Beseelte Dinge: Design aus Perspektive des Animismus 9783839435588

The product world that surrounds us is increasingly anthropomorphic, designed to react and make decisions, and provokes

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German Pages 168 Year 2016

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Beseelte Dinge: Design aus Perspektive des Animismus
 9783839435588

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus. Zur Einführung
Agency, Performativität und Magie der Dinge
Der Aufstand der Dinge
Design zwischen Anthropomorphismus und Animismus. Mimesis als relationale Designpraxis
Immanente Relationen. Von der Handlungsmacht der Dinge zur nicht-repräsentionalistischen
Acting Things. Oder kann die Gestaltungsdisziplin von den performativen Künsten lernen?
Beseelte Gegenstände oder intentionale Systeme? Ein Beitrag zur Handlungsfähigkeit der Dinge
Autopsie der Dinge. Dokumentation eines Workshops
Autorinnen und Autoren

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Judith Dörrenbächer, Kerstin Plüm (Hg.) Beseelte Dinge

Design | Band 35

Judith Dörrenbächer, Kerstin Plüm (Hg.)

Beseelte Dinge Design aus Perspektive des Animismus

Die Publikation wurde gefördert durch die Hochschule Niederrhein, Fachbereich Design.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagabbildung: © John McTaggart, Köln 2013. Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3558-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3558-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort Kerstin Plüm | 7

Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus Zur Einführung Judith Dörrenbächer | 9

Agency, Performativität und Magie der Dinge Hartmut Böhme | 25

Der Aufstand der Dinge Andreas Muxel | 51

Design zwischen Anthropomorphismus und Animismus Mimesis als relationale Designpraxis Judith Dörrenbächer | 71

Immanente Relationen Von der Handlungsmacht der Dinge zur nicht-repräsentionalistischen Kunst und relationalem Design Susanne Witzgall | 97

Acting Things Oder kann die Gestaltungsdisziplin von den per formativen Künsten lernen? Judith Seng | 119

Beseelte Gegenstände oder intentionale Systeme? Ein Beitrag zur Handlungsfähigkeit der Dinge Georg Kneer | 135

Autopsie der Dinge Dokumentation eines Workshops Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer | 153

Autorinnen und Autoren  | 163

Vorwort Kerstin Plüm »O, das Objekt lauert. [...] Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, so lang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke.«, so beschreibt 1897 Friedrich Theodor Vischer seine Wahrnehmung beseelter Dinge. Gegenstände werden hier nicht nur in ihrer wörtlich widerständigen Art perzipiert, sondern ihnen werden bewusste Absichten unterstellt. Durch die Überschreitung der Grenze vom Objekt zum Subjekt kommt es zu einer ungewöhnlichen Nähe und einer ambivalenten Beziehung zwischen Dingen und Menschen. Über hundert Jahre später wird weiterhin über die kategorische Trennung zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt und über das gestalterische Potenzial der Materie nachgedacht. Die vorliegende Publikation dokumentiert das Symposium »Beseelte Dinge – Design aus Perspektive des Animismus«, das 2015 am Fachbereich Design an der Hochschule Niederrhein stattfand. Ausgehend von der Fragestellung des Promotionsvorhabens von Judith Dörrenbächer, das sie an der HS Niederrhein in Kooperation mit der Folkwang Universität der Künste Essen verfolgt, wurden interdisziplinäre Positionen vorgestellt: Herzlichen Dank an Hartmut Böhme, Andreas Muxel, Susanne Witzgall, Judith Seng und Georg Kneer für ihre Beiträge und intensiven Diskussionen. Mein Dank gilt dem Fachbereich Design der Hochschule Niederrhein, Kirsten Heinen für die Unterstützung des Lektorats und insbesondere Judith Dörrenbächer für die Konzeption, Organisation und Durchführung des Symposiums und für die engagierte und professionelle Realisierung der Publikation.

Beseelte Dinge. Design aus Perspektive des Animismus Zur Einführung Judith Dörrenbächer

Das Phänomen ›Beseelter Dinge‹ scheint auf den ersten Blick paradox. So gilt die Seele als Metapher für das Leben. Dinge dagegen sind leblos. Je nach Diskurs und Kontext wird die Seele nicht nur mit Lebendigkeit in Verbindung gebracht, sondern verweist außerdem auf Psychisches, Geistiges oder Magisches. Unabhängig des großen Deutungsspielraumes haftet der Seele grundsätzlich etwas Unsichtbares, Unbegreif bares und Übernatürliches an. Sie entzieht sich dem identifizierenden Zugriff der modernen Wissenschaft und ist mit rationalen Mitteln nicht zu fassen. Dinge hingegen gelten dem wissenschaftlichen Verständnis nach als anschaulich, handfest und untersuchbar. Das Paradox beseelter Dinge erfuhr gerade zu einer Zeit besonderes Interesse, als die moderne aufgeklärte und wissenschaftliche Haltung in der westlichen Welt zu dominieren begann. So beschäftigten sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert Wissenschaftler der Ethnologie, Anthropologie und Psychologie erstmalig mit einem Phänomen, dass sie Animismus nannten.1 Gemeint war die Vorstellung einer beseelten Dingwelt 1 | Der Begriff Animismus geht auf Edward B. Tylor zurück, der ihn 1871 in seinem Werk »Primitive Culture« einführte. Vgl. Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Band I+II, Hildesheim: Olms 2005 (zuerst 1871). In der Psychologie wurde der Animismus unter anderem von Sigmund Freud und später von Jean Piaget thematisiert. Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Hamburg: Fischer

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oder ein beseelendes Verhalten unbelebter Phänomene. Zugeschrieben wurde Animismus Kindern, sogenannten ›primitiven Völkern‹ und geistig nicht zurechnungsfähigen Menschen. Auch heute noch gilt es als unreif, naiv, esoterisch oder gar krankhaft, Unbelebtes als beseelt zu erachten. Der unscharfe Begriff der Seele wird schnell als unwissenschaftlich abgetan. Wenn er fern der Wissenschaften verwendet wird, ist er meist nur dem Menschen vorbehalten. Aber insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen technologischen Entwicklung fällt auf, dass den Dingen doch etwas Unsichtbares aber Aktives – etwas Seelenähnliches – inne wohnt. Physisch und mental fassen und begreifen wir technologische Dinge immer seltener. Sie werden durch Miniaturisierung und Komplexität ähnlich unfassbar, wie uns die substanzlose Seele erscheint.2 Die schwindende Begreif barkeit schafft ganz neue Beziehungen, die wir mit den Dingen eingehen. Während wir ihre Oberflächen streicheln, betippen und wischen, entsteht eine neue eigenartige Nähe. Eine direkte Korrelation zwischen Nutzeraktion und Systemreaktion etwa, beispielsweise bei Smartphones und Tablets, schafft ein vermeintliches Verschmelzungsmoment zwischen Mensch und Ding. Es entsteht ein Zustand, der an das sogenannte magische Denken erinnert, das Jean Piaget bei kleinen Kindern identifizierte, die nicht zwischen dem inneren Selbst und der äußeren Welt unterscheiden können.3 Wenn Nutzer sich darüber hinaus über Gesten aus der Ferne mit Dingen in Verbindung setzen, schwindet die körperlich erfahrbare Wider- und Gegenüberständigkeit der Dinge gänzlich und wandelt sich 1940 (zuerst 1913); Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 2015 (zuerst 1926). 2 | Dass materielle Körper schrumpfen und kaum mehr Auskunft über ihr Innenleben geben, zeichnete sich schon im 20. Jh. ab. Vilém Flusser etwa thematisierte in den 1990er Jahren die Miniaturisierung und Zunahme sogenannter »Undinge«, die den Nutzern »unbegreiflich« seien und in denen sie selbst »handlos« würden. Vgl. Flusser, Vilém: Dinge und Undinge, Phänomenologische Skizzen, München: Carl Hanser 1993. Gert Selle stellt bezüglich der Miniaturisierung für die Designforschung fest: »Wir sind gewohnt, das Gestaltete ansehen und anfassen zu können, um es zu untersuchen. Mit fortschreitender Digitalisierung funktioniert unser ›Begreifen‹ nicht mehr und beginnt das Unbegriffene uns zu irritieren.« Vgl. Selle, Gert: »Design from the Cloud«, in: form 261 (2015), S. 86. 3 | Vgl. J. Piaget: Weltbild des Kindes, S. 255-256.

Zur Einführung

zu einer vermeintlich magischen Beziehung. Bei Interaktion, die rein auf der Anwesenheit des ›Nutzers‹, also unbewusst und über Sensorik funktioniert, wird immer undeutlicher, wo das Eigene aufhört und das Fremde beginnt und wer/was hier wen/was lenkt und steuert.4 Die zunehmende Lern- und Entscheidungsfähigkeit von technologischen Artefakten irritiert auf einer weiteren Ebene die Grenzen zwischen beseeltem Menschen und unbeseeltem Ding. Kühlschränke, die Einkäufe organisieren, Krankenbetten, die über medizinische Maßnahmen entscheiden und Autos, die Reiseziele antizipieren und eigenständig ansteuern, erinnern nicht nur an Science Fiction, sondern erzeugen außerdem Verhaltensweisen, die wir längst überwunden zu haben glaubten: eine beseelende Umgangsweise mit den Dingen. Es wird nicht mehr nur über Telefone kommuniziert, sondern direkt mit ihnen. Nutzer treten mit Dingen in einen Dialog und gehen emotionale Beziehungen mit ihnen ein.5 Nicht nur die einzelnen technologischen Dinge, sondern auch die gegenwärtigen technoökologischen Infrastrukturen irritieren die alte Vorstellung einer passiven Dingwelt.6 Durch die zunehmende Vernetzung von Artefakten im sogenannten Internet der Dinge entstehen technologische Umwelten, die nur relational und nicht von Endgeräten aus begriffen werden können. Das Internet der Dinge ist durch Emergenz, Interdependenz und untereinander kommunizierende Artefakte bestimmt.7 Damit erinnert es an das seit der Antike bestehende Konzept einer Weltseele. 4  |  Vgl. Kaerlein, Timo: »Die Welt als Interface. Über gestenbasierte Interaktionen mit vernetzten Objekten«, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 137-159. 5 | Das Phänomen emotionaler Verbundenheit mit einer künstlichen Intelligenz trieb der Regisseur Spike Jonze in dem Film »Her« auf die Spitze. Hier verliebt sich der Protagonist Theodore Twombly in ein anthropomorphes Betriebssystem. 6 | Die Kombination von Vernetzung und Neuverteilung von Rechenkraft veranlasste den Medienwissenschaftler Erich Hörl dazu, die gegenwärtige Sinnkultur als eine allgemein-ökologische zu beschreiben. Vgl. Hörl, Erich: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. S.32. 7 | Zum Internet der Dinge vgl. Sprenger, Florian/Engemann, Christoph (Hg): Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt. Bielefeld: transcript 2015.

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Gemeint ist die Vorstellung eines beseelten Kosmos, in dem alles mit allem verbunden ist.8 Und tatsächlich scheinen im Internet der Dinge die Dinge – ähnlich wie Bestandteile eines lebendigen, zusammenhängenden Organismus – eigenaktiv und unabhängig vom Menschen zu existieren. Durch diesen Wandel der Dingwelt und die scheinbare Grenzverwischung zwischen beseelt und unbeseelt, entstehen zahlreiche neue ethische, politische und selbstverständlich auch gestalterische Herausforderungen. Von der Angst vor einem Kontrollverlust über die Dinge, über die Sorge der Aufgabe menschlicher Subjektivität, bis hin zu der Frage, ob Artefakte rechtlich-moralisch verantwortet werden können9 – es bestehen Unklarheiten über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Artefakt und Grenzziehungen bedürfen neuer Diskussion. Vor dem Hintergrund dieser anskizzierten technologischen Entwicklungen, aber womöglich auch bedingt durch globale sozioökologische Komplexitäten, wird seit einigen Jahren in den Geistes- und Kulturwissenschaften der Versuch nicht-anthropozentrischen Denkens populär. Theorien wie die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die Objektorientierte Ontologie (OOO) oder der Agentielle Realismus stellen in diesem Zusammenhang prominente und kontrovers diskutierte Ansätze dar. Sie schlagen Konzepte vor, die ohne die moderne Vorstellung eines autonomen Menschen auszukommen versuchen. In diesem Zusammenhang erfährt auch der Animismus erneute Aufmerksamkeit. In der Anthropologie und Ethnologie etwa kommen seit den späten 1980er Jahren neue Studien auf.10 Diese verhandeln unter der 8 | Vgl. Zachhuber, Johannes: »Weltseele«, in: Joachim Ritter/Karflried Gründer/ Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12, Basel: Schwabe 2004, S. 516-521. 9  |  So wird sogar aus juristischer Perspektive diskutiert, inwiefern Maschinen als verantwortungsfähig erachtet werden können. Vgl. Matthias, Andreas: Automaten als Träger von Rechten, Berlin: Logos 2010. 10 | Philippe Descola gilt als einer der ersten, der den Animismus neu und nicht denunzierend betrachtete. Vgl. Descola, Philippe: »Societies of nature and the nature of society«, in: Adam Kuper (Hg.), Conceptualizing Society, London/ NY: Routledge 1991, S. 107-126. Auf seine Revision folgten zahlreiche weitere anthropologische Untersuchungen. Vgl. u.a. Bird-David, Nurit: »›Animismus‹

Zur Einführung

Bezeichnung Neuer Animismus amoderne Weltbilder, die nicht auf der kategorischen Objekt-Subjekt-Trennung basieren. Der Animismus wird hier nicht mehr als Abjekt zur Abgrenzung von Anderen oder als Irrglaube verstanden, sondern als andersartige Ontologie, die auf lernbaren Praktiken basiert. Praktiken oder Aktionsformen indigener Völker, die die Theoriker des Neuen Animismus identifizieren, dienen der Verhandlung von Relationen und Grenzen in einer Welt, die potenziell aus unzähligen unterschiedlichen Subjekten besteht. Die Studien des Neuen Animismus nehmen den Animismus insofern ernst, als sie einen gleichberechtigten Dialog zwischen westlichen und indigenen Ontologien anstreben. Der Animismus wird aber nicht im Sinne des Kulturrelativismus einfach nur akzeptiert, sondern als ein provokant anderer Ansatz erachtet, der unser (post)modernes Denken tatsächlich wandeln kann.11 Dabei werden die Weltbilder anderer Kulturen allerdings auch nicht als richtig glorifiziert. Es geht nicht darum, den Animismus in irgendeiner Form wieder einzuführen. Dies ist aus Perspektive des Neuen Animismus sowieso unmöglich, da Animismus in jeder Gesellschaft existiert und nie nicht existierte und grundsätzlich nicht nicht existieren kann. Anselm Franke, der vor wenigen Jahren mittels einer prominenten Ausstellungsserie den Animismus aus kunstwissenschaftlicher Perspektive beleuchtete,12 revisited: Personenkonzept, Umwelt und relationale Epistemologie«, in: Albers/ Franke, Animismus. Revisionen der Moderne (2012), S. 19-52; Hornborg, Alf: »Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis«, in: Albers/Franke, Animismus. Revisionen der Moderne (2012), S. 55-64; Ingold, Tim: The perception of the environment. Essays on Livelihood, Dwelling & Skill, London/NY: Routledge 2000; Viveiros de Castro, Eduardo: »Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien«, in: Albers/Franke, Animismus. Revisionen der Moderne (2012), S. 73-93; Willerslev, Rane: Soul Hunters. Hunting, Animism, and Personhood among the Siberian Yukaghirs, Berkeley: University of California Press 2007. 11 | Vgl. R. Willerslev: Soul Hunters, S. 183-184. 12 | Frankes mehrteilige Ausstellungsprojekt zum Animismus wurde u.a. in Antwerpen (2010), Bern (2010), Wien (2011-2012) und Berlin (2012) gezeigt und von mehreren Publikationen begleitet. Vgl. Franke, Anselm: Animism. Volume I., Berlin: Sternberg Press 2010; Folie, Sabine/Franke, Anselm (Hg.): Animismus. Moderne hinter den Spiegeln, Köln: Walther König 2011. Albers, Irene/Franke, Anselm (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012.

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stellt in diesem Zusammenhang fest: »Es gibt keine animistischen und nicht-animistischen Gesellschaften, und es kann sie auch nicht geben. Es gibt nur verschiedene Arten der Organisation von Differenzen und des Umgangs mit Grenzen, die wiederum verschiede Arten der Kanalisierung des Animismus und des Umgangs mit dem Ausgeschlossenen und nicht Äußerungsberechtigten nach sich ziehen.«13 Der Begriff Animismus wird und wurde nicht nur in der Anthropologie neu thematisiert, sondern findet gegenwärtig auch in der Wissenschaftsphilosophie und der Feminismusdebatte verstärkte Aufmerksamkeit. In den Medienwissenschaften wird Animismus schon seit einigen Jahren als Phantasma und Phänomen technologischer Umwelten untersucht.14 Hier wird erörtert, inwiefern gegenwärtig eine Art »TechnoAnimismus« Einzug hält.15 Verwandt mit der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung, finden Theorien zum Animismus auch in den Designwissenschaften und in der Designforschung erste Beachtung – schließlich ist das Design zunehmend mit der Konzeption und Gestaltung der schon erwähnten quasi-beseelten Dinge und Umwelten kon13 | Franke, Anselm: »Jenseits der Wiederkehr des Verdrängten«, in: Folie/Franke, Animismus. Moderne hinter den Spiegeln (2011), S. 26. 14 | Zur mediengeschichtlichen Perspektive vgl. Hörl, Erich: Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation, Zürich/Berlin: diaphanes 2005. Für eine Auseinandersetzung mit Magie, Übernatürlichem und Okkultismus im Zusammenhang mit Technologie vgl. Gell, Alfred: »The Technology of Enchatment and the Enchatment of Technology«, in: Jeremy Coote/Anthony Sehlton (Hg.), Antropology, Art, and Aesthetics, Oxford: Univ. Press 1992, S. 40-63; Thacker, Eugene: »Vermittlung und Antivermittlung«, in: Erich Hörl (Hg), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 306-332. Für eine Auseinandersetzung mit der Agency von Medien und einer Verknüpfung von Ethnologie und Medienwissenschaften vgl. auch Schüttpelz, Erhard/Thielmann, Tristan (Hg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld: transcript 2013. Im Zusammenhang des Aufkommens von RFID spricht außerdem Hayles über »animistic environments«. Vgl. Hayles, Katherine: »RFID: Human Agency and Meaning in Information-Intensive Environments«, in: Jörgen Schäfer/Peter Gendolla (Hg.), Beyond the Screen, Bielefeld: transcript 2010, S. 98. 15 | Der Begriff »Techno-Animismus« wurde von dem Kulturkritiker Erik Davis geprägt. Vgl. Davis, Erik: TechGnosis. Myth, Magic, and Mysticism in the Age of Information, Berkeley: North Atlantic Books 2015 (zuerst 1994).

Zur Einführung

frontiert. Designwissenschaftler identifizieren ein partnerschaftliches, beseelendes Nutzerverhalten gegenüber technologischen Artefakten.16 Außerdem beschäftigen sich Designforscher mit Animismus im Sinne von Animiertheit. Ziel dieser Auseinandersetzung ist die Analyse und Entwicklung interaktiver, quasi-intelligenter, technologischer Artefakte. Es wird beispielsweise erforscht, wie sich Technologie gestalterisch animieren lässt, um damit intuitive Interaktionen zu optimieren.17 Darüber hinaus bestehen designtheoretische Ansätze, die sich im Sinne des anthropologischen Neuen Animismus mit Relationalität, Verwobenheit, Eigendynamik materieller Phänomene und Beseelung durch Handlung beschäftigen.18 Hier sind nicht die technologischen Dinge ›an sich‹ 16 | Die Designausstellung »Talk to Me« (MoMA), kuratiert von Paola Antonelli, zeigt aus gestalterischer Perspektive Dinge, die mit Nutzern und anderen Dingen sprechen, schreiben, Entscheidungen fällen und damit lebendig erscheinen. Vgl. Antonelli, Paola (Hg.): Talk to me. Design and Communication between People and Objects, New York: Museum of Modern Art 2011. Brenda Laurel beschäftigt sich mit Pervasive Computing und Animismus und versteht »Designed Animism« als Möglichkeit menschliche Unverbundenheit mit der Welt zu überwinden. Laurel, Brenda: »Designed Animism«, in: Thomas Binder/Jonas Löwgren/Lone Malmborg (Hg.), (Re)searching the digital Bauhaus, London: Springer 2009, S. 252-274. 17 | Animismus wird in diesem Fall meist als Metapher oder Projektion verstanden, was an alte Animismustheorien des 19. Jh. erinnert und von den Positionen des Neuen Animismus deutlich abgelehnt wird. So wird etwa beschrieben, wie Dinge aufgrund ihrer rational nicht erfassbaren Komplexität fälschlicherweise beseelt würden und Technologie somit wirke, ›als ob‹ sie beseelt sei. Vgl. u.a. Kuniavsky, Mike: »Animist User Expectations in a Ubicomp World. A position paper for ›Lost in Ambient Intelligence‹«, 2007; Allen, Philip van/Mcveigh-Schultz, Joshua: »AniThings: Animism and Heterogeneous Multiplicity«, in: CHI 13 Conference on Human Factors in Computing Systems Paris, France, April 27 - May 02, New York: ACM 2013, S. 2247-2256. 18 | Betti Marenko macht anthropologische Theorien für die Designwissenschaft und zur Beschreibung von Interaction Design fruchtbar. Sie zeigt auf, dass Beseeltheit nicht etwas ist, was Dinge haben, sondern in der Interaktion entsteht. Vgl. Marenko, Betti: »Neo-Animism and Design. A New Pradigm in Object Theory«, in: Design and Culture 6 (2014), S. 219-241. Zur gestalterischen Perspektive auf die gegenwärtige Neubewertung von Materialität als eigendynamischer Akteur vgl. Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin (Hg.): Macht des Materials/Politik der

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Fokus der Überlegung, sondern komplexe Gefüge ganz unterschiedlicher, auch analoger Entitäten. Diese Ansätze bauen auf der Überlegung auf, dass die Technologisierung der Dingwelt offensichtlich macht, was auch bei nicht-technologisierten Dingen gilt: Wir hantieren nicht mit passivem Werkzeug. Von allen Dingen geht auch eine formative Macht aus. Dinge bestimmen Haltungen, Vorstellungen, Gebrauchsweisen oder Gewohnheiten. Sie tun etwas, während man etwas mit ihnen tut, auch wenn wir als Gestalter ihnen ihre Aktivität selten zugestehen. In jenen designerischen und designtheoretischen Ansätzen, die auch in diesem Band dominieren, werden Kontroversen über Handlungsfähigkeit und Agency von Dingen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften aufgegriffen, designwissenschaftlich thematisiert und etwa durch die Gestaltung von Szenarien, Handlungsfeldern und offenen Experimenten zur Diskussion gestellt. Der vorliegende Sammelband »Beseelte Dinge – Design aus Perspektive des Animismus« ist Ergebnis der gleichnamigen Tagung, die am 10.07.2015 am Fachbereich Design der Hochschule Niederrhein in Krefeld stattfand. Selbstverständlich verfolgt die Publikation nicht das Ziel einer Einführung und erhebt ebenso wenig den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Theorien des Animismus, Neuen Animismus oder Techno-Animismus zu geben. Wie die Überlegungen der Autoren zeigen, schafft der Begriff der Beseeltheit hingegen eine produktive Unschärfe. Die heterogenen Beiträge bilden die Vielfalt der Untersuchungsund Ansatzmöglichkeiten zum Phänomen der Beseeltheit für das Design ab und sind als Forschungseinblicke in Theorie und Praxis zu verstehen. Hartmut Böhme macht aus kulturwissenschaftlicher Perspektive deutlich, dass der Animismus kein Phänomen ist, das man in fremden Kulturen erforschen müsste. Seine literarischen Beispiele und Alltagsbeobachtungen zeigen: Beseelte und magische Dinge sind Teil der westlichen Kultur. Böhme thematisiert Dinge, die sich entziehen, Widerstand Materialität, Zürich/Berlin: diaphanes 2014. Eine direkte Verknüpfung zwischen Neuem Animismus und gestalterischem Schaffen, stellt außerdem der Anthropologe Tim Ingold her, indem er Erkenntnisse aus seiner ethnografischen Feldforschung für die Design- und Kunstwissenschaften fruchtbar macht. Vgl. Ingold, Tim: Making. Anthropology, archaeology, art and architecture, Oxford: Routledge 2013.

Zur Einführung

leisten, ihre Nutzer demütigen oder sich selbstständig machen. In den von ihm vorgestellten Gedankenspielen wird die menschliche Abhängigkeit und Bedingung von Dingen offensichtlich. Böhme interessiert darüber hinaus insbesondere das Magische der Dinge. In diesem Zusammenhang kommt er auch auf die Ware und den Fetisch als »magische Attraktoren« zu sprechen. Paradoxerweise seien Konsumenten heute »desillusioniert und illusioniert zugleich«. Sie hätten den Schein der Ware längst enthüllt und seien ihm doch verfallen. Böhme verweist hier nicht nur explizit auf die Rolle von Designern als Konstrukteure des Magischen, sondern auch auf die beseelende Kraft von Handlungen, er nennt diese im Fall der Ware »consuming acts«. Die Magie der Dinge, so eine Hauptthese Böhmes, muss durch Aktionen immer wieder erhalten und erneuert werden. Sie ist ein konstruierter »kultureller Mechanismus« und doch keine reine Illusion. Den Medienkünstler und Professor für Interaction Design Andreas Muxel interessiert das materielle Eigenleben der Dinge und dessen Bedeutung für den Gestaltungsprozess in einer digital-analogen Welt. Sein Beitrag basiert insbesondere auf der Auseinandersetzung mit gestalterischen Arbeiten, die er mit seinen Studierenden entwickelte. Mit ihnen untersuchte er etwa, wie sich Kommunikationsformen zwischen Mensch und Maschine neu gestalten lassen. Dabei interessierte die Frage, wie Inhalte, die für den Nutzer gar nicht oder nur rational verständlich sind – etwa die binäre Logik digitaler Informationen – physisch und emotional erfahrbar werden können. In den studentischen Arbeiten werden nicht nur immaterielle Prozesse materiell, sondern erscheinen Artefakte außerdem lebendig und beseelt. Doch Muxel nimmt Abstand von der Idee, dass Designer Dingen auf autoritäre Weise Leben einhauchen könnten. Immer wieder drehen sich seine Überlegungen um Fragen nach Kontrolle und Kontrollverlust. Ist das Programmieren von Dingen eine Form anthropozentrischer Machtausübung? Doch gerade weil gegenwärtig nicht mehr nur Maschinen, sondern bereits Materialien selbst programmierbar sind, sei eine Berücksichtigung der immanenten Eigenschaften des Materials fundamental, so Muxel. Statt Material als passives Vehikel im menschbestimmten Gestaltungsprozess anzusehen, plädiert er für offene Experimente und »Co-Kreation« mit Material. Gerade Hingabe und Kontrollverlust im analogen Raum und Aufmerksamkeit auf Widerständigkeit und Unberechenbarkeit der Dinge, schaffen eine produktive Haltung für das Interaction Design.

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Judith Dörrenbächer identifiziert in gegenwärtigen Designprojekten und -workshops zahlreiche Versuche der experimentellen Empathie mit nicht-menschlichen Entitäten. Naturphänomene aber auch technologische Artefakte werden versuchsweise subjektiviert. Dörrenbächer fragt nach den Ursachen, Potenzialen aber auch Grenzen derartig irrationaler Ansätze. Ihre Auseinandersetzung mit Theorien des Neuen Animismus zeigt auf, dass es im Animismus nicht darum geht, an eine menschenähnliche Seele der Dinge zu glauben. Vielmehr wird eine Form des Wissens durch Subjektivierung praktiziert. Explizit die von Rane Willerslev erforschte animistische Praxis »Mimesis« lässt darauf schließen, dass der Perspektivwechsel im empathischen Einfühlen und Nachahmen nicht nur eine verbindende, sondern auch eine trennende Funktion besitzt. Mit Blick auf die animierte und anthropomorphe Dingwelt, die uns zunehmend umgibt, könnte die Nachahmung, so die Überlegung, als Strategie der Abgrenzung dienen, die es uns außerdem ermöglicht, Dinge moralisch ansprechbar zu machen. Dörrenbächer begreift ihren Beitrag als Auftakt für eine weiterführende Forschung und schließt ihn mit Thesen, die zu einer anschließenden designwissenschaftlichen Auseinandersetzung aufrufen. Susanne Witzgall geht der Frage nach, wie in einer Welt verteilter Handlungsfähigkeit, verantwortungsvolles menschliches Handeln gedacht und praktiziert werden kann. Sie thematisiert damit eine Frage, die gerade für das Design, das schließlich immer auch unter ethischen Gesichtspunkten bewertet wird, eine hohe Relevanz hat. Witzgalls Ansatz basiert auf einer Diskussion der Theorien und Paradoxien des sogenannten Neuen Materialismus und der Objektorientierten Ontologie. Sie argumentiert mit Karen Barad und Brian Massumi, dass nicht unabhängige Relata »äußere Relationen« hervorbringen, sondern »immanente Relationen« alles Sein und Werden der Welt bestimmen. Vor diesem Hintergrund kann alles als Akteur begriffen werden, was in einem Kraftfeld immanenter Relationen wirkt – also auch jedes Ding. Dieses Denken irritiert fundamental das moderne Konzept von selbstbestimmter, menschlicher Verantwortungsfähigkeit. Doch laut Barad bedeute der Verlust intentionaler Verantwortlichkeit nicht die Aufgabe derselben. Verantwortlichkeit sei zwar nicht frei wählbar aber gerade aus diesem Grund, bzw. da Menschen nur mit und durch andere Entitäten gemeinschaftlich existierten und Teil eines Kraftfeldes seien, bestünde grundsätzlich eine Mitverantwortung für Andere. Am Beispiel einer Arbeit der Künstlerin Nora Schulz ver-

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deutlicht Witzgall wie Zusammengehörigkeiten zwischen Akteuren und die nicht-menschliche Perspektiven erprobt und erkundet werden können. Ihre Überlegungen zu diesem Modellexperiment überträgt Witzgall auf das Design. Ein »relationales Design«, so die Begriffsschöpfung von Witzgall, sei sich über die Involvierung mit dem eigenen Umfeld bewusst und mache sich offene Experimente zunutze, um auf deren Basis verantwortungsvolle Designentscheidungen treffen zu können. Wie diese offenen Experimente für ein relationales Design funktionieren könnten, zeigen die praktischen Arbeiten der Designerin Judith Seng. Seng untersucht, welche Qualitäten der performativen Künste sich für das Design nutzbar machen lassen und kreiert für ihre Forschung Szenarien, in denen unterschiedliche menschliche und nicht-menschliche Akteure probeweise miteinander interagieren. Seng denkt den gestalterischen Produktionsprozess als Choreografie und initiiert ihn auf Bühnen. Für diesen Tagungsband beschreibt und analysiert sie ihre Arbeit »Acting Things«, die aus aufeinander auf bauenden Teilstücken besteht. Die Experimente verdeutlichen, wie Prozesse, Konflikte und Verhandlungen provoziert werden können und damit gestaltbar werden. In ihnen werden Grenzen, etwa zwischen Zuschauer und Akteur oder zwischen animiertem Material und animierendem Gestalter, irritiert und neu ausgehandelt. Die Rolle des Designers ähnelt bei der emergenten Prozessgestaltung der eines Gärtners, so Seng. Der Designer kann günstige Bedingungen schaffen, ist aber nicht in der Lage minutiös zu planen. Er muss mit einem Kontrollverlust umgehen lernen. Ähnlich wie Witzgall thematisiert auch Seng das Potenzial von Modellen und bezeichnet Experimente wie die ihren, als »dynamische Prototypen«. Diese Prototypen seien dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Alltag enthoben und dennoch Teil desselben sind. Damit weist Seng auch indirekt auf ein Potenzial des Designs hin: Schließlich ist es fundamentaler Wesenszug des Designs im Realraum außerhalb von geschützten Kulturräumen wirksam zu werden. Georg Kneer beschreibt die zunehmende technische Animiertheit der Dinge nicht nur als neue Herausforderung für die Designpraxis, sondern ebenso für die Designtheorie. Interagierende und intelligente Apparate provozierten die Suche nach neuen Leitsätzen für die Gestaltung. Kneer erachtet in diesem Zusammenhang die Ansätze des Neuen Animismus oder der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) allerdings nicht als hilfreich. In seinem Beitrag nimmt er vorerst eine scharfe Kritik an diesen Theorien vor, um anschließend den philosophischen Naturalismus als schlüssi-

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geren anti-dualistischen Ansatz vorzustellen. Dem monistischen Konzept nach sei alles Existente – auch der Geist, auch die Kultur, auch der Mensch – Teil der Natur und in erster Linie auf gleiche Weise physikalisch zu begreifen. Darüber hinaus – Kneer argumentiert mit dem Philosophen Daniel Dennett – ließen sich bestimmte Entitäten auch aus intentionaler Perspektive erklären. Hier müsse ebenfalls nicht strikt zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen unterschieden werden. Denn nicht nur der Mensch sei ein Wesen mit Geist. Intelligentes Verhalten fände sich ebenso bei technischen Artefakten. Wichtig sei allerdings, diesen Geist nicht – wie es im Animismus passiere – als immaterielle Seele, sondern als ein »verkörpertes kognitives System« zu begreifen, so Kneer. Nur Wesen und Dingen mit einem komplexen und intelligenten Verhalten ließe sich sinnvoll Handlungsfähigkeit zuschreiben. Kneer kritisiert in diesem Zusammenhang den Handlungsbegriff der ANT, der, auf alle Wesen angewendet, nur eine kausale Wirkmächtigkeit meinen könne. Er argumentiert letztlich mit Dennett, dass sich nur sogenannten »intentionalen Systemen« gewinnbringend Wünsche und Überzeugungen zuschreiben ließen und leitet aus dessen naturalistischen Konzept den Designleitsatz »Form Follows Intention« ab. Der Sammelband schließt mit der Dokumentation eines Workshops mit dem Namen »Autopsie der Dinge«, der mit Studierenden der Hochschule Niederrhein am Fachbereich Design stattfand und von Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer geleitet wurde. Während des Workshops machten sich Studierende, ähnlich wie es in der Renaissance bei der anatomischen Suche nach dem Seelenorgan geschah, in acht Experimenten auf die Suche nach einer Seele der Dinge. Die Ergebnisse des Workshops wurden während der Tagung in einer Ausstellung präsentiert und sind damit, wie jeder einzelne hier veröffentlichte Beitrag, Teil von »Beseelte Dinge – Design aus Perspektive des Animismus«.

Zur Einführung

L iter atur Albers, Irene/Franke, Anselm (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012. Allen, Philip van/Mcveigh-Schultz, Joshua: »AniThings: Animism and Heterogeneous Multiplicity«, in: CHI 13, Conference on Human Factors in Computing Systems Paris, France, April 27 – May 02, New York: ACM 2013, S. 2247-2256. Antonelli, Paola (Hg.): Talk to me. Design and Communication between People and Objects, New York: Museum of Modern Art 2011. Bird-David, Nurit: »›Animismus‹ revisited: Personenkonzept, Umwelt und relationale Epistemologie«, in: Albers/Franke, Animismus. Revisionen der Moderne (2012), S. 19-52. Davis, Erik: TechGnosis. Myth, Magic, and Mysticism in the Age of Information, Berkeley: North Atlantic Books 2015 (zuerst 1994). Descola, Philippe: »Societies of nature and the nature of society«, in: Adam Kuper (Hg.), Conceptualizing Society, London/NY: Routledge 1991, S. 107-126. Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München: Carl Hanser 1993. Franke, Anselm: Animism. Volume I. Sternberg Press: Berlin 2010. Franke, Anselm: »Jenseits der Wiederkehr des Verdrängten«, in: Folie/ Franke, Animismus. Moderne hinter den Spiegeln (2011), S. 19-36. Folie, Sabine/Franke, Anselm (Hg.): Animismus. Moderne hinter den Spiegeln, Köln: Walther König 2011. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Hamburg: Fischer 1940 (zuerst 1913). Gell, Alfred: »The Technology of Enchatment and the Enchatment of Technology«, in: Jeremy Coote/Anthony Sehlton (Hg.), Antropology, Art, and Aesthetics, Oxford: Univ. Press 1992, S. 40-63. Hayles, Katherine: »RFID: Human Agency and Meaning in InformationIntensive Environments«, in: Jörgen Schäfer/Peter Gendolla (Hg.), Beyond the Screen, Bielefeld: transcript 2010, S. 95-122. Hörl, Erich: Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation, Zürich/Berlin: diaphanes 2005.

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Judith Dörrenbächer

Hörl, Erich: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Erich Hörl (Hg.), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 7-53. Hornborg, Alf: »Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis«, in: Albers/Franke, Animismus. Revisionen der Moderne (2012), S. 55-64. Ingold, Tim: The Perception of the Environment. Essays on Livelihood, Dwelling & Skill, London/NY: Routledge 2000. Ingold, Tim: Making. Anthropology, Archaeology, Art and Architecture, Oxford: Routledge 2013. Kaerlein, Timo: »Die Welt als Interface. Über gestenbasierte Interaktionen mit vernetzten Objekten«, in: Florian Sprenger/Christoph Engemann (Hg.), Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt, Bielefeld: transcript 2015, S. 137-159. Kuniavsky, Mike: »Animist User Expectations in a Ubicomp World. A position paper for ›Lost in Ambient Intelligence‹«, 2007. http://www. orangecone.com/kuniavsky_CHI2004_lost_in_AmI.pdf [aufgerufen: 22.4.2016] Laurel, Brenda: »Designed animism«, in: Thomas Binder/Jonas Löwgren/ Lone Malmborg (Hg.), (Re)searching the digital Bauhaus, London: Springer 2009, S. 252-274. Marenko, Betti: »Neo-Animism and Design. A New Pradigm in Object Theory«, in: Design and Culture 6 (2014), S. 219-241. Matthias, Andreas: Automaten als Träger von Rechten, Berlin: Logos 2010. Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 2015 (zuerst 1926). Schüttpelz, Erhard/Thielmann, Tristan (Hg.): Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld: transcript 2013. Selle, Gert: »Design from the Cloud«, in: form 261 (2015), S.86-98. Thacker, Eugene: »Vermittlung und Antivermittlung«, in: Erich Hörl (Hg), Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: Suhrkamp 2011, S.306-332. Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Band I+II, Hildesheim: Olms 2005 (zuerst 1871).

Zur Einführung

Viveiros de Castro, Eduardo: »Zeno and the Art of Anthropology: Of Lies, Beliefs, Paradoxes, and Other Truths«, in: Common Knowledge 17 (2011), S. 128-145. Viveiros de Castro, Eduardo: »Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien«, in: Albers/Franke, Animismus. Revisionen der Moderne (2012), S. 73-93. Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin (Hg.): Macht des Materials/Politik der Materialität, Zürich/Berlin: diaphanes 2014. Willerslev, Rane: Soul Hunters. Hunting, Animism, and Personhood among the Siberian Yukaghirs, Berkeley: University of California Press 2007.

