Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde: Eine Kritik am Retributivismus aus der Perspektive des deutschen Idealismus 9783110922691, 9783899493818

The justification and commensurability of punishments is a central problem of all state and social philosophies. This es

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Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde: Eine Kritik am Retributivismus aus der Perspektive des deutschen Idealismus
 9783110922691, 9783899493818

Table of contents :
Vorwort
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
1. Quellen
2. Sekundärliteratur
Einleitung
I. Den Verbrecher bestrafen, weil er es verdient hat?
1. Die beiden kantischen Begriffe des Rechts
1.1 Zwei kantische Begriffe des Rechts
1.2 Kants Rechtsbegriff aus dem Sittengesetz in der Rechtslehre
1.3 Eine Bemerkung zur liberalen Interpretation der Rechtslehre
1.4 Der liberale Rechtsbegriff
1.5 Eine doppelte Aufgabe
2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung?
2.1 Die Interpretation von Kants Strafrecht als Mischtheorie
2.2 Retributivismus als Rechtfertigung für Strafe
2.3 Die Mehrdeutigkeit der Begriffe der Vergeltung und des Rechts
2.4 Der Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft
2.5 Resozialisierung durch Disziplin
2.6 Zwischenbilanz
3. Kants Strafrecht: eine moraltheoretische Rechtfertigung?
3.1 Welche Art von moralischer Verhältnismäßigkeit?
3.2 Das höchste Gut und die notwendige Verbindung zwischen Schuld und Strafe
3.3 Strafwürdigkeit und rechtliche Strafe
II. Bestrafen, damit der Verbrecher wieder zur Rechtsgemeinschaft gehört?
4. Fichtes „Abbüßungsvertrag"
4.1 Die fehlende rechtliche Argumentation zugunsten des Retributivismus
4.2 Strafrecht als Zwangsrecht
4.3 Die Generalprävention ist nicht die echte Rechtfertigung des Strafrechts bei Fichte
4.4 Spezialprävention und Resozialisierung als Rechtfertigung der rechtlichen Strafe
4.5 Ist der Umweg über die Generalprävention nötig?
5. Hegels präventive Negation des Verbrechens und die untergeordnete Funktion des Retributivismus
5.1 Die umstrittene Klassifizierung der hegelschen Straftheorie
5.2 Die Pluralität der Textstellen und die Thesen einer Doppelrechtfertigung
5.3 Einwände gegen die retributivistischen Interpretationen
5.4 Rekonstruktion der hegelschen Rechtsbegründung: das Kernargument
5.5 Die Integration der anderen Straftheorien
III. Retributivismus ohne Respekt vor der Menschenwürde des Verbrechers?
6. Strafe hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun (Nietzsche)
6.1 Die Genealogie der öffentlichen Strafe
6.2 Nietzsches Bewertung der Gerechtigkeit
6.3 Das Schuldgefühl entsteht nicht beim Sträfling, sondern beim normalen Bürger
6.4 Nur eine Genealogie oder auch eine Straftheorie?
7. Wozu werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft?
7.1 Das Eigentümliche des Verbrechens gegen die Menschlichkeit
7.2 Eine alternative Auffassung
7.3 Die Grenzen unserer moralischen Intuition
Schluss
Personenregister
Sachregister

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Jean-Christophe Merle Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde

Jean-Christophe Merle

Strafen aus Respekt vor der Menschenwürde Eine Kritik am Retributivismus aus der Perspektive des deutschen Idealismus

De Gruyter Recht · Berlin

Professor Dr. Jean-Christophe Merle, Universität des Saarlandes, Saarbrücken

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN: 978-3-89949-381-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2007 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

… les bourreaux d’aujourd’hui, chacun le sait, sont humanistes (Albert Camus, Réflexions sur la peine capitale)

Vorwort „Nemo prudens punit quia peccatum est sed ne peccetur“, sagt Seneca (De ira I ix 7), und viele Philosophen nach ihm teilen eine solche präventive Rechtfertigung der Strafe. Seit Immanuel Kant ist unter den Philosophen – wesentlich mehr als unter den Juristen – aber eine grundsätzlich andere Auffassung verbreitet. Gemäß Kant darf die Frage nach der Rechtfertigung der Strafe nicht mehr lauten: Wozu wird bestraft? Gemäß Kants absolutistischem bzw. kategorischem Imperativ der Strafe darf nur deswegen bestraft werden, weil der Verbrecher es verdient. Alles andere sei ungerecht und verletze insbesondere die Menschenwürde des Verbrechers als eines moralischen Subjekts. Eine solche Wiedervergeltungstheorie, die sich vor allem auf Kant, aber auch auf G.W.F. Hegel beruft, übt zwar auf viele Philosophen eine große Faszination aus, steht aber dennoch auf schwachen Füßen. Eine genaue Untersuchung der Rechts- und Moralphilosophie Kants und Hegels selbst führt vielmehr zu einer besonderen Art von Präventionstheorie. Diese Untersuchung versuche ich in vorliegender Arbeit vorzunehmen. Sie führt von Kant über J. G. Fichte und Hegel zu Friedrich Nietzsche und schließt mit einer Erörterung der Rechtfertigung einer Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese abschließende Erörterung gilt als Prüfstein. Kann meine Position diesen harten Fall überzeugend erklären, so kann sie es umso mehr mit leichteren Fällen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Otfried Höffe für seine Betreuung dieser Habilitationsarbeit und den Herren Prof. Dr. Dr. h.c. mult.Manfred Frank, Prof. Dr. Anton Schindling und Prof. Dr. Dr. Kristian Kühl für ihre Gutachten. Herrn Frank und Herrn Schindling gilt ein besonderer Dank für ihre hilfreichen Bemerkungen. Für gründliche und kritische Korrekturen möchte ich ebenfalls Roman Eisele, Dirk Brantl, Michaela Elkenhans und Matthias Katzer herzlich danken. Als Rechtsphilosoph ist es mir eine Ehre, diese Monographie gerade in der Reihe „Recht“ veröffentlichen zu dürfen, was ich insbesondere Frau Ute von der Aa, Lektorin bei De Gruyter verdanke. Saarbrücken, Oktober 2006

Jean-Christophe Merle

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . Siglenverzeichnis . . Literaturverzeichnis 1. Quellen . . . . . 2. Sekundärliteratur

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. VII . XIII . XV . XV . XVI

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Den Verbrecher bestrafen, weil er es verdient hat? . . . . . . . .

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1. Die beiden kantischen Begriffe des Rechts . . . . . . . . . . 1.1 Zwei kantische Begriffe des Rechts . . . . . . . . . . . . 1.2 Kants Rechtsbegriff aus dem Sittengesetz in der Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Eine Bemerkung zur liberalen Interpretation der Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Der liberale Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Eine doppelte Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung? . 2.1 Die Interpretation von Kants Strafrecht als Mischtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Retributivismus als Rechtfertigung für Strafe . . . . . 2.3 Die Mehrdeutigkeit der Begriffe der Vergeltung und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Der Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft . . . . . . 2.5 Resozialisierung durch Disziplin . . . . . . . . . . . . 2.6 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Kants Strafrecht: eine moraltheoretische Rechtfertigung? 3.1 Welche Art von moralischer Verhältnismäßigkeit? . . 3.2 Das höchste Gut und die notwendige Verbindung zwischen Schuld und Strafe . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Strafwürdigkeit und rechtliche Strafe . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

II. Bestrafen, damit der Verbrecher wieder zur Rechtsgemeinschaft gehört? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die fehlende rechtliche Argumentation zugunsten des Retributivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Strafrecht als Zwangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Generalprävention ist nicht die echte Rechtfertigung des Strafrechts bei Fichte . . . . . . . . . . . 4.4 Spezialprävention und Resozialisierung als Rechtfertigung der rechtlichen Strafe . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ist der Umweg über die Generalprävention nötig? . . . 5. Hegels präventive Negation des Verbrechens und die untergeordnete Funktion des Retributivismus . . . . . . . . . . 5.1 Die umstrittene Klassifizierung der hegelschen Straftheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Pluralität der Textstellen und die Thesen einer Doppelrechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Eine objektive und eine subjektive Rechtfertigung der Strafe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Ein Gesetzesargument und ein Anerkennungsargument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Eine Mischtheorie der Strafe (Retributivismus und Präventionstheorie)? . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Einwände gegen die retributivistischen Interpretationen 5.3.1 Hegels Kritik am Talionsrecht betrifft mehr als dessen buchstäbliche Anwendung . . . . . . . . . 5.3.2 Die Negation der Negation ist keine Wiedervergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Rekonstruktion der hegelschen Rechtsbegründung: das Kernargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Integration der anderen Straftheorien . . . . . . .

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III. Retributivismus ohne Respekt vor der Menschenwürde des Verbrechers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Strafe hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun (Nietzsche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Genealogie der öffentlichen Strafe . . . . . . . . . 6.2 Nietzsches Bewertung der Gerechtigkeit . . . . . . . .

