Beschäftigungsform (in Österreich: Dienstleistungsscheck) erwirbt ein Arbeitgeber einen Gutschein (z.B. bei einer Regierungsstelle, einer Bank oder einer Tabaktrafik), der an die ArbeitnehmerInnen zur Bezahlung ihrer Arbeitsleistung und Abdeckung der Sozialversicherung übergeben wird. Die ArbeitnehmerInnen können den Gutschein bei den ausgebenden Stellen einlösen, erhal-

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ten ihre Entlohnung, und die Sozialversicherungsbeiträge und Steuern werden automatisch an die relevanten Stellen abgeführt. Zielsetzung derartiger Systeme ist die Bereitstellung unbürokratischer „Arbeitsverträge“, um der Schwarzarbeit entgegenzuwirken. Dementsprechend findet diese Beschäftigungsform in erster Linie für Haushaltsleistungen und die Landwirtschaft Anwendung. Um zu vermeiden, dass Standardarbeitsverhältnisse umgangen werden, führen die meisten nationalen Regelungen Höchstgrenzen ein (z.B. Tage oder Einkommen pro Jahr für die ArbeitnehmerInnen, Anzahl der Gutscheine pro Jahr, die der Arbeitgeber kaufen/verwenden kann). In einigen Ländern unterliegen derartige Tätigkeiten einem bestimmten Kollektivvertrag oder die gesetzliche Grundlage führt einen Mindestlohn an. Der soziale Schutz variiert zwischen den einzelnen Modellen, bestimmte Vorkehrungen sind aber in allen zu finden, sodass zumindest eine gewisse Verbesserung für die Arbeitnehmer im Vergleich zu Schwarzarbeit erzielt wird. ArbeitnehmerInnen in dieser Beschäftigungsform sind vorwiegend weiblich und gering qualifiziert. Sie sind von Arbeitsplatzunsicherheit (und somit auch Einkommensunsicherheit) betroffen, da es kein kontinuierliches Beschäftigungsverhältnis gibt. Die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen obliegt der Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und ArbeitnehmerIn, und auf Grund der Charakteristika der Tätigkeiten (vorwiegend physische Tätigkeiten) besteht die Möglichkeit, dass es negative Auswirkungen auf die Gesundheit der ArbeitnehmerInnen gibt. Der größte Vorteil von auf Gutscheinsystemen basierenden Tätigkeiten ist die Legalisierung der Arbeit und der damit verbundene soziale Schutz. Im Allgemeinen profitieren die Beschäftigten auch von einem großen Ausmaß an Flexibilität und Autonomie und können durch diese Beschäftigungsform Arbeitserfahrung sammeln, die ihnen gegebenenfalls Zugang zu anderen Beschäftigungsformen ermöglicht.

8. P ORTFOLIOARBEIT PortfolioarbeiterInnen sind Selbstständige, die für eine Vielzahl an KundInnen (sehr) kleine Aufträge ausführen (Mallon 1998; Handy 1995; Kitching/ Smallbone 2008). Portfolioarbeit ist im Wesentlichen durch die folgenden Elemente charakterisiert (Clinton et al 2006): • Selbstorganisierte, unabhängige, einkommensgenerierende Arbeit, die es er-

forderlich macht, sich selbst gut zu präsentieren und vermarkten;

232 | I RENE M ANDL • Aufbau und Betreuung zahlreicher Kundenbeziehungen in verschiedenen Sek-

toren, was es auch nötig macht, sich laufend an unterschiedliche Kundenbedürfnisse und Arbeitssituationen anzupassen; • Arbeit, die außerhalb einer einzigen Organisation durchgeführt wird. Portfolioarbeit ist insbesondere in der Kreativwirtschaft (z.B. unter Journalisten, ÜbersetzerInnen, in der Medienbranche) und in professionellen, wissenschaftlichen und technischen Berufen von steigender Bedeutung (Platman 2004; Deuze 2008; Fraser/Gold 2001; Leighton/Brown 2013) und wird von hochspezialisierten Beschäftigten im mittleren bis älteren Alterssegment durchgeführt. Diese Beschäftigungsform ist durch ein hohes Ausmaß an Flexibilität und Autonomie sowie ein gehobenes Einkommen gekennzeichnet. Die Tätigkeiten werden als weitgehend interessant eingestuft und die Arbeitszufriedenheit ist hoch. Gleichzeitig kann die Arbeitsintensität hoch und stressig sein, da es gilt, zahlreiche kleine Aufträge zeit- und kosteneffizient zu realisieren.

9. C ROWDSOURCING Beim Crowdsourcing nutzen Arbeitgeber eine Online-Plattform, um an eine „virtuelle Wolke“ an ArbeitnehmerInnen zwecks Erfüllung einer bestimmten Aufgabe gegen Entgelt heranzutreten (Green/Barnes 2013; Papsdorf 2009). Das Beschäftigungsverhältnis ist auf einzelne (oft sehr kleine) Aufgaben beschränkt und nicht kontinuierlich, und beruht vielfach auf einer bilateralen Vereinbarung (somit nicht unbedingt auf einem formalen Vertrag). Wenngleich der Status der Beschäftigten auf Grund fehlender Rechtsgrundlagen (noch) nicht abschließend geklärt ist, wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass es sich um Selbstständige handelt. Beispiele für über Crowdsourcing beauftragte Tätigkeiten sind die Entwicklung von Internetseiten, der Aufbau und die Pflege von Datenbanken, die Klassifikation von Internetseiten, Bildern oder Texten, das Transkribieren oder Übersetzen von Texten oder das Design von Logos oder Werbeslogans (Horton/Chilton 2010; Felstiner 2011). Die Beschäftigten in Crowdsourcing sind jung und verrichten die Tätigkeit vielfach neben einer anderen Beschäftigung, neben dem Studium oder Betreuungspflichten. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Einkommen im Allgemeinen niedrig und wenig planbar ist (da auf Grund der großen Konkurrenz auf den Online-Plattformen schwer vorausgesagt werden kann, wann der nächste Auftrag lukriert werden kann) (Irani/Silberman 2013; Ipeirotis 2010).

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Crowdsourcing führt zu hoher Autonomie und Flexibilität, da die Beschäftigten selbst entscheiden, welche Tätigkeiten sie annehmen und wie sie sie erledigen. Bei überlegter Auswahl der Tätigkeiten können sie persönliche Produktivitätssteigerungen und eine gute Work-Life-Balance erzielen. Dem gegenüber steht allerdings eine gewisse Informationsasymmetrie, d.h. es kommt vor, dass es für die Beschäftigten im Vorhinein nicht 100%ig klar ist, was die Tätigkeit beinhaltet und es vorkommen kann, dass sie mehr Leistung erbringen müssen als ursprünglich gedacht. In den meisten Fällen haben die Beschäftigten eine schwächere Position als die Auftraggeber (z.B. auch hinsichtlich der Regelung ihrer Rechte bezüglich geistigen Eigentums) und kaum Zugang zu Konfliktlösungsmechanismen. Aus Arbeitsmarktsicht hat Crowdsourcing bei weiterer Verbreitung (wovon auszugehen ist) das Potenzial, einen Strukturwandel in Richtung Aufbrechen eines „Jobs“ in einzelne Tätigkeiten einzuleiten. Gleichzeitig kann es zu positiven Auswirkungen in Bezug auf die Arbeitsmarktintegration benachteiligter Gruppen kommen, da die Markteintrittsbarrieren geringer als im „normalen“ Arbeitsmarkt sind (Kittur et al 2013; Felstiner 2011).

10. K OOPERATIVES ARBEITEN Kooperation zwischen Selbstständigen oder kleinen und mittleren Unternehmen ist ein traditionelles Instrument der Geschäftstätigkeit, um die Einschränkungen der kleinen Größe zu überwinden. Es lassen sich jedoch neue Formen der Kooperation beobachten, die über die bekannten Beziehungen zwischen Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette hinausgehen: • Schirmorganisationen übernehmen administrative Dienstleistungen (z.B.

Rechnungslegung, Steuerformulare) für die Selbstständigen. In manchen Ländern führt die Beteiligung an Schirmorganisationen auch zur Möglichkeit, als Selbstständige/r an einem vorteilhafteren Sozialversicherungssystem (ähnlich dem der unselbstständig Beschäftigten) teilzunehmen. • Coworking bezieht sich auf die gemeinsame Nutzung von Räumlichkeiten und Infrastruktur, kombiniert mit der Möglichkeit, sich auf persönlicher oder beruflicher Ebene mit anderen Selbstständigen auszutauschen und Kooperationen einzugehen. Coworking ist insbesondere in nicht-traditionellen Wirtschaftsbereichen und in Städten von Bedeutung und wird von jungen, höher qualifizierten Beschäftigten in Anspruch genommen.

234 | I RENE M ANDL • Genossenschaften sind bei Weitem keine neue Entwicklung, zeigten jedoch

insbesondere während der Wirtschaftskrise eine gute Beständigkeit. Des Weiteren kommt es zum Entstehen neuer Arten von Genossenschaften, nicht zuletzt zwischen Selbstständigen. Kooperatives Arbeiten wird v.a. gewählt, um die professionelle und soziale Isolation, mit der viele Selbstständige konfrontiert sind, zu überwinden bzw. durch Kooperation mit anderen Synergieeffekte zu generieren oder neue Produkte und Märkte zu entwickeln. Dementsprechend führt diese Beschäftigungsform im Allgemeinen zu verbesserten Arbeitsbedingungen, z.B. in Bezug auf Arbeitszeit, Arbeitsintensität, Einkommen oder Work-Life-Balance. Aus Arbeitsmarktsicht können diese Modelle dazu führen, den Einstieg in die Selbstständigkeit zu fördern, da die psychologischen und wirtschaftlichen Eintrittsbarrieren reduziert werden.

11. S CHLUSSFOLGERUNGEN UND H ANDLUNGSEMPFEHLUNGEN Wenngleich der europäische Arbeitsmarkt nach wie vor von Standardarbeitsverhältnissen dominiert wird, zeigt sich eine zunehmende Heterogenität an Beschäftigungsformen. Diese Entwicklung wird in erster Linie durch den steigenden Bedarf nach Flexibilität – seitens der Arbeitgeber, aber auch der ArbeitnehmerInnen – angetrieben, wodurch davon auszugehen ist, dass sie sich auch in Zukunft fortsetzt. Manche der neuen Beschäftigungstrends haben das Potenzial, zu vorteilhaften Effekten für sowohl ArbeitnehmerInnen als auch Arbeitgeber zu führen (insbesondere Job sharing, Mitarbeiter-sharing und Interimsmanagement). Bei anderen werden hingegen bereits jetzt Bedenken hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und/oder den Arbeitsmarkt insgesamt geäußert (v.a. Gelegenheitsarbeit und Crowdsourcing).

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Abbildung 2: Bewertung der Auswirkungen der identifizierten neuen Beschäftigungsformen auf die Arbeitsbedingungen und den Arbeitsmarkt

Quelle: Eurofound, 2015.

Die verfügbaren Informationen über die gegenwärtige Verbreitung der neuen Beschäftigungsformen deuten darauf hin, dass die potenziell vorteilhafteren bislang vergleichsweise wenig Anwendung finden. Dementsprechend empfehlen sich hierfür Maßnahmen der Informationsbereitstellung und Anwendungsanreize. In Bezug auf fast alle identifizierten neuen Beschäftigungsformen zeigt sich Verbesserungspotenzial hinsichtlich der rechtlichen Rahmenbedingungen. Für manche der neuen Trends bestehen, v.a. wegen ihrer Neuartigkeit, keine spezifischen legistischen Regelungen. Für andere bestehen zwar konkrete Regelungen, aber sie sind mitunter so komplex, unklar oder häufigen Änderungen unterworfen, dass sie in der Praxis schwer anzuwenden sind. Neben einer rechtlichen Grundlage sollte auch mehr Augenmerk auf „Sicherheitsnetze“ für ArbeitnehmerInnen gelegt werden, z.B. in Form der Überwa-

236 | I RENE M ANDL

chung der Anwendung der neuen Beschäftigungsformen durch Arbeitsinspektorate oder ähnliche Einrichtungen.

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Neue Arbeitsformen – Crowdwork1 J OHANNES W ARTER

Technologische Entwicklungen besonders im Bereich der Kommunikations- und Informationstechnologie haben gravierende Auswirkungen auf unser gesamtes Leben. Wenig verwunderlich machen diese Neuerungen auch nicht vor dem Arbeitsleben halt, sondern entwickeln und verändern bestehende Arbeitsverhältnisse oder schaffen sogar neue Beschäftigungsformen und neue Formen der Arbeitsorganisation. Diese neuen Arbeits- und Arbeitsorganisationsformen passen aber oftmals nicht in unsere bestehenden rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, da diese großteils (noch?) von einem Normalarbeitsverhältnis als Regelfall ausgehen.

1. D AS N ORMALARBEITSVERHÄLTNIS Das sogenannte Normalarbeitsverhältnis hat sich als Antwort auf die Industrialisierung herausgebildet. Dabei handelt es sich um ein unbefristetes Vollzeitarbeitsverhältnis, das mit einer gewissen Sicherheit verbunden ist und ein ausreichendes (Familien-) Einkommen gewährleisten soll. Dieses Normalarbeitsverhältnis dient nach wie vor als Grundlage und Bezugsbild der heute bestehenden Institutionen (wie Gewerkschaften, Betriebsräte, Kammer für Arbeiter und Angestellte, die Wirtschaftskammer etc.) sowie der rechtlichen Rahmenbedingungen (Risak 2015). Diese Rahmenbedingungen sorgen nämlich dafür, dass die inhaltliche Ausgestaltung der Arbeitsverträge nicht ausschließlich den Vertragsparteien obliegt.

1

Dieser Beitrag entstammt zum Großteil meiner Dissertation zum Thema Crowdwork am Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien.

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Sie ist vielmehr in hohem Maße durch Gesetze und kollektivvertragliche Normen vorbestimmt. Durch diese Einschränkung der Privatautonomie sollte dem Machtungleichgewicht beim Aushandeln individueller Arbeitsverträge Einhalt geboten werden (vgl. Gast 1984: 66).

2. N ORMALARBEITSVERHÄLTNIS

ZUR ATYPISCHEN

ARBEIT

Dieser gesetzliche und kollektivvertragliche Schutz der ArbeitnehmerInnen ist freilich mit Kosten für die ArbeitgeberInnen verbunden. Aufgrund von Globalisierung, Deregulierung, Digitalisierung und neuen Technologien, sowie kürzeren Innovations- und Produktlebenszyklen sehen sich Unternehmen einem intensiven Wettbewerb gegenüber. Dies führt bei UnternehmerInnen in weiterer Folge zur Forderung nach Senkungen des „Kostenfaktors Arbeit“ und nach einer Flexibilisierung der Beschäftigungsbedingungen. Vor diesem Hintergrund entstanden seit den 1980er-Jahren neue „atypische“ Arbeitsformen. Darunter verstand man zunächst Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse oder Arbeitskräfteüberlassung (Leiharbeit). UnternehmerInnen wählten diese neuen Arbeitsformen vor allem aufgrund der damit verbundenen größeren Flexibilität und der damit erwarteten Arbeitskostensenkung. So wurden Kosten der Normalarbeitsverhältnisse, vor allem das Risiko, für unproduktive Zeiten Entgelt bezahlen zu müssen, ebenso gering gehalten wie Kosten, die aus dem Kündigungsschutz resultieren (Risak 2015).

3. N EUE ARBEITSFORMEN Die Entstehung und Weiterentwicklung neuer flexibler Arbeitsformen beschleunigte sich in den vergangenen Jahren immer weiter. Der 2015 erschienene Bericht der European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions (eurofound) über „new forms of employment“ (Neue Beschäftigungsformen) strukturierte und fasste neue Formen unserer Arbeitswelt in neun verschiedene Kategorien zusammen: • Crowd employment: virtuelle Plattformen, die AnbieterInnen und Nachfrage-

rInnen von Dienstleistungen zusammenführen • Casual work: Arbeit auf Abruf • Portfolio work: Selbständige arbeiten für eine große Anzahl von KundInnen,

für die sie jeweils nur sehr kleine Arbeitsaufträge erfüllen

N EUE A RBEITSFORMEN – CROWDWORK

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• Collaborative Employment: verdichtete Formen der Zusammenarbeit von

kleinstrukturiert organisierten Selbständigen • Employee sharing oder Labour pooling: einzelne Arbeitende werden von einer

• • • •

Mehrzahl von ArbeitgeberInnen angestellt, für die sie auf rotierender Basis arbeiten Job sharing: mehrere ArbeitnehmerInnen teilen sich einen Arbeitsplatz und koordinieren ihre Verfügbarkeiten selbst Interim Management: befristete Verträge für Führungskräfte Mobile: auf moderner Informationstechnologie (ICT) basierende Leistungserbringung Voucher based work: Bezahlung der Arbeitsleistung mit Gutscheinen oder Schecks, die bei Dritten erworben werden können

Diese neuen Beschäftigungsformen unterscheiden sich vom „Normalarbeitsverhältnis“ wie bereits die atypische Beschäftigung in mehrfacher Weise: Einige von ihnen verändern die Beziehung zwischen den ArbeitnehmerInnen und den ArbeitgeberInnen, andere die Arbeitsorganisation und einige verändern beides (Risak 2015). Eine dieser neuen Formen, die in die Kategorie „Crowd employment“ fällt, soll in weiterer Folge kurz vorgestellt werden: Crowdwork. 3.1 Crowdwork „Remember outsourcing? Sending jobs to India and China is so 2003. The new pool of cheap labor: everyday people using their spare cycles to create content, solve problems, even do corporate R & D. […] For the last decade or so, companies have been looking overseas, to India or China, for cheap labor. But now it doesn’t matter where the laborers are – they might be down the block, they might be in Indonesia – as long as they are connected to the network. […] The labor isn’t always free, but it costs a lot less than paying traditional employees. It’s not outsourcing; it’s crowdsourcing.“ (Howe 2006)

Outsourcing ist mittlerweile altbekannt. Die Weiterentwicklung dieses Prinzips heißt Crowdsourcing: Arbeit wird nicht mehr in Billiglohnländer verlagert, sondern von einer Vielzahl an Menschen, der Crowd, über das Internet erledigt (Strube 2015). Der Begriff „Crowdsourcing“ setzt sich zusammen aus „Crowd“ und „Outsourcing“ und meint die Auslagerung von Arbeits- und auch Kreativprozessen an die Masse der Internetnutzer (Hermann 2015). Dem gegenüber stehen eben jene Internetnutzer, die diese Arbeiten durchführen, die „CrowdworkerInnen“.

244 | J OHANNES W ARTER

Abbildung 8: Involvierte Parteien des Crowdwork-Prozesses

Quelle: Eigene Darstellung.

Vermittelt werden diese Prozesse durch verschiedene Internetplattformen, wie etwa Amazons Mechanical Turk, TopCoder oder auch einige deutsche Plattformen wie Clickworker oder Twago (Klebe/Neugebauer 2014: 4). Der Eurofound-Bericht spricht dabei von Crowd employment, oft wird eben auch von Crowdsourcing gesprochen. Es ist jedoch sinnvoll, direkt von Crowdwork zu sprechen und somit der Tendenz zur Verschleierung entgegenzuwirken (Schmidt 2014: 373). So entstand in den letzten Jahren ein neuartiger Niedriglohnsektor, der das Potenzial hat, die Art zu arbeiten, so stark zu verändern, wie einst die Erfindung des Fließbandes (Felstiner 2011: 145). Die Möglichkeiten dieser neuen Form der Arbeitsorganisation scheinen in der Tat grenzenlos. Die Bandbreite an Tätigkeiten reicht von einfachen und repetitiven Arbeiten, wie z.B. die Kategorisierung und Beschreibung von Bildern, das Abtippen von Texten, Verfassen kurzer Beschreibungen, bis hin zu schwierigen und komplexen Problemstellungen, wie Programmieren von Software, Erstellen von Logos oder Übersetzen von Texten. Bei genauerer Betrachtung kann Crowdwork in zwei unterschiedliche Kategorien unterteilt werden: • Mikrotasking und • wettbewerbsbasiertes Crowdwork.

N EUE A RBEITSFORMEN – CROWDWORK

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3.2 Mikrotasking Mikrotasking ist die Hauptkategorie der Crowdwork-Prozesse. Größere oder komplizierte Arbeiten werden mit Hilfe von ausgeklügelten Systemen in einfache Teilaufgaben zerlegt, von den CrowdworkerInnen erledigt und anschließend wieder zusammengefügt (siehe dazu Minder/Bernstein 2012: 209). Aus diesem Grund wird in diesem Zusammenhang auch von digitaler Akkordarbeit (Schmidt 2014:378) und Neo-Taylorismus gesprochen (Leimeister/Zogaj/Blohm 2014: 32). Beispiele für Mikrotaskingplattformen sind Amazon Mechanical Turk oder die deutsche Plattform Clickworker. Mikrotasking ist die Bearbeitung von Kleinstaufgaben für Kleinstbeträge. So werden auf Amazon Mechanical Turk 25% der Aufgaben mit USD 0,01 entlohnt, 70% der Aufgaben mit Entgelten weniger als USD 0,05 und 90% der Aufgaben werden mit weniger als USD 0,10 pro Aufgabe entlohnt (eurofound 2015: 115; Irani/Silberman 2013). Der durchschnittliche Stundenlohn beträgt weniger als USD 2,00 pro Stunde (eurofound 2015: 115; Papsdorf 2009: 126). Darüber hinaus können AuftraggeberInnen jederzeit und ohne Angabe von Gründen die eingereichten Lösungen ablehnen, müssen diese daraufhin nicht bezahlen, dürfen aber die erbrachten Lösungen trotzdem verwenden (vgl. Amazon 2016). Abbildung 9: Angezeigte Arbeitsaufträge im persönlichen Workdesk bei Clickworker

Quelle: Clickworker 2015.

246 | J OHANNES W ARTER

3.3 Wettbewerbsbasiertes Crowdwork Wettbewerbsbasiertes Crowdwork ist die zentrale Form in der Kreativwirtschaft. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich Ideen, Konzepte und Entwürfe nicht in beliebig kleine Teile zerstückeln und objektiv oder gar automatisiert bewerten lassen. Mikrotasking funktioniert in diesem Sektor nicht (Schmidt 2014: 378). Kreativ- und Innovativprozesse werden deshalb als Wettbewerbe ausgestaltet, bei denen nur einer oder wenige Gewinner eine Entlohnung erhalten. Kreativwettbewerbe gab es natürlich schon lange vor dem Internet, insbesondere in der Kreativwirtschaft, neu ist jedoch das Auftauchen großer und fortlaufend betriebener Plattformen zur Ideengenerierung und Formgestaltung, sowie die Tatsache, dass die Crowd die eigentliche Produktion erledigt. Anders als z.B. bei Architekturwettbewerben leisten CrowdworkerInnen nämlich bereits die vollständige Arbeit in der Hoffnung zu gewinnen. Tatsächlich gewinnt allerdings nur eine oder wenige CrowdworkerInnen das ausgeschriebene Entgelt. Die anderen gehen, obwohl sie ebenso die vollständige Leistung erbracht haben, leer aus (Schmidt 2014:378). 3.4 Internes Crowdworking Crowdwork muss aber nicht zwingend mit externen CrowdworkerInnen durchgeführt werden. Beim internen Crowdworking fungiert die unternehmenseigene Belegschaft als Crowd. Unternehmensintern – meist im betriebseigenen Netzwerk – wird eine Plattform aufgesetzt, auf der die verschiedenen Aufgaben platziert werden. Jeder/jede ArbeitnehmerIn des Unternehmens kann diese Aufgaben einsehen und bearbeiten. Die Lösung kann somit von einer Person stammen, die nicht nur in einer anderen Unternehmensabteilung arbeitet, sondern die sich vielleicht sogar in einem Unternehmensstandort auf einem anderen Kontinent befindet (Meyer 2014). Allerdings gibt es auch Mischsysteme. IBM etwa hat im Rahmen seines „Liquid Programms“ ein internes Crowdworking-System eingeführt, an dem sämtliche IBM MitarbeiterInnen weltweit teilnehmen können. Darüber hinaus können sich aber auch Freelancer um Aufträge bemühen. Voraussetzung für deren Teilnahme ist allerdings, dass sie sämtliche Rechte am Arbeitsergebnis an IBM abtreten und totale Transparenz und Preisgabe persönlicher Daten akzeptieren (Angerle 2016). Durch diese Maßnahmen wird ein verstärkter Wettbewerb nicht nur zwischen den ArbeitnehmerInnen sondern sogar zu externen Freelancern erzeugt,

N EUE A RBEITSFORMEN – CROWDWORK

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was zu einer höheren Produktivität bzw. leistungsorientierter Bezahlung führen soll.

4. V ORTEILE

FÜR

U NTERNEHMER I NNEN

Für Unternehmen lassen sich durch Crowdwork zum einen neue Arbeitskräftepotenziale erschließen, wie z.B. die sogenannte „kollektive Intelligenz“ (siehe hierzu Surowiecki 2005) bzw auch das Vorhandensein einer gewissen Art von OnDemand Arbeitskräften (The Economist 2015) sowie zum anderen natürlich Effizienzsteigerungen, Kosteneinsparung und Verlagerung unternehmerischer Risiken an die CrowdworkerInnen (Schröder/Schwemmle 2014: 114; Risak 2014: 2).

5. ARBEITSBEDINGUNGEN Während die Verhältnisse für AuftraggeberInnen eine Vielzahl an Vorteilen bringen, sind die Arbeitsbedingungen der CrowdworkerInnen oft schlecht (Eurofound 2015: 115). Zur niedrigen und unsicheren Bezahlung kommt auf Mikrotaskingplattformen, dass die AuftraggeberInnen mittels einer Programmierschnittstelle direkt auf eine große Menge an CrowdworkerInnen zugreifen können. Dabei wird oftmals von der Plattform ermöglicht, dass all dies per Algorithmus funktioniert. Die Plattform stellt eine Form der Infrastruktur bereit, bei der AuftraggeberInnen jederzeit auf eine Art „menschliche Rechenleistung“ zurückgreifen können (Irani/Silberman 2014: 139). Für AuftraggeberInnen wird durch die Verwendung einer Crowdworkplattform – somit eines Computerprogramms – teilweise gar nicht mehr wahrgenommen, dass am anderen Ende der „Leitung“ tatsächlich Menschen die Aufgaben erledigen. Aus diesem Grund verstehen sich AuftraggeberInnen auch nicht als ArbeitgeberInnen, sondern vielmehr als Nutzer und Mitentwickler innovativer Technologien. Die Plattform lässt CrowdworkerInnen unsichtbar werden (Irani/Silberman 2014: 139). „Digitale Vernetzung kann somit Potenziale von Entsicherung und Prekarisierung verstärken. Dies wird insbesondere dort deutlich, wenn Unternehmen mittels „Crowdsourcing“ Tätigkeiten, welche bis dato von eigenen Beschäftigten erbracht wurden, auf Plattformen

248 | J OHANNES W ARTER im Internet weltweit ausschreiben und an wechselnde externe Auftragnehmer vergeben.“ Meint der Deutsche Bundestag in einem Arbeitsbericht (Deutscher Bundestag 2013).

6. C ROWDWORKER I NNEN Für die NetzarbeiterInnen auf der anderen Seite funktioniert der CrowdworkProzess denkbar einfach. Sie registrieren sich auf einer Plattform und bekommen anschließend verschiedenste Arbeitsaufträge zur Bearbeitung vorgeschlagen. Für schwierigere Aufgaben müssen Qualifikations-Tests absolviert werden oder es müssen bereits mehrere Aufträge erfolgreich bearbeitet worden sein. Je besser die Leistungen sind, desto eher haben CrowdworkerInnen Zugang zu besseren und vor allem besser bezahlten Aufgaben. Durch dieses Reputationssystem wird versucht zusätzlich ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis zur Plattform herzustellen, da sich diese digitale Reputation nicht einfach auf andere Plattformen übertragen lässt (Risak 2014: 3). Nun stellt sich allerdings die Frage, wer diese CrowdworkerInnen sind und warum sie für niedrige und unsichere Bezahlung Aufgaben bearbeiten. Viele der CrowdworkerInnen arbeiten nur nebenberuflich oder als Zeitvertreib auf Crowdwork-Plattformen. Allerdings handelt es sich oftmals aber auch um Menschen, die keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt haben, oder um Menschen, die sich etwas dazuverdienen müssen (Ipeirotis 2010). Insbesondere Mikrotasking-Plattformen tendieren dazu Menschen anzuziehen, die sich etwas dazuverdienen müssen (Eurofound 2015:112). Andererseits eröffnet Crowdwork auch den NetzarbeiterInnen die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, wann, wo, und wie viel sie arbeiten. Aus diesem Grund ist Crowdwork sehr gut mit anderen Verpflichtungen vereinbar. Der starke und globale Konkurrenzkampf, die teilweise Vermengung von Freizeit und Erwerbsarbeit, die fehlende Organisation der CrowdworkerInnen, rechtliche Unsicherheiten und ein Oligopol an wenigen Plattformen führen zu einem Machtungleichgewicht, welches wiederum zu niedrigen Löhnen und unfairen Bedingungen zum Nachteil der NetzarbeiterInnen führt (Warter 2015).

7. AUSBLICK Dennoch hat sich Crowdwork mittlerweile zu einer riesigen Industrie entwickelt, wobei die Obergrenzen noch lange nicht erreicht zu sein scheinen. Dies ist erkennbar am rapiden Wachstum von Plattformen, Umsätzen, CrowdworkerInnen

N EUE A RBEITSFORMEN – CROWDWORK

| 249

und der Erweiterung auf neue Arbeitsbereiche und Arbeitsaufgaben (Schmidt 2014: 369). Clickworker hat mittlerweile nach eigenen Angaben (siehe clickworker.de) mehr als 700.000 registrierte ClickworkerInnen, auf Amazon Mechanical Turk sind mehr als 200.000 Arbeitstasks zu jedem Zeitpunkt verfügbar (Eurofound 2015:112) und der globale Umsatz der Plattformen stieg um 53% in 2010 und 74% in 2011 (Eurofound 2015:112). Die Weltbank hält in ihrem aktuellen Report „The Global Opportunity in Online Outsourcing“ ein Umsatzvolumen der Crowdwork-Plattformen von 25 Mrd. US-Dollar für das Jahr 2020 für denkbar, andere Schätzungen gehen von bis 46 Mrd. US-Dollar aus. Bereits für 2016 geht die Weltbank von 112 Millionen, überwiegend in Teilzeit beschäftigten, CrowdworkerInnen aus (World Bank Group 2015: 18). Crowdwork birgt eine Vielzahl an Gefahren, insbesondere die hohe Ausbeutungsgefahr der CrowdworkerInnen. Weitergehend könnte aber auch folgen, dass dadurch eine zweite Entgeltlinie entsteht und erheblicher Druck auf die Stammbelegschaft von Betrieben ausgeübt wird, sowie bewusst arbeitsrechtliche oder kollektivvertragliche Vorschriften umgangen werden. Ebenso ist es denkbar, dass CrowdworkerInnen als Streikbrecher eingesetzt werden. Durch dauerhaftes Crowdworking kann es außerdem dazu kommen, dass in ganzen Bereichen betriebsratslos gearbeitet werden muss (Klebe/Neugebauer 2014: 6). Bedenkt man die internationale Komponente von Crowdworking, so ist eine Erosion von Arbeitnehmerrechten bzw. generell ein Race to the bottom des Arbeitsrechts zu befürchten. Es wird sich wohl in naher Zukunft die Frage stellen, inwieweit derartige Gestaltungen (arbeits-) rechtlich zulässig und zu bewerten sind. Diese Frage wird die Rechtswissenschaft, die Gerichte und selbstverständlich auch den Gesetzgeber gleichermaßen betreffen.

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N EUE A RBEITSFORMEN – CROWDWORK

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Neue Arbeit – altes Recht? G ÜNTHER L ÖSCHNIGG

1. E INLEITUNG Eine Reflexion über Arbeit bzw. Normalarbeit hat sinnvollerweise interdisziplinär zu erfolgen. Ein „Player“ in dieser Diskussion ist das Arbeitsrecht. Einerseits können neue Beschäftigungsformen nicht umgesetzt werden, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht entsprechen, anderseits darf sich die Rechtsordnung gesellschaftlichen Veränderungen nicht verschließen. Zu tragfähigen Lösungen wird man in Zukunft daher nur dann kommen, wenn betriebswirtschaftliche, sozialpolitische, volkswirtschaftliche, soziologische, arbeitswissenschaftliche, rechtliche Aspekte etc. miteinander in Beziehung gesetzt werden. Im Folgenden können nur einige wenige Bereiche, die sich im Schnittpunkt von neuen Arbeitsformen und geltendem Arbeitsrecht finden, angesprochen werden. Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen bildet das österreichische Arbeitsrecht. Der rechtliche Befund ist aber – nicht zuletzt aufgrund der auch vor dem Arbeitsrecht nicht Halt machenden „Globalisierung“ – weitgehend auf andere Rechtsordnungen übertragbar. Teilweise wird ohnedies auf die deutsche, spanische oder tschechische Literatur verwiesen.