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Agency, Performativität und Magie der Dinge Hartmut Böhme

1. W irksamkeit der D inge Unser Weltbild ist gewöhnlich dualistisch aufgebaut: Menschen und Dinge bilden einen Gegensatz ebenso wie belebt versus unbelebt oder intentionale Handlung versus mechanischer Prozess. Der Mensch ist belebt und kann deswegen agieren; selbstverständlich nimmt er für sich Agency in Anspruch. Das Ding kommt dabei nur als Objekt vor. Das gilt auch grammatikalisch. Dinge können grammatische Subjekte nur als Träger von Eigenschaften sein: Der Baum ist grün oder wertvoll; er sieht schön aus; er dient der Gesundheit. Aber der Baum verbessert nicht die Luft; er trägt nicht etwas zum Bruttosozialprodukt bei. Bei höheren Tieren wie Hund, Katze oder Affe wird es schwieriger: Durchaus billigen wir ihnen ein der Handlung nahekommendes Verhalten zu, ohne dass sie über Intentionalität, Selbstdistanz, Reflexivität oder Mittel-Zweck-Kontrolle verfügen müssen. Doch eine Katze, die faucht, drückt damit einen Sinn aus, der verstanden wird, wir billigen ihr Motive und Ausdruck zu. Ein Schimpanse, der Täuschungsmanöver beherrscht, muss über Selbstdistanz verfügen; und wenn er einen Stock benutzt, um Termitenhügel aufzugraben, praktiziert er Mittel-Zweck-Kontrolle. Das dualistische Weltbild, das strategisch Subjekt und Objekt so gegenüberstellt, dass die Handlungsmacht und die Lebendigkeit nur und allein auf Seiten des Subjekts, das ein Mensch sein muss, liegt, hält Philippe Descola für eine typisch europäische und, weltweit betrachtet, für eine minderheitliche Position, die von den meisten Kulturen nicht geteilt wird. Für diese Kulturen erstrecken sich Aktivität und Passivität, Tun und Erleiden, Handlung und

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Wirkung in stets wechselnden Verteilungen auf Menschen und NichtMenschliches – eine Auffassung, von der auch Bruno Latour in seinen Studien ausgeht.1 Wenn wir den toten Dingen Agency zusprechen, dann unterliegen wir, jedenfalls innerhalb eines aufgeklärten Weltbildes und erst recht innerhalb eines epistemischen oder sozialen Konstruktivismus, einem Kategorienfehler: Wir identifizieren an Dingen als ihr Vermögen, was wir ihnen durch Projektion allererst beigelegt haben. Die Agency, die Handlungsmacht haben wir ihnen verliehen, sie kommt ihnen nicht an und für sich zu. Indessen, sogar ein Idealist wie Hegel denkt (in seiner »Ästhetik«) in der Abwägung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt auch an die Möglichkeit eines Vorrangs des Dinges. Dieser Vorrang bedeutete dann für das Subjekt die Erfahrung von »Endlichkeit und Unfreiheit«, während umgekehrt »die Dinge als selbständig vorausgesetzt sind. Wir richten uns deshalb nach den Dingen, wir lassen sie gewähren und nehmen unsere Vorstellung usf. unter den Glauben an die Dinge gefangen [...]. Mit dieser einseitigen Freiheit der Gegenstände ist unmittelbar die Unfreiheit der subjektiven Auffassung gesetzt.«2 Hier nimmt sich das Subjekt weitgehend zurück. Es wird eine Art methodische Passivität beschrieben, ja eine Form der gewählten Auslöschung des Selbst. Hegel denkt an ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem die Gegenstände ihre eigene Freiheit haben. Aus der Zwecksetzung der Subjekte entwickelt Hegel die ästhetische Freiheit (was hier nicht weiter

1 | Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011; Descola, Philippe: Die Ökologie der Anderen, Berlin: Matthes & Seitz 2014; Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie 1994; Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001; Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014. Vgl. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 72-94. 2 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge. 2 Bde. 3. Aufl. Berlin/Weimar: Aufbau 1976, hier: Bd. I, S. 118.

Agency, Per formativität und Magie der Dinge

verfolgt werden soll); dagegen impliziert die »Unfreiheit der subjektiven Auffassung« den Widerstand des Objekts oder die Agency der Dinge. Literarisch umgesetzt ist diese Sicht beispielsweise im Roman »Auch Einer«3 des Hegelianers und Ästhetik-Professors Friedrich Theodor Vischer: Der Protagonist reagiert cholerisch, wenn die Gegenstände ihm Widerstand leisten und sich dem Willen des Subjekts entgegensetzen oder es zu tun scheinen. Da genügt schon, wenn die Dinge gerade dann nicht ›zuhanden‹ sind, wenn man sie braucht. Sie sind aus den Augen und aus dem Sinn, müssen sich also tückisch versteckt haben, wie der stets wutbereite Protagonist glaubt: Diese vermaledeiten Dinge, die, im Heideggerschen Sinn4, sich ihrem Zeug-Charakter gerade entziehen, ihrem instrumentellen Sinn, der sie in eine Art Dienerschaft für den Menschen zwingt. Wenn Störungen im geschmeidigen Nutzen der Dinge auftreten, dann wird das, je nach Einstellung, als ein agonal-widerborstiges oder auch aufmüpfiges, passiv widerständiges Verhalten der Dinge interpretiert. Die Dinge werden dann selbsttätig, sie entziehen sich – und das wirkt als ihre Unheimlichkeit, deren man sich zuvor nicht gewahr war. Wir müssen, um diesen Animismus der Dinge wahrzunehmen, nicht auf animistische Kulturen schauen, weil es in der europäischen Kultur zahllose Zeugnisse für das Eigenleben der Dinge, ihre Magie und ihre ausstrahlende Attraktivität gibt. In der europäischen Vormoderne ist die auf Mensch und Dinge verteilte ἐνέργεια von Handlungen ein allgemeines kulturelles Merkmal und nicht nur dem magischen Volksgauben, der Mystik oder der Alchemie geschuldet. Auch die Moderne kennt die δύναμις (potentia) der natürlichen wie artifiziellen Objekte, womit Aristoteles das Vermögen zur Wirksamkeit, zum »actus« bezeichnet. Diese Erfahrung zieht sich als »Evidenz« (ἐνάργεια im Unterschied zu ἐνέργεια) durch die europäischen Kulturen bis heute. Und diese ἐνάργεια ist der Grund, warum Bruno Latour unterstellen kann, wir seien nie modern gewesen. Wir müssen nicht nur an die materialsprachliche Mitwirkung der Dinge in experimentellen Wissensprozessen, sondern können z.B. auch an den ›Slapstick der Dinge‹ denken, wie wir ihn als Reaktion auf die spezifisch moderne Erfahrung der Handlungsmacht der Dinge schon 3 | Vischer, Friedrich Theodor: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Stuttgart/ Berlin: DVA 1918 (zuerst 1879). 4 | Zu Heideggers Ding/Zeug-Konzept vgl. H. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 64-72.

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aus dem Stummfilm kennen. Dies reicht bis zum »Aufstand der Dinge«5. Man vergleiche auch die Filme von Charly Chaplin, Buster Keaton oder Jacques Tati: Was für komische bis groteske Verkehrungen im Verhältnis von Artefakt und Mensch! Dahinter stehen aber auch Theorien, wonach sich die Objekte emanzipiert haben und selbst zum Subjekt werden. Literarisch gestaltet finden wir dies u.a. bei Franz Kafka oder früher schon bei E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe oder Herman Melville. Wie die Menschen gerade in den modernen Formen der Produktion und Konsumtion sich von sich selbst und von anderen/m entfremden, nämlich verdinglichen, wie es schon Karl Marx diagnostizierte, so animieren sich die Dinge im Muster des Als-ob: als ob sie lebendig und eigenaktiv, womöglich gar intentional seien, was ihre Vermenschlichung perfektionieren würde. Immanuel Kant war der erste, der dieses Als-ob als den Gegebenheitsmodus der künstlerischen Dinge (des ästhetischen Scheins), ja als Modus der Natur insgesamt erkannte. Dann scheint es, als ob, in ästhetischer Einstellung, die Natur figürlich zu uns spricht oder als ob, in epistemischer Einstellung, ihr insgesamt eine »Technik der Natur« oder gar eine Teleologie (eine Ordnung hin auf bedeutungshafte Einheit) zugrunde läge.6 In jedem Fall ist klar, dass wir aus der europäischen Tradition unzählige Beispiele und Argumente aufführen könnten, welche die Agency der Dinge in ästhetischer Evidenz bezeugen oder sie wenigstens als kognitive Möglichkeit einräumen.

5 | Kästner, Erhart: Der Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt a.M.: Insel 1973. 6 | »Die selbständige Naturschönheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen, deren Prinzip wir in unserem ganzen Verstandesvermögen nicht antreffen, vorstellig macht, nämlich dem einer Zweckmäßigkeit, respektiv auf den Gebrauch der Urteilskraft in Ansehung der Erscheinungen, so daß diese nicht bloß als zur Natur in ihrem zwecklosen Mechanism, sondern auch als zur Analogie mit der Kunst gehörig, beurteilt werden müssen. Sie erweitert also wirklich zwar nicht unsere Erkenntnis der Naturobjekte, aber doch unseren Begriff von der Natur, nämlich als bloßem Mechanism, zu dem Begriff von eben derselben als Kunst; welches zu tiefen Untersuchungen über die Möglichkeit einer solchen Form einladet.« Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft B 77, vgl. B 56, 320/1 u.ö.; Vgl. Toepfer, Georg: Zweckbegriff und Organismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.

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Heute ist unser Verhältnis zu den Dingen noch prekärer geworden, als es dies schon zur Zeit von Aufklärung und Romantik war. Wir sind immer mehr auf die Teilung der Macht bzw. das Mitwirken der Dinge angewiesen. Die Macht des Handelns – so die Neurologie, Biologie, Soziobiologie – liegt großenteils außerhalb von Intention, Reflexivität und individueller Zielsetzung. In der Moderne herrscht die Skepsis, ob wir uns überhaupt noch als Herren unserer Handlungen bezeichnen dürfen, wenn Wirkung, Handlungsmacht, Ausstrahlung etc. auch von Objekten ausgehen. Nichtlebende Dinge können dadurch Züge von lebenden Subjekten annehmen; dies ist eine Stoßrichtung der heutigen Materialitäts- und Dingforschung.7 In jedem Fall können wir nicht mehr so selbstgewiss, frohgemut und aufgeklärt von der ausschließlich sozialen Konstruktion der Wirklichkeit ausgehen, wie dies Peter L. Berger und Thomas Luckmann und nach ihnen zahllose Konstruktivisten und radikale Konstruktivisten taten.8 Ich gebe zunächst literarische Beispiele für die negativen Seiten der Agency der Dinge, oder sagen wir – gemäß der alten Unterscheidung von schwarzer und weißer Magie: Beispiele für den bösen Zauber der Dinge, wenn sie uns verwirren, überraschen, uns Widerstand leisten und scheitern lassen, uns demütigen, wütend machen oder beschämen. Im Hintergrund erinnern wir uns an Günter Anders, der das Verhältnis von Menschen, die in ihrer Endlichkeit und sinnlichen Befangenheit stets imperfekt bleiben, und den eleganten, leistungsfähigen technischen Geräten als prometheische Scham gedeutet hatte: Die Artefakte in ihrer 7 | H. Böhme: Fetischismus und Kultur; Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwisenschaften, München: Fink 2014; Heibach, Christiane/Rohde, Carsten (Hg.): Ästhetik der Materialität, München: Fink 2014; Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink 2002. 8 | Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1970 (englisch zuerst 1966); Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987; Schmidt, Siegfried J.: Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992; Stangl, Werner: Das neue Paradigma der Psychologie: Die Psychologie im Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1989.

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Leistungsfähigkeit und Macht beschämen uns, indem sie uns inferiorisieren und damit zugleich antiquieren.9

2. A u B onheur des D ames Es folgt zuerst eine Passage aus Emile Zolas Roman »Au Bonheur des Dames«10, jenem ersten Roman, in welchem das damals topmoderne und gigantisch große Warenhaus als Kathedrale der Waren entdeckt wurde. Dabei beschreibt Zola, nicht ganz ohne soziologische Gründe, die Kundin als die Leitfigur des frühen Konsumismus. Fassen wir es ohne das Gendering Zolas: Das Warenhaus verleibt sich die Menschen als Konsumenten, die vom Glanz der Waren überwältigt und verführt sind, gleichsam ein und beraubt sie großer Teile ihrer Handlungspotenz, die an die Dinge abgegeben werden. Nicht der Kunde oder hier: die Kundin ist Königin, sondern die Ware ist der Fetisch, dem seitens der Konsumenten Götzendienst geleistet wird. Von einer Souveränität des Subjekts kann, dies ist die Einsicht Zolas, im Konsum so wenig wie in der Fabrik geredet werden: »Da hatte Denise das Gefühl, eine mit Hochdruck arbeitende Maschine vor sich zu sehen, deren Schwung sich noch den Auslagen mitteilte. [...] Zahllose Leute betrachteten sie, Frauen blieben stehen und drängten sich vor den Scheiben, eine vor Begehrlichkeit rücksichtslose Menge. Und durch diese Begeisterung auf dem Bürgersteig wurden die Stoffe lebendig: ein Beben durchlief die Spitzen, auf eine verwirrende, geheimnisvolle Art hingen sie herab und verbargen die Tiefen des Ladens; sogar die dicken, massigen Tuchballen atmeten, sandten einen verführerischen Hauch aus, indes sich die Paletots stärker auf den Schaufensterpuppen wölbten, die gleichsam beseelt wurden, und sich der großartige Samtmantel aufblähte, schmiegsam und warm, als läge er über Schultern aus Fleisch, einem wogenden Busen und erschauernden Hüften. Doch daß das Haus von einer Hitze wie ein Hüttenwerk flammte, kam vor allem vom Verkauf, von dem Gedränge an den Ladentischen, das man durch die Mauern hindurch spürte. Da war das ununterbrochene Schnauben der in Gang befindlichen Maschine, ein Verheizen der Kunden, 9  |  Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten technischen Revolution, München: C. H. Beck 1956, S. 21-95. 10 | Zola, Émile: Paradies der Damen (Au Bonheur des Dames, 1883), Berlin: Rütten und Loening 1983.

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die sich vor den Abteilungen stauten, angesichts der Waren jegliche Besonnenheit verloren und dann der Kasse zum Fraß vorgeworfen wurden. Und das alles mit mechanischer Genauigkeit geregelt und organisiert, wodurch ein ganzes Heer von Frauen der Kraft und Folgerichtigkeit des Räderwerks verfiel.« 11

Hier wird die vibrierende Faszination des Warenhauses beschrieben, das sich in der Wahrnehmung der Konsumentinnen zu einer lebenden Maschine verwandelt. Das Begehren der Kundinnen wird in die Aura der verführerischen Waren verwandelt und tritt ihnen als deren Attraktion gleichsam objektiv entgegen. So kann sich, was im Kern der Logik des rationalen Tausches folgt, als eine gewaltige Maschinerie erscheinen, der die Konsumenten wie Götzendiener vor einem Idol erliegen. Sie verlieren ihre Selbstständigkeit im selben Maße, wie die Handlungsmacht in den Apparat hinüberwechselt. Dies sind die phantasmatischen Vertauschungen und Verführungen zwischen Mensch und Maschine, denen Fritz Lang in seinem Film »Metropolis« (1927) oder Walther Ruttmann in »Berlin – Symphonie der Großstadt« (1927) zu großartigen Bildern verholfen haben. Der Appeal der Dinge, der die Waren mit Begehrlichkeiten auflädt und zu magischen Attraktoren verwandelt, ist ein zentraler Integrationsmechanismus in einer Gesellschaft, deren politische und soziale Institutionen nicht mehr eine hinlängliche Überzeugungskraft aufweisen, um Massenloyalität und Affektbindungen stabil zu halten. Strategien der Ökonomie und Taktiken des Konsums, die Unerschöpflichkeit der Waren und die Unersättlichkeit des Begehrens stehen in fortdauernder Spannung: Dies ist es, was Émile Zola schon vor 130 Jahren entdeckt hat. Die Stichworte für eine solche metaphorische, ebenso religiöse, mythologische wie maschinale Bildsprache hat Karl Marx geliefert, der im Durchgang durch die Formen der modernen Gesellschaft auf deren verborgenem Grund den Fetischismus der Ware entdeckt hatte. Im modernen Kapitalismus müssen alle Dinge (Produkte), die als Tauschwerte realisiert werden sollen, zu ›Markte gehen‹ und dort ›auftreten‹. Das kreiert die ›Performanz oder Theatralität der Waren‹, in denen ihre Agency besteht. Das auch macht die ›Aura‹ der Waren aus: Ihr Fetischismus winkt mit der Partizipation am Schlaraffenland oder am Paradies, das Zola als Warenhaus beschreibt. Die Ware ist dabei auch der Code einer Utopie, 11 | Ebd., S. 15.

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einer systematisch erzeugten Illusion. Verleugnet werden dabei die vielfachen Teilungen, Trennungen, Verluste, Anstrengungen, Demütigungen, Schmerzen, Lasten, Enttäuschungen, welche Produzenten wie Konsumenten in der kapitalistischen Gesellschaft erleben (die desillusionierte Welt). Die Ware verleugnet die Prosa der Wirklichkeit. Der aufgeklärte Kunde heute, im Gegensatz zu den erregten Glückssucherinnen bei Zola, steht auf beiden Seiten: Er ist desillusioniert und illusioniert zugleich von den Waren, er hat die Illusion schon enthüllt, und dennoch verleugnet er die Desillusion. Das aber heißt: Er leistet Tribut an die Agency der WarenDinge, deren Schein er doch erkennt. Konsum geht niemals in den ökonomischen Daten des Warentauschs auf, sondern er ist eine kulturelle Praxis. In der Ware zirkulieren nicht nur Geldwerte, sondern ebenso Bedeutungen, Symbole, Attitüden, Identifikationsmuster und vor allem Lüste, Gefühle und Phantasien. Gefühle, Phantasien, Identitäten meinen kaufen zu müssen: Das macht die Unselbstständigkeit der Menschen und die Agency der Dinge aus. Dinge und Ikonen des Konsums sind zwar industrielle Produkte, die der kapitalistischen Verwertung unterliegen, zugleich aber sind sie symbolische Schaltstellen kultureller Praktiken und Imaginationen, die kulturell kreativ sind, neue Lebensformen erzeugen und diese zirkulieren lassen. Mit dem Horizont der Waren wächst der Horizont der pluralisierten Kultur der Lüste mit. Was kann das Individuum dagegen schon auf bieten – außer vielleicht Konsumverzicht und eine separierte und fragile Utopie eines ›guten Lebens‹ jenseits des Mainstreams. Diese soziale Verteilung der Macht zugunsten der Dinge, die zu Regenten des Alltags geworden sind, ist das historisch Neue. Und diese Macht will gar nicht in einem »Parlament der Dinge«12 vertreten werden, weil eine solche demokratische Regulation womöglich die stumme Macht der Artefakte beschränken würde. Was sich in der modernen Konsumwelt abspielt, ist nicht mehr in der schlichten marxschen Entgegensetzung von Gebrauchswert und Tauschwert zu fassen, aus welcher der Warenfetischismus seine Sprengkraft bezog. Konsumtion (die subjektive Seite) ist nicht mehr das manipulierte Anhängsel der Ware (die dingliche Seite), durch welche die elementaren Bedürfnisse der Menschen, die auf Nahrung, Kleidung und Einrichtung 12 | Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014.

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angewiesen sind, ausgebeutet werden. Das funktioniert zwar weiterhin, aber die Waren heute, wenn wir sie als Fetische ansprechen, sind nicht bloße Verschleierungen der wahren Produktionsverhältnisse, sondern »metaphor in fact«13. Von ›Dinglichen Metaphern‹ oder, wie man auch sagen kann, von Real-Symbolen zu sprechen, heißt, mehr als den Tauschwert zu verhüllen und den Gebrauchswert zu verklären. Unter Bedingungen der Konsumgesellschaft bezeichnet der Fetischcharakter die Ware vielmehr als ein Ding, das zugleich ein multiples Gewebe aus visuellen, aber auch auditiven, taktilen, olfaktorischen, geschmacklichen wie semantischen Repräsentationen darstellt. Der ›consuming act‹ – wie man ihn parallel zu ›speech act‹ nennen könnte – erzeugt erst das Universum der Waren, das zugleich das Archiv aller möglichen Handlungen einer Kultur codiert. Der ›consuming act‹ verkoppelt die jeweiligen Aneignungsintentionen mit dem Universum der Dinge zu einer singulären Kaufhandlung. Unerforscht ist noch immer, wie eine Typik der Warendinge mit einer Typik von ›consuming acts‹ und beides zusammen mit einer Typologie der Konsumenten verbunden ist. Dabei wären die instabilen Gleichgewichte und Rhythmen der Pleonexie14, der Gier des MehrHaben-Wollens, der Befriedigung, Enttäuschung und Übersättigung zu studieren, welche die mythische Maschinerie des Warenhauses, wie sie Zola beschreibt, charakterisiert.

3. I npene tr abilitas rerum Ein Brot, dieses so alte und so alltägliche Artefakt der Agri-Kultur, weist eine stoffliche Objektqualität auf: Es lässt sich schneiden (und damit auch beißen und kauen). Es hält die Mitte zwischen Festkörper und fluidaler Substanz, weder dünnflüssig noch steinhart, wie es erst nach Austrocknung wird: Dann ist es nicht mehr zu schneiden; wir würden uns die Zähne an ihm ausbeißen. Wir müssten es einweichen, um seine Materialität zwischen Plastizität, Viskosität und Fluidalität so weit herzustellen, dass 13 | Gamman, Lorraine/Makinen, Merja: Female Fetishism. A New Look, London: Lawrence & Wishart 1994, S. 33; Vgl. dazu auch: Bosch, Aida: Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld: transcript 2010. 14 | Schrage, Dominik: »Integration durch Attraktion. Konsumismus als massenkulturelles Weltverhältnis«, in: Mittelweg 36 (2003), S. 57-86, hier: S. 70.

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wir es als Nahrungsmittel nutzen könnten. Ganz anders nun geht es in einem Text Franz Kafkas aus dem Tagebuch zu, dem »Konvolut 1920«15: Eine mächtige Figur, der Vater, stößt, zum Erstaunen der ihn beobachtenden Kinder, auf die Undurchdringlichkeit eines Brotlaibs. Macht schlägt in Ohnmacht und vergebliches Mühen um, die alltägliche Handlung des Brotschneidens (man denke an Lotte im »Werther«) in eine absurde Groteske: Wir dürfen, bei Kafkas Humor zumal, lachen, was freilich die Kinder, ihrem Vater vergeblich beistehend, nicht tun; während der Vater das Lachen dessen anstimmt, der eine Niederlage einstecken musste: »Auf dem Tisch lag ein großer Laib Brot. Der Vater kam mit dem Messer und wollte ihn in zwei Hälften schneiden. Aber trotzdem das Messer stark und scharf, das Brot nicht zu weich und nicht zu hart war konnte sich das Messer nicht einschneiden. Wir Kinder blickten verwundert zum Vater auf. Er sagte: ›Warum wundert ihr Euch? Ist es nicht merkwürdiger, dass etwas gelingt als daß es nicht gelingt. Geht schlafen, ich werde es doch vielleicht noch erreichen.‹ Wir legten uns schlafen, aber hie und da, zu verschiedensten Nachtstunden, erhob sich dieser oder jener von uns im Bett und streckte den Hals um nach dem Vater zu sehen, der noch immer, der große Mann, in seinem langen Rock, das rechte Bein im Ausfall, das Messer in das Brot zu treiben suchte. Als wir früh aufwachten, legte der Vater das Messer eben nieder und sagte: ›Seht, es ist mir noch nicht gelungen, so schwer ist das.‹ Wir wollten uns auszeichnen und selbst es versuchen, er erlaubte es uns auch, aber wir konnten das Messer, dessen Schaft übrigens vom Griff des Vaters fast glühte, kaum heben, es bäumte sich förmlich in unserer Hand. Der Vater lachte und sagte: ›Laßt es liegen, jetzt gehe ich in die Stadt, abends werde ich es wieder zu zerschneiden versuchen. Von einem Brot werde ich mich nicht zum Narren halten lassen. Zerschneiden muß es sich schließlich lassen, nur wehren darf es sich, mag es sich also wehren.‹ Aber als er das sagte, zog sich das Brot zusammen, so wie sich der Mund eines zu allem entschlossenen Menschen zusammenzieht und nun war es ein ganz kleines Brot.« 16

15 | Kafka, Franz: Aus dem »Konvolut 1920«, in: Ders.: Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born u.a., hier: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Jost Schillemeit (Hg.), Frankfurt a. M.: Fischer 1992, Bd. II. 16 | Ebd., S. 15.

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Der Text verdreht eine alte philosophische Ansicht über Fest-Körper ins Komische: Wo der eine Körper ist, kann der andere nicht sein: Zwei Körper können nicht gleichzeitig denselben Ort einnehmen; das macht ihre Solidität bzw. Inpenetrabilität aus, wie sie Leibniz oder Locke, und selbst noch Kant, als Grundeigenschaft der Materie definierten.17 »Vis inpenetrabilitatis est vis repulsiva« (Die Kraft der Undurchdringlichkeit ist eine Zurückstoßungskraft), schreibt Kant in der noch stark durch Leibniz beeinflussten Frühschrift »Monadologia Physica«18 von 1756. In diesem Widerstand gegen das Eindringen eines anderen Körpers zeigt der Körper eine eigene Kraft, die den anderen Körper hindert, in ihn einzudringen. Das nun genau ist es, was dem Vater und dann auch den Kindern widerfährt. Dabei steht die Souveränität der Handlungsmacht des ›pater familias‹ auf dem Spiel, die hier, wie bei Kafka stets, zugleich für Autorität, Potenz (dynamis, potentia) und unbegrenzte Kraftfülle steht. Diese drückt sich darin aus, den ganzen Raum einzunehmen bzw. jedes Objekt zu durchdringen. Die nachtlange Anstrengung, unterstützt durch gelegentliche Versuche der Kinder, zeigt eine prinzipielle Grenze: die Zurückstoßungskraft der Materie, die verhindert, dass sie beliebig zu teilen oder auf ein unendlich Kleines zusammenzudrücken wäre. Dies setzt der Souveränität des Menschen Grenzen, die am Schluss, ganz der »Physischen Monadologie« entsprechend, dadurch Ausdruck findet, dass das Brot sich zusammenzieht: Der dingliche Widerstand gegen zusammendrückende oder schneidende Kräfte wächst proportional mit der aufgewendeten Kraft, das Objekt zu penetrieren. Der Entschlossenheit des Vaters entspricht dem Anschein nach einer ebensolchen Entschlossenheit des Brotes, was indes eine anthropomorphisierende Metapher für die Proportionalität der aufgewendeten Kräfte ist. Man muss sich die kleine Szene des Kinogängers Kafkas als Film vorstellen, um zu verstehen, was es heißt, vom Slapstick der Dinge oder von ihrer Agency zu sprechen. Die groteske oder komische Wirkung entsteht dadurch, dass ein fundamentales Gesetz der Materie in die Welt der sozialen Handlungen implementiert wird. Das Eigenleben der Dinge besteht zuerst in ihrer monadischen 17 | Warren, Daniel: Reality and Inpenetrability in Kant’s Philosophy of Nature, New York/London: Routledge 2001. 18 | Kant, Immanuel: Monadologia Physica, in: Ders.: Werkausgabe, Wilhelm Weischedel (Hg.), Bd. II: Vorkritische Schriften bis 1768, Frankfurt a. M. 1977, S. 546-547.

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Geschlossenheit, die im Verhältnis zu den mit den Dingen hantierende Menschen dann zu Kollisionen oder Störungen, aber eben auch zu Slapstick und Groteske führt, wenn der Mensch die Grundeigenschaften der Dinge nicht respektiert. Wenn der Vater meint, er werde sich von einem Brot »nicht zum Narren halten lassen«, so ist er schon längst ein Narr, der im Umgang mit den Dingen, und sei’s ein triviales Brot, deren Widerstandskraft nicht achtet. Indem er erfährt, dass mit dem Grade des Wunsches nach Penetration oder Zusammendrückung auch die ›vis inpenetrabilitatis‹ »proportionierlich wächst«19, erfährt er sich selbst, in der Differenz zu den Dingen, nämlich in seiner Grenze, die hier die Form einer grotesken Depotenzierung oder auch einer Blamage vor den Kindern annehmen kann.

4. D as gefr ässige O bjek t Und als letztes: Der österreichische Schriftsteller Herbert J. Wimmer skizziert in seinem Buch »Nervenlauf. Die Tücke der Objekte 313«20 Kollisionen zwischen Menschen und Dingen. Unter der Nr. 69 »eingangstür« verbirgt sich folgendes: »als die junge frau mit ihren einkäufen bei der eingangstür anlangt, bemerkt sie den verlust der schlüssel. Wütend tritt sie gegen das holz, was dem objekt ein wütendes knurren entlockt. Die junge frau erschrickt und lässt die einkaufstasche fallen. Vorsichtig nähert sie sich der lackierten fläche, sanft drückt sie den türknopf. Tief knurrt das objekt. Die frau überlegt einen moment, dann wirft sie sich mit aller kraft gegen die eingangstür. Nichts geschieht. Die schulter schmerzt. Entschlossenes abstoßen vom stiegengeländer und der tür sich entgegenschleudern. Mit einem anachronistischen geräusch öffnet sich das objekt zu einem rachen, in dem reiss- und mahlzähne in fünferreihen mit grosser geschwindigkeit gegenläufig hin- und herfahren. Die hauptmieterin kann ihren schwung nicht mehr bremsen und fällt in das zahnwerk. Gleich darauf ist die eingangstür wieder unauffällig.« 21 19 | Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2. Hauptstück, Erklärung 4. 20 | Wimmer, Herbert J.: Nervenlauf. Die Tücke der Objekte, Wien: Sonderzahl 2007. 21 | Ebd., S. 52.

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Auch hier ist die triviale Alltäglichkeit der Situation charakteristisch, in der eine unscheinbare Handlung bis hin zur finalen Peripetie eines Konflikts zwischen Mensch und Ding anschwillt. Ähnlich dem Vater begreift die junge Frau nicht, dass erst ihr zu grenzenloser Wut aufschäumender Wille zum Eindringen es ist, welcher eine Antwort in der wachsenden Aggressivität der Tür findet. Das ist die Proportionalität, von der Kant spricht. Die junge Frau ist ja nicht objektiv aus der Kohabitation mit den Dingen ausgeschlossen, sie hat sich selbst ausgeschlossen: durch den Verlust des Schlüssels. In der Tat bedarf es eines Schlüssels im Umgang mit den Dingen, wie Bruno Latour am »Berliner Schlüssel«22 eindringlich demonstriert hat. Dies aber, so zeigt diese Schließtechnik, funktioniert nur, wenn sich der Nutzer den Regeln unterwirft, welche objektiv in die Ordnung der Dinge eingebaut sind. Die junge Frau aber will es ›auf Gedeih und Verderb wissen‹. Aggression auf die Dinge, in welche die Wut auf sie selbst eingeschlossen ist, reißt sie zu einer Gewalt hin, deren Opfer sie selbst wird. Die Dinge, hier die Tür, erweisen sich als gegen-aggressiv, auf der archaischsten Stufe, die wir überhaupt für Aggression kennen: Das ist die Stufe der oralen Aggressivität, in der ein Objekt mit den Zähnen ergriffen, zermalmt und verschlungen wird.23 Die Dinge – so behandelt, wie die Frau die Tür traktiert – haben dann ein Maul wie ein Monster, sie werden monströs und unheimlich, absolut menschenfeindlich und das Gegenteil dessen, was Heidegger ›zuhanden‹ nennt. Die Dinge fügen sich nicht mehr, sie bilden kein Gefüge, sondern werden zum Gegenteil dessen, was von ihnen erwartet und gewünscht wird: Sie öffnen sich nicht zum Einlass, sondern zu einem erschreckenden Maul.

5. A ufstand und M agie Stellen wir uns vor, die Dinge, die uns stets zur Hand sind, würden wispern: »I would prefer not to« – die berühmte Formel von »Bartleby the

22 | Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel, Berlin: Akademie 1996. 23  |  Vgl. dazu die aufschlussreichen Überlegungen von Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 223-233; Vgl. Böhme, Hartmut/Slominski, Beate (Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin, München: Fink 2013, S. 130-134.

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scrivener«24. Die Dinge verharrten in stummer Verweigerung. Wären nur da, lungerten herum, anspruchslos und unansprechbar. Stellen wir uns vor, wir wären nicht die Subjekte, die den Objekten Eigenschaften und Merkmale zuschrieben; wir könnten keine Aussagen über Sachverhalte treffen, womit wir die Dinge uns zurechtmachen. Es wäre eine entstellte Welt. Oder noch schlimmer: Wir würden diese Sätze bilden, aber die Dinge würden sich nicht fügen: »They would prefer not to«. Keine Sätze mit Objekten mehr. Das Satzsubjekt würde in seinen Tätigkeitsverben durchdrehen. Die Dinge wären nicht mehr ›zuhanden‹, zu keinem Gebrauch fügsam, jeder Verwendung entglitten. Ihre unauffällige Gegebenheit im Dienst für uns – so werden die Dinge im Alltag verstanden – verwandelte sich in eine renitente Präsenz, die zunehmend unheimlich würde. Die Matratze weigerte sich, meinem Gewicht nachzugeben und läge steinhart da. Der Staubsauger verabschiedete sich in seine Ecke im Flurschrank. Der Wasserhahn ließe sich nicht mehr drehen. Der Stuhl wollte nicht mehr stehen, sondern sackte bei jeder Belastung zu Boden. Und so weiter. Es wäre ein Moment einer stillen Revolution, eines »Aufstands der Dinge«25, wie Erhart Kästner schrieb: eines passiven Generalstreiks der Dinge. Wir begreifen sofort, dass dies eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes wäre, wie sie übrigens in keinem Katastrophen-Szenario, wovon die Welt nur allzu voll ist, erwähnt wird.26 Unser Leben wäre erledigt. Unsere anthropologische Sonderstellung wäre dahin. Denn das Humanprivileg hieß immer: Wir sind es, die Sätze so bilden, dass die Dinge getroffen sind und folglich sich fügen. Was sind Dinge denn für uns? Sie sind, was sie zu sein haben: dienstbare Artefakte. Das ist ihr Gesetz, ja ihr Schicksal. Sie lassen sich zu Zeug machen, wie Heidegger sagt. Das meint nichts anderes, als dass wir annehmen dürfen, die Dinge seien fügsam, soweit und solange wir die Physik beachten. Den Gesetzen der Natur zu gehorchen, ist der Weg, den Dingen zu befehligen. Dies ist der abendländische drive, aber auch das Prinzip der Technik und das Prinzip der

24 | Vgl. Melville, Herman: Der Schreiber Bartleby; Bartleby the scrivener (zuerst 1851), Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg 2007. 25 | Vgl. E. Kästner: Der Aufstand der Dinge. 26  | Die Katastrophe der Dinge wird sogar in dem vorzüglichen Buch von Eva Horn nicht erwogen. Vgl. Horn, Eva: Katastrophe als Zukunft, Frankfurt a. M.: Fischer 2014.

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Sprache. Zu sprechen heißt, die Dinge als Sachverhalte zu formulieren, sie festzustellen und über sie zu verfügen. Dieses Regime meint: Die Dinge werden für uns Gebrauchsdinge, sie sind nützlich. Das allein berechtigt ihre Existenz. Sind sie unnütz, so sind sie Abfall. Oder sie sind Dinge der Natur, die ›für sich‹ bleiben dürfen, sofern sie zu unserem ästhetischen Gefallen beitragen oder wenigstens uns nicht stören. Als solche können sie eine Art sekundären Nutzen haben, z.B. als Elemente einer Landschaft. Dinge, ob nun Naturdinge oder Nutzdinge, sind tote Materie, subjektlos, sie agieren nicht, sie gehorchen nur: den physikalischen Gesetzen und uns. Gerade als solche bilden sie den breiten Sockel unserer Existenz. Und das wachsende Königreich unseres Willens. Wachsend deshalb, weil die Population der Dinge zunimmt. Die Artefakte haben sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten ins Unermessliche vermehrt. Wir brauchen und verbrauchen sie, um leben zu können. Und weil wir glauben, sicher sein zu können, dass die Dinge keine Akteure sind, von denen wir einen Aufstand befürchten müssen, ist die tiefe Abhängigkeit, in die wir zu den Dingen geraten sind, uns nicht bewusst geworden. Wir vertrauen darauf, dass sie in ihrem stummen Insichruhen nie so weit gehen würden, sich selbständig zu machen. Doch diese Annahme gilt keineswegs universal. Wir teilen sie weder mit früheren Gesellschaften noch mit gegenwärtigen Kulturen, in denen die Dinge lebendig, magisch und animiert (geblieben) sind, als hätten sie Lebenssubstanz, aus der heraus sie agieren könnten, womöglich Macht über uns gewinnend. Denn die Macht der Dinge war die längste Zeit der Geschichte herrschend, weil die Dinge leben, auf die ihnen eigentümliche Weise. Alles lebt, also auch die Dinge: so das Prinzip aller animistischen Kulturen. Kinder, die wie selbstverständlich mit toten Dingen umgehen, als seien sie Mitspieler ihres Agierens, sind eben – Kinder (so sagt es der aufgeklärte Vater, wenn er nicht gerade an einem Brot scheitert). Kinder haben jenen Schnitt noch nicht vollzogen, der die Welt in lebende und tote Objekte einteilt. Dabei gilt zweifellos: Die Magie ist selbst ein kultureller Mechanismus; aber darum ist sie nicht etwa nicht magisch. Immer schon musste die Magie der Dinge erhalten und erneuert werden, um nicht an Wirksamkeit und Bedeutung zu verlieren oder vergessen zu werden.

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6. M agie der M oderne – am B eispiel des A utos Das mag genügen, um von diesem teils negativen, teils instrumentalistischen Verständnis der Dinge nun Abstand zu nehmen und zu einer positiven Sicht dessen vorzustoßen, was als ›Magie der Dinge‹ in der Moderne verstanden werden kann. Magie bestimmt Marcel Mauss als »Begriff einer reinen Wirksamkeit, die gleichwohl eine materielle und lokalisierbare, zugleich aber spirituelle Substanz ist, die auf Distanz und dennoch durch direkte Verbindung, wenn nicht durch Berührung wirkt, beweglich und bewegend, ohne sich zu bewegen, unpersönlich und in persönliche Formen gekleidet, teilbar und kontinuierlich«27. Von dieser magischen Eigenaktivität ausgehend, schauen wir auf unsere Konsumgesellschaft: Es ist der Zauber der Diven und Stars, der Ikonen und Fetische, der Rituale und Kulte, der Talismane und Souvenirs, wovon Medien, Wirtschaft und Konsum durchdrungen sind – wovon also, wir übertreiben nicht, die ganze Gesellschaft in fiebrige Erregung versetzt wird. Alles, was auch nur sein will, muss auftreten können. Alles bedarf eines blow up, einer verführerischen Visibilität. Dieser Druck zur Performance, zu Sensation und Spektakel gilt für Dinge, Waren und Menschen in gleicher Weise. Das Erbe der Religionen wird geplündert, all die sakralen Techniken, wie man das Unsichtbare sichtbar, das Abstrakte sinnlich, das Begriffslose handgreiflich, das Abwesende präsent, das Bildlose anschaulich machen kann. Dafür hatte man die Darstellungsformen des Rituals und der Künste erfunden, aber auch die Magie der Dinge entwickelt. Die Kultobjekte des Konsums sind nicht weniger mit Wünschen und Phantasien aufgeladen als die Reliquien der Religionen. Die Moderne ist mit religiösen Energien erfüllt, sodass die soziale Synthesis keineswegs durch die Vernunft, sondern durch die Bindekräfte obskurer Objektbeziehungen (wie die Magie) vollzogen wird: Diese Einsicht wurde von Walter Benjamin vorbereitet, als er die gewagte Identifikation von Kapitalismus und Religion ausprobierte. Man kann behaupten, dass auch schon das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert der Dinge war. Die Anzahl der Dinge in den Haushalten nahm 27 | Mauss, Marcel: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, in: Ders.: Soziologie und Anthropologie in 2. Bdn., Frankfurt a. M.: Ullstein 1989, hier: Bd. 1, S. 150.