131 132 141

XI

Inhaltsverzeichnis

6.3 Das Schuldgefühl entsteht nicht beim Sträfling, sondern beim normalen Bürger . . . . . . . . . . . . . 6.4 Nur eine Genealogie oder auch eine Straftheorie? . . . 7. Wozu werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft? 7.1 Das Eigentümliche des Verbrechens gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Eine alternative Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die Grenzen unserer moralischen Intuition . . . . . . . Schluss

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Personenregister

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis Kants Werke werden (bis auf unten vermerkte Ausnahmen) mit Band und Seite der Akademie-Ausgabe zitiert. Ethik: GMS: Idee: KpV: KrV: MAM: Päd.: Rel.: RL: TL: ZeF:

Eine Vorlesung Kants über Ethik [ca.1875–80], hrsg. von Paul Menzer, Berlin 1924 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785, IV 385–464) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784, VIII 15–32) Kritik der praktischen Vernunft (1788, V 1–164) Kritik der reinen Vernunft (1781, 21787), zitiert mit Seitenangabe der zweiten Auflage (B) Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786, VIII 107–123) Vorlesung Über Pädagogik, hrsg. von Friedrich Theodor Rink (1803, IX 437–499) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, VI 1–202) Metaphysik der Sitten (1797, 21798), 1. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (VI 203–372) Metaphysik der Sitten (1797, 21798), 2. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI 373–493) Zum ewigen Frieden (1795, VIII 341–386)

Fichtes Werke werden mit Band und Seite der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (GA) zitiert. GNR:

Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/97, GA I/3 und I/4)

Hegels Werke werden ausgabenunabhängig nach Paragraphen zitiert, die unten aufgeführten Vorlesungen mit den Seiten der im Literaturverzeichnis genannten Editionen. GPhR: NRSW: PhR:

Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) Vorlesung Naturrecht und Staatswissenschaft (1818/19) Vorlesung Philosophie des Rechts (1824/25)

Dührings Cursus wird nach den Seiten der Originalausgabe zitiert. Cursus:

Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung (1875)

Nietzsches Werke werden unter Angabe der Abschnittsgliederung nach der Kritischen Studienausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (KSA) zitiert. GdM: WuL:

Zur Genealogie der Moral (1887) Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1872)

ICC:

Rome Statute of the International Criminal Court, 17. Juli 1998

Literaturverzeichnis 1. Quellen Beccaria, Cesare, Dei Delitti e delle Pene, Livorno 1764 (deutsch: Über Verbrechen und Strafen, übers. von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1998) Cicero, Marcus Tullius, De officiis libri quinque, recensuit brevique adnotatione critica instruxit M. Winterbottom, Oxford 1994 Dühring, Eugen, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1875 Fichte, Johann Gottlieb, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796/97), in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Reinhard Lauth, Hans Jacobs und Hans Gliwitzky, Reihe I, Bd. 3–4, Stuttgart – Bad Cannstatt 1966–1970 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Naturrecht und Staatswissenschaft (1818/ 19), in: ders., Vorlesungen über Rechtsphilosophie, hrsg. von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart – Bad Cannstatt 1973, Bd. 1, 217–351 ders., Philosophie des Rechts (1824/25), in: ders., Vorlesungen über Rechtsphilosophie, hrsg. von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart – Bad Cannstatt 1974, Bd. 4, 67–752 ders., Werke in zwanzig Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970 (zahlreiche Nachdrucke) Hobbes, Thomas, Leviathan, edited by C. B. Macpherson, London 1968 (deutsch: Leviathan, übers. von Walter Eucher, Frankfurt a.M. 1984) Kant, Immanuel, Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin ab 1902, Nachdruck Berlin 1968 ders., Eine Vorlesung Kants über Ethik, hrsg. von Paul Menzer, Berlin 1924 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina), hrsg. von Friedrich-Christian Schroeder, Stuttgart 2000 Krause, Karl Christian Friedrich, Abhandlung über die Idee und die Eintheilung der Philosophie und der Mathematik und den innigen Zusammenhang beider [1805, Übers. der lateinischen Habilitation von 1802], in: ders., Philosophische Abhandlungen, aus dem handschriftlichen Nachlasse hrsg. von Paul Hohlfeld und August Wünsche, Leipzig 1889, 5–40 ders., Grundlage des Naturrechts oder philosophischer Grundriß des Ideals des Rechts. Erste Abtheilung, Jena 1803 Nietzsche, Friedrich, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin 21988 Platon, Werke in acht Bänden, griechisch/deutsch, nach den Übersetzungen von Friedrich Schleiermacher u.a. hg. von Gunther Eigler, Darmstadt 21990 Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 1–2, hrsg. von Wolfgang von Löhneysen, Frankfurt a. M. 1986

XVI

Literaturverzeichnis

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2. Sekundärliteratur Badinter, Robert 2000, L’Abolition, Paris Bedau, Hugo 1978, Retribution and the Theory of Punishment, in: The Journal of Philosophy 75/11, 601–620 Benn, Stanley I. 1958, An Approach to the Problems of Punishment, in: Philosophy 33, 321–341 Bianchi, Herman 1994, Abolition: Assensus and Sanctuary, in: Duff, Alexander Reginald/Garland, David (Hrsg.), A Reader on Punishment, Oxford, 336–351 Bosanquet, Bernard 1899, The Philosophical Theory of the State, London/New York (Nachdruck London 1910) Braithwaite, John 1989, Crime, Shame and Reintegration, Cambridge ders./Pettit, Philip 1990, Not Just Desert: A Republican Theory of Criminal Justice, Oxford Brandt, Reinhard 1982, Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: ders. (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin, 233–285 Brugger, Winfried 1996, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 35, 67–97 ders. 2000, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: Juristenzeitung 55/4 (18. Februar), 165–173 Byrd, Sharon 1989, Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in its Threat, Retribution in its Execution, in: Law and Philosophy 8/2, 153–200 Camus, Albert 1979, Réflexions sur la Peine Capitale, Paris Cohen, Hermann 1928, Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, hrsg. von Albert Goerland und Ernst Cassirer, Berlin Cooper, David E. 1971, Hegel’s Theory of Punishment, in: Pelczynski, Zbigniew A. (Hrsg.), Hegel’s Political Philosophy. Problems and Perspectives, Cambridge, 151–167 Deith, John 1984, On the Right to Be Punished. Some Doubts, in: Ethics 94, 191–211 Feinberg, Joel 2003, Problems at the Roots of Law. Essays in Legal and Political Theory, Oxford Flechtheim, Ossip Kurt 1963, Die Funktion der Strafe in der Rechtstheorie Hegels, in: ders., Von Hegel zu Kelsen. Rechtstheoretische Aufsätze, Berlin, 9–20 ders. 1968, Zur Kritik der Hegelschen Strafrechtsphilosophie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 54, 539–548 ders. 1975, Hegels Straftheorie, Berlin

Literaturverzeichnis

XVII

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Literaturverzeichnis

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Einleitung Über die Notwendigkeit eines öffentlichen Strafrechts herrscht beinahe Einstimmigkeit. Selbst unter den wenigen Vertretern der Abschaffung jeglicher Strafe plädiert eine Mehrheit eher für Alternativen zur üblichen Freiheitsstrafe als für die restlose Abschaffung der Bestrafung. Insoweit gilt die Existenz eines öffentlichen Strafrechts als vollkommen gerechtfertigt. Wie die Strafe aber eigentlich zu rechtfertigen ist, bleibt dagegen nach wie vor ein genauso kontroverses Thema wie die Bestimmung des angemessenen Strafmaßes. Denn beide Themen hängen eng zusammen. Alle heute vertretenen Straftheorien teilen die Ablehnung jenes Strafsystems, das noch in der Frühmoderne herrschte und von Foucault am Anfang von Überwachen und Strafen (vgl. Foucault 1975; siehe auch Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532) dem modernen Strafsystem entgegengesetzt wird, welches vor allem zu Freiheitsstrafen und – wenn überhaupt – zu einer möglichst schmerzlosen und dezenten Todesstrafe verurteilt. Noch im 18. Jahrhundert wurden mehr als hundert verschiedene Verbrechen mit der Todesstrafe geahndet. Die Folter, die ohnehin systematisch als Verhörmittel eingesetzt wurde, galt oft als Bestandteil des Strafmaßes sowie als Verstärkung der Todesstrafe. Während die Folter neuerdings von manchen Juristen (z. B. Brugger 1996 und 2000; zu einer detaillierten Ablehnung der Folter siehe z. B. Shue 1977–78) wieder als Ermittlungs- und Sicherheitsmittel propagiert und auch die Todesstrafe noch vertreten wird (z. B. van den Haag 1990), lässt sich kein Theoretiker finden, der für eine Rückkehr zur frühneuzeitlichen Praxis einträte. Zum humanen Geist des Eighth Amendment to the United States Constitution aus dem Jahre 1791 bekennen sich alle zeitgenössischen Theoretiker: „Es dürfen weder überhöhte Kautionen verlangt, noch überhöhte Strafgelder auferlegt, noch grausame und unübliche Strafen verhängt werden“.1 Worin diese Humanität genau besteht und wo ihre Grenzen liegen, bleibt allerdings umstritten. Den grundlegendsten Gegensatz lokali-

1 Im Original: “Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments inflicted”.

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siert man in dieser Debatte gerne zwischen den Vergeltungstheorien und den Theorien der Generalprävention. Die Vergeltungstheorien – auch unter dem Stichwort Retributivismus zusammengefasst – rechtfertigen die Bestrafung eines Verbrechers mit der Vergeltung als Forderung der Gerechtigkeit, das Verbrechen auszugleichen; dabei kann noch danach unterschieden werden, ob das, was ausgeglichen wird, die Schwere der Straftat selbst oder die aus dieser Straftat induzierte Böswilligkeit des Täters ist. Die Theorien der Generalprävention hingegen rechtfertigen die Strafe mit der Abschreckung aller Bürger von der Begehung einer Straftat, und zwar entweder bereits mittels der Androhung von Strafen oder durch die Vollstreckung dieser Strafen, also durch das Exempel. Einerseits sehen die neuzeitlichen Vertreter der Generalprävention (Thomas Hobbes, Samuel von Pufendorf, Christian Wolff, Cesare Beccaria, Anselm Feuerbach, Arthur Schopenhauer usw.) eine Inhumanität in der Nutzlosigkeit von solchen Strafen, welche nicht der Abschreckung der anderen Bürger dienen. Auch das heutige positive Strafrecht fordert von jeder Strafe eine generalpräventive Dimension: Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. (StVollzG § 2; vgl. auch das Urteil des BGH vom 8.12.1970, 1 StR 353/70)

Andererseits aber wird den Theorien der Generalprävention vorgeworfen, sie würden inhuman mit den Verbrechern umgehen, weil sie den Zweck der Strafe lediglich im Interesse der anderen Bürger ohne Rücksicht auf den verurteilten Verbrecher konzipieren würden. Dieser Vorwurf kommt oft auch zugespitzt in Gestalt der Behauptung vor, die Generalprävention nehme eine mögliche Bestrafung Unschuldiger in Kauf (vgl. etwa Koller 1979, Kühl 2001, 29; zur Widerlegung dieses Vorwurfs vgl. Rosen 1997). Allerdings kann dieser Vorwurf auf mindestens zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Entweder kann der Generalprävention vorgeworfen worden, dass ihr zufolge der Zweck der Strafe das Interesse des Verurteilten nicht berücksichtige; oder der Vorwurf kann lauten, dass gemäß der Generalprävention grundsätzlich jegliche Interessen – ob des Verbrechers oder seiner Mitbürger – außer Acht