2. D ER B EGRIFF

DER

ARBEIT

IM

ARBEITSRECHT

Man sollte meinen, dass ein umfassender Rechtsbereich, der mit Arbeitsrecht umschrieben wird, auch weiß, was als Arbeit zu verstehen ist. Nach einer umfassenden Legaldefinition von Arbeit sucht man jedoch im Arbeitsrecht vergeblich. Der Arbeitsbegriff wird vielmehr über die geschuldeten Leistungen im Arbeitsvertrag erfasst. Dies reicht durchaus für die Determinierung des synallagmatischen Schuldverhältnisses. Der Schutzzweck des Arbeitsrechts verlangt aber

254 | G ÜNTHER LÖSCHNIGG

nicht stets, dass jede Leistung des Arbeitnehmers allen Schutzmechanismen des Arbeitsrechts unterworfen ist. Typische Beispiele sind die Rufbereitschaft im Sinne des § 20a Arbeitszeitgesetz (AZG) (Heilegger/Klein 2016: 170; Schrank 2015: 445; Binder/Brunner/Szymanski 2006: 284; Löschnigg/Melzer-Azodanloo 2002: 211)1 oder Dienstreisen im Sinn des § 20b Abs. 1 AZG (Grillberger 1986: 273; Löschnigg/Winter 1990: 144; Winkler 1992: 116; Körber-Risak/Guiragossian 2014: 3). Beide Phänomene anerkennt das AZG als Arbeitszeit i.w.S., sieht aber hiefür Sonderregelungen vor. Die Rufbereitschaft soll offensichtlich generell nicht als Arbeitszeit gelten, wenn § 20a Abs. 1 AZG von „Rufbereitschaft außerhalb der Arbeitszeit“ spricht. Im Fall der Reisezeiten nach § 20b Abs. 1 AZG soll zwar Arbeitszeit vorliegen, gem. Abs. 2 leg. cit. können aber die Höchstgrenzen der Arbeitszeit überschritten werden2. Obige Beispiele zeigen bereits, dass der (arbeitsrechtliche) Begriff von Arbeit weiter sein kann, als z.B. der Begriff der Arbeitszeit im Sinn des AZG. Entscheidend ist der Zweck der jeweiligen arbeitsrechtlichen Norm. Damit ist von vornherein klarzustellen, dass Arbeitsrecht mit unterschiedlicher Intensität und in unterschiedlicher Ausgestaltung auf unterschiedliche Arbeit zum Tragen kommt.

3. G RUPPENSPEZIFISCHE D IFFERENZIERUNGEN Arbeitsrechtliche Differenzierungen erfolgen häufig arbeitnehmergruppenspezifisch. Dies betrifft sowohl die gesetzliche Ebene (z.B. Angestelltenrecht versus Arbeiterrecht, d.h. AngG versus GewO 1859, ABGB etc.) als auch die kollektivvertragliche (z.B. Kollektivvertrag für Handelsangestellte und Kollektivvertrag für Handelsarbeiter). Selbst die Ebene der Betriebsvereinbarungen ist regelmäßig gruppenspezifisch ausgestaltet, da auch in der Betriebsverfassung die organisatorische Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten übernommen wurde. Die historisch entstandene Unterscheidung zwischen Angestelltenrecht und Nichtangestelltenrecht lässt sich inhaltlich nicht mehr rechtfertigen (vgl. Gerhartl

1

Zur Frage der Qualifikation des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit im Sinne der

2

Zu den Konsequenzen vgl. etwa Löschnigg (1998: 250); zu kollektivvertraglichen Re-

Arbeitszeitrichtlinie siehe Friedrich (2001: 237) und Risak (2013: 296). gelungen Löschnigg (2001: 100).

N EUE A RBEIT –

ALTES

R ECHT ?

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2009: 17; Gagawczuk 2007: 522; Nogler 2010: 327; Holzbauer 2011: 218)3. Dies beginnt bei der schwierigen Abgrenzung der Angestelltenqualifikation mittels der Kriterien des § 1 Abs. 1 AngG4. Warum zählt etwa die Tätigkeit einer Blumenverkäuferin nicht zu den kaufmännischen Tätigkeiten 5? Erbringt ein Profifußballer (vgl. hierzu auch Holzer 1972: 63; Schrammel 2000: 87; Grundei/Karollus 2010)6 oder ein Orchestermusiker (vgl. OGH 11.11.1998, 9 Ob A 184/98v; OGH 27.5.2004, 8 Ob A 99/03x.) höhere nichtkaufmännische Dienste? Sind einfache Kopierarbeiten (vgl. OGH 12.01.2000, 9 Ob A 259/99z.) den Kanzleiarbeiten des § 1 Abs. 1 AngG zuzurechnen? Diese Beispiele zeigen bereits den schmalen Grad einer Zurechnung zum Angestelltenbegriff7 Handelt es sich um ein Angestelltendienstverhältnis, dann ist eine gewisse Privilegierung unverkennbar. So könnte der Zeitraum der Entgeltfortzahlungspflicht für den Arbeitgeber bei Krankheit eines Angestellten (bei einer Betrachtungsperiode von etwas über einem Jahr) 40 Wochen betragen8. Bei einem vergleichbaren Arbeiter käme es innerhalb eines Arbeitsjahres zu einer Entgeltfortzahlung von 10 Wochen durch den Arbeitgeber (s. Binder 2007: 100; Rauch: 2007: 18)9. Insofern darf es nicht verwundern, wenn die unterschiedliche Ausgestaltung von Arbeiter- und Angestelltenrecht als verfassungswidrig angesehen wird (Dimitz et al. 1995; Mayer-Maly 1969; Schwarz 1998: 355; Herzeg 2012: 155)10. Scheinbar sachliche Gründe für Differenzierungsansätze müssen auch stärker hinterfragt werden. Dies gilt insbesondere für die einzige Besserstellung der

3

Zur überholten Differenzierung in der Schweiz s. Geiser/Müller (2015: 53); zur Situation in Deutschland, insb. zu § 622 Abs. 1 BGB, z.B. Ring/Vogel (2014: 32).

4

Zur umfangreichen Judikatur zum Begriff der kaufmännischen Tätigkeit vgl. Lösch-

5

So nämlich OGH 20. 10. 1981, 4 Ob 157/80, Arb 10.045, mit krit. Bespr. v. Lösch-

nigg (2012a: § 1 Rz 120). nigg (1984: 43); mit Bespr. v. Andexlinger (1982: 183). 6

Vgl. OGH 16. 7. 2004, 8 ObS 20/03d, mit krit. Bespr. v. Wolfsgruber (2005: 268); mit Bespr. v. Resch (2004: 253); OGH 26. 8. 2004, 8 ObS 23/03w, SpuRt 2005, 67 mit Bespr. v. Resch (2005: 67); OLG Innsbruck 25. 9. 1991, 5 Ra 115/91, Arb 10.955.

7

Zu weiteren Judikaturbeispielen vgl. Löschnigg (2012b).

8

Allg. dazu vgl. Melzer-Azodanloo (2012: § 8 Rz 47); Drs (2011: § 8 AngG, Rz. 100).

9

Vgl. OGH 28. 1. 1999, 8 ObA 163/98y, mit Bespr. v. Pernkopf (1999: 167); in Abkehr von OGH 17. 4. 1997, 8 ObA 2132/96d, mit Bespr. v. Pfeil (1998: 42); mit Bespr. v. Andexlinger (1997: 599); a.A. Rothe (2000: 518) und (2010: 586).

10 Zur verfassungsrechtlichen Problematik der Differenzierung s. Drs (1999).

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Arbeiter, nämlich der Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfällen (vgl. Rauch 2006: Anm. 1.1. zu § 5 EFZG; s. auch OGH 14.10.2008, 8 Ob A 44/08s). Argument für die Privilegierung der Arbeiter in diesem Zusammenhang ist die höhere Unfallgeneigtheit der Tätigkeit. Tatsächlich ist das statistische Risiko von Arbeitsunfällen bei Arbeitern deutlich höher als bei Angestellten. Eine Gruppenbildung nach Arbeitern und Angestellten mit Auswirkung auf die Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfällen ist m. E. jedoch so grob, dass die sozialpolitische Zielsetzung verfehlt wird. Dies zeigt etwa der Vergleich des Unfallrisikos eines angestellten Provisionsvertreters, der täglich mit seinem PKW unterwegs ist, mit dem Unfallrisiko eines Uhrmachers oder sonstigen Feinmechanikers, die dem Kreis der Arbeiter zuzurechnen wären.

4. D ICHOTOMIE

DES

ARBEITSRECHTS

Typisch für das Arbeitsrecht ist die Gemengelage aus Privatrecht und öffentlichem Recht. Die privatrechtlichen Bestimmungen des Arbeitsrechts greifen insofern regulierend in die Vertragsgestaltung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein, als die ungleichgewichtige Verhandlungsposition durch vertragsrechtliche Regelungsgebote und Regelungsverbote ansatzweise korrigiert wird. Beispiele hiefür bilden die Beschränkungen bei der Gestaltung von Konkurrenzklauseln (vgl. Reissner/Preiss 2006: 183; Oberhofer 2006: 152; Kemetter 2008: 853; Neubauer/Rath 2007: 46; Runggaldier 1998: 351; Wallnöfer 2011: 161), Verpflichtungen zur Rückzahlung von Ausbildungskosten (vgl. Radner 2010: 361; Höller/Trost 2008: 447; Resch 1993: 8; Weiß 2000: 181; Eypeltauer 2007: 196; Löschnigg 2012b: 205; Geiger 2012: 16; Wanderer 2013: 443; Löschnigg/Ogriseg 2011: 163) oder die Vereinbarung von Kündigungsfristen und Kündigungsterminen. Verstöße werden insbesondere durch Nichtigkeit bzw. Teilnichtigkeit der Vertragsabrede oder durch Schadenersatzansprüche geahndet. Die Geltendmachung erfolgt klagsweise durch die in ihren Rechten verletzte Vertragspartei bei den zuständigen Arbeits- und Sozialgerichten. Parallel dazu schaffen die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen des Arbeitsrechts Grenzen, die schon aus Gründen des öffentlichen Interesses und im Sinn eines übergeordneten Ordnungsrahmens eingehalten werden sollen. Die Nichtbeachtung dieser Grenzen führt im Regelfall zur Androhung von Verwaltungsstrafen, also zu hoheitlicher Sanktionierung durch die öffentliche Hand, auch wenn mitunter das Verfahren einen Antrag einer Partei voraussetzt. Das österreichische Arbeitsrecht trennt gesetzestechnisch aber nicht streng. Privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Bestimmungen sind – auf das jeweilige

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arbeitsrechtliche Phänomen bezogen – häufig miteinander verknüpft und in einem Gesetz zusammengeführt. Dies gilt z.B. für das AZG, das BAG, das AÜG oder das AuslbG. Andere nationale Arbeitsrechtsordnungen unterscheiden diesbezüglich wesentlich stringenter. So finden sich etwa die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen zum Schweizer Arbeitszeitrecht im Arbeitsgesetz, die vertragsrechtlichen Regelungen zum Arbeitszeitrecht im Obligationenrecht (vgl. insb. Geiser/Müller 2015: 368; ähnlich in Deutschland Ring/Vogel 2014: 321). Auch wenn letzterer Ansatz rechtsdogmatisch systematischer erscheint, ist das österreichische Modell anwenderfreundlicher. Mitunter versucht sich aber auch der österreichische Gesetzgeber in systematischer Differenzierung, nämlich innerhalb des jeweiligen Gesetzes. So enthält das AZG einen eigenen Abschnitt 6a, der mit „Vertragsrechtliche Bestimmungen“ überschrieben ist. Es wäre aber irrig zu glauben, dass sämtliche privatrechtlichen Regelungen in diesem Teil des AZG zusammengefasst wären. So findet sich die Überstundenvergütung in § 10 AZG und damit im Abschnitt 2 (Arbeitszeit) des AZG, die Mehrarbeitsvergütung in § 19d AZG und damit im Abschnitt 6a (Vertragsrechtliche Bestimmungen). Die Zweiteilung des Arbeitsrechts in privatrechtliche und öffentlichrechtliche Bestimmungen wurde hinsichtlich der Sanktionierung von Rechtsverstößen durch das Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetz 2014, BGBl I 94/2014, ansatzweise aufgegeben. Der durch das ASRÄG 2014 neu geschaffene § 7i Abs. 5 AVRAG sieht nämlich vor, dass Arbeitgeber, die nicht durch das Gesetz, durch den Kollektivvertrag oder durch Verordnung zustehende Entgelte zahlen, eine Verwaltungsübertretung begehen und von der Bezirksverwaltungsbehörde mit Geldstrafen belegt werden können. Entgeltvereinbarungen in Arbeitsverträgen oder in Betriebsvereinbarungen bleiben hiebei außer Betracht. Die Besonderheit dieser Bestimmung liegt darin, dass privatrechtliche Ansprüche einer behördlichen Kontrolle unterworfen und rechtswidrige Entgeltleistungen mittels Verwaltungsstrafen sanktioniert werden. Damit kommt es zu einer systematisch interessanten Diffundierung von privatrechtlichen und öffentlichrechtlichen Regelungen, die aber gleichzeitig die Frage aufwirft, wie weit privatrechtliche Gestaltungen einer öffentlich-rechtlichen Kontrolle unterliegen sollen.

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5. V ON UNSELBSTÄNDIGER ZU 11 EIN K ONTINUUM

SELBSTÄNDIGER

ARBEIT –

Das Arbeitsrecht geht vom klassischen Bild des Arbeitnehmers aus, d.h. von in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit tätigen Personen (vgl. Tomandl 1971; Tomandl 2008: 100; Reiner 2010: 549; Mayer-Maly 1965; Mayer-Maly 1966: 2; Löschnigg 2006: 15; Schnidler 2000: 13; Gerhartl 2011: 293). Im Arbeitsvertrag verpflichtet sich der Arbeitnehmer zur Leistung fremdbestimmter, abhängiger oder unselbständiger Arbeit unter Leitung und nach Weisung des Arbeitgebers. Der Arbeitgeber verpflichtet sich, das vereinbarte Entgelt zu entrichten (vgl. Schaub et al. 2015: § 29 Rn 1). Auf der anderen Seite findet sich der selbständige Erwerbstätige, für den das Arbeitsrecht grundsätzlich nicht zur Anwendung kommt. Zwischen diesen Extremen ist die Gruppe der arbeitgeberähnlichen Personen (zum Beispiel leitende Angestellte mit maßgebendem Einfluss auf die Führung des Unternehmens12 oder leitende Angestellte, die selbstverantwortlich Führungsaufgaben übernehmen (Vgl. §§ 1 Abs. 2 Z 8 und 19b Abs. 3 Z 3 AZG; hierzu z.B. Grillberger, (2001: Rn 2.8. zu § 1); Schrank, (2012: 43))) angesiedelt. Für diese Beschäftigten kommen arbeitsrechtliche Bestimmungen nur teilweise zur Anwendung. Umgekehrt kann der Grad der Abhängigkeit von selbständigen Personen so hoch sein, dass sie eines arbeitsrechtlichen Schutzes wie Arbeitnehmer bedürfen. Sie werden in der Gruppe der arbeitnehmerähnlichen Personen zusammengefasst (vgl. etwa Wachter 1980)13. Konsequenz dieser Zuordnung ist die Anwendung einzelner arbeitsrechtlicher Bestimmungen, obwohl die Arbeitnehmereigenschaft fehlt. Parallel dazu werden neue Formen der Arbeit diskutiert, angepriesen, angeprangert, juristisch untersucht (s. z.B. Weiss 2012), ohne zu neuen Strukturen und rechtlichen Ausgangstypen im Arbeitsrecht zu gelangen. Regelmäßig wird nur die Frage gestellt, ob Arbeitsverhältnisse vorliegen oder nicht und ob damit Arbeitsrecht zur Anwendung kommt oder nicht. Dies gilt etwa für Crowdwork, Portofolio-Arbeit, kollaborative Beschäftigung etc. Ringt man sich zur Geltung des Arbeitsrechts durch, ist häufig nicht das Problem gelöst, sondern eine Fülle von Detailfragen schließen sich deshalb an, da diese

11 Zu den nachfolgenden Kapiteln s. bereits Löschnigg (2013: 45). 12 Vgl. für Österreich § 36 ArbVG; hierzu Strasser (2013: § 36 Rz 16); für Deutschland Hromadka (1996); Meents (1995; 1353); Richardi (1991: 33). 13 Zum „trabajador autónomo económicamente dependiente“ in Spanien vgl. Girón/ Varela (2011: 30).

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neuen Arbeitsformen von den typischen Ansätzen des Arbeitsrechts und von den typischen Rechten und Pflichten im Arbeitsverhältnis abweichen. Auch wenn sozialpolitische Inferenz häufig das Opfer von Praktikabilitäts- und Durchführungsargumenten wird, sollten sich zumindest mittelfristig sozial gerechte und den Schutzzwecken angepasste Lösungen durchsetzen. Dies bedeutet, dass auch hinsichtlich arbeitsrechtlicher Normendichte und Normenintensität ein bewegliches Rechtsystem (vgl. bereits Wilburg 1950)14 eingeführt werden müsste.

6. ARBEITSRECHT IN ABHÄNGIGKEIT VON DER E RTRAGSKRAFT DES U NTERNEHMENS Bei einzelnen Ansprüchen und Arbeitsbedingungen liegt es in ihrem Wesen, dass sie von der Ertragskraft des Unternehmens abhängen. Gewinn- oder Umsatzbeteiligungen, Prämiensysteme, tarifvertragliche Verteiloptionen etc. sind hiefür beredte Beispiele (vgl. Löschnigg 2000: 467; Felten 2009: 510; Loritz 1997: 224; Siebert 1987: 276; Resch 2003). Auch der Untergang von Ansprüchen kann auf die Ertragskraft des Unternehmens abstellen (z.B. Aussetzen von Betriebspensionen bei wirtschaftlicher Notlage des Unternehmens). Zu überlegen wäre aber auch, ob nicht Mindestansprüche auf gesetzlicher oder tarifvertraglicher Ebene dieses Differenzierungskriterium (stärker) nutzen sollten. Ein Mehrklassensystem wäre allerdings die Folge. Entsprechende Ansätze findet man ohnedies bereits indirekt im Fall von branchenspezifischen Entgeltregularien oder bei arbeitsrechtlichen Ansprüchen, die von der Unternehmensgröße abhängen. De lege lata hat sich für die Kollektivvertragspolitik das Industriegruppenprinzip (Strasser 2002: ArbVG § 4; Mayr 2016: § 4 ArbVG (VwGH 28.10.2008, 2007/05/0001, mit Bespr. v. Weiss (2010: 401)) durchgesetzt. Damit kommt für das Arbeitsverhältnis jener Kollektivvertrag zum Tragen, der dem Arbeitgeber/Unternehmen zugeordnet wird. Die Tätigkeit des Arbeitnehmers wird daher „branchenbezogen“ mit der Konsequenz entlohnt, dass einem Arbeitnehmer für ein und dieselbe Arbeitsleistung unterschiedliche Mindestentgelte zustehen, je nach dem in welcher Branche er diese Tätigkeit ausübt. Insofern steht das Industriegruppenprinzip auch in Widerspruch zu einer individuellen Lohngerechtigkeit. Ungeeignet für arbeitsrechtliche Abstufungen nach der Ertragskraft des Unternehmens sind Ansprüche, die beispielsweise dem Gesundheitsschutz die-

14 Allgemein zu beweglichen Systemen im Recht schon Wilburg (1950).

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nen. Für einen Teil individualrechtlicher Ansprüche (z.B. auch für den Bereich der wöchentlichen Normalarbeitszeit) wären entsprechende Modelle aber diskutabel.

7. F REMDBESTIMMUNG ODER E IGENBESTIMMUNG – D ILEMMA DER F ESTSTELLBARKEIT Arbeitsrechtliche Schutzmechanismen werden vor allem damit begründet, dass Arbeitnehmer fremdbestimmte Arbeit verrichten. Dispositionen des Arbeitgebers (z.B. die Festlegung der Arbeitszeit) sollen nicht ausschließlich von seinem Willen abhängen. Insbesondere soll er nicht von Tag zu Tag oder von Woche zu Woche einseitig die Lage der Arbeitszeit verändern können. Umgekehrt will mitunter der Arbeitnehmer keine fixe Arbeitszeit, sondern eine seinen Bedürfnissen angepasste flexible Arbeitszeitgestaltung (vgl. Geiser/Müller 2015; Kandera 1999)15. Soweit die freie Gestaltungsmöglichkeit des Arbeitnehmers gesichert erscheint, wird die Konstruktion als arbeitsrechtlich unverdächtig eingestuft. Ein typisches Beispiel hiefür bildet die gleitende Arbeitszeit (Neumann 1971: 106; Schüren 1996: 381; Cerny 1971: 183; Löschnigg 1998: 239). Behält sich der Arbeitgeber die Gestaltung der Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis vor, z.B. das Ausmaß der wöchentlichen Arbeitszeit und damit letztlich auch das Entgelt, dann kommt man regelmäßig zu einer verpönten oder sittenwidrigen oder gesetzwidrigen Vertragsgestaltung wegen unredlicher Ausnützung der stärkeren wirtschaftlichen Verhandlungsposition des Arbeitgebers, wegen Überwälzung des typischen Unternehmerrisikos auf den Arbeitnehmer oder wegen Umgehung von arbeitsrechtlichen Schutzgesetzen16. Entscheidend für die Rechtmäßigkeit der Konstruktion ist somit die Interessenslage. Überwiegt das Interesse des Arbeitnehmers an der Flexibilität der

15 Vgl. zur allgemeinen Flexibilisierungsdiskussion das Tagungsband zum III. International Labour Law Dialogue – Flexible and Secure Employment (2008). 16 In Österreich z.B. zum sog Bedarf-Konsens-Prinzip OGH 8.8.2002, 8 ObA 277/01w, DRdA 2002, 505; OGH 22.12.2004, 8 ObA 116/04y, mit Bespr v. Schwarz (2005: 417); mit Bespr. v. Gerhartl (2005: 759); mit Bespr. v. Schrank (2006. 78); in Deutschland vgl. BAG 15.2.2012, 10 AZR 111/11, „Arbeitnehmerstatus – keine Verpflichtung zur Arbeitsleistung durch Rahmenvereinbarung“, DB 2012, 1212 = NZA 2012, 733, mit Anm. v. Brötzmann 2012: 137); BAG 16.5.2012, 5 AZR 268/11, DB 2012, 2048 = NZA 2012, 974, mit Anm. v. Fuhlrott (2012: 2375).

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Arbeitsbedingungen wäre die Vertragsgestaltung zulässig. Die Eigenbestimmung des Arbeitnehmers darf aber nicht auf eine bloß scheinbare reduziert werden. Die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit erfolgt derzeit üblicherweise im Nachhinein und im Rahmen eines strittigen Verfahrens (gerichtliche Ex-postKontrolle). Zu überlegen wäre, ob nicht neue Regelungs- und Überprüfungsmodelle im Zuge der Vertragsgestaltung oder einer Vertragsänderung mehr Rechtsicherheit und Arbeitszufriedenheit bieten (Ex-ante-Prüfung).

8. G ÜNSTIGKEITSPRINZIP „ IN NEUEM L ICHT “ Das arbeitsrechtliche Günstigkeitsprinzip (s. nur Firlei 1981: 98; Adomeit 1984: 26; Krauss 1996: 294; Schmidt 1994; Wendeling-Schröder 1996: 60) bildet einen wesentlichen Regelungsmechanismus für das Verhältnis von Rechtsnormen unterschiedlicher Ebene. Es gilt als selbstverständlich, dass zum Beispiel das arbeitsvertragliche Entgelt (Istlohn) höher sein darf als der Mindestlohn nach dem Kollektivvertrag/Tarifvertrag. Gewisse Phänomene sind aber bisher im Zusammenhang mit dem Günstigkeitsprinzip – soweit ersichtlich – nicht diskutiert worden. Insbesondere einseitige Gestaltungsrechte des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmers werden in die Günstigkeitsdiskussion nicht einbezogen. Dabei wäre durchaus zu überlegen, ob zum Beispiel für den Arbeitnehmer drei Stunden Arbeit zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt nicht günstiger sind als eine Stunde fixer Normalarbeitszeit.

9. ANSPRÜCHE IN ABHÄNGIGKEIT DER P REKARITÄT

VOM

G RAD

Die obigen Überlegungen zum Günstigkeitsprinzip (s. 8.) können allgemein auf die Wertungen zu prekären Arbeitsverhältnissen übertragen werden. Das bedeutet zum Einen, dass die Prekarität von Arbeitsverhältnissen ohnedies schon längst in unserer Gesellschafts- und Arbeitsordnung akzeptiert ist, dass aber versucht wird, mit den klassischen Mitteln des Arbeitsrechts die Prekarität als Form einer Umgehung rechtlich in den Griff zu bekommen. Sinnvoller – i.S. einer adäquaten Reaktion auf die Rechtswirklichkeit, i.S. der Hoffnungslosigkeit einer entsprechenden Rechtsdurchsetzung und i.S. eines möglichen Wertewandels – wäre die Prekarität in ihren jeweiligen Formen – soweit es sich nicht um extreme Formen handelt – zu akzeptieren, aber daraus unterschiedliche Ansprüche abzuleiten. Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass ein Stundenlohn im Kollektiv-

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vertrag/Tarifvertrag umso höher angesetzt wird, je kürzer die Dauer des Arbeitsverhältnisses (Befristung) ist. Dies könnte aber auch bedeuten, dass ein Recht auf Abruf von Arbeit (durch den Arbeitgeber) durch ein Recht auf Abruf von Freizeit (durch den Arbeitnehmer) (s. auch schon Popp/Pausch/Hofbauer 2010: 96) ausgeglichen wird. Eine richtungsweisende Entscheidung, die eine entsprechende Tendenzen aufzeigt, hat der OGH in Zusammenhang mit dem sog. Bedarf-Konsens-Prinzip bei Peek&Cloppenburg gefällt.17 Dem Höchstgericht zu Folge kann nämlich ein Arbeitnehmer, der aufgrund rechtswidriger Vertragsgestaltung und rechtswidriger Weisung Arbeitsleistungen erbringt, zusätzlich zum normalen Zeitlohn und ex post einen angemessenen Zuschlag verlangen. Dieser „Prekaritätszuschlag“ hat sich bei bedarfsorientierten Einsätzen/Arbeit auf Abruf am Verhältnis der potenziellen Einsatzzeit zur tatsächlichen Arbeitszeit, an der Dauer der jeweiligen Einsatzzeit sowie an der Dauer der Vorankündigungszeit zu orientieren.

10. V ERSCHRÄNKUNG

VON

ARBEIT

UND

P RIVATLEBEN

Immer stärker verschmelzen Arbeit und private Neigungen und Interessen. Man denke nur an die Zurverfügungstellung von Computern an Jugendliche, die ihre Erfahrungen an ein Unternehmen weiterleiten, das die Computer zur Verfügung stellt. Spielfreude von Kindern wird für wirtschaftlich ausgerichtete Arbeit genutzt. Man denke aber auch an internetbasierte Kommunikations- und Interaktionsforen, deren Ergebnisse einem Auftraggeber/Arbeitgeber zugutekommen. Vor allem aber findet man immer stärker Arbeit in selbstgewählter Umgebung (Heimarbeit) mit eigenen Mitteln und unter Zuhilfenahme weiterer Personen. Arbeit und privater Bereich verschmelzen damit (vgl. Fritsch 2012: 69). Diese Privatsphäre bedarf gesonderter Schutzmechanismen. Daraus resultieren aber auch „soziale“ Ansprüche. Gemeint ist damit zum Beispiel ein Recht auf soziale Kontakte in regelmäßigen Abständen zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Betrieb.

17 Siehe Fußnote 16.

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11. S ICHERUNG VON ARBEIT

DURCH

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B ILDUNG

Vermehrt besteht ein Konnex zwischen Sicherung von Arbeit, das heißt arbeitsmarktpolitische Aspekten, und Bildung, das heißt bildungspolitischen Aspekten. Immer häufiger kommt es zu Formen einer Bildungskarenz oder einer Bildungsteilzeit. Dies bedeutet, dass der Arbeitnehmer mit dem Dienstgeber eine Aussetzung von Arbeitsleistung und Entgelt vereinbart und die öffentliche Hand einen Entgeltausfall durch spezielle Leistungen übernimmt. Der Bezug der Bildung zum Arbeitsplatz kann ein völlig unterschiedlicher sein. Es kann sich um Ausbildung handeln, die nur für den konkreten Arbeitsplatz von Bedeutung ist. Es kann sich aber auch um Bildung handeln, die einen bestimmten Bezug zum Beruf aufweist, die einen Bezug ganz allgemein zur nachgefragten Arbeit aufweist, oder um Bildung, die im weitesten Sinn als Allgemeinbildung verstanden werden kann. Wie weit der sozialpolitische Gesetzgeber hinsichtlich seiner Leistungen geht, ist regelmäßig eine Frage der Arbeitsmarktsituation im jeweiligen Land. Der bildungspolitische Ansatz bzw. das bildungspolitische Ziel gerät vielfach aber völlig ins Hintertreffen. Einen relativ radikalen Ansatz vertritt etwa Barancová für das slowakische Arbeitsrechtssystem. Nicht auf die Einsicht des Arbeitsgebers, dass Bildung des Arbeitnehmers eine Investition für das Unternehmen darstellt, ist zu warten. Der Arbeitgeber sollte vielmehr gesetzlich gezwungen werden, für die lebenslange Bildung seiner Arbeitnehmer zu sorgen (vgl. Barancová 2009: 37 bzw. 51).

12. V ERTEILUNG „ ARBEITSRECHTLICHER K OSTEN “ Die arbeitsrechtliche Flexibilisierungsdiskussion lässt regelmäßig außer Acht, dass die Verteilung sozialer Risiken und Kosten nicht ausschließlich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfolgt. So handelt es sich um eine sozialpolitische Grundsatzentscheidung, wie lange der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlungskosten bei Krankheit, Arbeitsunfall oder bei sonstigen Dienstverhinderungen des Arbeitnehmers übernehmen soll und ob bzw. wann die Sozialversicherungsträger/die Versicherungsgemeinschaft oder die öffentliche Hand eingreifen soll. Potenzial zur Veränderung der arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen verschaffen somit nicht nur das Kostenkorsett der Unternehmen, sondern auch die weiteren Beteiligten im Sozialsystem. Die Flexibilisierungsdebatte im Arbeitsrecht ist also auch als sozialpolitische Verteilungsdiskussion zu verstehen.

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13. AUSBLICK Das Arbeitsrecht weist ein beachtliches strukturelles Beharrungsvermögen auf. Dies resultiert aus der historischen gewachsenen Differenzierung zwischen unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen mit unterschiedlichem Schutzbedarf, teils aus berechtigten Ängsten vor sozialpolitischen Experimenten mit höchst ungewissem Ausgang. Das Arbeitsverhältnis als Basis der wirtschaftlichen Existenz des Einzelnen wird daher zumindest in Österreich einer doppelten rechtlichen Absicherung unterzogen: Das arbeitsrechtliche Veränderungspotential wird nicht nur der (partei-)politischen und allgemein demokratiepolitischen Diskussion unterzogen, sondern muss einen sozialpartnerschaftlichen Einigungsprozess durchlaufen. Die damit einhergehenden positiven Aspekte bewirken umgekehrt ein gewisses Verharren in verkrusteten Strukturen.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ABGB AngG Arb

Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, JGS 946/1811 Angestelltengesetz, BGBl 292/1921 Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen der Gerichte und Einigungsämter, hrsg. v. Tades ArbuR Arbeit und Recht ARD ARD-Betriebsdienst ASoK Arbeits- und Sozialrechtskartei ASRÄG Arbeits- und Sozialrechts-Änderungsgesetz 1997 AÜG Arbeitskräfteüberlassungsgesetz, BGBl 196/1988 AuslbG Ausländerbeschäftigungsgesetz, BGBl 218/1975 AVRAG Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz, BGBl 459/1993 AZG Arbeitszeitgesetz, BGBl 461/1969 AZR Aktenzeichen für Revisionen des Bundesarbeitsgerichts (BRD) BAG Berufsausbildungsgesetz, BGBl 142/1969 oder Bundesarbeitsgericht (BRD) BB Der Betriebsberater, Zeitschrift für Recht und Wirtschaft (BRD) Bespr Besprechung BGB Bürgerliches Gesetzbuch, dRGBl 1896, 195 BGBl Bundesgesetzblatt DRdA Das Recht der Arbeit EFZG Entgeltfortzahlungsgesetz FN Fußnote

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FS GewO GS JAP JBl jusIT krit LGZ Losebl NZA OGH OLG Ra RdA RdW Rn SpuRt VwGH ZAS

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Festschrift Gewerbeordnung, RGBl 227/1859 Gedenkschrift Juristische Ausbildung und Praxisvorbereitung Juristische Blätter IT-Recht, Rechtsinformatik, Datenschutz kritisch(er) Landesgericht für Zivilrechtssachen Loseblattsammlung Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Rechtsmittel in Arbeitsrechtssachen beim OLG Recht der Arbeit Recht der Wirtschaft Randnummer Zeitschrift für Sport und Recht Verwaltungsgerichtshof Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht

L ITERATURVERZEICHNIS Achitz, Bernhard/Blum, Manuela/Dimitz, Erich/Flecker, Jörg/Lutz, Doris/Maßl, Wolfgang/Pastner, Ulrike/Schramm, Brigitte (1995): „Arbeiter/innen und Angestellte: Diskussionsgrundlagen für einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff“, in: Forschungsberichte aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 56, Wien. Adomeit, Klaus (1984): „Das Günstigkeitsprinzip – neu verstanden“, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 37, 26-28. Andexlinger, Helmut (1982): „Entscheidung Nr. 24“, in: Zeitschrift für Arbeitund Sozialrecht (ZAS) 17, S. 183-185. Andexlinger, Helmut (1997): „Krankenstand von Arbeitern“, in: ecolex 8, S. 599. Barancová, Helena (2009): „Flexikurita a pracovné právopre, 21 storočie“, in: Helena Barancová (Hg.), Pracovné právo. 21. Storočia, Plzeň: Aleš Čeněk, S. 22-52. Binder, Hans (2007): „Zur Bemessung und Dauer von Entgeltfortzahlungsansprüchen „, in: ZAS 42, S. 100-110.