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außerordentlich zu. Die Kaufhäuser – wir sahen es bei Zola – präsentierten hunderttausende von Dingen, welche die Kunden in Bann schlugen.28 Der Konsum in den Städten führte zu einem enormen Anstieg der Produktion von Artefakten, aber auch von Verschleiß und Vermüllung. Die Menschen erweiterten ihre Ich-Grenzen auf immer mehr GegenstandsSphären. Niemals zuvor war die dingliche Umwelt vergleichbar dicht, mannigfaltig, verlockend, künstlich, faszinierend. Man sammelte, hantierte, besorgte, begehrte, stellte aus, verbrauchte, benutzte, kaufte und verkaufte, hortete und verschwendete, ordnete und klassifizierte, bewertete und schätzte Dinge in einer vorbildlosen Manie und Intensität. Für den urbanen Erfahrungsraum traten die ›natürlichen Dinge‹ ebenso zurück wie die Generationen überspannenden Wertobjekte in traditionaler Gesellschaft. Diese Verschiebung im Verhältnis der Menschen zu ihrer dinglichen Umwelt ist kulturgeschichtlich gar nicht zu überschätzen. Berlin Kurfürstendamm: In der BMW-Niederlassung wird zusammen mit dem »Art Forum« eine Party zelebriert. Ausgewählte Gäste aus Kultur, Kunst und Kapital. Eleganz der Karossen und Frauen. Diskrete Musik. Ansprachen. Gemälde an der Wand. Lebhafte Gespräche überall. Blicke, die beiläufig interessiert über Cocktailkleider, Autos und Werke gleiten. Auto als Kunst; Kunst als Kapital; Kapital als Aura; Aura, die sich über die Schönen und Reichen breitet: Auch Alain Prosts Renn-Ferrari hing schon wie ein Sakralobjekt an der Wand des Museum of Modern Art (MoMA) in New York. Wenn Autos im Leitmuseum der Moderne präsentiert werden, warum sollte Kunst nicht im Autosalon auftreten? Das Auto ist im 20. Jahrhundert einer der Könige im magischen Universum der Dinge. An ihm lässt sich ablesen, was, noch so schwach und unbedeutend, an allen Dingen des Konsums als ihre Agency ablesbar ist. Bei der Entwicklung vom Räderkarren bis zum ferrari-roten Boliden geht es nicht nur um ein technisches Gerät, das seine funktionale 28 | Vgl. Frei, Helmut: Tempel der Kauflust. Eine Geschichte der Warenhauskultur, Leipzig: Ed. Leipzig 1997; Sombart, Werner: »Das Warenhaus. Ein Gebilde des hochkapitalistischen Zeitalters«, in: Probleme des Warenhauses. Beiträge zur Geschichte und Erkenntnis des Warenhauses in Deutschland, Berlin: Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser e.V. 1928, S. 77-88; Lenz, Thomas: Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne, Bielefeld: transcript 2010; Lindemann, Uwe: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne, Köln/Wien: Böhlau 2015.

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Bestimmung längst überschritten hat und herrisch die Verwandlung des Naturraums in einen systemischen Verkehrsraum verlangt. Sondern das Ungeheure des Automobils sind seine kulturellen Metamorphosen. Schwerlich gibt es ein Artefakt, das so sehr sämtliche sozialen, ästhetischen und symbolischen Systeme durchdrungen sowie den Alltag, die Wünsche und die Träume belebt hat. Das Auto stellt vielleicht die einzige magische Mitte der Gesellschaft dar (die möglicherweise gegenwärtig vom Computer abgelöst wird), über alle staatlichen, religiösen und soziokulturellen Grenzen hinweg. Gäbe es Besucher von fremden Sternen, die uns erforschen wollten, sie wären gut beraten, mit dem Auto zu beginnen. Es ist das zentrale Kultobjekt der Moderne, in welchem sich der Geist des Kapitalismus materialisiert und die kulturellen Energien am sinnfälligsten synthetisiert werden. In diesem Sinn hellsichtig waren bereits die Manifeste des italienischen Futurismus. Enthusiastisch betrieben sie die Verkultung des Autos, des Flugzeugs und des Schnellzuges. Sie feierten den Dynamismus der Moderne. Die Kultur trat ins neue Zeitalter der Energien, Kräfte und Netzwerke, in denen Dinge wie Körper temporeich der Zirkulation und des Austauschs unterworfen wurden. Die Rhythmen der Städte, der Industrieanlagen und des Verkehrs sind die Signaturen dieser Mobilisierung. Nach Virilio ist der Mensch zum Passagier geworden, ein Nomade in den Nicht-Orten des Transports. Virilio spricht von der »Dromokratie«, durch die Menschen wie Fahrzeuge zu Projektilen werden, die den Raum durchbohren. Das ist Magie. Das Vorbeihuschen der Dinge ist ein Paradigma für die Auflösung der Materie in einen dromoskopischen Rausch, bei dem die Fenster des Gefährts zum »Bildschirm« geraten, auf den die Dinge projiziert werden. Das Fahrzeug wird zum »Projektorprojektil«, das die Dinglichkeit der Dinge entdifferenziert.29 Hellsichtig war, was Roland Barthes über die DS von Citroën schrieb. Den Gleichklang von DS und »La Déesse« (ID/Idée) nutzend, entdeckt Barthes das Auto als »das Äquivalent der großen gotischen Kathedralen«, ein »superlativisches Objekt«, das »vom Himmel« gefallen sei und 29 | Virilio, Paul: Rasender Stillstand, München: Carl Hanser 1992; Virilio, Paul: Revolution der Geschwindigkeit, Berlin: Merve 1993; Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, Berlin: Merve 1986; Virilio, Paul: Fahren, fahren, fahren... Berlin: Merve 1978; Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, Wien: Hanser 1989.

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nunmehr »von einem ganzen Volk benutzt wird«30. Ein Objekt, das »vom Himmel fällt«, ist ›acheiropoieton‹, nicht von Hand gemacht, also kein Artefakt, sondern göttlichen Ursprungs – so wie Ikonen. In Kultbildern ist das Göttliche realpräsent – und diese magische Gegenwart wird von Kopie zu Kopie übertragen und verbreitet sich über den Raum. Genau so, schreibt Barthes, verbreiten sich die Autos über die Welt, als »Bote(n) der Übernatur«. Man fährt in der DS eingehüllt von der Déesse wie früher die Gläubigen vom Schutzmantel der Madonna. Das automobile Versprechen verheißt eine halbwegs demokratische, nichtsdestoweniger religiöse, tief mit unseren Wünschen verbundene Partizipation an Größe und Potenz – sei’s der Geschwindigkeit, der Mobilität, der Freiheit, des Schutzes, des Genusses oder des Prestiges. Die DS, so schreibt Barthes, ist »ein Wendepunkt in der Mythologie des Automobils«, indem sie das Göttliche hineinzaubert in »die Bewegung der kleinbürgerlichen Beförderung«. Das Auto: Das ist die Erweiterung unseres Ich – ein »Leib-Gedinge«, wie Mauss, ein »Personen-Ding«, wie Godelier schreibt.31 Das ist Ich-Tuning in strahlender Vollendung; das ist Glanz und Grandiosität, die mit der kleinen Münze der Arbeit bezahlt werden. Das Auto wird von Ingenieuren entworfen, in Fabriken gebaut und ist dennoch »aus einer anderen Welt herabgestiegen«, so Barthes. Damit weist es jene Doppelstruktur auf, die alle magischen Objekte kennzeichnet: fabriziert, aber dennoch eigenaktiv, ein materielles Objekt, aber dennoch wunderbar und wundertätig, handgreiflich, aber dennoch voller Geheimnis, ein Anderes, aber dennoch ichhaft, Alter und Ego zugleich. All dies wurzelt im magischen Grund des Automobils. Es ist stammesgeschichtliches Erbe, dass Techniken der Bewegung mit Überlebensvorteilen prämiert werden. Die Wünsche zielen seit der frühen Menschheit auf Entlastung von der Mühsal körpergebundener Bewegung. Diese Wünsche sind die Pforte, durch welche die psychischen Energien einströmen und sich an technische Objekte knüpfen: Dadurch entsteht die Bindung seelischer Energien an Objekte. Die psychokinetische Energie, 30 | Barthes, Roland: Der neue Citroën, in: Ders.: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964, S. 76-78. 31 | Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie. Band 2: Gabentausch – Todesvorstellung – Körpertechniken, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 82/3; Godelier, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München: C.H. Beck 1999, S. 241.

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die einem ganz anderen System angehört als die Welt der Dinge, verkoppelt sich mit Geräten der realräumlichen Bewegung. Dies treibt die automobile Lust an. Unabhängig davon, wie sehr das Auto real behindert ist, dient es der Ich-Erweiterung und Umrissvergrößerung. Das Auto ist ein Attraktor des Begehrens, das sich in ihm verkörpert, im wahrsten Sinn Fahrt aufnimmt, Direktion erhält und sein Vermögen vergrößert. Das macht das Automobil zu einem magischen Ding.

7. F unk tion und F orm Es gehört zur anthropologischen Ausstattung, dass die Artefakte, mit denen wir unser Leben erhalten, niemals nur in ihrer Funktionalität, ihrem ›Zeug-Sein‹ aufgehen. Alle Dinge, die wir als Mittel in Handlungen einbauen, haben zwar eine funktionale Bestimmung. Zugleich aber – und das gilt schon für steinzeitliche Geräte – werden sie ästhetisch gestaltet. Sie werden mit Gefühlen besetzt und mit Bedeutung versehen. Das heißt: Artefakte sind sowohl in einer techno-pragmatischen Matrix definiert wie in der symbolischen Matrix semiotisiert. Man kann sogar sagen, dass es hinsichtlich eines einmal erfundenen Artefakts zwar noch eine Geschichte seiner Perfektionierung gibt, doch die basale Bestimmung des Artefakts ändert sich kaum. Hingegen wächst den Artefakten ein vielfältiges Bedeutungsfeld zu. In diesem gibt es Schwankungen und Konjunkturen in der Belehnung mit Bedeutung und Prestige. Ein Kleid mag im Mittelalter wie heute dieselbe Funktion haben. Doch sozialdifferentiell betrachtet liegen schon im Mittelalter zwischen dem Kleid einer Bäuerin und demjenigen einer Hofdame mehr als nur die von Bourdieu so benannten »feinen Unterschiede«, nämlich ganze Welten. ›Ein Kleid ist ein Kleid ist ein Kleid...‹: Dies gilt gerade nicht unter dem Aspekt der sozial diversifizierenden Kathexis der Artefakte. Magische Werte haben weder mit ›form follows function‹ noch mit ›form follows failure‹ zu tun, auch nicht mit der »evolution of useful things«32 . Man hat vielmehr bei Objekten, wie Autos und Mode, auf die kulturelle Codierung, das ästhetische Design und die fetischistischen Erlebniswerte zu achten. Das heißt: Es gibt keine Dinge, die nur Gebrauchs32  |  Petroski, Henry: Messer, Gabel, Reißverschluß. Die Evolution der Gebrauchsgegenstände, Basel/Boston/Stuttgart: Birkhäuser 1994.

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dinge wären. Alle Objekte haben an einer kulturellen Mehrdimensionalität teil. Es ist falsch, die Funktionalität eines Objekts als ›Substanz‹ und die ›Semiotisierung‹ als ›Akzidenz‹ zu verstehen. Ein Auto ist stets auch das Medium von Ästhetik, Prestige, Leidenschaften, von Distinktionen und Ausstrahlungen, es ist Schmuck, Ich-Ausstattung, Requisit, Accessoire, Schutzraum, Waffe, Geliebte, Gefährte, kurz: eine komplexe soziokulturelle Figuration. Man darf also technische Funktionalität und semiotische Aufladung einander nicht entgegensetzen. Die Moderne besteht ja darin, dass sie die funktionalistische Systemlogik ausbreitet und zugleich eine Archaisierung von Mentalitäten betreibt. Heute sind Autos von fulminanter technischer Intelligenz; und zugleich sind sie die Götzen unserer Wünsche. Sie sind nichts als Maschinen, und doch die Requisiten auf den Bühnen unserer Auftritte. Die durch Design mögliche Fusion des Gebrauchswertes mit dem Ausstellungswert von Objekten steigert den Tauschwert, der auf dem Markt erzielt werden kann. Das kritische Narrativ dazu wird von Marx erzählt: Das Theater der Waren sei nichts als der falsche Schein eines Fetischismus, der den Gebrauchswert der Dinge überstrahle.33 Die Ware, vom Nimbus der Begierden umspielt, ist das goldene Kalb, um das die Gesellschaft tanzt. Unser goldenes Kalb ist das Auto, zelebriert auf Auto-Salons, Oldtimer-Messen, in Rennen und Rallyes. Hier werden die Leitbilder produziert für den alltäglichen Auto-Fetischismus auf den Straßen. Kapitalismus ist Götzendienst. Im Konsum, so Marx, sind wir alle Fetischdiener. Dies wird nirgends deutlicher als am Automobil. Das Auto ist der quasi-demokratische Nachfolger des Luxus in den alten Gesellschaften. Durch ›Trickle-down-Effekte‹ steigt es aus den Höhen des Luxus in die Niederungen des Massenkonsums und verbreitet sich epidemisch: Doch sein Prestige hängt nach wie vor an den Karossen der Premium-Klasse und Renn-Boliden. An deren Spektakel nimmt die Masse der Autokäufer nur imaginär teil. Gerade hier funktioniert der magische Mechanismus: Bilder und TV-Übertragungen simulieren die Präsenz von Wunsch-Objekten, die zu Fetischen von Opel-Fahrern werden. Die Magie des Autos verbreitet den Schein, als könnten wir Konsumenten das automobile Versprechen kaufen. Wie die Haute Couture gegenüber dem Prêt-à-porter die Klassenunterschiede ebenso aufrechterhält 33 | Vgl. H. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 307-330.

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wie sie dem Massenkonsum die ersehnten Leitbilder vermittelt, so statuieren die Luxus-Limousinen den Klassenunterschied wie sie zugleich das Begehren unterhalten, das auf die souveräne Automobilität zielt. Die Fahrer von Massen-Autos benötigen die Celebrities unter den Autos. Wir benötigen die Atmosphäre des großen Geldes, der potenten Männlichkeit und der Liaisons Dangereuses, der schillernden Oberflächen und der exotischen velocità. All die Film-Szenen, wenn die Schönen und die Reichen mit lässiger Selbstverständlichkeit in ihren eleganten Limousinen vor dem Luxus-Hotel vorfahren: Sie sind die mediale Form, die dem gesamten Automobil-Wesen ein Gesicht gibt. Diese wunderbaren Autos, diese selbstsicheren Menschen: Ihr Auftreten schenkt uns, der Masse, die poetische Figur, die schönere Stellvertretung, die charakteristischen Personifikationen. Das ist Magie. Die toten Automobile werden animiert, erhalten Stimme und Gesicht, Lebenskraft und Präsenz; sie vertreten und figurieren die Wünsche und Sehnsüchte, die Phantasien und Lüste des Publikums, das zugleich Auto-Kunde ist, kurz, sie sind die magischen Objekte der automobilen Kultur.

L iter atur Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten technischen Revolution, München: C. H. Beck 1956. Barthes, Roland: Der neue Citroën, in: Ders.: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1970 (englisch zuerst 1966). Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Böhme, Hartmut/Slominski, Beate (Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin, München: Fink 2013. Bosch, Aida: Konsum und Exklusion. Eine Kultursoziologie der Dinge, Bielefeld: transkript 2010. Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a. M.: Fischer 1994. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011.

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Descola, Philippe: Die Ökologie der Anderen, Berlin: Matthes & Seitz 2014. Frei, Helmut: Tempel der Kauflust. Eine Geschichte der Warenhauskultur, Leipzig: Ed. Leipzig 1997. Gamman, Lorraine/Makinen, Merja: Female Fetishism. A New Look, London: Lawrence & Wishart 1994. Godelier, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München: C.H. Beck 1999. Heibach, Christiane/Rohde, Carsten (Hg.): Ästhetik der Materialität, München: Fink 2014. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert und mit einem ausführlichen Register versehen von Friedrich Bassenge. 2 Bde. 3. Aufl., Berlin/Weimar: Auf bau 1976. Horn, Eva: Katastrophe als Zukunft, Frankfurt a. M.: Fischer 2014. Kästner, Erhart: Der Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen, Frankfurt a. M.: Insel 1973. Kafka, Franz: Aus dem »Konvolut 1920«, in: Ders.: Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe. Jürgen Born u.a. (Hg.), hier: Nachgelassene Schriften und Fragmente Bd. II., Jost Schillemeit (Hg.), Frankfurt a. M.: Fischer 1992. Kalthoff, Herbert/Cress, Torsten/Röhl, Tobias (Hg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, München: Fink 2014. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Ders.: Werkausgabe, Wilhelm Weischdedel (Hg.), Bd.V: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Frankfurt a. M. 1977. B 77, B 56. Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 2. Hauptstück, Erklärung 4. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie 1994. Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel, Berlin: Akademie 1996. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014. Lenz, Thomas: Konsum und Modernisierung. Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne, Bielefeld: transcript 2010.

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Die Allgegenwärtigkeit von digitalen Codes und abstrakten Algorithmen lässt vermuten, dass die Grenzen einer mechanischen und physischen Umwelt hin zu einem rein immateriellen Raum, beinahe überwunden sind. Verhalten und Eigenschaften hybrider Artefakte scheinen immer weniger an die stoffliche Form gebunden, sondern werden vor allem durch immaterielle Software und der darin eingeschriebenen Logik für Ein- und Ausgaberelationen bestimmt. Dieser Annahme steht die Überzeugung gegenüber, dass sich uns die Dinge erst über ihre physische Materialität wieder entgegenstellen und wir uns an ihnen stoßen können. Dabei werden sie in unser Bewusstsein gerückt und lassen einen erfahrbaren Handlungsraum zu. Wir erleben gegenwärtig Artefakte, die durch ihr Verhalten und ihre Materialeigenschaften der rein immateriellen Welt entfliehen und zu handelnden Dingen in einer physischen Umwelt werden. Neben dem Verhalten (Software) ist immer auch die stoffliche Erscheinung der Dinge (Hardware) zu gestalten.1 Wie verhalten sich die Dinge uns und ihrer Umwelt gegenüber? In welchem Maße sind nicht nur Software und Hardware, sondern auch der Handlungsrahmen und Aktionsraum gestaltbar, vor allem im Hinblick auf nicht-lineares und eigenwilliges Verhalten nicht-menschlicher Akteure? Der Computer als programmierbare Maschine steht mit seinen algorithmischen Lösungsverfahren in direkter Tradition eines rationalistischen und mechanistischen Weltbildes. Sobald die diskreten Algorithmen allerdings die Welt des Immateriellen verlassen und dem Rauschen einer stofflichen Umwelt 1  |  Vgl. Burnham, Jack: »Notes on Art and Information Processing«, in: Jack Burnham/Robert Jakob (Hg.), Software. Information Technology. Its new Meaning for Art, Jewish Museum: New York 1970, S. 11.

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ausgesetzt sind, gilt es den neuen Eigensinn der Dinge zu entdecken und mögliche Potenziale für den Gestaltungsprozess aufzuzeigen.

U niverselles V erhalten durch P rogr ammierung Eine erste Annäherung an das Verhalten der Dinge erfolgt über den Begriff der ›Programmierbarkeit‹. Um beurteilen zu können, ob den Dingen in unserer Umwelt Handlungsfähigkeit zugeschrieben werden kann, muss selbstverständlich der Begriff des Handelns vorerst definiert werden. Handeln oder Mithandeln wurde unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen – auch schon auf menschliches Handeln bezogen – sehr unterschiedlich verstanden.2 Und so erstaunt es nicht, dass auch die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Dinge, historisch je nach Weltbild, unterschiedlich beantwortet wurde. Die Vorstellung über die hierarchischen Differenzen zwischen den Kommunikationspartnern Mensch und Umwelt variierte aus philosophischer Perspektive beträchtlich und mündete schließlich überwiegend in einem rationalistischen Weltbild und in der anthropozentrischen Vorstellung völliger Naturbeherrschung. In unserem Alltag begegnen wir vermehrt technischen Apparaten, die nicht nur in der abstrakten und in sich geschlossenen Welt der binären Zahlen operieren, sondern die sich uns auch physisch mitteilen und weitere Handlungen provozieren. Abbildung 1 zeigt das Bild einer Registrierkasse, welche während eines Einkaufes in einem Ladenlokal in Bregenz/Österreich am Bodensee fotografiert wurde. Der Bildschirm begrüßt mit der Textnachricht »Gruess Gott nicht gefunden«. Hierbei wird offensichtlich, dass sich technische Artefakte vermehrt über eine (be)greif bare Sprachform äußern, welche zuvor vor allem menschlichen Akteuren zugeschrieben wurde. Die rein immateriellen Zustände digita2 | Rammert und Schulz-Schaeffer sprechen in diesem Zusammenhang beim menschlichen Akteur sogar von einer kulturellen »Erfindung«, Vgl. Rammert, Werner/Schulz-Schaeffer, Ingo: »Technik und Handeln: Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Artefakte verteilt«, in: Werner Rammert, Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2002, S. 50 ff.

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ler Systeme sind abstrakter Natur und für den Menschen kaum verständlich. Es braucht immer eine Form der Dekodierung, damit sich die Dinge uns mitteilen können. Neben der Übersetzungsleistung ist meist ein physischer Informationsträger erforderlich – im Falle der Registrierkasse eine LED Matrix – damit eine Information übertragbar und für Menschen erst wahrnehmbar wird. In Verbindung mit einer offensichtlichen Fehlfunktion im Warensystem zeigt der Gruß auf, dass wir es immer noch mit einem nicht-menschlichen Akteur zu tun haben. Erst da die Registrierkasse ihren Dienst versagt, wird die technische Natur des Artefakts wieder offensichtlich. Doch was ist die Natur dieses Dings? Bei der Registrierkasse handelt es sich um eine klassische Rechenmaschine mit dem Ziel der Berechenbarkeit. Für das System beschreibbare Eingaben werden zu Ausgaben und konkreten Ergebnissen prozessiert.

Abbildung 1: Registrierkasse © Andreas Muxel Die Registrierkasse als Rechenmaschine ist allerdings nicht nur eine reine »Additionsmaschine«3, Subtraktions- oder Multiplikationsmaschine, sondern verbürgt universelle Funktionalität, die über die Programmierbarkeit der Maschine gewährleistet wird. Indem eine solche universelle Maschine mit einem entsprechenden Programm versorgt wird, kann sie dazu gebracht werden, das Verhalten jeder beliebigen speziellen Maschine (z.B. Additionsmaschine) zu imitieren.4 Trogemann und Viehoff spre3 | Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 88. 4 | Vgl. Penrose, Roger: Computerdenken. Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg: Spektrum Akademische Verlag 2009, S. 48 ff.


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chen von Programmierbarkeit wenn »wir das konkrete Verhalten der Maschine ändern können, ohne nochmals in die innere Struktur der Maschine einzugreifen, d.h. ohne nochmals ihren Konstruktionsplan zu ändern«5. Dieses Prinzip wird vor allem im Webstuhl von Jacquard um 1800 deutlich.6 Die Auslagerung von Steueranweisungen auf Lochkarten lässt die Produktion verschiedener Stoffmuster mit der gleichen Maschine zu, ohne in die mechanische Konstruktion des Webstuhls eingreifen zu müssen. Durch Abstraktion und Formalisierung der Handlungsanweisungen auf Lochkarten kann unterschiedliches Verhalten in die Maschine eingeschrieben werden. Der abstrakte Steuercode wird zunächst von dem zu bearbeitenden Material entkoppelt und offenbart sich wieder mit der Ausführung durch die Maschine im gewobenen Textil. Das Beispiel zeigt auch, dass erst eine Trennung von Hardware und Software eine Programmierbarkeit von code-gesteuerten Maschinen ermöglicht. Das Verhalten der Maschine ist hier nicht nur durch die materielle Konstruktion, sondern auch durch die immaterielle Software bestimmt. So sind vor allem die Ein- und Ausgaberelationen und die internen Zustandsübergänge einer Maschine für das Verhalten entscheidend. Die physische Maschine als solche verliert immer mehr ihren eigentümlichen Charakter zu Gunsten ihrer universellen Funktionalität. Diese Entwicklung zeigt sich auch am Beispiel moderner Mobiltelefone. Auch wenn hier Produkt-serien regelmäßig eine Weiterentwicklung über schnellere Prozessoren, höhere Bildschirmauflösung und andere Features erfahren, ist es vor allem die Vielfalt und Updatefähigkeit der Programme, oder auch Apps, die die ursprüngliche Funktionalität der reinen Telekommunikation fortlaufend erweitert. Zudem erleben wir, dass diese technischen Artefakte immer weniger als Rechenmaschinen – was sie ja eigentlich immer noch sind – wahrgenommen werden und dagegen ähnlich wie menschliche Partner in Handlungen des alltäglichen Lebens eingebunden sind. War in der Vergangenheit der Aufforderungscharakter und die Bedienung von Gebrauchsgegenständen vor allem durch die stoffliche Form gegeben, beruht bei diesen programmierbaren Rechenmaschinen die Funktion und 5 | Trogemann, Georg/Viehoff, Jochen: Code@Art. Eine elementare Einführung in die Programmierung als künstlerische Praktik, Wien: Springer-Verlag 2005, S. 73.
 6  | Vgl. Schneider, Birgit: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, S 35 ff.

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der Nutzen, neben der taktilen und wahrnehmbaren Form, nun auch auf inneren und vorerst immateriellen Prozessen. Die Programmierbarkeit zeigt gerade dort Entfaltungsspielräume, wo die physische Beschränktheit der Materialität an ihre Grenzen stößt. Aus Perspektive der Interaktionsgestaltung stellt sich nun die Frage, wie die Kommunikation mit diesen Rechenmaschinen gestaltet werden kann, insbesondere wenn diese immer mehr Einzug in unseren Alltag halten. Wie am Beispiel der Registrierkasse gezeigt wurde, sprechen die Maschinen gegenwärtig vor allem über codierte Textnachrichten auf Bildschirmen zu uns. Dabei gilt es zu hinterfragen, inwiefern diese Codierungsformen weiterhin dienlich für einen verständlichen Dialog zwischen Mensch und handelndem Ding sein können. Auch wenn technische Systeme letztlich auf rationale Weise funktionieren, sind Menschen emotionale Wesen und die Beziehungen zwischen Mensch und Maschine durchaus auch emotional. Was sind also mögliche weitere Kommunikationsformen?

K ommunik ation durch B e wegung Im Vorspann des von den Pixar Animation Studios produzierten Computeranimationsfilm »Toy Story 2« 7 erzählt der Kurzfilm »Luxo Jr.« 8 wie zwei Schreibtischlampen ausschließlich über die mechanische Bewegung ihrer Konstruktion einen Dialog eingehen. Neben der stofflichen Erscheinung ist es hier vor allem das Bewegungsverhalten der Lampen, das dem Betrachter den Gemütszustand der beiden Akteure vermittelt. In Bezug auf die Interaktionsgestaltung bei Gebrauchsgegenständen wird dieser Form der non-verbalen und impliziten Kommunikation aber bisher wenig Beachtung geschenkt. Verstehen wir Interaktion als eine Form von Dialog, so ist Verständnis über das Befinden unseres Gegenübers, also Empathie, nicht nur wichtig für ein gutes Gespräch, sondern ebenso für eine sinnvolle Interaktion. Mit Blick auf nicht-menschliche Kommunikationspartner in unserer natürlichen Umgebung wird deutlich, dass Bewegung, Gestik und Körperhaltung schon immer als Information und Indikator für den Seelen7 | TOY STORY 2 (USA 1999, R: John Lasseter) 8 | LUXO JR. (USA 1986, R: John Lasseter)

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zustand fremder Wesen galten. So nehmen wir den Buckel und die sich sträubenden Haare einer Katze sofort als Zeichen für Abwehr wahr. Wenn wir allerdings bereits Bekanntes aus der Natur als Vorbild für die Gestaltung nutzen, sollte es weniger darum gehen, direkt zu kopieren und zu imitieren, sondern darum, die Grundprinzipien der Bewegung herauszuarbeiten und zu abstrahieren, um die Übertragung in einen alternativen Kontext überhaupt erst zu ermöglichen

Abbildung 2: The Life of an overtaxed Surface, 2013. © Till Maria Jürgens und Vitus Schuhwerk Bei der Arbeit »The Life of an overtaxed surface«9 von Till Maria Jürgens und Vitus Schuhwerk handelt es sich um eine reaktive Metallfolie, die sich bei menschlicher Berührung verformt und sich im weiteren Verlauf der Interaktion sogar verweigert. Das Bewegungsverhalten des Artefakts kommuniziert dem Betrachter einen Zustand der »Überforderung«. Erst über die programmierbare Sensor-Aktortechnik – einen Arduino Mikrocontroller, einen kapazitiven Sensor und eine in einer Box versteckten Mechanik mit Schnurwicklung und Servomotoren – wird dem Ding Leben eingehaucht. Bei zahlreichen Ausstellungen ließ sich beobachten, dass Besucher sehr behutsam in eine Interaktion mit dem Artefakt treten und sich mit jeder Berührung verstärkt für den Zustand des Dings verantwortlich fühlen. Ist das Verhalten bei programmierbaren Maschinen vor allem durch immaterielle Software bestimmt, werden bei der reaktiven Folie die Verhaltensregeln und Zustände durch eine Programmierbarkeit auf mehreren Ebenen definiert. So werden die Steueranweisungen für die Servomotoren zwar im Code auf dem Mikrocontroller festgelegt, 9 | Jürgens, Till Maria/Schuhwerk, Vitus: The Life of an overtaxed surface, 2013, http://www.overtaxedsurface.de vom 23.11.2015.

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jedoch wird das Bewegungsverhalten auch durch die materialimmanenten Eigenschaften der Folie und der dazugehörigen Mechanik bestimmt. Trogemann spricht in »Code und Material«10 auch von einem neuen Verbundwerkstoff, der immaterielle Algorithmen mit den materiellen Schnittstellen zu »informiertem Material«11 vereint. Er beschreibt diese Fusion als den Funktionalismus der Informatik: »Der konkrete Code bestimmt die funktionalen Zustände der Maschine. Da diese funktionalen Zustände in einem materiellen System realisiert sind und auf einen bestimmten Input mit einem bestimmten Output reagieren, schreiben sie sich im Material auf der Basis des Codes selbst fort.«12

Eine Änderung im Code hat also immer auch Auswirkungen auf das Verhalten des Materials und umgekehrt. Wir erleben eine Auflösung des bisher praktizierten Dualismus von Hardware und Software. Das Verhalten dieser Dinge findet im »Dazwischen« statt. Wir können auch von »Hybriden Dingen« sprechen, im Sinne einer Vermischung und sich gegenseitig Bedingendem. Das Verhalten der Dinge wird sowohl durch immaterielle Software als auch durch die stoffliche Materialität bestimmt. Sie agieren zwischen der Welt der Zahlen und der Welt des Materiellen. Dadurch stehen sie auch in einem ständigen Wirkverhältnis zwischen abstrakten Algorithmen und ihrer physischen Umwelt. »Analog Layer«13 von Jon McTaggart ist ein weiteres Beispiel für ein solch hybrides Ding. Die Konzeptstudie eines Staubsaugerroboters hinterfragt gegenwärtige Kommunikationsformen zwischen Mensch und Maschine. Ein Hausroboter besitzt eine Vielzahl von möglichen Systemzuständen. So gibt es den Zustand der ersten Inbetriebnahme, des Staubsaugens, aber auch für den menschlichen Besitzer wichtige Aufforderungen wie »Staubsaugerbeutel voll« oder »Bitte Akku laden«. In der Arbeit entstand ein erster Prototyp mit dem Ziel, dem Benutzer ausschließlich 10 | Trogemann, Georg: »Code und Material«, in: Georg Trogemann (Hg.), Code und Material. Exkursionen ins Undingliche, Wien: Springer-Verlag 2010. 11 | Ebd., S. 20. 12 | Ebd., S. 20. 13  | McTaggart, Jon: Analog Layer, 2013, http://www.jonmct.com/#projects vom 23.11.2015.

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Abbildung 3: Analog Layer, 2013. © John McTaggart über Bewegungsverhalten Zustände zu kommunizieren. Bei »Analog Layer« wird die digitale Technik durch eine gefaltete Papiermembran analog erweitert. Verformungen und Bewegungen der Membran dienen als Schnittstelle und Kommunikator zwischen Mensch und Artefakt. Wie der Körper eines Menschen, gibt die Maschine physisch zu erkennen, was sie gerade tut oder was ihr fehlt. Dabei liegt der Fokus weniger auf der konventionellen Funktionalität des Staubsaugerroboters, sondern vielmehr auf der möglichen Übersetzbarkeit diskreter Zustände auf analoge Bewegungsformen zwecks Informationsübermittlung. Der Handlungsraum zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Akteur ist somit sowohl durch die Software, als auch durch die stoffliche Erscheinung des Dings bestimmt. Ausgehend von dem Grundverständnis, dass Animation Dingen Leben einhaucht, handelt es sich hier um eine Gestaltungspraxis, die physisch erfahrbare Bewegung zwischen codierter Form und physischer Umwelt erschafft. Ein weiteres Beispiel für diese Gestaltungspraxis ist die Arbeit »Binairy Talk«14 von Niklas Ißelburg und Jakob Kilian. Hier werden unsichtbare, immaterielle Prozesse der Nachrichtenübertragung zwischen digitalen Systemen sichtbar und erlebbar gemacht. Die Arbeit bezieht sich auf die Übersetzung, Verarbeitung und Kommunikation von Informationen auf Basis binärer und maschinenlesbarer Codes. Bereits Gottfried W. Leibniz stellte fest, dass alles, was mit dem geläufigen Alphabet und dem Dezi-

14 | Ißelburg, Niklas/Kilian, Jakob: Binairy Talk, 2014, http://binairytalk.niklasisselburg.com vom 23.11.2015.

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malsystem beschreibbar ist, auch binär konstruiert werden kann.15 Einsen und Nullen sind also keine Erfindungen des Computerzeitalters, sondern haben ihren Ursprung schon sehr viel früher und folgen einem Verständnis der logisch-formalen Beschreibbarkeit von Zuständen. Leibniz erkannte auch, dass eine Formalisierung auf zwei Zustände eine einfache maschinelle Verarbeitung von Zahlen zulassen würde. Die tatsächliche Überführung des binären Prinzips in konkrete Rechen- und Kommunikationsmaschinen sollte aber noch einige Zeit dauern. So wird heute zum Beispiel der ASCII Text »Hello« in der maschinellen Bearbeitung durch den Computer am Ende in die binäre Zeichenkette »01101000 01100101 01101100 01101100 01101111« übersetzt. In der Arbeit »Binairy Talk« kann der Benutzer Textnachrichten auf einer ›Sendemaschine‹ verfassen, woraufhin eine eigens für die Anwendung programmierte Software Buchstaben des Alphabets in binäre Zeichenketten von Einsen und Nullen übersetzt. Im nächsten Schritt wird dieser abstrakte Code in Signalmuster aus analogen Ringen aus Rauch übersetzt, die über eine Konstruktion aus Nebelmaschine und Lautsprecherbox durch den physischen Raum geschickt werden. Eine ›Empfängermaschine‹ auf der Gegenseite interpretiert und entschlüsselt das Muster der Rauchzeichen und stellt die Nachricht wieder als alphabetische Zeichenkette auf einem Bildschirm dar. Neben der bewussten Entschleunigung der Nachrichtenübertragung, ist es vor allem die Materialisierung abstrakter binärer Codes, die dem Betrachter Unsichtbares wieder sichtbar macht.

Abbildung 4: Binairy Talk, 2014. © Niklas Ißelburg und Jakob Kilian 15  | Vgl. Coy, Wolfgang: »Analog/Digital«, in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.), Hyperkult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien. Analog/Digital, Bielefeld: transcript Verlag 2005, S. 19.

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E igensinn der D inge und progr ammiertes M aterial Neben dieser Sichtbarmachung immaterieller Prozesse zeigt die Arbeit »Binairy Talk« ein weiteres Merkmal bei der Gestaltung hybrider Dinge. Zunächst scheint es, dass die beiden Autoren der Arbeit bei den binären Zeichenketten noch absolute Kontrolle über die Datenverarbeitung im digitalen System zuschreiben. Sobald die diskreten Zustände aber in analoge Rauchringe übersetzt werden, sind sie dem Rauschen einer stofflichen Welt ausgesetzt und ein Kontrollverlust findet statt. Zwischen ›Sendemaschine‹ und ›Empfängermaschine‹ gibt es immer wieder Schwankungen, Zeichen gehen verloren oder werden auf der Gegenseite falsch interpretiert. Experimentelle Arbeiten wie »Binairy Talk« zeigen somit auf, dass wir in der analogen Welt nie Kontrolle über alle Parameter erhalten können. Vielmehr müssen wir den Eigensinn und den Widerstand der physischen Umwelt auch akzeptieren. Für den Gestaltungsprozess gilt es dabei, mögliche Potenziale des unberechenbaren, analogen Materials zu entdecken und zuzulassen. Dieser Aufgabe widmete sich das Seminar »Material als Akteur – Vom Leben der Stoffe«16 an der Köln International School of Design. Ausgangspunkt der Lehrveranstaltung war die Fragestellung, in welchem Verhältnis abstrakte Algorithmen und digitale Codes zur materiellen Welt stehen und wie sie stofflich gefasst sind. Das Material sollte hier nicht nur als passives Element zur Umsetzung von Gestaltungsstrategien gesehen werden, sondern selbst komplexe Strukturen entwickeln, die in einem wechselseitigen Wirkverhältnis zur Umwelt und zu möglichen weiteren Akteuren stehen. Vermeintlich klare Unterscheidungen zwischen synthetisch und organisch, mensch- und naturgemacht werden aufgelöst. Diesem Stoffverständnis folgten die eigenen Beobachtungen und Materialexperimente der Studierenden. Im Fokus von »Material als Akteur« standen analoge wie digitale Materialprozesse, die sich in physischen, meist dynamischen Objekten und Anordnungen manifestieren. Entwickelt wurden etwa eine Lautsprecher-Apparatur, die Soundfrequenzen in Muster aus Eisenpulver transformiert; eine Zuckerlampe, die sich bei Aktivität selbst auflöst; feuchte Reispapierflächen, die bei Trocknung eigenständig stabile

16 | Material als Akteur, Köln International School of Design, 2014, http://kisd. de/materialakteur/ vom 23.11.2015.

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Faltkuppeln bilden und selbstgezüchtete Kombuchapilze, aus denen sich hautartige Textilien erzeugen lassen.

Abbildung 5: Materialexperimente »Material als Akteur«, 2014. © Andreas Muxel Das Experimentieren und das eigene Erfahren war für »Material als Akteur« ein wichtiger Teil im Gestaltungsprozess. Damit griff das Seminar einen Leitgedanken Josef Albers auf, den dieser in seiner Lehre am Bauhaus verfolgte: »erfindendes bauen und entdeckendes aufmerken werden entfaltet – mindestens am anfang – durch ungestörtes, unbeeinflusstes, also vorurteilsfreies probieren«17. Und tatsächlich ließen sich die Studierenden darauf ein, dass es gerade das vermeintliche Fehlverhalten war, das die eigentlichen Potenziale eines Materials aufzeigte. So betrug der Wachstumsprozess von Kombuchapilzen, den die beiden Studierenden Alexa Wernery und Marian Müsch begleiteten, zu Beginn der Versuchsanordnungen noch mehrere Wochen.18 Beim Einfärben der Pilze mit Roter Bete, kam es zu unerwarteten Ergebnissen: Die Wachstumszeit 17 | Albers, Josef: »Werklicher Formunterricht«, in: Bauhaus Nr. 2/3 (1928), S. 3. 18 | Müsch, Marian/Wernery, Alexa: Second Skin, 2015, http://kisd.de/materialakteur/arbeiten/second-skin/ vom 23.11.2015.