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gelassen werden sollten, weil es in einer retributiv begründeten Strafe lediglich um die Zufügung dessen gehe, was der Verbrecher durch seine Tat intrinsisch verdient hat. Den letztgenannten Vorwurf erheben die Vergeltungstheorien; den zuerst genannten Vorwurf machen diejenigen Positionen, welche als Zweck der Strafe die Resozialisierung des Täters festsetzen, wobei sie einräumen, dass zunächst bzw. gerade auch für die Resozialisierung eine Zeitperiode der Spezialprävention durch die Strafe nötig sein kann, in welcher die Gesellschaft vor dem Verbrecher dadurch geschützt wird, dass er für den genannten Zeitraum außerstande gesetzt wird, weitere Verbrechen zu begehen. Der Generalprävention und den Theorien der Resozialisierung als Strafzweck wirft der Retributivismus das Gleiche vor: die Strafe werde von diesen Theorien bloß als Mittel zu einem Zweck gerechtfertigt. Gemäß dem Retributivismus selbst ist die Strafe nämlich ohne weiteren Zweck einfach aus dem Grund gerechtfertigt, dass der Verbrecher sie verdient hat, indem er wissentlich das Recht schwer verletzt hat. Deshalb wird der Retributivismus von Rechtswissenschaftlern generell als ,absolute Theorie‘ bezeichnet, weil die Strafe nach ihm ohne Bezug auf einen Zweck ein Gut darstellt; in den ,relativen Theorien‘ bleibt die Rechtfertigung der Strafe dagegen immer durch ihren Bezug auf einen Zweck bedingt. Die vermeintliche Überlegenheit des Retributivismus besteht nach Ansicht seiner eigenen Vertreter darin (siehe z. B. Höffe 2004, 83) dass nur er – als einzige Straftheorie, welche die Strafe lediglich als Zweck ansieht – den Verbrecher nicht bloß als Mittel für einen (Straf-)Zweck, sondern auch als Träger der Menschenwürde behandelt. In vorliegender Schrift werde ich versuchen, diese These zu widerlegen: Nicht der Retributivismus, sondern die Resozialisierung erfüllt diesen Anspruch. Die Vertreter der Resozialisierung sehen offensichtlich als Zweck der Strafe den bestmöglichen Status für den Verbrecher an, wobei man unter einem ‚möglichen Status‘ jeden Umgang mit dem Verbrecher versteht, der die Sicherheit der Gesellschaft nicht gefährdet. Der Zweck der Resozialisierung setzt damit der genannten Spezialprävention eine klare Grenze, ohne welche die Resozialisierung ihrerseits undenkbar wäre: Ohne öffentliche Rechtssicherheit wäre keine Resozialisierung möglich, weil es schlechthin keine rechtsstaatliche Gesellschaft gäbe, der Verbrecher also auch in keine Gesellschaft wiedereingegliedert werden könnte.

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Der Retributivismus dagegen interessiert sich nicht für die Zukunft des Verbrechers über den Zeitraum der Strafe hinaus. In dieser Hinsicht kann allein die Theorie der Resozialisierung grundsätzlich diejenigen Strafen ausschließen, welche heutzutage – wie eingangs erwähnt – die Vertreter aller Straftheorien entschieden ablehnen: die „grausamen und unüblichen Strafen (cruel and unusual punishments)“. Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer beobachtet zu Recht: Das Ziel der Resozialisierung […] ist mit der Existenz eines Strafvollzugs über Freiheitsstrafen notwendig gesetzt. Leibes- und Lebensstrafen kommen mit dem alleinigen Strafziel der Vergeltung aus. (HASSEMER 1990, 286)

Auch wenn man annimmt, dass die Strafe als Ausgleich der Straftat bzw. der Böswilligkeit des Täters an sich verdient und damit gerechtfertigt ist, und dementsprechend den Anspruch erhebt, dass man sich dem Verbrecher gegenüber human verhält, sollte sich dieser angeblich humane Blick auch mit der Situation befassen, in der sich der Verbrecher nach dem Vollzug der Strafe befinden wird. Ohne entsprechende Maßnahme befindet sich der Sträfling nach der Abbüßung seiner Freiheitsstrafe bekanntlich in einer desozialisierten Lage, was nicht nur die Entstehung eines dauerhaften kriminellen Milieus geradezu fördert und die öffentliche Sicherheit auf diesem Weg vermindert (vgl. Braithwaite 1989, 102), sondern auch dem Verbrecher eine Art zweite Strafe zufügt, die ihn dauerhaft stigmatisiert, anstatt ihm sowohl Reue als auch die Versöhnung mit der Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. Braithwaite 1989, 101; Hassemer 1990, 289). Die Sorge um die Zukunft des Sträflings nach der Abbüßung der Strafe erfordert daher eine entsprechende Behandlung schon während des Strafvollzuges. Der Retributivismus kann versuchen, auch diese Forderung der Humanität zu erfüllen (dies versucht z. B. Ricœur 1995, 203). Dabei wird er aber auf das Problem der sogenannten „Antinomie der Strafzwecke“ (Hassemer 1990, 291) stoßen: Die verschiedenen Straftheorien führen in manchen – oder besser gesagt sogar in vielen – Fällen nicht zu demselben Strafmaß. Hassemer stellt fest: Eine vom Verhältnisprinzip begrenzte und vom Vergeltungsziel geforderte Strafzeit reicht für eine Behandlung in der Regel nicht aus, also muß das Resozialisierungskonzept insofern scheitern. Für eine sinnvolle Behandlung des Gefangenen kann die Strafzeit aber auch zu lang sein […] (HASSEMER 1990, 291)

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Angesichts dieser Antinomie der Strafzwecke muss man sich für eine Priorität entscheiden: Entweder gilt primär der Retributivismus und sekundär die Resozialisierung – dies bedeutet, dass die Resozialisierung nur insoweit verfolgt wird, als sie nicht mit der Vergeltung kollidiert –, oder die Resozialisierung gilt primär. Der in diesem Sinne primäre Retributivismus sieht seine moralische Überlegenheit darin, dass er die einzige genuin humane Rechtfertigung der Strafe sei, weil er anders als die Resozialisierung nicht auf die Interessen des Verbrechers, sondern lediglich auf dessen Verdienst – bzw. auf dessen Schuld, dessen Verantwortung, dessen Böswilligkeit – achtet. Dabei übersieht der Retributivismus m.E. folgende Punkte. Erstens ist die folgende Unterscheidung vonnöten. ‚Vergeltung‘ kann in zweierlei Sinn gemeint sein. ‚Vergeltung‘ kann einerseits im minimalistischen Sinne verstanden werden, in dem die ausnahmslose Voraussetzung für jede Strafe die Schuld des Bestraften ist (vgl. Höffe 1999d, 72). In diesem minimalistischen Sinne wären alle Straftheorien – also auch die Generalprävention und die Theorien der Resozialisierung – Vergeltungstheorien (vgl. Neumann/Schroth 1980, 6). Unter ‚Vergeltung‘ versteht man aber andererseits auch – und vornehmlich – eine Antwort auf die Straftat, welche 1. das Verdienst bzw. die Schuld des Verbrechers durch Gleichwertiges ausgleichen will und 2. darin die einzige gerechte Strafe sieht, wobei jeder Strafzweck – etwa die Generalprävention, die Resozialisierung, die Spezialprävention oder dergleichen – ausgeschlossen ist. Der Retributivismus besteht in der Annahme der letzteren (strittigen) These. Um jegliches Missverständnis zu vermeiden, werde ich im Folgenden den Retributivismus ‚Wiedervergeltungstheorie‘ statt ‚Vergeltungstheorie‘ nennen und den zweiten Punkt als ‚Wiedervergeltung‘ bezeichnen. In der Rechtfertigung der Strafe als Wiedervergeltung wird zweitens nicht die Zukunft des Verbrechers, sondern ausschließlich seine Vergangenheit berücksichtigt. Wie wir gesehen haben, geschieht dies unter Berufung auf sein Verdienst bzw. auf seine Schuld. Der seiner ‚Schuld‘ zugrunde liegende Begriff kann aber in einer modernen, humanen Perspektive nur der Begriff der ‚Verantwortung‘ sein. In der Tat gehört zu jeder heutigen retributivistischen Theorie der Anspruch, im Gegensatz zu den präventiven und resozialisierenden Theorien die Verantwortung des Verbrechers als seine Würde zu respektieren und auf sie mit Gleichwertigem zu antworten.

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Im der gesamten vorliegenden Schrift werde ich wie der Wiedervergeltungstheoretiker davon ausgehen, dass die Verantwortung des Menschen für seine Handlungen tatsächlich dasjenige ist, was dem Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen seinen besonderen Status (seine dignitas oder Würde) als vernunftfähiges Wesen verleiht. Dann muss aber vor vornherein auf folgende Differenzierung geachtet werden. Im Menschen als Verantwortungsträger bestehen immer zwei Dimensionen. Einerseits bedeutet seine Verantwortung für die eigenen Handlungen, dass verschiedene Handlungen verschiedene Folgen haben, insbesondere dass alle Handlungen, welche in moralischer Hinsicht unterschiedlich zu bewerten sind, auch jeweils unterschiedliche Folgen haben. Dies heißt u. a., dass rechtswidrige Handlungen zu einem schlechteren Zustand führen dürfen bzw. sollen. Andererseits ist der Status eines Menschen als vernunftund verantwortungsfähiges Wesen ein Status, den er als Mensch schlechthin besitzt und der weder ihm selbst noch seinen Mitmenschen zur Disposition steht. Dass seine vergangenen rechtswidrigen Handlungen Folgen haben sollen, darf also nie dazu führen, dass er aufhört, als verantwortungsfähiges Wesen behandelt zu werden, außer falls dies die Ausübung desselben Status seitens seiner Mitmenschen verhindert. Andernfalls würde der Täter nur bis zu seiner Straftat als verantwortungsfähiger Mensch behandelt; nach der Verurteilung hingegen verlöre er diesen Status, d. h. seine Würde. Die Wieder-vergeltungstheorie würde damit – nach der Straftat – gerade jenen humanen Umgang mit dem Verbrecher verfehlen, in welchem ihrer Ansicht nach ihre moralische Überlegenheit über die anderen Straftheorien besteht. Kurz: Der Retributivismus unterscheidet nicht ausreichend zwischen dem Täter und seiner Tat. In dieser Hinsicht erweist sich jene Ansicht als nicht wirklich überzeugend, die den Einfluss des Retributivismus auf die christliche Tradition zurückführt (zu dieser Ansicht vgl. z. B. Roxin 1973, 3; Neumann/Schroth 1980, 13). Die Resozialisierung findet in der christlichen Tradition nämlich ebenso viele Wurzeln, wie der Resozialisierungstheoretiker John Braithwaite in seinem Plädoyer für ein „resozialisierendes SichSchämen“ (reintegrative shaming) andeutet: Dass man sich schämt, ist dasjenige, was die Tat als böse kennzeichnet, während es gleichzeitig danach strebt, die Identität des Verbrechers als im Kern gut zu bewahren. Es richtet sich in der christlichen Tradition des