266 | G ÜNTHER LÖSCHNIGG

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Arbeitskontexte und ihr Verhältnis zur Relevanzarbeit A RNO H EIMGARTNER

1. E INLEITUNG Arbeit wird in unterschiedlichen Formen erbracht: bezahlt und unbezahlt, in der Familie, in der Nachbarschaft und in Vereinen, vom Staat auferlegt, als Praktika oder in Tauschzirkeln. Diese Analyse geht zunächst der Frage nach, in welchen Arbeitskontexten (soziale) Leistungen für die Gesellschaft erbracht werden. Diese werden in einem weiteren Schritt definitorisch vorgestellt. Darauf aufbauend wird versucht, empirisches Material über die Zeitkontingente vorzulegen, die in den unbezahlten Arbeitskontexten erbracht werden. Schließlich werden Überlegungen zu einer Bewertung der bestehenden Verhältnisse angestellt: Inwieweit soll die derzeitige Aufteilung der Arbeit in den verschiedenen Kontexten über die Lebensspanne und in der Geschlechterdifferenz bestehen bleiben oder könnte sich eine andere Aufteilung als zielführender für die Gesellschaft erweisen? Wenn aber von „zielführend“ die Rede ist, dann gilt es im Sinne einer Qualitätsreflexion auch zu klären, inwieweit die einzelne Person bzw. die Gesellschaft auch Ziele benennt, die sich als Kriterien für relevante Arbeit eignen. Als Kristallisation wird in diesem Sinn schließlich der Begriff der Relevanzarbeit eingeführt. Dieser soll kennzeichnend für jene Arbeit sein, die sich individuell oder kollektiv in seiner Bedeutsamkeit abhebt. Der Beitrag klingt mit Fragen zur Zukunft des bestehenden Verhältnisses zwischen den Arbeitskontexten aus.

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2. K ATEGORISIERUNGSFRAGE : W IE LASSEN SICH ARBEITSKONTEXTE KATEGORISIEREN ? Kehrt man von der Gleichsetzung von Arbeit mit bezahlter Arbeit ab, wie sie etwa in der Formulierung „Arbeitest du derzeit?“ bisweilen mitklingt, so tut sich die Frage auf, welche Arbeitskontexte existieren und anhand welcher Kriterien sie zu differenzieren sind. Findenig und Heimgartner (2014: 208) publizieren einen Vorschlag zu Arbeitskontexten, der zwischen Eigenarbeit, familiärer Arbeit, informeller Freiwilligenarbeit, formeller Freiwilligenarbeit und bezahlter Arbeit unterscheidet. Diese Kategorisierung basiert auf unterschiedlichen Distinktionsdimensionen: a) Die Bezahlung unterscheidet die bezahlte Arbeit von anderen Arbeitskontex-

ten. Der Kostenersatz im Fall von freiwilligem Engagement oder die Familienbeihilfe im Fall von familiärer Arbeit 1 relativieren die Dimension zwar etwas, aber im Wesentlichen ist hier die Trennlinie über die monetäre Seite gezogen. Verschiedene Ausmaße (z.B. Teilzeitarbeit), Versicherungs- und Steuerleistungen (z.B. Geringfügige Beschäftigung, Schwarzarbeit) sowie rechtliche Formen (z.B. Selbstständige, Angestellte, ArbeiterInnen, Beamte) differenzieren die bezahlte Arbeit. b) Der Unterschied zwischen formeller und informeller Arbeit wird über die Eingebundenheit in eine Organisation definiert. Nachbarschaftshilfe und Arbeit im Freundeskreis gilt als informelle Hilfe, eine über einen Träger (z.B. Verein) organisierte Leistungserbringung wird als formelle Arbeit bezeichnet. Sowohl die formelle als auch die informelle Arbeit ist als Arbeit an Personen außerhalb des eigenen Haushaltes festgelegt. c) Anhand des Haushaltskriteriums ist teilweise die familiäre Arbeit zu erkennen. Diese ist wesentlich an Personen innerhalb des eigenen Haushaltes gerichtet. Dies berücksichtigt viele plurale Familienformen, nicht jedoch die dislokalen (z.B. Großeltern) oder binuklearen Familiensysteme. Familiäre Arbeit

1

Bei familiärer Arbeit wird üblicherweise nicht von bezahlter Arbeit gesprochen wird, obwohl verschiedene Leistungen und Ansprüche dadurch entstehen. So beträgt beispielsweise in Österreich die Familienbeihilfe im Jahr 2016 in Abhängigkeit des Alters des Kindes zwischen € 111,80. und € 162. Zudem erhöht sich der Betrag, wenn mehrere Kinder betreut werden gemäß einer Staffelung. Dies kann als Einkommen wahrgenommen werden.

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im eigenen Haushalt ist somit von familiärer Arbeit außerhalb des eigenen Haushalts zu unterscheiden. d) Daher ist auch ein verwandtschaftliches Verhältnis relevant. Subthemen sind Arbeit für Kinder, Enkelkinder, Eltern, Großeltern und andere Verwandte (u.a. Tante, Onkel, Neffe, Cousin). e) Als eigene Arbeitsform ist die Eigenarbeit auf die eigene Person gerichtet bzw. dient sie dieser. Sie ist also nicht direkt auf andere Personen wirkend. Sich selbst weiterzubilden, wäre beispielsweise eine solche Eigenarbeit. Auch Selbsthilfe, wie sie in Gruppen zahlreich besteht, kann jedenfalls anteilig als Eigenarbeit betrachtet werden. f) Es kann auch eine nicht-monetäre, aber definierte Gegenleistung bestehen. Etwas herausgehoben sind auf diese Weise Tauschzirkel, -kreise bzw. Local Exchange Tradings, die zwar nicht monetär abgegolten werden, bei denen aber eine Registrierung der Leistung anhand einer Einheit besteht. Bei einem informellen oder formellen Engagement kann ebenfalls die Erwartung einer Gegenleistung bestehen. So kann etwa eine Rettungshelferin zu Recht erwarten, dass ihr im Fall des Hilfebedarfs geholfen wird. Dennoch sind Dokumentation und Gegenseitigkeit im Fall eines Tauschzirkels anders aufgestellt, da die Inhalte verschriftlicht und fixiert sind. g) Eine Rolle spielt außerdem die Verpflichtung. Diese kann vom Staat oder im Rahmen einer Ausbildung bestehen. Zivildienst ist ein Beispiel staatlicher Verpflichtung oder verpflichtende Praktika können etwa im Rahmen eines Studiums verlangt werden. Leistungen, die verpflichtend zu erbringen sind, sind kein freiwilliges Engagement. Im Rahmen von familiären Tätigkeiten wird in der Regel nicht von einer Verpflichtung gesprochen, obwohl etwa bei der Betreuung von Kindern im Rahmen einer Erziehungsberechtigung auch eine Betreuungsverpflichtung besteht. Die Zeitverwendungsstudie der Statistik Austria (2009) ist jene Studie, die versucht, den Zeithaushalt der österreichischen Bevölkerung zu klären. Relevant für die Betrachtung der Arbeitsleistung sind in dieser Studie folgende Arbeitskontexte: persönliche Tätigkeiten, berufliche Tätigkeiten, Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Betreuung Erwachsener und Freiwilligenarbeit2. Während für die

2

Insgesamt orientiert sich die Studie an folgenden Kategorien: persönliche Tätigkeiten, berufliche Tätigkeiten, Schule und Weiterbildung, unbezahlte Arbeit (Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Betreuung Erwachsener, Freiwilligenarbeit), soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten. Die Grundfrage, woran Arbeit erkennbar und von Nicht-

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Tauscharbeit ein Äquivalent fehlt, haben die anderen Kategorien Parallelen zum Kategoriensystem von Findenig und Heimgartner (2014: 208). Die Freiwilligenarbeit fasst formelle und informelle Aspekte zusammen. Die familiäre Arbeit ist weiter differenziert in Haushaltsführung, Kinderbetreuung und Betreuung Erwachsener. Tabelle 1 zeigt die erarbeiteten Arbeitskontexte mit vorgeschlagenen Einstufungen zu den überlegten Definitionsmerkmalen.

Arbeit unterscheidbar ist, ist dadurch offensichtlich. Einfache Muster „ArbeitFreizeit“ sind in diesem Zusammenhang wenig tauglich, da es evident ist, dass auch in der von der bezahlten Arbeit getrennten Zeit gearbeitet werden kann.

A RBEITSKONTEXTE UND IHR V ERHÄLTNIS ZUR RELEVANZARBEIT

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Bezahlung

Finanzielle Hilfeleistung

Verpflichtung

Eingebundenheit in eine Organisation

Nicht-monetäre dokumentierte Gegenleistung

Ausrichtung an den eigenen Haushalt

Familiärer Bezug

Tabelle 1: Arbeitskontexte und Definitionsmerkmale

Eigenarbeit Interne familiäre Arbeit: Kinderbetreuung und bildung3 Interne familiäre Arbeit: Elternbetreuung Interne familiäre Arbeit: PartnerInbetreuung Interne familiäre Arbeit: Haushaltsführung

nein

nein

nein

nein

nein

nein

nein

nein

ja

ja

nein

nein

ja

ja

nein

möglich

teils

nein

nein

ja

ja

nein

nein

nein

nein

nein

ja

ja

nein

nein

nein

nein

nein

ja

ja

Externe familiäre Arbeit

nein

Informelles Engagement Formelles Engagement Tauscharbeit Staatliche Pflichtarbeit z.B. Zivildienst, Wehrdienst Praktika im Rahmen von Ausbildungen Geringfügige Beschäftigungen Bezahlte Arbeit im Sozialsystem Schwarzarbeit

Arbeitskontexte / Definitionsmerkmale

3

teils

nein

nein

nein

ja

nein nein nein

möglich nein nein nein

nein nein nein

nein ja ja

nein nein ja

nein nein nein

nein nein nein

nein

ja

ja

ja

nein

nein

nein

möglich

nein

ja

ja

nein

nein

nein

ja

nein

nein

ja

nein

nein

nein

ja

möglich

nein

ja

nein

nein

nein

ja

nein

nein

teils

nein

nein

nein

Über den Begriff „Kinderbildung“ sei veranschaulicht, dass in den Familien nicht nur Versorgungs- und Sicherheitsaufgaben übernommen werden, sondern eben auch Bildung stattfindet.

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3. D IE Z EITFRAGE : W IEVIEL Z EIT WIRD IN DEN VERSCHIEDENEN K ONTEXTEN VERBRACHT ? Der nächste und empirische Schritt ist es zu ergründen, wie die Zeitkontingente der Menschen in den Arbeitskontexten aussehen. Das Ergebnis der Zeitverwendungsstudie (Statistik Austria 2009: 36) sieht im Durchschnitt einen Überhang an persönlichen Tätigkeiten. Für die Freiwilligenarbeit sind wöchentlich bei Frauen 1,3 h und bei Männern durchschnittlich 1,5 h veranschlagt. Dies ist im Vergleich zu den beruflichen Tätigkeiten (18,7 h bzw. 30,7 h) gering. In der Haushaltsführung und in den beruflichen Tätigkeiten wird eine Geschlechterdifferenz sichtbar. Das Ausmaß an bezahlter Arbeit steigt unter den bezahlt Arbeitenden deutlich an: bei Männern 48,2 h und bei Frauen 39,0 h. Tabelle 2: Verbrachte Zeit in Arbeitskontexten pro Woche im Durchschnitt In Stunden / Woche Persönliche Tätigkeiten Berufliche Tätigkeiten Haushaltsführung Kinderbetreuung Betreuung Erwachsener Freiwilligenarbeit

Frauen 78,4 18,7 25,9 4,6 0,3 1,3

Männer 76,2 30,7 13,8 2,1 0,2 1,5

Quelle: Statistik Austria 2009

Auskunft über die Intensität der Freiwilligenarbeit geben auch die beiden bisher umgesetzten Freiwilligenstudien im Auftrag des BMASK (More-Hollerweger/ Heimgartner 2009; Public Opinion 2015). In der Studie von Public Opinion ist der Zeitaufwand nur für das informelle Engagement ausgewiesen: Der Zeitaufwand für informelle Freiwilligenarbeit beträgt demnach durchschnittlich 3-4 Stunden in der Woche (Public Opinion 2015: 33): 31% arbeiten 1-2 Stunden, 20% 3-5 Stunden, 9% 6-10 Stunden und 6% mehr als 10 Stunden. Die übrigen Befragten arbeiten nicht informell. Die Studie basiert auf der Befragung des Institutes für empirische Sozialforschung (2013: 36). Diese weist in Zusammenhang mit den Engagementbereichen auch auf das Stundenausmaß für das formelle Engagement hin: Dies rangiert im Durchschnitt zwischen 2,6 und 4,3 Stunden. Die Studie von More-Hollerweger und Heimgartner (2009) spricht von 4,1 Stunden durchschnittlich pro Woche an formellem Engagement und 3,6 Stunden pro Woche an informellem Engagement. Dazu ist zu vermerken, dass sich diese Zahlen auf die Aktiven in der

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Freiwilligenarbeit beziehen. Nur ein Teil der Bevölkerung engagiert sich in der Freiwilligenarbeit. Die Beteiligungsquote liegt bei Männern im formellen Bereich bei 32%, bei Frauen bei 24% und im informellen Bereich bei 32% bei Männern und bei 31% bei Frauen (Public Opinion 2015: 20). So dürfte der Abgleich mit der Zeitverwendungsstudie in etwa stimmig sein. Fazit ist, dass bei Frauen das Verhältnis familiärer Arbeit zu beruflicher Arbeit zu Freiwilligenarbeit nach der Zeitverwendungsstudie gerundet bei 24 : 14 : 1 liegt. Bei Männern ist das Verhältnis gerundet 11 : 20 : 1. Der Durchschnittsblick weist also darauf hin, dass über die Bevölkerung hinweg das Ausmaß an freiwilligem Engagement in dieser Aufstellung das mengenmäßige Schlusslicht an Arbeitsaktivitäten bildet. Dennoch ist in Summe das Ausmaß an freiwilliger Arbeit beträchtlich. In Österreich gibt es etwas über 100.000 Vereine, in denen freiwillige Arbeit geleistet wird. Die Summe an geleisteten Stunden wird in der Freiwilligenstudie 2009 für Österreich mit 7,9 Mio. Stunden pro Woche quantifiziert. Wie betont, weist das Verhältnis auch starke geschlechtsspezifische Ungleichheiten auf, die Gegenstand von Analysen zu sein haben. Mit der Verteilung der Hausarbeit beschäftigen sich etwa Buchebner-Ferstl und Rille-Pfeiffer (2008: 51). Sie differenzieren in der Erklärung der geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der Hausarbeit zwischen rollen-, handlungs- und emotionstheoretischen Zugängen. Sie erarbeiten vier verschiedene Paartypen, die sie mit folgenden Sätzen charakterisieren „Hausarbeit ist Frauensache“ (traditionell), „der Mann als Hilfsarbeiter“ (traditionell orientiert), „Gleiche Verantwortung, aber nicht unbedingt gleiche Verteilung“ (egalitär orientiert) und „Konsequentes Halbe-Halbe“ (egalitär).

4. D IE B EWERTUNG DES V ERHÄLTNISSES IN DEN ARBEITSKONTEXTEN : Z WISCHEN EINER ZIELLOSEN G ESELLSCHAFT UND DER W AHRNEHMUNG EINER R ELEVANZARBEIT Es gilt nun zu überlegen, ob das Verhältnis bzw. die Präsenz in den Arbeitskontexten im bestehenden Ausmaß passt. Eine solche Bewertung kann individuell oder gesellschaftlich vorgenommen werden. Dies führt zu zwei Fragen: (a) Wie sieht die Bewertung meiner Präsenz in den Arbeitskontexten für mich aus? (b) Wie sieht die Bewertung der Präsenz der Menschen in den Arbeitskontexten aus gesellschaftlicher Perspektive aus?

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4.1 Ad a) Subjektive Bewertungen Als eine Studie, die exemplarisch die biografische Thematik charakterisiert, kann die Masterarbeit von Scherz (2015: 68) herangezogen werden. Die Autorin hat 176 Jugendliche in Jugendzentren im Rahmen von Vernachlässigungsinhalten gefragt, inwieweit die Jugendlichen finden, dass ihre Eltern keine Zeit für sie haben. 21% der Jugendlichen geben an, dass dies auf ihre Väter zutrifft, und 11% der Jugendlichen meinen, dass dies auf ihre Mütter zutrifft. Eine andere Studie kommt aus umgekehrter Perspektive zu einer ähnlichen Aussage. In der Südtiroler Männerstudie von Armin/Böhnisch/Herzer (2012: 76) sagen 58,6% der Männer, dass sie gerne mehr Zeit mit der Familie verbringen würden und 65,5% der Männer möchten gerne mehr Zeit haben, um mit ihren Kindern zusammen zu sein. Diese Ergebnisse lassen sich durch die Studie von Griesbacher und Griesbacher (2016: 140) ausweiten. 72,6% der befragten Beschäftigten im öffentlichen und öffentlichkeitsnahen Sektor in der Steiermark (n=1.233) wünschen sich zumindest etwas mehr Zeit, um diese mit PartnerIn und Familie zu verbringen und 63,1% wünschen sich zumindest etwas mehr Zeit für Freunde. Andere biografische Disharmonien in Bezug auf die Verteilung auf die Arbeitskontexte können nur vermutet werden. Vielleicht fühlen sich ältere Leute exkludiert vom bezahlten Arbeitsmarkt und würden darin gerne länger partizipieren. Vielleicht gibt es hierin sogar Parallelen zu jungen Erwachsenen, die in stets länger werdenden Ausbildungszeiten ebenfalls eine Beteiligung am bezahlten Arbeitsmarkt vermissen können. Auch die Teilnahme im freiwilligen Engagement kann sich vielleicht für manche Menschen als nicht niederschwellig darstellen. Personen mit Beeinträchtigungen, aber auch Personen mit hohen Zeitvolumina in der bezahlten Arbeit vermissen möglicherweise freiwilliges Engagement. Auch ein Zuviel an Haushaltszeiten und die Verhinderung von bezahlter Arbeit und Freiwilligenarbeit ist insbesondere für manche Personen wahrscheinlich anzunehmen, die bezahlte Arbeit suchen bzw. durch familiäre Aufgaben daran gehindert werden, ein freiwilliges Engagement aufzunehmen. Als ein Diskurs, der die Verteilungsthematik berührt, ist die work-lifebalance zu nennen. Er bemüht sich um eine Vereinbarkeit von bezahlter Arbeit und Privatleben. Mitzudenken ist in diesem Diskurs, dass für eine Gesellschaft relevante Leistungen in verschiedenen Arbeitskontexten stattfinden. Als übergeordnetes Konstrukt wird in der Forschung etwa auf Well-Being fokussiert, das die Lebensumstände und -zusammenhänge umfassender einbezieht. So wird in der OECD-Studie „How´s Life?“ (2015) auf personale Dimensionen (u.a. Gesundheit, Einkommen, Bildung, Work-Life-Balance) und auf gesellschaftliche

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Ressourcen (z.B. Umwelt, Ökonomie) in Verbindung mit Volunteering eingegangen. Für sich ein interessantes Faktum ist, dass bezahlte Arbeit bis auf einige Ausnahmen (z.B. Werkverträgen) zeitorientiert ist (z.B. 20 h, 30 h, 40 h). In diesen Zeitkontingenten hat Arbeit zu erfolgen. Folglich ist es in der bezahlten Arbeit häufig nicht vorgesehen, dass etwa bei der rascheren Erledigung von Aufgaben oder bei einer Selektion der wichtigen Aufgaben, eine frühere Beendigung der Arbeit möglich ist. Dies gilt übrigens auch für die Schule. Eine Schülerin, die beispielsweise zu Beginn eines Jahres im geplanten Jahresumfang Geografie- oder Mathematikkenntnisse vorweist, kann üblicherweise dadurch nicht die Schulstunden reduzieren4. In der Regel besteht kein zeitlicher Anreiz sich einen Stoff im Vorneherein selbst, mit familiärer oder mit informeller Unterstützung anzueignen. 4.2 Ad b) Gesellschaftliche Relevanzen Gesellschaftlich ist die Diskussion insofern als offen zu führen, da für die gesellschaftliche Entwicklung erstens kaum konsensuell erarbeitete Ziele vorliegen, aus denen Ableitungen über die Qualität des Verhältnisses der Präsenzen in den Arbeitskontexten zu treffen sind. In einer komplexen Gesellschaft ist es daher schwierig festzumachen, in welcher Weise eine bestimmte Arbeit verschiedenen gesellschaftlichen Zielen dient. Ansätze, die einer solchen intentionalen Denkweise in der Gesellschaft entsprechen, sind selten. Eine Ausnahme sind die Milleniumsentwicklungsziele (UN Milleniumskampagne 2000). Diese beziehen sich auf die Reduktion von Armut und Hunger, auf die Primarschulbildung für alle, die Gleichstellung der Geschlechter, die Senkung der Kindersterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheitsvorsorge von Müttern, die Bekämpfung von AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten, eine ökologische Nachhaltigkeit und den Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung. Diese Ziele vertreten also einen globalen Blick. Im Wesentlichen scheint unsere Gesellschaft aber eine ziellose Gesellschaft zu sein, in der dementsprechend Tätigkeiten unterschiedlichster Art parallel nebeneinanderstehen. Es gibt keine dokumentierte Differenzierung, inwieweit eine Tätigkeit für das Gemeinwohl Sinn macht. Zweitens ist eine bewertende Relationierung von Arbeiten in den verschiedenen Kontexten nicht in Sichtweite. Eine pauschale und empirisch nicht fun-

4

Eine Ausnahme bietet das Überspringen einer Klasse.

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dierte Ab- bzw. Aufwertung erscheint deshalb willkürlich. So sind insbesondere die sozialen Problemlagen, die die Gesellschaft bedrücken, nicht allesamt den gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen zuzuordnen bzw. kann von einer Änderung der Arbeitsverhältnisse nicht eine bestimmte soziale Veränderung vorhergesagt werden. Soziale und gesundheitliche Themen sind deshalb nur thesenhaft mit den Arbeitsverhältnissen in Verbindung zu bringen: Eingebracht kann etwa werden, dass die derzeitigen monetären Systeme und damit verbundene Anerkennungsnormen nur bedingt sozialen Erfordernissen entsprechen. Dies kann etwa darauf zurückgeführt werden, dass verkürzend gewinnorientierte Systeme im Idealfall erfordern, dass wenige Personen etwas produzieren, dass von vielen Menschen konsumiert wird. Viele soziale Leistungen sind aber dadurch gekennzeichnet, dass sie nach dem Uno-Actu-Prinzip erfolgen, d.h. dass es einer Person bedarf, die mit einer anderen Person handelt. Die Care-Diskussion kann hier erwähnt werden, aber auch die Bildungsdiskussion ist von der Relation der Lehrenden zu den Lernenden abhängig. Auch die staatlichen Monetärleistungen, die einen inhaltlichen Ausgleich anstreben und überdies für die gesellschaftliche Infrastruktur sorgen sollen, gelangen an quantitative Grenzen. Aus dem Bereich der Rettungs- und Katastrophenhilfe weiß man, dass sehr viele Personen bereit sein müssen, im Bedarfsfall zu handeln, damit eine hohe Qualität erzeugt werden kann. Nationale Feuerwehren mit ausgedehnten Freiwilligensystemen scheinen deshalb nationalen Feuerwehren mit vergleichsweise beschränkten Berufsfeuerwehren überlegen zu sein (z.B. in der Anfahrtszeit). Auch scheint die bezahlte Arbeit das emotionale Bindungsgefüge nicht ausreichend zu erreichen. Viele über die bezahlte Arbeit hergestellte Waren und Kontakte können möglicherweise nicht mit den relevanten Lebensthemen mithalten. Zeit für PartnerInnen, für Kinder und für Eltern besitzt möglicherweise eine andere Qualität und Aufgabenkonstellation als Kontakte mit MitarbeiterInnen und KundInnen (z.B. intergenerative Bildungsprozesse, familiäre Aushandelungen, Klärung des Erbes). Wenn unsere Gesellschaft derzeit in den Beziehungen und familiären Strukturen sehr brüchig ist, so liegt dies möglicherweise auch an den zeitlichen Möglichkeiten, die für die Pflege dieser familiären Aufgaben zur Verfügung stehen. Möglicherweise investiert unsere Gesellschaft zu wenig Zeit in die Entwicklung von Personen und derart gelagerter Kommunikation. Während beispielsweise Spielwaren in großem Stil ver- und gekauft werden, wird in Österreich nur begrenzt in die Gewaltprävention investiert, obwohl etwa 10% der Eltern in Österreich „körperliche Züchtigungen“ zumindest in Ausnahmefällen für angebracht halten (vgl. BMFJ 2014: 13; Hutzler 2015). Auch der relative Anteil der fremduntergebrachten Kinder in der Kinder- und

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Jugendhilfe hat sich im letzten Jahrzehnt zumindest in der Steiermark nicht reduziert (vgl. Heimgartner 2009: 200; Heimgartner/Scheipl 2011: 24). Auch gesundheitliche Fragen sind von der Verteilung der Arbeitskontexte abhängig und werden von der bezahlten Arbeit möglicherweise nur ungenügend erfasst. Wie die Analysen im freiwilligen Engagement zeigen, bedarf eine Gesellschaft beispielsweise in hohem Ausmaß sportlicher und kultureller Aktivitäten, die wiederum nicht im selben Ausmaß in der bezahlten Arbeit abgedeckt werden. Insgesamt scheint die bezahlte Arbeit, aber auch das Bildungssystem den Bewegungs- und Ruhebedürfnissen einer Gesellschaft nur bis zu einem gewissen Grad nachzukommen. In einer ethnografisch orientierten Studie von Gspurning, Heimgartner, Leitner und Sting (2011: 182) wird für schulische Nachmittagsbetreuungen und Horten das Wohlfühlen der Kinder thematisiert. Als ein wesentliches Element, das die Kinder im Schulalltag vermissen, stellt sich dabei die Bewegung im Freien heraus. Aber wie eingangs erwähnt, bleiben dies subjektive Einschätzungen des Status quo und Spekulationen über die Folgen einer veränderten Zeitpolitik. In diesem Sinn kann man von Hoffnungen und Befürchtungen sprechen, wie in Tabelle 3 angedacht wird. Eine interessante Frage, die sich – unabhängig vom Arbeitskontext – aus Zieldefinitionen und Bewertungen ableitet, ist, ob die Thematisierung von so etwas wie einer Relevanzarbeit Sinn macht. Relevanzarbeit wäre jene Arbeit, die für die Gesellschaft wichtig ist. Aufbauend auf der Annahme, dass Tätigkeiten unterschiedlich relevant für die Gesellschaft sein können, wären damit Tätigkeiten möglicherweise neu zu bewerten. Dies eröffnet die Diskussion zu Fragen über eine gewollte Zukunft.

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Tabelle 3: Hoffnungen und Befürchtungen zu den Arbeitskontexten, die mit einer Zu- bzw. Abnahme verbunden sind Arbeitskontext Eigenarbeit

Hoffnung bei Zunahme

Interne familiäre Arbeit

Beziehungspflege; weniger Trennungen und Scheidungen; Übernahme von Bildungsaufgaben; Weitergabe von Traditionen, Werten und Kultur; Entwicklung von Lebensfreude; zwischenmenschliche Anerkennung Abbau von Exklusion von älteren Menschen; Pflege von binuklearen Familien Ausbau der nachbarschaftlichen Leistungen; Entwicklung sozialräumlicher, kollektiver Strukturen; Entwicklung von sozialem Kapital Ausbau sinnorientierter Leistungen; Wahrnehmung und Bewältigung von gesellschaftlichen Problemen und Bedürfnissen; Verbindung von Generationen Regionale Arbeitszirkel; Neubewertung von Leistungen

Externe familiäre Arbeit Informelles Engagement Formelles Engagement

Tauscharbeit

Stärkung der Persönlichkeit; Abnahme von Gesundheitsproblemen; gebildete Gesellschaft

Pflichtarbeit Praktika

Abdeckung von gesellschaftlichen Bedarfen Schaffen von Bildungsmöglichkeiten; Aufbau von Erfahrungsräumen

Bezahlte Arbeit

Schaffen von Wohlstand; soziale Vernetzung und Anerkennung; gesellschaftlicher Status und Erfolg; materieller Gewinn; monetärer Wettbewerb

Befürchtung bei Abnahme Zunahme von persönlichen Problemen (z.B. Überforderungen, Suizide) brüchige Familien; Gesellschaft von Singles; Bildungs- und Kulturverlust; vernachlässigte Kinder; soziale Probleme (u.a. Gewalt) Einsamkeit; exkludierte Generationen; Verwahrlosung im Alter Soziale Wohnkälte; Entfremdung vom lokalen Umfeld; mangelnde Hilfsbereitschaft Gesellschaftlicher Qualitätsverlust; Abnahme von wichtigen Leistungen in den zivilgesellschaftlichen Bereichen Abwanderung von Leistungen; kompetitive Dynamiken Lücken in gesellschaftlicher Versorgung, Entfernung von Praxis; Schwierigkeiten bei Berufseinstieg Destabilisierung; Verringerung der Lebensqualität; Versorgungsmängel; Existenzschwierigkeiten

A RBEITSKONTEXTE UND IHR V ERHÄLTNIS ZUR RELEVANZARBEIT

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5. W IE WIRD ES IN Z UKUNFT WEITERGEHEN : W OHIN BEWEGEN SICH DIE ARBEITSKONTINGENTE ? Wenn es um Veränderung zu einer „gelingenderen“ Gesellschaft (Thiersch 2012) geht, dann steht auch die Frage der Entscheidungsfindung im Raum. Es ist ein demokratisches Thema, wer an dieser Ordnung der Arbeitszeiten und -belastungen bastelt bzw. wodurch die vorgefundene Realität bestimmt wird. Folgende Fragen- und Aufgabenblöcke leiten sich als Anstöße für diskursive Prozesse für die Zukunft ab: • Von einem Arbeitskontext zu den Verhältnissen der Arbeitskontexte:











Bleibt die Diskussion auf einen Arbeitskontext konzentriert oder wird man in Zukunft in Verhältnissen zwischen den Arbeitskontexten denken? Vielleicht wird man sogar über die Lebensspanne so etwas wie eine Bilanz an Kontingenten an Arbeitskontexten vorlegen? Dokumentation aller Arbeitskontexte: Will man die derzeit undokumentierten Arbeitsleistungen (z.B. freiwilliges Engagement, familiäre Arbeit) in wöchentlichen Zeiteinheiten dokumentieren und wie lässt sich dies bewerkstelligen? Ist dies gewollt und ist dies fair? Sollten solche Wahrnehmungen gesellschaftlich relevant werden und in welcher Form ist dies sinnvoll zu erreichen? Veränderung des Ausmaßes der bezahlten Arbeit: Lässt sich die bezahlte Arbeitszeit der Berufstätigen (inkl. Selbstständigen) reduzieren, damit für die anderen Arbeitskontexte mehr Zeit bleibt? Wie lassen sich Menschen, die derzeit gerne bezahlt arbeiten möchten, auf ein durchschnittliches Ausmaß heben? Wie sieht die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern in Zukunft aus? Wie kann dabei unser Wohlstand bewahrt und ausgebaut werden, ohne die individuellen Existenzen zu gefährden? Durchgängige detaillierte Monetarisierung oder Grundeinkommen: Werden vielleicht alle Arbeitskontexte monetarisiert, sodass die Differenzierung in dieser Richtung wegfällt? Oder wird es ein pauschales Grundeinkommen geben und wie wird dies die Arbeitszeiten verändern? Von der Zeit- zur Aufgabengesellschaft: Werden wir auch weiterhin in Zeiteinheiten unsere Arbeit ordnen oder wird es eine Orientierung am Workload geben? Anreizsysteme für freiwilliges Engagement: Verpflichtung schließt freiwilliges Engagement definitorisch aus, aber wird der Staat angesichts neuer Herausforderungen zu neuen Anreizsystemen greifen, wie können diese aussehen und wie würde die Gesellschaft darauf reagieren?