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der Pilze wurde um 50% beschleunigt. Vermutlich waren es optimierte Nährwerte, wichtige Mineralien und Vitamine der Roten Beete, die dieses beschleunigte Wachstum förderten. Dieser Eigensinn des Materials wurde erst über vorurteilsfreies Probieren entdeckt. Die im selben Seminar entstandene Arbeit »Self Assembly Print«19 von David Hoffmann und Marcel Oelschläger verwendet transparente Plastikfolien, deren aufgedrucktes Muster unter einer Wärmelampe ein bestimmtes Bewegungsverhalten und Verformungen im Material hervorruft. Das visuelle Muster wird zum Code für das physische Materialverhalten. Die Arbeit bezieht sich auf vorangegangene Materialexperimente des Self-Assembly Lab20 am Massachusetts Institute of Technology. So spricht das Self-Assembly Lab davon, dass wir heute vor allem Computer und Maschinen programmieren, morgen aber schon das Material selbst: »If today we program computers and machines, tomorrow we will program matter itself.«21 So zeigen erste Versuchsauf bauten, dass informationsverarbeitende Systeme, die zuvor auf komplexer Sensor- und Aktortechnologie beruhten, nun auch über hybride Materialsysteme und deren immanenten Eigenschaften bewerkstelligt werden können: »We can now sense, compute, and actuate with materials alone, just as we could with software and hardware platforms previously.« 22 Hier könnte eine ›Programmierbarkeit von Material‹ erneut als anthropozentrische Machtausübung und Naturbeherrschung verstanden werden und somit die rationale Denkweise eines mechanistischen Weltbildes ein weiteres Mal bestärkt werden. Mit Blick auf die in diesem Beitrag vorgestellten Projekte, sind es allerdings gerade die Potenziale des ›Dazwischen‹, des nicht zur Gänze formal ›Beschreibbaren‹ und ›Beherrschbaren‹ die im Gestaltungsprozess weitere Ansätze liefern. Wie kann Hardware und Software sprichwörtlich miteinander ›verwoben‹ werden, welche Zwischenzustände werden hervorgerufen und auf welche Weise wird auch nicht berechenbares Verhalten in der Gestaltung zugelassen?

19 | Hoffmann, David/Oelschläger Marcel: Self Assembly Print, https://vimeo. com/100941822 vom 23.11.2015. 20 | Self-Assembly Lab, http://www.selfassemblylab.net vom 23.11.2015. 21 | Active Matter Summit. A conference organized by The Self-Assembly Lab, 2015, http://www.selfassemblylab.net vom 23.11.2015. 22 | Ebd.

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Abbildung 6: Interaktionsformen »Meta Texere«, 2015. © Alice Rzezonka Ausgehend von einem erweiterten Materialverständnis zwischen digitalen Codes und materieller Welt entwickelte Alice Rzezonka in ihrer Abschlussarbeit »Meta Texere«23 ein programmierbares Textil. Die Titelwahl der Arbeit setzt sich aus der griechischen Vorsilbe »meta«, die das Dazwischen, das sich im Wechselspiel Befindliche ausdrückt und dem lateinischen Verb »texere«, das in erster Ebene Weben, Flechten und Wirken bedeutet. Gemeint ist damit vor allem das Verwobene, sich gegenseitig Beeinflussende. War bei der ›überforderten‹ Folie von Jürgens und Schuhwerk die Sensor-Aktortechnik noch in eine Box unter dem Artefakt ausgelagert, so ist sie hier integraler Bestandteil des Textils. Mithilfe von Formgedächtnislegierungen, die unter elektrischer Spannung zuvor festgelegte Zustände einnehmen, ist es möglich, das Textil in bestimmte Formen zu bringen. Gleichzeitig sind Biegesensoren integriert, die auf Druck von außen, aber auch auf Faltungen und Biegungen im Material selbst reagieren. In ihrer Arbeit bezieht sich Rzezonka auf den Begriff der »Offenen Objekte« von Lorenz Engell und Bernhard Siegert. Offene 23 | Rzezonka, Alice: Meta Texere, 2015, https://vimeo.com/131297282 vom 23.11.2015.

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Objekte »befinden sich aber auch als physische Objekte im Zustand des noch Unentschiedenen. Zunächst oft rätselhaft und ungreif bar, bilden sie ihren Status erst allmählich heraus, indem sie Entscheidungen hervorrufen und Positionierungen einfordern«24. Engell und Siegert verstehen offene Objekte als Alternative zur geschlossenen Blackbox. Setzten wir dies in Bezug zur programmierbaren Maschine – die ja auch eine Blackbox darstellt – stellt sich die Frage der Handlungsfähigkeit abstrakter Algorithmen auf die stoffliche Welt. Erst durch physische Schnittstellen werden offene Objekte anschluss- und handlungsfähig gegenüber anderen Akteuren. Während die Blackbox das Handlungsnetzwerk, in das sie eingespannt ist, im Verborgenen hält, provoziert das Verhalten des offenen Objektes überhaupt erst die aktive Einbindung in ein solches Netzwerk: Offene Objekte »werden sowohl als Zeichen wie als Dinge wie auch als handelnde, quasi-menschliche Personen wirksam. Sie fordern dann zur Herausbildung beispielsweise ritueller, institutioneller, habitueller oder ästhetischer Handlungsnetzwerke auf«25. Sie verhalten sich vage. Vagheit kann also auch als Werkzeug verstanden werden, verborgene Prozesse nicht nur durch Gestaltung erfahrbar zu machen, sondern außerdem Zwischenzustände und nicht-lineares Verhalten zuzulassen und somit dem Reflex rationalistischer Tradition zu widerstehen, der mit Machtausübung und Kontrollverhalten in Verbindung steht. Die Arbeit »Meta Texere« zeigt Möglichkeiten der materialisierten Interaktion mit eigenaktiven Dingen auf. Erst in der Auseinandersetzung mit dem Ding werden mögliche Bedeutungs- und Handlungsnetzwerke hervorgerufen. Diese Verhandlung kann sowohl zwischen Ding und Mensch, als auch zwischen Ding und Ding(en) stattfinden. So zeigt Rzezonka in einem ersten Prototypen eines reaktiven Textils neben der Interaktion durch menschliche Berührung auch mögliche Handlungen mit nicht-menschlichen Akteuren.

24 | Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard: »Editorial«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. Offene Objekte, Nr. 2/1 (2011), S. 8. 25 | Ebd., S. 9.

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I nter act or D ie Liegt der Fokus der vorangegangenen Arbeiten vor allem in der Herstellung künstlicher Artefakte, erforscht Agustina Andreoletti in ihrer Abschlussarbeit »Ultima Materia«26 erste Gestaltungsansätze für Handlungsnetzwerke zwischen organischen Dingen und synthetischen Stoffen. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Untersuchung von Kunststoffen als synthetisch hergestellte Materialien und deren Abbau und Wiederverwertbarkeit.

Abbildung 7: Kreislauf »Ultima Materia«, 2015. © Agustina Andreoletti

Kunststoffe haben ihren Ursprung im natürlichen Rohstoff Erdöl, der aus fossilen Ablagerungen der oberen Erdkruste gewonnen wird. Sie gelten in ihrem Urzustand als noch zu formende Materialien. Über technische Produktionsverfahren werden Kunststoffe zu Formteilen, Halbzeugen, Fasern oder Folien weiterverarbeitet. In der Produktionskette haben diese ersten Erzeugnisse noch keinen fixen Zustand, jedoch gibt es im Transformationsprozess von synthetischen Stoffen zu Produkten und Anwendungen ein ›Dead End‹, da ein Großteil der bisher hergestellten Materialien biologisch nur bedingt abbaubar ist. Zwar wird versucht, Kunststoffe zu recyceln, die tatsächliche Wiederverwertbarkeit ist aber noch verschwin26  | Andreoletti, Agustina: Ultima Materia, 2015, http://www.ultimamateria.com vom 23.11.2015.

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dend gering. Viele Produkte und Anwendungen werden durch den Verbund von verschiedenen Kunststoffen erzeugt und in der praktischen Entsorgung stellt sich eine spätere Trennung als sehr aufwendig dar.27 Andreoletti zeigt in ihrer Arbeit, dass es Bakterien, Pilze und Pflanzen gibt, die Kunststoffe in einem biologischen Prozess wieder in verwertbare Rohstoffe zersetzen können. So setzt sie sich mit der Möglichkeit auseinander, wie im Zusammenspiel von lebendiger und nicht-lebendiger Materie ein natürlicher Kreislauf wieder geschlossen werden kann. Was der Mensch als Abfall bezeichnet, stellt für die Organismen einen Nährboden dar. Andreoletti verweist in ihrer Arbeit auf Bakterienkulturen, die Plastikfolien zu Wasser zersetzen28 oder Pilze, die Styropor zu Erde kompostieren29. Anders als in diesem Experiment, werden in der tradierten biologischen Forschung diese Prozesses meist noch isoliert betrachtet – ein Organismus kompostiert eine bestimmte Kunststoffart. Diese traditionelle Forschung schafft künstliche Bedingungen, denn ursprünglich existieren die Organismen nicht isoliert, sondern befinden sich in einem ständigen Wirkverhältnis mit Umwelt und anderen Akteuren. Die Arbeit »Ultima Materia« schlägt einen experimentellen Gegenentwurf vor und bezieht sich außerdem auf die aufgezeigte Recyclingproblematik von Verbundmaterialien aus verschiedenen Kunststoffarten. »Ultima Materia« schafft in einem ersten Versuchsauf bau ein künstliches Ökosystem von Bakterien, Pilzen und Pflanzen. Diese Organsimen stehen in einem wechselseitigen Wirkverhältnis zueinander und erst ihre Koexistenz ermöglicht den Abbau verschiedener Kunststoffarten über einen längeren Zeitraum. Diversität und Anschlussfähigkeit wird hier als Grundbedingung für ein Zusammenleben und Überleben der Organismen verstanden.

27 | Vgl. Recycling (recovery & sortation), http://www.natureworksllc.com/TheIngeo-Journey/End-of-Life-Options/Recycling vom 23.11.2015. 28 | Vgl. Burd, Daniel: Plastic Not Fantastic, 2008, http://wwsef.uwaterloo.ca/ archives/2008/08BurdReport.pdf vom 23.11.2015. 29 | Vgl. Stamets, Paul: Mycelium Running, Berkeley: Ten Speed Press 2005

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Abbildung 8: Versuchsauf bau »Ultima Materia«, 2015. © Agustina Andreoletti Wie lässt sich nun dieses Projekt in Beziehung zu den beschriebenen Artefakten setzen? Auch vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Digitalisierung unserer Welt gilt es immer noch die materialimmanenten Eigenschaften der Dinge im Wechselspiel mit ihrer stofflichen Umwelt zu betrachten. Dieses Stoffverständnis ermöglicht die Entfaltung komplexer Strukturen, die in einem wechselseitigen Wirkverhältnis zur Umwelt und zu möglichen Anwendern stehen. Bei digitalen Prozessen geht es weniger um eine Entmaterialisierung der Dinge, sondern darum, abstrakte Algorithmen im Verbund mit dem physischen Material, in welchem sie realisiert sind, zu untersuchen. Die in diesem Beitrag vorgestellten Projekte, stellen sich Herausforderungen, mit denen sich in einer digitalanalogen Welt auch das Design befassen muss. Die Gestaltung hybrider Dinge sollte dabei immer auch im Wechselspiel von Code und Material und in Bezug zum Handlungsnetzwerk zu weiteren Akteuren betrachtet werden. Über physische Schnittstellen werden (im)materielle Prozesse erst anschluss- und handlungsfähig. Die Entwicklung zusätzlicher Schnittstellen umfasst sowohl technisch hergestellte Artefakte, als auch eine Übertragung und Erweiterung auf organische und biologische Prozesse. Dabei dürfen wir aber nicht erneut einem rationalistischen Den-

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ken der Berechenbarkeit und Kontrolle über unsere Umwelt verfallen. Vielmehr sind es Potenziale des ›Dazwischen‹ und nicht immer formal ›Beschreibbaren‹, die mögliche weitere Ansätze im Gestaltungsprozess mit den Dingen aufzeigen. Wir brauchen ein konkretes Verständnis über die materialimmanenten Eigenschaften, um eine ›Co-Kreation‹ mit den Dingen einzugehen, unabhängig davon, ob diese synthetischer, organischer, materieller oder immaterieller Natur sind. Das Experiment im Gestaltungsprozess eröffnet hierbei neue Themenfelder im Wirkverhältnis von Ding, Mensch und Umwelt – von der künstlerisch-forschenden Auseinandersetzung mit eigenaktiven Dingen bis zum explorativen Einsatz von biointegrierten Materialien und Prozessen.

L iter atur Albers, Josef: »Werklicher Formunterricht«, in: Bauhaus Nr. 2/3 (1928), S. 3-7. Burnham, Jack: »Notes on Art and Information Processing«, in: Jack Burnham/Robert Jakob (Hg.), Software. Information Technology. Its new Meaning for Art, Jewish Museum: New York 1970, 10-15. Coy, Wolfgang: »Analog/Digital«, in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.), Hyperkult II. Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien. Analog/Digital, Bielefeld: transcript Verlag 2005, S. 15-26. Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard: »Editorial«, in: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung. Offene Objekte, Nr. 2/1 (2011), S. 5-9. Penrose, Roger: Computerdenken. Die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewusstsein und die Gesetze der Physik, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2009. Rammert, Werner/Schulz-Schaeffer, Ingo: »Technik und Handeln: Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Artefakte verteilt«, in: Werner Rammert, Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2002, S. 11-64. Schneider, Birgit: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkartenweberei, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007. Stamets, Paul: Mycelium Running, Berkeley: Ten Speed Press 2005.

Der Aufstand der Dinge

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Verlag 1977.


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Design zwischen Anthropomorphismus und Animismus Mimesis als relationale Designpraxis Judith Dörrenbächer

Ende Mai 2015 trafen sich in Paris etwa 200 internationale Studierende, um die UN-Klimakonferenz COP 21, sechs Monate bevor sie tatsächlich stattfinden sollte, zu simulieren. Ungewöhnlich war, dass in dieser Simulation anders als bei der tatsächlichen Konferenz, nicht nur Nationen vertreten waren. Nicht-nationale Gruppierungen und sogar nichtmenschliche Phänomene wie der Ozean oder das Internet wurden durch Delegationen repräsentiert und in die Verhandlungen mit einbezogen. Denn dem Experiment lag die Annahme zugrunde, dass das Scheitern von Klimakonferenzen insbesondere auf eine anthropozentrische Form der Repräsentation zurückzuführen ist. Das Projekt mit dem Namen »Théâtre des Négociation« wurde vom Pariser Institut für politische Studien (Sciences Po) initiiert und unter anderen von Bruno Latour geleitet.1 Das »Théâtre des Négociations« ist nur eines von zahlreichen aktuellen Beispielen, die unsere nicht-menschliche Umwelt zu subjektivieren und sich empathisch in sie einzufühlen versuchen. Was bezwecken Initiatoren wie jene des »Théâtre des Négociations« mit ihren Versuchen? Inwiefern werden derartige experimentelle Ansätze von Designern aufgegriffen? Und was haben diese Experimente mit unserer aktuellen technologischen Entwicklung zu tun, in die das Design stark involviert ist? Besteht ein Zusammenhang zwischen den vermeintlich irrationalen Ansätzen und der zunehmenden Vermenschlichung von Technologie?

1 | http://www.cop21makeitwork.com/ vom 05.12.2015.

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Dieser Beitrag befragt das wachsende Interesse an experimentellen Formen der Subjektivierung von Nicht-Menschen auf Ursachen, Potenziale und Grenzen. Hierfür stehen vorerst moderne Formen des Wissenserwerbs zur Diskussion. Es wird thematisiert, inwiefern das moderne Selbstverständnis letztlich eine technologische Realität erzeugt hat, die die eigene Haltung zur Welt selbst wieder fragwürdig macht. Anschließend wird der sogenannte Neue Animismus und dann spezifisch Mimesis als animistische Praxis vorgestellt. Und schließlich stehen Projekte von Designern im Fokus, die experimentelle Empathie mit Dingen erproben, um an diesen Beispielen zu untersuchen, welche Rolle die animistische Praxis Mimesis in unserer vermeintlich aufgeklärten, technologischen Wirklichkeit spielen könnte.

O bjek tivieren als M e thode des D istanzierens Geistige Reife und die Fähigkeit zu Objektivieren wurden dem modernen Selbstverständnis nach beinahe synonym verstanden. So verorteten beispielsweise Entwicklungspsychologen wie Jean Piaget den objektiven, rationalen Weltbezug in ein letztes menschliches Entwicklungsstadium. Nur wer zwischen der eigenen Subjektivität und der objektivierten Umwelt unterscheiden kann, ist aus dieser Perspektive erwachsen oder psychisch gesund.2 Bedingung für dieses Denken ist die Grundannahme einer Unverbundenheit zwischen Mensch und Welt, die sich auch aus philosophischer Perspektive wiederfinden lässt. Der Philosoph Wolfgang Welsch identifiziert in diesem Zusammenhang eine Kluft, die seit über zwei Jahrhunderten trotz zahlreicher Versuche nicht überwunden wurde.3 Letztlich, so lässt es sich den Analysen Welschs entnehmen, konstruieren die in der Moderne unternommenen philosophischen Versuche der Überwindung 2 | Vgl. in diesem Zusammenhang Ansätze in der Psychologie, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, wie etwa Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 2015 (zuerst 1926); Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Hamburg: Fischer 1940 (zuerst: 1913).   3 | Vgl. Welsch, Wolfgang: Homo Mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Göttingen: Velbrück Wissenschaft 2012, S. 399 ff.

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die Kluft überhaupt erst. Welsch identifiziert in diesem Zusammenhang zwei erkenntnistheoretische Perspektiven: Für den Idealismus ist jede Erkenntnis Konstruktion. Wirklichkeit geht vom Subjekt aus. Da die Welt als epistemisches Konstrukt gedacht wird, ist tatsächliche Erkenntnis über eine Welt ›an sich‹ nicht existent oder zumindest nicht denkbar und daher irrelevant. Aus idealistischer Warte können wir immer nur über eine ›Welt für uns‹ Aussagen treffen. Der Realismus hingegen behauptet die tatsächliche Existenz einer äußeren Realität, einer ›Welt an sich‹. Wissen kann immer nur vom Objekt ausgehen. Welsch macht deutlich, dass die moderne Philosophie von einem Widerspiel dieser beiden Ansätze geprägt ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem »idealistisch-realistische[n] Erkenntnis-Theater der Moderne«4. Beide Ansätze seien auf die kategoriale Trennung zwischen Subjekt und Objekt zurückzuführen und damit letztlich Gegenspieler ein und desselben grundlegenden Prinzips. »Idealismus versus Realismus, das ist geradezu die Widerspiegelung der Opposition zwischen Mensch und Welt im Licht philosophischer Positionen. Wer die Überbrückung vom Menschen aus versucht, ist ein Idealist; wer sie von der Welt aus versucht, ist ein Realist.«5 Um das Widerspiel zu überwinden, müsste das Grundmuster der Opposition grundsätzlich in Frage gestellt werden, so Welsch. Die moderne Annahme einer Trennbarkeit von subjektiven und objektiven Weltbezügen erklärt letztlich auch das Bestreben der modernen Wissenschaft möglichst uninvolviert Erkenntnis über die Wirklichkeit zu erlangen. Um Wissen über Dinge ebenso wie über Menschen und andere Lebewesen gewinnen zu können, müssen diese möglichst neutral und frei von subjektiver Bewertung – also objektiv – betrachtet werden, so die Annahme. Erkenntnis wird also immer entweder als Konstruktion, die vom Subjekt ausgeht oder als Repräsentation, die vom Objekt ausgeht, gedacht. Die Objektivierungsversuche der modernen Wissenschaft erscheinen in diesem Zusammenhang als eine Technik, um die Distanz zwischen Subjekt und Objekt zu verstärken.

4 | Ebd., S. 403. 5 | Ebd., S. 400.

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Technologische U mwelten Dieses Denken hat sich paradoxerweise selbst überholt.6 Laut des Anthropologen Alf Hornborg, haben wir – gemeint sind moderne Gesellschaften – uns durch die Annahme einer Trennung oder durch die »Unterdrückung unserer Fähigkeit zur Verbundenheit« 7 einer moralischen Verantwortung gegenüber unserer Umwelt enthoben. Nur weil wir unsere Umwelt objektivieren, könnten wir, die wir uns als emanzipierte Subjekte verstehen, diese reorganisieren und damit aus anthropozentrischer Perspektive Fortschritt möglich machen. Laut Hornborg erzeugt dieser Fortschritt nun allerdings Dinge, die sich nicht mehr eindeutig der Welt der Objekte zuordnen lassen. Und tatsächlich sind wir durch technologische Entwicklungen zunehmend von Dingen umgeben, die beobachten, sprechen, Entscheidungen treffen oder lernfähig sind – also Nicht-Lebendiges quasi lebendig und beseelt erscheinen lassen. Technologie fungiert nicht mehr nur als Werkzeug, sondern vielmehr als technologischer Partner. Wir koexistieren mit diesen Dingen, die nicht nur mit uns, sondern im sogenannten Internet der Dinge auch untereinander kommunizieren. Die Umweltlichkeit der neuen Technologie veranlasste den Medienwissenschaftler Erich Hörl, deren Bedingung als eine allgemein-ökologische zu definieren.8 Die menschliche Kognition erscheint in dieser vernetzten 6 | Vgl. hier auch Bruno Latour, der feststellt, dass die Moderne von einer sogenannten »Reinigungsarbeit« zwischen Objekt und Subjekt dominiert ist. Diese unterdrücke allerdings nur theoretisch Mischformen: »Wer am meisten über Hybride nachdenkt, verbietet sie soweit wie möglich; wer sie dagegen ignoriert, indem er alle gefährlichen Konsequenzen ausblendet, entwickelt sie soweit er kann.« Latour kommt zu dem Schluss, dass die Modernen Opfer ihres eigenen Erfolgs wurden: »Die Vermehrung der Hybriden hat den konstitutionellen Rahmen der Moderne gesprengt«. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 58 und 69. 7 | Hornborg, Alf: »Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 58. 8 | »Die neue Sinnkultur des postsignifikativen technologischen Zeitalters, das auf die lange dauernde, durch die Technik der Schrift definierte Sinnkultur folgt, ist allgemein-ökologisch charakterisiert, ihre Beschreibung ist deshalb die Aufgabe einer allgemeinen Ökologie.« Hörl, Erich: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung (2011), S. 32.

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Realität nur noch als Teil eines universalen kognitiven Systems. Der Medientheoretiker Mark Hansen spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ausdehnung des Empfindungsvermögens«9. Gemeint sind neue artifizielle Formen des eigentlich an lebendige Wesen geknüpften Vermögens wahrzunehmen und zu fühlen. Laut Hansen haben wir durch die Technologisierung unserer Umwelt plötzlich mit einer »polyvalenten Handlungsmacht unzähliger Subjektivitäten«10 zu tun, derer sich der Mensch nicht von außen bemächtigen kann. Obwohl Technologie der modernen Vorstellung nach zur Welt der isolierbaren Objekte, des Leblosen und des Faktischen gehört, erscheint sie heute zunehmend umweltlich, menschenähnlich und sozialisiert, oder gar transzendental und magisch. Unsere technologischen Umwelten zeigen deutlich, dass kategoriale Trennlinien zwischen Mensch und Dingwelt nicht so einfach zu ziehen sind. Wir sind sozial verwoben mit Dingen. Die Vorstellung von einer Unverbundenheit mit der Welt scheint letztlich durch ihren eigenen Erfolg entkräftet. Sie erlaubte technologischen Fortschritt und die so sonderbar vermenschlichten Dinge, mit denen wir uns neuerdings umgeben. Das moderne Denken, das deutlich zwischen Objekt und Subjekt trennt, schafft selbst den Nährboden für technologische Hybride. Die Veränderung unserer Dingwelt und die Schwierigkeit, weiterhin deutlich zwischen handelndem Subjekt und passivem Objekt zu trennen, birgt eine Angst vor Kontrollverlust. Zukunftsszenarien, in denen der Mensch Autonomie einbüßt, von der Technik manipuliert oder abgelöst wird, sind zahlreich. Doch möglicherweise benötigt nicht der Subjektbegriff generell, sondern nur das moderne Subjektverständnis eine Überholung. Eine Neubestimmung scheint nötig, so auch Hörl. »Im Kern der allgemein-ökologischen Frage geht es um die Beziehung von Subjektivität und ihrer Exterioriät, die auf technologischer Basis grundsätzlich neu zu verhandeln steht.«11 Hier stellt sich die Frage, wie sich Subjektivität in einer Welt verhandeln lässt, die nicht mehr von Gegenständen als greif bare 9 | Hansen, Mark B. N.: »Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung (2011), S. 372. 10 | Ebd., S. 371. 11 | Hörl, Erich: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung (2011), S. 34.

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Gegenüberstände, sondern durch Vernetztheit, Komplexität und emergente Dynamiken geprägt ist – eine Welt mit technologischen Wesen, deren Intelligenz wir nur schwer einschätzen können. Welche Praktiken eignen sich, um in diesen Umwelten Wissen zu erlangen und welche Möglichkeiten bestehen, handlungsfähig zu bleiben, ohne Autonomie zu behaupten? Wenn gewohnte moderne Erklärungsmodelle nicht mehr zielführend sind, liegt der Ansatz nahe, nicht-moderne Gesellschaften, die grundlegend andere Weltverständnisse und Subjekt-Objekt-Konzepte entwickelt haben, in den Blick zu nehmen und deren Techniken zu überprüfen. Lassen sich hier Denkmodelle oder Praktiken für den Umgang mit unseren technologischen Umwelten fruchtbar machen? Der Fokus liegt im folgenden Teil dieses Beitrags auf Gesellschaften, die Vernetztheit ganz grundlegend in ihr Weltverständnis mit einbeziehen. Hierzu wird der Animismus, insbesondere die gegenwärtige Auslegung des Animismus, vorgestellt.

N euer A nimismus Der Begriff Animismus geht auf Edward B. Tylor zurück, der ihn 1871 in seinem Werk »Primitive Culture«12 einführte. Tylor suchte in seiner Arbeit nach religiösen Ursprüngen der Menschheit und fand diese in Praktiken und Vorstellungen, der von ihm sogenannten niederen Rassen. Indigene Völker beseelten, laut seiner Untersuchungen, irrtümlicherweise ihre Umwelt. Sie personifizierten dabei sowohl andere lebendige Wesen als auch leblose Dinge. Tylors Konzept basiert ebenfalls auf der Idee einer strikten Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Denn Tylor hält an der epistemologischen Tradition fest, Fakten, die durch Wissenschaft objektivierbar sind, von kulturellen und symbolischen Bedeutungen zu trennen. Letztere sind seiner Vorstellung nach reine, vom Subjekt konstruierte Projektionen. Animismus wird damit zum Aberglaube. Tylor trennt also zwischen Fakten und Fiktion – respektive zwischen objektivierbarer Natur und subjektiver Kultur. Auf Tylors Theorie folgend, erfuhr das Phänomen, Dinge als beseelt zu erachten, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahr12 | Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Band I+II, Hildesheim: Olms 2005.

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hunderts nicht nur in der Ethnologie, sondern auch in der Psychologie Beachtung.13 Animismus wurde mit Unreife oder Naivität in Verbindung gebracht. Die ursprüngliche, diffamierende Vorstellung vom Animismus, machte den Begriff jahrzehntelang beinahe untauglich, denn mit ihm klang immer auch ein eurozentrisches, rassistisches Weltbild mit. Seit den späten 1980er Jahren erfährt Animismus unter dem Begriff Neuer Animismus eine Revision. Anthropologen und Ethnologen thematisieren, dass Animismus nicht ein unterentwickelter Irrglaube ist, sondern eine relationale Praxis mit grundlegend anderem Subjekt-ObjektVerständnis. Eine hierfür basale Erkenntnis der Vertreter des Neuen Animismus ist, dass die von ihnen untersuchten indigenen Völker nicht a priori und kategorisch zwischen beseelten und unbeseelten Spezies unterscheiden. So seien beispielsweise nicht bestimmte Tiere beseelt und andere nicht. Ebenso wenig behaupteten diese Völker undifferenziert, dass alles von Grund auf beseelt sei – was Tylor ihnen noch unterstellte. Die Seele ist, so die neuere Erkenntnis, nicht etwas, was sich in Wesen selbst finden ließe – also nichts was an etwas ›an sich‹ gebunden wäre, noch ist sie ein menschliches Gedankenkonstrukt. Beseeltheit sei situationsgebunden und etwas, was zwischen Wesen passiert. Entsprechend können alle Wesen, auch unbelebte, abhängig von dem relationalem Kontext, in dem sie auftreten, beides sein: Objekt und Subjekt. Die Anthropologin Nurit Bird-David, die Feldforschung bei der Jägerund Sammlergemeinschaft Nayaka in Südindien betrieb, stellte fest, dass alles, mit dem die Nayaka in engem Kontakt stehen, Personenstatus für sie hat – ganz gleich, ob es sich um ein Objekt, ein Tier oder einen anderen Nayaka handelt. So kann sich sogar ein Stein verwandeln, wenn er mit einem Menschen in Interaktion gerät, so Bird-David. Nicht alle Steine sind beseelt, aber manche sind es. Beseeltheit ist eine situative Erscheinung. Dies gilt bei genauer Betrachtung auch für uns modern sozialisierten Menschen. Wir »personifizieren andere Wesen nicht zuerst und haben dann sozialen Umgang mit ihnen, sondern wir personifizieren sie während, wenn und weil wir sozialen Umgang mit ihnen haben«14. Bird-David 13  |  Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Hamburg: Fischer 1940 (zuerst: 1913); Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 2015 (zuerst 1926). 14 | Bird-David, Nurit: »›Animismus‹ revisited: Personenkonzept, Umwelt und relationale Epistemologie«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 45 f.

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stellte in ihrer Feldforschung außerdem fest, dass die Nayaka durch ihr Leben auf engem Raum, ihre habitualisierten Praktiken des Austauschs und ein grundsätzlich gemeinschaftliches Handeln andere Nayaka nicht als autonom wahrnehmen, sondern kontextualisiertes Wissen voneinander erwerben. Sie begreifen sich und andere in Relation. Für sie gibt es nichts ›an sich‹. Etwas oder jemand ist das, was er, sie oder es in Relation mit anderen ist.15 Hieraus entwickelte Bird-Davids ihr Konzept der »Relationalen Epistemologie«. Erkenntnis entsteht dieser Theorie nach nicht durch Distanz, sondern durch Verbundenheit. »Wissen erwächst und besteht zugleich aus der Fähigkeit des Erkennenden, die Beziehung zum Erkannten aufrechtzuerhalten.«16 Eduardo Viveiros de Castro, der im Amazonasgebiet forschte, stellt fest, dass die amazonischen Arawaté bei unterschiedlichen Spezies eine Einheit der Kultur aber eine Vielfalt der Naturen annehmen.17 Laut eines universellen indigenen Schöpfungsmythos, stamme das Tier vom Menschen ab und nicht der Mensch vom Tier, wie es die westlich-moderne Evolutionstheorie besagt. Der gemeinsame Urgrund von Mensch und Tier – und womöglich auch von anderen Entitäten – ist demnach das Kulturelle und Soziale. Unterschiede zwischen den Wesen manifestieren sich dagegen in unterschiedlichen Körpern – also unterschiedlichen Naturen. Hier äußere sich eine Ontologie, die der modernen grundlegend konträr gegenüberstehe, so Viveiros de Castro.18 »Der europäische Ethnozentrismus verneint, dass andere Körper dieselben Seelen wie sie haben; der indianische bezweifelt, dass andere Seelen denselben Körper haben.«19 15 | Vergleichbar ist diese Vorstellung mit einem Verwandtschaftsverhältnis. So kann nicht jemand ›an sich‹ Vater sein, sondern ist Vater nur durch die Beziehung zu seinem Kind. 16 | N. Bird-David: »Animismus« revisited, S. 23. 17  |  Vgl. Viveiros de Castro, Eduardo: »Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien«, in: Albers/Franke, Animismus, (2012), S. 73-94. 18 | Diese moderne Perspektive wird auch deutlich, wenn man bedenkt, dass in der modernen Wissenschaft nur Menschen mittels der Sozialwissenschaften aber alles, inklusive des Menschen, mit Hilfe der Naturwissenschaften – etwa der Biologie oder der Physik – erklärt wird. 19  |  Viveiros de Castro, Eduardo: »Die kosmologischen Pronomina und der indianische Perspektivismus«, in: Schweizerische Amerikanisten-Gesellschaft 61 (1997), S. 107.

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Wenn also das Tier vom Menschen abstammt, wie unter anderen die Arawaté annehmen, dann muss nicht die ursprüngliche Tiernatur des Menschen gebändigt, sondern kann die ursprünglich soziale und menschenähnliche Kultur der Nicht-Menschen entdeckt werden, so Viveiros de Castro. »Ist ein Subjekt nach naturalistischer Auffassung ein ungenügend analysiertes Objekt, so ist in der animistischen Kosmologie der amerikanischen Ureinwohner das Gegenteil der Fall: Ein Objekt ist ein unvollständig interpretiertes Subjekt.«20 Um etwas über andere Wesen zu erfahren, wird entsprechend subjektiviert und nicht objektiviert. Es wird keine Distanz hergestellt, sondern ein Dialog. Damit bietet der Animismus einen dritten epistemologischen Ansatz neben dem von Welsch thematisierten Widerspiel zwischen Realismus und Idealismus an. Erkenntnis ist nicht repräsentativ (vom Objekt ausgehend) und nicht konstruiert (vom Subjekt ausgehend), sondern rekursiv – Wissen entsteht zwischen Subjekt und Objekt. Hier stellt sich die Frage, wie man einen Zugang zu diesem Dazwischen schafft.

M imesis aus e thnologischer P erspek tive Der Anthropologe Rane Willerslev bezeichnet Mimesis als die praktische Seite des Animismus.21 Mimesis ist, laut Willerslev, eine Technik, die bewusst eingesetzt werden muss, die erlernt werden kann. Durch Mimesis wird anderen ein Gesichtspunkt, eine Perspektive, eine Subjektposition zugestanden. Dabei wird versucht, den Standpunkt dessen einzunehmen, der erkannt oder verstanden werden soll. In erster Linie geht es bei Mimesis darum, sich in Beziehung zu anderen zu setzen. Um sich empathisch einzufühlen, passen sich die sibirischen Yukaghir, die Willerslev beobachtet, mental aber auch physisch an andere Spezies an. Willerslev beschreibt das Potenzial von Mimesis exemplarisch anhand der Jagd. Hier erscheint es erfolgsversprechend, die Perspektive des anderen zu verstehen. Ein Yukaghir, der etwa einen Elch jagen möchte, versucht durch Mimesis so zu klingen, sich so zu bewegen und so auszusehen wie das Gegenüber. Er versetzt sich in die andere Spezies hinein, 20 | E. Viveiros de Castro: Perspektiventausch, S. 79. 21 | Vgl. Willerslev, Rane: Soul Hunters. Hunting, Animism, and Personhood among the Siberian Yukaghirs, Berkeley: University of California Press 2007, S. 27.

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einerseits um zu antizipieren, wie ein Elch reagieren könnte, andererseits um eine moralische Beziehung zu ermöglichen. Das Jagen wird als kommunikativer Akt verstanden. Sich in Beziehung zu setzen, erfordert allerdings auch, Unterschiede zu fokussieren. Denn es geht nicht darum, die eigene menschliche Position aufzugeben und durch perfekte Nachahmung beispielsweise ganz Elch zu werden. Mimesis kann nur durch den Fokus auf Differenz eine Bemächtigungsstrategie sein, die über das Verstehen des Fremden hinaus verhilft, andere zu kontrollieren und zu manipulieren. Tatsächlich besteht aus Perspektive der Yukaghir die Sorge, sich nicht mehr zurückverwandeln zu können. Es wird befürchtet, dass aus kontrollierter Empathie so etwas wie Liebe wird – also unbeherrschbare Nähe. Dann wäre Mimesis Metamorphose. Man könnte sich nicht mehr vom Geschehen und dem zu jagenden Tier distanzieren. »If, in fact, mimesis becomes totalizing, and the imitator loses himself in what he imitates, we are no longer talking about mimesis but metamorphosis; nothing is left to imitate when the difference between the copy and the original is totally gone.«22 Es ist wichtig, dass bei Mimesis Identitäten nicht ineinander aufgehen und der Imitierende sich selbst nicht verliert. Denn »we can only have an experience of the world if we ourselves are conscious subjects of experience that somehow distinguish between ourselves as subjects and a world that transcends our subjective experience of it«23. Die Jäger streben also unperfekte Kopien an, um eine Zwischenposition zwischen den Identitäten zu verhandeln. Der Jäger ist, laut Willerslev, trotz Mimesis zwar kein Elch aber er ist auch nicht-nicht ein Elch. Es entsteht ein Dazwischenzustand, eine Art Vexiermoment in dem jemand X und Y zugleich ist. Mimesis schafft also ein Wechselspiel von Kategorien – aber ohne sie aufzulösen. Das Selbst und das Andere, Subjekt und Objekt, real und fiktiv sind ebenso wie bei westlichen Konzepten wichtige Kategorien, aber sie sind nicht starr definiert und an bestimmte Spezies gebunden, sondern werden praktisch ausgehandelt. »Therefore, while mimetic empathy does imply that I identify with another, taking on the other’s experience as if it were my own, the boundary between myself and the other, between my experience and that of the other, does not vanish. At its most intense, I might come to occupy an ambivalent position in 22 | Ebd., S.12. 23 | Ebd., S. 23.

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between identities, but I do not altogether lose sight of my own incarnate being.«24 Mimesis ist eine kontrollierende Praxis, bei der immer sowohl Zusammenhänge als auch Unterschiede erfahrbar gemacht werden, um damit Grenzen auszuhandeln. Die wirkliche Erfahrung der Verwandlung und Rückverwandlung ist dabei fundamental. Mimesis ist keine rein fantastische, rein fiktive Angelegenheit. Man tut nicht nur ›als ob‹. Denn das ›Dazwischen‹ wird durch die physische, körperliche Komponente temporär real erlebbar. Mimesis ist also eine Technik, die eine Verbindung zur Umwelt herstellt – eine Technik, die im Sinne der Epistemologie Bird-Davids relational funktioniert. Doch während Bird-David nur das Auflösen von Kategorien zu einem Zustand der »Wir-heit«25 thematisiert, machen Willerslevs Untersuchungen deutlich, dass Differenzieren und Trennen ebenso wichtige Rollen für ein relationales Weltverständnis spielen. Willerslevs Beobachtungen bestätigen außerdem Viveiros de Castros These: Die unterschiedlichen Körper sind die Differenzierer zwischen Wesen. Der Perspektivwechsel wird in erster Linie durch eine körperliche Transformation angestrebt. Ziel der Mimesis ist weder moderne Subjekt-Objekt-Dichotomie noch romantisierende Einheit zwischen Wesen, sondern eine Vielfalt subjektiver Perspektiven.26 Aus animistischem Blickwinkel ist die Subjektivierung von Nicht-Menschen und das Subjektsein des Menschen kein Widerspruch.