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Gebots ‚hasse die Sünde und liebe den Sünder‘ darauf, böse Taten, nicht aber böse Personen zu zeigen.2 (BRAITHWAITE 1989, 101)

Der Retributivismus geht drittens davon aus, dass die Folgen des Verbrechens, für welche der Verbrecher die Verantwortung tragen soll, etwas Gleichwertiges sein sollen, weil die Gerechtigkeit dies verlange. Während sich der Retributivismus auf diese Weise auf die Forderung nach einem Äquivalent für die Schuld konzentriert, übersieht er eine unstrittige Folge des Verbrechens, nämlich dass das Verbrechen zumindest vorläufig die Rechtsgemeinschaft zwischen dem Verbrecher und den Mitbürgern unmöglich macht. Schon ein kurzes Gedankenexperiment verdeutlicht dies. Legen wir die retributivistische Ansicht zugrunde, nach der das Strafmaß ein Äquivalent für die Schwere der Tat sein solle und dies allein – ohne irgendeinen Strafzweck – die einzige gerechte Lösung darstelle. Nehmen wir an, dass wir auf diese Weise zu dem Schluss gelangen, dass ein Verbrecher eine ungefähr zwanzigjährige Freiheitsstrafe verdient. Üblich ist, dass mit dem Vollzug der Freiheitsstrafe spätestens dann begonnen wird, wenn das Urteil nach Erschöpfung aller Rekurswege rechtskräftig wird (in der Wirklichkeit war der – offiziell immer noch als unschuldig geltende – Verbrecher in einem solchen Fall oft schon seit der Ermittlung bzw. der Erteilung des Haftbefehls in Haft). Nichts am Retributivismus würde aber in diesem Fall verbieten, dass der Beginn der Strafe verschoben würde.3 Wenn der Verbrecher z. B. zwanzig Jahre alt wäre, würde es seine Lebenserwartung durchaus erlauben, dass er erst von seinem dreißigsten bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag im Gefängnis sitzt, von seinem zwanzigsten bis zu seinem dreißigsten Geburtstag aber ein freier Mensch bleibt. Nicht etwa nur aus organisatorischen Gründen, die mit den Kapazitäten der Strafvollzugsanstalten zu tun haben, würde unsere Gesellschaft eine solche Reform des Strafvollzugsrechts ablehnen. Unsere Gesellschaft hielte dies vielmehr für grundsätzlich und strikt unzulässig, weil dies die öffentliche Sicherheit schwer gefährden würde. Die Ablehnung 2 Im Original: “It is shaming which labels the act as evil while striving to preserve the identity of the offender as essentially good. It is directed at signifying evil deeds rather than evil persons in the Christian tradition of ‘hate the sin and love the sinner’.” 3 Eine solche zeitliche Verschiebung ist tatsächlich auch im deutschen Strafrecht möglich, freilich nur bei sehr geringfügigen Fällen mit kurzer Strafdauer.

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einer solchen Reform fände daher v.a. aus spezialpräventiven Gründen statt. Nun ist die Gefährdung der Gesellschaft eindeutig eine Folge des Verbrechens. Mit der Spezialprävention trägt also der Verbrecher durchaus eine Folge seiner Straftat. Anders als die vom Retributivismus reklamierte, aber durchaus kontroverse moralische Forderung nach einem Ausgleich für die Schuld stellt die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eine unstrittige Wirkung der Taten des Verbrechers dar. Sie wird aber vom Retributivismus nicht berücksichtigt. Hier zeigt sich, dass die Selbstdarstellung des Retributivismus als einzige Straftheorie, in welcher der Verbrecher die Folgen seiner Tat wirklich zu tragen hat, alles andere als selbstverständlich ist. Außerdem zeugt viertens das Desinteresse an dieser Folge der Tat von einem Desinteresse an der rechtlichen Dimension des Verbrechens und seiner Bestrafung. Der Retributivismus fokussiert auf die Schuld des Täters. Er hebt zwar hervor, dass die Bestrafung des Täters auch dem Opfer gerecht werde.4 Ansonsten spielt das Interesse der Rechtsgemeinschaft in der retributivistischen Rechtfertigung der Strafe aber keine Rolle. Wenn mithin in der retributivistischen Rechtfertigung der Strafe nur der Verbrecher berücksichtigt wird, stellt sich die Frage, warum die Strafe überhaupt zur Kompetenz der Justiz, d.h. der Rechtsgemeinschaft zählt, welche sich doch ansonsten aus dem Privatleben der Individuen heraushält. Wenn in der retributivistischen Rechtfertigung der Strafe nur der Verbrecher und sein Opfer berücksichtigt werden, so drängt sich die Frage auf, warum über die Strafe nicht gleich in einem Zivilprozess entschieden wird. In dieser Hinsicht braucht man nicht erstaunt zu sein, dass bei den RechtswissenschaftDiese Ansicht ist sehr fragwürdig, denn in einem modernen Rechtsstaat unterscheidet sich der Strafprozess von dem Zivilprozess unter anderem dadurch, dass sich der Hauptprozess nicht zwischen zwei privaten Parteien abspielt, sondern zwischen dem Staatsanwalt als Vertreter der Rechtsgemeinschaft und dem Angeklagten. Die Opfer treten allenfalls als Nebenkläger auf und die Strafe ist keinesfalls als Entschädigung für die Verletzung ihrer Rechte gedacht. Da mir die Ansicht, nach der die Bestrafung des Täters auch dem Opfer gerecht wird, nicht zum Kern der Wiedervergeltungstheorie zu gehören scheint, werde ich in vorliegender Schrift diesen Aspekt des Retributivismus beiseitelassen und mich nur mit dem Hauptargument der Wiedervergeltung befassen. Wenn dieses Hauptargument ausfiele, wäre auch für einen Retributivisten die angebliche Gerechtigkeit den Opfern gegenüber allein noch keine Rechtfertigung für das Übel, das der Täter durch die Bestrafung erlebt. 4

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lern der Retributivismus, der sich bei den Philosophen eines besonderen moralischen Ansehens sowie der Zustimmung einer Mehrheit erfreut, heutzutage kaum noch vertreten wird (vgl. z. B. Roxin 1974, 182). Über diese Diskrepanz zwischen der Ansicht der Philosophen und der Ansicht der Juristen denken die Philosophen leider zu wenig nach. Anders als die präventiven Straftheorien und die Resozialisierung hängt die gerechtfertigte Umsetzung des Retributivismus nicht von Effizienzkriterien bzw. vom ‚Output‘ ab (anders formuliert hat „nach der Vergeltungstheorie […] die Strafe ihren Sinn außerhalb des Bereichs der sozialen Realität“: Neumann/Schroth 1980, 11). Wenn man eine besonders hohe Rückfallziffer für eine bestimmte Art von Verbrechen beobachtet, das mit einem resozialisierend gedachten Strafmaß bestraft wird, so wird die Legitimität dieser Bestrafung dadurch in Frage gestellt. Die Umsetzung des Retributivismus ist dagegen im Wesentlichen effizienzunabhängig. Die Rechtfertigung eines retributivistischen Strafsystems lässt sich somit nicht in der Empirie – etwa anhand von kriminologischen Studien – überprüfen, die Kritik an der Wiedervergeltungstheorie muss vielmehr eine begriffliche sein. Darum wird die in vorliegender Schrift entwickelte Kritik an der Wiedervergeltungstheorie kaum empirische und interdisziplinäre Aspekte, sondern vor allem begriffliche, das heißt rechtsethische und moralphilosophische Argumente darstellen. In dieser Hinsicht verfährt diese Schrift nicht anders als die Darstellungen jener Rechtswissenschaftler, welche die ,absolute Theorie‘ immer noch mit Bezug auf Kants bzw. auf Hegels Argumentation – oder genauer gesagt auf deren Grundlage (vgl. Kühl 2001, 30) – behandeln. Dennoch könnte diese begriffliche Kritik immerhin dazu beitragen, ein Hindernis zur Konvergenz der philosophischen mit der rechtswissenschaftlichen Debatte über die Rechtfertigung der Strafe aufzuheben. Darum werde ich in dieser Schrift eine Kritik am Retributivismus in der Form einer begrifflichen Auseinandersetzung mit diesen klassischen philosophischen Autoren führen. Nicht zuletzt sollte man die Bedeutung der empirischen Studien für die Rechtfertigung der Strafe nicht überschätzen. Hassemer macht darauf aufmerksam, daß über die Erfolge der Resozialisierung verläßliches Wissen schwerlich beschafft werden kann. Das beliebte Argument aus den Rückfallziffern, die

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mit ihrem Pendel zwischen 30 und 40 % das Resozialisierungskonzept desavouieren sollen, ist bei genauerem Hinsehen unverwertbar. Zum einen kennt man aus solchen Statistiken nur die manifeste, die ermittelte und abgeurteilte Kriminalität. […] Zum anderen stehen Experiment und empirische Beweisführung im Strafrecht immer vor einem fundamentalen Problem: Man kann die intervenierenden Variablen nicht isolieren, man kann nicht ausprobieren, wie es wäre, wenn man Besserung der Straftäter über eine andere Form der Strafrechtsfolge zu erreichen suchte […]. (HASSEMER 1990, 288; vgl. auch FLETCHER 1998, 31)

Auch wenn man bei der resozialisierenden Bestrafung bestimmter Verbrechen beobachtet, dass die Rückfallquote besonders hoch ist, kann man daraus noch lange keinen zwingenden Schluss ziehen. Ist die begrenzte Effizienz der Strafe immerhin besser als nichts? Oder sollte man im Gegenteil die Bestrafung dieser Verbrechen ganz abschaffen? Sollte man statt der resozialisierenden Bestrafung ein retributivistisches Strafmaß festsetzen? Oder sollte man eher auf ein wirksames spezialpräventives Mittel zurückgreifen, etwa gar auf die Bestrafung von mehr als hundert Verbrechen mit der Todesstrafe, wie sie noch im 18. Jahrhundert üblich war? Die Entscheidung bleibt offen und bedarf einer rechtsethischen Beratung über die Rechtfertigung von Strafe überhaupt. Anders als im Retributivismus sollten dabei aber auch die Folgen für die Rechtsgemeinschaft in Betracht gezogen werden. Darum weiche ich in diesem Punkt etwa von Kühls folgender Ansicht ab: Alle auf bestimmte Zwecke in der Zukunft ausgerichteten Straftheorien müssen die Eignung der Strafe zur Erreichung dieser Zwecke behaupten, und diese Behauptung müßte eigentlich mit empirischen Daten belegt werden. (KÜHL 2001, 30)