286 | A RNO H EIMGARTNER • Bestimmung von Relevanzarbeit:

Wird in Zukunft zwischen gesellschaftlich relevanter und irrelevanter Arbeit unterschieden? Wird zwischen egoistischer und sozial sinnvoller Arbeit unterschieden? Wird gemeinwohlorientierte Arbeit ausgewiesen und wie würde dies gehen? In diesem Zusammenhang sind auch die Aufgaben der Forschung in der Gestaltung unserer Zeit- und Arbeitspolitik zu betrachten. Diese könnten erstens darin liegen, verstärkt die Gesamtheit der Arbeitskontexte darzustellen. Zweitens könnte es eine Aufgabe sein, veränderte Zeit- und Arbeitskulturen empirisch aufzuspüren, zu reflektieren und anzuregen. Drittens bietet auch die Frage der Bewertung der Arbeit als gesellschaftliches Werk forscherische Perspektiven. Dass dafür ein breites Verständnis von gesellschaftlich relevanter Arbeit nötig ist, das eben auch die Arbeitskontexte jenseits der bezahlten Arbeit umschließt, wollte der vorliegende Beitrag zeigen.

L ITERATURVERZEICHNIS Bernhard, Armin/Böhnisch, Lothar/Herzer, Gernot (Hg.) (2012): Lebenswelten der Männer in Südtirol. Autonome Provinz Bozen – Südtirol / Provincia Autonoma di Bolzano – Alto Adige. Landesinstitut für Statistik – ASTAT. Bundesministerium für Familien und Jugend (Hg.) (2014): Das Recht auf eine gewaltfreie Kindheit. 25 Jahre gesetzliches Gewaltverbot – eine Zwischenbilanz. Bundesministerium für Familien und Jugend gemeinsam mit den Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs. Wien. Buchebner-Ferstl, Sabine/Rille-Pfeiffer, Christiane (2008): Hausarbeit in Partnerschaften Studie „The glass partitioning wall“ zur innerfamilialen Arbeitsteilung – Ergebnisse für Österreich, Nr. 69. Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien. Griesbacher, Martin/Griesbacher, Eva-Maria (2016): Herausforderungen selbstbestimmt‐ flexibler Arbeitszeiten in der unselbständigen Beschäftigung. Forschungsbericht, Spectro gemeinnützige Gesellschaft für wissenschaftliche Forschung GmbH, Wien. Gspurning, Waltraud/Heimgartner, Arno/Leitner, Sylvia/Sting, Stephan (2011): Soziale Qualität von Nachmittagsbetreuungen und Horten.Wien: LIT-Verlag. Heimgartner, Arno (2009): Komponenten einer prospektiven Entwicklung der Sozialen Arbeit. Wien: LIT-Verlag.

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Heimgartner, Arno/Findenig, Ines (2014): „The Participation of the Elderly as an Aim of Social Work in Austria“, in: Zeszyty Pracy Socjalnej, S. 205-217. Heimgartner, Arno/Scheipl, Josef (2011): Kinder-, Jugend- und Familienwohlfahrt in der Steiermark. Forschungsbericht. Graz. Hutzler, Rebecca (2015): Präventive Maßnahmen zum Schutz vor familiärer Gewalt gegen Kinder. Masterarbeit. Universität Graz. Institut für empirische Sozialforschung (2013): Freiwilliges Engagement in Österreich – Bundesweite Bevölkerungsbefragung 2012. Studienbericht. BMASK: Wien. More-Hollerweger, Eva/Heimgartner, Arno (2009): 1. Bericht zum Freiwilligen Engagement in Österreich. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz. Wien. OECD (2015): How`s Life? Measuring Well-Being. Paris: OECD Publishing. Public Opinion (2015): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des Freiwilligen Engagements in Österreich. 2. Freiwilligenbericht. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz. Wien. Scherz, Kathrin (2015): Die Prävalenz von Gewalt und Vernachlässigung in der Erziehung in Graz und in der Weststeiermark. Masterarbeit. Universität Graz. Statistik Austria (2009): Zeitverwendung 2008/09. Ein Überblick über geschlechtsspezifische Unterschiede. Endbericht. Wien. Thiersch, Hans (2012): „Gutes Leben im Konzept des gelingenderen Alltags“, in: Neue Praxis Sonderheft 11: Das Normativitätsproblem der Sozialen Arbeit, S. 90-94. UN Milleniumskampagne (2000): Die UN-Milleniumsentwicklungsziele, Online unter: http://www.un-kampagne.de/index.php?id=90 vom 30.03.2016.

Berufliche Qualifikationsrisiken jenseits des „Normalarbeitsverhältnisses“ M ATTHIAS D ÜTSCH UND O LAF S TRUCK

1. E INLEITUNG In den letzten Jahren ist aufgrund von wirtschafts- und sozialstrukturellen Wandlungsprozessen sowie arbeitsmarktpolitischen Deregulierungen der Anteil der Arbeitsverhältnisse „jenseits“ des Normalarbeitsverhältnisses (Keller/Seifert 2011) von einstmals deutlich unter 20% auf heute gut 40% gestiegen. In der Hoffnung, verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit durch Flexibilisierung von Beschäftigung insbesondere in geringer qualifizierten Tätigkeitssegmenten in den Arbeitsmarkt auflösen zu können, wirkte staatliche Politik an der Ausweitung sogenannter atypischer Beschäftigung mit. Damit war zugleich das Ziel verbunden, durch mehr Beschäftigung eine Entlastung des Sozialsystems zu bewirken. In Deutschland wurde der Kündigungsschutz seit 1985 in mehreren Initiativen gelockert und der Einsatz wiederholt befristeter Beschäftigung erleichtert. Leiharbeit wurde liberalisiert. Mit den sogenannten „Hartz-Gesetzen“ wurde zudem durch die Kürzung des Arbeitslosengeldes nach einem Jahr und einer Politik der „Aktivierung“ der Druck zur Arbeitsaufnahme auf Arbeitslose erhöht. Bei gleichzeitig hohen Arbeitslosigkeitszahlen stand den Unternehmen damit ein enormes Überangebot an Erwerbspersonen bei zugleich erleichterten Bedingungen für einen nummerischen und zeitflexiblen Einsatz zur Verfügung. Dies erhöhte den Druck auf Löhne in jenen Bereichen, in denen Personal austauschbar ist. Tatsächlich hat sich in der Folge die Zahl der Beschäftigten erhöht, dies aber lediglich im Niedriglohnbereich, bei geringfügiger Beschäftigung, Teilzeit- und Leiharbeit sowie Soloselbständigkeit. Die Zahl der Vollzeitstellen ging hingegen zurück. Protagonisten der Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes heben zu Recht hervor, dass aufgrund der neuen Regulierungen mehr Personen in Beschäftigung ge-

290 | M ATTHIAS D ÜTSCH UND OLAF STRUCK

langt sind, die zuvor nur geringe Chancen gehabt hätten, überhaupt eine Arbeit zu finden (Dietz/Walwei 2007). Aber was passiert mit Menschen nach ihren Eintritten in Arbeitsverhältnissen jenseits der „Normalarbeit“ (Mückenberger 1985). Der vorliegende Beitrag1 geht erstens der Frage nach, ob die atypischen Beschäftigungsformen unbefristete Teilzeitarbeit, kurzfristige Teil- und Vollzeitarbeit, befristete Beschäftigung, Zeitarbeit und Saisonarbeit sowie freie Mitarbeit Chancen für eine dauerhafte Stelle oder gar für Übergänge in ein Normalarbeitsverhältnis bieten. Es ist zu erwarten, dass gerade in atypischen Beschäftigungsverhältnissen kein betriebs- oder berufsspezifisches Humankapital aufgebaut bzw. erhalten werden kann, atypisch Beschäftigte oftmals von betrieblichen Weiterbildungen ausgeschlossen sind und selbst berufsfachlich ausgebildete Personen in Anlerntätigkeiten eingesetzt werden (Brehmer/Seifert 2008; Struck/Dütsch 2012). Entsprechend dieser Befürchtung wird zweitens gefragt, ob und inwieweit eine eingeschränkte Verwertbarkeit bzw. ein Verlust der im Bildungsprozess erworbenen beruflichen Qualifikationen beobachtbar ist, so dass dauerhafte Beschäftigungs- und Verdienstrisiken für Arbeitskräfte bestehen, die in atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig sind.

2. F OLGEN

ATYPISCHER B ESCHÄFTIGUNG FÜR BERUFLICHE Q UALIFIKATIONEN

In offenen Beschäftigungssystemen, die aus betrieblicher Sicht der externen Flexibilitätsanpassung dienen, ist Qualifizierung im Lernort Betrieb sehr erschwert. In offenen Beschäftigungssystemen sind zumeist einfache Routinetätigkeiten (Struck 2006; Struck/Dütsch 2012) sowie auch große Anteile atypischer Beschäftigung angesiedelt. In diesen Tätigkeiten sind die Anforderungen an fachliche und betriebsspezifische Qualifikationen sehr häufig niedrig (Baethge 2004). Zudem besteht seitens der Arbeitgeber nur wenig Interesse daran, Investitionen in das Humankapital von Beschäftigten in atypischen Beschäftigungsformen in Form von Aus- und Weiterbildungen zu tätigen (Brehmer/Seifert 2008), da bei Beendigung der kurzfristigen Arbeitsbeziehungen „sunk costs“ entstehen. Investitionen in Humankapital amortisieren sich besser in längerfristigen Arbeitsbe-

1

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung des in Industrielle Beziehungen – Zeitschrift für Arbeit, Organisation und Management, 2014, Heft 1 erschienen Aufsatzes „Atypische Beschäftigungen und berufliche Qualifikationsrisiken im Erwerbsverlauf“.

B ERUFLICHE Q UALIFIKATIONSRISIKEN

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ziehungen. Eine solche Voraussetzung ist in Normalarbeitsverhältnissen (Mückenberger 1985), in geschlossenen bzw. internen Arbeitsmärkten gegeben. Darüber hinaus ist gemäß humankapitaltheoretischer Überlegungen zu berücksichtigen, dass Qualifikationen umso nachhaltiger erodieren, je länger sie nicht in den Arbeitsprozess eingebracht werden können (Becker 1993). Solche Risiken können vor allem in atypischen Beschäftigungen bestehen, da diese häufig in offenen Beschäftigungssystemen mit geringen qualifikatorischen Arbeitsforderungen angesiedelt sind (Struck/Dütsch 2012). Sind sogenannte Einsperreffekte in atypischen Beschäftigungen oder Drehtüreffekte zwischen Arbeitslosigkeitsphasen und Phasen atypischer Beschäftigung vorhanden, dann besteht die Gefahr eines nachhaltigen Verlustes beruflicher Qualifikationen mit wiederum verstärkten nachteiligen Folgen, die eigene Beschäftigungsfähigkeit auf internen und externen Arbeitsmärkten aufrechtzuerhalten. Da zudem im Bereich der offenen Beschäftigungssysteme Arbeitszeugnisse, Arbeitsergebnisse oder Reputation keine hinreichenden Signale bieten (Spence 1973), werden Schließungsprozesse – so die Erwartung – noch einmal mehr verstärkt (Alewell/Hansen 2012; Struck/Dütsch 2012). Aus diesen Gründen wird konstatiert, dass insbesondere in den offenen, durch externe Flexibilität gekennzeichneten Beschäftigungssystemen betriebsspezifisches Humankapital an Bedeutung verliert und eine Erosion bereits erworbener beruflicher Qualifikationen stattfindet (Sesselmeier 2007; Struck/ Dütsch 2012).

3. D ATEN

UND

O PERATIONALISIERUNG

Die Analysen zu Schließungsmechanismen atypischer Beschäftigungsformen basieren auf dem Datensatz „Arbeiten und Lernen im Wandel“ (ALWA) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Grundgesamtheit sind Personen der Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland der Geburtsjahrgänge 1956 bis 1988. Es wurden 10.404 Interviews realisiert. Um Verzerrungen aufgrund von Selektivitäten ausgleichen zu können, wurde basierend auf dem Mikrozensus 2007 ein Gewichtungsfaktor für die ALWA-Stichprobe generiert, der in den nachfolgenden empirischen Analysen berücksichtigt wird. Für die Auswertungen wurden die gewichteten Daten der in Westdeutschland geborenen und dort erwerbstätigen Personen eingeschränkt auf jene, die zwischen 1973 und 2002 ihre erste Beschäftigung aufgenommen hatten. Zudem werden Erwerbstätigkeiten ausgeschlossen, die während der Ausbildungsphase ausgeübt wurden oder eine selbständige Tätigkeit umfassten. Nach diesen Bereinigungen verblei-

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ben für die empirischen Analysen 16.336 Erwerbsspells, die zwischen den Jahren 1973 und 2008 beobachtet werden können. Die Abgrenzung der atypischen Beschäftigungsformen erfolgt trennscharf, so dass es keine Überschneidungen beispielsweise von Teilzeitarbeit und einer Befristung gibt. Eine Tätigkeit wird als unbefristete Vollzeitbeschäftigung bzw. als Normalbeschäftigungsverhältnis definiert, wenn die Arbeitszeit 35 und mehr Stunden pro Woche betrug und als unbefristete Teilzeitbeschäftigung ausgewiesen, wenn weniger als 35 Stunden pro Woche gearbeitet wurden. Dementsprechend kann die unbefristete Teilzeitbeschäftigung auch geringfügige Teilzeitarbeit umfassen. Der Status kurzfristige Beschäftigung kennzeichnet sozialversicherungspflichtige und unbefristete Voll- sowie Teilzeittätigkeiten, die innerhalb eines Jahres wieder beendet wurden. Ein befristetes Beschäftigungsverhältnis ist durch einen befristeten Arbeitsvertrag in Vollzeit oder auch Teilzeit charakterisiert. Zeitarbeit, Saisonarbeit und freie Mitarbeit umfassen jeweils alle Tätigkeiten, die unabhängig von der Dauer der Arbeitszeit in diesen Beschäftigungsformen ausgeübt wurden und keiner arbeitsvertraglichen Befristung unterlagen. Daraus resultieren 8.646 Erwerbsspells in unbefristeter Vollzeitbeschäftigung, 1.689 in unbefristeter Teilzeitbeschäftigung, 2.410 in kurzfristiger Voll- bzw. Teilzeitbeschäftigung, 2.476 in befristeter Beschäftigung, 227 in Zeitarbeit, 250 in Saisonarbeit sowie 638 in freier Mitarbeit. Es gilt jedoch zu bedenken, dass in der Realität Überschneidungen z.B. in Form einer befristeten Zeitarbeitstätigkeit vorkommen. Aufgrund der begrenzten Fallzahlen konnten jedoch nicht alle Kombinationsmöglichkeiten in den empirischen Analysen abgebildet werden. Inhaltlich bedeutet diese Informationsreduktion, dass mögliche Risiken für den Erhalt beruflicher Qualifikationen in dieser Studie tendenziell unterschätzt werden. Die empirischen Analysen werden in zwei Schritten durchgeführt. Zunächst werden die individuellen Merkmale atypisch beschäftigter Personen, der vorherige Erwerbsstatus sowie strukturelle Faktoren anhand von multivariaten Regressionsmodellen beschrieben, um insbesondere Zugangs- und Verbleibsrisiken in atypischen Beschäftigungen zu verdeutlichen. Dabei werden alle Erwerbsspells einer Person jeweils zu Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses betrachtet. Es werden multinomiale Logit-Schätzungen mit cluster-robusten Standardfehlern durchgeführt (Wooldridge 2010), wobei mittels der abhängigen Variable die oben definierten Beschäftigungsformen in ihren Differenzen zum Normalbeschäftigungsverhältnis untersucht werden. Die Kovariaten schließen das Geschlecht, Altersangaben, die Haushaltszusammensetzung, Angaben zu zusätzlichen Aus- und Weiterbildungen, den vorherigen Erwerbsstatus, Informationen zu den Wirtschaftszweigen sowie Perioden- und Kohorteneffekte ein.

B ERUFLICHE Q UALIFIKATIONSRISIKEN

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Der zweite Analyseschritt dient dazu, die Determinanten des Erhalts bzw. Verlustes beruflicher Qualifikationen in atypischen Beschäftigungsformen zu erforschen. In diesem Kontext ist es nötig, Berufswechsel angemessen zu operationalisieren, um empirisch mittels eines Vergleichs des erlernten Berufes bzw. der erworbenen beruflichen Qualifikationen mit dem Erwerbsberuf die Passgenauigkeit und Adäquanz der ausgeübten Tätigkeit nachvollziehen zu können. Dazu wurden bislang in der Regel Berufskennziffernvergleiche durchgeführt (Hall 2010; Matthes et al. 2008).2 Allerdings wird dieses Vorgehen in der jüngeren Berufsforschung aufgrund der damit einhergehenden Messungenauigkeiten zunehmend kritisch gesehen. Es wird auf Validitätsprobleme von Analysen auf Basis dieser historisch gewachsenen Berufsklassifikationen hingewiesen (ebd.). Aus diesen Gründen haben Matthes et al. (2008) eine neue Kategorisierung von Berufen nach sogenannten Berufssegmenten vorgenommen. Diese trägt dazu bei, „die Berufsfachlichkeit des Arbeitsmarktes besser abzubilden“, und bietet eine „größere Verlässlichkeit hinsichtlich der Analyse horizontaler beruflicher Mobilität“ (ebd.: 28). Wir nutzen diese neue Klassifizierung nach Berufssegmenten, um horizontale Mobilitätsprozesse abzubilden, wobei wir im Folgenden vereinfachend nicht die Begriffe „Berufssegment“ und „Berufssegmentwechsel“, sondern „Berufe“ und „Berufswechsel“ verwenden. Neben der horizontalen Dimension, in der Berufswechsel stattfinden können, muss auch die vertikale Struktur von Berufen beachtet werden (Konietzka 1999; Wiemer et al. 2011). Diese spiegelt das Anforderungsniveau bzw. die Komplexität der auszuübenden Tätigkeiten wider. In dieser Dimension können infolge von Aufstiegsqualifizierungen oder auch aufgrund von nicht adäquaten (z.B. unterkomplexen) Beschäftigungen Berufswechsel stattfinden, die sich nicht über die Kennziffern einer Berufsklassifikation abbilden lassen (Hall 2010). Deshalb greifen wir auf eine Typisierung von Anforderungsniveaus zurück, die im Rahmen der Klassifikation der Berufe 2010 entwickelt wurde. Dabei werden innerhalb einer berufsfachlich gegliederten Berufsgruppe vier Anforderungsniveaus ausgewiesen (Wiemer et al. 2011).3 Auf Basis dieser horizontalen und vertikalen Dimensionen, entlang derer Berufswechsel stattfinden können, ist es möglich, im Zuge von Mobilitätsanalysen

2

Lediglich in BIBB/IAB-Erhebungen wurde bislang versucht, dieses Problem durch

3

Es handelt sich um Helfer- und Anlerntätigkeiten, fachlich ausgerichtete Tätigkeiten,

subjektive Einschätzungen der Befragten zu einem Berufswechsel zu lösen. komplexe Spezialistentätigkeiten sowie hoch komplexe Tätigkeiten. Auch freie Mitarbeiter, selbständig Beschäftigte und Freiberufler werden klassifiziert.

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Zielzustände zu untersuchen, die verschiedene Dimensionen und Abstufungen des Erhalts sowie Verlustes beruflicher Qualifikationen darstellen (Tabelle 1). Tabelle 1: Untersuchungsdimensionen und Zielzustände bei beruflichen Mobilitätsprozessen keine horizontale horizontale berufliche Mobilität berufliche Mobilität keine vertikale berufli- fachlich adäquate und an- fachlich inadäquate Mobiche Abwärtsmobilität forderungsadäquate Mobi- lität lität anforderungsinadäquate fachlich inadäquate sowie vertikale berufliche Mobilität anforderungsinadäquate Abwärtsmobilität Mobilität Quelle: Eigene Darstellung.

Arbeitskräfte, die ihren Arbeitsplatz wechseln und im Anschluss daran den erlernten Beruf in einer fachlich adäquaten sowie anforderungsadäquaten Position ausüben, sind weder mit Blick auf die horizontale noch auf die vertikale Dimension mobil. Sie können ihre erworbenen beruflichen Qualifikationen in den Arbeitsprozess einbringen (Blien 1986). Wenn Beschäftigte in der vertikalen Dimension anforderungsadäquat eingesetzt sind, aber in horizontaler Hinsicht eine andere berufliche Tätigkeit ausüben, dann liegt eine fachlich inadäquate Mobilität vor, die erlernten berufsspezifischen Qualifikationen können nicht (vollständig) genutzt werden (ebd.). Anforderungsinadäquate Mobilität, mit der zwar kein horizontaler, jedoch ein vertikaler Berufswechsel verbunden ist, geht mit einem Teilverlust des allgemeinen sowie des berufsspezifischen Humankapitals einher (Konietzka 1999). Schließlich können sowohl in der horizontalen sowie gleichzeitig in der vertikalen Dimension Berufswechsel stattfinden, wobei die Arbeitskräfte fachlich inadäquat und zugleich anforderungsinadäquat mobil sind. Dieser Zielzustand bringt die geringsten Möglichkeiten mit sich, bereits erworbene Qualifikationen im Erwerbsberuf einsetzen zu können und birgt damit unmittelbare Beschäftigungs- und Verdienstrisiken (Fitzenberger/Spitz-Oener 2004; Mayer et al. 2010). Die vier Zielzustände werden mit Hilfe von semiparametrischen Cox PartialLikelihood-Modellen geschätzt, wobei für jeden Zielzustand eine spezifische Hazard-Funktion und eigene Vektorparameter berechnet werden (Kalbfleisch/Prentice 2002). Auch in diesen Schätzungen werden cluster-robuste Standardfehler verwendet. Die Prozesszeit beginnt in den Analysen, sobald eine

B ERUFLICHE Q UALIFIKATIONSRISIKEN

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Person nach einem erfolgreichen Bildungsabschluss eine Erwerbstätigkeit aufnimmt.

4. E RGEBNISSE Im ersten Schritt werden die Beweggründe atypischer Beschäftigungsformen untersucht. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Frage gerichtet, inwiefern Einsperreffekte bestehen. Nachfolgend werden dann die Risiken für den Erhalt beruflicher Qualifikationen aufgezeigt. 4.1 Merkmale atypischer Beschäftigungsformen In Tabelle 2 sind die Ergebnisse der multinomialen Logit-Schätzung präsentiert. Die ausgewiesenen Relative-Risk Ratios drücken aus, um welchen Faktor sich das Risiko, atypisch beschäftigt zu sein, zwischen verschiedenen Gruppen unterscheidet. Die Relative-Risk Ratios nehmen Werte zwischen 0 und unendlich an, wobei ein Wert von 1 bedeutet, dass das Risiko zwischen den Gruppen nicht differiert. In unbefristeter Teilzeitarbeit sind mit einer um das 8,4-fache höheren Wahrscheinlichkeit Frauen beschäftigt. Insbesondere Alleinerziehende, Beschäftigte, die einen Partner sowie Kinder im Haushalt haben, und Arbeitskräfte mit gehobenen Bildungsabschlüssen arbeiten vergleichsweise öfter in Teilzeit. 4 Erwerbstätige, die direkt vorher nicht in einem Normalarbeitsverhältnis, sondern atypisch beschäftigt, in Ausbildung oder arbeitslos waren sowie den Status „Sonstiges“ 5 einnahmen, sind häufiger teilzeitbeschäftigt. Hervorzuheben ist, dass insbesondere Arbeitskräfte (wiederum) in Teilzeit arbeiten, die bereits vorher unbefristet

4

In der Kategorie der „mittleren Bildungsabschlüsse“ befinden sich Beschäftigte mit einem (Berufs-)Fachschulabschluss, Gesellen und Absolventen einer Laufbahnprüfung zum einfachen und mittleren Dienst. Meister, Techniker sowie Beschäftigte mit bestandener Laufbahnprüfung zum gehobenen Dienst bilden die „gehobene“ Qualifikationsgruppe. Die Kategorie „hohe Bildungsabschlüsse“ subsummiert Beschäftigte mit einem universitären Abschluss und Absolventen einer Laufbahnprüfung zum höheren Dienst.

5

Der Status „Sonstiges“ besteht aus Spells, die eine „Elternzeit“, „Wehr- bzw. Zivildienst u. ä.“ sowie „Lücke“ kennzeichnen.

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in Teilzeit tätig waren oder sich im Zustand „Sonstiges“ – dieser schließt Phasen in Elternzeit ein – befanden. Tabelle 2: Multinomiale Logit-Schätzung zu den Determinanten atypischer Beschäftigungsformen

Merkmal

Basis: unbefristete Vollzeitbeschäftigung (Normalarbeitsverhältnis) Kurzfrisunbebefristete freie tige ZeitSaisonfristete BeschäfMitBechäftig arbeit arbeit Teilzeit tigung arbeit ung

Geschlecht 8.398*** 1.116** 1.350*** (1=weiblich) Altersgruppen – Ref.: jünger als 25 Jahre alt zwischen 25 und 34 2.073*** 0.717*** 1.093 Jahre alt zwischen 35 und 44 2.099*** 0.679*** 1.365*** Jahre alt *** 45 Jahre alt und älter 1.933 1.001 2.220*** Haushaltszusammensetzung – Ref.: Alleinstehend ohne Kind Alleinerziehend 4.805*** 1.091 2.176*** Partner im Haushalt 1.325*** 0.931 0.890* ohne Kind Partner im Haushalt 5.381*** 1.057 1.446*** mit Kind höchster Bildungsabschluss – Ref.: mittlerer Bildungsabschluss kein 0.475 0.246*** 0.539 Ausbildungsabschluss gehobener 1.806*** 1.117 0.697*** Bildungsabschluss hoher 0.822 1.019 0.992 Bildungsabschluss zusätzlicher Hochschul-/Aus0.867 0.967 1.063 bildungsabschluss Anzahl an 0.989*** 0.944** 0.963*** Weiterbildungen Anzahl an Beschäfti0.894*** 1.247*** 0.573*** gungswechsel

0.964

1.321

1.614***

0.670

2.147**

1.508***

0.555

5.219***

2.252***

1.087

1.831

2.740***

1.393

1.070

3.368***

0.856

0.811

0.968

0.852

0.653

2.696***

1.453**

0.688

1.211

0.602

0.586

1.327

0.761

0.173***

1.235

1.042

0.395**

1.407***

0.852***

0.963

0.982***

1.071

0.453***

0.489***

B ERUFLICHE Q UALIFIKATIONSRISIKEN

vorheriger Arbeitsmarktstatus – Ref.: unbefristete Vollzeitbeschäftigung unbefristete 12.622*** 2.923*** 8.642*** 9.950*** 1.919 Teilzeitbeschäftigung kurzfristige 2.298*** 1.641*** 3.740*** 3.457*** 2.676** Beschäftigung befristete Bes2.950*** 1.602*** 5.523*** 3.635*** 2.016 chäftigung Zeitarbeit 3.807*** 1.178 8.339*** 27.053*** 9.295*** Saisonarbeit 4.762*** 1.774 4.598*** 15.680*** 19.807*** *** *** *** *** freie Mitarbeit 2.972 2.639 4.062 9.885 0.000*** Ausbildung 1.536*** 2.463*** 2.771*** 1.791 1.568 Arbeitslosigkeit 3.443*** 2.388*** 5.364*** 9.462*** 11.548*** Sonstiges 6.415*** 3.153*** 4.805*** 5.564*** 5.827*** vorheriges Beschäftigungsverhältnis ge1.045 1.040 1.347*** 1.548** 2.292** kündigt (1=ja) Branche – Ref.: Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Bergbau Produzierendes 0.578 0.514** 2.134** 9.306*** 0.210*** Gewerbe Baugewerbe 0.748 0.798 1.572 7.412*** 1.613 *** Dienstleistungen 1.149 0.752 2.946 6.902*** 0.579 Öffentlicher Dienst 0.489* 0.321*** 4.337*** 8.435*** 0.334* Arbeitslosenquote 1.066** 0.959** 1.062*** 1.178** 1.018 (Periodeneffekt) Größe des tertiären Sektors (Periodenef1.068*** 1.013* 1.088*** 1.165*** 0.995 fekt) Arbeitslosenquote 0.934*** 1.030* 0.972 0.989 0.871* (Kohort-eneffekt) Beobachtungen Pseudo R2 AIC BIC Log-Likelihood (final value)

| 297

7.601*** 2.442*** 2.491*** 5.155*** 1.137 4.603*** 2.992*** 3.956*** 8.490*** 3.599***

0.297*** 0.750 0.762 0.192*** 1.115*** 1.021 0.937** 16336 0.188 147.415 212.932 -98.277

***/**/* bezeichnet die statistische Signifikanz am 0,01/0,05/0,1 Niveau. Angabe von Relative-Risk Ratios, Cluster-robuste Standardfehler in Klammern. Quelle: ALWA, eigene Berechnungen.

Kurzfristige Voll- bzw. Teilzeitbeschäftigung, die nicht länger als ein Jahr andauert, wird etwas häufiger von Frauen, jüngeren Beschäftigten sowie von Arbeitskräften mit einem mittleren, gehobenen oder hohen Ausbildungsabschluss ausgeübt. Personen, die vorher in unbefristeter Teilzeitarbeit, kurzfristig, befristet oder in freier Mitarbeit beschäftigt waren bzw. sich in Ausbildung, Arbeitslosigkeit oder in einem „sonstigen“ Arbeitsmarktstatus befanden, führen

298 | M ATTHIAS D ÜTSCH UND OLAF STRUCK

mit höherer Wahrscheinlichkeit eine kurzfristige Beschäftigung aus. Auch kurzfristige Beschäftigung selbst weist Einsperreffekte in atypischen Tätigkeiten auf. Wie im Fall der unbefristeten Teilzeitarbeit sind in befristeter Beschäftigung vergleichsweise häufiger Frauen vertreten, die Kinder haben und bereits vorher in Teilzeit tätig waren (Hohendanner 2010). Zudem finden sich Befristungen oftmals im Wissenschaftsbereich, der dem öffentlichen Dienst angehört (ebd.). Ferner zeigen sich Einsperreffekte, da vorherige atypische Erwerbsphasen häufig in Befristungen münden. Darin dürfte allerdings auch die Screeningfunktion dieser Arbeitsform begründet sein. Sie wird unter anderem dazu genutzt, Erwerbstätige, denen negative Arbeitsmarktsignale anhaften, auf ihre Produktivität zu testen (Dütsch/Struck 2011; Giesecke/Groß 2007). In Zeitarbeit befinden sich mit höherer Wahrscheinlichkeit Beschäftigte, die keinen Ausbildungsabschluss besitzen. Außerdem werden über die in anderen Studien beschriebene hohe Beschäftigungsinstabilität hinaus (Brehmer/Seifert 2008; Dütsch 2011) in den vorliegenden Analysen Einsperreffekte deutlich, die durch vorherige atypische Beschäftigungen hervorgerufen werden. Der Blick auf den vorherigen Arbeitsmarktstatus zeigt, dass vor allem eine vorhergehende Beschäftigung in der Zeitarbeit, aber auch in Saison- oder in Teilzeitarbeit sowie eine vorherige Arbeitslosigkeitsphase die Wahrscheinlichkeit einer (weiteren) Zeitarbeitstätigkeit erhöhen. Saisonarbeit wird insbesondere von Arbeitskräften ausgeübt, die sich in der Kernerwerbsphase befinden und seltener einen hohen sowie zusätzliche Bildungsabschlüsse besitzen. Mit dieser Beschäftigungsform gehen starke Einsperreffekte in saisonalen Tätigkeiten einher. Ein positiver Zusammenhang besteht zudem zwischen einer vorherigen Arbeitslosigkeitsepisode und einer solchen Beschäftigung. Zudem treten Einsperreffekte aufgrund von vorherigen Zeitarbeitsphasen sowie kurzfristigen Beschäftigungen zu Tage. In freier Mitarbeit arbeiten häufiger Frauen und ältere Arbeitskräfte. Darüber hinaus ist diese Beschäftigungsform stärker von Alleinerziehenden und Beschäftigten geprägt, die gemeinsam mit einem Partner sowie einem Kind im Haushalt leben. Ein zusätzlicher Hochschul- bzw. Ausbildungsabschluss, aber auch direkt vorher ausgeübte atypische Beschäftigungen – mit Ausnahme der Saisonarbeit – erhöhen die Wahrscheinlichkeit, in freier Mitarbeit tätig zu sein. Die größten Effekte gehen von einer vorhergehenden Teilzeitbeschäftigung, von Zeitarbeit und vor allem der freien Mitarbeit selbst aus. Auch eine vorherige Arbeitslosigkeit sowie eine vorherige Beschäftigungskündigung steigern die Wahrscheinlichkeit einer Tätigkeit in freier Mitarbeit. Auch hier sind deutliche Einsperreffekte erkennbar. Freie Mitarbeit mündet u. a. vergleichsweise häufig in Zeitarbeit oder in einer weiteren freien Mitarbeit.