24 | Ebd., S. 108. 25 | »Es heißt, die Umwelt zu dividuieren statt sie zu dichotomisieren und das Augenmerk auf die Differenzen aufhebende ›Wir-heit‹ statt auf die sie hervorhebende Gemeinsamkeiten verdeckende ›Andersheit‹ zu lenken.« N. Bird-David: »Animismus« revisited, S. 43. 26 | Vgl. hier auch die Untersuchungen von Viveiros de Castro über den von ihm sogenannten indianischen Perspektivismus, dem statt Dichotomien oder Monismus ein Pluralismus zugrunde liegt. »Praktisch alle Attacken auf den Cartesianismus und andere Dualismen gehen davon aus, dass zwei bereits zu viel ist – eins genügt (ein Prinzip, eine Substanz, eine Realität). Wenn es nach den indianischen Kosmologien geht, so ist zwei nicht genug.« E. Viveiros de Castro: Perspektiventausch, S. 91.

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E xperimentelle M imesis in D esignprojek ten Das zu Beginn dieses Beitrags erwähnte Projekt »Théâtre des Négociations« weist mit seinen Handlungsansätzen offensichtlich Parallelen zu der von Willerslev thematisierten Praxis der Mimesis auf. Auch die Projekte, die neben dem »Théâtre des Négociations« folgend vorgestellt werden, experimentieren mit der empathischen Nachahmung oder Repräsentation von Nicht-Menschlichem – aus gestalterischer Perspektive. Die Protagonisten der Projekte stellen zwar selbst keinen Bezug zur animistischen Mimesis her, doch die Verwandtschaft zu Praktiken des Animismus ist auffällig. Der Grad zwischen einem verklärenden New Age Spiritualismus und der Revision von neuartigen Subjekt-Objekt-Konzepten ist allerdings unter Umständen schmal. Die Projekte müssen kritisch auf ihre Grenzen befragt werden. Das »Théâtre des Négociations« bezog, wie schon beschrieben, auch nicht-menschliche Phänomene wie die Erdatmosphäre oder die Weltmeere in eine politische Verhandlung ein. Auslöser für dieses Experiment war die Erkenntnis, dass wir mit komplexen globalen Problemen konfrontiert sind, die nicht allein aus der Perspektive von Nationen gelöst werden können. Für die ökologische Krise aber auch für technologische Phänomene wie das Internet stellen nationale Grenzen keine sinnvollen Größen mehr dar. Das Projekt simuliert eine Konferenz, soll sie aber nicht ›faken‹. Es ging den Initiatoren um ein wirkliches ›acting‹27. Das tatsächliche Aushandeln und Machen im Spiel war wichtig. Denn bei dem »Théâtre des Négociations« handelt es sich um ein Theaterstück, dass offen geskriptet ist. Das Ende des Stückes ist von den Aktionen und Interaktionen der involvierten Akteure abhängig. Hier wird eindeutig ein partizipativer Ansatz verfolgt, der verdeutlicht, dass keine statischen Phänomene oder Identitäten ›an sich‹ existieren, sondern emergente Interdependenz. Während die partizipierenden Delegationen erfahren, wie ihre Begegnungen einander beeinflussen, wird eine komplexe Dynamik modellhaft transparent. Das »Théâtre des Négociations« ist mit ganz gewöhnlichen Schwierigkeiten der Repräsentation konfrontiert. Schließlich kann die Realität

27 | Treffenderweise bedeutet im Englischen »acting« nicht nur schauspielern, sondern auch handeln, tun, agieren.

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Abbildung 1: Théâtre des Négociations, 2015. © Martin Argyroglo

nie in einem eins zu eins Verhältnis repräsentiert werden.28 Im Vergleich zu gewöhnlichen Parlamenten kommt aber außerdem hinzu, dass NichtMenschen ihre Repräsentanten nicht demokratisch wählen können. Das »Théâtre des Négociations« kann sich freilich nicht bei den Weltmeeren nach deren Interessen erkundigen und ein empathisches Hineinversetzen ist mehr noch als beim menschlichen Gegenüber ein schwieriges Unterfangen. Es basiert auf zuvor erworbenen Erkenntnissen der jeweilig herangezogenen Wissenschaften. Eine Repräsentation impliziert also spekulative Maßnahmen. Die anthropozentrische Perspektive lässt sich dabei schwerlich vermeiden. Grundsätzlich bleibt anzumerken, dass die ökologische Krise in erster Linie ein menschliches Problem ist, an dessen Lösung wohl weder die Weltmeere noch das Internet interessiert sind. Das Experiment, das sich irgendwo zwischen Kunstinstallation und politischem Labor befindet, ist also eher in der Lage, Zusammenhänge und 28 | Vgl. Boris Groys, der feststellt, dass die Profanität des Realraumes nicht repräsentiert werden kann. Groys, Boris: »Strategien der Repräsentation. Repräsentation und Ausnahmezustand«, 2001.

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Abbildung 2: Goatman, Thomas Thwaites, 2015. © Tim Bowditch

Interdependenzen zu extrapolieren, als tatsächlich nicht-menschliche Interessen zu vertreten. Mit dem Projekt »Goatman«29 vollzieht der Designer Thomas Thwaites den Versuch, die nicht-menschliche Perspektive statt durch Repräsentation durch direkte Präsenz zu ergründen. Thwaites versucht temporär eine tatsächliche Transformation in eine andere Spezies – in seinem Fall in eine Ziege. Er gründet seine Verwandlung auf vier Bereiche, die er »bones«, »gut«, »mind« und »soul« nennt. Mit Hilfe von Wissenschaftlern entwickelt er Prothesen, die ihm erlauben, ziegenähnlich zu laufen (»bones«). Er findet einen Weg mit bestimmten Enzymen Zellulose zu spalten (»gut«) und temporär sein Sprachzentrum zu hemmen (»mind«). Außerdem versucht er den transzendentalen Wandel schamanistisch zu ergründen (»soul«). »Goatman« ist mit dem animistischen Weltbild insofern verwandt, als Thwaites anscheinend ebenso einen physischen und 29 | http://www.thomasthwaites.com/a-holiday-from-being-human-goatman/ vom 10.06.2016; Vgl. auch Thwaites, Thomas: Goatman. How I Took a Holiday from Being Human, New York: Princeton Architectural Press 2016.

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nicht einen kulturellen Unterschied zwischen den Spezies als fundamental erachtet. Eine körperliche Verwandlung ermöglicht auch seiner Vorstellung nach eine mental andersartige Perspektive. Außerdem ist sein Ansatz symptomatisch für den Versuch einer Auflösung der Grenzen zwischen Repräsentation und Präsentation.30 Er strebt die Identität mit einem anderen Wesen an. Letztlich muss aber auch Thwaites auf Erkenntnisse der Wissenschaft zurückgreifen und kann sich so nur spekulativ und partiell dem Ziege-Dasein annähern. Es ist auch hier unmöglich, die anthropozentrische Perspektive wirklich zu verlassen und unvermittelte Präsenz erscheint als unerreichbares Ziel. Dennoch schafft »Goatman« eine direkte Erfahrung innerhalb eines Selbstexperiments. Obwohl oder gerade weil Thwaites es nicht schafft, identisch mit dem Tier zu werden, erreicht er Erkenntnis. Denn wie Willerslev für die indigene Mimesis feststellt, wird ein Imitator kontinuierlich auf sich selbst zurückgeworfen.31 Mimesis ist keine Metamorphose. Demnach ist es nur wegen der Unmöglichkeit einer Grenzüberschreitung zwischen Mensch und Tier oder zwischen Repräsentation und Präsenz überhaupt möglich, neuartige Einsichten über die menschliche Perspektive und die Relationen zwischen Mensch und Tier zu erlangen. »Object Theatre« ist ein Workshop-Format, dass Jacob Buur, Professor für User-Oriented Product Development und Preben Friis, Schauspieler und Leiter des Theater Labs der University of Southern Denmark, gemeinsam entwickelt haben. Sie nutzen Methoden des Theaters – insbesondere postdramatische Theatermethoden, um bei Studierenden ein neues Ver30 | »Das Unmittelbare entzieht sich. Gut, man kann versuchen, wie Artaud das beschreibt, wie Foucault das beschreibt und wie in erster Linie Deleuze das in Mille Plateaux und dem Anti-Ödipus beschreibt, sich der Kuh anders anzunähern. D.h. man kann wahnsinnig werden und beginnen Gras zu essen. Das ist das Kuhwerden des Menschen, das Deleuze als positive Annäherung an den Lebensstrom versteht. Man lebt tatsächlich wie die Kuh, ist nackt, wälzt sich und ißt Gras. In diesem wahnsinnigen Zustand wird man mit der Kuh identisch. Ist es allerdings so, hat man vielmehr den Eindruck, daß man zuviel Deleuze gelesen hat, als daß man sich tatsächlich der Kuh angenähert hat. Das heißt dieses Kuhwerden des Menschen ist nichts anderes als wiederum der Versuch, etwas zu repräsentieren, das man primär eigentlich als Text gelesen hat.« B. Groys: Strategien der Repräsentation, S. 4. 31 | Vgl. R. Willerslev: Soul Hunters, S. 191.

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Abbildung 3: Object Theatre, Jakob Buur und Preben Friis, 2015. © SDU Design

ständnis für Interaction Design und das Verhältnis zwischen Ding und Mensch zu provozieren. Bei der Methode »Puppet Theatre« fordern sie beispielsweise Studierende auf, sich empathisch in ein Objekt hineinzuversetzen – sie nennen es »empathic acting«. Dabei sollen Student und Objekt temporär zu einem sogenannten »object-character« verschmelzen: »It is this physical and emotional immersion we are looking for: Giving a known object new meaning – not as an intellectual decision, but as a bodily experience.«32 Ziel des Ansatzes ist es, Dinge nicht von außen, sondern von innen heraus zu verstehen. Hier besteht ganz explizit der Anspruch, nicht Angelesenes zu repräsentieren, sondern tatsächlich Perspektiven zu wechseln. Sie sprechen von »Aboutness« und »Withness« als Perspektiven, die ähnlich wie bei der indigenen Mimesis im Wechsel erfahrbar sein können.33 Buur und Friis beanspruchen, dass beide Perspektiven für Designer wichtig sind, um Zusammenhänge zu begreifen. »Puppet Theatre« helfe Designern, »to take inspiration from objects themselves, 32  |  Buur, Jacob/Friis, Preben: »Object Theatre in Design Education«, 2015, S. 3. 33 | Ebd., S. 7.

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Abbildung 4: The Performance of the nonhuman Behavoiur, Dan Lockton, Delfina Fantini van Ditmar und Claudia Dutson, 2015. © Dan Lockton, Delfina Fantini van Ditmar, Claudia Dutson rather than impose preconceived models on them«34. Sie stellen allerdings auch fest, dass der Zustand der Withness nur schwer erreichbar und langfristig nicht durchhaltbar ist. Sie beobachten, dass sich Withness schnell auflöst, sobald die »object-character« untereinander in einen verbalen Dialog treten. Plötzlich sprechen nur noch die Studierenden miteinander, vielleicht ähnlich wie es bei dem »Théâtre des Négociations« gewesen sein könnte. Auch hier stellt sich ein weiteres Mal die Frage, ob es möglich ist, aus nicht-menschlicher Perspektive zu denken, ohne die eigene menschliche Perspektive einfach anthropomorph auf Dinge zu projizieren. Diese Grundfrage bleibt auch bei der Methode »Stakeholder Drama« bestehen. Diese Methode fokussiert nicht mehr allein die Verschmelzung zwischen Mensch und Ding, sondern provoziert einen Dialog zwischen Menschen und Nicht-Menschen innerhalb eines konfliktreichen Szenarios. Ein Problem, beispielsweise der Defekt eines Kühlschranks in einer Großküche, ist Ausgang dieser Methode, in der auch nicht-menschliche Beteiligte eine Stimme bekommen. Buur und Fries beobachten, dass das 34 | Ebd.

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»Stakeholder Drama« den Fokus produktiv verschiebt und damit zur Problemlösung beiträgt.35 Die konzeptionelle Nähe zum »Théâtre des Négociations« ist offensichtlich. Die Gleichberechtigung unterschiedlicher Akteure soll auf dezentrale Weise emergente Dynamiken sichtbar machen und so komplexe Probleme lösen. »The Performance of the nonhuman Behaviour«36 ist ein von den Designern Claudia Dutson, Defina Fantini van Ditmar und Dan Lockton initiierter Workshop. Ausgang des Workshops waren Fragen wie, »What kind of conversations take place between humans and machines, and the surrounding environment?«, »How is algorithmic decision-making, as designed into systems, experienced and understood by humans?« oder »What does it mean when nonhuman performance becomes a material of design practice?«37. Sie forderten ihre Workshopteilnehmer auf, Dialoge zwischen Mensch und vermeintlich smarter Technologie zu simulieren. Dabei war ein Teilnehmer immer herausgefordert, sich empathisch in die Technologie einzufühlen. Hier ging es allerdings nicht wie bei »Object Theatre« darum, einen Zustand der »Withness« zu erreichen, sondern vielmehr darum auszutesten, inwiefern sich Mensch und Maschine überhaupt verständigen können. Mittels performativer Methoden wurden Höflichkeitsformen erprobt, Vorurteile und Missverständnisse spürbar sowie Interessenskonflikte, Tautologien und Loops in der Konversation zwischen Mensch und Maschine offensichtlich. Das Projekt »Robot Empathy«38 ist ähnlich wie »Goatman« ein Experiment, das auf Prothesen basiert. Der Designer Kevin Grennan möchte die Eigenschaften von Computer Vision und die Funktionsweise von Algorithmen anderen Menschen näherbringen, die unweigerlich aber oft unwissend damit in Kontakt stehen. Er bemüht sich allerdings die innere Logik von Computern nicht analytisch zu erklären, sondern das Roboterdasein tatsächlich körperlich erfahrbar zu machen. Grennan möchte, dass für Menschen die sensorische Perspektive von Robotern nachvollziehbar wird. Zu diesem Zweck entwickelt er Prothesen, die eine tem35 | Ebd., S. 6. 36 | Vgl. www.nonhuman.me vom 15.05.2016. 37 | Dutson, Claudia/Fantini van Ditmar, Delfina/Lockton, Dan: »The Performance of nonhuman Behaviour«, 2015, S. 1. 38 | http://www.kevingrennan.com/proposals-to-facilitate-robot-empathy/ vom 20.06.2015.

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Abbildung 5: Robot Empathy, 2011. © Kevin Grennan

poräre sensorische Transformation ermöglichen. Eine dieser Prothesen übersetzt beispielsweise die menschliche Wahrnehmung in das schematische Wahrnehmungsvermögen von Robotern mit computergestützter Gesichtserkennung. Ein menschliches Gesicht wird für den Träger der Prothese auf geometrisch messbare Merkmale wie Auge, Nase und Mund reduziert. Eine andere Prothese übersetzt die entfernungsmessende Sensorik, die in der Robotik vielfach Verwendung findet, in ein Tonsignalsystem. Der Entwurf kommuniziert die Abstände von räumlichen Begrenzungen, die den Träger der Prothese umgeben, mittels Lautsprechern, die in die Prothese eingelassen sind. Grennans Projekt basiert auf seiner Beobachtung, dass gegenwärtig die Frage der Mensch-Computer-Empathie nur sehr einseitig diskutiert wird – nämlich inwiefern Computer ein empathisches Verhalten mit Menschen lernen können. Seine Prothesen sollen als experimentelle Ansätze verstanden werden, diesen an Computer gerichteten Anspruch umzukehren. Grennan schlägt seine Prothesen

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insbesondere als Instrumente für Ingenieure vor, die in der Lage sein sollten, sich in ihre Technologie hineinzuversetzen. Die vorgestellten Projekte sind alle als Experimente zu verstehen, bei denen Settings gestaltet wurden, um nicht-anthropozentrische Perspektiven zu versuchen. Design ist hier nicht als Disziplin der Problemlösung oder Formfindung zu verstehen, sondern als Strategie, Probleme überhaupt erst zu identifizieren. Die Projekte lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: Projekte wie »Goatman« oder »Robot Empathy« sind daran interessiert, durch physische Mimesis Erkenntnisse über eine Perspektive zu erlangen, die sonst nicht zugänglich wäre. Hier werden durch ein Wechselspiel der Perspektiven insbesondere auch Erkenntnisse über das Menschsein transparent. Workshops wie das »Théâtre des Négociations«, das »Object Theatre« oder »The Performance of the nonhuman Behaviour« nutzen dagegen stärker repräsentative Strategien, um Interessen zu verhandeln. Hier treffen unterschiedliche Repräsentanten aufeinander und tragen Konflikte aus. Diese Ansätze veranschaulichen komplexe Wechselwirkungen. Die Projekte beider Gruppen machen Dazwischen-Zustände relational erlebbar – ganz ähnlich wie es bei der indigenen Mimesis geschieht. Indem sie Beziehungen zwischen Entitäten kenntlich machen, scheinen sie auf eine von Bruno Latour an das Design adressierte Frage zu antworten: »Wo sind die Visualisierungswerkzeuge, mit denen sich die widersprüchliche und kontroverse Natur von uns angehenden Sachen repräsentieren lässt?«39 Bruno Latour fordert in seinem, derzeit von Designern und Designwissenschaftlern oft zitierten, Aufsatz »Ein vorsichtiger Prometheus« von Designern, nicht nur isolierte Gegenstände, sondern Dinge darzustellen.40 Die vorgestellten Projekte reagieren auf diesen Anspruch insofern, als sie sich mit Geflechten beschäftigen und nicht Bestandteile zu isolieren versuchen. Sie repräsentieren, präsentieren und visualisieren Komplexität, indem sie sich performativ involvieren.

39  |  Latour, Bruno: »Ein vorsichtiger Prometheus. Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs«, in: Sjoerd van Tuinen/Koenraad Hemelsoet/ Marc Jongen (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren, München: Wilhelm Fink 2009, S. 372. 40  |  Latour bezieht sich auf die Wortherkunft thing (germanisch) = Versammlung.

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Techno -M imesis Mit Blick auf die animistische Mimesis sowie die Anthropomorphisierung und Umweltlichkeit unserer technologischen Realität, lassen sich über Ursachen, Potenziale und Grenzen der vorgestellten Projekte erste Schlüsse ziehen. Gleichzeitig tun sich neue Denkräume und Fragen auf. Naheliegend ist die These, dass das gegenwärtige Interesse an Mimesis eine Reaktion auf die Anthropomorphisierung unserer Objektwelt ist. Entsteht gerade weil Technologie den Menschen imitiert, das Bedürfnis Technologie ebenso mimetisch nachzuahmen? Möglicherweise wird durch die Anthropomorphisierung der Dinge ›an sich‹ deren tatsächliche Wirkmacht, die sie in Relation entfalten, verschleiert. Wenn uns Dinge formal oder vom Verhalten her gleichen – also wenn beispielsweise Siri unsere Sprache spricht – gehen wir verhältnismäßig unreflektiert in einen Dialog. Das menschenähnliche Interface macht es uns schwer, die dinghafte – und eben nicht menschenähnliche – Wirkmacht zu erfassen. Dabei könnte es wichtig sein, zu begreifen, wie diese dinghafte Handlungsmacht funktioniert und inwiefern sie immer auch politisch vermittelt ist. Könnte Mimesis eine Methode für das Design sein, um Technologie vom Pseudo-Menschlichen befreit zu erkennen? Könnte durch die bewusste Subjektivierung also ein Unterschied zwischen menschlichem und technologischem Subjekt deutlich werden? Wenn wir die MenschTechnologie-Beziehung als soziale Beziehung verstehen, können wir Technologie möglicherweise auch moralisch ansprechbar machen. Technologien, die wir dagegen als uns fremde Objekte einordnen, sind immun gegen rechtliche, politische und moralische Kritik.41 Können wir ähnlich wie Willerslev es bei den Yukaghir beschreibt, durch Mimesis moralische Grenzen verhandeln? Die Vermenschlichung von Technologie und die Technologisierung unserer Umwelt provoziert die Sorge, dass wir uns entmenschlichen – also bestimmte Fähigkeiten verlernen oder die Kontrolle über uns verlieren. Selbstfahrende Autos, ›smarte‹ und sich selbstorganisierende Wohnhäuser oder uns beobachtende Tracking Devices – wir befürchten, unsere moderne Subjektposition zu verlieren und selbst zum Objekt zu werden. 41  |  Vgl. hier auch Hornborg, der den Modernen vorwirft, Technologie als Objekte zu neutralisieren und zu entpolitisieren. A. Hornborg: Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis, S. 63.

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Könnte Mimesis eine Praxis sein, die es uns ermöglicht, uns abzugrenzen, ohne der Technologie ihre Wirkmacht abzusprechen? Schließlich subjektiviert beinahe jeder im Alltag Technologie, die widerständig wird – beispielsweise Computer, die nicht funktionieren. Indem wir diese beschimpfen, sprechen wir sie persönlich an. Könnte andersherum das gezielte Subjektivieren durch Mimesis Widerständigkeit kreieren, die für die Konstitution unserer individuellen Subjektivität wichtig ist? Insbesondere die Projekte, die relational Konflikte verhandeln, wie das »Théâtre des Négociations«, lassen sich als eine Reaktion auf die Undurchsichtigkeit unserer komplexen, soziotechnologischen Umwelt verstehen. Experimentelle Empathie kann als Versuch gelesen werden, beteiligte Akteure sowie deren interdependente Wirkmacht – also ihren jeweiligen Einfluss auf andere – zu erfahren, um Unbegreif bares greif bar zu machen. Hier schließt die Frage an, ob es möglich ist, durch performative Repräsentation, Technologie und unser Verhältnis zu ihr, verstehen zu lernen. Können wir durch bewusste Mimesis zu technologischen Wesen in eine sinnvolle Beziehung treten, deren Intelligenz wir in der alltäglichen Interaktion nur schwer rational einschätzen können? Ohne die Fragen abschließend beantworten zu können, steht fest, dass die Stärken der vorgestellten Projekte, also sowohl die Kompetenz Komplexität darzustellen, als auch die Möglichkeit Grenzen zwischen Mensch und Ding zu verhandeln, in unseren technologischen Umwelten immer wichtiger werden. Die nicht-anthropozentrische Perspektive scheint aktuell grundsätzlich an Aufmerksamkeit zu gewinnen, da wir zunehmend erfahren, dass wir als Menschen über die ökologische und soziotechnologische Komplexität keine vollständige Kontrolle erlangen können. Die Projekte machen deutlich, dass neue Umgangsformen gesucht werden. Ein rein auf Objektivierung basierender Weltzugang scheint gegenwärtig an Grenzen zu stoßen. Eine Forschung, die ihren Gegenstand zu isolieren versucht, wird ihn in unserer vernetzten, globalisierten Realität nur partiell verstehen können. Es wäre allerdings unsinnig zu behaupten, dass sich Praktiken indigener Völker eins zu eins sinnvoll in unsere technisierte Wirklichkeit übertragen ließen. Der Neue Animismus und auch die animistische Praxis Mimesis können nur als Denkansätze dienen, um neue emanzipatorische Perspektiven im Umgang mit einer durch Technologie animierten

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Umwelt zu erschließen.42 Unser Denken bleibt von einer modernen Logik bestimmt. Und auch das Vorhaben, Techniken des Animismus für erkenntnistheoretische Zwecke zu nutzen, bleibt letztlich ein modernes Bestreben.43 Problematisch wird mimetisches Experimentieren dann, wenn es dem modernen Weltzugang dual entgegengestellt wird. Dichotomien zwischen modern und amodern verleiten dazu, den Neuen Animismus als idealisierten alten Animismus, den Tylor beschrieb, misszuverstehen. Nur wenn die Experimente weder als Aberglaube noch als ein Zurück in eine verklärte Vormoderne verstanden werden, haben sie hier und jetzt Potenzial. Wenn das Subjekt nicht als kategorialer Gegenbegriff zum Objekt verstanden wird und der Subjektstatus nicht zwingend an bestimmte Wesen gebunden bleibt, kann der Status situationsbedingt und probeweise auch zur Beschreibung für Technologie fruchtbar werden, ohne dass Menschen ihn automatisch verlieren müssten. Mimesis ist dann eine Methode neben weiteren performativen Ansätzen, die relational zwischen Mensch und Technologie verbindet, ohne Differenzen aufzulösen.

L iter atur Bird-David, Nurit: »›Animismus‹ revisited: Personenkonzept, Umwelt und relationale Epistemologie«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 19-52. Buur, Jacob/Friis, Preben: »Object Theatre in Design Education«, 2015. http://www.nordes.org/nordes2015/workshop_papers/T4.pdf [aufgerufen: 20.4.2016]

42 | Der Begriff Emanzipation kann unter Berücksichtigung des Neuen Animismus nicht mehr nur als Distanzierung oder Befreiung verstanden werden. Gemeint ist vielmehr ein Wechselspiel zwischen Distanzieren und Annähern oder zwischen Objektivieren und Subjektivieren. 43 | Epistemologisches Denken ist ein modernes Denken. Der Animismus ist dagegen, laut Eduardo Viveiros de Castro, zuallererst als Ontologie zu verstehen und nur bedingt erkenntnistheoretisch motiviert. Viveiros de Castro kritisiert entsprechend auch den epistemologischen Ansatz von Nurit Bird-David. Vgl. Viveiros de Castro, Eduardo: »Kommentare«, in: Albers/Franke, Animismus, (2012), S. 47.

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Dutson, Claudia/Fantini van Ditmar, Delfina/Lockton, Dan: »The Performance of nonhuman Behaviour«, 2015. http://www.nordes.org/opj/ index.php/n13/article/view/428/403 [aufgerufen: 20.6.2015] Franke, Anselm/Albers, Irene (Hg.): Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Hamburg: Fischer 1940 (zuerst: 1913). Groys, Boris: »Strategien der Repräsentation. Repräsentation und Ausnahmezustand«, 2001. http://groys.hfg-karlsruhe.de/txt/stdrep_151101.pdf [aufgerufen: 05.6.2015] Hansen, Mark B. N.: »Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung (2011), S. 365-409. Hörl, Erich (Hg.): Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt, Berlin: suhrkamp 2011. Hörl, Erich: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«, in: Hörl, Die technologische Bedingung (2011), S. 7-53. Hornborg, Alf: »Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 55-64. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: suhrkamp 2008. Latour, Bruno: »Ein vorsichtiger Prometheus. Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs«, in: Sjoerd van Tuinen/Koenraad Hemelsoet/ Marc Jongen (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren, München: Wilhelm Fink 2009, S. 356-373. Piaget, Jean: Das Weltbild des Kindes, Stuttgart: Klett-Cotta 2015 (zuerst 1926). Thwaites, Thomas: Goatman. How I Took a Holiday from Being Human, New York: Princeton Architectural Press 2016. Tylor, Edward Burnett: Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Band I+II, Hildesheim: Olms 2005. Viveiros de Castro, Eduardo: »Die kosmologischen Pronomina und der indianische Perspektivismus«, in: Schweizerische AmerikanistenGesellschaft 61 (1997), S. 99-114.

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Viveiros de Castro, Eduardo: »Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien«, in: Albers/Franke, Animismus, (2012), S. 73-93. Viveiros de Castro, Eduardo: »Kommentare«, in: Albers/Franke, Animismus, (2012), S. 47-49. Welsch, Wolfgang: Homo Mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Göttingen: Velbrück Wissenschaft 2012, S. 399 ff. Willerslev, Rane: Soul Hunters. Hunting, Animism, and Personhood among the Siberian Yukaghirs, Berkeley: University of California Press 2007.

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Immanente Relationen Von der Handlungsmacht der Dinge zur nichtrepräsentionalistischen Kunst und relationalem Design Susanne Witzgall

Ob es nun gegenwärtigen Ansätzen des Neuen Materialismus, der Objekt-Oriented-Ontology (OOO) oder des sogenannten spekulativen Realismus darum geht, gegen die Hybris des Menschen anzuschreiben – die uns an den Rande einer ökologischen Katastrophe gebracht hat –, die Welt realistischer darzustellen als bisher oder einen Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften auszurufen, eines ist ihnen gemeinsam: Materie, Materialien und Dinge gewinnen durch sie in den letzten Jahren an Eigenständigkeit zurück. Sie lockern den Klammergriff streng linguistisch-konstruktivistischer Ansätze, die Objekte als passiv und rein sozial konstituiert bestimmen, und kappen die ausschließliche Koppelung des Seins an das menschliche Bewusstsein in – von Quentin Meillassoux sogenannten – korrelationellen Ansätzen.1 Dabei fechten die durchaus heterogenen neu-materialistischen und spekulativen Theorien für ein dem Menschen nur partiell zugängliches Ding-an-sich, für widerständige Materie und Materialien mit Eigendynamik, für Objekte als Aktanten, Dinge mit Handlungsfähigkeit oder Handlungsmacht.

1 | »Unter ›Korrelation‹ verstehen wir die Idee, derzufolge wir Zugang nur zu einer Korrelation von Denken und Sein haben, und nie gesondert zu einem der beiden Begriffe. Daher nennen wir von jetzt an Korrelationismus jede Denkrichtung, welche den unüberschreitbaren Charakter der so verstandenen Korrelation vertritt.« Meillassoux, Quentin: Nach der Endlichkeit, Zürich/Berlin: diaphanes, 2014, S. 18.

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In den meisten Strängen des Neuen Materialismus ist diese Handlungsmacht unmittelbar an den Netzwerk-Gedanken geknüpft, an die Einbettung der Materie und Objekte in Assemblagen, Gefügen und Geflechten. So stimmen Akteur-Netzwerktheoretiker wie Bruno Latour, vitalistische Materialistinnen wie Jane Bennett und posthumanistische Medientheoretikerinnen wie Catherine Hayles darin überein, dass Objekte bzw. Dinge2 erst im Verbund mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen agieren.3 Selbst Jane Bennett, die dem kleinsten und einfachsten Körper zumindest einen unabhängigen »vitalen Impetus, Conatus oder Clinamen« zugesteht, sieht dessen Wirksamkeit oder Handlungsfähigkeit immer abhängig von »Kollaborationen, Kooperationen oder interaktiven Interferenzen vieler Körper und Kräfte«.4 Relationalität, die Einbettung in ein Netzwerk muss, bestätigt auch Catherine Hayles, immer Teil des Gesamtbildes sein. Nur in den Relationen eines gemeinsamen Kontexts spüre ein Objekt die Anziehungskraft eines anderen, würden Objekte miteinander in Berührung kommen und sich gegenseitig erkunden.5 In solchen Denkansätzen wird die Aktionsfähigkeit der Objekte als Kraft einer konföderierten Vereinigung von Menschlichem und Nichtmenschlichem angesehen, als verteilte Handlungsmacht, bei der Handeln nun keiner »Intentionalität, Freiheit und psychischer Innerlichkeit«6 mehr bedarf, sondern in der Einebnung der 2 | Dabei wird oft nicht klar zwischen Dingen und Objekten differenziert. Manche Autoren bevorzugen den Begriff des Dings wie beispielsweise Jane Bennett, andere den des Objekts wie beispielsweise Catherine Hayles. Häufig werden beide Begriffe auch synonym verwendet. 3  |  Vgl. Belliger, Andréa/Krieger, David: »Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie«, in: dies. (Hg.), Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-NetzwerkTheorie, Bielefeld: transcript 2006, S. 38: »Akteure erscheinen immer im Rahmen von Funktionszusammenhängen: Wenn bestimmte Bedingungen oder Situationen vorhanden sind, dann agieren Akteure so.« 4 | Bennett, Jane: Vibrant Matter, Durham, London: Duke University Press, 2010, S. 21. 5 | Hayles, N. Katherine: »Speculative Aesthetics and Object-Oriented Inquiry (OOI)«, in: Ridvan Askin u.a. (Hg.), Speculations. Aesthetics in the 21. Century, New York: Punctum Books 2014, S. 173–174. 6 | A. Belliger/D. Krieger: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, S. 35. New York: Punctum Books 2014, S. 173–174.

Immanente Relationen

Unterschiede zwischen Handeln, Einwirken, Erleben oder Antworten, der Dualismus zwischen passivem Objekt und autonomen aktivem Subjekt in Frage gestellt wird. Bennett und Hayles sparen dabei nicht mit kritischen Seitenhieben auf Graham Harmans und Timothy Mortons Object-Oriented-Ontologies der »Quadruple« und »Hyper-Objekte«, die unter anderem von distanzierten, allen Relationen vorgängigen Objekten ausgingen und diese unabhängig von Netzwerken als vorrangigen Ursprungsort von Aktionen ansehen würden.7 Doch auch das Bild, das Bennett und Hayles vom Verhältnis zwischen Geflechten und Objekten bzw. Dingen zeichnen, ist nicht unproblematisch: So impliziert ihre Rede vom Eintreten von Dingen in Relationen, von deren Formung »rauschender Systeme oder vorläufig arbeitender Assemblagen« 8 zumindest, dass diese ihren Relationen und Netzwerken vorgängig sind, auch wenn Bennett und Hayles letztere als Ort von Affektion, Anziehung bzw. von Handlungsmacht in den Vordergrund stellen. Ihre Konzeption der Geflechte und Relationen, des Dazwischen als Ort verteilter Handlungsmacht – oder, wie Bruno Latour das formulieren würde, als Geburtsort der »Quasi-Objekte« und »Hybride« –, setzt also immer schon etwas Positioniertes, etwas vorgängig Reines voraus. Auf diese Weise nimmt die Argumentation von Bennett und Hayles ihren Ausgang genau bei den Kategorien und Begriffen, die nach Latour selbst überhaupt erst durch die kritische Reinigung der modernen Verfassung entstanden,9 nämlich bei den in Gesellschaft und Naturreich getrennten Subjekten und Objekten, die sich bei der Politik- und der Medienwissenschaftlerin erst in beziehungsreichen Zwischenräumen erneut begegnen und gemeinsam Fahrt aufnehmen. Streng genommen scheint deshalb keiner der erwähnten Denkansätze die moderne Kosmologie der großen

7 | Bennett, Jane: »Systems and Things: A Response to Graham Harman and Timothy Morton«, in: New Literary History 43 (2012), S. 225–226. Hayles spricht im Bezug auf Harman von einer Einkapselung von Relationen in Objekte, welche schon das Nachdenken über die Dynamik eines Systems schwierig machen würde. K. Hayles, Speculative Aesthetics and Object-Oriented Inquiry (OOI), S. 174–176. 8  |  J. Bennett: Systems and Things, S. 231; K. Hayles: Speculative Aesthetics and Object-Oriented Inquiry (OOI), S. 174. 9 | Vgl. hierzu u.a. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1998.

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Trennungen komplett in Frage zu stellen, welche der Neue Materialismus, ebenso wie die Object-Oriented-Ontology eigentlich überwinden wollen.

B edingungen des W erdens Einen anderen überzeugenderen Weg schlägt hier der kanadische Philosoph Brian Massumi ein, indem er dem Dazwischen eine »logische Konsistenz«10 geben will. Massumi will das Dazwischen nicht als etwas begreifen, das in der Mitte zwischen verschiedenen Dingen liegt, die deren Interrelationen vorausgehen, sondern das von diesen unabhängig ein Sein der Mitte ist, das »Sein einer Relation«11. Relationen, Beziehungen, Wechselwirkungen sind bei Massumi – in engem Anschluss an den positiven Differenzbegriff von Gilles Deleuze – dem Sein immanent, sie sind Bedingungen eines dynamischen Werdens. Körper, Kultur, Individuum oder Gesellschaft – alle Phänomene und Dinge – sind somit nicht Bedingungen äußerlicher Relationen, sondern können gesehen werden als »Produkte, Effekte, Koableitungen einer immanenten Relation, die Veränderung in sich selbst wäre. Sie können mit anderen Worten als differenzielle Erscheinungen eines gemeinsamen Reiches von Relationen angesehen werden, das eines des Werdens und der Zugehörigkeit ist«12 . Massumis Ansatz privilegiert also nicht einfach äußerliche Relationen vor distanzierten Objekten und dreht das Abhängigkeitsverhältnis von bereits konstituierten Objekten (Subjekten oder Gesellschaften) und ihren Netzwerken einfach um, wie wir es zum Teil bei Bennett und Hayles finden, sondern versucht einen nichtdeterministischen Ansatz zu entwerfen, in dem Dynamik und Veränderung weder vorrangig von den einen noch dem anderen ausgehen.13 Diese liegen vielmehr in einer immanenten Relation begründet, in einem Reich des Werdens und der Zugehörigkeit. 10 | Massumi, Brian: Parables for the Virtual. Moment, Affect, Sensation, Durham/London: Duke University Press 2002, S. 70. Übers. d. Verf. 11 | Ebd. 12 | Ebd, S. 71. 13 | Allerdings bezieht sich Massumi in seinem Kapitel auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. auf die Relationen zwischen Individuum und Gesellschaft. Sein Ansatz kann aber ohne weiteres auf den Streit um die Priorisierung von Objekt oder Netzwerk übertragen werden.

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Massumis Priorisierung von Relationen ist für mich insofern überzeugend, als sie vielfältige Flankierung und Unterstützung von Theorien aus ganz anderen Disziplinen erhält. Hierzu gehören Theorien zur Entstehung der Welt, welche die Möglichkeit geladener Teilchen voraussetzen, Beziehungen und Verbindungen einzugehen, eine Fähigkeit durch die überhaupt erst Materie entstehen kann. Hierzu gehört aber auch das Konzept einer ›Embodied Cognition‹, die nicht nur davon ausgeht, dass kognitive Prozesse, ja überhaupt die Ausbildung von Intelligenz und Bewusstsein, nicht unabhängig vom Körper und seinen Relationen und Interaktionen mit der Umwelt gesehen werden kann, ja, dass Kognition durch ihre enge Verflechtung mit Leib und Umgebung über das Gehirn, den Körper und die Umwelt hinaus verteilt ist (Extended Mind Thesis).14 Materie, ebenso wie Bewusstsein, so könnte man sagen, ist ohne die grundsätzliche Existenz von Beziehungen, von Relationen nicht möglich, sie sind Voraussetzung für deren Werden und Agieren. In ähnlicher Weise bestimmt die Physikerin und feministische Theoretikerin Karen Barad Relationen als Urgrund des Seins, wenn sie ausgehend von quantentheoretischen Beobachtungen, Elektronen – ja alle materiellen Entitäten – als »miteinander verwobene Relationen des Werdens«15 bezeichnet. In der quantentheoretischen Perspektive Barads, so meine These, entspricht dem »Dazwischen« Massumis die Leere zwischen den Teilchen, die aber – entgegen der klassischen Ontologie eines Dualismus von Teilchen und Leere – in der Quantenfeldtheorie eben nicht leer ist. Die physikalischen Teilchen sind nach Barad von der Leere vielmehr unseparierbar, sie »intraagieren« mit »den virtuellen Teilchen der Leere und können daher nicht von ihr getrennt werden«16. Genauer gesagt findet eine unendliche »Intraaktion« des kleinsten geladenen Teilchens mit dem umgebenden elektromagnetischen Feld statt, in dem beispielsweise ein Elektron ein virtuelles Photon (das Quant eines elektromagnetischen Feldes) emittiert, das dann wiederum »Intraaktionen« mit dem Elektron

14 | Siehe u.a. Clark, Andy/Chalmers, David: »The extended mind«, in: Analysis 58 (1998), S. 7–19. 15  |  Barad, Karen: »Berühren – Das Nicht-Menschliche, das ich also bin (V.1.1.)«, in: Susanne Witzgall/Kerstin Stakemeier (Hg.), Macht des Materials / Politik der Materialität, Zürich/Berlin: diaphanes 2014, S. 172. 16 | Ebd., S. 171.