Die Debatte über die Rechtfertigung der Strafe ist m. E. vielmehr vor allem eine begriffliche rechtsethische Diskussion. In dieser Schrift werde ich sie dementsprechend führen. Die genannten vier Punkte mahnen zur Skepsis gegenüber jenem Anspruch auf moralische Überlegenheit, den der Retributivismus erhebt, weil er anders als die Resozialisierung nicht auf die Interessen des Verbrechers, sondern lediglich auf sein Verdienst bzw. auf seine Verantwortung für die Folgen jeder Tat achtet. Erstens ist der Ausgleich mit einem Äquivalent weder notwendig noch selbstverständlich die Folge der Straftat. Zweitens berücksichtigt der Retributivismus nur eine Dimension der Verantwortung, nicht aber den unveräußer-

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lichen Status des Menschen als vernunftfähiges Wesen. Drittens lässt der Retributivismus wichtige Folgen der Straftat – etwa für die Rechtsgemeinschaft – außer Acht. Viertens vermisst man im Retributivismus eine Erklärung dafür, dass eine retributivistisch gedachte Strafe, deren Rechtfertigung nur den Verbrecher selbst – und allenfalls auch sein Opfer – betrifft, jedoch nicht die Rechtsgemeinschaft, dennoch von der Rechtsgemeinschaft verhängt wird. Alle diese vier Einwände werden meiner kritischen Auseinandersetzung mit der Wiedervergeltungstheorie zugrunde liegen. Dass diese vier Punkte zumindest problematisch sind, ist vielen ihrer Vertreter bewusst. Als Antwort auf die Skepsis wird zunehmend auf die Exklusivität des Retributivismus in der Rechtfertigung der Strafe und in der Bestimmung des Strafmaßes verzichtet. Oft wird die Ansicht geäußert, der Retributivismus stelle nur einen gewissen ethischen Rahmen für das Strafrecht dar, innerhalb dessen durchaus auch Strafzwecke verfolgt werden dürften. Dabei wird von der vermeinten rechtsethischen Überlegenheit des Retributivismus ausgegangen, der die Würde des einzelnen Menschen besser respektiere als andere Straftheorien, um die Anwendung der anderen Straftheorien in einer Art von Machtkontrolle zu begrenzen. Roxin beispielsweise schreibt in diesem Sinne: Ob die Schuld dem Staat ein Recht zur Vergeltung gibt, oder ob sie das Mittel ist, die Belange der Gesamtheit gegenüber der individuellen Freiheit in Schranken zu halten, das scheint mir für das Strafrecht eine wichtigere Frage als die nach dem Bestehen von Schuld überhaupt. Die Antwort kann nur im Sinne der zweiten Alternative lauten […]. (ROXIN 1973, 21)

Die Einschränkung, von der Roxin gesteht, dass sie dem Retributivismus teilweise widerspricht, findet Roxin zufolge statt, indem die Strafe das retributivistische Strafmaß nicht überschreiten, jedoch unterschreiten kann: Die Strafe darf das Maß der Schuld nicht übersteigen. […] Zulässig ist es dagegen, die schuldangemessene Strafe zu unterschreiten. Ein solches Verfahren verbietet sich zwar für eine konsequente Vergeltungstheorie; denn es bedeutet einen teilweisen Verzicht auf das ausgleichende Strafleiden. (ROXIN 1973, 23 f.)

Die Rechtfertigung für eine solche Mischkonstruktion findet Roxin wie viele andere Mischtheoretiker, welche die Debatte in den letzten Jahrzehnten dominiert haben, in einer Art Arbeitsteilung zwischen

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den einzelnen Straftheorien. Diese Arbeitsteilung geht von der folgenden Beobachtung aus: Die einzelnen Straftheorien richten den Blick einseitig auf bestimmte Aspekte des Strafrechts – die spezialpräventive Lehre auf den Vollzug, der Vergeltungsgedanke auf das Urteil, und die generalpräventive Auffassung auf den Zweck der Strafdrohungen – und vernachlässigen die übrigen Erscheinungsweisen der Strafgewalt, obwohl doch jede von ihnen spezifische Eingriffe in die Freiheit des einzelnen in sich schließt. (ROXIN 1973, 12)

Nach der mischtheoretischen Arbeitsteilung würde sich jede Theorie auf ihren Schwerpunkt begrenzen. Eine solche Konstruktion erliegt aber offensichtlich der oben genannten ‚Antinomie der Strafzwecke‘. Die in der vorliegenden Schrift geführte Untersuchung wird also als Leitfaden die Suche nach einer einzigen primären Rechtfertigung der Strafe wählen. Dabei ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass auch Forderungen anderer Theorien teilweise erfüllt werden; wenn überhaupt, dann werden sie aber eben nur teilweise erfüllt. Denn die Straftheorien sind zwar miteinander inkompatibel. Sie sind aber keine konträren Straftheorien. Im Folgenden werde ich zwar versuchen, die konkrete Bedeutung und die konkreten Konsequenzen der begrifflichen Argumentation nicht aus den Augen zu verlieren. Als rechtsethische Argumentation wird sich meine Kritik am Retributivismus jedoch genauso wenig wie der Retributivismus selbst verbieten, vom positiven Recht abzuweichen. Insoweit werde ich z. B. nicht ohne Weiteres als Einwand gegen die Resozialisierungstheorie gelten lassen, dass sie weder eine unterste noch eine oberste zeitliche Grenze für das Strafmaß erlaubt. Roxin sieht als Einwand gegen die Straftheorie der Resozialisierung, dass sie „konsequenterweise auf eine Behandlung bis zur endgültigen Besserung abzielen [müßte], selbst wenn deren Dauer unabsehbar ist“, und „daß auch bei den schwersten Verbrechen jede Strafe entfallen müßte, wenn keine Wiederholungsgefahr besteht“ (Roxin 1973, 7; vgl. auch Fletcher 1998, 31). Dass viele Theoretiker der Resozialisierung (etwa Braithwaite/Pettit 1990, 101) diese Konsequenzen nicht ziehen wollen und damit inkonsistent sind, mag richtig sein. Dies bedeutet aber nicht, dass die Resozialisierung als Strafzweck aufzugeben ist, sondern nur, dass man sie, wenn überhaupt, konsistent vertreten und daher auch diese Konsequenzen annehmen und behaupten soll. Genau dies will ich tun.

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In vorliegender Schrift möchte ich den Retributivismus also gerade unter demjenigen Aspekt kritisieren und widerlegen, den er als den Kern seiner rechtsethischen und moralischen Überlegenheit über die anderen Straftheorien sieht: Ich werde zu zeigen versuchen, dass nicht der Retributivismus, sondern nur die Resozialisierung die Verantwortung des Menschen – insbesondere des Verbrechers – für seine Handlungen wirklich ernst nimmt. Aus den genannten Gründen wird sich meine Kritik v. a. auf die Argumentationen Kants und Hegels beziehen. Die Grundlage meiner Kritik wird der kantische Rechtsbegriff sein, der gerade auf derjenigen Menschenwürde aufbaut, auf welche sich der Retributivismus beruft: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (RL VI 230). Wie ich im ersten Teil zeigen werde, lässt sich Kants Rechtsbegriff auf zwei Weisen interpretieren, die ich im ersten Kapitel darstelle und kritisch bespreche: entweder als ein liberaler oder als ein im engen Sinne moralischer Rechtsbegriff. Nach der liberalen Interpretation meint der kantische Rechtsbegriff die Koexistenz der Handlungsfreiheiten nach dem Prinzip der Gleichberechtigung, und zwar unabhängig vom Inhalt der „Willkür“, d. h. unabhängig davon, wie die Menschen diese Freiheit gebrauchen wollen. Nach der im engen Sinne moralischen Interpretation hingegen kommt der Rechtsordnung die Aufgabe zu, den vollständigen kategorischen Imperativ so weit in das Rechtssystem umzusetzen, wie sich der Wille der einzelnen Menschen per Zwangsanwendung zum moralisch Richtigen bewegen lässt. Im Rest des ersten Teils wird zu zeigen versucht, dass Kants eigene Wiedervergeltungstheorie sowohl mit der ersten, liberalen (siehe das zweite Kapitel) als auch mit der zweiten, im engen Sinne moralischen Interpretation (siehe das dritte Kapitel) seines Rechtsbegriffes unvereinbar ist. Beiden Interpretationen entspricht vielmehr die Theorie der Resozialisierung. Im zweiten Teil werde ich von der Feststellung ausgehen, dass der kantische Rechtsbegriff von Fichte als der Rechtsbegriff schlechthin und von Hegel als das „abstrakte Recht“ übernommen worden ist. Fichte und Hegel entwickeln aus diesem Rechtsbegriff ähnliche Konsequenzen wie diejenigen, die Kant m. E. hätte folgerichtig ziehen sollen. Während bei Fichte das Schicksal des bestraften Verbrechers im

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Mittelpunkt steht (siehe das vierte Kapitel), folgt Hegel dem Leitfaden einer Wiederherstellung des Rechts und bietet dadurch eine systematischere Darstellung einer Position, die in ihrer Bilanz der fichteschen Straftheorie sehr nahe steht (siehe das fünfte Kapitel ). Damit erweist sich die vielfach für selbstverständlich erachtete retributivistische Hegel-Interpretation als unbegründet und falsch. Im dritten Teil versuche ich zu zeigen, dass entgegen Kants Ansprüchen der Retributivismus die Menschenwürde in der Person des Verbrechers weniger achtet als präventive Alternativen. Ich werde mich im sechsten Kapitel mit Nietzsches radikaler Kritik am Retributivismus befassen, wonach das ursprüngliche Motiv für die Errichtung einer retributivistischen Strafe keineswegs im Respekt vor der Menschenwürde zu finden ist, sondern vielmehr in einer moralfreien Grausamkeit gegenüber den Verbrechern, welche die Entstehung des schlechten Gewissens und der Reue im Übeltäter viel eher verhindert als sie fördert. Im Gegensatz dazu plädiere ich im letzten Kapitel vom Standpunkt einer Kombination von Spezialprävention und Resozialisierung für einen die Würde des Menschen respektierenden Umgang mit Verbrechern. Um das in dieser Einleitung soeben geäußerte Versprechen einzuhalten, alle Konsequenzen – und zwar ggf. auch die radikalsten, unüblichsten und unpopulärsten Konsequenzen – aus der von mir vertretenen Alternative zum Retributivismus anzunehmen, argumentiere ich in diesem siebten Kapitel sogar am Beispiel der schwersten und unmenschlichsten Verbrechen, d. h. der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