B ERUFLICHE Q UALIFIKATIONSRISIKEN

| 299

Zusammenfassend ist festzustellen: Atypische Beschäftigung ist ˗ mit Ausnahme von Leiharbeit ˗ weiblich geprägt und dabei gerade in Form von Teilzeitarbeit und freier Mitarbeit eine Möglichkeit mit Kindern an Erwerbsarbeit teilzuhaben. Mit Blick auf die Übergangsmuster ist festzuhalten, dass gekündigte Beschäftigte insbesondere über Befristungen, Zeitarbeit, Saisonarbeit oder freie Mitarbeit in Erwerbsarbeit verbleiben und besonders Arbeitslose ihren Zugang zu Erwerbstätigkeit über atypische Beschäftigungsformen finden. Das Problem besteht dann aber in den erheblichen Einsperreffekten in atypische Beschäftigungen. Vor diesem Hintergrund wird nun der Frage nachgegangen, ob neben den Einsperreffekten in atypischen Beschäftigungen zusätzlich Risiken für den Erhalt beruflicher Qualifikationen bestehen. Solch eine Risikokumulation würde die Gefahr einer nachhaltigen Dequalifizierung bergen. 4.2 Die Bedeutung atypischer Beschäftigungsformen für berufliche Qualifikationen Inwiefern durch atypische Beschäftigungen die Möglichkeiten des Erhalts beruflicher Qualifikationen beeinflusst werden ist in Tabelle 3 dargestellt. Es handelt sich um Competing-Risk-Schätzungen.6 Die zuvor in Tabelle 1 beschriebenen Untersuchungsdimensionen sind die abhängigen Variablen. Die erklärenden Variablen lassen Aussagen zu den aktuellen Beschäftigungsformen zu. Zudem werden in diesen Modellen sämtliche Indikatoren kontrolliert, die auch in den multinomialen Logit-Schätzungen zu den Determinanten atypischer Beschäftigungsformen (Tabelle 2) enthalten waren. Ausgewiesen sind die Hazard Ratios, wobei ein Wert von 1 bedeutet, dass kein Unterschied zwischen zwei Gruppen besteht.

6

Wie von Kalbfleisch/Prentice (2002) vorgeschlagen, wurde die Proportionalitätsannahme, welche den Cox-Regressionen zugrunde liegt, sowohl grafisch als auch durch die Einführung periodenspezifischer Hazard-Ratios überprüft. Hierbei zeigten sich zum einen geschlechtstypische und zum anderen kohortenspezifische Unterschiede im Mobilitätsverhalten. Deshalb wurde das Analysesample nach dem Geschlecht sowie für drei Arbeitsmarkteintrittskohorten (1973-1982, 1983-1992, 1993-2002) stratifiziert (ebd.). Dabei wurde eine gesonderte Konstante für Männer und Frauen sowie für die Arbeitsmarkteintrittskohorten geschätzt und somit der unbeobachteten Heterogenität Rechnung getragen.

300 | M ATTHIAS D ÜTSCH UND OLAF STRUCK

Tabelle 3: Cox-Schätzungen zur horizontalen und vertikalen beruflichen Mobilität weder keine horizontale horizontale horizontale horizontale Mobilität Mobilität Mobil., Mobilität, und keine und noch vertiaber vertivertikale vertikale kale Abkale AbAbwärtsAbwärtsMerkmal wärtsmobil. wärtsmobil. mobil. mobil. aktuelle Beschäftigungsform – Ref.: unbefristete Vollzeitbeschäftigung unbefristete 0.806*** 1.000 1.137 2.066*** Teilzeitbeschäftigung kurzfristige 1.065** 1.390** 0.945 1.879*** Beschäftigung befristete 0.902*** 0.865 1.273*** 3.126*** Beschäftigung Zeitarbeit 1.036 2.414** 1.044 3.251*** Saisonarbeit 0.540** 0.129** 1.427** 4.241*** *** *** freie Mitarbeit 0.680 0.636 2.000 2.310*** Beobachtungen 15461 15461 15461 15461 Pseudo R2 0.050 0.096 0.083 0.122 AIC 178.095 5913.788 212.933 -60.058 BIC 178.095 6173.754 218.392 -60.058 Log-Likeli-hood -333.049 -58.248 -109.196 -110.470 (final value) Die Modelle kontrollieren für Altersgruppen, Lebensformen, den Bildungsverlauf, die Anzahl der Beschäftigungswechsel, den vorherigen Arbeitsmarktstatus, den Mobilitätsgrund, Branchen sowie Perioden- und Kohorteneffekte. ***/**/* bezeichnet die statistische Signifikanz am 0,01/0,05/0,1 Niveau. Angabe von Hazard-Ratios, Cluster-robuste Standardfehler in Klammern. Quelle: ALWA, eigene Berechnungen.

Der Blick auf Tabelle 3 verdeutlicht, dass eine unbefristete Teilzeitbeschäftigung die Wahrscheinlichkeit einer angemessenen beruflichen Mobilität verringert und zudem häufiger mit einer fachlich inadäquaten und zugleich statusinadäquaten Positionierung verbunden ist. Kurzfristige Beschäftigungen ermöglichen einerseits adäquate Mobilitätsprozesse, gehen aber andererseits ebenfalls mit statusinadäquaten oder gar fachlich inadäquaten und gleichzeitig statusinadäquaten Positionierungen einher. Befristete Beschäftigungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine insbesondere horizontale oder auch horizontale mit gleichzeitig vertikaler beruflichen Mobilität. Zeitarbeit führt vor allem zu vertikaler Abwärtsmobilität, die zusätzlich mit horizontaler Mobilität verknüpft sein kann. Saisonarbeit

B ERUFLICHE Q UALIFIKATIONSRISIKEN

| 301

verringert einerseits die Wahrscheinlichkeit, horizontal adäquat positioniert zu sein und steigert andererseits das Risiko horizontaler sowie horizontaler und zugleich vertikaler Mobilitätsprozesse. Auch in freier Mitarbeit ist die Wahrscheinlichkeit geringer, sich in einer adäquaten Positionierung zu befinden, während die Risiken horizontaler sowie horizontaler und gleichzeitig vertikaler Mobilität erhöht sind.

5. D ISKUSSION

DER

E RGEBNISSE

UND

F AZIT

Der vorliegende Beitrag knüpft an die Diskussion um die Auswirkungen des zunehmenden Bedeutungsgewinns atypischer Beschäftigungsformen (Keller/Seifert 2011) an und richtet den Blick auf die Beschäftigungsfähigkeit dieser Arbeitskräfte (Brehmer/Seifert 2008; Gensicke et al. 2010). Dabei wurde im Gegensatz zu bisherigen Studien der Blick auf berufliche Qualifikationen gerichtet. Diese sind besonders bedeutsam, da eine nicht erfolgreiche Verwertbarkeit bereits erworbener beruflicher Qualifikationen Beschäftigungs- und Verdienstrisiken zur Folge hat (Fitzenberger/Spitz-Oener 2004; Mayer et al. 2010). Die Ergebnisse der empirischen Analysen verdeutlichen zunächst, dass es gekündigten Arbeitskräften insbesondere mittels Befristungen, Zeitarbeit, Saisonarbeit oder der freien Mitarbeit gelingt, in Erwerbsarbeit zu verbleiben. Es existieren aber auch Einsperreffekte in atypischen Beschäftigungen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass im offenen Bereich des Beschäftigungssystems – wie von Alewell/Hansen 2012, Gensicke et al. (2010) sowie Struck/Dütsch 2012 konstatiert – Erwerbsverlaufsmuster zu beobachten sind, die dauerhafte Beschäftigungs- und Verdienstrisiken beinhalten und wichtiges Merkmal von Schließungsprozessen am Arbeitsmarkt sind. Insbesondere in der befristeten Beschäftigung, der Zeitarbeit sowie der Saisonarbeit bestehen die größten Gefahren, dass sich Diskontinuitäten im Erwerbsverlauf und damit im Einkommensbezug herausbilden und verfestigen. Strukturell hat die Expansion der atypischen Arbeitsformen zu einer stärkeren Öffnung des Beschäftigungssystems beigetragen, während im Gegenzug geschlossene Bereiche an Bedeutung verloren haben (Struck et al. 2007; Struck/ Dütsch 2012). Gleichzeitig gibt es Anzeichen dafür, dass diese Entwicklung neue Schließungsprozesse im Arbeitsmarkt hervorgebracht und Übergangsbarrieren für atypisch Beschäftigte geschaffen hat. Um Produktivitätspotentiale besser ausschöpfen zu können, stehen Arbeitsmarktakteure vor der Herausforderung, die in atypischen Beschäftigungen kumulierenden Risiken zu verringern. Hierbei ist es erforderlich, die bestehenden an-

302 | M ATTHIAS D ÜTSCH UND OLAF STRUCK

gebots- und nachfrageseitigen Mobilitätsbarrieren, die atypisch Beschäftigten den Übergang in ein Normalarbeitsverhältnis versperren, zu identifizieren und abzubauen. Hierfür ist es insbesondere notwendig, der Erosion von beruflichen Qualifikationen durch zertifizierte Weiterqualifizierungsmöglichkeiten auch im Rahmen atypischer Tätigkeiten entgegenzuwirken.

L ITERATURVERZEICHNIS Alewell, Dorothea/Hansen, Nina (2012): „Human resource management systems – A structured review of research contributions and open questions“, in: Industrielle Beziehungen 19, S. 90-123. Baethge, Martin (2004): „Ordnung der Arbeit – Ordnung des Wissens: Wandel und Widersprüche im betrieblichen Umgang mit Humanressourcen“, in: SOFI-Mitteilungen 32, S. 7-22. Becker, Gary S. (1993): Human capital. A theoretical and empirical analysis, with special reference to education. Chicago: University Press. Blien, Uwe (1986): „Unternehmensverhalten und Arbeitsmarktstruktur. Eine Systematik und Kritik wichtiger Beiträge zur Arbeitsmarkttheorie“, in: Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 103. Nürnberg. Brehmer, Wolfram/Seifert, Hartmut (2008): „Sind atypische Beschäftigungsverhältnisse prekär? Eine empirische Analyse sozialer Risiken“, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 41, S. 501-531. Dietz, Martin/Walwei, Ulrich (2007): „Beschäftigungswirkungen des Wandels der Erwerbsformen“, in: Keller/Seifert, Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken. S. 165-184. Dütsch, Matthias (2011): „Wie prekär ist Zeitarbeit? Eine Analyse mit dem Matching-Ansatz“, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 43, S. 299-318. Dütsch, Matthias/Struck, Olaf (2011): „Muster interner und externer Personalanpassungsformen. Eine Analyse anhand des IAB-Betriebspanels 2007“, in: Dorothea Voss-Dahm/Gernot Mühge/Klaus Schmierl/Olaf Struck (Hg.): Qualifizierte Facharbeit im Spannungsfeld von Flexibilität und Stabilität. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 249-289. Fitzenberger, Bernd/Spitz-Öner, Alexanda (2004): „Die Anatomie des Berufswechsels: Eine empirische Bestandsaufnahme auf Basis der BIBB/IABDaten 1998/1999“, in: Wolfgang Franz/Hans-Jürgen Ramser/Manfred Stadler (Hg.), Bildung. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 29-54. Gensicke, Miriam/Herzog-Stein, Alexander/Seifert, Hartmut/Tschersich, Nikolai (2010): „Einmal atypisch, immer atypisch beschäftigt? Mobilitätsprozesse

B ERUFLICHE Q UALIFIKATIONSRISIKEN

| 303

atypischer und normaler Arbeitsverhältnisse im Vergleich“, in: WSIMitteilungen 63, S. 179-187. Giesecke, Johannes/Groß, Martin (2007): „Flexibilisierung durch Befristung. Empirische Analysen zu den Folgen befristeter Beschäftigung“, in: Keller/Seifert, Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken. S. 83-106. Hall, Anja (2010): „Wechsel des erlernten Berufs: Theoretische Relevanz, Messprobleme und Einkommenseffekte“, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 24, S. 157-173. Hohendanner, Christian (2010): „Befristete Arbeitsverträge zwischen Auf- und Abschwung. Unsichere Zeiten, unsichere Verträge?“, in: IAB-Kurzbericht 14. Kalbfleisch, John D./Prentice Ross L. (2002): The Statistical Analysis of Failure Time Data. 2. Aufl. New Jersey: Wiley. Keller, Bernd/Seifert, Hartmut (Hg.) (2007): Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken. Berlin: Edition Sigma. Keller, Bernd/Seifert, Hartmut (2011): „Atypische Beschäftigungsverhältnisse. Stand und Lücken der aktuellen Diskussion“, in: WSI Mitteilungen 64, S. 138-145. Konietzka, Dirk (1999): „Die Verberuflichung von Marktchancen. Die Bedeutung des Ausbildungsberufes für die Platzierung im Arbeitsmarkt“, in: Zeitschrift für Soziologie 28, S. 379-400. Matthes, Britta/Burkert, Carola/Biersack, Wolfgang (2008): Berufssegmente. Eine empirisch fundierte Neuabgrenzung vergleichbarer beruflicher Einheiten. (IAB-Discussion-Paper 35) Nürnberg. Mayer, Karl-Ulrich/Grunow, Daniela/Nitsche, Natalie (2010): „Mythos Flexibilisierung? Wie instabil sind Berufsbiografien wirklich und als wie instabil werden sie wahrgenommen?“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 62, S. 369-402. Mückenberger, Ulrich (1985): „Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses“, in: Zeitschrift für Sozialreform 31 (7), S. 415-435 und 457-475. Sesselmeier, Werner (2007): „(De)Stabilisierung der Arbeitsmarktsegmentation?“ in: Keller/Seifert, Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken. S. 67-80. Spence, Michel (1973): „Job market signaling“, in: Quarterly Journal of Economics 87, S. 355-374. Struck, Olaf (2006): Flexibilität und Sicherheit. Wiesbaden: VS-Verlag.

304 | M ATTHIAS D ÜTSCH UND OLAF STRUCK

Struck, Olaf/Grotheer, Michael/Schröder, Tim/Köhler, Christoph (2007): „Instabile Beschäftigung. Neue Ergebnisse zu einer alten Kontroverse“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 59, S. 294-317. Struck, Olaf/Dütsch, Matthias (2012): „Gesicherte Mobilität: Zur Bedeutung berufsfachlicher Qualifikationen in geschlossenen und offenen Beschäftigungssystemen“, in: Industrielle Beziehungen 19, S. 154-186. Wiemer, Silke/Reimer, Kim/Lewerenz, Julia (2011): Einführung der Klassifikation der Berufe 2010 in die Arbeitsmarktstatistik, Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit. Wooldridge, Jeffrey M. (2010): Econometric analysis of cross section and panel data. Cambridge: MIT Press.

Der Rationalisierungshorizont der Normalarbeit und die Digitalisierung von „non-routine tasks“ M ANFRED F ÜLLSACK

1. E INLEITUNG Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass sozial geteilte Arbeit darauf angewiesen ist, einen konzeptionellen Rahmen zu unterhalten, der, neben anderem, einen zeitlichen Horizont festlegt, innerhalb dessen Arbeit (wenn dies ihr Zweck ist) ökonomisch rational verrichtet werden kann. Eine spezifische Form dieses konzeptionellen Rahmens stellt das „Normalarbeitskonzept“, bzw. das „Normalbeschäftigungsverhältnis“ dar, wie es in den 1980er Jahren eigentlich bereits retrospektiv beschrieben wurde (Mückenberger 1985). Bis zu einem gewissen Grad scheint dieses Konzept seiner Aufgabe, Erwerbsarbeit zeitlich zu rahmen, bis heute nach zu kommen. Es orientiert damit allerdings auch Aufgabenbereiche, die aktuell maßgeblich an der Auflösung jener „normalen“ Beschäftigungsformen beteiligt scheinen, die dem Konzept seinen Namen gaben. In gewisser Weise scheint sich das Konzept damit selbst von innen zu unterspülen. Um diesem Verdacht nach zu gehen, vor allem aber um einmal mehr die Arbeitsverändernden Impulse von Arbeit deutlich zu machen (u.a. Füllsack 2006, 2008, 2009), werde ich im Folgenden eine Reihe von zunächst eher unverbunden scheinenden Aspekten zum Thema Arbeit besprchen, die erst in Anbetracht eines relativ jungen Ansatzes aus dem Bereich der Arbeitsforschung, dem so genannten „task-based approach“ (TBA, Autor/Levy/Murnane 2003), ergänzt durch theoretische Überlegungen aus dem Bereich der Systemwissenschaften ihren Zusammenhang offenbaren. Vor diesem Hintergrund kommt die relativ kurze Phase des „Normalbeschäftigungsverhältnisses“ in einem Zusammenhang zu stehen, in dem sie meines Wissens noch nicht betrachtet wurde (siehe aber

306 | M ANFRED F ÜLLSACK

auch Schober/Kittel/Füllsack 2016). Es ist dies der Zusammenhang der rapide voranschreitenden digitalen Rationalisierung, die aktuell mit elaborierten Methoden zur Ausnahmebehandlung von Arbeitsaufgaben Tätigkeiten dem Aktionsradius arbeitsersetzender Maschinen zuführt, die bisher als nicht rationalisierbar eingestuft wurden.

2. S OFTWARE -E NTWICKLUNG Vermehrt machten in den letzten Jahren große IT-Unternehmen wie Google, Amazon oder facebook mit dem Umstand Schlagzeilen, für enorme Summen Teams junger Software-Entwickler und Wissenschafter einzukaufen, die sich auf Techniken des Maschinenlernens, insbesondere des so genannten „deep learning“, und der Datenanalyse spezialisierten (Technologyreview). In diesem Zusammenhang wurde verschiedentlich auch darauf hingewiesen, dass der größte Teil der führenden Machine-learning-Experten noch Studenten oder junge Free lance-Entwickler seien, die mit großem Einsatz und Engagement, aber vorerst oft ohne Vergütung und ohne festes Anstellungsverhältnis arbeiten. Das Entwickler-Team des von Google für eine enorme Summe geschluckten (Recode 2014) Machine learning-Startups DeepMind Technologies (http://deepmind. com/) zum Beispiel hatte noch kein einziges Ertrag-abwerfendes Produkt, wohl aber eine Reihe hoch interessanter wissenschaftlicher Paper hervorgebracht – unter anderem zu einem Schlagzeilen-machenden Experiment, in dem Deeplearning-Algorithmen selbständig lernten, verschiedene Computerspiele auf höchstem Niveau – teilweise besser als menschliche Spieler – zu spielen (Mnih et al 2015). Zwar dürfte sich die Entlohnungsproblematik für die jungen Entwickler dieses Teams mit der Google-Übernahme gelöst haben. Grundsätzlich scheint aber gerade die Softwareentwicklungsbranche ein Paradebeispiel für einen Umstand zu liefern, der für die aktuelle Beschäftigungssituation typisch scheint: um Chancen auf angemessene Arbeitsentlohnung und Anstellung, also auf ein „Normalbeschäftigungsverhältnis“ zu haben, müssen erhebliche und vielfach hochspezialisierte Vorleistungen, auf oftmals unbestimmte Zeit, unentgeltlich erbracht werden. Ein etwas detaillierterer Blick in die Szene freier Software-Entwicklung scheint diese These zu bestätigen. Seit knapp zwei Jahrzehnten werden die Motive und Gründe, an der Entwicklung von Open Source Software (OSS) mitzuarbeiten, intensiv beforscht (Feller/Fitzgerald 2000, Raymond 2001, Lerner/Tirole 2002, Lakhani et al. 2002, Füllsack 2006, Blitzer 2007, Belen-

D ER R ATIONALISIERUNGSHORIZONT

DER

N ORMALARBEIT

| 307

zon/Schankerman 2008, Xu et al. 2015) Das Thema interessiert, weil OSSEntwicklung vielfach nicht remuneriert wird, OSS überdies als Gemeingut an der bekannten Free-rider-Problematik aufläuft (u.a. Hardin 1968) und sich damit die Frage stellt, warum Software-Entwickler ihre Zeit und Expertise freiwillig und umsonst einer aufwendigen Aktivität widmen, deren Produkte dann frei zur Verfügung stehen.1 In den Anfangsjahren dieser Untersuchungen wurde insbesondere im Kontext romantisierter Kapitalismuskritik (u.a. gegen das Mainstream-Betriebssystem Windows etc.) gerne auf die intrinsischen Motive einer so genannten „gift culture“ (Raymond 2001) verwiesen, in der die NachknappheitsCommunity der OSS-Afficionados fest verankert sei. Studien, die die Motivlage per Interview, also durch Selbsteinschätzung der Beteiligten erhoben, bestätigten dieses Bild (Lakhani/Wolf 2005, Mair et al. 2015). Bereits früh wurde allerdings auch in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung extrinsischer Motive und vor allem auch auf die Möglichkeit der Internalisierung extrinsischer Motive (Deci et al. 1999) hingewiesen. Insbesondere Lerner/Tirole 2002 stellten den möglicherweise subjektiv überbetonten intrinsischen Faktoren die rational-ökonomische Bedeutung von Aspekten wie Communitygestützter Reputationsanreicherung und der damit verbundenen Erweiterung zukünftiger Arbeitsmarktchancen gegenüber. Sie wiesen darauf hin, dass sich die Anreize für ein Engagement in der OSS-Entwicklung auch aus so genannten „delayed benefits“ ergeben könnten, aus dem Umstand also, dass sich aktuell unentgeltliches Engagement in der Erwartung zukünftig erhöhter Entlohnung bzw. besserer Arbeitsmarktchancen begründen könnte. Aktuelle Arbeitsmarkt-Entwicklungen um Internet-Q&A2-Plattformen wie Stack Exchange (http://stackexchange.com/) scheinen diese These zu stützen. Den zurzeit aktivsten Teil dieser Plattform bildet Stack Overflow (www.stack overflow.com), ein populäres Q&A-Forum, in dem Software-Entwickler und Programmierer einander gegenseitig Expertenfragen stellen, beantworten und diskutieren. 2008 gegründet, verfügt diese Plattform zurzeit (Dez 2015) über 4.1 Millionen registrierte User und bietet archivierte Antworten auf rund 8 Millionen Fragen. Die durchschnittliche Beantwortungszeit liegt bei nur 11 Minuten, womit es zu einer der schnellsten Q&A-Plattformen der westlichen Welt zählt (Mamykina et al. 2011). Sämtliche Fragen werden von den Usern unentgeltlich

1

Zusammengefasst als: „Why should thousands of top-notch programmers contribute freely to the provision of a public good?“ (Lerner/Tirole 2002).

2

Question & Answer.

308 | M ANFRED F ÜLLSACK

und freiwillig beantwortet. Die oftmals überaus aufwendigen und detaillierten Antworten stehen unter der Creative-Commons-Lizenz und sind ohne Registrierung einsehbar. Sie werden in einem elaborierten Peer-Review-Verfahren von den Usern bewertet. Beiträger können in diesem Verfahren Reputationspunkte („Reps“) für schnelle und qualitativ hochwertige Antworten sammeln, und erhalten je nach Anzahl dieser Punkte spezielle Badges, die ihre Beitragsleistung klassifizieren (u.a. „Enlightened“, „Guru“, „Unsung hero“, … Siehe https://stack overflow.com/help/badges). Den Usern ist bewusst, dass zahlreiche Softwareund IT-Unternehmen die Reputationspunkte und Badges dazu heranziehen, um Job-Bewerbungen zu beurteilen.3 Manche Unternehmen halten solche so genannten „Imaginary Internet Points“ (IIPs, wie etwa auch „likes“ aus facebook, oder „karma“ aus Reddit, …) mittlerweile für effektivere Qualifikationsindikatoren als klassische (selbstverfasste) CVs. Die freiwilligen und unentgeltlichen Beiträge zur OSS-Entwicklung und zur p2p-Förderung entsprechender Kenntnisse könnten damit, wie das auch aktuelle nicht-Interview-basierte Studien bestätigen (u.a. Xu 20154), ein „signaling effect“ (Spence 1974) sein und zu einem doch recht großen Teil auf den Erwartungen zukünftig erhöhter Karriere- oder Beschäftigungschancen beruhen (siehe u.a. aber auch Blitzer et al. 2010). Ein durchaus ähnliches Bild ergibt sich aus Studien zur Motivationslage junger Wissenschaftler (Barraquer 2011, Friesenhahn/Beaudry 2014). Auch hier scheinen die Aktivitäten nicht nur von Forschungsinteressen oder von je aktueller Entlohnung getrieben, als vielmehr von der Erwartung durch gegenwärtige

3

Die Plattform (die nebenbei auch eine Job-Börse für Software-Entwickler bietet: https://stackoverflow.com/jobs) ist überdies mit einer Meta-Q&A-Plattform verbunden (http://data.stackexchange.com/meta.stackoverflow/queries), die es erlaubt statistische und allgemeine Abfragen durchzuführen, unter anderem auch zu den Beweggründen der relativ kleinen Zahl derjenigen User, die regelmäßig mit qualitativ hochwertigen Antworten zur großen Attraktivität der Plattform beitragen (nur 0.46% der User haben mehr als 5000 Rep-Punkte). Eine Suche zur Frage nach der Motivation der beitragenden liefert eine Reihe intrinsischer (Spaß mit herausfordernden Problemen, …) und extrinsischer Motive (Beauftragung seitens des Arbeitgebers, wie z.B. Microsoft bis 2010), darunter auch das Sammeln von „Reps“, also Reputationspunkten.

4

Vgl. u.a. Xu 2015: „Users contribute to Stack Overflow in part because they perceive this as a way to improve future employment prospects". Vgl auch die Diskussionen dazu unter: http://meta.stackoverflow.com/questions/311968/what-makes-geeks-tick/ 312063#312063.

D ER R ATIONALISIERUNGSHORIZONT

DER

N ORMALARBEIT

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Investitionen – etwa durch unbezahlte Mehrarbeit – zukünftige Beschäftigungschancen zu steigern.

3. D IE R ATIONALISIERUNGSTRIADE „Job Market Signaling“ (Spence 1973) und im Besonderen der Versuch, durch aktuell unbezahlte Mehrarbeit zukünftige Beschäftigungschancen zu steigern, ist in der aktuellen Beschäftigungssituation zu einem verbreiteten Phänomen geworden, für das das Normalarbeitskonzept als offensichtliche Orientierung fungiert. Im Hinblick auf den vom eingangs erwähnten „task-based approach“ (TBA) ins Zentrum gestellten Kernaspekt – die Aufgaben („tasks“), aus denen sich jede Arbeit zusammensetzt – lässt sich diese Orientierungsfunktion analytisch erfassen. Dazu geht der nächste Abschnitt auf eher abstrakter Ebene kurz auf die intrinsische Rationalisierungslogik menschlicher Arbeit ein, um danach unter Berücksichtigung systemwissenschaftlicher Aspekte und einer detaillierteren Betrachtung des TBA die Erwerbsarbeits-Implikationen des Job-MarketSignaling in der Software-Entwicklung zu diskutieren. Die Leitunterscheidung des TBA erlaubt es, jene Triade aus Arbeitsteilung, Spezialisierung und Rekombination bzw. Organisation, die hier tentativ als Rationalisierungstriade gefasst und grundsätzlich als Ursache für die Dynamik menschlicher Arbeit angesehen wird (Füllsack 2008, 2009), auf formalanalytischer Ebene sehr fundmental zu fassen. Ich greife dazu zunächst auf eine in der Literatur oft verwiesene Beziehung von Arbeit und Kapital zurück, die Leroi-Gourhan (1964/1988) anhand des Beispiels eines Hammers illustrierte. Als Werkzeug ist ein Hammer ein nichtkonsumiertes Arbeitsprodukt, also Kapital oder mit Marx „gefrorene Arbeit“, welche andere Arbeiten – etwa das Einschlagen von Nägeln – rationalisiert, sprich produktiver werden lässt. Ein Hammer erlaubt es, Nägel schneller einzuschlagen als es z.B. mit einem Stein möglich wäre. Die Herstellung des Hammers verursacht allerdings Kosten, im Mindesten etwa in Form von Zeit, in der dann jener Tätigkeit nicht nachgegangen werden kann, die ohne Werkzeug, allerdings mit geringerer Produktivität, durchgeführt werden könnte. Wenn also z.B. das Einschlagen eines Nagels mit Hilfe eines Steins 10 Minuten dauert, mit Hilfe eines Hammers nur eine Minute, aber die Hammerherstellung selbst eine Stunde beansprucht, so lohnt sich die Hammerproduktion zeitmäßig erst in Situationen, in denen mindestens sieben Nägel einzuschlagen sind. Mit anderen Worten, die Rationalisierung von Arbeit ist ökonomisch betrachtet auf eine Mindestzahl von Anwendungsmöglichkeiten des Rationalisierungsmomentes angewiesen.

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Dies gilt im selben Sinn für Arbeitsteilung und ihre Organisation. Ein einfacher Herstellungsprozess, von einer einzelnen Person durchgeführt, sieht in der Regel eine Reihe verschiedener Aufgaben („tasks“) vor, die sequentiell zu bewerkstelligen und in ihrer Unterschiedlichkeit von kurzen Umstellungs- oder Umorientierungsphasen unterbrochen sind. In diesen Umstellungsphasen, in denen der Arbeitende etwa neue Werkstücke zur Hand nimmt oder sie neu ausrichtet etc., kommt die Produktion kurzzeitig zur Ruhe. Wenn angenommen wird, dass dieser Herstellungsprozess N-mal durchgeführt werden muss, (N-mal hintereinander von einem Arbeitenden oder N-mal nebeneinander von verschiedenen Personen), und der Prozess aus n Aufgaben t (für „tasks“) und n-1 Unterbrechungen f (für „friction“) besteht, so lässt sich die Produktivität dieser vorerst ungeteilten Arbeit wie folgt fassen: Abbildung. 1: Produktivität von ungeteilter (unorganisierter, P(u)) Arbeit versus geteilter und organisierter Arbeit (P(g))

P(u) P(g)

Offensichtlich lässt sich dieser Herstellungsprozess nun dadurch rationalisieren, dass die unterschiedlichen Aufgaben t auf die N Arbeitenden aufgeteilt werden und diese mit der damit möglichen Spezialisierung die Unterbrechungen f minimieren, im Idealfall sogar gänzlich vermeiden. Das Problem dabei, auf das früh hingewiesen wurde (u.a. Smith 1776), ist der Umstand, dass mit dieser Aufgabenteilung und Spezialisierung der Gesamtprozess aus dem Blickfeld gerät. In dem Maß, in dem die Produktion mit der Zerstückelung von Arbeitsschritten (Smiths Stecknadelfabrik) ihre „Ganzheitlichkeit“ (Brunner 1980) einbüßt, ist sie auf Organisation angewiesen, welche im klassischen Industrieunternehmen etwa

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von Aufsehern oder später von spezialisiertem Management gewährleistet wird. Für Organisation gilt dasselbe wie oben für das Werkzeug. 5 Sie verursacht Kosten und ist damit, um sich zu amortisieren, auf ein Mindestmaß an Anwendungswiederholungen angewiesen. Nur wenn sich die spezifische Arbeitsorganisation wiederholt einsetzen lässt, lohnt sich die soziale Teilung der Arbeit. Wenn die Organisationskosten grob als O gefasst werden, so lässt sich die Produktivität geteilter Arbeit nach dem Vorbild obiger Formalisierung anschreiben als: . Damit ist leicht zu sehen (Abbildung 1), dass die Rentabilität geteilter Arbeit, bzw. der Vorteil von geteilter über ungeteilte Arbeit von N abhängt, also von der Zahl der Wiederholungen des Herstellungsprozesses, von dessen Anwendungsdichte. Oder anders gesagt, sie hängt von der Nachfrage nach dieser Herstellung ab, bzw. von der Nachfrage nach dem damit erzeugten Produkt.6 Dieser simple Umstand umreißt einen abstrakten Raum für das (rationale) Stattfinden menschlicher Arbeit, einen Horizont gleichsam, an dessen vorderem Rand sich jegliche Rationalisierung messen lassen muss und deren hinteren Rand sie beständig auszuweiten sucht. In diesem Raum wird deutlich, dass sich Rationalisierung im industriellen Sinn erst mit steigenden Produktzahlen lohnt, weil dies die Organisationskosten auf mehr Anwendungsmöglichkeiten verteilt. Historisch kommt „industrielle“ Arbeitsteilung so z.B. erstmals zustande, als große stehende Heere mit Waffen und normierten Ausrüstungsgegenständen versorgt werden müssen (Füllsack 2009). Die Rationalisierung öffnet also eine temporale Dimension, die im weiteren unter anderem durch das Entstehen komplexer Finanzdienstleistungen ausgestattet wird. Kredite z.B. erlauben es, dass sich Rationalisierungsmaßnahmen nicht mehr zeitnahe amortisieren. Erwartungen können so ihre Wirkung entfalten. Gleichzeitig befördert die Rationalisierung – wie ebenfalls früh beschrieben (Durkheim 1893/1997) – die soziale Differenzierung und erzeugt somit Span-

5

Und selbstverständlich spielen im Rahmen der Industrialisierung Werkzeuge und Maschinen eine zentrale Rolle. Warum hier die Betonung dennoch auf Organisation liegt, wird im Folgenden deutlicher werden.