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eingehen kann, bevor es wieder von dem Elektron absorbiert wird.17 Das Dazwischen, die Leere, ist insofern auch bei Barad kein trennender Ort zwischen den Entitäten, der bei einer Kontaktaufnahme zu überbrücken ist. Er ist vielmehr ein Ort der Relationen und Berührungen sowie den aus ihnen entstehenden Möglichkeiten und Potenzialitäten des Werdens. Die mikroskopischen Relationen des Werdens in der Quantenwelt finden bei Barad zudem eine makroskopische Entsprechung im beziehungsreichen Werden der Phänomene im Rahmen epistemischer Prozesse der Wissenserzeugung. So spielen wissenschaftliche Apparaturen, aber auch andere an der Befragung des Untersuchungsgegenstandes beteiligten Prozesse und Akteure bei der Grenzziehung und ›Scharfstellung‹ von Phänomenen eine zentrale Rolle. Ein Phänomen kann daher nach Barad nicht als gegeben hingenommen werden, sondern wird durch materielldiskursive »Intraaktionen« (re)produziert. Der Begriff der »Intraaktion« betont dabei explizit einen Vorgang, der sich innerhalb von Phänomenen abspielt und durch den sich diese erst materialisieren und Relevanz erhalten – im Gegensatz zur Interaktion zwischen Phänomenen, die bereits von vorneherein klar definierte und voneinander getrennte Identitäten voraussetzen.18 Handlungsmacht aber ist in solchen Modellen einer Priorisierung von Relationen und beziehungsreichen »Intraaktionen im Werden« eine durchaus komplexe Angelegenheit. Barad versteht Handlungsmacht im Anschluss an ihre relationale Ontologie als eine »Angelegenheit, wiederholt spezifische Praktiken durch die Dynamik der Intraaktivität zu verändern« sowie als eine »Inkrafttretung/Aufführung« (enactment).19 Handlungsmacht ist nach Barad also nicht etwas, das jemanden oder etwas zu eigen ist oder durch das Aufeinandertreffen von Objekten in Zwischenräumen aktiviert wird, in denen diese einfach aufeinander reagieren, sich an- oder abstoßen. Objekte und Phänomene sind – ähnlich wie bei Massumi – vielmehr erst die Produkte immanenter Relationen, die bei Barad der Dynamik der »Intraaktivität« zugrunde liegen. Auch für Massumi ist 17 | Ebd., S. 169. 18 | Vgl. hierzu u.a. Barad, Karen: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 19–21. 19 | Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham/London: University Press 2007, S. 214. Übers. d. Verf.

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Handlungsmacht niemandem zu eigen und ergibt sich nicht einfach aus den Reizen und Reaktionen des Aufeinandertreffens abgeschlossener Entitäten. Ihre Wurzeln sind stattdessen genau in den Relationen zu verorten, die Massumi als Dimension des Werdens oder als »Event-Dimension des Potenzials«20 bezeichnet. Die Potenziale der Event-Dimension aber werden nach Massumi durch die induktiven, katalytischen und transduktiven Mischungen des Feldes substantieller und zerstreuter Elemente entlassen und rekonfiguriert: Ereignisse finden bei Massumi also durch die Aktualisierung potenzieller Events innerhalb der Relationen des Seins statt, wobei an dieser Realisierung ein ganzes Feld verschiedener Elemente und Begriffe teilhat. Jedes dieser einzelnen Elemente hat nun durch seine Offenheit und Zugehörigkeit auf das Gesamte, auf das Allgemeine Einfluss und kann als Katalysator, Überträger oder Transformator wirken – egal ob dieses Element menschlich oder nichtmenschlich ist. Es ist somit ein Akteur, ein Teilsubjekt. Barad und Massumi folgend sehe ich die dem Sein immanenten Relationen als Voraussetzung und Ursprungsort des Werdens wie auch der ›Handlungsmacht‹ der Dinge und Menschen an. Diese immanenten Relationen sind Voraussetzung für die Offenheit der Dinge und Menschen gegenüber dem Anderen, gegenüber dem, was sie nicht sind. Sie sind verantwortlich für die Fähigkeit der Dinge und Menschen zu antworten und als der »Katalysepunkt eines Kraftfeldes, Ladungspunkt der Möglichkeiten«21 wirken zu können. In diesem Bild hat auch der kleinste unbewegte und unbelebte Partikel in seiner An- aber auch seiner Abwesenheit Anteil an dem Eintreten oder Ausbleiben eines Ereignisses, an der Inkrafttretung einer Dynamik und ist damit ein Akteur. Unbenommen von dieser Feststellung plädiere ich jedoch für eine Differenzierung von Handlungsmacht. So scheinen manche dieser Akteur_innen – sei es durch eine bewusste Entscheidung oder durch weniger intentional erscheinende Faktoren – durch ihre Masse, ihren hohen Energiegehalt, ihre reaktiven und transformierenden Fähigkeiten, offensichtlich intensiveren Einfluss auf das Feld der Möglichkeiten zu nehmen als andere. Ihre katalytische Kraft scheint zu dominieren, die Kraft anderer Akteur_innen abzuschwächen oder mit dieser zu interferieren. Doch diese Dominanz mag einerseits von kurzer Dauer sein und liegt andererseits im Auge des/ 20 | B. Massumi: Parables for the Virtual, S. 76. 21 | Ebd., S. 73.

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der Betrachter_in. Akteur_innen sind gleichzeitig immer Teilobjekte, die von anderen Akteur_innen in bestimmtem, begrenztem Maße angesprochen und in ihrer Möglichkeit zu agieren bestimmt werden. Und da die Relationen im Sein als Feld der Möglichkeiten sich immer im Fluss des Werdens, in der Modulation von Potenzialen befinden, befinden sich folglich auch die katalytischen, transduktiven Mischungen ihrer Effekte ständig im Fluss.

B eziehungen der V erpflichtung Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus einer Priorisierung von Relationen und einer mit dieser verbundenen Definition von Handlungsmacht als Fähigkeit, etwas in Kraft treten, etwas geschehen zu lassen? Welche Konsequenzen lassen sich hieraus für unser Verständnis von Welt, unser Handeln und unsere kulturelle Praxis ziehen? Und was bedeutet die Konzeption einer verteilten Fähigkeit der Inkrafttretung für den gesellschaftspolitischen Wert intentionaler und verantwortlicher menschlicher Handlungsfähigkeit? Versinkt sie im Reich der Relationen? Oder kann sie genau aus diesem heraus neu entwickelt werden? Einen Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen bietet vielleicht Karen Barads Bestimmung relationaler Verschränkungen des Seins als »Beziehungen der Verpflichtung«22, die für sie eine Art ethisches Apriori darstellen: »Entscheidend ist, dass man der Ethik aufgrund der Materialisierung [mattering] nicht entkommen kann. [...] Verantwortung ist nicht eine Verpflichtung, die das Subjekt wählt, sondern eine menschgewordene/fleischgewordene [incarnate] Relation, die der Intentionalität des Bewusstseins vorausgeht. Verantwortung ist keine Berechnung, die ausgeführt wird. Sie ist eine Relation, die immer schon ein integraler Bestandteil des andauernden intraaktiven Werdens und Nicht-Werdens der Welt ist«.23 Versteht man Ethik ganz allgemein als Lehre vom guten und 22 | K. Barad: Berühren, S. 174. Barad zitiert hier aus ihrem Aufsatz: »Quantum Entanglements and Hauntological Relations of Inheritance: Dis/continuities, Space-Time Enfoldings, and Justice-to-Come«, in: Derrida Today 3.2 (2010), S. 240–268. 23 | Ebd., S. 175.

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gerechten Handeln und Leben, so findet diese nach Barad also eine vorintentionale Begründung im relationalen Sein und intraaktiven Werden der Welt.24 Da wir wie alle menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen offene Körper sind, Körper der Zugehörigkeiten, Körper, die überhaupt erst aus den Relationen des Seins heraus entstanden und im Prozess des Affizierens und Affiziert-Werdens das Werden einer unendlichen Vielzahl Anderer mitbestimmen, gehen die Anderen uns etwas an, tragen wir für diese Anderen eine Mitverantwortung. Wie jedoch ein ethisches Handeln und Wollen tatsächlich aussieht und zu realisieren wäre, das diese Zugehörigkeit und Mitverantwortung explizit in Rechnung stellt, ist zu diskutieren, intuitiv zu praktizieren, aber auch intentional zu entscheiden. Bennett und Hayles plädieren dabei für eine sanfte Anthropomorphisierung des Anderen, die »eine Welt der Resonanzen und Ähnlichkeiten enthüllen«25 oder gerade durch die eigene imaginative Projektion »in die Welterfahrung anderer Objekte«26, den Anthropozentrismus und Narzissmus überwinden könnte. Dass mit Elementen einer Anthropomorphisierung der Anthropozentrismus überwunden werden soll, wirkt jedoch wie ein Widerspruch in sich. Vielmehr scheint es zentraler zu sein, die sensorischen und intellektuellen Fähigkeiten für das Relationale des Seins zu schärfen und die existentielle Bedeutung der Berührung, Verbundenheit und Durchlässigkeit zu verinnerlichen. Anthropomorphisierung spielt hier unweigerlich mit hinein, aber eher als ungebetener Gast, weil er sich im Grunde einer Begrüßung der Andersheit und positiven Differenz, der vorurteilsfreien Akzeptanz der Fremdheit von allem Nichtmenschlichen entgegenstellt, die für eine Begegnung auf Au24 | Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass die ursprüngliche ethymologische Bedeutung von griech. ethos neben Lebensgewohnheiten (Sitten) und Sittlichkeit auch die materiellen Bedingungen des Zusammenlebens meinte. Es verweist somit auf eine enge Verbindung zwischen der Art und Weise des Zusammenlebens, bestimmten Verhaltensweisen und bestimmten sittlichen Anschauungen und Regeln. Vgl. hierzu: Klaus, Georg/Buhr, Manfred: Philosophisches Wörterbuch, Berlin: Das europäische Buch 1964, S. 165–166. Siehe ferner: Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1 (A–G), Mannheim/Wien/Zürich: B.I.-Wissenschaftsverlag 1980, S. 592. 25 | Bennet, Janes: Vibrant matter. A political ecology of things, Durham/London: Duke University Press 2010, S. 99. 26  |  K. Hayles: Speculative Aesthetics and Object-Oriented Inquiry (OOI), S. 177.

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genhöhe so wichtig ist. Ähnlich argumentiert auch Rosi Braidotti, wenn sie sich in Bezug auf das Verhältnis des Menschen zum Tier gegen eine Vermenschlichung oder empathische Einfühlung als Strategien eines kompensatorischen Humanismus wendet. Sie plädiert vielmehr für eine posthumane Beziehung, die das »Wechselverhältnis von Menschen und Tieren als konstitutiv für die Identität jeder besonderen Art«27 betrachtet. »Es handelt sich um eine transformative oder symbiotische Beziehung, die ihre jeweilige Natur verändert und die Gemeinsamkeiten ihrer Interaktion betont. Das ist das ›Milieu‹ des Zusammenhangs von Menschlichem und Nichtmenschlichen«, so Braidotti, »das man als ein offenes Experiment erkunden muss«.28 Das aber heißt auch, dass das Bewusstsein für die »Intraaktionen« des Selbst und der Anderen, für das Relationale des Seins sich nicht unmittelbar in ethisches Handeln übersetzen lassen und dass die »Bedingungen neuer politisch-ethischer Handlungsfähigkeit nicht aus dem unmittelbaren Kontext ableitbar sind«.29 Diese müssten nach Braidotti vielmehr im tagtäglichen Zusammenwirken mit den Anderen erprobt bzw. affirmativ verwirklicht werden. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang jedoch, wie die Bedingungen einer solchen neuen politisch-ethischen Handlungsfähigkeit geschaffen werden können. So stellt sich die Frage, ob nicht das offene Experiment, von dem Braidotti spricht, eher eine Voraussetzung als eine Realisierung dieser Bedingungen darstellt. Das offene Experiment der Erkundung des ›Milieus‹ relationaler Verschränkungen von Menschlichem und Nichtmenschlichen wäre in diesem Fall eher ein Zwischenschritt, dessen Erkenntnisse und Erfahrungen als Brücke zwischen den Potenzialen einer neuen Kosmologie der Relationen und intentionalen gesellschaftspolitischen Entscheidungen und Transformationen fungieren könnten – Entscheidungen, die der Mensch in einem zweiten Schritt durchaus bewusst zu treffen und gegenüber bestehenden Machtstrukturen durchzusetzen hätte.

27 | Braidotti, Rosi: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2014, S. 84. 28 | Ebd. 29 | Ebd., S. 194.

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N eue M aterialistinnen in der K unst Erste Ansätze für ein solches experimentelles Erkunden relationaler Verschränkungen zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichen zeichnen sich derzeit auf dem Feld der zeitgenössischen Kunst ab. Zumindest lässt sich hier teilweise eine Umwertung von Materie, Materialien und Artefakten diagnostizieren, die im Gestaltungsprozess zu geschätzten Mitakteuren mit widerständigen Charakteren und eigenen dynamischen Kräften avancieren – auch wenn dabei nicht alle Künstler_innen der Gefahr einer partiellen Anthropomorphisierung des Nichtmenschlichen entgehen können, die den Blick vom Prozess der »Intraaktion« und des wechselseitigen Werdens abzulenken droht auf ein von der menschlichen Vorstellungswelt vereinnahmtes und geformtes Objekt. Künstler_innen wie Sergej Jensen, Nina Canell, Karla Black oder Alexandra Bircken, die ich an anderer Stelle als neue Materialist_innen bezeichnet habe,30 geben – ebenso wie Pierre Huyghe in einigen seiner jüngeren Arbeiten wie beispielsweise »Untilled« (2012) – verwendeten Materialien und Dingen (oder Tieren) Raum zur Verselbstständigung und Entfaltung, betonen ihre affektiven und affizierenden Qualitäten und exponieren ihre Resonanzen und »Intraaktionen« in materiellen Assemblagen und Gefügen. Auch die Künstlerin Nora Schultz eröffnet in ihren Arbeiten ein experimentelles Feld, auf dem Materialien und Objekte als Akteure erscheinen und geht dabei eventuell noch einen Schritt weiter. In jüngsten Arbeiten wie »I am Honda« und »Squiggle« (beide 2015) gibt Schultz zum einen ihrer performativen »Intraaktion« mit Materialien und Objekten breiten Raum, die dabei nicht als passive Produkte oder Skulpturen präsentiert werden, sondern als Dinge, die durchaus eine relationale Vorgeschichte, ein Vorleben in anderen Zusammenhängen haben und in einer anderen »Event-Dimension des Potenzials«, einem anderen Ausstellungskontext und in Kommunikation mit der Künstlerin und anderen nichtmenschlichen Akteur_innen neue Situationen und Zustände katalysieren und 30 | Witzgall, Susanne: »Material Experiments. ›Phenomeno-Technology‹ in the Art of the New Materialists«, in: Michael Schwab (Hg.), Experimental Systems. Future Knowledge in Artistic Research, Leuven: Leuven University Press 2013, S. 41–42 und Witzgall, Susanne: »Neue Materialist_innen in der zeitgenössischen Kunst«, in: Susanne Witzgall/Kerstin Stakemeier (Hg.), Macht des Materials / Politik der Materialität, Zürich/Berlin: diaphanes 2014, S. 137–150.

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Abbildung 1: Nora Schultz, I am Honda, Videostills, 2015. Quelle: Nora Schultz miterzeugen. Zum anderen versucht Nora Schultz im Rahmen einer offenen und experimentell angelegten Weiterentwicklung ihrer verschiedenen künstlerischen Auf bauten und Installationen, Objekte in Bewegung zu versetzen, ihre fest zugeschriebenen Identitäten, passiven Nutzungs- und Gebrauchsbestimmungen sowie konventionellen narrativen Festlegungen zu sprengen und sie immer wieder – wie Massumi das ausdrücken würde – in die »Immanenz des Feldes der Potenzialität eintreten« zu lassen, in dem »Veränderung geschehen kann«.31 In dem Film »I am Honda« sehen wir eine Ausstellungsvorbereitung als performatives Ereignis (Abb. 1), in dem sich der Raum und die künstlerischen Objekte im Werden befinden. Wir sehen dieses Ereignis zudem nicht aus der Perspektive eines/einer menschlichen Beobachter_in, sondern aus der Perspektive einer Drohne, die, wie Nora Schultz das selbst ausdrückt, »durch fehlende Kontrolle eine Eigenständigkeit in Blickwinkel und Aufmerksamkeit«32 an den Tag legt und auf diese Weise eine andere 31 | B. Massumi: Parables for the Virtual, S. 77. 32 | Nora Schultz in einer E-mail an die Autorin vom 21.6.2015.

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nichtanthropozentrische Instanz des Erzählens einzuführen scheint. In Kombination mit ihrer schwankenden Perspektive, ihrem ungestümen, stotternden Blick verunsichert sie den menschlichen Standpunkt und versetzt uns in einen Schwindel, in dem man sich die Grenzen des Raumes, der Materialien und Dinge, ihrer Verhältnisse und Bezüge auf neue Art und Weise ertasten muss. Das voice over thematisiert zudem den schwierigen Akt des Balance-Haltens von Objekten (Stativen) ebenso wie von Menschen in der simplen Fortbewegung des Gehens. Der Akt des Balance-Haltens ist einer, der in der Isolation einer Entität scheitert (das Stativ will nicht alleine stehen), sondern nur im Verbund und der Relation verschiedener Kräfte möglich ist, und darf so vielleicht als eine zentrale Metapher der Zugehörigkeiten und Offenheit gegenüber dem Gesamten verstanden werden. Der Hinweis der voice over auf die große Anzahl an Materialien und Straßen, Materialien und Geschwindigkeiten, einer gemeinsamen Öffentlichkeit und der Feststellung, dass man diese Dinge nur festgemacht und überprüft bekommt, »wenn man sie auf die gleiche Ebene stellt«33, erinnert wiederum an Barads Ausführungen zu den epistemischen Prozessen der Wissenserzeugung, an denen verschiedene nichtmenschliche und menschliche Akteur_innen in hierarchieloser »Intraaktion« teilnehmen und dabei erst die Grenzen und Bestimmungen der untersuchten Phänomene festlegen. Die Objekte, die im gefilmten künstlerischen Prozess entstehen, gleichen zudem Propellern und langen Insektenbeinen (Abb. 2). Sie evozieren so Flug- und Gehbewegungen, die Potentialität eines fortschreitenden Werdens und die Möglichkeit einer Dynamik, der Inkrafttretung eines Events.

W ider dem R epr äsentionalismus Nora Schultz verfolgt in solchen Arbeiten – ebenso wie viele andere Neue Materialist_innen – einen künstlerischen Ansatz, der die künstlerischen Wissenspraxen und Repräsentationen als direkte materielle Involvierung mit der Welt thematisiert und die in ihrem Rahmen stattfindenden »Intraaktionen« mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen Akteur_innen anspricht. Ihr geht es nicht um eine statische Repräsentation, um ein abgeschlossenes Bild von etwas, auch wenn am Ende ihres 33 | Nora Schultz, »I am Honda«, Min. 13:20–13:33. Übers. d. Verf.

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Abbildung 2: Nora Schultz, I am Honda, Ausstellungsansicht, Detail, Reena Spaulings Fine Art, 2015. © Joerg Lohse künstlerischen Unternehmens Räume, Plastiken, Assemblagen oder Filme entstehen. Es ist der Prozess der materiellen »Intraaktionen«, seiner bedeutungserzeugenden Erzählung sowie Umdeutung von Narration durch einen Wechsel in die nichtmenschliche Perspektive, die Verselbstständigung, Sprengung und aktive Mitgestaltung narrativer Strukturen durch nomadische Objekte, die die Künstlerin interessieren. Dabei werden Sätze durch den Filmschnitt, der sich an den Vorgaben der unkonventionellen Drohnen-Kamerabewegungen orientiert, zerhackt und Bilder geraten aus dem Gleichgewicht. Insofern ist gerade in »I am Honda« nichts zu spüren von einem »repräsentionalistischen Glauben an die Macht der Wörter« – ebenso wie der Bilder könnte man ergänzen – »zur Widerspiegelung schon vorhandener Phänomene«34, den Karen Barad im Zuge ihres agentiellen Realismus kritisiert. Nach Barad hält der Repräsentionalismus die Welt auf Abstand, siedelt uns außerhalb dieser an und ist schuld an der Vorstellung einer unveränderlichen passiven Materie, 34 | K. Barad: Berühren, S. 9.

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die erst durch eine äußere kulturelle oder historische Kraft animiert wird. Der Repräsentionalismus setzt eine Trennung der Wörter und Bilder von den Phänomenen und Dingen voraus, nimmt aber an, dass die Ersten die Letzten repräsentieren, um Erkenntnis zu ermöglichen. Die Kunst der Neuen Materialist_innen aber, zu der ich auch Nora Schultz zählen würde, versucht sich einer solchen repräsentionalistischen Widerspiegelung der Phänomene und Dinge zu verweigern und arbeitet an der Aufhebung dieser Trennung. Materialien und Objekte nehmen in ihr aktiv und eigenwillig am künstlerischen Prozess der Werkentstehung und Bedeutungserzeugung teil. Eine nicht-repräsentionalistische Kunst heißt meiner Meinung nach jedoch nicht, dass diese jegliche Form der Repräsentation aufgibt. Es handelt sich dabei aber weniger um eine Repräsentation von etwas, bei der wir es mit Symbolen und damit »mit Analogien zu tun (haben), mit hypothetischen, mehr oder weniger willkürlichen Konstrukten«35. Stattdessen begegnen wir in vielen Arbeiten der Neuen Materialist_innen eher zwei anderen Formen der Repräsentation, die der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger in Anlehnung an Charles Sander Pierce als »Ikonen« oder »Indizes« bezeichnet.36 Unter Ikonen versteht er eine Reprä35 | Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Berlin: Suhrkamp 2006, S. 127. Symbolische Repräsentationen können meist jedoch von den Künstler_innen nicht vollständig ausgeklammert werden. So lässt sich nicht vermeiden, dass die propellerähnlichen Plastiken in »I am Honda« von Nora Schultz als (symbolische) Darstellung von Bewegung und Beschleunigung erscheinen oder in der stativähnlichen Skulptur (»tripod«) Analogien zur menschlichen Statur aufscheinen. 36 | Die Art der Repräsentation gälte es auch in Bezug auf die Arbeit »Untilled« (2012) von Pierre Huyghe zu differenzieren, über die David Joselit schreibt, dass sie sich einer »mühelosen Bildproduktion« verweigere. Denn hier handelt es sich meiner Meinung nach weniger um ein Arbeiten »gegen Repräsentation« und schon gar nicht um ein »Theater des Bedeutungszerfalls«, wie Joselit schreibt, als ebenfalls um ein Arbeiten gegen den Repräsentionalismus. Letzteres bezieht sich zudem nur auf die Gesamtinstallation, während einzelne Elemente von »Untilled«, wie die Skulptur des Frauenaktes mit Bienenstock als Kopf, sich einer ganz konventionellen Form der Bildproduktion und symbolischen Repräsentationen bedienen. Vgl. Joselit, David: »Gegen Repräsentation«, in: Texte zur Kunst 24 (2014), S. 93–103.

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sentation als, bei der die Repräsentation »den doppelten Sinn einer Stellvertretung und gleichzeitigen Verkörperung«37 hat, was beispielsweise bei Modellen oder Simulationen der Fall ist. Modelle stellen in der experimentellen wissenschaftlichen Praxis meist »standardisierte, gereinigte, isolierte, verkleinerte und in ihren Funktionen reduzierte Entitäten«38 dar und stehen stellvertretend für Substanzen, Reaktionen, Systeme oder Organismen, die weniger gut verfügbar, transportabel oder manipulierbar sind. Indizes meinen dagegen auch die Realisierung einer Sache. In diesem Fall besteht die Repräsentation aus »experimentell realisierte[n] Spuren«39, die entstehen, wenn die untersuchten Phänomene innerhalb einer experimentellen Anordnung in »Intraaktion« mit allen anderen beteiligten Akteur_innen »zum Sprechen«40 gebracht werden. Übertragen wir die Pierce-Rheinberger’sche Differenzierung dieser zwei anderen Repräsentationsformen auf »I am Honda« von Nora Schultz, so kann man sagen, dass ihre Arbeit, in welcher der Prozess des Ausstellungsauf baus, seine filmische Repräsentation aus nichtmenschlicher Perspektive und die Ausstellung selbst, verschiedene Aggregatszustände ein und desselben Werkes darstellen, einerseits indexikalische Repräsentationen enthält. Denn die Künstlerin versucht durch ihren performativen Ansatz und die offene experimentelle Anlage, die beteiligten Materialien oder Objekte zum Sprechen zu bringen und realisiert Spuren globaler Zusammenhänge sowie Effekte potentieller Relationen menschlicher und nichtmenschlicher Elemente. Andererseits kann die hier bezeugte performative »Intraaktion« mit den Objekten selbst, als auch die Drohnen-gesteuerte Verunsicherung der anthropozentrischen Perspektive im gewissermaßen laborhaften Bereich des Kunstkontextes als ein Stellvertreter, eine Verkörperung, ja ein Modell – im Sinne der Rheinberger’schen Definition – für ein weit genereller anzusiedelndes offenes Experiment der Erkundung von relationalem Sein menschlicher und nichtmenschlicher Elemente sowie einer nichtrepräsentionalistischen Praxis angesehen werden, bei der Materialien und Objekte in 37 | Ebd. 38 | J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, 2006, S. 135. 39 | Ebd., S. 128. 40 | Rheinberger, Hans-Jörg: »Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen«, in: Peter Friese u.a. (Hg.), Say it isn’t so. Naturwissenschaften im Visier der Kunst, Ausst. Kat.Weserburg, Museum für moderne Kunst, 2007, S. 87.

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Wechselwirkung mit Subjekten an der Bild- und Bedeutungserzeugung teilhaben. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu betonen, dass Nora Schultz’ Arbeit insofern kein repräsentionalistisches Modell von einem abgeschlossenen Phänomen oder Objekt darstellt, wie es beispielsweise bei einem Architekturmodell der Fall ist. Es handelt sich vielmehr um einen begrenzten Stellvertreter, eine eingeschränkte Verkörperung für das erwähnte offene Experiment einer Erkundung des Milieus der »Intraaktionen« und Zugehörigkeiten von Menschlichem und Nichtmenschlichem – ob sich diese nun auf das relationale Werden von Kultur (in diesem Fall einer Ausstellung) oder die bedeutungserzeugende Auseinandersetzung mit Welt beziehen. Der Vorteil von Modellen ist, dass sie Mittler zur Wirklichkeit sein können, erhellende Stellvertreter für reale Ökologien und Prozesse, Testfelder, begrenzte Plattformen der Erfahrung. Sie können das missing link zwischen ontologischem Potenzial und politischer Transformation sein, ein Experiment im Kleinen, das hilft uns neu zu orientieren und unsere emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zu schärfen, das Relationale des Seins zu begreifen und in Verhaltensweisen zu übersetzen. Ein weiterer Vorteil von Modellen ist, dass sie transportabel und medial übertragbar sind. Auf diese Weise können sie auch in andere Zusammenhänge und neue Räume migrieren und hier wiederum zu vielfältigen katalytischen Teilsubjekten werden. Dass Nora Schultz’ offenes Experiment zunächst auf einer sehr kunstimmanent und abstrakt erscheinenden Ebene beginnt, ist deshalb kein Manko. Die Künstlerin setzt vielmehr genau da an, wo jeder beginnen muss, bei der eigenen alltäglichen Praxis und Profession. Grundsätzliche Paradigmen und Prinzipien dieser Praxis sind jedoch ähnlich und auf andere Felder übertragbar.

E pilog zu einem rel ationalen D esign Die beschriebene spezifische Handlungsmacht der Dinge als Fähigkeit, etwas in Kraft treten, etwas geschehen zu lassen, ebenso wie die Überlegungen zu relationalen Verschränkungen des Seins als »Beziehungen der Verpflichtung« hat auch für die Designpraxis gravierende Konsequenzen. Sie legt eine Modifikation hin zu einem nicht-repräsentionalistischen Design sowie einem Design als verantwortungsvolles und experimentelles Sich-Einlassen auf eine neue Kosmologie der Relationen nahe. Unter

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einem nicht-repräsentionalistischen Design verstehe ich in Anknüpfung an die bisherigen Überlegungen eine Designpraxis, die sich ihrer direkten materiellen Involvierungen mit der Welt bewusst ist und ihre »Intraaktionen« mit einer Vielzahl menschlicher und nichtmenschlicher Akteur_innen offenlegt. Es ist keine Designpraxis, welche sich die Welt auf Distanz hält und ihre Ergebnisse schlicht als passive gestaltete Repräsentanten und Varianten von Werkzeugen, Hilfs-, Gebrauchs- und Orientierungsmittel des Menschen, als funktionale und kulturelle Symbolträger und schon gar nicht als eine Form der Rhetorik versteht, die Andere überzeugt, »den Transaktionsfluss von Gütern und Dienstleistungen« 41 zu erhalten oder zu steigern. Es ist eine Designpraxis, die ihre Produkte – wie der schwedische Designer Pelle Ehn das für die Ansätze des partizipatorischen Designs und des Meta-Designs in Anspruch genommen hat – nicht nur als etwas versteht, das »den Raum der Interaktionen für seine Nutzer_innen modifiziert sowie bereit für unerwarteten Gebrauch und reich an ästhetischen und kulturellen Werten ist, die neue Wege des Denkens und Verhaltens eröffnen«42 . Nicht-repräsentionalistisches Design – oder vielleicht sollten wir lieber von relationalem Design sprechen – ist für mich wesentlich mehr. Relationales Design begreift immanente Beziehungen, »Intraaktionen« und Berührungen als Bedingungen aller Möglichkeiten und Potenzialitäten eines dynamischen Werdens. Relationales Design sieht Körper, Kultur, Artefakte und Individuen gleichermaßen als Produkte, Effekte und Koableitungen dieses Reichs der Relationen an. Es ist sich der Zugehörigkeit, Offenheit, Durchlässigkeit aller Körper, Phänomene und Dinge und der katalytischen und transduktiven Wirkung jedes kleinsten Elements bewusst, durch die sich ganz spezielle Potenziale der immanenten Relationen aktualisieren. Relationales Design erkennt die relationalen Verschränkungen des Seins als »Beziehungen der Verpflichtung« und lässt sich darauf ein, die transformativen »Intraaktionen«, die gemeinsame, eng miteinander verwobene Dynamik des Werdens von Dingen und Körpern, Materie und Gesellschaft, Menschlichem und Nichtmenschlichem in einem verantwortungsvollen offenen Experiment zu erkunden. Dieses Experiment trägt der Handlungsmacht aller menschlichen und nichtmenschlichen Elemente Rechnung, ja es rechnet mit der katalyti41 | Wood, John: Design for Micro-Utopias. Making the Unthinkable Possible, Hampshire: Gower House 2007, S. 11. Übers. d. Verf. 42 | Pelle Ehn, »Participation in Design Things«, S. 1–2. Übers. d. Verf.

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schen Kraft jedes Elements, das durch seine Ab- oder Anwesenheit an dem Eintreten eines Ereignisses, der Inkrafttretung einer Dynamik Anteil hat – an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ebenso wie an Umweltprozessen oder individuellen Entscheidungen. Als Brücke zur Wirklichkeit kann dabei die modellhafte Erkundung solcher Dynamiken und Prozesse dienen, die vor dem Hintergrund einer relationalen Ethik experimentiert. Es ist übrigens genau diese relationale Ethik, das Wissen um die »Beziehungen der Verpflichtung«, die mein Verständnis von relationalem Design von einem relationalen Designbegriff unterscheidet, der sich vorrangig auf die Offenheit des Design-Settings und der mit dieser verbundenen Einladung zur Teilnahme am Gestaltungsprozess bezieht.43 Relationales Design ist für mich ein Gestaltungsprozess, der sich neben dem Einschließen von performativen, prozessorientierten, experimentellen und partizipatorischen Aspekten der katalytischen Dynamik seiner Aktionen, Materialien, Kogestalter_innen und Produkte bewusst ist, hierfür Verantwortung übernimmt und deshalb deren Fähigkeiten, potenzielle Ereignisse zu aktualisieren, etwas in Kraft treten zu lassen, im Milieu des Zusammenhangs vom Menschlichen und Nichtmenschlichen testet und antizipiert. Ein so verstandenes relationales Design könnte in Modellexperimenten eine geeignete Basis schaffen, auf der intentionale Designentscheidungen getroffen werden, die den Problemen der Gegenwart angemessen sind und in »Intraaktion« mit anderen Akteur_innen eventuell sogar notwendige gesellschaftspolitische Veränderungen in Gang setzen könnte.

43 | So versteht beispielsweise der Architektur- und Designkurator am Walker Art Center, Andrew Blauvelt, relationales Design vor allem als Design für das Machen von Design, als »Kreation von Systemen und stärker ergebnisoffenen Rahmenwerken zur Teilnahme« (beispielsweise des Verbrauchers), Blauveld, Andrew: »Towards Relational Design«, 11.03.2008. http://designobserver.com/feature/ towards-relational-design/7557/ vom 29.7.2015. Übers. d. Verf.

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Acting Things Oder kann die Gestaltungsdisziplin von den performativen Künsten lernen? Judith Seng

Design wird zunehmend über die Formgebung von Artefakten hinaus als integrierende Perspektive auf und gestalterische Haltung zur Welt verstanden. Durch den Fokus auf Situationen des alltäglichen Lebens eröffnet Design eine transdisziplinäre Perspektive, die verschiedenste Wissensbereiche versammeln kann. So verstanden ist Design weniger einem disziplinären Duktus oder Medium verpflichtet, als der Entwicklung von Neuem, in der Hoffnung den Status Quo zu verbessern. Daher kann es je nach Fragestellung sinnvoll sein, entweder etwas Greif bares (ein Objekt, einen Raum) oder einen Prozess (ein Verfahren, eine Methodik, ein System) zu gestalten. Und oft lässt sich das Eine vom Anderen nicht getrennt betrachten, da das Prozessuale oder Immaterielle und das Materielle sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Erweitert sich das Verständnis von Design, so stellt sich die Frage nach neuen Formaten, Werkzeugen und Methoden der Gestaltung, die in der Lage sind, materielle und immaterielle Akteure zu integrieren und in ihrem Zusammenspiel sichtbar und erfahrbar zu machen, um so dieses Zusammenwirken weniger verwalten und zunehmend gestalten zu können. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen habe ich vor einigen Jahren mit der experimentellen Projektserie »Acting Things« begonnen, um mich am Beispiel von Produktionsprozessen mit grundlegenden Teilaspekten dieser Fragestellung praktisch-untersuchend auseinanderzusetzen. Bis heute sind fünf »Acting Things« Produktionen entstanden, in denen das zu verarbeitende Material Handlungen in Form von Performances hervorruft, die wiederum das Material in Form bringen. Die ver-

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schiedenen Experimente sind ergebnisoffen und bauen aufeinander auf, d.h. Beobachtungen und Fragen aus einem Experiment führen zu einem nächsten und so weiter. Auslösendes Moment für das Projekt »Acting Things« war ein Erster-Mai-Feiertag, den ich bei Freunden in Süddeutschland verbrachte. Inmitten all der befremdlichen Folkore der Feierlichkeiten entdeckte ich eine Szenerie, die überraschende Bezüge zu Themen eröffnete, die mich in meiner Arbeit beschäftigten. Rund um einen meterhohen Maibaum tanzte eine Gruppe von Männern und Frauen den traditionellen Bandltanz, bei dem durch die Bewegung der Tänzer ein Gewebe geflochten und wieder aufgelöst wird.1 Die Choreografie der Tänzer und die Form des Gewebes waren unmittelbar miteinander verknüpft und bildeten durch Interaktionen eine sich bewegende und verändernde Einheit zwischen Materialien und Menschen. Ich sah weniger das folkloristische Fruchtbarkeitsritual, das der Tanz eigentlich symbolisiert, sondern vielmehr einen tänzerischen Produktionsprozess: Wie sähe ein Objekt aus, das aus solch einer Produktion hervorginge? Würde ein materielles Ergebnis den Charakter des Tanzes verändern? Und welche Perspektiven eröffnen sich, wenn wir Arbeit als gesellschaftliches Ritual betrachten und Produktion als Tanz oder als Spiel? Und weiter: Wie kann die Prozessgestaltung von den performativen Künsten lernen? Betrachten wir Produktionsprozesse als gestaltbare Choreografie oder Performance des Alltags, so offenbart sich eine Vielfalt an materiellen und immateriellen ›Gestaltungsmaterialien‹, die interagieren und sich gegenseitig bedingen: Menschen, Objekte, Räume, Materialien, Atmosphären, Interaktionen, Narrationen, Regeln – aber auch die jeweils individuelle Agenda dieser Akteure, ihre Körperlichkeit, ihr Begehren, ihre Befindlichkeit, ihre Eigengesetzlichkeit und vieles mehr. Auch wenn diese Inhalte vordergründig Themen und Materialien der Künste, der Religion oder des Privaten zu sein scheinen, so versammeln sie sich doch in jedem noch so banalen Herstellungsprozess, wenn auch meist inoffiziell und im Verborgenen.