I. Den Verbrecher bestrafen, weil er es verdient hat? 1. Die beiden kantischen Begriffe des Rechts 1.1 Zwei kantische Begriffe des Rechts Es wird gerne die Ansicht vertreten, dass Kant in der Rechtsphilosophie ebenso wie in der theoretischen Philosophie und in der Moralphilosophie eine Revolution und einen wesentlichen Beitrag zur heutigen Diskussion geleistet hat. Nach dieser Ansicht verdanken wir Kants Rechtslehre 5 einen liberalen Rechtsbegriff: Das Recht als Koexistenz der empirischen Freiheiten nach dem allgemeinen Gesetz der Gleichberechtigung aller Rechtssubjekte. Dieser Rechtsbegriff bietet zwei Vorteile. Einerseits beruft er sich nicht auf eine anspruchsvolle moralische Begründung, sondern auf die bloße Wechselseitigkeit in der Koexistenz der empirischen Freiheiten. Andererseits scheint er der Moral nicht zu widersprechen, da er genauso wie der kategorische Imperativ ein allgemeines Gesetz verlangt. In diesem Sinne kann etwa Wolfgang Kersting schreiben: Das Rechtsgesetz der Vernunft verlangt von jedermann genau die Freiheitseinschränkung, auf die sich alle, die einander durch Handlungen in ihrer Freiheit beeinflussen, unter fairen Bedingungen in einer bedrohungsfreien Situation einigen würden, nämlich auf eine strikt verallgemeinerbare, jeden in gleicher Weise begrenzende Freiheitseinschränkung. (KERSTING 1993, 27)

Ebenso schreibt Otfried Höffe über die Rechtslehre einerseits: „Die daraus [aus dem ‚kategorischen Rechtsimperativ‘] folgende Rechtsund Staatstheorie besteht in einem politischen […] Liberalismus“ (Höffe 1999a, 8). Andererseits wendet Höffe zufolge „die Metaphysik der Sitten die Prinzipien der Moralphilosophie in der (metaphysischen) Rechtslehre auf eine äußere und in der (metaphysischen) Tugendlehre auf eine innere Gesetzgebung an“ (Höffe 1999b, 48). Die Metaphysik der Sitten, erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797; 2., vermehrte Auflage 1798). Mit kursiv ‚Rechtslehre‘ bzw. der Sigle RL wird im Folgenden Kants Werk, mit ‚Rechtslehre‘ dessen Inhalt, also Kants Rechtsauffassung bezeichnet. Kant verwendet gemäß dem Sprachgebrauch seiner Zeit ‚Rechtslehre‘ i. S. v. ius (RL VI 229), bezeichnet damit also das Recht selbst, nicht die Lehre davon (doctrina iuris).

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Ich glaube jedoch, dass diese beiden Aspekte nicht miteinander vereinbar sind. Dabei bestreite ich keineswegs, dass Kant sie beide vertreten hat. Nur hat er sie nie im selben Werk vertreten. Den ersten Aspekt, also das Recht als Koexistenz von gleichberechtigten empirischen Freiheiten hat Kant etwa in der Schrift Zum ewigen Frieden (1795) als „republikanische Verfassung“ vertreten, indem er fordert, dass die „bürgerliche Verfassung in jedem Staate […] republikanisch sein“ soll (VIII 349), und die Republik auf folgende Weise definiert (VIII 349 f.): Die erstlich nach Principien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Unterthanen) und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung […] ist die republikanische.

Es sei bemerkt, dass hier die Gleichheit vor dem Gesetz keineswegs im kategorischen Imperativ begründet liegt. Den zweiten Aspekt hat Kant m.E. in seiner Rechtslehre vertreten, weshalb diese jedoch keinen liberalen Rechtsbegriff bietet. Bezüglich der Beziehung des Rechts zur Moral bei Kant unterscheidet man üblicherweise drei Hauptoptionen: Die These einer vollständigen Unabhängigkeit (zunächst von Julius Ebbinghaus aufgestellt), die Abhängigkeitsthese der notwendigen Ableitung des Rechts aus dem Sittengesetz (zunächst von kantischen Juristen in den Jahren zwischen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Rechtslehre vertreten: vgl. Kersting 1982) und die These einer begrenzten Abhängigkeit, die für die Geltung bzw. für die Dijudikation des Rechts die Abhängigkeit von der Moral, für die Verwirklichung bzw. für die Exekution des Rechts dagegen die Unabhängigkeit von der Moral behauptet. Die Unabhängigkeit in der Exekution besteht darin, dass, während die Moral die Exekution – d. h. die Ausführung von Handlungen – aus Pflicht vorsieht, das Recht auf dem Zwang als Triebfeder beruht. Diese dritte These scheint mir zwar philologisch richtig. Die mit ihr verbundene systematische Bewertung übersieht jedoch die Reichweite der Abhängigkeit des Rechts von der Moral in der Dijudikation. Die Kant-Interpreten konzentrieren sich aber auf das, was Kant von den kantischen Juristen unterscheidet, die schon vor dem Erscheinen

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der Rechtslehre (1797) versucht haben, auf Basis der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) eine Rechtstheorie zu entwickeln. Die meisten kantischen Juristen wie Hufeland und Schmalz leiteten das Recht aus dem Sittengesetz ab, und zwar aus dem Sittengesetz als einem dijudikativen Prinzip. Dabei verstehen sie genau wie Kant unter dem Recht dasjenige, was die äußeren Handlungen bzw. die äußeren Beziehungen zwischen den Menschen regelt. Die äußeren Handlungen und Beziehungen sind aber schon Gegenstand der moralischen Pflicht. Der Unterschied zwischen der moralischen Pflicht und dem Recht wird von diesen kantischen Juristen in der Unterscheidung zwischen dem moralisch Gebotenen bzw. Verbotenen und dem moralisch Erlaubten angesiedelt. Die Ableitung aus dem Sittengesetz ist allerdings eine zweifache. Einerseits besteht ein Teil des Rechts aus dem moralisch Erlaubten bzw. aus dem Bereich des moralischen Adiaphoron. Andererseits berufen sich die kantischen Juristen auf den Schluss: Was moralisch geboten ist, ist moralisch erlaubt. Also gehört zum Recht neben dem moralischen Adiaphoron die moralische Pflicht: Ich habe das Recht, sowohl das moralisch Erlaubte als auch das moralisch Gebotene zu tun. Je nach dem Autor wird daher das Recht in absolute und bedingte Rechte oder in unveräußerliche und veräußerliche Rechte oder in vollkommene und unvollkommene Rechte gegliedert. Man könnte darin möglicherweise einen Ansatz zur heutigen Unterscheidung zwischen Menschenrechten und sonstigen Rechten sehen, insoweit Menschenrechte üblicherweise als absolute Rechte gelten, während die sonstigen Rechte je nach der Rechtsgemeinschaft und den Umständen unterschiedlich sind. Eine solche doppelte Ableitung des Rechts aus dem Sittengesetz führt aber zu drei wesentlichen Problemen. Erstens setzt sie das Recht aus zwei heterogenen Teilen zusammen, die eine sehr unterschiedliche normative Rechtfertigung vorweisen, was daran zweifeln lässt, ob das Recht als solches abgeleitet ist, d. h. ob das Recht wirklich eine Einheit bildet und von der Moral zu unterscheiden ist, oder ob es eher eine abgeschwächte Version der Moral darstellt. Zweitens fehlt die Zwangsbefugnis. Drittens scheint die Zwangsbefugnis im Fall des bloß moralisch Erlaubten schwieriger, wenn überhaupt, zu rechtfertigen als die Zwangsbefugnis im Fall des moralisch Gebotenen.

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1.2 Kants Rechtsbegriff aus dem Sittengesetz in der Rechtslehre Die Einteilung von Kants Metaphysik der Sitten in Rechtslehre und Tugendlehre versucht offensichtlich eine Rechtslehre zu entwerfen, die den genannten Schwächen der kantischen Juristen nicht unterliegt. Das Verhältnis zwischen Rechts- und Tugendlehre besteht im Wesentlichen aus zwei Aspekten. Erstens lassen sich Rechts- und Tugendlehre beide vom selben Prinzip ableiten, nämlich vom kategorischen Imperativ; diese Ableitung bedeutet im Fall des Rechts keine Abschwächung der Moral: Die Verbindlichkeit bleibt dieselbe. Zweitens besteht der Unterschied zwischen Rechts- und Tugendlehre im unterschiedlichen Beweggrund ihrer jeweiligen Exekution. Die Exekution der Rechtslehre rechnet allein mit dem Zwang als Triebfeder, während die Tugendlehre für die Exekution aus Pflicht zuständig ist. Aus dem zweiten Aspekt ergibt sich, dass „die inhaltliche Grenze der Rechtspflichten […] durch die Reichweite der ihnen in der juridischen Gesetzgebung zugeordneten äußeren Triebfeder bestimmt [wird]: wohin der Zwang nicht reicht, dort herrscht auch nicht die rechtliche Gesetzgebung“ (Kersting 1993, 176). Wie die meisten anderen Interpreten hebt Kersting diesen zweiten Punkt hervor: Daher ist jede Rechtspflicht immer auch eine indirekt-ethische Pflicht; der jeder Pflicht a priori zukommende ethische Verpflichtungsmodus wird für die Klasse der Rechtspflichten nicht darum außer Kraft gesetzt, weil sie auf juridische Weise gegeben werden können […]. (ebd.)