6

Es wird hier, anders als in gängigen Kapitaltheorien, ein Vorschlag für den eigentlichen Grund der „Mehrergiebigkeit von Produktionsumwegen“ (Böhm-Bawerk) gemacht und nicht dieser vorausgesetzt, um beispielsweise den Zins zu erklären. Die Vermeidung von Friktionen im Arbeitsablauf mag dabei nur einen Aspekt der gesteigerten Produktivität darstellen. Allerdings wird vermutet, dass dieser verallgemeinerbar ist, was andern Orts detaillierter ausgeführt werden soll.

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nung nicht nur in zeitlicher, sondern auch sozialer Dimension.7 Die auseinandertriftenden Aspekte verlangen nach konzeptioneller und begrifflicher Integration. Dies leisten Konzepte wie das der Normalarbeit.

4. D IE

BEGRIFFLICHE V ERORTUNG VON DER N ORMALARBEITSBEGRIFF

ARBEIT

UND

Arbeit begrifflich zu fassen impliziert Erklärungsbedarf für das, was da getan wird. Unter homogenen sozialen Bedingungen könnte Arbeit als an die Knappheiten, die damit reduziert werden, gekoppelt und damit als selbstverständlich betrachtet werden (Füllsack 2009). Das Entstehen partieller Nachknappheitsbedingungen, also die Surplus-Produktion ermöglicht aber zeitlich-verzögerte und mehr noch sozial-transferierte Konsumption8, was Übereinkünfte darüber erfordert, was wem zu welcher Zeit zum Konsum zusteht, bzw. was wer wann in welcher Form als Leistung einbringt. Im angesprochenen Fall betrifft dies einerseits die Folgen sozialer Differenzierung, und zwar sowohl die der ausführenden Arbeitenden, die sich auf unterschiedliche Teilaspekte der Gesamtproduktion spezialisieren, wie auch die Differenzierung von Ausführung und Organisation, oder wie dies aus unterschiedlichen Perspektiven gefasst wurde, von körperlicher und geistiger Arbeit (SohnRetel 1970), oder von „blue“ und „white collar work“ (Braverman 1974). Als Folge des industriewirtschaftlichen Bedarfs für rechtliche, infrastrukturelle, finanztechnische, ausbildungsspezifische, wissenschaftliche und nicht zuletzt auch sozialpolitische Dienstleistungen (Füllsack 2009) wiederholt sich die Differen-

7

Da soziale Differenzierung allerdings auch Bedürfnisse heterogenisiert, verschärft dies tendenziell die angesprochene Problematik einer benötigten Mindest-Anwendungsdichte von Organisation.

8

Es wird angenommen, dass regelmäßige Mehrwertproduktion in etwa seit der „neolithischen Revolution“, sprich der Sedentarisierung und dem Aufkommen der landwirtschaftlichen Produktionsweise für menschliche Arbeit maßgeblich wird und damit auch einen entsprechenden ethischen und, damit verbunden, begrifflichen Rahmen erfordert „Arbeit ist eine Kategorie, die historisch erst in der agrarischen Produktionsweise entstanden ist und auf deren zentrale Züge verweist. In Jäger- und Sammlergemeinschaften ist der Begriff „Arbeit“ sinnlos, da es nicht möglich ist, kategorial einzelne Tätigkeitsformen voneinander zu trennen.“ (Sieferle 2002: 128) Vgl. dazu auch: Füllsack 2006, 2009.

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zierung von Ausführung und Organisation auf überbetrieblicher Ebene als Sektorendifferenz. Der Dienstleistungssektor tritt dem der Produktion gegenüber. Sowohl in sozialer wie auch in organisatorischer Hinsicht impliziert dies ein zeitliches Auseinanderdriften von Investition und Amortisierung im Rationalisierungsprozess, das den Bedarf für den konzeptionellen Rahmen forciert. Weil Investition und Amortisierung nicht für Alle gleich auseinandertreten, entstehen, in gewisser Weise „gleichzeitig ungleichzeitig“ (Füllsack 2001), völlig unterschiedliche Bilanzierungshorizonte. „Blue“ und „white collar work“ finden sich unterschiedlich getaktet und bilden inkompatible Erwartungen aus. Es könnte an dieser Stelle helfen, sich diesen Umstand – und den damit verbundenen Bedarf für konzeptionelle und begriffliche Integration – anhand eines Aspektes vor Augen zu führen, der als „hinausgeschobene Produktivität“ („delayed productivity“) beschrieben wurde (Füllsack 2008) und der seine Grundlagen in der Kybernetik so genannter antizipativer Systeme (Rosen 1985) findet9. Solche Systeme repräsentieren auf allgemeiner Ebene jenen Zeithorizont, in dem operative Ausfälle, also etwa Produktionsausfälle, akzeptiert werden können, weil im Gesamt des Horizonts Mehrwertraten möglich sind, die für temporäre Unproduktivität kompensieren. Nach diesem Konzept werden heute Roboter gebaut (Bongard et al. 2006). Mit ihm lässt sich aber im Sinn der oben erwähnten „delayed benefits“ von Programmierern und jungen Wissenschaftlern auch die vergleichsweise lange, bis zu einem Viertel der Gesamtlebenszeit ausgedehnte Lebensphase der Kindheit und frühen Adoleszenz bei Primaten und Menschen betrachten, in welcher die Teilnahme an den „produktiven Aktivitäten“ der Gesellschaft partiell oder zur Gänze suspendiert ist (Gurven et al. 2006), weil für die Gesamtverrechnung ein Zeithorizont relevant ist, in dem die Phase jugendlicher „Unproduktivität“ durch später erhöhte Produktivität – z.B. als Folge von Lernen – kompensiert werden kann. Die damit gegebene zeitliche Verteilung von Produktivität birgt den Vorteil, Zufallsschwankungen in den Produktionsbedingungen durchzustehen. Dem Vorteil stehen freilich die Kosten gegenüber, die die Organisation, also etwa das Verrechnen früherer mit späteren Einzelbilanzen, das Verwalten des dazu nötigen „Gedächtnisses“ bzw. des Konzepts der

9

Im Prinzip meint dies Systeme, die komplex genug sind, um mithilfe einer internen Repräsentation, eines Modells ihrer selbst, zunächst auf Vergleichsebene die Produktivitäten aller, in einer gegebenen Situation theoretisch möglichen Alternativoperationen durchzurechnen, bevor diese Ergebnisse dann auf Vollzugsebene zur Entscheidung für eine der Alternativen herangezogen werden.

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Anzahl der künftigen Prozessschritte (d.h. des Zeithorizonts selbst), und vieles mehr, verursachen. Diese Organisation verwaltet auf Metaebene so etwas wie eine Repräsentation oder ein Modell der Systemoperationen, die gegenüber den Aktionen auf Vollzugsebene einem anderen Zeitverlauf, einem anderen Takt unterliegen kann – so wie im obigen Fall etwa Ausführung und Management, blue und white collar work. Systeme, die in dieser Weise organisiert sind, operieren zeitlich differenziert (Füllsack 2008). Sie können auf Metaebene Entwicklungen auf Vollzugsebene „antizipieren“. Im Rahmen ihres Horizonts versorgt sie ihre Metaebene mit Vorhersagen zu ihrer Zukunft, mit Erwartungen, die den (evolutionären) Vorteil bieten, auf Umweltveränderungen, noch bevor diese eintreten, reagieren zu können, die aber auch dazu neigen, sich zu verselbständigen. Diese Vorhersagefähigkeit ist auf einen stabilen Bezugsrahmen, also einen als solchen überschaubaren Horizont angewiesen, trägt aber paradoxerweise gleichzeitig zu dessen permanenter Destabilisierung bei, die konzeptionell neutralisiert werden muss. Die „selbst-organisierte Kritizität“ (Bak/Tang/ Wiesenfeld 1987) des Bezugsrahmens ergibt sich dabei daraus, dass die Metaebene, also z.B. die Managementabteilung eines Unternehmens, den Zeithorizont, innerhalb dessen bilanziert wird (d.h. innerhalb dessen Produktivität auch „delayed“ werden kann) auf Basis bisher erarbeiteter Möglichkeiten (auf Basis der Vergangenheit) festlegt. Wenn dieser Horizont günstig gewählt wird, kann das System (die Firma) Produktivitätszuwächse verbuchen, die im nächsten rekursiven Schritt, neben anderem, auch mehr Mittel zur Alimentation der Verrechnungsstelle (der Metaebene, der Managementabteilung) bereitstellt. Daraus kann sich größere Tiefenschärfe auf bestehende Möglichkeiten ergeben, was zu einer Re-Konzeptualisierung des Zeithorizonts veranlasst. Die Operationsbedingungen verändern sich und lassen die Vergangenheit, das heißt die bisher erwirtschafteten Voraussetzungen in neuem Licht erscheinen. Neue oder andere InputFaktoren gewinnen Relevanz (erneuerbare anstelle von fossilen Energieträgern etc.)10 Sobald diese Veränderungen ihrerseits dafür sorgen, dass sich der Verrechnungshorizont ändert, entstehen wieder neue Optionen, die, sofern sie abermals realisiert werden können, Gegenwart und Vergangenheit neuerlich umschreiben, usw. Solche Systeme errechnen also im je aktuellen Operieren beständig neue Repräsentationen, neue Bilder ihrer selbst, ihrer Vergangenheit,

10 Oftmals bemüht diesbezüglich auch etwa das Beispiel des Energieträgers Erdgas, der bis in die 1930er Jahre als „lästiges Nebenprodukt“ der Erdölgewinnung abgefackelt wurde.

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ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft. Sie verorten sich permanent neu in der Zeit11, indem sie sowohl rekursiv wie auch inkursiv12 auf ihre jeweiligen Repräsentationen zugreifen und diese neu schreiben. Auch die jeweiligen Begriffe von Arbeit fungieren in diesem Sinn als Repräsentationen, die die Tendenz in sich tragen, sich im nächsten Zeitschritt zu unterminieren. Erfolgreiche Verortung von Arbeit, kann also paradoxerweise den Bedarf für weitere Verortungen antreiben. Arbeit macht auch auf begrifflicher Ebene Arbeit (Füllsack 2009). Ein wachsendes Heer von Interpreten wird nötig, um sie terminologisch zu stabilisieren (jüngst etwa: Erdbrügger/Nagelschmidt/Probst 2015). Ihr Begriff muss im Spannungsfeld vielfältiger sozialer und temporaler Spannungen den je praktikablen Produktivitätshorizont umreißen, wird dieser Aufgabe unter den zunehmend dynamischen Gegebenheiten der Postindustrie aber nur mehr für kürzerwerdende Intervalle gerecht. Die Hypostasierung von „Normalität“, zu Zeiten, da das damit Gemeinte bereits in Auflösung ist, liefert ein Beispiel. Die Normalarbeit, bzw. das Normalbeschäftigungsverhältnis markiert aus dieser Sicht einen kurzen historischen Moment in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem die bis dahin vorherrschende Beschäftigungsform der Industriearbeit mit ihrer zeitlichen und sozialen Organisation, mit dem 8-Stundentag fünf Mal die Woche gut 40 Berufslebensjahre lang, mit einer eher kurzen vorlaufenden Qualifikationsphase, reglementierten Regenerationszeiten, einer nachlaufenden, ebenfalls nur kurzen Nichtarbeitsphase und einer Vielzahl sozialer Absicherungen, allem voran aber einem kollektivvertraglich gesicherten Erwerbseinkommen, noch einmal begrifflichen Ausdruck findet. Schon dies geschieht retrospektiv. Zu dem Zeitpunkt, da die Normalität des Normalbeschäftigungsverhältnisses berufen werden muss, ist sie nicht mehr für alle gegeben. Das Konzept ist eine Projektion aus der Zukunft, eine „Retrojektion“, wie Bibelforscher Interpretationen nennen, die erst nach

11 Jedes Ereignis vollzieht „eine Gesamtveränderung von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart – alleine schon dadurch, dass es die Gegenwartsqualität an das nächste Ereignis abgibt und für dieses (für seine Zukunft also) Vergangenheit wird. Mit dieser Minimalverschiebung kann sich zugleich der Relevanzgesichtspunkt ändern, der die Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft strukturiert und begrenzt. Jedes Ereignis vollzieht in diesem Sinne eine Gesamtmodifikation der Zeit.“ (Vgl. Luhmann 1984: 390). 12 Mit „Incursion“ (im Gegensatz zu Recursion) bezeichnet Daniel Dubois (1998) jenen „Rückblick“ aus der Zukunft, mit dem antizipative Systeme die Gegenwart mit einem vorgegriffenen Bild ihrer erwarteten Entwicklung anreichern.

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dem Tatbestand „eingefügt“ werden, diesen aber gerade damit erst zu dem machen, als was er historisch erscheint (vgl. dazu auch etwa Lacan 1953/198613). Vom Standpunkt der vorliegenden Überlegungen aus leistet das Konzept aber vor allem eines: es bindet die Umverteilung von Rationalisierungs- und Produktivitätsgewinnen (oder auch: von Kaufkraft) nahezu exklusiv an Erwerbsarbeit. Es orientiert damit nach wie vor den Horizont und die Erwartungen postindustrieller Arbeitswelten, und damit paradoxerweise auch den jener SoftwareEntwickler und jungen Wissenschaftler, von denen aktuell angenommen wird, dass sie zentral zur finalen Demontage des Normalbeschäftigungskonzeptes beitragen. Um dies deutlich zu sehen, werde ich im Folgenden noch einmal ausführlicher auf den in Teil 2 angesprochenen „task-based approach“ zeitgenössischer Arbeitsforschung und seine aktuellen Schlussfolgerungen zu sprechen kommen.

5. D ER „T ASK - BASED APPROACH “ Die Entwicklung der Beschäftigung der letzten Jahrzehnte wird gegenwärtig gerne unter einem Aspekt betrachtet, der im Zusammenhang der Hypothese des „Skill-Biased-Technical-Change“ (SBTC, Katz/Murphy 1992) den Begriff der „tasks“ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt. Als tasks werden jene spezifischen Aufgaben bezeichnet, die im Rahmen von Erwerbstätigkeiten anfallen und insbesondere in der Unterscheidung von Routine und Nicht-RoutineAufgaben („routine“ und „non-routine tasks“) zunächst dazu herangezogen wurden, um die sich in vielen industrialisierten Ländern öffnende Lohnschere mit dem Aufkommen von programmierbaren Maschinen, mit der Digitalisierung, in Verbindung zu setzen (Autor/Dorn 2013; Autor/Katz/Kearney 2008, Acemoglu/Autor 2011; Goos/Manning 2007; Goos/Manning/Salomons 2011). Die Annahme des SBTC bestand darin, dass insbesondere Routinetätigkeiten zunehmend von digitalen Maschinen ersetzt würden. Für Nicht-Routinetätigkeiten gelte dies (noch) nicht im selben Ausmaß 14. Die Lohnentwicklung der Beschäftig-

13 „[…] es ist die Wirkung des vollen Sprechens, die Kontingenz des Vergangenen neu zu ordnen, indem es ihr den Sinn einer zukünftigen Notwendigkeit gibt, wie sie konstituiert wird durch das bisschen Freiheit, mit dem das Subjekt sie vergegenwärtigt.“ (Lacan 1953/1986: 94). 14 Ursprünglich unterschieden Autor/Levy/Murnane (2003) vier Typen von Tasks: analytische und interaktive Nicht-Routine-Tasks, analytische und interaktive Routine-

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ten mit mittlerer Qualifizierung, also jener, die eher Routinetätigkeiten ausüben, würde deshalb hinter der von einerseits Hochqualifizierten – mit primär kognitiven Nicht-Routineaufgaben – und andererseits auch hinter der von Niedrigqualifizierten – mit primär manuellen Nicht-Routineaufgaben – zurückbleiben (Autor/Dorn 2013; Autor/Katz/Kearney 2008). Die Folge sei eine Polarisierung der Löhne und der Beschäftigung von Hoch- und Niedrigqualifizierten auf der einen und der von Mittelqualifizierten auf der anderen Seite (Acemoglu/Autor 2011; Goos/Manning 2007; Goos/Manning/Salomons 2011). 2013 stellte nun allerdings eine einflussreiche Studie von Frey und Osborne die Rasanz der technischen Entwicklung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. „Computerisation is now spreading to domains commonly defined as nonroutine.“ (Frey/Osborne 2013: 15). Insbesondere Techniken des maschinellen Lernens und der mobilen Robotik würden aktuell dafür sorgen, dass sich die bisher betrachteten Abgrenzungen zwischen Routine und Nicht-Routine-Aufgaben rapide verschieben. Die Beschäftigungssituation von Chauffeuren aller Couleurs zum Beispiel galt ob des großen Anteils an Nicht-Routine-Aufgaben bislang als wenig gefährdet. Mit Entwicklungen wie etwa dem selbstfahrenden GoogleAuto rückt sie nun an die Vorfront der Rationalisierung. Selbst im Bereich rein kognitiver NRTs geraten die Dinge in Bewegung. Computer schreiben und erkunden Forschungshypothesen, erstellen juridische Fachgutachten, durchforsten chemische Datensätze nach aussichtsreichen Substanzen, handeln Wertpapiere in Bruchteilen von Sekunden auf weltweiten Märkten, fassen eingehende Pressemeldungen zu publizierbaren journalistischen Texten zusammen und gewinnen Fernsehquizshows gegen die besten menschlichen Spieler. Viele der bisher für maschinell nicht-ersetzbar gehaltenen Berufe, insbesondere auch im Dienstleistungssektor, – der „großen Hoffnung des 20. Jahrhunderts“ (Fourastie 1954) – sehen sich plötzlich dem Umstand gegenüber, am Radarschirm der Digitalisierung aufzuscheinen und damit über kurz oder lang nicht mehr auf menschliche Arbeitskraft angewiesen zu sein (Ford 2009, Mcafee/Brynjolfsson 2011).15

Tasks, manuelle Routine-Tasks und manuelle Nicht-Routine-Tasks. Per defintionem seien Routine-Tasks solche, die von programmierbaren Maschinen nach Regeln ausgeführt werden können, während Nicht-Routine-Tasks lediglich durch Computer unterstützt werden könnten. 15 Die Daten von Frey und Osborne werden derzeit (2015) von einer Vielzahl von Internetplattformen verwendet, um interaktive Job-Prognosen zu erstellen, siehe u.a.: http://www.bbc.com/news/technology-34066941;

http://qz.com/202312/is-your-job-

at-risk-from-robot-labor-check-this-handy-interactive/;

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6. M ASCHINENARBEIT Die eigentliche „Gefahr“16 der Wegrationalisierung von Erwerbsmöglichkeiten geht dabei, wie gesagt, von der Möglichkeit aus, Maschinen vermehrt auch zur Verrichtung von Nicht-Routine-Aufgaben („non-routine tasks“, NRTs) einzusetzen, für Aufgaben also, die im TBA ursprünglich als maschinell nichtrationalisierbar eingestuft wurden. Ihre Rationalisierung schien schwierig, bzw. unmöglich, weil NRTs in durchschnittlichen Arbeitsabläufen zum einen selten und zum anderen zu nicht oder nur schwer vorhersagbaren Zeitpunkten auftreten (wobei dies natürlich zusammenhängt). Vor dem Hintergrund der obigen Überlegungen zur Rationalisierungstriade (Teil II) wären NRTs in erster Linie Aufgaben, für die die Anwendungsdichte (das N) nicht gegeben ist, das sie in den Bereich ökonomischer Rationalität rückt. Sie fallen einfach nicht oft genug an, um die damit verbundenen Organisations-Kosten zu amortisieren. Vor dem Umstand, dass ihre Rationalisierung nun doch konstatiert wird, stellt sich damit die Frage, woher das dafür benötigte N, d.h. die nötige Anwendungsdichte kommt. Diejenigen, die NRTs in den Möglichkeitsraum der digitalen Rationalisierung vordringen sehen (u.a. Ford 2009, Mcafee/Brynjolfsson 2011, Frey/Osborne 2013), sind sich einig, dass insbesondere die eingangs erwähnten digitalen Techniken der automatisierten Datenanalyse und des Maschinenlernens („deep learning“) dafür verantwortlich sind. Robotersysteme, wie der für bewegungsgeführte Programmierung gerüsteten Industrieroboter „Baxter“, der IBMQuizshow-Gewinner „Watson, oder auch der autonome Weinleseroboter „WallYe“, und nicht zuletzt natürlich Googles autonomes Auto bauen auf diesen Techniken auf. In Bezug auf die benötigte Anwendungsdichte hat dieser Umstand allerdings zwei Seiten: er betrifft zum einen die technischen Möglichkeiten selbst, und zum anderen die Frage, wie diese, wenn doch N klein ist, von (einstweilen noch?) menschlichen Arbeitskräften realisiert werden können. Ich werde die technischen Möglichkeiten, da hier nicht im Fokus, im Folgenden nur kurz und überblicksmäßig ansprechen. Ihr grundlegendes Prinzip besteht, so wie das von Kapital allgemein, in dem von Böhm-Bawerk (1894) lange

http://www.npr.org/sections/money/2015/05/21/408234543/will-your-job-be-done-bya-machine vom 20.11.2015. 16 Es scheint zwar müßig, sollte aber doch betont werden, dass die „Wegrationalisierung“ von Arbeit hier nicht per se negativ gesehen wird. Problematisch erscheint sie, wenn damit auch Ein- und Auskommensmöglichkeiten wegfallen.

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vor dem digitalen Zeitalter geprägten Begriff der „Mehrergiebigkeit von Produktionsumwegen“.17 Im Kern beruhen digitale Datenanalyse- und Maschinenlern-Methoden auf der Möglichkeit, Unregelmäßigkeiten und Ausnahmefälle, also eben etwa NRTs, die für sich genommen, weil selten, schwer vorhersehbar sind, durch automatisierte Analyse sehr großer (u.U. auch global, weil online verfügbarer) Datenmengen so zu bündeln, dass sie aggregiert die Möglichkeit bieten, auf Wahrscheinlichkeitsbasis und iterativ mit möglichen „Problembehandlungen“, also mit algorithmischen Tools zur Ausnahmebehandlung korreliert zu werden 18. Die kostengünstige Bereithaltung selten benötigter Tools bildet dabei ein zentrales Moment. Während konventionelle Ausnahmebehandlungen umfangreiche Werkzeugsammlungen oder Maschinenparks (Fließband etc.) benötigten und damit an Lagerhaltungsgrenzen auflaufen, stellt die digitale Speicherung zusätzlicher Tools für seltene Aufgaben kein vergleichbares Limit dar. Selbst wenn hochspezialisierte Lösungen nur im Hintergrund „schlummern“, kann sich ihre Verfügbarkeit rechnen, weil die Speicherung kaum Kosten verursacht, im Bedarfsfall aber doch schnellen Zugriff erlaubt. Dieser Umstand trägt auch die eigentliche Herstellung solcher Tools. In Analogie zum oben erwähnten „frozen labor“-Prinzip wird Software in der Regel zu wiederverwendbaren Paketen (Funktionen, Modulen) geschnürt, die als solche nicht nur zur unmittelbaren Problemlösung bereitstehen, sondern auch dazu, die weitere Software-Entwicklung und damit immer komplexere Ausnahmebehandlungen zu tragen. Gängige Datenanalyse und Machine-learning Tools wie etwa die Python-OOS-Packages Pandas (http://pandas.pydata.org/) oder Scikit-learn (http://scikit-learn.org/) etc. bestehen aus einer Vielzahl von Subtools, die, zu Modulen geschnürt, ihrerseits die Möglichkeit bieten, hochkomplexe Spezialfälle zu bearbeiten. Die darin aufgehobenen Vorleistungsketten setzen die zur (ökonomisch-rationalen) Rationalisierung benötigten Anwendungsdichten (das

17 Diese Umwege im Detail aufzudröseln, erfordert im Fall von Software eine Reihe abstrakter informatischer Konzepte (u.a. das der Kolmogorov-Komplexität). Es bleibt dies deshalb hier einer parallellaufenden Untersuchung vorbehalten. 18 Algorithmen wie „Naive Bayes“ beispielsweise sind so genannte „incremental learner“, die anfänglich geringe Wahrscheinlichkeiten iterativ und in actu, sprich während des Gebrauchs, erhöhen. Mit Techniken wie dem so genannten „Reinforcement learning“ lassen sich anfänglich noch unscharf kalkulierte oder korrelierte Entscheidungen mit (virtuellen) Strafpunkten belegen und so unpassende Ausnahmebehandlungen iterativ reduzieren.

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N) drastisch herab.19 Wie schon bei Marx das Werkzeug die Werkzeugherstellung, beflügelt so auch die digitale Technik die Digitalisierung. Das Szenarium sich selbst-reproduzierender Maschinen, das Ray Kurzweil (2005) als technische Singularität beschrieb, scheint damit nicht gänzlich utopisch. Einstweilen allerdings werden zentrale Aspekte der Entwicklung der für die NRT-Rationalisierung maßgeblichen Tools noch von Menschen betrieben, und zwar zu einem großen Teil von jungen Menschen, die ihre Leistungen in Antizipation auf „delayed benefits“ erbringen, als „Arbeitsmarktsignal“ also, in Erwartung einer im Normalarbeitskonzept in Aussicht gestellten Anstellung mit regelmäßiger und angemessener Entlohnung. Im Konkurrenzkampf, in den sich die jungen Entwickler dabei um die wenigen guten Jobs in der IT-Branche verstricken, treiben sie die Herstellung von Softwaretools zur Ausnahmebehandlung von arbeitsbezogenen Aufgaben voran und tragen damit dazu bei, dass zunehmend auch komplexere Tätigkeiten von digitalen Maschinen verrichtet werden können. Das Normalarbeitskonzept, in dessen Bilanzierungshorizont sich diese Investitionen amortisieren sollten, könnte seine Bedeutung genau damit vollends verlieren.

L ITERATURVERZEICHNIS Acemoglu, Daron/Autor, David H. (2011): „Skills, Tasks and Technologies: Implications for Employment and Earnings“, in: David Card/Orley Ashenfelter (Hg.), Handbook of Labor Economics 4, Cambridge: North Holland, S. 1043-1171. Autor, David H./Levy, Frank/Murnane, Richard J. (2003): „The Skill Content of Recent Technological Change: An Empirical Exploration“, in: The Quarterly Journal of Economics 118/4: S. 1279-1333.

19 Dazu kommt, dass sich auch in diesem Fall ein Prinzip wiederholt, dass in der evolutionstheoretischen Debatte um „irreduzible Komplexität“ als „Exaptation“ (auch „PräAdaptionen“, Gould/Vrba 1982) markiert wurde und für den Umstand steht, dass manche „Werkzeuge“ – berühmt etwa das Flagellum bestimmter Bakterienarten – im Kontext spezifischer Aufgaben entstehen und sich sodann zur Behandlung ganz anderer Aufgaben eignen. Der größte Teil jener Machine-learning Tools, die heute in der funktionalen Robotik zum Einsatz kommen, dürfte nicht im Kontext ihrer aktuellen Anwendung entstanden sein und damit ebenfalls nur „umwegig“ in die Bilanzierung der Anwendungsdichten einfließen.

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Normalarbeit(szeit) im Angesicht steigender Flexibilitätserfordernisse in der Wirtschaft F LORIAN M OSING UND E WALD V ERHOUNIG

Die Debatten über flexible Arbeitszeiten sind in jüngster Vergangenheit wieder verstärkt aufgeflammt und haben sehr emotionale Reaktionen sowohl auf Arbeitgeber als auch auf Arbeitnehmerseite hervorgerufen. Während die Arbeitgeberseite die Notwenigkeit flexibler Arbeitszeitmodelle, bedingt durch laufend schneller werdende Produktionszyklen, kurzfristigere Auftragslagen und einen ständig steigenden internationalen Wettbewerbsdruck, immer wieder unterstreicht, sehen Arbeitnehmervertreter darin einen weiteren Vorstoß in Richtung neo-liberaler Strukturbrüche in der heimischen Wirtschaft und Arbeitswelt. Tatsache ist, dass die Normalarbeit im Sinne eines 8-Stunden/5-Arbeitstage-Modells im Laufe der Zeit nicht zuletzt aufgrund von strukturellen Umbrüchen in Wirtschaft und Gesellschaft, zusehends aufgeweicht worden ist. Gleichzeitig garantieren Produktivitätsfortschritte in der Wirtschaft, dass die Einkommens-/ Arbeitszeitrelationen eine positive Entwicklung nehmen. So findet sich die Debatte rund um das Thema Normalarbeitszeit letztlich in einem Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher, vor allem im Hinblick auf die Frage der direkten und indirekten Arbeitskosten, und/oder gesellschaftlicher Notwendigkeit bzw. Chance und der Frage der sozialen Verträglichkeit bzw. Verantwortung wieder. Wobei letzterer Punkt auch verstärkt auf das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit Bezug nimmt und die Folgen einer derartigen Entwicklung geißelt. Im Rahmen dieses Beitrags soll dargelegt werden, inwieweit im Zusammenhang mit der Normalarbeitszeitdebatte Mythos und Realität voneinander getrennt bzw. in Einklang gebracht werden können. Dazu wollen wir einen Blick in Richtung folgender Dinge werfen:

326 | FLORIAN M OSING UND EWALD VERHOUNIG • Strukturwandel in der heimischen Wirtschaft und am Arbeitsmarkt • Verhältnis zwischen Normalarbeit und atypischen Beschäftigungsverhältnis• • • •

sen Entwicklung der Arbeitszeit in Österreich und im internationalen Vergleich Entwicklung der Arbeitskosten in Österreich und im internationalen Vergleich Herausforderungen und vermeintliche Notwendigkeiten Mögliche Ansatzpunkte in Richtung Weiterentwicklung des Themas Arbeitszeit

1. E INLEITUNG „Wenn man ganz bewusst acht Stunden täglich arbeitet, kann man es dazu bringen, Chef zu werden und vierzehn Stunden täglich zu arbeiten.“ ROBERT

FROST

(US-AMERIKANISCHER

SCHRIFTSTELLER)

Die Wirtschaftswelt unterliegt einem stetigen Strukturwandel. Diesem Wandel sind viele Bereiche des alltäglichen Lebens unterworfen und dieser macht auch vor der Arbeitswelt nicht halt. So wurde das Thema Flexibilität im Laufe der letzten Jahre zum Gebot der Stunde in einer globalisierten Welt hochstilisiert, in der Unternehmen ungleich schneller agieren können bzw. vielfach müssen als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dem Diktat des (globalen) Wettbewerbs folgend wurden auch in einer kleinen, aber sehr international ausgerichteten Volkswirtschaft wie Österreich Veränderungsprozesse im Arbeits- und Berufsalltag eingeleitet, die an althergebrachten Arbeitszeitmodellen und Arbeitsformen rütteln und den Begriff der „Normalarbeit“ in ein neues Licht gerückt haben. Was bedeutet diese Entwicklung aber im Hinblick auf die heimische Arbeitswelt? Aus Wirtschaftssicht wird die Linie vertreten, eine gewisse Art von Pragmatismus und Realismus walten zu lassen und sich von einer geradezu romantisierten, weil idealisierten Arbeitswelt zu lösen und stattdessen einen Blick auf die jüngsten strukturellen Umbrüche in Wirtschaft und Gesellschaft zu werfen und sich den Herausforderungen zu stellen. Das heißt mit anderen Worten: es gilt den Begriff Normalarbeit einer Evaluierung zu unterziehen und auszuloten, inwiefern sich dieser an geänderte Rahmenbedingungen anpassen lässt oder sich nicht ohnedies bereits angepasst hat. Im Rahmen dieses Beitrages wollen wir uns dieser Position nähern und einen Blick auf unterschiedliche Teilaspekte des

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Arbeitsmarktes und den diesem zugrundeliegenden strukturellen Änderungsprozessen wagen. Primär soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die sogenannte Normalarbeit, auf Basis gängiger Definitionen, im Einklang bzw. im Widerspruch mit den Ansprüchen einer dynamisierten, globalisierten und nach Flexibilität strebenden Wirtschaftswelt steht. Von kritischen Stimmen wird wiederholt eine negative „Erosion der Normalarbeit“ heraufbeschworen, die zum einen die Zunahme atypischer und als prekär einzustufende Beschäftigungsverhältnisse nach sich ziehe, Arbeitszeitmodelle radikal verändere und damit soziale und gesellschaftliche Umwälzungen hervorrufe und zum anderen in bestimmten Bereichen Beanspruchungen mit sich bringe, die nicht im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben stünden. In einem ersten Schritt wollen wir uns im Detail dem Strukturwandel im Bereich des Arbeitsmarktes empirisch nähern. Dabei werden wir versuchen unterschiedlichste Teilaspekte mit stilisierten Fakten zu untermauern, um einen sich an der Realität orientierten Blickwinkel zu erhalten, der wiederum Raum für neue Handlungsmöglichkeit und Handlungskorridore schaffen soll. Im Fokus stehen dabei die vermeintlichen und tatsächlichen Evolutionsschritte bzw. Strukturänderungen in der gewerblichen Wirtschaft, die unausweichlich zu Änderungen und Adaptionsbedarf in der Arbeitswelt führen. In einem zweiten Schritt wollen wir untersuchen, inwieweit der rechtliche Begriff der Normalarbeit bzw. Normalarbeitszeit gegenwärtig mit den wirtschaftlichen Anforderungen kongruent ist.