1  |  Der Bandltanz wurde einst als folkloristisches Fruchtbarkeitsritual praktiziert, um den Übergang in eine fruchtbare Phase des Kalenderjahres zu zelebrieren und um das Männliche und Weibliche sowie Himmel und Erde miteinander zu verweben. Für einen Eindruck von dem Tanz vgl. www.judithseng.de/projects/acting-things/

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V ersammeln und sichtbar machen Im ersten Experiment »Acting Things I – Produktionstheater«2 wurde die Werkstatt zum Theater erklärt, indem die Herstellungs- und Nutzungsprozesse eines Alltagsgegenstands auf die Bühne gebracht wurden. Auf den Theaterkarten war zu lesen, dass der Abend kein Geld, aber 45 Minuten Arbeitseinsatz kosten würde. Als die Gäste den Saal betraten, wurden sie begrüßt und eingeladen, das Mobiliar selbst herzustellen, um anschließend gemeinsam daran zu speisen. Jeder Gast bekam einen Hammer oder ein Päckchen Nägel ausgehändigt und betrat direkt die Bühne, auf der sich eine Installation aus Holzlatten befand. Sowohl das Lattenmaterial, als auch die Hämmer und Nägel waren nummeriert, sodass durch die passende Zuordnung dieser Nummern jeweils zufällige Versammlungen an Holzleisten, Werkzeugen, zwei Menschen, deren Intentionen, Interaktionen und Resultate entstanden. Der Prozess, der sich daraus entspann, war nur minimal vorgegeben und wurde maßgeblich über die Interaktion mit dem Material und über die kollektive Vorstellung darüber, wie man zusammen isst und was dafür benötigt wird, bestimmt. Es entstanden 27 verschiedene ›Stücke‹, die im doppelten Sinne sowohl Objekt aber auch Theaterstück waren. Denn inmitten der kollektiven Choreografie des Bauens und Essens entwickelten sich ganz vielfältige Begegnungen, Regeln, Zielsetzungen, Interaktionen, Diskussionen und Interpretationen an der Auseinandersetzung mit den Objekten. Es gab keine menschlichen Zuschauer, die von außen das Geschehen beobachten konnten. Vielmehr war jeder zugleich Erfinder, Akteur und Zuschauer, der ganz individuellen Entstehungsgeschichte seines ›Stücks‹. Einzig eine Kamera, die an der Decke befestigt war, dokumentierte aus der Vogelperspektive den Blick von außen. Am Ende des Abends, nachdem alle Gäste den Raum verlassen hatten, blieben 27 Objekte alleine zurück. Sie wurden dem Theaterkontext entnommen und vor einem neutralen Hintergrund fotografisch dokumentiert. Als statische Objekte zeugen sie von den verschiedenen Gestaltungsideen der Akteure. Gleichzeitig sind sie ›Spuren‹ einer vergangenen Handlung und verweisen auf einen dynamischen Prozess, bestehend aus verschiedenen Interaktionen, Intentionen und Verhandlungen des jeweiligen Kollektivs. 2 | Acting Things I – Produktionstheater, Hebbeltheater am Ufer (HAU) Berlin, 24.6.2011, www.judithseng.de/projects/acting-things-i/

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Abbildung 1: Produktions- und Interaktionsprozess auf der Bühne und drei der insgesamt 27 Objekte, als Spuren der vergangenen Handlung von Acting Things I, 2011. © Studio Judith Seng

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Wie von selbst entwickelten sich auf der Bühne durch die Auseinandersetzung mit dem Material aus dem Alltag bekannte Tragödien und Komödien. Kann man Essen auf einem Tisch servieren, der gleich zusammenzubrechen droht? Einige Akteure weigerten sich, die Holzleisten wie vorgeschlagen zu vernageln und stapelten eine Struktur für zwei Personen, die gleichzeitiges Essen und Trinken erforderte, um die Konstruktion in Balance zu halten. Das Personal der mobilen Küche entschied aus eigenem Ermessen, dass dieser Tisch zu riskant für alle sei, die ringsherum auf dem Boden arbeiteten. Daraufhin verbreitete sich das Gerücht im Raum, dass nur diejenigen Essen bekämen, die einen ›richtigen‹ Tisch bauten. Andere gingen unhinterfragt davon aus, dass Ziel des Abends sei, den eigenen Tisch so schnell wie möglich fertig zu stellen, um noch etwas von dem Essen abzubekommen. In einem anderen Fall trug ein Gast ein Kind bei sich. Seine ihm zugeloste Partnerin berichtete anschließend von dem Unglück, die ganze Arbeit alleine verrichtet haben zu müssen, da dem Partner ja nur eine Hand zur Verfügung stand. Andere Akteure wiederum versuchten sich an vielen verschiedenen Varianten, bis ihr Tisch genau die Merkmale aufwies, die sie sich für das Essen wünschten. Die Intention dieses ersten Experiments war, die immateriellen, prozessualen Aspekte wie Herstellung und Nutzung eines gewöhnlichen Gegenstands der Gestaltung in einem Raum- und Zeitfenster – der Bühne – zu versammeln und als integral sichtbar zu machen. Auf einer Bühne sind wir gewohnt, Prozesse als gestaltbar zu betrachten. Dort können Schwerpunkte verschoben und bekannte Abläufe anders choreografiert werden, um neue Sichtweisen auf das Bekannte zu eröffnen. Bei »Acting Things I« stand nicht die Vorführung eines ›Making-of‹ im Vordergrund, sondern das Experiment als Versuchsauf bau, um den Schaffensprozess mit theatralischen und performativen Mitteln zu untersuchen und sichtbar und erfahrbar zu machen. Gestaltet wurde weniger das Ergebnis, sondern vielmehr der Versuchsauf bau als Ganzes: der Raum, die Materialien, die Regeln und die Narration. Dieses und auch folgende Experimente, wurden nicht erst vollständig geprobt und dann aufgeführt. Zwar wurden einzelne Teilaspekte getestet, um das Experiment zu entwickeln. Die volle Potenzialität des Zusammenspiels von Prozessen, Dingen und Räumen offenbarte sich jedoch erst im Moment der vollständigen Aktivierung des Experiments. Erst dann eröffnete sich ein Erfahrungsraum, indem das Vermögen der Materialität, sowohl Prozesse zu gestalten als auch abzubilden, sichtbar wurde.

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Der Prozess des ersten Experiments wurde weniger durch eindeutige Handlungsanweisungen, sondern vielmehr durch die sorgfältige Präparation der zur Verfügung gestellten Materialien initiiert und geleitet. Handlungen und Abläufe entfalteten sich wesentlich an der ›Reibung‹ mit dem Material und dem Versuchsauf bau. Diese Beobachtung führte zur Entwicklung des nächsten Experiments und der Auseinandersetzung mit der Schnittstelle, an der sich Körper und Material gegenseitig beeinflussen und Mensch und Objekt sich zu überlagern scheinen. So wird etwa bei tanzenden Derwischen, die um ihre eigene Achse rotieren und dabei ihre Kleider zu Volumen aufschwingen, eine unzertrennliche Einheit aus körperlicher Bewegung und Objekthaftigkeit sichtbar. Wenn man die Hände einer Töpferin betrachtet, die mit flüssigem Ton überzogenen sind, so scheint man dagegen Zwitterwesen zu entdecken, die halb Material und halb Körper sind. Und wenn ein Pizzabäcker seinen Teig gekonnt in der Luft ausdreht, erscheint seine Interaktion mit dem Material sowohl handwerklich als auch tänzerisch.

M ensch und O bjek t als inter agierende E inheit Das Experiment »Acting Things II – Dialogue«3 beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen Mensch und Material und stellt die Frage, wer hier wen und wie choreografiert und beeinflusst. Erste Material- und Bewegungsexperimente provozierten bald die Frage, wie ein Tänzer, dessen Werkzeug der Körper ist, zu einem neuen Experiment beitragen könnte. Ich lud eine Tänzerin ein, mit mir zu arbeiten und forderte sie auf, mit dem Material Wachs zu tanzen. In einem improvisierten Dialog sollten ihre Bewegungen das Material formen und gleichzeitig die entstandene Form und die Konsistenz des Materials ihre Bewegungen beeinflussen. Durch die Arbeit mit der Tänzerin entwickelte sich eine Art der Interaktion, die sich als kontinuierliche Suchbewegung zwischen Tanz und handwerklicher Herstellung eines Objekts herausstellte. Stand das Tänzerische zu sehr im Vordergrund, dann lag die Aufmerksamkeit auf dem Körper, den Bewegungen, dem Raum und das Material verkam zur bloßen Requisite. Lag andererseits der Fokus zu sehr auf der Herstellung 3 | Acting Things II – Dialogue, 6. Juni 2011 im Depot Basel, Tänzerin: Barbara Berti, www.judithseng.de/projects/acting-things-ii/

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Abbildung 2: Acting Things III, Tänzerin: Barbara Berti, 2012. © Rudi Schröder eines Objekts, schienen die Bewegungen des Körpers einzig und allein zu diesem Zweck ausgeführt zu werden und glichen einer handwerklichen Tätigkeit. Interessant waren die Momente, wenn eine gleichwertige und gleichzeitige Aufmerksamkeit auf Körper, Material, Bewegung, Raum und Ergebnis gelang. Dann offenbarte sich ein Zwischenraum, der nicht ganz Tanz und nicht ganz Handwerk war und in dem beide Akteure in einen Dialog miteinander traten und kontinuierlich neu verhandelten, wer wen auf welche Art und Weise beeinflusste und bedingte. Nachdem die Tänzerin das erste Mal mit dem Material getanzt hatte, stellte sie fest: »Das Material hat meinen Atem verändert!« Welch eine bemerkenswerte Aussage über die gestalterische Arbeit mit Material! Wahrscheinlich ergeht es jedem, der mit Material hantiert so, nur liegt bei den meisten Produktionsprozessen die Aufmerksamkeit weniger auf dem Körper, beispielsweise aus Perspektive eines Handwerkers. Die Tänzerin dagegen fokussiert auf den Körper und ist daher in der Lage, den Einfluss wahrzunehmen und uns davon zu berichten. Dieses zweite Experiment »Acting Things II – Dialogue« fand im Rahmen einer Ausstellung in Basel statt. Die Objekte für die Ausstellung wurden erst während der Eröffnung durch die Tänzerin hergestellt. Der

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Beginn des Produktionstanzes war für 19 Uhr angekündigt. In einem Hinterzimmer wurde das dafür verwendete Modellierwachs vorbereitet. Es wurde verflüssigt, um es einzufärben und gerührt und gewalkt, bis es die richtige Konsistenz hatte, um im Tanz durch den Körper geformt zu werden. Es sollte weich genug sein, um sich durch den Körper formen zu lassen und zugleich fest genug, um ihm Widerstand zu bieten. Der Prozess vom Schmelzen bis zum völligen Aushärten des Wachses erstreckte sich über drei Stunden und erforderte eine kontinuierliche Betreuung. Nur etwa 15 Minuten lang hatte das Material die gewünschte Konsistenz. Dieses Zeitfenster termingenau zu treffen, gestaltete sich als eine größere Herausforderung als ursprünglich angenommen. Unsere Aufgabe, das Material für den Gestaltungsprozess vorzubereiten, glich der Rolle eines Gärtners, der versucht, günstige Bedingungen zu schaffen und Impulse zu setzen, um die Prozesse zu beeinflussen. Aber letztendlich entzogen sich die Eigenprozesse des Materials der genauen Planbarkeit. Da sich das Tempo der Transformation des Materials als der eigentliche Taktgeber des Experiments entpuppte, wurde es im dritten Experiment ins Zentrum des Geschehens gerückt. Der folgende Versuchsauf bau entwickelte sich entlang der Frage, wie man alle Akteure eines Produktionsprozesses gleichwertig versammeln, ihren Eigendynamiken Raum geben und diese sichtbar machen kann. Wie verändert sich der Prozess, die Rolle der Objekte und der Akteure, wenn das Material den Rhythmus aller Interaktionen vorgibt?

M aterial als Tak tgeber »Acting Things III – Over Work«4 dauerte drei Tage. Am ersten Tag wurden in einer Ausstellung die im vorherigen Experiment entstandenen Objekte samt Video gezeigt. Am zweiten Tag wurde die Ausstellung zu einem Versuchsauf bau umgebaut, um die zuvor ausgestellten Objekte in einem neuen Prozess zu überarbeiten. Der definierte Produktionszeitraum betrug 10 Stunden, in denen sich die Transformationsprozesse eigendynamisch entlang ein paar weniger Regeln entfalten konnten. Ein Objekt nach dem Anderen wurde wieder eingeschmolzen. Das flüssige 4 | Acting Things III . Over Work, 20. Oktober 2012 zur Graduale im Amerikahaus Berlin, Tänzerin: Barbara Berti, www.judithseng.de/projects/acting-things-iii/

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Wachs wurde umgefärbt, gewalkt, abgekühlt und durch einen tänzerischen Dialog neu geformt. Am dritten Tag wandelte sich der Raum erneut zur Ausstellung und die neuen Objekte, inklusive eines Videos des Prozesses vom vorherigen Tag, wurden gezeigt.

Z uschauer oder A k teur ? Das Material war Impulsgeber für die Handlungen und Interaktionen der involvierten, menschlichen Akteure und bestimmte den Fortlauf der Dinge. Anstatt den Zeitpunkt der Interaktion selbst zu bestimmen, beobachteten die Akteure die Transformation des Materials und warteten auf den richtigen Moment für ihre Aktionen. Der Prozess entwickelte sich sehr langsam und forderte Zurückhaltung und Aufmerksamkeit für den richtigen Moment der Interaktion. Es entstand eine ganz eigene, fließende Dramaturgie mit wenigen Höhepunkten im herkömmlichen Sinne. Stattdessen bestand viel Raum und Zeit für viele kleine, leicht übersehbare Beobachtungen und unerwartete Erfahrungen. Es kam vor, dass ein Zuschauer über 40 Minuten hinweg dem langsamen Schmelzen und Bearbeiten des Materials zusah und dann, kurz bevor der richtige Zustand für den Tanz erreicht war, aufstand, um den Raum zu verlassen. Andere Besucher dagegen kamen immer wieder kurz vorbei, in der Hoffnung, den vermeintlichen Höhepunkt – den Tanz – abzupassen. Das gelang aber nur in den seltensten Fällen, denn nicht nur die Akteure, sondern auch die Zuschauer mussten sich auf das Tempo und die Dramaturgie des Experiments einlassen, um es für sich in Erfahrung zu bringen. Die Zuschauer, denen es gelang aufmerksam zu verweilen, wurden Teil des gesamten Versuchsauf baus und seiner Wirkung.

O bjek t und Tr ansformation Diese Beobachtung führte im darauf folgenden Experiment, »Acting Things IV – Material Flow«5 zu einer speziellen Gestaltung der Bühne: Sie wurde mittig in einem 2000 qm großen Ausstellungsraum platziert 5  |  Acting Things IV – Material Flow, 11. – 16. Juni 2013 zur Design Miami/Basel, TänzerInnen: Barbara Berti, Julian Weber, www.judithseng.de/projects/acting-things-iv/

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Abbildung 3: Begehbare Bühne und Interaktion zwischen Material und zwei Tänzern bei Acting Things IV. Tänzer: Barbara Berti, Julian Webe, 2013. © Rudi Schröder

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und war mit Einbuchtungen versehen, sodass die Zuschauer in das Bühnengeschehen eintreten konnten, ohne die Bühne selbst zu betreten. In manchen der Nischen standen Bänke mit hohen Rückwänden, die zum Verweilen einluden und den übrigen Raum abschirmten. Fernrohre erlaubten es dem Besucher in die feinen Details der Transformationsprozesse einzutauchen. So wie die Besucher unterschiedliche Positionen und Perspektiven einnehmen konnten, waren auch die menschlichen Akteure des Experiments nicht nur auf den Bühnenraum beschränkt. Sie verließen die Bühne und gesellten sich unter die Zuschauer, wenn sie auf den nächsten Zeitpunkt für eine Interaktion mit dem Material warteten. So entstanden Durchmischungen von Zuschauern und Akteuren und von deren Perspektiven und Haltungen. Dieses vierte Experiment griff auch erneut die Frage nach der Rolle der Objekte in einem Produktionsprozess auf und untersuchte sie in einem größeren Rahmen. Schon bei »Acting Things III« stand sowohl am Anfang als auch am Ende des Prozesses ein gefertigtes Objekt. Zwischen diesen beiden Zuständen entspann sich eine Reihe an Transformationen, die sich unendlich fortschreiben ließen. In diesem Sinne sind die Objekte nicht nur als Ergebnisse oder Schlusspunkte eines vorangegangenen Prozesses zu betrachten, sondern ebenso als Anstoß und Auftakt für einen folgenden Prozess. Oder wie der Musiker und Improvisationstheoretiker Christopher Dell vermerkte: »Form ist nur die aktualisierte Erscheinung der im Prozess befindlichen Transformation.«6 Dieser Kreislauf der kontinuierlichen Transformation einer Form sollte im Kontext einer Sammlermesse vertieft werden. Das vierte Experiment »Acting Things IV – Material Flow« erstreckte sich über sieben Tage, jeweils acht Stunden pro Tag. Auf der bereits beschriebenen Bühne stellten fünf menschliche Akteure 15 Objekte pro Tag her, die in einem Regal ausgestellt und gelagert wurden. Am darauf folgenden Tag wurden die eben erst gefertigten Objekte über acht Stunden hinweg Stück für Stück wieder eingeschmolzen, umgefärbt, durch verschiedene Tänze umgeformt und so weiter. Lediglich ein Objekt wurde aus der Produktion eines jeden Tages ausgewählt und in einem gesonderten Regal auf bewahrt. Im Verlauf der sieben Tage füllte sich dieses Regal, bis sieben Objekte in sieben verschiedenen Farbnuancen den Fortlauf der Zeit und der Produktion dokumentierten. Der Farbverlauf entwickelte sich über die Tage hinweg von Hellblau über Grün in ein dunkles Blau – bis sich 6 | Dell, Christopher: »Performanz des Raumes«, in: Arch+ 40 (2007), S. 143.

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am letzten Tag die Farbe der Objekte an die dunkelblaue Kleidung der Akteure angeglichen hatte und es schien, als ob Körper und Objekt farblich ineinander übergingen.

A neignung und K oll abor ation Über die Dauer von sieben Tagen schienen sich die Tätigkeiten und Interaktionen scheinbar zu wiederholen und zu wiederholen. Es war eine Herausforderung für die Akteure, sich das Experiment immer wieder neu anzueignen, ohne es dabei auszuschmücken. Die Arbeit glich einer meditativen, zeremoniellen Handlung, die eine hohe Aufmerksamkeit und innere Auseinandersetzung mit der Art und Weise etwas zu tun erforderte. Die Interaktion der Akteure mit und in der Installation – dem Raum, dem Material, den Menschen, den Prozessen – wurde durch einige grundlegende Regeln gesteuert. Die tatsächliche Ausführung der sich wiederholenden Tätigkeiten musste jedoch von jedem einzelnen Akteur beständig aktualisiert, interpretiert und angeeignet werden. Diese kontinuierliche Suchbewegung nach einer gleichzeitigen und gleichwertigen Aufmerksamkeit auf Raum, Material, Körper, Objekt und Mitspieler konnte weder routiniert erfolgen, noch ließ sie sich einfach festlegen, einüben und dann aufführen. Sie war auch nur bedingt übertragbar, denn erzeugte ein bestimmter Zugang für einen Akteur oder eine Situation die richtige Spannung, so konnte sich der gleiche Ansatz für einen anderen Tänzer und Augenblick als unbelebt erweisen. Die Zuschauer entpuppten sich schnell als Spiegel und Barometer für diese Suche. War eine Interaktion zu routiniert und spannungslos, so standen die Besucher einfach auf und gingen weiter. Nicht nur die Dauer, sondern auch die Anzahl der Tänzer steigerte sich in diesem vierten Experiment. War bisher eine Tänzerin mit dem Material in Dialog getreten, so agierten nun zwei Tänzer und das Material miteinander (und drei weitere Performer, die das Material vorbereiteten). Verhandelt wurde nicht mehr nur zwischen Mensch und Material, sondern auch zwischen zwei verschiedenen Personen und deren jeweils individueller Körperlichkeit und Befindlichkeit sowie Vorstellung über die gemeinsame Tätigkeit. Fragen nach Führung, Durchsetzung oder Zurückhaltung wurden in der Improvisation mit dem Material auf die Bühne gebracht. Wie kann man sich und die eigenen Vorstellungen über

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den Prozess zurückhalten und dennoch aktiver Teil des Geschehens sein? Wie kann die individuelle Aneignung – die Art und Weise etwas engagiert zu tun – und das geteilte Interesse, ein Objekt zu gestalten, in einem gemeinsamen Tanz gelingen? Und weiterführend: Wie können Formate einer Intersubjektivität aussehen, in denen sich das Individuelle zeitgleich im größeren Zusammenhang des Ganzen verorten kann? Émile Durkheim bemerkte in seiner Auseinandersetzung mit Ritualen: »Durch gemeinsames Handeln wird die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusst.« 7 Vor diesem gedanklichen Hintergrund entstand das fünfte Experiment »Acting Things V – Connexions« 8 im Kunstgewerbemuseum Dresden. Ich wurde eingeladen, mit der dortigen Sammlung zu arbeiten. Bei meiner Recherche stieß ich auf Klöppelspitze. Es handelt sich dabei um das Ergebnis eines fast vergessenen und hochartifiziellen Handwerks, bei dem verschiedene Fäden mittels bis zu 80 Holzklöppeln und Nadeln auf einem Kissen zu einer filigranen Spitze verwoben werden. In der Literatur lassen sich Beschreibungen finden, in denen Frauen ihre Aussteuer klöppeln, um die Zeit bis zu ihrer Verheiratung auszufüllen. Die komplizierte und zeitaufwendige Technik des Klöppelns führte also nicht nur zu einem materiellen Ergebnis in Form des Spitze, sondern diente auch dazu, das Fortschreiten der Zeit für die Arbeitenden sichtbar und erfahrbar zu machen. Interessanterweise weist die Technik des Klöppelns – Kreuzen und Drehen – Parallelen zur Choreografie des eingangs beschriebenen Bandltanz auf. Der Tanz findet am 1. Mai statt, als eines von acht Jahresfesten, die analog zum Sonnenlauf gefeiert werden, um das Fortschreiten des Jahres – also von Zeit – kollektiv erfahrbar zu machen.9 Für die Ausstellung gestaltete ich ein Produktionssetting in Form einer unfertigen Installation, die erst in der laufenden Ausstellung durch die Besucher fertig gestellt werden sollte. Ich skalierte die Technik des Klöppelns und entwickelte ein Objekt sowie eine Choreografie für einen 7 | Durckheim, Èmile: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le sytème totémique en Australie. Paris: Alcan 1912, S. 598. Übers. d. Verf. Original: »c’est par l’action commune qu’elle [la société, Anm. d. Verf.] prend conscience de soi«. 8 | Acting Things V – Connexions, 21. Juni im Kunstgewerbemusem Dresden, www.judithseng.de/projects/acting-things-v/ 9 | Auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, diente die Spitze dazu, eine Distanz zu markieren. Denn auch wenn sie von Bauersfrauen und deren Kindern hergestellt wurde, war das Tragen der Spitze lange Zeit dem Adel vorbehalten.

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kollektiven Produktionsprozess, durch den das Klöppeln sowohl körperlich als auch räumlich erfahren werden kann. Einige Tage nach der Eröffnung wurde zu einem Produktionsfest mit 28 Gästen eingeladen. Diese Gruppe war zufällig und bunt gemischt und erstellte ohne Vorwissen durch einen gemeinsamen Tanz das Ausstellungsobjekt. In dieser Produktion wurden nicht nur Fäden, sondern einander unbekannte Menschen miteinander verwoben Als der Tanz beendet und das Objekt fertiggestellt war, wurde bei Wein und Brot weitergefeiert. Die Produktion wurde durch eine gesprochene Choreografie in Echtzeit angeleitet. So eröffnete sich über die direkte körperliche Erfahrung des gemeinsamen Tuns ein anderer, nicht-distanzierter Zugang zu Wissen – in diesem Fall über die Technik des Klöppelns.

D ynamische P rotot ypen Wie sehr verschiedene menschliche und nicht-menschliche Akteure einer Produktion trotz ihrer so unterschiedlichen Erscheinungsformen und Qualitäten miteinander verflochten sind, beschreibt der Soziologe Bruno Latour folgendermaßen: »Wenn Dinge Versammlungen sind, wie Heidegger sie zu definieren pflegte, dann ist es nur ein kurzer Weg zu der Betrachtungsweise, alle Dinge als Resultat einer Aktivität anzusehen, die [...] ›kollaboratives Design‹ genannt wird. Diese Aktivität ist in Wirklichkeit die treffendste Definition einer Politik der uns angehenden Dinge, denn alle Designs sind ›kollaborative‹ Designs – selbst wenn in einigen Fällen die ›Mitarbeiter‹ überhaupt nicht sichtbar, willkommen oder willens zur Beteiligung sind.« Und weiter folgert er: »Die Geschichte zeigt jedoch ebenfalls, dass wir noch längst nicht fähig sind, für Dinge, das heißt für uns angehende Sachen, einen visuellen, das heißt öffentlich inspizierbaren Raum bereitzustellen, der auch nur im Entferntesten so ergiebig wäre, so leicht handhabbar und kodifiziert wie das, was vierhundert Jahre lang für als Tatsachen begriffene Objekte getan worden ist.«10

10 | Latour, Bruno: »Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«, in: Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen, Koenraad Hemelsoet (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 363.

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Abbildung 4: Das durch eine Choreografie entstandene Objekt von Acting Things V, 2014. © Rudi Schröder Prototypen sind ein wichtiger Bestandteil des Gestaltungsprozesses von Gegenständen, um Lösungsansätze nicht nur als Idee, sondern als mögliche Realität probeweise in die Welt zu setzen. Existiert eine Idee als materialisierte Möglichkeit, kann sie im Kontext erprobt und mittels direkter Erfahrung analysiert und weiterentwickelt werden. Können diese Potenziale eines Prototypen auch für die Gestaltung komplexer Interaktionen von Menschen, Objekten, Räumen und immateriellen Aspekten genutzt werden, indem sichtbar und erfahrbar wird, wie die verschiedenen menschlichen, materiellen und immateriellen Akteure miteinander agieren und sich gegenseitig beeinflussen? Ein solcher ›dynamischer Prototyp‹ würde als Versuchsauf bau dienen, der ein Zusammenspiel ermöglicht und unterstützt, um es sowohl untersuchen als auch gestalten zu können. Szenarien würden nicht nur gedacht, geplant oder diskutiert, sondern zur ›Probe‹ realisiert und in der Situation und mittels Erfahrung überprüft und weiterentwickelt. Die Strategie, in eine Rolle zu schlüpfen und durch das ›So-Tun-als-ob‹ anders auf die Welt zu blicken, ließe sich dem Theater entlehnen, um Fragen der Gestaltung des täglichen Lebens zu untersuchen.

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Auf der Suche nach Formaten, Werkzeugen und Methoden der Gestaltung, die vermögen, das komplexe Zusammenspiel von Objekten, Räumen und sozialen Interaktionen erfahrbar und damit gestaltbar zu machen, erweist sich das Ritual als eine interessante soziotechnische Praxis. Durch ein sorgfältig choreografiertes Zusammenspiel von Objekten, Räumen, Atmosphären und Interaktionen, eröffnet das Ritual synästhetische und soziale Erfahrungsräume, die Bestandteil des Alltags, ihm aber gleichzeitig enthoben sind. Einerseits spiegelt ein Ritual die Werte und Praktiken einer Gesellschaft, die andererseits erst durch die rituelle Praxis etabliert, verbreitet und implementiert werden, indem die individuelle Erfahrung des Einzelnen sich mit den geteilten Werten und Interessen einer Gesellschaft verbinden kann. Als eine Art Neuinterpretation des Rituals, könnten ›dynamische Prototypen‹ ein oszillierendes Feld zwischen Nähe und Distanz zum alltäglichen Leben aufspannen, in dem kollektive Werte kontinuierlich aktualisiert sowie sich verändernde Praktiken und Formen gemeinsam neu verhandelt werden. Es würden temporäre Erfahrungs- und Gestaltungsräume für die involvierten Akteure entstehen, an denen aber auch Außenstehende teilhaben können – eine Gestaltungspraxis für transdisziplinäre Fragestellungen, die das gemeinsame Ausprobieren, Nachdenken und Verstehen über das Tun in einen sichtbaren, erlebbaren und haptischen Prozess überführt.

L iter atur Dell, Christopher: »Performanz des Raumes«, in: Arch+ 40 (2007), S. 136-143. Durckheim, Èmile: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris: Alcan 1912. Latour, Bruno: »Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«, in: Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen, Koenraad Hemelsoet (Hg.), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 356-373.

Beseelte Gegenstände oder intentionale Systeme? Ein Beitrag zur Handlungsfähigkeit der Dinge Georg Kneer

Es ist vermutlich keine besonders empfehlenswerte Taktik, vor allem nicht in heiklen Angelegenheiten, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.1 Gleichwohl werde ich mich heute dieser Strategie bedienen – auch wenn ich mir damit womöglich auf einer Tagung, die die Perspektive des Animismus für das Design stark machen möchte, selbst einige heikle Probleme einhandele. Ich stehe Versuchen, den Herausforderungen unserer modernen Welt mit den Mitteln des Animismus begegnen zu wollen, deutlich skeptisch gegenüber. Allerdings möchte ich im Folgenden den Animismus nicht direkt kritisieren. Überhaupt werde ich in meinem Vortrag auf das animistische Weltverständnis nur am Rande zu sprechen kommen. Für diese Vorgehensweise spricht nicht nur die Auffassung, dass eine direkte Kritik ihren Gegenstand nicht richtig zu fassen bekommt, da der Animismus begrifflich höchst unscharf geblieben ist. Vielmehr spricht hierfür auch die Ansicht, die ich Richard Rorty verdanke, dass sich der Animismus gar nicht widerlegen lässt.2 Diese Auffassung ist weniger aufregend als sie vielleicht klingen mag. Die prinzipielle Nichtwiderlegbarkeit teilt 1 | Die vorliegende Textfassung ist weitgehend identisch mit dem Vortragsmanuskript; ergänzend hinzugekommen sind lediglich bibliografische Hinweise sowie einige knappe inhaltliche Angaben in den Fußnoten. Das Gesagte erklärt Duktus und Kontextbezüge des Beitrags. 2 | Vgl. Rorty, Richard: »Leib-Seele-Identität, Privatheit und Kategorien«, in: Peter Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/Ts.: Hain 1981, S. 93-120, hier S. 96f.

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der Animismus nämlich mit einer Reihe weiterer Ismen, etwa dem Realismus, Idealismus, Positivismus, Marxismus, Strukturalismus oder Konstruktivismus.3 All diese universalen Welttheorien lassen sich nämlich gegen jegliche Art von Einwänden verteidigen – und zwar dadurch, dass man, im Falle abweichender Beobachtungen und konträrer Befunde, mehr oder weniger weitreichende Anpassungen an der Peripherie, am Schutzgürtel der Theorie vornimmt und so die Grundprinzipien des Ansatzes, also den harten Kern der Konzeption gegen Kritik immunisiert.4 Der beste Einwand an einer Theorieposition, so die Schlussfolgerung von Rorty, ist daher nicht der Versuch einer Widerlegung, sondern die Ausarbeitung einer attraktiven Theoriealternative, die Anfertigung einer aussichtsreichen Neubeschreibung.5 3 | Mir genügt an dieser Stelle der Hinweis auf die prinzipielle Nichtwiderlegbarkeit sogenannter Ismen, also universaler Welttheorien. Damit möchte ich nicht in Abrede stellen, dass die genannte Auffassung deutlich weiter greift, letztlich auf sämtliche Theorien, wie viele Wissenschaftstheoretiker vermuten, zutrifft. Williard V. O. Quine plädiert bei seiner berühmten Kritik an der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen gar für die Auffassung, dass keineswegs nur Theorien, sondern generell Aussagen nicht widerlegt werden können. »Jede Aussage kann, komme, was wolle, als wahr beibehalten werden, wenn wir nur anderer Stelle das System drastisch genug anpassen.« Quine, Willard V. O.: From a Logical Point. Three Selected Essays. Von einem logischen Standpunkt aus. Drei ausgewählte Aufsätze, Stuttgart: Reclam 2011, S. 119. 4 | Die hier verwendeten Begriffe des Schutzgürtels und des harten Kerns übernehme ich aus Imre Lakatos’ Darstellung der Entwicklungsdynamik wissenschaftlicher Forschungsprogramme. Vgl. Lakatos, Imre: »Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme«, in: Imre Lakatos/Alan Musgrave (Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft, Braunschweig: Vieweg+Teubner 1974, S. 89-189. 5 | Die Position von Rorty stellt keine Spielart des sogenannten Falsifikationismus dar. Insofern argumentiert er deutlich radikaler als Lakatos, der für einen raffinierten Falsifikationismus plädiert: Theorien lassen sich aus dessen Sicht zwar nicht direkt, aber doch indirekt widerlegen, nämlich durch Hinweise darauf, dass aus den vorgenommenen Änderungen an den Hilfshypothesen im Schutzgürtel lediglich eine degenerative Problemverschiebung resultiert (erforderlich wäre aber, so Lakatos, eine progressive Problemverschiebung, bei der die Modifikationen am

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Meine Auseinandersetzung mit dem Animismus orientiert sich an dieser Auskunft. Dabei werde ich in drei Schritten vorgehen. Zunächst setze ich mich kritisch mit einer Annahme auseinander, von der offenbar viele Verfechter des Neuen Animismus ausgehen, nämlich der Ansicht, dass das moderne Weltbild eine dualistische Grundstruktur aufweist (I). In einem nächsten Schritt werde ich mit dem philosophischen Naturalismus ein ausgewähltes nicht-dualistisches Weltverständnis der Moderne anführen, das von den Animismusbefürwortern jedoch ignoriert wird (II). In einem abschließenden dritten Schritt werde ich die Grundannahmen eines alternativen Handlungsmodells vorstellen, das nicht allein Menschen als Handlungsakteure begreift, also nicht den Denkzwängen des Dualismus folgt, sich aber umgekehrt auch nicht in den Fallstricken des Animismus verfängt: das Modell der Handlungsfähigkeit intentionaler Systeme (III).

I. D er vermeintliche D ualismus der M oderne Seit einigen Jahren wird, insbesondere in den Sozial- und Kulturwissenschaften, wieder verstärkt über animistische Weltvorstellungen diskutiert. Für Autoren wie etwa Philippe Descola6, Nurit Bird-David 7, Eduardo Viveiros de Castro8 oder Alf Hornborg9 ist ausgemacht, dass der Schutzgürtel zu einer Erweiterung der Gesamttheorie beitragen). Rorty hält dagegen, dass sich Theorien überhaupt nicht, weder direkt noch indirekt, falsifizieren lassen. Theorien werden nicht widerlegt, sondern wir machen, sobald attraktive Neubeschreibungen bzw. Theoriealternativen vorliegen, nur seltener bzw. gar keinen Gebrauch mehr von ihnen (wobei nicht auszuschließen ist, dass sich der Theorienwandel über einen langen Zeitraum erstreckt bzw. die Vorgängertheorie keineswegs zu Gänze verschwindet). Vgl. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 25ff. 6 | Vgl. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp 2011. 7 | Vgl. Bird-David, Nurit: »›Animismus‹ revisited: Personenkonzept, Umwelt und relationale Epistemologie«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 19-52. 8 | Vgl. Viveiros de Castro, Eduardo: »Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 73-93. 9 | Vgl. Hornborg, Alf: »Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 55-64.

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Animismus, der Dingen und Objekten eine soziale Handlungsfähigkeit zugesteht, eine sinnvolle Alternative zu dem, wie sie sagen, dualistischen Weltbild der Moderne darstellt. Damit schließen sich die Vertreter des Neuen Animismus einer bestimmten Modernitätskritik an, wie sie insbesondere der französische Soziologe und Wissenschaftsforscher Bruno Latour ausgearbeitet hat.10 Demzufolge verfügt die Moderne über eine verbindliche Selbstbeschreibung, eine offizielle Verfassung, die eine strenge Trennung von zwei Seinsbereichen vornimmt: Geist versus Materie, menschliche Wesen versus nicht-menschliche Wesen, handelnde Subjekte versus passive Objekte, gemachte Kultur versus gegebene Natur, Gesellschaft versus außergesellschaftliche Umwelt. Die Moderne hat sich demzufolge strikt an dieser dualen Aufteilung der Welt orientiert, wenn auch nur in ihrer Selbstbeschreibung, nicht in ihrer tatsächlichen Praxis (in der ständig Mischwesen produziert werden) – weshalb wir auch, so Latour, nie modern gewesen sind. Gegen die damit angedeutete These einer offiziellen Verfassung der Moderne möchte ich Widerspruch anmelden. Ich beschränke mich auf drei Kritikpunkte.11 Erstens möchte ich den Einwand vorbringen, dass die Moderne über kein einheitliches Weltbild, keine konsensuell anerkannte Selbstbeschreibung, sondern über eine mehr oder weniger unüberschaubare Vielzahl an Theoriesprachen, Semantiken und Beobachtungsperspektiven verfügt. Kennzeichnend für die Moderne ist die Aufkündigung stabiler Wertordnungen, die Absage an verbindliche Selbstfestlegungen und Auffassungsweisen. Ich spreche kurz von einer ›Einheitsfiktion‹ bei Latour und den Neuen Animisten – eine Fiktion deshalb, weil in der Moderne Wirklichkeitsbeschreibungen und Identitätsformeln nur im Plural vorkommen. Das erklärt, das jeder, der einer bestimmten Frage nachgeht oder ein bestimmtes Wissensgebiet erkundet, sich gleich mit einer Fülle

10 | Vgl. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998. 11 | An anderer Stelle habe ich meine Kritik an Latours Auffassung einer eigentümlichen Amodernität der modernen Welt ausführlicher erläutert. Vgl. Kneer, Georg: »Hybridizität, zirkulierende Referenz, Amoderne? Eine Kritik an Bruno Latours Soziologie der Assoziationen«, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Beiträge zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 261-305.

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von Deutungsangeboten und Antworten konfrontiert sieht. Zu jeder Position lassen sich Gegenpositionen ausmachen – und damit zugleich vermittelnde Positionen oder Kompromissangebote, die sich selbst wiederum von konkurrierenden Deutungsangeboten und Alternativvorschlägen in Frage gestellt sehen. Das Gesagte gilt etwa für die Fragestellungen, ob Menschenrechte angeboren sind oder verliehen werden, ob Demokratie und Kapitalismus vereinbar oder unvereinbar sind, ob die zunehmende Digitalisierung den Menschen befreit oder entmündigt, ob die Rockmusik der 1970er Jahre anspruchsvoller ist als die Technomusik der 1990er Jahre oder umgekehrt. Und das Gesagte gilt auch für die Frage, in wie viele Seinsbereiche sich die Wirklichkeit gliedert. Zu dieser Frage finden sich nicht nur dualistische Antworten, vielmehr lassen sich auch pluralistische und, besonders prominent, monistische Positionen ausmachen. Ich komme darauf zurück. Zunächst gilt es jedoch weitere Einwände anzuführen. Zweitens würde ich von einem ›intellektualistischen Fehlschluss‹ bei Latour und den Neuen Animisten sprechen. Die Annahme einer unüberwindbaren ontologischen Kluft zwischen Geist und Materie, zwischen Kultur und Natur findet sich maßgeblich ausgearbeitet bei dem französischen Philosophen René Descartes. Latour und die Neuen Animisten sprechen deshalb auch von einer cartesianischen Trennung von Subjekt und Objekt.12 Doch der Begriffsvorschlag von Descartes besitzt, ebenso wenig wie viele weitere philosophische Theorieangebote, keine bindende Kraft für die Anfertigung moderner Selbstbeschreibungen. Philosophische Unterscheidungen sind für Philosophen sicherlich hoch interessant, außerhalb dieses Spezialdiskurses kommt ihnen jedoch, wenn überhaupt, nur eine marginale Bedeutung zu. Die gegenwärtige Alltagswelt steht ebenso wie die moderne Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Medizin, Recht oder Kunst den meisten philosophischen Begriffsangeboten indifferent gegenüber. Das Gesagte gilt sowohl für die tatsächliche Praxis als auch für die dabei verwendeten Selbstbeschreibungen (falls man an dieser Unterscheidung, die Latour verwendet, überhaupt festhalten möchte). Und das Gesagte

12 | Vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 10; A. Hornborg, Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis, S. 56.

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gilt für simple Tätigkeiten ebenso wie für hoch anspruchsvolle Unternehmungen. Ein Mathematiker etwa braucht sich weder in seiner konkreten Praxis noch in seinen Selbstbeschreibungen um die Frage zu kümmern, ob die Welt der Zahlen eine eigenständige ideale Seinssphäre jenseits der Welt raumzeitlicher Dinge bildet – er kann vielmehr diese Frage als eine rein philosophische Frage ohne praktischen Wert abtun. Ein dritter Einwand knüpft unmittelbar an den beiden zuvor genannten Kritikpunkten an. Ich spreche kurz von einem ›fundamentalistischen Fehlschluss‹. Am einfachsten lässt sich dieser Einwand mit Blick auf eine frühere Äußerung von mir erläutern. Ich habe davon gesprochen, dass sich in der Moderne eine Vielzahl von Positionen und Antwortversuchen ausmachen lässt – und zwar zu der Frage, in wie viele Seinsbereiche die Welt gegliedert ist ebenso wie zu der Frage, ob die Rockmusik oder die Technomusik anspruchsvollere Kompositionen aufweist. Wenn Sie dagegen vorbringen, dass man die beiden Fragen doch nicht auf eine Stufe stellen könne, weil die ontologische Frage nach der Anzahl der weltlichen Seinsbereiche wichtiger oder grundlegender sei, dann würde ich Ihnen erwidern, dass Ihre Auskunft einem offenen oder verdeckten Fundamentalismus aufsitzt. Genau diesen fundamentalistischen Fehlschluss begehen auch Latour und die Neuen Animisten. Sie zeigen sich überzeugt davon, dass mit dem Dualismus das zentrale Prinzip der Moderne genannt ist. Zugleich unterstellen sie damit, dass der philosophischen Frage nach der ontologischen Einteilung der Welt Vorrang vor allen anderen Fragen gebührt. Doch in der modernen Gesellschaft lässt sich keine verbindliche Rangordnung von Fragestellungen oder Antwortversuchen, von Funktionen oder Leistungen ausmachen. Wissenschaft ist nicht wichtiger als Wirtschaft, Recht nicht wichtiger als Medizin und Philosophie eben nicht wichtiger als Musik. Die moderne Gesellschaft verfügt über keine Verfassung, über kein festes Weltbild – dies allein schon deshalb nicht, weil sie keine Problemstellung kennt, die gegenüber allen weiteren Fragestellungen Priorität besitzt.