Ich möchte aber den ersten Punkt betonen: Der Bereich des Rechts umfasst jede ethische Pflicht, die auch durch Zwang erfüllt werden kann. Anders gesagt: das Recht soll für die Erfüllung jeder ethischen Pflicht, die durch Zwang erfüllt werden könnte, auch tatsächlich durch Zwang (d. h. sowohl durch Zwangsandrohung als auch durch den Einsatz von Zwang) sorgen. Welche Pflichten lassen sich aber durch Zwang erfüllen? Auch hier scheint Kants Antwort klar zu sein: Nicht Maximen, sondern Handlungen. Bernd Ludwig formuliert dies auf folgende Weise: Was ist nun die fundamentale inhaltliche Differenz zwischen diesem Rechtsgesetz und dem kategorischen Imperativ? […] Wenn die ‚Gesinnung‘ (393,5) der Handelnden – als keiner äußeren Gesetzgebung zugänglich – nicht einbezogen werden kann und darf, ist es auch nicht möglich, an sie Forderun-

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gen zu stellen. Daß aber seine Handlungen wenigstens mit einer allgemeinen Gesetzgebung zusammen bestehen können, ist sehr wohl äußerlich erzwingbar – ohne daß ich dafür auf die Maximen des Betroffenen Einfluß nehmen müßte. (LUDWIG 1988, 95)

In Ludwigs Formulierung scheint mir eine Ungenauigkeit vorzuliegen. Die dritte Formel des kategorischen Imperativs, auf die sich Ludwig offensichtlich bezieht, lautet: „handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann“ (GMS IV 436 f.). Wenn das Recht einerseits vom kategorischen Imperativ abzuleiten ist und es andererseits für denjenigen Teil dieses Imperativs zuständig ist, der sich durch Zwang durchsetzen lässt, so sollte das Verfahren für die inhaltliche Bestimmung des Rechts folgendermaßen aussehen. In einem ersten Schritt sollte man die jeweiligen Maximen festsetzen, die den Test des Imperativs bestehen. In einem zweiten Schritt sollte man untersuchen, zu welchen Handlungen (darunter verstehe ich hier sowohl aktive Handlungen als auch die Unterlassung von Handlungen) diese Maximen führen müssen; jene Handlungen sind moralisch geboten. In einem dritten Schritt müsste untersucht werden, welche von jenen Handlungen unter Zwang durchführbar sind; das Recht muss dann mit Zwangsandrohung bzw. mit Zwangsausübung für diese Handlungen sorgen. Ludwigs Formulierung ist daher wie folgt zu ergänzen: ‚Dass aber seine Handlungen wenigstens mit einer allgemeinen Gesetzgebung der Maximen, d. h. mit dem kategorischen Imperativ zusammen bestehen können, ist sehr wohl teilweise äußerlich erzwingbar – ohne dass ich dafür auf die Maximen des Betroffenen Einfluss nehmen müsste‘; und es sollte auch erzwungen werden, insoweit dies erzwingbar ist. Dagegen lässt Ludwigs Formulierung („Daß aber seine Handlungen wenigstens mit einer allgemeinen Gesetzgebung zusammen bestehen können“) die Möglichkeit offen, dass das Recht nichts anderes als die Gleichberechtigung aller Rechtssubjekte hinsichtlich der einklagbaren Rechte wäre. Dass eine solche Auffassung des Rechts mit Kants Rechtslehre nicht kompatibel wäre, wird sich im Folgenden zeigen. Dass die Handlungen wenigstens mit einer allgemeinen Gesetzgebung der Maximen, d.h. mit dem kategorischen Imperativ zusammen bestehen können, dass dies teilweise äußerlich erzwingbar ist und auch erzwungen werden sollte, insoweit es erzwingbar ist, impliziert, dass Rechte nicht nur erstens von den betroffenen Subjekten einklagbar

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sind, sondern zweitens auch eingeklagt werden müssen, und dass drittens das Einklagen bei denjenigen mit Zwang erzwungen werden sollte, welche es unterlassen möchten. Dafür sei hier nur ein Beispiel genannt. Kant schreibt: So gebietet die Ethik, daß ich eine in einem Vertrage gethane Anheischigmachung, wenn mich der andere Theil gleich nicht dazu zwingen könnte, doch erfüllen müsse: allein sie nimmt das Gesetz (pacta sunt servanda) und die diesem correspondirende Pflicht aus der Rechtslehre als gegeben an. Also nicht in der Ethik, sondern im Ius liegt die Gesetzgebung, daß angenommene Versprechen gehalten werden müssen. Die Ethik lehrt hernach nur, daß, wenn die Triebfeder, welche die juridische Gesetzgebung mit jener Pflicht verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weggelassen wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei. (RL VI 219 f.)

Nun ist es aber so, dass keine Rechtsordnung jemals die Einhaltung aller Versprechen erzwingen wollte. Nicht einmal die Einzelbestimmungen von Kants Rechtslehre selbst erfüllen diese anspruchsvolle Forderung (dies wird von den Kant-Interpreten oft übersehen: siehe z. B . Kühl 2001, 42). Das Recht – auch das kantische Recht – geht mit Versprechen sehr unterschiedlich um. Man kann an sich die folgenden denkbaren Fälle unterscheiden: 1. Immer und ohne Einklagen der Betroffenen wird entweder die Einhaltung von Versprechen erzwungen oder, alternativ, die Leistung einer entsprechenden Entschädigung vom Versprechensbrecher. 2. Nur auf Einklagen der Betroffenen – dann aber immer – wird entweder die Einhaltung der Versprechen erzwungen oder, alternativ, die Leistung einer entsprechenden Entschädigung vom Versprechensbrecher. 3. Auf Einklagen der Betroffenen wird nur die Einhaltung mancher Versprechen (z.B. nur die Einhaltung von Verträgen, die bestimmte Bedingungen erfüllen) bzw. die Entschädigung für die Nichteinhaltung mancher Versprechen (z. B. für die Nichteinhaltung von Verträgen, die bestimmte Bedingungen erfüllen) erzwungen. 4. Die Einhaltung mancher Verträge wird unter Umständen und trotz Einklage weder erzwungen noch findet eine Entschädigung statt. Wenn wir Kants oben zitierte Formulierung (RL VI 219 f.) ernst nehmen, so sollte in seiner Rechtslehre entweder nur die erste oder allenfalls noch die zweite Option möglich sein. Kant vertritt aber unter-

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schiedliche Optionen, genauso wie dies in jedem Rechtssystem geschieht. Hier sei nur ein Beispiel für jede Option genannt, die bei Kant vorkommt. 1. Die Präliminarartikel der Schrift Zum ewigen Frieden (VIII 343– 347) stehen nicht einmal den Vertragspartnern zur Disposition, auch wenn alle Partner über die Abschaffung eines Artikels übereinstimmen würden. 2. Kant behauptet, dass „wenn eines der Eheleute sich verlaufen, oder sich in eines Anderen Besitz gegeben hat, das andere es jederzeit und unweigerlich gleich als eine Sache in seine Gewalt zurückzubringen berechtigt ist“ (RL VI 278). 3. Die Einhaltung der Verträge mit dem „Gesinde“ wird nur in deren befristeten Varianten erzwungen: „Dieser Vertrag also der Hausherrschaft mit dem Gesinde […] kann also nicht auf lebenslängliche, sondern allenfalls nur auf unbestimmte Zeit, binnen der ein Theil dem anderen die Verbindung aufkündigen darf, geschlossen werden“ (RL VI 283). 4. Der „Satz: Kauf bricht Miethe“ (RL VI 361) erlaubt die Beendigung des Mietvertrages ohne Entschädigung (aber unter Einhaltung einer Kündigungsfrist). Nur in sehr wenigen Fällen (im Fall eines falschen Zeugnisses vor Gericht, im Fall der Untreue usw.) sind Lügen – bei Kant genauso wie in den bestehenden Rechtsordnungen – rechtlich verboten; noch weniger wird die Wahrheit erzwungen, obwohl für Kant das moralische Lügeverbot bekanntlich ohne Ausnahme gilt. Sogar im Strafrecht, in dem Kant als der strenge Vertreter eines kategorischen retributivistischen Imperativs gilt, übernimmt er nicht alle Konsequenzen seiner Rechtsauffassung. Während er einerseits verlangt, dass selbst wenn alle Einwohner einer Insel ihre Heimat verlassen, dennoch alle Sträflinge einschließlich der zum Tode Verurteilten ihre Strafe tatsächlich verbüßen (RL VI 333), räumt er andererseits dem Herrscher ein Begnadigungsrecht ein. Ebenso schreibt schreibt Kant einerseits: Richterliche Strafe […] kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat […]. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ […]. (RL VI 331)

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Andererseits behauptet Kant aber: In Ansehung der Verbrechen der Unterthanen gegen einander steht es schlechterdings ihm [dem Souverän] nicht zu, es [das Begnadigungsrecht] auszuüben; denn hier ist Straflosigkeit (impunitas criminis) das größte Unrecht gegen die letztern. Also nur bei einer Läsion, die ihm selbst widerfährt, (crimen laesae maiestatis) kann er davon Gebrauch machen. (RL VI 337)

Hier steht die Durchführung der rechtsethischen Folge des Verbrechens also anderen Menschen zur Disposition. Der kategorische Imperativ wird hier – gegen Kants Rechtsbegriff – zu einem bloß hypothetischen Imperativ. Nicht nur solche einzelnen Inkonsistenzen verunklären die tatsächliche Reichweite von Kants Rechtsbegriff, sondern auch eine systematische Unterscheidung, die sich letztlich als nicht haltbar erweist, die aber dazu führt, dass bei Kant manche Handlungen, die nach der Rechtsauffassung seiner Rechtslehre Gegenstand eines rechtlichen Gebots bzw. Verbots sein sollten, es doch nicht sind, weil Kant viele Pflichten zu äußerlichen Handlungen von den entsprechenden Handlungen selbst auf eine inkonsistente Weise trennt. Kant unterscheidet bekanntlich zwischen Rechts- und Tugendpflichten. Er behauptet, dass Rechtspflichten „keiner äußeren Gesetzgebung unterworfen werden“ können, weil sie auf einen Zweck gehen, der (oder welchen zu haben) zugleich Pflicht ist; sich aber einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist); obgleich äußere Handlungen geboten werden mögen, die dahin führen, ohne doch daß das Subject sie sich zum Zweck macht. (RL VI 239)

Wenn aber äußere Handlungen aus dem entsprechenden kategorischen Imperativ bzw. aus der entsprechenden Pflicht tatsächlich „geboten“ sind, dann sind diese Handlungen – weil sie äußerlich sind und vorausgesetzt, dass sie als solche erzwingbar sind – rechtlich geboten, d.h. rechtlich erzwingbar. In dieser Hinsicht darf uns die Asymmetrie in der Darstellung der Pflichten in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – etwa in der Erläuterung der Formel vom kategorischen Imperativ mit der Menschheit (s. u. S. 54) als Zweck an sich – und die Bezeichnung der Pflichten zur Erhaltung der Menschheit als Zweck an sich selbst als Rechtspflichten nicht irreführen.