2. N ORMALARBEIT UND F LEXIBILITÄTSERFORDERNISSE IN DER W IRTSCHAFT : STILISIERTE F AKTEN Die Suche nach stilisierten Fakten zum Themenkomplex Normarbeit führt uns nicht nur zum Thema Normalarbeit im Sinne des vorherrschenden Arbeitszeitkorsetts und damit zur Analyse der Arbeitsverhältnisse und Arbeitsvolumina, sondern darüber hinaus auch in einen allgemeineren wirtschaftlichen Kontext. So soll etwa den Ursachen des Strukturwandels nachgegangen werden. Darunter fallen die Analyse der Öffnung der österreichischen Wirtschaft in Richtung Weltmarkt, der allgemeine Strukturwandel, die Tertiärisierung im Wirtschaftsleben und die internationale Wettbewerbssituation unseres Landes vor dem Hintergrund eines hoch ausgebauten und mit entsprechenden Kosten verbundenen Sozialsystems.

328 | FLORIAN M OSING UND EWALD VERHOUNIG

2.1 Entwicklung des Arbeitszeitvolumens und des Arbeitseinsatzes in Österreich Strukturänderungen und -anpassungen in der Wirtschaft führen unweigerlich zu Änderungen und Anpassungen in der Arbeitswelt. Dieser Wandel hat aber nicht dazu geführt, dass die Arbeitsvolumina pro Kopf in die Höhe geschnellt sind. So hat in Österreich, wie in Tabelle 1 dargestellt, zwar die Beschäftigung zugenommen, nicht allerdings das Arbeitsvolumen als solches. In punkto Arbeitsstunden pro Beschäftigten ist sogar ein kontinuierlicher Rückgang in den letzten Jahren zu verzeichnen. Tabelle 2: Jährliches Arbeitsvolumen unselbständiger Erwerbstätiger in Österreich 2007-2012 Unselbständige Erwerbstätige nach jährlichem Arbeitsvolumen (geleistete Arbeitsstunden inkl. Über-/Mehrstunden) in Haupttätigkeit

Jahr 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Unselbständig Beschäftigte 3.390.124 3.463.822 3.466.395 3.462.935 3.507.012 3.552.229

Arbeitsvolumen 5.823.800.000 5.941.400.000 5.698.200.000 5.771.600.000 5.771.600.000 5.806.100.000

Arbeitsstunden pro Beschäftigte 1.718 1.715 1.644 1.646 1.646 1.634

Quelle: Statistik Austria.

Die bereits vor etlichen Jahren eingeleitete Flexibilisierung der Arbeitszeit hat dazu geführt, dass es zu einer Umverteilung der Normalarbeitszeit gekommen ist, die in der Literatur mithin teils fälschlicherweise dem Terminus der „unbezahlten Überstunde“ zugerechnet wird. So ist einer Erhebung des WIFO in Österreich zu entnehmen, dass alleine im Jahr 2012 rd. 68 Mio. unbezahlte Überstunden geleistet worden wären (vgl. Famira-Mühlberg/Fuchs 2013). Tatsächlich liegen dieser Auswertung auch tägliche Normalarbeitszeitleistungen zugrunde, die nur eine achte Arbeitsstunde überschritten haben, aber dennoch keine Überstunde sind. Die Flexibilisierung ist nicht nur den Wünschen der Wirtschaft geschuldet, sondern schlichtweg Reaktion auf sich verändernde berufliche Tätigkeitsprofile. So merken Famira-Mühlberger und Fuchs folgerichtig an: „Eine wachsende Zahl von beruflichen Tätigkeiten ist ergebnis- und nicht mehr zeitorientiert. Angesicht der Unsicherheit über den nötigen Arbeitsaufwand von komplexen Tätig-

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keiten werden vermehrt All-in-Verträge geschlossen, die den Verdienst in Kombination mit einer Erfolgsprämie festlegen.“ (Famira-Mühlberger/Fuchs, 2013, S. 897-898)

2.2 Strukturwandel: vom Binnenmarkt zum globalen Markt Der Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft schreitet belegbar voran und hat viele Ursachen. Einer der wesentlichsten Treiber ist die zunehmende Internationalisierung des Wirtschaftslebens und die damit einhergehende Zunahme des Wettbewerbs. War Österreichs Wirtschaft bis in die 1970-er Jahre hinein noch stark auf den kleinen Binnenmarkt konzentriert, so änderte sich dies mit Beginn der 1980-er Jahre. Die zunehmende Verflechtung der Binnenwirtschaft mit internationalen Märkten ist seitdem rasch vorangeschritten, was sich anhand der Außenhandelszahlen belegen lässt. Abbildung 10: Österreichische Warenausfuhren 1980-2014 (in Mrd. €)

Quelle: WKO.

Folgende statistische Fakten belegen die steigende Außenverflechtung Österreichs (WKO: Sonderauswertung Außenhandelsstatistik): • + 770% bei Exporten seit 1980, die Auslandsabhängigkeit ist damit enorm ge-

stiegen • Exportquote in Bundesländern wie der Steiermark bei rd. 50% des BRP • Wettbewerbsdruck hat sich dadurch merkbar erhöht und erfasst neben großen,

wettbewerbserprobten Leitbetrieben auch Zulieferbetriebe

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Die verstärkte Außenverflechtung Österreichs hat neben den positiven ökonomischen Effekten natürlich auch die Volatilität zunehmen lassen. Viele Konjunkturanalysen der letzten Jahre zeigen, dass Konjunkturzyklen in vielen Branchen und Wirtschaftsbereichen zusehends kürzer werden, vor allem im Hinblick auf Auftragseingänge (vgl. WKO Steiermark Wirtschaftsbarometer 2015). Dies trifft nicht nur den Tourismus, sondern auch Branchen wie die Industrie und das Gewerbe, wodurch Flexibilität immer mehr zu einem Gebot wird – zumindest dann, wenn man im Wettbewerb bestehen will. Folgende empirische Fakten belegen die gestiegene Volatilität in der Wirtschaft: (Schatz 2011) • Auftragsschwankungen haben seit der Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009

enorm zugenommen und sind quasi zur Regel geworden • Abweichungen im Auslastungsgrad zwischen 15-20% im Durchschnitt seit • • • •

2009 9 von 10 Unternehmen sehen erhebliche Schwankungen als Teil einer längerfristigen Entwicklung Planungssicherheit ist nicht mehr gegeben Massive Veränderungen im Ein- bzw. Verkaufsverhalten Hohe Spontanität der Kaufentscheidungen als Charakteristikum der globalen Wirtschaft

Diese Volatilität findet wiederum Niederschlag in neuen Arbeitsformen bzw. diversen Arbeitszeitflexibilisierungsmaßnahmen. 2.3 Strukturwandel: Tertiärisierung der Wirtschaft Die immer stärker zunehmende Internationalisierung darf den Blick auf einen der prägendsten Merkmale des Strukturwandels in der Wirtschaft nicht verstellen: die Tertiärisierung, sprich der Wandel von industriellen Ökonomien in postindustrielle. Gerade dieser Trend hat sich als massiver Treiber neuer Arbeitsmodelle entpuppt. Ein Blick auf die Entwicklung der Erwerbstätigen in Form einer Langzeitreihenanalyse bestätigt zunächst einmal den Befund, dass auch ein lange Zeit sehr industrielles Land wie Österreich längst auf den Pfad der Tertiärisierung eingeschwenkt ist. War im Jahr 1980 noch jeder zweite Erwerbstätige im

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Industrie- oder Landwirtschaftssektor tätig, so ging dieser Anteil binnen dreißig Jahren auf nur mehr knapp 30% zurück – wie auch in Abbildung 2 dargestellt.1 Abbildung 11: Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren in Österreich und den EU-28: 1980-2013 (anteilig in %)

Quelle: Statistik Austria, Eurostat.

Der Strukturwandel in der Wirtschaft hat die Herausbildung neuer Arbeitsformen definitiv angetrieben. Vor allem das Phänomen der Teilzeitarbeit ist eng mit dieser Entwicklung korreliert, wie eine Analyse unterschiedlicher Branchen für das Bundesland Steiermark zeigt. Während die Teilzeitquote im industriellgewerblichen Sektor nur rund 10% beträgt, liegt diese im Dienstleistungssektor bei über 30%. In Branchen wie dem Handel, dem Gastgewerbe oder bei den Wirtschaftsdiensten liegt sie sogar nahe der 40%.

1

Österreich zählt EU-weit damit nach wie vor zu den am stärksten industrialisierten Ländern.

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Abbildung 12: Vollzeit- vs. Teilzeitarbeit nach Sektoren und Branchen in der Steiermark 2013 (anteilig in %)

Quelle: AMDB, HVSV, Statistik Austria, eigene Berechnungen JR Policies.

Die Tertiärisierung darf allerdings nicht per se schlecht geredet werden, im Gegenteil. Im Zuge dieser ist eine Vielzahl neuer Branchen entstanden, etwa im Kreativwirtschaftsbereich, deren Vertreter den Begriff Normalarbeit oftmals völlig neu definieren. Hinzu kommt, dass der technische und technologische Fortschritt im Laufe des letzten Jahrhunderts eine nachhaltige Reduktion der Normalarbeitszeit möglich gemacht hat. Aus diesem Umstand und aufgrund sich ändernden Berufs- und Qualifizierungszeiten der Menschen, hat sich eine Freizeitwirtschaft entwickelt, die neue Konsumformen und Konsumzeiten mit sich gebracht hat. Dies schlägt sich wiederum auf Normal- und Regelarbeitsplätze nieder. So wird die Rolle der Normalarbeit nicht mehr allein im Spannungsfeld zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern bestimmt, sondern zusehends auch vom Konsumenten. 2.4 Arbeitskosten: Lohn- und Lohnnebenkosten als Wettbewerbsfaktor Ein Faktor darf auch nicht ausgeblendet werden, wenn es darum geht, den Arbeitseinsatz oder Arbeitszeitmodelle zu diskutieren: der Faktor Arbeitskosten. Lohn- und Lohnnebenkosten sind in westlichen Ökonomien wie Österreich zwar nicht die alleinig maßgeblichen Komponenten der Wettbewerbsfähigkeit, stellen die Wirtschaft aber, besonders die international agierende, zusehends vor Herausforderungen, nicht zuletzt wenn es darum geht altbekannte Arbeitsmarktstrukturen, dazu gehören vor allem die Arbeitszeiten, aufrecht zu erhalten bzw.

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ein Mehr an Beschäftigung zu schaffen. Österreich nimmt in einem EU-weiten Vergleich der direkten Arbeitskosten eine sehr prominente Stellung ein und findet sich im obersten Drittel, knapp über dem EU-15-Schnitt, wieder. Abbildung 13: Arbeitskosten im EU-Vergleich 2013 (in € pro Stunde)

Quelle: Wirtschaftskammer Österreich.

Noch stärker als die direkten Lohn- und Arbeitskosten belasten die Arbeitszusatzkosten (Lohnnebenkosten) die heimische Wirtschaft. Im Bereich dieser Kosten liegt Österreich hinter Belgien auf Rang zwei in einem Europavergleich – siehe auch Abbildung. 4. Gegensteuerungsmaßnahmen erscheinen mittlerweile als angebracht, da gerade auf betrieblicher Ebene ansonsten Spielräume fehlen, die notwendig sind, um den Druck am Arbeitsplatz zu mindern.

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Abbildung 14: Arbeitszusatz- bzw. Lohnnebenkostenquote im EU-Vergleich im EU-Vergleich 2013

Quelle: WKO.

3. N ORMALARBEIT P ERSPEKTIVE

AUS EINER RECHTLICHEN

Schwerpunktmäßig finden sich die einschlägigen Rechtsgrundlagen der Normalarbeitszeit im Arbeitszeitgesetz (AZG). Dieses kennt aber nicht mehr nur die klassische Verteilung der Normalarbeitszeit auf fünf Arbeitstage mit jeweils acht Arbeitsstunden. Vielmehr hält § 3 Abs 1 AZG – welcher die Normalarbeitszeit regelt – fest, dass die tägliche Normalarbeitszeit acht Stunden und die wöchentliche Normalarbeitszeit vierzig Stunden nicht überschreiten darf, „soweit im folgenden nichts anderes bestimmt wird“. In § 4 AZG findet sich dann auch tatsächlich ein vollkommen anderer Zugang zur Normalarbeitszeit. Die einschlägige Gesetzesstelle ist mit der Überschrift „Andere Verteilung der Normalarbeitszeit“ betitelt und ermöglicht komplett andere Arbeitszeiteinteilungen. Ein Umstand der sich in den dann folgenden Gesetzesbestimmungen fortsetzt. So regelt § 4a AZG die Schichtarbeit, § 4b AZG die Gleitzeit, § 4c AZG die Dekadenarbeit und § 5 AZG die Arbeitsbereitschaft. Die diesbezüglichen flexiblen Normalarbeitszeitsysteme an dieser Stelle im Detail zu erklären, würde für den rechtlich nicht geschulten Leser wenig Sinn machen, wichtig erscheint aber die Darstellung der Grundintention, die solche Arbeitszeitsysteme trägt. Dem klassischen Verständnis der Normalarbeitszeit eines Vollzeitarbeitnehmers liegt eine fünftägige Arbeitswoche mit jeweils acht Stunden zugrunde. Dementsprechend entsteht bei einem solchen Arbeitnehmer dann eine Überstunde, wenn er mehr als acht Stunden täglich arbeitet, oder wenn

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er das Arbeitsausmaß von vierzig Stunden in der Woche überschreitet2. Andere Verteilungen der Normalarbeitszeit ermöglichen es nun, diese Arbeitszeiten anders einzuteilen. Dementsprechend können täglich mehr als acht Stunden und wöchentlich mehr als vierzig Stunden gearbeitet werden, ohne dass es hierdurch zu einer Überstunde kommt. Der Vorteil für den Arbeitgeber liegt auf der Hand, er erspart sich den für ihn unliebsamen Überstundenzuschlag. Diese Normalarbeitszeitmodelle sind hierdurch aber nicht unbedingt eine Einbahnstraße zu Ungunsten des Dienstnehmers. Eine andere Verteilung der Arbeitszeit führt nämlich nicht dazu, dass der Arbeitnehmer mehr arbeiten muss, sondern, dass diese Arbeitszeit eben nur anders über den jeweils gesetzlich vorgesehenen Zeitraum verteilt ist. Denn auch bei flexiblen Normalarbeitszeitmodellen muss am Ende des jeweiligen Durchrechnungszeitraums die durchschnittliche Normalarbeitszeit von vierzig Stunden erreicht werden. Ansonsten liegen zuschlagspflichtige Überstunden vor, sofern das Zeitguthaben nicht in den nächsten Verteilungszeitraum übertragen werden kann3. Daraus folgt, dass dem Arbeitnehmer innerhalb des jeweiligen Durchrechnungszeitraums ein entsprechender Zeitausgleich zu gewähren ist, damit im Durchschnitt die gesetzliche Normalarbeitszeit von vierzig Stunden erreicht wird. Ein solcher Zeitausgleich kann dazu führen, dass der Arbeitnehmer über mehrere Tage oder Wochen vom Dienst freigestellt ist4. Häufig kann der Dienstnehmer auch innerhalb gewisser vorgegebener Parameter seine Arbeitszeit und damit auch seinen Zeitausgleich selbst einteilen. Als Beispiel hierfür lässt sich das Gleitzeitsystem nennen. Bei diesem ist zumeist eine Kernzeit vorgesehen, innerhalb dieser der Arbeitnehmer anwesend sein muss, außerhalb derselben kann er aber sein Kommen und Gehen innerhalb des täglichen Gleitzeitrahmens selbst bestimmen. Zusätzlich sehen solche Arbeitszeitsysteme oftmals die Möglichkeit vor, dass ganze „Gleittage“ genommen werden können. Die Flexibilität solcher Arbeitszeitsysteme manifestiert sich daher nicht nur im betrieblichen Alltag, sondern strahlt auch auf die Freizeit des Arbeitnehmers aus. Dieser erhält arbeitsfreie Zeiträume, die er bei einer traditio-

2

Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer montags bis freitags

3

Diese Möglichkeit kann bei gewissen flexiblen Arbeitszeitmodellen bestehen. Bei-

jeweils acht Stunden und samstags zusätzlich zwei Stunden arbeitet. spiele hierfür wären Durchrechnungsmodelle der Arbeitszeit (vgl § 4 Abs 7 AZG) oder Gleitzeitsysteme (vgl § 4b Abs 3 Z 3 AZG). 4

So erfreuen sich sogenannte Sabbaticals immer größerer Beliebtheit. Bei diesen arbeitet der Arbeitnehmer oftmals über mehrere Monate oder Jahre in einem höheren Ausmaß, um dann über einen längeren Zeitraum seinen Zeitausgleich zu konsumieren.

336 | FLORIAN M OSING UND EWALD VERHOUNIG

nellen Normalarbeitszeiteinteilung nie erhalten hätte. Je nach ihrem Freizeitverhalten, werden viele Arbeitnehmer daher eine solche Arbeitszeiteinteilung nicht als Nachteil, sondern als Vorteil empfinden. So nehmen etwa das Thema Selbstfindung und Selbstverwirklichung innerhalb der „Generation Y“ einen viel größeren Stellenwert ein, starre Normalarbeitszeitsysteme werden oftmals nicht eine Basis dafür sein, dass diese Bedürfnisse in einem ausreichenden Maße befriedigt werden können5. Aus all dem folgt, dass das Normalarbeitszeitverständnis des AZG auf die Bedürfnisse einer sich wandelnden Wirtschaft und auch auf das veränderte Freizeitverhalten der Arbeitnehmer bereits reagiert hat. Aus rechtlicher Sicht muss daher die gegenständliche Diskussion nicht mehr geführt werden: Der Begriff der Normalarbeitszeit ist flexibel, bedarfsgerecht formbar und damit auch dem heutigen Zeitgeist entsprechend.

4. R ESÜMEE Ökonomische Prozesse unterliegen einem stetigen Wandel. Auch kleine Volkswirtschaften wie Österreich blieben von diesem Wandel nicht verschont, im Gegenteil. Österreich ist zu einer sehr internationalen Volkswirtschaft geworden, die sich im globalen Wettbewerb zu behaupten gelernt hat, sich gleichzeitig aber laufend neu bewähren und neben Innovationskraft, Qualitätsbewusstsein auch Flexibilität an den Tag legen muss. Der letzte Bereich fordert auch den Arbeitsmarkt und hat, sieht man sich die rechtlichen Grundlagen betreffend Arbeitszeiten und Arbeitsformen an, bereits zu einer Neubewertung des Begriffes „Normalarbeit“ geführt. Treiber dieser Entwicklung sind nicht ausschließlich die Erfordernisse der Wirtschaft, sondern auch sich geänderte Lebensvorstellungen im privaten Lebensbereich. Die Tertiärisierung der Wirtschaft ist ebenfalls einer ständig wachsenden Freizeitgesellschaft geschuldet, die wiederum, über geänderte Konsumvorstellungen, althergebrachte Arbeitsformen verändert hat. Atypische Arbeitsverhältnisse sind folglich zu typischen geworden. Aus einer starren Normalarbeitszeit ist eine flexible Normalarbeitszeit geworden. Damit gehört der Begriff Normalarbeit nicht der Vergangenheit an, sondern ist der Gegenwart und wohl ebenso der Zukunft entsprechend.

5

So wäre eine Weltreise über mehrere Monate in einem aufrechten Arbeitsverhältnis früher noch undenkbar gewesen, jetzt vereinbaren viele Dienstnehmer hierfür einfach ein Sabbatical (vgl. WKO Steiermark 2015).

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Auf zu neuen Normalitäten – wie weiter in der Arbeitszeitpolitik? D AVID M UM UND R UDOLF W AGNER

1. E INLEITUNG Normalarbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung werden wieder verstärkt kontroversiell diskutiert. Die Gewerkschaften bekennen sich zum Ziel einer Arbeitszeitverkürzung für die Vollzeitbeschäftigten und einer gerechteren Verteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit. Die Wirtschaft will die Grenzen der Normalarbeitszeit ausdehnen und die tägliche Normalarbeitszeit für ArbeitnehmerInnen auf bis zu 12 Stunden ausdehnen. In der gewerkschaftlichen Programmatik war die Arbeitszeitverkürzung seit jeher ein Anliegen, damit technologischer für sozialen Fortschritt genutzt werden kann. Der letzte große Meilenstein einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung liegt mittlerweile aber 40 Jahre zurück und war die gesetzliche Einführung der 40Stundenwoche. Seither gab es aber alles andere als Stillstand in der Arbeitszeitverteilung. Im Gegenteil. Während die Vollzeitbeschäftigung stagniert, ist die – meist weibliche – Teilzeit am Vormarsch. Die unterschiedliche Verteilung von Arbeitszeiten und unterschiedliche Arbeitszeitwünsche in verschiedenen Lebensphasen machen es notwendig, die Bedürfnisse verschiedener Gruppen Betroffener zu berücksichtigen.

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2. 40 J AHRE 40 S TUNDEN –

EIN

ARMUTSZEUGNIS ?

In der 2. Republik gab es zwei große Schritte zur Verkürzung der Normalarbeitszeit. Der 8-Stundentag wurde ja bereits 1919 eingeführt. 1959 wurde in einem Generalkollektivvertrag die Verkürzung der wöchentlichen Normalarbeitszeit von 48 auf 45 Stunden vereinbart. Nach einem von SPÖ und ÖGB unterstützen Volksbegehren für die 40 Stundenwoche wurde noch 1969 im Arbeitszeitgesetz die schrittweise Verkürzung von 45 auf 40 Stunden bis 1975 beschlossen (GPA-djp 2015: 9). 1970 wurde die Normalarbeitszeit auf 43, 1972 auf 42 Stunden pro Woche gesenkt. 1975 wurde die 40-Stundenwoche als Normalarbeitszeit schließlich erreicht. Hinzu kommt die Ausweitung der Urlaubsansprüche. 1964 wurde durch einen Generalkollektivvertrag 3 Wochen Jahresurlaub eingeführt, der 1971 auch gesetzlich verankert wurde. Schon 1976 wurde dieser auf 4 Wochen angehoben und 1984 die Erhöhung auf 5 Wochen bis 1986 beschlossen. Damals wurde auch die 6. Urlaubswoche für alle Beschäftigten mit mehr als 25 Dienstjahren eingeführt. Ist es nun ein Armutszeugnis der Arbeitszeitpolitik, dass es seither keine allgemeine Arbeitszeitverkürzung gegeben hat? Zumindest ist es eine Tatsache, die zu Reflexion herausfordert. Man sollte sich von einer linearen Fortschrittsvorstellung verabschieden, die Weiterentwicklung der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik als kontinuierliche und schrittweise Verkürzung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit definiert. Die Gewerkschaften mussten erkennen, dass nach der generellen 40-Stundenwoche weniger leicht die generelle 35-Stundenwoche durchsetzbar war. Daher wurde immer wieder betont, dass Arbeitszeitverkürzung verschiedene Formen annehmen kann. Will man das Thema Arbeitszeitverkürzung wieder wirkungsmächtig machen, dann muss man an den konkreten Lebensrealitäten und Zeitbedürfnissen der Menschen ansetzen. Eine Arbeitszeitverkürzung und Neuverteilung der Arbeit ist notwendig. Sie wird aber wohl über mehrere Wege und nicht nur durch eine generelle Arbeitszeitverkürzung realisiert werden. Die Interessen und Zeitbedürfnisse sind unter den ArbeitnehmerInnen nicht homogen verteilt, daher müssen auch Forderungen unterschiedliche Interessenlagen berücksichtigen. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohn- und Personalausgleich war und ist die Zielvorstellung der Gewerkschaften. Um in eine neue Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit mehr Dynamik und Bewegung zu bekommen, sind aber auch andere Wege zu gehen. Die Freizeitoption in manchen Kollektivverträgen hat zwar eine beschränkte Reichweite und Klientel, aber sie zeigt Arbeitszeitpräferenzen und Verkürzungsbedarf. Wenn es gelingt, eine

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„kritische Masse“ an Veränderung zu erreichen, dann kann es gelingen, neue Standards und Normen zu etablieren. Zu bedenken ist, dass die letzten Etappen der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung auch vor dem Hintergrund einer anderen gesellschaftlichen Realität stattgefunden haben. Vor 40 Jahren war Erwerbsarbeit vor allem männliche Vollzeitarbeit, die Bedeutung der Industriebeschäftigung war weitaus höher als jetzt. Seither ist die Frauenerwerbsquote von ca. 50% in den 1970er Jahren auf 70% heute angestiegen (Statistik Austria 2013). Gleichzeitig hat Teilzeitarbeit stark zugenommen und liegt nun bereits bei 1 Million Beschäftigen. Die letzten Schritte der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung fanden zu einer Zeit statt, in der die österreichische Wirtschaft international weniger verflochten und der Wettbewerb geringer war. Es war aber auch die ArbeitnehmerInnenschaft weitaus homogener und damit war es auch einfacher möglich, viele Menschen hinter einer gemeinsamen Forderung zu vereinen. 2.1 Generelle oder lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle Arbeitszeitpolitische Forderungen und Modelle müssen daher unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung tragen. Es bedarf Konzepten, die die Berücksichtigung individueller und lebensphasenspezifischer Zeitbedürfnisse ermöglichen und ArbeitnehmerInnen Gestaltungsspielräume geben. Arbeitszeitpolitik muss auf die Verkürzung der Arbeitszeit abzielen und Vielfalt ermöglichen. Arbeitszeitregelungen müssen über den Erwerbsverlauf veränderbar sein. Dabei darf sich Ausmaß, Lage und Flexibilität der Arbeitszeit nicht ausschließlich an den Interessen der Wirtschaft orientieren! Vielmehr muss Arbeitszeit so gestaltet sein, dass ArbeitnehmerInnen Erwerbs- sowie Versorgungsarbeit und Freizeit gut miteinander vereinbaren können! 2.2 Bezahlte und unbezahlte Arbeit Die bestehenden Arbeitszeitrealitäten beruhen auf einer Ungleichverteilung bezahlter und unentgeltlich erbrachter Leistungen für Betreuung, Hausarbeit, Pflege, Erziehung, etc. Vor dem Hintergrund der traditionellen Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen tragen Frauen die Hauptlast der Gesamtarbeitszeit, während auf Männer der Hauptanteil der bezahlten Arbeit und Einkommen entfällt.

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2.3 Arbeitszeitverkürzung passiert Die Beschäftigung nimmt in Österreich vor dem Hintergrund eines stagnierenden Erwerbsarbeitsvolumens zu. Das bedeutet, dass die durchschnittliche geleistete Wochenarbeitszeit sinkt. Real ist eine langfristige Stagnation bzw. ein leichtes Sinken der Vollzeitbeschäftigung bei starkem Anstieg der Teilzeit zu beobachten. Die durchschnittliche normale Wochenarbeitszeit sank in den letzten 10 Jahren von 38 auf 36 Stunden (Statistik Austria 2016a). Die Beschäftigung steigt, wenn das Wirtschaftswachstum höher ist als die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Da in den letzten Jahren die Produktivität kaum zugenommen hat, nahm die Beschäftigung auch bei sehr geringen Wachstumsraten zu. Wenn man die Entwicklung des Arbeitsvolumens und der Erwerbstätigkeit in den letzten 10 Jahren betrachtet, erkennt man einen Bruch in der Entwicklung mit Eintritt der Krise 2008. Bis 2008 stiegen sowohl das Arbeitsvolumen als auch die Beschäftigung weitgehend parallel. Seit 2008 ist die Erwerbstätigkeit weiter gewachsen allerdings mit geringerer Steigerung. Das Arbeitsvolumen ging nach 2008 um 5% zurück und stagniert seither auf diesem Niveau. Somit ist die durchschnittliche Arbeitszeit der Erwerbstätigen gesunken. Abbildung 1: Entwicklung von BIP, BIP je Erwerbstätigem und Arbeitszeitvolumen seit 2004

Quelle: Statistik Austria, OeNB, eigene Berechnungen 2016.

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Betrachten wir nun die Entwicklung von Arbeitsvolumen und Wertschöpfung. In den letzten 10 Jahren kann man folgende Entwicklungen feststellen: Bei annähernd konstantem Arbeitszeitvolumen ist das BIP real (=inflationsbereinigt) um 14% gestiegen. Auch bei der Entwicklung des BIP gibt es 2008 einen Bruch. Bis dahin ist es rasch gestiegen, 2009 folgte der krisenbedingte Einbruch und nach einem Aufholen auf das alte Niveau stellte sich ein deutlich geringerer Wachstumspfad ein. Bei stagnierendem Arbeitszeitvolumen ist das BIP deutlich gestiegen. Während die Produktion je Beschäftigtem gleich blieb, stieg die Produktion insgesamt, weil die Beschäftigung gestiegen ist. Das bedeutet aber auch, dass die Arbeitszeit je Erwerbstätigem gesunken ist. Ein leicht anderes Bild zeigt sich beim Arbeitszeitvolumen aus der VGR. Dieses stagniert nicht, sondern ist leicht gestiegen. Hier sind auch die Arbeitszeiten jener Menschen inkludiert, die in Österreich arbeiten und im Ausland wohnen. Diese EinpendlerInnen werden in den Mikrozensen nicht erreicht. Wenn nun Arbeitszeitverkürzung real laufend stattfindet, warum ist dann die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung so wichtig? Dies liegt v.a. an der ungleichen und problematischen Verteilung von Arbeitszeiten und Einkommen. Es kamen nämlich nicht geringere Arbeitszeiten für alle, sondern zu einer Polarisierung der Arbeitszeitverteilung. Bei stagnierender bzw. leicht rückläufiger Vollzeit geht der Beschäftigungszuwachs auf (weibliche) Teilzeit zurück.

3. R ECHTLICHE N ORMALARBEITSZEIT ARBEITSZEITEN – P OLARISIERUNG DER ARBEITSZEITVERTEILUNG

UND TATSÄCHLICHE

Österreich ist einerseits durch sehr lange Arbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten gekennzeichnet (hier liegen wir traditionell an 2.Stelle) und andererseits durch ein hohes Ausmaß an Teilzeitbeschäftigung. Die Teilzeitquote liegt mit 27,9% auch an 2. Stelle in der EU (Teilzeitquote Frauen: 46,9%, Männer: 10,9%) (BMASK 2015). In anderen Ländern sind die Arbeitszeitunterschiede zwischen den Geschlechtern wesentlich geringer. Die Vollzeitbeschäftigten arbeiten kürzer als in Österreich und der Anteil der Teilzeit ist geringer. Eine Verkürzung der Normalarbeitszeit kann einen wesentlichen Beitrag zu einer gleicheren Verteilung der Arbeitszeiten leisten. Neben einer Arbeitszeitverkürzung für Vollzeitbeschäftigte geht es auch darum, Teilzeitbeschäftigten die Möglichkeit einer Arbeitszeitverlängerung zu geben.

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In Österreich sind Vollzeit und Teilzeitarbeit unter den Geschlechtern sehr unterschiedlich und klar verteilt: Während die Männer 2/3 der VollzeitArbeitsplätze haben, entfallen auf die Frauen über 84% der Teilzeitarbeitsplätze. Die massive Erhöhung der Teilzeitquote bei Frauen von 16% 1986 auf 47,8% 2015 ist aber nicht in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Frauen aus der Vollzeit gedrängt wurden, sondern dass die steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen durch Teilzeitbeschäftigung stattfindet (Statistik Austria 2016b). Generell kann für die letzten Jahre konstatiert werden, dass die Vollzeitbeschäftigung nur in Jahren mit hohen Wachstumsraten gestiegen ist, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass diese überwiegend in (männlich dominierten) stark konjunkturell geprägten Branchen dominiert. Teilzeit ist demgegenüber eher im weniger konjunkturabhängigen Bereich der Dienstleitungen verbreitet. Die höchsten Teilzeitquoten haben die Sektoren Handel, Gesundheits- und Sozialwesen und sonstige Dienstleistungen, die geringsten demgegenüber die Wirtschaftsklassen Bau sowie Herstellung von Waren. Während die Teilzeitbeschäftigung Jahr für Jahr gestiegen ist, hat die Vollzeitbeschäftigung in den meisten Jahren abgenommen.