II. P hilosophischer N atur alismus Im zweiten Teil meines Beitrags möchte ich, in der hier gebotenen Kürze, ein ausgewähltes nicht-dualistisches Weltverständnis vorstellen. Selbstverständlich gilt bei den folgenden Ausführungen das zuvor Gesagte: Die

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philosophische Frage nach der ontologischen Seinsordnung der Welt ist nicht wichtiger als andere Fragen und andere Fragestellungen lassen sich durchaus bearbeiten, ohne dabei die zuerst genannte Frage aufzugreifen. Dort, wo dann aber doch ausdrücklich der Frage nach der grundlegenden Ordnung der Wirklichkeit nachgegangen wird, finden sich auch in der Moderne keineswegs nur dualistische Antwortversuche. Im Gegenteil: Eine Vielzahl von Theorieströmungen, angefangen bei dialektischen Theorieangeboten bis hin zum heutigen Neopragmatismus, opponieren gegen den Dualismus. Im Lager dieser anti-dualistischen Ansätze besitzt der philosophische Naturalismus meines Erachtens eine besondere Prominenz. Interessanterweise gehen Latour und die Neuen Animisten nicht näher auf diese Theorieauffassung ein, obwohl der Naturalismus, im Gegensatz zu vielen anderen philosophischen Grundpositionen, weit über die Philosophie hinaus bekannt geworden ist. An öffentlichkeitswirksamen Schlagwörtern wie »Naturalisierung des Geistes« oder »Naturalisierung der Kultur« lässt sich die antidualistische Ausrichtung des Naturalismus verdeutlichen. Dieser vertritt eine eindeutig monistische Weltauffassung, begreift nämlich das menschliche Bewusstsein, aber auch kulturelle und technische Erzeugnisse des Menschen, nicht anders als Steine, Pflanzen oder Tiere, als Teile der Natur, genauer: als kontingente Ergebnisse eines langen und verschlungenen Entwicklungspfades.13 Insofern steht der Naturalismus für die Position, dass die Welt ein ausschließlich naturales Geschehen ist. Pointiert wird diese Auffassung mit der Formel zum Ausdruck gebracht, dass »alles, was es gibt, Teil der Natur ist«14. Unterschiede zwischen den verschiedenen Phänomenen oder Entitäten der Natur werden damit nicht abgestritten. Doch nicht bei jeder Unterscheidung handelt es sich um einen Dualismus. Der Naturalismus spaltet die Welt nicht in zwei Seinsbereiche auf, sondern spricht von vielfachen Abstufungen, graduellen Übergängen und evolutionären Prozessen innerhalb der einen Natur. Zugespitzt ließe sich sagen, dass nicht René 13 | An dieser Stelle begnüge ich mich mit wenigen Stichpunkten. Eine ausführlichere Darstellung hätte zudem herauszuarbeiten, dass der Begriff des Naturalismus als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen und Auffassungsweisen fungiert. 14  |  Reuter, Gerson: »Einleitung. Einige Spielarten des Naturalismus«, in: Alexander Becker u.a. (Hg.): Gene, Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur. Eine Debatte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 7-48, hier S. 9.

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Descartes, sondern Charles Darwin der Ahnherr des modernen Naturalismus ist. Jedenfalls nimmt ein naturalistisches Weltverständnis keine große Trennung vor, sondern verweist auf Zusammenhänge und naturgeschichtliche Verbindungslinien. Hieraus ergeben sich unmittelbar begriffstheoretische Konsequenzen. Der Naturalismus kündigt die dualistische Begriffsverwendung auf. Unter anderem ist damit gemeint, dass der Naturalismus eine Vielzahl von Begriffen, die der Dualismus allein für die Beschreibung des menschlichen Geistes reserviert, konzeptuell ausweitet, sodass sich diese Begriffe auch für die Beschreibung weiterer Naturphänomene verwenden lassen. Das Gesagte lässt sich am Beispiel des Informationsbegriffs illustrieren: Aus Sicht des Naturalismus handelt es sich beim menschlichen Bewusstsein um ein informationsverarbeitendes System, aber keineswegs um den einzigen Systemtypus, der Informationen generiert und verwendet. Dualistische Philosophen wie Peter Janich mögen gegen diese Ausweitung des Informationsbegriffs protestieren, doch längst haben wir uns an die naturalistische Redeweise gewöhnt.15 Biologen beschreiben etwa Informationsprozesse auf biochemischer oder molekularbiologischer Ebene und bezeichnen die DNA als Träger der Erbinformation. Kybernetiker verwenden den Informationsbegriff, um Vorgänge der Regelung und Steuerung in lebenden Systemen und technischen Apparaten darzustellen. Mühelos ließen sich weitere Beispiele aus anderen Disziplinen anführen. Und das, was zum Informationsbegriff gesagt wurde, ließe sich auf eine Vielzahl weiterer Begriffe übertragen. Zu nennen wären etwa die Begriffe des Zeichens, der Kommunikation, der Beobachtung oder der Selbstorganisation. Ich erspare Ihnen die entsprechenden Ausführungen. Stattdessen komme ich gleich auf einen besonders eindrucksvollen Begriffskandidaten zu sprechen – und zwar auf den Begriff des Geistes.16 15  |  Vgl. Janich, Peter: Was ist Information? Kritik einer Legende, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. 16 | In gegenwärtigen Debatten über den Geist (und zugleich: über Bewusstsein oder Intelligenz) nimmt der Dualismus, wenn er überhaupt vertreten wird, allenfalls eine randständige Position ein. Das Gesagte gilt nicht nur für neurowissenschaftliche bzw. kybernetische Diskurse, sondern auch für die Philosophie des Geistes. Die derzeit im Mittelpunkt stehenden Ansätze, angefangen beim Behaviorismus über den Funktionalismus und nicht-reduktiven Physikalismus bis hin zum Eliminativen Materialismus, weisen allesamt eine antidualistische Stoßrichtung auf.

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Aus Sicht vieler Naturalisten ist der Mensch nicht die einzige Entität, die über einen Geist verfügt. Diese Auffassung wird verständlich, wenn man sich klar macht, dass der Naturalismus den Geistbegriff, wie ja auch die zuvor genannten Begriffe, reformuliert. Mit Geist ist nicht länger, wie bei Descartes, eine immaterielle Seele, sondern – wie ich äußerst verkürzt sagen möchte – ein verkörpertes kognitives System gemeint, das zu einem intelligenten Verhalten befähigt. Ein intelligentes, sprich geistreiches Verhalten zeichnet aber nicht nur den Menschen aus, sondern findet sich auch bei weiteren lebenden Systemen und heutzutage ebenso bei besonderen technischen Apparaten. Zwei knappe Bemerkungen schließen das Gesagte ab. Erstens: Die Ausweitung des Geistbegriffs meint nicht, dass die Naturalisten allen natürlichen Entitäten die Fähigkeit zu einem geistreichen Verhalten zusprechen. Doch in gleicher Weise behaupten sie ja auch nicht, dass es sich bei allen natürlichen Einheiten um lebende Systeme oder bei allen lebenden Systemen um mehrzellige Lebewesen handelt. Allerdings besteht bei den Naturalisten keine Einigkeit, wo denn die Grenze zwischen geistlosen und intelligenten Systemen verläuft. Zweitens: Die Redeweise von einer Grenze zwischen nicht-intelligenten und intelligenten Entitäten ist nicht im Sinne einer großen Trennung zu verstehen. Zwischen beiden Systemtypen existieren viele Übergangsformen und Verbindungslinien. Kurz und gut: Auch der Geist ist ein vollkommen natürliches Phänomen mit einer ganz und gar natürlichen Genese. Und der verkörperte Geist besitzt zahlreiche evolutionäre Wegbereiter oder Vorgänger und kommt in vielen Abstufungen bzw. Schattierungen vor.

III. H andlung Bislang war von Handlung noch gar nicht die Rede. Dabei ist es gerade der Begriff der Handlung, genauer: der Hinweis auf die Handlungsfähigkeit der Dinge, der im Zentrum der Überlegungen von Latour und den Neuen Animisten steht. Die Auffassung, dass nicht nur menschliche Subjekte, sondern eben auch dingliche Objekte über ein Handlungspotenzial verfügen, gilt ihnen als zentraler Einwand gegen das vermeintlich dualistische Weltbild der Moderne. Auf dem ersten Blick scheint es sich bei der Auffassung einer Handlungsfähigkeit der Dinge um eine äußerst aufregende Auskunft zu handeln, die gegen die uns vertraute Begrifflichkeit vorge-

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bracht wird. Schaut man jedoch genauer hin, dann ist man enttäuscht – die angeblich brisante Angabe bewegt sich nämlich auf allzu bekannten Pfaden. Das Gesagte gilt gleich für beide Annahmen der von Latour formulierten Handlungskonzeption, auf die sich auch viele Verfechter eines Neuen Animismus zustimmend beziehen. Die erste Annahme besagt, dass kein Akteur allein handlungsfähig ist, sondern stets mehrere Dinge beteiligt sind, also ein komplexes Netzwerk mit einer Vielzahl von Entitäten erforderlich ist, damit eine Handlung zustande kommt. Diese Überlegung bildet, genau genommen, keinen Einwand gegen das klassische Handlungsmodell, wie es etwa von Max Weber formuliert wurde und auch heute noch in der Soziologie Verwendung findet. Der tradierte Handlungsbegriff bestreitet keineswegs, dass ein Handeln auf mannigfaltige Voraussetzungen angewiesen ist. Ich kann diesen Vortrag in dieser Form nur halten, also bestimmte Sprechhandlungen vollziehen, weil u.a. Computer und Drucker bei der Anfertigung des Manuskripts zuverlässig funktioniert haben, ein Taxi mich pünktlich zum Vortragsort gebracht hat, das Rednermikrofon und der Beamer eingeschaltet sind etc. Wenngleich das konventionelle Handlungsmodell der Soziologie allein dem Menschen die Fähigkeit zum Handeln zuspricht, so leugnet es keineswegs das Beteiligtsein der Dinge am Handlungsgeschehen. Mit den Worten von Weber: Gegenständliche Objekte kommen »für alle Wissenschaften vom Handeln als: Anlaß, Ergebnis, Förderung oder Hemmung menschlichen Handelns in Betracht«17. Die zweite Annahme Latours lautet, dass nicht nur Menschen, sondern die Dinge selbst als Handlungsträger fungieren – insofern gegenständliche Objekte nämlich modifizierend in die Welt eingreifen, ihr Tun also Unterschiede macht und das heißt: Wirkungen hervorbringt. Diese Auskunft wird jedoch von keiner Seite bestritten. Dies deshalb nicht, weil diese Auffassung im Einklang mit den Aussagen der Physik bzw. der klassischen Mechanik steht, also der Lehre von den Wirkkräften zwischen unbewegten bzw. bewegten Körpern. Um die kausale Wirkmächtigkeit der Dinge zum Ausdruck zu bringen, benötigen wir keine handlungstheoretische Begrifflichkeit. Hierfür reicht das kausaltheoretische Vokabular der Mechanik vollständig aus. Der Handlungsbegriff der Soziologie hatte jedoch deutlich mehr versprochen. Er verweist nämlich auf komplexe 17  |  Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1980, S. 3.

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Vorgänge, die sich allein mit Hilfe des Ursache-Wirkungs-Schemas bzw. des Reiz-Reaktions-Modells gerade nicht beschreiben lassen. Ausgehend von dem Gesagten lässt sich mein eigenes Anliegen erläutern. Ich möchte einen Handlungsbegriff vorstellen, der unter Handlung ein anspruchsvolles (und nicht nur: wirkmächtiges) Geschehen versteht, ohne allein Menschen als Handlungsträger anzuerkennen.18 Zu diesem Zweck gilt es, Sie ahnen es vermutlich schon, den klassischen Handlungsbegriff zu naturalisieren.19 Genau ein solcher naturalisierter Handlungsbegriff findet sich, so möchte ich behaupten, in den Schriften des amerikanischen Philosophen Daniel Dennett. Anknüpfend an Dennett lässt sich sagen, dass nicht allein Menschen, sondern generell intentionale Systeme über die Fähigkeit verfügen, zielgerichtete Handlungen auszuführen. 18 | Die beiden Techniksoziologen Werner Rammert und Ingo Schulz-Schaeffer sprechen sich ebenfalls dagegen aus, allein Menschen als Handlungsträger anzuerkennen. Zu diesem Zweck schlagen sie einen gradualisierten Handlungsbegriff vor, der sich an einem Drei-Ebenen-Modell orientiert: Handeln als wirkmächtiges Verhalten (erste Ebene), als die Fähigkeit, auch anders agieren zu können (zweite Ebene) und als intentionale bzw. reflexive Tätigkeit (dritte Ebene). Vgl. Rammert, Werner/Schulz-Schaeffer, Ingo: »Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt«, in: Dies. (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt a. M./New York: Campus 2002, S. 11-64. Mit dieser Ausweitung wird der Handlungsbegriff jedoch konturlos. Ein Vorteil des im Text erläuterten Vorschlags von Dennett liegt in der Anschlussfähigkeit an die handlungstheoretische Begriffstradition, ohne dass dabei die Handlungsträgerschaft auf menschliche Akteure begrenzt wird. 19 | Es besteht in der Literatur keine Einigkeit, was mit dem Hinweis auf die Naturalisierung des Handlungsbegriffs genau gemeint sein könnte. Antinaturalisten verstehen darunter zumeist eine (aus ihrer Sicht fragwürdige) Reformulierung der Handlungskonzeption, die auf das intentionalistische Theorievokabular gänzlich verzichtet. Viele Naturalisten würden dieser Auffassung vermutlich zustimmen, wobei sie eine derartige Neubeschreibung allerdings prinzipiell für möglich erachten. Der im Text erläuterte Naturalisierungsvorschlag von Dennett ist abweichend gemeint. Naturalismus meint bei ihm nicht Physikalismus, sondern die Auffassung, dass die intentionale Einstellung (und ebenso: die funktionale Einstellung) mit der physikalischen Einstellung kompatibel ist, zu dieser zumindest nicht im Widerspruch steht.

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Intentionale Systeme sind solche Systeme, denen sich »Überzeugungen« und »Wünsche« zuschreiben lassen.20 Der Schachcomputer gilt Dennett als Beispiel für ein nicht-menschliches intentionales System. Um die Züge eines Schachcomputers zu erklären oder gar seine nächsten Züge zu prognostizieren, erweist es sich als vorteilhaft, eine »intentionale Einstellung«21 einzunehmen, also dem Computer »Wünsche« zuzuschreiben, etwa den »Wunsch«, zu gewinnen, ebenso aber auch »Überzeugungen«, etwa die »Überzeugung«, dass der Zug des eigenen Läufers von c3 auf d4 ein vorteilhafter Zug sei, weil dieser die gegnerische Dame fesselt.22 Wenn Dennett von »Überzeugungen« und »Wünschen« spricht, dann setzt er die beiden Begriffe zumeist in Anführungszeichen. Damit will er andeuten, dass er keineswegs der Auffassung ist, dass dem Schachcomputer seine Wünsche und Überzeugungen auch bewusst sind. Bei den Begriffen des Wunsches und der Überzeugung handelt es sich um 20 | Der Begriff der Intentionalität, so wie er hier im Anschluss an Dennett verwendet wird, meint nicht Absichtlichkeit, sondern Bezugnahme. Bei »Wünschen« und »Überzeugungen« handelt es sich demnach um intentionale Phänomene, da sie auf etwas Bezug nehmen, also etwas Bestimmtes wünschen bzw. von etwas Bestimmten überzeugt sind. 21 | Dennett, Daniel: »Intentionale Systeme«, in: Bieri, Analytische Philosophie des Geistes (1981), S. 162-183. 22 | Die intentionale Einstellung basiert nach Auskunft Dennetts auf der normativen Annahme, dass der Schachcomputer oder allgemein der Handelnde »den vernünftigsten Zug ›wählen‹ wird«. Vgl. D. Dennett: Intentionale Systeme, S. 164. Insofern lässt sich von einem Modell der rationalen Handlungswahl sprechen. Soziologische Kritiker einer derartigen Theoriekonzeption verweisen darauf, dass Akteure keineswegs nur (zweck-)rational handeln, sondern etwa auch habitualisierte oder wertrationale Handlungen ausführen. Meinen Rekurs auf Dennetts Konzeption möchte ich nicht als Plädoyer für das Modell der rationalen Handlungswahl (miss-)verstanden wissen. Mir geht es an dieser Stelle allein um den Hinweis, dass auch eine naturalistische Theorieauffassung Gebrauch von der intentionalen Einstellung machen kann. An dieser Einstellung ist jedoch kein bestimmtes Handlungsmodell geknüpft (auch wenn manche Ausführungen Dennetts eine solche Engführung der intentionalen Einstellung mit dem Modell der rationalen Handlungswahl zu suggerieren scheinen). Anders gesagt: Eine intentionale Einstellung – und allein diese – eröffnet auch den Zugang zu habitualisierten und wertrationalen Handlungen.

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Zuschreibungsbegriffe. Das Gesagte gilt ebenso für menschliche Wünsche und Überzeugungen – schließlich sind auch uns Menschen unserer Wünsche und Überzeugungen nicht stets bewusst oder wir täuschen uns über ihre tatsächlichen Ausprägungen, weshalb sich Wünsche und Überzeugungen besser aus der Perspektive einer dritten Person erfassen, sprich zuschreiben lassen.23 Allerdings sind derartige Zuschreibungen keine reinen Fiktionen: Sobald es mit ihrer Hilfe gelingt, das Agieren des beobachteten Systems treffsicher zu erklären und zu prognostizieren, wird man sagen können, dass die Zuschreibung tatsächlich vorhandene, reale Muster identifiziert.24 Auch Schachcomputer lassen sich Dennett zufolge, so möchte ich das Gesagte zusammenfassen, aus einer intentionalen Einstellung als handelnde Akteure beschreiben, die bestimmte Ziele zu realisieren wünschen und sich bei ihren Entscheidungen an eigenen Überzeugungen orientieren. Vermutlich werden sich einige von Ihnen fragen, ob das, was Dennett damit behauptet, nicht genau das ist, was der Animismus schon immer gesagt hat. Dennett selbst hat sich diese Frage gestellt und entschieden verneint.25 An dieser Stelle möchte ich zwei Argumente anführen, die dagegen sprechen, die Theorie intentionaler Systeme als zeitgenössische Spielart des Animismus zu begreifen. Erstens: Intentionale Systeme verfügen über keine Seele, sie besitzen keine immaterielle Substanz, vielmehr unterliegen sie vollständig den Zwängen und Gesetzen der Physik. Dennett argumentiert also durch und durch naturalistisch. Die Wünsche und Überzeugungen, die sich 23 | Die intentionale Einstellung thematisiert Phänomene wie »Wünsche« oder »Überzeugungen« also strikt aus der Perspektive einer dritten Person; Dennett spricht kurz von der Methode der Heterophänomenologie. Vgl. Dennett, Daniel: Süße Träume. Die Erforschung des Bewusstseins und der Schlaf der Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 48. 24 | Dennett selbst hatte in seinen frühen Arbeiten zunächst instrumentalistisch argumentiert, also zugeschriebene »Wünsche« bzw. »Überzeugungen« lediglich als nützliche Fiktionen begriffen. Der Text referiert Dennetts spätere (revidierte) Auffassung, die ohne Anleihen beim Instrumentalismus auskommt. Vgl. Dennett, Daniel: Brainchildren. Essays on Designing Minds, Cambridge: MIT Press 1998, S. 95ff. 25 | Vgl. Dennett, Daniel: Spielarten des Geistes. Wie erkennen wir die Welt? Ein neues Verständnis des Bewußtseins, München: Bertelsmann 1999, S. 48ff.

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intentionalen Systemen zuschreiben lassen, sind nicht das Produkt einer körperlosen Seele, sondern das höherstufige Resultat rein physikalischer Vorgänge. Das Beispiel des Schachcomputers ist hier offensichtlich. Mit dem Gesagten ist zugleich angedeutet, dass sich der Schachcomputer – zumindest vom Prinzip her – auch mit Hilfe der physikalischen Einstellung beschreiben lässt, also von einem Standpunkt aus, der »unter Anwendung unseres gesamten Wissens über die Naturgesetze«26 die physischen Zustände des Schachcomputers erklärt bzw. prognostiziert. Neben der physikalischen und der intentionalen Einstellung nennt Dennett eine dritte Einstellung, nämlich die sogenannte »funktionale Einstellung«. Diese gelangt zu Erklärungen und Prognosen des Systemverhaltens ausgehend von der Frage, für welche Zwecke bzw. Funktionen das System programmiert wurde. Zweitens: Nach Auskunft von Dennett lassen sich sämtliche Entitäten der Welt mit Hilfe der physikalischen Einstellung beschreiben. In vielen Fällen reicht der physikalische Standpunkt völlig aus, um die Zustände des Systems zu erklären bzw. zu prognostizieren. Nur dann, wenn es aufgrund der Systemkomplexität nicht gelingt, leistungsstarke Erklärungen bzw. treffsichere Prognosen zu formulieren, ist es sinnvoll, den anspruchsvolleren funktionalen Standpunkt einzunehmen. Mit Blick auf die funktionale Einstellung wiederholt sich das Argument. Im Falle einer erfolgreichen Erklärung bzw. Prognose verbietet sich der Übergang hin zum intentionalen Standpunkt. Dieser ist nur dann legitim, wenn funktionale Erklärungen und Prognosen im Prinzip zwar möglich, aufgrund der Systemkomplexität praktisch aber nicht realisierbar sind. In aller Kürze: Der Mond will sich nicht um die Erde bewegen, er verfügt weder über Wünsche noch Überzeugungen, d.h. sein Verhalten lässt sich vollständig vom physikalischen Standpunkt aus erklären bzw. prognostizieren. Ebenso wenig besitzt der Wecker den Wunsch, zu klingeln, noch die Überzeugung, dass das akustische Signal laut genug ist, um die Nachtruhe des Schlafenden zu unterbrechen; in diesem Falle erweist sich der funktionale Standpunkt, der freilich keine detaillierte Kenntnis der physikalischen Eigenschaften des Uhrwerks und seiner Teile erfordert, als völlig ausreichend für zuverlässige Erklärungen und Prognosen. Im Falle eines solch komplexen Dings wie des Schachcomputers sind jedoch, wie angedeutet, weitere Vereinfachungen erforderlich. Hier stellt 26 | D. Dennett: Intentionale Systeme, S. 163.

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die intentionale Einstellung die einzig praktikable Strategie dar, um die vorhergehenden Züge des Computers zu erklären bzw. seine zukünftigen Züge zu prognostizieren. Zitat Dennett: »Die besten heutigen Schachcomputer sind für Voraussagen in funktionaler oder physikalischer Einstellung praktisch unzugänglich. Sie sind sogar für ihre eigenen Konstrukteure zu komplex geworden.«27 Ausgehend von diesen Beispielen lässt sich auch der Grundfehler des Animismus benennen. Dieser begeht den Irrtum, den intentionalen Standpunkt über Gebühr zu generalisieren, also unterschiedslos auf alle Entitäten anzuwenden. Der Dualismus begeht den umgekehrten Denkfehler: Er reserviert die intentionale Einstellung allein für die Beschreibung des Menschen bzw. des menschlichen Bewusstseins. Vieles von dem, was ich gesagt habe, konnte zumeist nur kurz angedeutet werden. Beenden möchte ich meinen Vortrag aber nicht ohne den Hinweis, dass das Gesagte unmittelbar Konsequenzen sowohl für die Designpraxis als auch die Designtheorie besitzt. Klar dürfte sein, dass das angeführte Beispiel des Schachcomputers nur stellvertretend für eine Vielzahl neuer nicht-trivialer, nachklassischer Maschinen steht. Wir sind Zeitzeugen einer Entwicklung, in der unsere Alltagswelt zunehmend von einer intelligenten, autonomen und interaktiven Technik bevölkert wird. Von diesem Projekt einer fortlaufenden Animation der Dinge, das unsere gegenwärtige technische Zivilisation ebenso zielstrebig wie umfassend betreibt, konnte man sich zu der Zeit, in denen das klassische Design entstand, noch keine oder allenfalls äußerst vage Vorstellungen machen. Insofern stellt diese Entwicklung, an die ja vielfältige Chancen und Risiken geknüpft sind, eine gewaltige Herausforderung für Gestalterinnen und Gestalter dar. Gefordert sind ideenreiche Designlösungen, angefangen von der Konstruktion neuer Anzeige-, Bedien-, Kontroll- und Steuerungselemente bis hin zur Gestaltung komplexer Multiagentensysteme. Daran wird gegenwärtig intensiv gearbeitet. Und wir sollten diese Entwicklung auch begrifflich zum Ausdruck bringen. Damit plädiere ich nicht dafür, den klassischen Grundsatz ›form follows function‹ einfach ersatzlos zu streichen. Dieses Prinzip behält auch weiterhin seinen Wert. Nach wie vor werden einfache, mechanische Wecker gebaut. Aber wir sollten die klassische Devise um einen weiteren Leitsatz ergänzen: ›form follows intention‹. 27 | Ebd., S. 164.

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Georg Kneer

L iter atur Albers, Irene/Franke, Anselm (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich: Diaphanes 2012. Bieri, Peter (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/Ts.: Hain Verlag 1981. Bird-David, Nurit: »›Animismus‹ revisited: Personenkonzept, Umwelt und relationale Epistemologie«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 19-52. Dennett, Daniel: »Intentionale Systeme«, in: Bieri, Analytische Philosophie des Geistes (1981), S. 162-183. Dennett, Daniel: Brainchildren. Essays on Designing Minds, Cambridge: MIT Press 1998. Dennett, Daniel: Spielarten des Geistes. Wie erkennen wir die Welt? Ein neues Verständnis des Bewußtseins, München: Bertelsmann 1999. Dennett, Daniel: Süße Träume. Die Erforschung des Bewusstseins und der Schlaf der Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp 2011. Hornborg, Alf: »Animismus, Fetischismus und Objektivismus als Strategien der Welt(v)erkenntnis«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 55-64. Janich, Peter: Was ist Information? Kritik einer Legende, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. Kneer, Georg: »Hybridizität, zirkulierende Referenz, Amoderne? Eine Kritik an Bruno Latours Soziologie der Assoziationen«, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Beiträge zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000. Quine, Willard V. O.: From a Logical Point. Three Selected Essays. Von einem logischen Standpunkt aus. Drei ausgewählte Aufsätze, Stuttgart: Reclam 2011. Rammert, Werner/Schulz-Schaeffer, Ingo: »Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt«, in: Dies. (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum

Beseelte Gegenstände oder intentionale Systeme?

Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt a. M./New York: Campus 2002. Reuter, Gerson: »Einleitung: Einige Spielarten des Naturalismus«, in: Alexander Becker u.a. (Hg.): Gene, Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur. Eine Debatte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 7-48. Rorty, Richard: »Leib-Seele-Identität, Privatheit und Kategorien«, in: Bieri, Analytische Philosophie des Geistes (1981), S. 93-120. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991. Viveiros de Castro, Eduardo: »Perspektiventausch. Die Verwandlung von Objekten zu Subjekten in indianischen Ontologien«, in: Albers/Franke, Animismus (2012), S. 73-93.

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Autopsie der Dinge Dokumentation eines Workshops Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer

Die Suche nach dem Sitz der Seele ist eine irritierende Herausforderung. Schließlich ist die Seele immateriell, unsichtbar und grundsätzlich schwer zu begreifen. Im 15. Jahrhundert begannen Anatomen mit der Suche nach dem sogenannten Seelenorgan. Sie öffneten leblose Körper, untersuchten die Hirnventrikel und vermuteten, dass die Zirbeldrüse eine Verbindung zwischen Seele und menschlichem Leib herstelle. Letztlich blieben ihre Untersuchungen jedoch erfolglos. Die Seele konnte mit rein wissenschaftlichen Mitteln nicht aufgespürt und objektiviert werden. Im Juni 2015 machten sich Studierende der Hochschule Niederrhein am Fachbereich Design erneut auf die Suche. Statt den Menschen zu untersuchen, näherten sie sich dem Ding: eine Autopsie der Dinge. Wo liegt der Kern, das Herzstück, das Magische der Dinge? In drei Tagen inspizierten sechs Studierende acht Objekte, erprobten experimentelle Forschungsmethoden und dokumentierten ihre Seelensuche akribisch. Während manche die Objekte in kleinste Einzelorgane zerlegten und feinsäuberlich sortierten, ließen andere ihr Objekt durch minimale Eingriffe ein Eigenleben entwickeln, für wieder andere wurde deutlich: Die Seele der Dinge muss durch deren materielle Zerstörung befreit werden. Während sie die Dinge also umbauten, verbrannten oder in ungewöhnliche Kontexte rückten, wurde deutlich: Eine Forschung nach der Seele findet nicht über, sondern mit Dingen statt. Die Studierenden traten mit den Gegenständen in Dialog und wechselten ihre Perspektiven. Ähnlich wie schon die Anatomen konnten auch sie keinen objektiven Sitz der Seele ausmachen, sondern fanden subjektive Annäherungen an das vormals Unsichtbare. Der Prozess selbst stellte sich als das eigentliche Ziel und Ergebnis der Suche heraus.

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Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer

Autopsie der Dinge

Während der Tagung »Beseelte Dinge« wurden die Dokumentationen der acht Autopsien in einer Ausstellung präsentiert. Auf den folgenden Seiten finden sich Auszüge aus dem Begleitheft der Ausstellung. © Livia Bangel, Kai Büning, Madeleine Degenhardt, Pina Dietsche, Judith Dörrenbächer, Oliver Hinzmann, Tobias Nünninghof, Maja Wojdyla

Autopsie der Dinge



Die Endstücke der Schuhspanner werden ausgetauscht. Beide Spanner besitzen nun je zwei gleiche Enden. Die Spanner dienen bei unterschiedlichen Fitness-Übungen zur Erhöhung des Widerstandes.

Schuhspanner-Fitness von Livia Bangel und Maja Wojdyla.

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Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer

Der Knauf des Kreisels wird entfernt – zurück bleibt eine Art Schraube, die aus dem Kreisel herausragt. In ein Gerüst aus Rohren, Pressspan, Kabelbindern und einer Bohrmaschine wird das schraubenartige Endstück in den Bohrmaschinenkopf eingespannt. Die Bohrmaschine läuft. Der Kreisel dreht sich. Ein Stuhl lebt solange, wie er benutzbar ist – und der Kreisel solange, wie er sich dreht. Wenn sich der Kreisel ewig dreht, ist er unsterblich.

Ewigkeitsmaschine von Kai Büning und Tobias Nünninghof.

Autopsie der Dinge



Wird das Kind erwachsen und verlässt das Haus, hinterlässt es neben einem Haufen Kinderspielzeug auch seine Blockflöte. Die Flöte verblasst gut verstaut in Kartons auf dem Dachboden – Jahr um Jahr ein bisschen mehr. Mithilfe einer Zeremonie wird das Instrument und mit ihm ein Stück Kindheit befreit.

Konservierte Kindheit von Madeleine Degenhardt und Oliver Hinzmann.

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Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer

In drei Durchläufen wird an dem Massagegerät zuerst ein Pinsel, dann ein Filzstift und zum Schluss ein Bleistift angebracht. Durch das Fixieren des Startknopfes bewegt sich die Konstruktion von selbst über ein Blatt Papier. Das emsige Gerät wird auf den Namen Malvina getauft.

Malvina – Massagegerät/Malgerät von Livia Bangel und Maja Wojdyla.

Autopsie der Dinge



In einer langhalsigen Phiole werden nacheinander unterschiedliche Biotope geschaffen: Insekten, Pilze und Kleintiere vermehren sich in dem Gefäß. Biologisches Leben und das Dingliche gehen eine Symbiose ein. Nach ein paar Tagen wird der Wachstumsprozess gestoppt. Vor der endgültigen Zerstörung der Biotope wird ihr Endzustand in Fotos festgehalten.

Begrenztes Leben von Kai Büning und Tobias Nünninghof.

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Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer

Fünf Zeitschaltuhren aus den 1970er Jahren. Made in China. Viel weißes Plastik. Durch nur wenige Eingriffe – Rearrangieren, Ablichten, Rahmen – wird aus Sondermüll mehr: Diese fünf Objekte verbindet ein verwandtschaftliches Verhältnis.

Portrait einer Familie von Madeleine Degenhardt und Oliver Hinzmann.

Autopsie der Dinge



Die Funktionalität des Objektes ist nicht ersichtlich. Aus dem unbekannten Objekt wird MAD – die Mutter aller Dinge. Auch MAD ist an sich funktions- und bedeutungslos. Erst die Werbekonzepte verleihen dem Objekt Bedeutung und wecken Begierde. Egal was MAD ist: Jeder braucht es!

MAD von Madeleine Degenhardt und Oliver Hinzmann.

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Pina Dietsche und Judith Dörrenbächer

Wo sitzt die Seele? Wie sieht sie aus? Während der Obduktion des Netzteils werden die einzelnen Bestandteile vermessen: Größe, Gewicht, Form, Farbe und die Anzahl von Einzelteilen innerhalb einer Objekt-Gruppe werden in einem Protokoll festgehalten.

Obduktion eines Netzteils von Livia Bangel und Maja Wojdyla.

Autorinnen und Autoren

Hartmut Böhme studierte Germanistik, Theologie, Philosophie und Pädagogik. Von 1977 bis 1992 war er Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg und von 1993 bis 2012 Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin. Gastprofessuren hatte er in den USA, Italien und in Japan sowie Fellowships in Wien, Weimar und Essen inne. Er ist vielfach Leiter von DFG-Forschungsprojekten, Sprecher des Sonderforschungsbereichs »Transformationen der Antike« (bis 2012) sowie Träger des MeyerStruckmann-Preises 2006 und des Hans-Kilian-Preises 2011. 2012 emeritierte er. Pina Dietsche studierte Design an der Köln International School of Design (KISD) und Filmregie an der Rhode Island School of Design (RISD) in den USA. Seit 2011 arbeitet sie als Autorin, Regisseurin und Creative Producerin für Fernsehformate wie Quarks & Co. (WDR) und Neo Magazin Royale (ZDF). Derzeit konzentriert sie sich auf langformatige Filme. Ihr Debüt-Dokumentarfilm »Die Macht der Algorithmen« beschäftigt sich mit Big Data und der Frage nach der Berechenbarkeit unserer Zukunft. Judith Dörrenbächer ist Designerin und Designwissenschaftlerin. Sie studierte an der Köln International School of Design (KISD) und an der Ruhr Universität Bochum. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie an der KISD und der Hochschule Niederrhein am Fachbereich Design tätig. Sie arbeitete außerdem für Forschungs- und Ausstellungsprojekte, die sich mit urbaner Kultur, subversivem Design und sozialen Utopien beschäftigten, etwa in Taipeh, Tiflis, Basel and Köln. Im Rahmen ihrer Promotion beschäftigt sie sich gegenwärtig mit technologischen Umwelten und den Theorien des Neuen Animismus.

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Beseelte Dinge

Georg Kneer studierte Soziologie, neuere Geschichte und Politikwissenschaften an der WWU Münster, war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der WWU Münster und am Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle und ist seit 2001 Professor für wissenschaftliche Grundlagen der Gestaltung an der HfG Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd. Seine Arbeitsgebiete umfassen Gesellschaftstheorie, Kultur- und Mediensoziologie sowie Wissenschaftstheorie. Andreas Muxel ist Designer und Künstler. Seine Arbeiten an der Schnittstelle von Design, Kunst und Technologie wurden bereits vielfach international ausgestellt (u.a. Ars Electronica Festival Linz, FILE Festival São Paulo, TodaysArt Festival Brüssel) und auch ausgezeichnet (u.a. International Light Art Award, Honorary Mention Prix Ars Electronica, VIDA Award). In seinen experimentellen Arbeiten beschäftigt er sich mit der Verschränkung von Code und Material und der Mensch-Maschine-Interaktion. 2015 gründete er das Design Studio »NEOANALOG«. Seit 2013 ist er Professor für Interface Design an der Köln International School of Design, TH Köln. Kerstin Plüm ist promovierte Designwissenschaftlerin. Seit 2010 ist sie Professorin für Kunst- und Designwissenschaften am Fachbereich Design der Hochschule Niederrhein. Zuvor hatte sie die Professur für Theorie und Geschichte der Produktgestaltung an der Hochschule Osnabrück inne. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Folkwang-Universität der Künste und Consultant bei design.net. Im transcript Verlag gab sie 2013 heraus: Mies van der Rohe im Diskurs, Innovationen – Haltungen – Werke, Aktuelle Positionen (2013). Judith Seng ist Designerin und Künstlerin. Ihr Fokus liegt auf der Erforschung und Gestaltung von Objekten, Räumen und Prozessen in ihrem komplexen Zusammenspiel. Sie betreibt ihr eigenes Studio in Berlin und ist derzeit Professorin an der HDK Göteborg in Schweden. Ihre Arbeiten werden international in Ausstellungs- und Forschungskontexten ausgestellt und besprochen. Als Fellow der Graduiertenschule für die Künste und Wissenschaften der UDK Berlin initiierte sie die Projektreihe Acting Things, die u.a. im HAU in Berlin und auf der Design Miami/Basel gezeigt wurde. Sie war Stipendiatin der Villa Kamogawa Goethe-Institut in Kyoto, leitete die Prozess- und Designentwicklung und Publikation des

Autorinnen und Autoren

disziplinübergreifenden Forschungsprojekts Design Reaktor Berlin an der UdK Berlin und war Vertretungsprofessorin an den Kunsthochschulen Kassel und Halle Burg Giebichenstein. Susanne Witzgall ist promovierte Kunsthistorikerin und seit 2011 wissenschaftliche Leiterin des cx centrum für interdisziplinäre studien an der Akademie der Bildenden Künste München. Von 2003 bis 2011 lehrte sie am dortigen Lehrstuhl für Kunstgeschichte. Darüber hinaus war sie als freie Kuratorin und von 1995 bis 2002 als Kuratorin am Deutschen Museum Bonn und Deutschen Museum München tätig. Sie ist unter anderem Kuratorin bzw. Cokuratorin der Ausstellungen: Art & Brain II (1997/1998), Say it isn’t so (2007) und (Re)designing nature (2010/2011) sowie Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher und Aufsätze zur zeitgenössischen Kunst, zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft und zu Themen aktueller interdisziplinärer Diskurse. Hierzu zählen Macht des Materials/Politik der Materialität, Fragile Identitäten und Gegenwart der Zukunft (mit Kerstin Stakemeier, diaphanes, 2014, 2015 und 2016).

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Design Friedrich von Borries, Gesche Joost, Jesko Fezer (Hg.) Die Politik der Maker Über neue Möglichkeiten der Designproduktion Juli 2019, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2859-3

Andrea Rostásy, Tobias Sievers Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente Februar 2017, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2517-2

Claudia Banz (Hg.) Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft September 2016, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3068-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Design Thomas H. Schmitz, Roger Häußling, Claudia Mareis, Hannah Groninger (Hg.) Manifestationen im Entwurf Design – Architektur – Ingenieurwesen Mai 2016, 388 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3160-9

Julia-Constance Dissel (Hg.) Design & Philosophie Schnittstellen und Wahlverwandtschaften Februar 2016, 162 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3325-2

Andreas Beaugrand, Pierre Smolarski (Hg.) Adbusting Ein designrhetorisches Strategiehandbuch Januar 2016, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3447-1

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