4. ARBEITSZEITAUFTEILUNG UND F RAUEN

ZWISCHEN

M ÄNNERN

Den Beginn ihrer Erwerbskarriere beginnen Frauen und Männer überwiegend mit Vollzeitarbeit. Die Vollzeitquote der Frauen sinkt dann v.a. wegen Kinderbetreuungsarbeit auf etwa die Hälfte bei den 30-34-Jährigen. Die ungleiche Verteilung der Familienarbeit führt dazu, dass jede 2. Frau bis zum Pensionsantritt in Teilzeit bleibt (Statistik Austria 2014). Das ist deswegen problematisch, weil Teilzeitbeschäftigte schlechter entlohnt werden. Sie verdienen nicht nur weniger, weil sie geringere Arbeitszeiten haben, sie werden auch arbeitszeitbereinigt deutlich geringer entlohnt. Teilzeitbeschäftigte verdienen im Schnitt pro Stunde um 22% weniger als Vollzeitbeschäftigte. Die mittleren Stundenverdienste lagen 2013 bei Teilzeit bei 10,8 EUR und bei Vollzeit bei 13,8 EUR (RH 2014: 113). Dass v.a. Frauen Teilzeit arbeiten, führt auch zum großen Gender wage gap in Österreich. Die Einkommensschere kann man nur dann schließen, wenn Teilzeitbeschäftigte nicht auf geringer bezahlte Tätigkeiten und Positionen konzentriert sind und wenn Teilzeit verstärkt eine vorübergehende Arbeitszeitform in der individuellen Erwerbsbiographie ist.

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Aber selbst vor dem Hintergrund der ungleichen Aufteilung der Kindererziehung ist es schwer erklärlich, dass jede 2. Frau bis zur Pension in Teilzeit bleibt. Hier gibt es anscheinend Hindernisse beim Wechsel von Teilzeit in Vollzeit. Es mag auch Arrangements innerhalb von Paaren geben, die die Kombination aus einem Vollzeit- und einem Teilzeiteinkommen als attraktiv erscheinen lassen. Denn in der Zeit, wenn die Kinder keinen Betreuungsbedarf mehr haben bzw. und insbesondere wenn die Kinder den Haushalt verlassen haben, besteht mitunter gar keine unmittelbare Notwendigkeit für zwei Vollzeiteinkommen. Es bleibt aber das Problem der unterschiedlichen sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche, die in Folge bei Männern und Frauen anfallen. Und insbesondere, wenn Beziehungen getrennt werden, können nicht mehr die Vorteile eines gemeinsamen Haushalts genutzt werden. Hier ergibt sich die Problematik der ökonomischen Abhängigkeit, denn die Frau ist nur dann abgesichert, wenn sie Alimente bekommt. Dies ist in der Regel nur der Fall, wenn die Trennung nicht von ihr ausgeht. Das ist aber alles andere als ein zeitgemäßes Konzept, denn die soziale Absicherung soll ja nicht davon abhängen, ob sich die Frau vom Mann oder der Mann von der Frau trennt.

5. E NTGRENZUNG

DER

(E RWERBS -)ARBEIT

Am Anfang des Kapitalismus wurde die Arbeitszeit bewusst und klar von der restlichen Zeit abgegrenzt, ging es doch darum, die Verfügungsgewalt des Unternehmers über die gekaufte Zeit zu implementieren. Strenge Fabriks- und Zeitdisziplin mit harten Sanktionen bei Verletzungen wurden eingesetzt, um gegenüber den Lohnabhängigen fremdbestimmte Arbeit und ein fremdbestimmtes Arbeitszeitregime durchzusetzen. Heute stehen wir vielfach vor dem Problem, dass die Grenzen der Arbeitszeit häufig verschwimmen und durchlässiger werden. Nicht die Abgrenzung der Arbeitszeit, sondern deren Entgrenzung sind eine Herausforderung. Während die Aufzeichnung der Arbeitszeiten zweifellos ein Mittel ist, ArbeitnehmerInnen zu kontrollieren, gilt umgekehrt aber auch, dass die Aufzeichnungen Mehrarbeit und exzessive Arbeitszeiten dokumentieren. Daher stellen eher ArbeitnehmerInnen die Aufzeichnungspflichten da in Frage, wo sie sich davon Vorteile erwarten. Das Konzept der Vertrauensarbeitszeit beruht weniger auf Vertrauen in die MitarbeiterInnen als auf Vertrauen in eine Managementtechnik, die auf Anreizen, Zielvorgaben und Milestones beruht. Dort, wo Arbeitsinhalte vorgegeben und fremdbestimmt sind, wollen auch Arbeitgeber Arbeitszeitkontrolle keineswegs missen. Im Gegenteil, neue technische Mög-

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lichkeiten werden exzessiv genutzt um nicht nur die Arbeitszeiten, sondern auch die individuelle Geschwindigkeit einzelner Arbeitsschritte zu dokumentieren, MitarbeiterInnen gegenseitig zu vergleichen und die Arbeit zu verdichten.

6. ARBEITSZEITVERKÜRZUNG – EIN M ITTEL ZUR F ÖRDERUNG DER B ESCHÄFTIGUNG ? Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung wird immer wieder – insbesondere von Gewerkschaften – damit begründet, dass das Arbeitsvolumen gerechter zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen verteilt werden muss. GegnerInnen der Arbeitszeitverkürzung argumentieren damit, dass das Arbeitsvolumen keine beliebig verteilbare Größe ist, die einfach auf unterschiedlich viele Köpfe verteilt werden kann. Natürlich kann das Volumen an Arbeit, Mehrarbeit und Überstunden nicht kurzfristig 1:1 in zusätzliche Beschäftigte transformiert werden. Aber zu behaupten, Arbeitszeitverkürzungen hätten überhaupt keinen Beschäftigungseffekt ist abwegig und empirisch widerlegt. Die Frage, wie stark eine Arbeitszeitverkürzung beschäftigungswirksam wird, hängt von den Rahmenbedingungen ab: Wenn die Arbeitszeit verkürzt wird, könnten die Unternehmen zunächst versuchen, Arbeit zu verdichten, die Produktivität zu erhöhen und darüber hinaus auf Mehrarbeit zu setzen. Das ist dann nicht beschäftigungswirksam. Erst wenn es zu zusätzlichen Neueinstellungen kommt, wird Beschäftigung erhöht. Wie stark Unternehmen auf Arbeitszeitverkürzungen durch Einstellung zusätzlicher Beschäftigter reagieren, ist von mehreren Faktoren abhängig. Insofern die Unternehmen mit einem Engpass an Facharbeitskräften konfrontiert sind, werden sie auf eine Verkürzung der Normalarbeitszeit durch mehr Überstunden, Mehrarbeit oder verstärktem Einsatz von All-In-Regelungen zu reagieren versuchen. Daher kommt der Qualifizierung und Weiterbildung eine Schlüsselrolle für mehr Beschäftigung zu, damit das Arbeitsvolumen bei allen Qualifikationsniveaus umverteilbar ist. Eine Verkürzung der Regelarbeitszeit führt umso eher zu mehr Beschäftigung, je enger die Bindung zwischen der Regelarbeitszeit und den tatsächlichen Arbeitszeiten ist. Außerdem häng es davon ab, wie weit Betriebe bereits an ihrer Kapazitätsgrenze liegen. Wenn ein Rückgang der Produktion als vorübergehend eingeschätzt wird, dann werden Unternehmen nicht im selben Ausmaß Beschäftigte kündigen, denn dann stehen bei einem Wiederaufleben der Aufträge nicht rechtzeitig genug Arbeitskräfte zur Verfügung. Hinzu kommt, dass Beendigungs- und Suchkosten anfallen, die mit Halten der Beschäftigung vermieden

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werden können. Wenn also nach einem Rückgang der Produktion diese wieder anzieht, dann besteht erheblicher Spielraum die Produktion je Beschäftigten wieder auf altes Niveau und in gewissem Ausmaß darüber hinaus anzuheben, bevor es zu Neueinstellungen kommt. Zentral für die erfolgreiche Wirkung einer Arbeitszeitverkürzung auf die Beschäftigung ist, dass sie nicht zu sinkender Kaufkraft und Nachfrage führt, weil dann auch das benötigte Arbeitsvolumen sinken würde.

7. ARBEITSZEITVERKÜRZUNGEN SETZEN NEUE S TANDARDS Arbeitszeitverkürzungen führen dann zu steigender Beschäftigung, wenn die Arbeitszeiten anders verteilt werden. Eine Neuverteilung der Arbeit auf mehr Menschen ist nicht im Rahmen der jährlichen Lohn- und Gehaltsverhandlungen zu erzielen. Dafür bedarf es eines längerfristigen und umfassenderen Ansatzes. Lohnerhöhungen sind leicht umsetzbar, Arbeitszeitänderungen erfordern hingegen organisatorische und personalpolitische Änderungen. Eine Arbeitszeitverkürzung, die anstatt einer Lohnerhöhung erfolgt, kann einen dämpfenden Effekt auf die Nachfrage haben, daher sollte es einen Lohnausgleich geben, der die Monatseinkommen stabilisiert. Langfristig wurde der Produktivitätszuwachs zu einem Teil in sinkenden Arbeitszeiten und zu einem Teil in Form höherer Realeinkommen realisiert. Daher haben die Menschen heute einen höheren Lebensstandard bei geringeren Arbeitszeiten als vor ein paar Jahrzehnten. Arbeitszeitverkürzungen können aber nicht nur daran gemessen werden, inwieweit sie bestehende Arbeit umverteilt. Arbeitzeitverkürzungen setzen in einer dynamischen Wirtschaft neue Standards. Jedes Jahr werden viele Beschäftigungsverhältnisse gelöst und neue eingegangen, es entstehen auch laufend neue Unternehmungen. Eine Arbeitszeitverkürzung bewirkt auch, dass die „neue Arbeit“ in neuen Beschäftigungsverhältnissen und neuen Unternehmungen anders verteilt wird. Und dass das notwendige Arbeitsvolumen auf mehr Menschen aufgeteilt wird als ohne Arbeitszeitverkürzung.

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8. N EUER ARBEITSZEITSTANDARD ODER MEHR W AHLMÖGLICHKEITEN ? – B EIDES ! Prioritäten und Lebensrealitäten ändern sich. Daher soll das Recht auf lebensphasengerechte Arbeitszeiten verankert werden, weil Arbeitszeitanforderungen und -wünsche in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich sind. Und diesen Unterschieden wird mit einer einzigen kürzeren Normalarbeitszeit nicht Rechnung getragen. Lebensphasengerechte Arbeitszeiten, auf die es einseitige Rechtsansprüche der ArbeitnehmerInnen gibt und Wahlrechte bezüglich der Arbeitszeiten wie die Freizeitoption können einen Beitrag leisten, die Arbeitszeitrealitäten zu ändern und neue Normen zu etablieren. Wenn es üblich wird, nach einer Teilzeitphase wieder in die Vollzeit zu wechseln und die klassische Trennung in weibliche Teilzeit und männliche Vollzeit zu überwinden, wäre das ein arbeitszeitpolitischer Meilenstein. Der würde auch andere innerbetriebliche Arbeitszeitkulturen etablieren. Es geht darum, die Verkürzungsperspektive mit einer Gestaltungsoffensive zu verknüpfen und Forderungen aufzustellen, die eine realistische Durchsetzungsperspektive haben.

9. F REIZEITOPTION

UND

V ERFÜGUNGSTAGE

Das 2013 im Kollektivvertrag für die Elektro- und Elektronikindustrie und in weiterer Folge im KV für Bergbau und Stahlindustrie sowie der Papier und Pappe erzeugenden Industrie eingesetzte Gestaltungsinstrument der „Freizeitoption“ stellt einen wichtigen Schritt in Richtung mehr Zeit-Autonomie für ArbeitnehmerInnen dar. Hier kann anstelle einer Ist-Lohn- bzw. Gehaltserhöhung im selben Ausmaß per individuellem Wahlrecht Freizeit erworben werden. Der Verbrauch der Freizeit kann als Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit, in ganzen Tagen als Verlängerung des Erholungsurlaubs oder Blockung der angesparten Freizeit bspw. vor dem Pensionsantritt genutzt werden. Es gibt dabei aber einige Hürden. Denn es reicht nicht die Verankerung im Kollektivvertrag und das Vorliegen einer Überzahlung. Als weitere Voraussetzung kommt die Einigung auf betrieblicher Ebene per Betriebsvereinbarung sowie logischerweise eine darauf basierende Einzelvereinbarung hinzu, da es sich um ein beidseitig freiwilliges Instrument handelt. Auf betrieblicher Ebene scheitern Freizeitoptionen meist an der Ablehnung der Unternehmen. Die Freizeitoption wird weniger zu einer Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit verwendet, mehr als die Hälfte der ArbeitnehmerInnen will zusätzliche freie Tage und ein Drittel spart an.

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Bei den generellen Arbeitszeitverkürzungen gab es einen Lohnausgleich, der verhindert hat, dass die Reduktion der Wochenarbeitszeit zu geringeren Monatseinkommen führte. Das ist wichtig, um Arbeitszeitverkürzungen aus ArbeitnehmerInnensicht erstrebenswert zu machen und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht zu dämpfen. Bei den Modellen mit individuellen Wahlmöglichkeiten wie der Freizeitoption gibt es keinen Lohnausgleich. Es wäre verteilungspolitisch seltsam, jemandem einen Lohnausgleich zu gewähren, der individuell durch freiwillige Entscheidung seine Stundenanzahl reduziert, während jemand, der von Anfang dieselbe geringere Stundenanzahl arbeitet, keinen Lohnausgleich bekommt.

10. F AMILIENARBEITSZEIT Ein spannendes Konzept aus Deutschland stellt die Familienarbeitszeit dar. Dieses wurde von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) vorgeschlagen und in der Folge von der SPD unterstützt. Ziel ist, dass Vater und Mutter nach der Geburt gemeinsam die Fürsorgearbeit übernehmen. Die Idee besteht darin, dass es ein Elterngeld Plus gibt, wenn beide Elternteile gleichzeitig Teilzeit arbeiten. Und im Anschluss an die Teilzeit soll es eine staatlich geförderte kurze Vollzeit für die Eltern mit kleinen Kindern geben, bei dem im Anschluss an die Elterngeldmonate beide ca. 32 Stunden arbeiten. Für einen Großteil der Paare würde dies für Mütter eine (deutliche) Ausdehnung, für Väter eine (moderate) Reduktion ihrer gegenwärtigen Arbeitszeit bedeuten (Müller/Neumann/Wrohlich 2015: 1095). Es hat sich gezeigt, dass es sich positiv auf die Frauenerwerbstätigkeit auswirkt, wenn auch der Vater in Elternkarenz geht. Frauen, deren Partner Elterngeld bezogen hat, sind dreimal so häufig nach einem Jahr zurück im Beruf und arbeiten anschließend doppelt so häufig in Vollzeit (Pfahl 2015).

11. D IGITALER W ANDEL UND ARBEITSZEITVERTEILUNG Die bevorstehenden technologischen Änderungen und das hohe Ausmaß an Arbeitslosigkeit machen es notwendig, bisherige Arbeitsstandards zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Das betrifft selbstverständlich auch die sogenannte Normalarbeitszeit. Sollten sich die Prognosen zu den starken Produktivitätssteigerungen in Folge der Digitalisierung bewahrheiten, dann führt an einer generellen Arbeitszeitverkürzung kein Weg vorbei. Die Vorstellung der VertreterInnen

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der Industrie, dass der technische Wandel bzw. Fortschritt unaufhaltsam voranschreiten und mit arbeitszeitpolitischem Rückschritt oder bestenfalls Stillstand einhergehen soll, ist in längerer Perspektive gedacht absurd. Warum soll technologischer Fortschritt nicht auch zu höherem Zeitwohlstand genutzt, sondern mit Arbeitszeiten von 12 Stunden am Tag oder 60 Stunden in der Woche kombiniert werden? Es ist schwierig bis unmöglich, valide Prognosen zu treffen, wie sich die Digitalisierung auf die Beschäftigtenzahlen am Arbeitsmarkt auswirkt. Es werden die verschiedenen Branchen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bei der Digitalisierung voranschreiten. Jene Branchen, in denen Produkte und Dienstleistungen großteils bereits per Internet vertrieben werden, sind auf einem hohen Digitalisierungslevel und werden daher zukünftig wenig weitere Fortschritte machen können (z.B. Verlagswesen, Musikindustrie). Andere Branchen sehen im Einsatz von digitaler Technik noch Entwicklungspotential (z.B. Finanzdienstleistungen, Pflegedienstleistungen, Energie- und Wasserversorgung sowie der Handel). Wieder andere sind zwar wenig digitalisiert im Sinne von Internet-Aktivitäten, jedoch hochtechnisiert durch einen hohen Robotikanteil in der Produktion (z.B. Baubranche, Autoindustrie). 2013 kamen zwei Forscher aus Oxford im Rahmen einer Studie zum Schluss, dass in den USA in den nächsten zwei Jahrzehnten fast die Hälfte der Arbeitsplätze durch Computerisierung bzw. Automatisierung gefährdet sein können (Frey/Osborne 2013). Es sind dabei besonders Berufe im Dienstleistungsbereich anfällig. Konkret haben sie errechnet und abgeschätzt, dass 47% der Beschäftigten in den USA in Berufen arbeiten, die in den nächsten 20 Jahren von Computern und Algorithmen übernommen werden könnten. Engpässe, die bislang verhindern, Berufe zu automatisieren werden zunehmend überwunden. Laut den Autoren Dr. Osborne und Dr. Frey helfen dabei technische Neuerungen und Big Data. 2015 legte das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim (ZEW) eine daran anknüpfende Studie für Deutschland vor (Bonin/Gregory/ Zierahn 2015). Das ZEW wählte die Herangehensweise von Osborne und Frey und versuchte die Automatisierungswahrscheinlichkeit von Berufen in Deutschland abzuschätzen. Demnach arbeiten derzeit 42% der Beschäftigten in Deutschland in Berufen mit einer hohen Automatisierungswahrscheinlichkeit. Allerdings weisen die Autoren zu Recht darauf hin, dass nicht ganze Berufe automatisiert werden, sondern nur bestimmte Tätigkeiten und sich in der Folge der Tätigkeitsinhalt eines Berufes ändert. Daher haben die Forscher in einem zweiten Schritt die Automatisierungswahrscheinlichkeiten anhand der Tätigkeitsstrukturen abgeschätzt. Das Ergebnis ist nun weit weniger dramatisch. Demnach weisen in

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den USA 9% der Arbeitsplätze Tätigkeitsprofile mit einer relativ hohen Automatisierungswahrscheinlichkeit auf. In Deutschland trifft dies auf 12% der Arbeitsplätze zu. Dies liege daran, dass auch Beschäftigte in als gefährdet eingestuften Berufen solche Tätigkeiten ausüben, die schwer automatisierbar sind. Dennoch fällt die Automatisierungswahrscheinlichkeit für Geringqualifizierte und GeringverdienerInnen relativ hoch aus. Klar ist also, dass sich die Tätigkeitsprofile der meisten Berufsgruppen ändern werden. Wenn Güter oder Leistungen durch Automatisierungen billiger werden, erhöht sich das Realeinkommen der Bevölkerung sodass andere Güter oder Leistungen erworben werden können, womit wiederum (neue) Beschäftigung geschaffen werden kann. Entscheidend ist deshalb, wo und wem die Einkommen aus der Produktion und deren Digitalisierung zugutekommen. Zusätzliche Beschäftigung wird nur entstehen, wenn die Einkommen bei jenen anfallen, die sie auch wieder ausgeben. Der US-Ökonom Krugman hält aber auch eine andere Entwicklung für möglich: „Es könnte sein, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern, die zwar immer reicher wird, in der alle Wohlstandsgewinne aber an diejenigen gehen, denen die Roboter gehören.“ sagt Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman – es sei denn, die Roboter würden allen gehören (Krugman 2014).

12. D IGITALISIERUNGSFOLGEN SIND KEIN S CHICKSAL Wichtig ist, dass die Antworten auf diese Fragen nicht technologisch, quasi schicksalhaft vorherbestimmt sind, sondern gesellschaftlich gestaltet werden. Die Einkommensverteilung ist nicht durch technische Faktoren vorbestimmt, sondern wird durch Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und gesellschaftliche Regelungen wie Mindest- und Kollektivvertragslöhne auf Basis der jeweiligen Machtverhältnisse umkämpft und ausgehandelt. Die rasante Veränderung der Arbeitswelt ist kein neues Phänomen, sondern begann schon mit der industriellen Revolution. Produktivitätssteigerungen konnten zu höherem Wohlstand genutzt werden. Anfangs brachte die Industrialisierung aber Verelendung, weil mehr Arbeit ersetzt als neue geschaffen wurde. Es muss eine Weitergaben von Produktivitätszuwächsen an die Beschäftigten geben, damit der Produktionssteigerung auch die entsprechende Nachfrage gegenübersteht. Wenn also Produktivitätsfortschritte in Form höherer Einkommen oder geringerer Arbeitszeiten weitergegeben werden, wird auch künftig Beschäftigung geschaffen werden. Klar ist auch: die technologische Änderung selbst zerstört derzeit mehr Arbeitsplätze als sie schafft. Nur wenn Realeinkommen

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steigen, kann woanders neue Arbeit geschaffen werden. Neue Beschäftigung muss daher auch in anderen Branchen geschaffen werden. Bedarfsfelder gibt es genug (z.B. Gesundheitswesen, Bildung, Pflege, etc.) „We had a good time.“

L ITERATURVERZEICHNIS BMASK (2015): „Teilzeitquote im EU-Vergleich“, EUROSTAT/lfsi_emp/ lfsi_emp_a (Abfrage vom 17.04.2015). Bonin, Holger/Gregory, Terry/Zierahn, Ulrich (2015): Kurzexpertise Nr. 57. Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013) auf Deutschland, Mannheim: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). GPA-djp (2015): Kompass faire Arbeitszeiten, Wien: GPA djp. Krugman, Paul (2014): „Neue Jobs für Roboter“, in: Die Zeit vom 18.2.2014. Online unter: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/02/roboter-robotik-arbeits markt vom 25.4.2016. Müller, Kai-Uwe/Neumann, Michael/Wrohlich, Katharina (2015): „Familienarbeitszeit: mehr Arbeitszeit für Mütter, mehr Familienzeit für Väter“, in DIW Wochenbericht Nr. 46. Osborne, Michael A./Frey, Carl Benedikt (2016): „The future of employment: how susceptible are jobs to computerization“, Online unter: http://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_ Employment.pdf vom 26.4.2016. Pfahl Svenja (2015): „Familienarbeitszeit mit 32 Wochenstunden: Mütter und Väter in Deutschland auf dem Weg zu partnerschaftlichen Arbeitszeiten“, Vortrag auf der Tagung: „40 Jahre 40-Stunden-Woche in Österreich. Und jetzt?“ Wien, 21.10.2015. Rechnungshof (2014): Bericht des Rechnungshofes über die durchschnittlichen Einkommen der gesamten Bevölkerung, Wien. Statistik Austria (2013): Volkszählung 1971 bis 2001, Registerzählung 2011. Statistik Austria (2014): Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung 2014, Übersicht E4 Statistik Austria 2016a: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_ und_gesellschaft/arbeitsmarkt/arbeitszeit/023272.html vom 26.4.2016. Statistik Austria 2016b http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_ und_gesellschaft/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote/062882. html

Autorinnen und Autoren

Dütsch, Matthias, Dr., Wissenschaftlicher Rat in der Geschäfts- und Informationsstelle für den Mindestlohn an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Berlin, Arbeitsgebiete: Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Organisationsforschung, Sozialstrukturanalyse Ehmer, Josef, emer. o. Univ.-Prof. Dr., emeritierter Professor für Wirtschaftsund Sozialgeschichte an der Universität Wien und Associate Fellow am International Reserach Center „Work and Human Lifecycle in Global History“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht zur Geschichte von Arbeit, Lebenslauf und Alter sowie von Migration und Bevölkerung in international vergleichender Perspektive. Flecker, Jörg, Univ.-Prof. Dr., Institut für Soziologie der Universität Wien und Obmann der Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt (FORBA) in Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Qualität von Arbeit und Beschäftigung, Digitalisierung und Arbeit, Arbeit in transnationalen Wertschöpfungsketten sowie sozio-ökonomischer Wandel und die extreme politische Rechte. Füllsack, Manfred, Univ.-Prof. Dr., Institut für Systemwissenschaften, Innovations- und Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Graz. Seine Arbeiten beschäftigen sich mit der Spiel- und Netzwerktheorie, Kybernetik, der Simulation komplexer Systeme, insbesondere Multi-Agenten-Simulation, künstlicher Intelligenz sowie der Soziologie und Ökonomie der Arbeit.

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Griesbacher, Martin, MA., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und Centrum für Sozialforschung an der Universität Graz. Forschungsgebiete: Arbeitszeitforschung, Zeitsoziologie (empirische Sozialforschung und soziologische Theorie), digitale Editionstechniken, sozialwissenschaftliche Methodenforschung, Virtualisierung der Gesellschaft, Cyber Security und Cybercrime. Heimgartner, Arno, Univ.-Prof. Mag Dr., ist Professor für Sozialpädagogik an der Universität Graz. Er leitet das Masterstudium für Sozialpädagogik. Seine empirischen Forschungsstudien beziehen sich auf sozialpädagogische Leistungen (u.a. Kinder- und Jugendarbeit, Schulsozialarbeit, Kinder- und Jugendhilfe) und den Beiträgen und Bedeutungen des freiwilligen Engagements. Löschnigg, Günther, Univ.-Prof. MMag. DDr., Leiter des Instituts für Arbeitsund Sozialrecht der Karl-Franzens-Universität Graz und Universitätsprofessor (Teilzeit) am Institut für Universitätsrecht der Johannes-Kepler-Universität Linz; Vorsitzender des Betriebsausschusses der Universität Graz; Präsident der Grazer Juristischen Gesellschaft. Mandl, Irene, ist Leiterin des Forschungsbereichs „Beschäftigung“ der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) und beschäftigt sich mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung zu Arbeitsmarkt und UnternehmerInnentum. Ihre Forschungsthemen umfassen u. a. Digitalisierung, neue Beschäftigungsformen in Europa, spezifische Formen des UnternehmerInnentums (z. B. kleine und mittlere Unternehmen, Ein-Personen-Unternehmen, Familienunternehmen, Unternehmensneugründungen und Unternehmensübergaben), Restrukturierung, Internationalisierung und Personalmanagement. Mosing, Florian, Mag. Dr., Referent im Institut für Wirtschaft- und Standortentwicklung der Wirtschaftskammer Steiermark sowie Universitäts- und Fachhochschullektor. Arbeitsgebiete: Arbeits-, Sozial- und Gewerberecht. Muckenhuber, Johanna, Univ.-Prof. Dr., ist Professorin für international vergleichende Sozialforschung am Institut für Soziologie der Universität Graz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind qualitative und quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung, Mixed Methods, Gesundheitssoziologie und Arbeitssoziologie.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Müller-Riedlhuber, Heidemarie, Mag.a, MAS, Gründerin und Senior Consultant von WIAB. Arbeitsgebiete: Consulting und Forschung zu Arbeitsmarkt und Berufsbildung; insbesondere: Lebenslanges Lernen und Arbeitsmarktintegration Älterer, Alter(n)sgerechtes Arbeiten, Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen, Kompetenzanerkennung gering qualifizierter Personen, Grundkompetenzen in BMHS und der Lehrlingsausbildung, Entwicklung, Wartung und Übersetzung von Kompetenz- und Berufstaxonomien. Mum, David, Dr., ist Ökonom und leitet seit 2007 die Grundlagenabteilung der Gewerkschaft der Privatangestellten/DJP. Arbeitsschwerpunkte sind Soziale Sicherungssysteme, Kapitaldeckung und Risikoprivatisierung, Arbeitszeiten, Steuer-, Verteilungs- und Wirtschaftspolitik. Prisching, Manfred, pens. Universitätsprofessor am Institut für Soziologie der Universität Graz. Arbeitsgebiete: Ideengeschichte und soziologische Theorie, Wirtschaftssoziologie, Soziologie der Politik, Zeitdiagnose. Reiter, Daniel, B.A.(Econ.) M.A. (Econ.), arbeitet als Universitätsassistent und Dozent für angewandte Wirtschaftspolitik am Institut für Finanzwissenschaft und öffentliche Wirtschaft der Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Institutionenökonomik, Arbeitsmarktökonomik, Philosophie und Ökonomie, Familienökonomie, sowie in der ökonomischen Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung. Schindler, Saskja, Dr.in, ist Projektmitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Wien im FWF-Projekt „Solidarität in Zeiten der Krise (SCORIS)“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Arbeitssoziologie, Politische Soziologie und Soziale Ungleichheit. Struck, Olaf, Prof. Dr., Professor für Arbeitswissenschaft an der Universität Bamberg, Arbeitsgebiete: Arbeitsmarkt-, Bildungs, Organisations-, Wirtschaftsund Sozialstrukturorschung. Stoppacher, Peter, Dr., Mitbegründer und Mitarbeiter des Instituts für Arbeitsmarktbetreuung und -arbeitsmarktforschung in Graz. Hauptarbeitsgebiete: Armutsforschung, Arbeitsmarktpolitik, Berufliche Qualifikation, Erwachsenenbildung, Basisbildung; Stadt- und Stadtteilforschung; Regionalentwicklung; Migrations- und Inklusionspolitik; Gesundheitsförderung etc., daneben ehrenamtlicher Bewährungshelfer (seit 1990).

356 | NORMALARBEIT

Sturn, Richard, Univ.-Prof. Dr., Joseph A. Schumpeter Professor für Innovation, Entwicklung und Wachstum, Leiter des Graz Schumpeter Centres sowie des Instituts für Finanzwissenschaft und Öffentliche Wirtschaft der Universität Graz. Forschungsinteressen: Ökonomie der Normen und Rechte, Ökonomie und Philosophie, Ideengeschichte, Familienökonomie, Steuer. Vana, Irina, Dr.in, ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für soziale Innovation (ZSI) im Bereich Arbeit und Chancengleichheit tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Arbeitssoziologie, Arbeitsbeziehungen, soziale Ungleichheit und Integration, Prekarität, Geschichte der Arbeit und Nicht-Arbeit, Arbeitslosigkeit, angewandte- Armuts- und Sozialberichterstattung. Verhounig, Ewald, Mag. Dr., Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Standortentwicklung der Wirtschaftskammer Steiermark und Mitglied des Landesdirektoriums des AMS Steiermark. Arbeitsgebiete: Wirtschafts-, Regional- und Energiepolitik, Planungskoordination, Arbeitsmarkt Wagner, Rudolf, arbeitet bei der österreichischen Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier. Er ist Verhandlungsleiter auf ArbeitnehmerInnenseite bei den Kollektivvertragsverhandlungen der Metallindustrie. Warter, Johannes, Dr., stv. Programmleiter zum Datenschutz bei der Porsche Holding. Arbeitsgebiete: Arbeitsrecht und Datenschutz. Weiss, Silvana, Mag. Dr., ist Universitätsassistentin am Institut für Personalpolitik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Zuvor war sie unter anderem an der ETH Zürich sowie an der Copenhagen Business School beschäftigt. Arbeitsgebiete (zwischen Personal- und Arbeitsmarktpolitik, Psychologie und Soziologie): Wissenschaftskarrieren mit Blick auf das Verhältnis und die Grenzziehung zwischen Berufs- und Privatleben, Arbeitsmarktintegration von MigrantInnen und geschlechterbezogene Fragestellungen. Woller, Cornelia, B.A.(Econ.) M.A.(Econ.), ist Ökonomin und war Studienassistentin am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Graz. Sie absolvierte ihr Masterstudium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Graz zum Thema „Secular Stagnation in a European Context“.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Ziegler, Petra, Mag.a Dr.in, Gründerin und Senior Researcher am Wiener Institut für Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung (WIAB). Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsmarkt- und Berufsbildungsforschung; insbesondere: Grundkompetenzen, gering Qualifizierte und Anerkennung von non-formalem und informellen Lernen.

Soziologie Heidrun Friese

Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden Zur politischen Imagination des Fremden August 2017, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3263-7 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3263-1 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3263-7

Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Silke van Dyk

Soziologie des Alters 2015, 192 S., kart. 13,99 € (DE), 978-3-8376-1632-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1632-7

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics November 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kerstin Jürgens, Reiner Hoffmann, Christina Schildmann

Arbeit transformieren!

Denkanstöße der Kommission »Arbeit der Zukunft« Juni 2017, 256 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-4052-6 Open Access

Die Arbeitswelt wird sich in den kommenden Jahrzehnten fundamental verändern. Welche Kräfte wirken auf dem Arbeitsmarkt? Mit welchen Veränderungen ist zu rechnen? Und was bedeutet dies für die arbeitsmarktpolitischen Akteure? Dieser Abschlussbericht der Kommission »Arbeit der Zukunft« – mit Mitgliedern aus Wissenschaft und Praxis, Wirtschaft und Gewerkschaften – liefert eine Diagnose der aktuellen Lage und gibt einen Ausblick auf die Zukunft der Arbeit. Vor allem aber liefert die Kommission Denkanstöße dafür, wie die Gesellschaft den rasanten Wandel so meistern kann, dass Arbeit in der digitalen Ökonomie soziale Teilhabe und mehr als die bloße Existenzsicherung garantiert.

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