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Die Einteilung der Pflichten folgt zwei dichotomischen Kriterien: „Pflicht[en] gegen sich selbst“ stehen „Pflicht[en] gegen andere“ gegenüber, ebenso die „Erhaltung der Menschheit als Zweck an sich selbst“ einer „Beförderung“ der Menschheit als Zweck an sich selbst (GMS IV 430). Die Asymmetrie entsteht daraus, dass Kant das Verbot der falschen Versprechen und der „Angriffe auf Freiheit und Eigentum“ als Pflichten zur Erhaltung der Menschheit als Zweck an sich selbst erwähnt, während keine Pflichten zu deren Beförderung genannt werden. Zumindest drei Argumente sprechen dagegen, dass man diese Asymmetrie in der Darstellung mit einer sachlichen Asymmetrie verbindet. Erstens wäre es absurd zu glauben, dass das Verbot des falschen Versprechens und der Angriffe gegen Freiheit und Eigentum uneingeschränkt gelten. Wenn Eigentum oder Freiheit als Mittel krimineller Handlungen missbraucht werden, können beide erheblich eingeschränkt bzw. längerfristig suspendiert werden. Zweitens lässt sich das Verbot des falschen Versprechens als Rechtspflicht verstehen. Unter einem falschen Versprechen versteht man ein Versprechen, das der Versprechende nicht einzuhalten vorhat. Diese Absicht ist aber keine äußere Handlung. Eine äußere Handlung liegt erst vor, wenn man statt falscher Versprechen die Nichteinhaltung von Versprechen betrachtet; damit wird aber aus dem Verbot falscher Versprechen das rechtliche Verbot der Nichteinhaltung von Versprechen. Drittens und nicht zuletzt lassen sich auch Pflichten zur Beförderung der Menschheit als Zweck an sich selbst als Pflichten zu äußeren Handlungen formulieren, etwa die Pflichten zur Errichtung eines Grundlagenunterrichts oder einer medizinischen Grundversorgung für alle. Als Pflichten zu äußeren – und erzwingbaren – Handlungen sollten diese Pflichten durchaus zu den Rechtspflichten gehören, obwohl sie als Pflichten zur Beförderung der Menschheit zu den Tugendpflichten zählen. Aus diesen Gründen ist die Identifizierung der Unterscheidung zwischen Pflichten zur Erhaltung der Menschheit und Pflichten zur Beförderung der Menschheit mit einer Unterscheidung zwischen Rechtspflichten im rechtlichen Sinne von erzwingbaren Rechten und Tugendpflichten im Sinne von nicht rechtlich erzwingbaren Pflichten schlechthin nicht haltbar. Wie weit erstreckt sich die Reichweite des kantischen Rechts aber eigentlich? Der kategorische Imperativ kann sicherlich weder die einzelnen verbotenen, gebotenen und erlaubten Maximen noch die einzelnen ver-

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botenen, gebotenen und erlaubten Handlungen a priori herleiten, weil die moralische Beurteilung von Maximen und Handlungen die Kenntnis ihrer empirischen Merkmale und ihres Kontextes voraussetzt. Dagegen ist es aber immer möglich, mit dem kategorischen Imperativ zu bestimmen, ob eine gegebene Maxime oder Handlung pflichtwidrig oder pflichtgemäß ist, und in letzterem Fall, ob sie moralisch geboten oder bloß moralisch erlaubt ist. Außerdem ist jede Maxime, so generell und indirekt sie auch immer sein mag, auf äußerliche Handlungen gerichtet. Wenn wir eine generelle Maxime zur Lebensführung haben, können wir in allen Einzelfällen feststellen, ob diese oder jene äußerliche Handlung mit der Maxime kompatibel bzw. inkompatibel ist, und ob man sie etwa notwendigerweise durchführen muss, wenn man unserer Maxime folgt. Darum kann man von allen äußerlichen Handlungen – unter Berücksichtigung ihres gesamten Kontextes – sagen, ob sie jeweils nach dem kategorischen Imperativ moralisch verboten, geboten oder bloß erlaubt sind. Mehr oder weniger lassen sich alle äußerlichen Handlungen potentiell durch Zwang beeinflussen. Also sind alle äußerlichen Handlungen nicht nur Gegenstände moralischer Urteile, sondern auch des Rechts im Sinne von Kants Rechtsbegriff. Außerdem sollen das moralische und das rechtliche Urteil über die äußerlichen Handlungen jedes Mal identisch ausfallen. Das Einzige, was vom moralischen Urteil nicht in das rechtliche Urteil einfließt, ist die Antwort auf die Frage, ob die moralisch und rechtlich gebotene Handlung aus Pflicht oder bloß pflichtgemäß durchgeführt wurde (Höffe 2001, 112 erinnert zu Recht daran, dass die Unterscheidungen zwischen Moralität und Legalität sowie zwischen Rechts- und Tugendpflichten zwei verschiedene Unterscheidungen sind). In dieser Hinsicht ist die Moral gewiss anspruchsvoller als das Recht. Die dargestellte Reichweite des Rechts geht dennoch weit über das hinaus, was jemals zum Bereich des Rechts gehört hat. Die Nähe von Recht und Moral ist hier ebenfalls weit größer, als sie je in einer Rechtsordnung gewesen ist. Vor allem wenn man bedenkt, dass der kategorische Imperativ unter anderem Gebote und Verbote auch in Aspekten der persönlichen Lebensführung erlässt, die weder Rechte noch legitime Interessen von anderen Individuen betreffen, erscheint uns Kants Rechtsauffassung als wenig liberal und sehr befremdend.

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1.3 Eine Bemerkung zur liberalen Interpretation der Rechtslehre Angesichts der Tatsache, dass Kant wie Locke und Mill zu jenen Autoren gehört, auf die man sich gerne für die Definition des liberalen Rechtsstaats beruft, mag diese Bilanz erstaunen. Die liberale Kant-Interpretation beruht jedoch auf zwei Elementen. Zum einen wird die Ableitung des Rechtsbegriffs aus dem kategorischen Imperativ gerne unterschätzt. Markus Willaschek geht z.B. so weit zu behaupten: Kant sagt nirgendwo wirklich, dass das Rechtsprinzip aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden kann oder auf ihm basiert. Das Sittengesetz und der kategorische Imperativ werden in §§ A–E der Einleitung in die Rechtslehre, wo Kant das Rechtsprinzip einführt, nicht einmal erwähnt.6 (WILLASCHEK 1997, 230)

Und Thomas Pogge beginnt seine Behandlung des Rechtsbegriffs direkt mit den letzten Zeilen von § B: “Kant defines Recht as ‘the whole of the conditions under which the choice of one can coexist […] with the choice of the other according to a universal law of freedom’.” (Pogge 2002, 137) In der Einleitung in die Metaphysik der Sitten wird aber die Einteilung der Metaphysik der Sitten nach dem Beweggrund der Befolgung des kategorischen Imperativs unternommen. Die entscheidende Definition des Rechts findet sich in der folgenden Formulierung: „Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedene Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet“ (RL VI 220). Diese Definition besteht erstens aus den der Moral und dem Recht gemeinsamen Pflichten, welche sich aus dem kategorischen Imperativ ergeben,7 zweitens aus dem Unterschied der jeweiligen Gesetzgebung und Triebfeder. 6 Im Original: “Kant nowhere really says that the principle of right can be derived from, or is based on, the categorical imperative. The moral law and the categorical imperative are not even mentioned in §§ A–E of the ‘Introduction to the Doctrine of Right’, where Kant introduced the principle of right.” 7 An diesen Pflichten ändert sich nichts, wenn man wie Willaschek eine zusätzliche Stufe des Imperativs voraussetzt (‚Act according to duty from duty‘, Willaschek 1997, 214), weshalb Willascheks „Alternativthese“ der offiziellen

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In § B der Einleitung in die Rechtslehre geben der zweite und dritte Absatz eine Definition des Rechts. Gleich am Anfang wird an die gemeinsamen Pflichten erinnert: „Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondirende Verbindlichkeit bezieht, (d.i. der moralische Begriff desselben)“ (RL VI 230). Die drei folgenden Punkte beziehen sich zwar auf den Unterschied zwischen Recht und Moral (das Recht betrifft nur (a) „das äußere und zwar praktische Verhältniß“ der Personen, (b) die Willkür im Gegensatz zum bloßen Wunsch und (c) die Form der Willkür im Gegensatz zu deren Materie). Man übersieht aber gerne, dass das Ende desselben Absatzes nochmals die gemeinsamen Pflichten erwähnt: Kant spricht von der Form der Willkür, „sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch 8 die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse“ (RL VI 230). Es ist also von der Willkür als Form die Rede, d.h. von der Willkür, „sofern sie bloß als frei betrachtet wird“. Dies bedeutet eindeutig, dass die Freiheit, von der hier die Rede ist, nicht die Handlungsfreiheit der Willkür ist, sondern die reine Freiheit, die in der kantischen Moral gefordert wird, d.h. die Willensfreiheit der Autonomie. Das ‚allgemeine Gesetz‘, um das es hier geht, kann also nicht bloß die Gleichberechtigung sein, sondern muss ein Gesetz sein, das der Willensfreiheit der Handelnden angemessen ist: Es ist das gleiche ‚allgemeine Gesetz‘ wie dasjenige der dritten Formel des kategorischen Imperativs („handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann“, GMS IV 436 f.).9 Da die einzelnen Formeln des kategorischen Imperativs FasThese viel näher steht, als er selbst meint, und sie die Behandlung unseres Problems nicht wirklich betrifft. Willaschek selbst (1997, 223) hält seine These für eine These der eingeschränkten Abhängigkeit des Rechts von der Moral: “rather an independent, basic law of practical rationality”. 8 Die Akademie-Ausgabe erwägt eine Emendation des schwer verständlichen ‚durch‘ in ‚dadurch‘. 9 Allen W. Wood verneint diesen Punkt mit folgendem Argument: “as to the ‘universal principle of law’ itself, it is hard to sustain the view that it can be derived from the moral imperative. This principle is: ‘any action is right if it can coexist with everyone’s freedom in accordance with a universal law, or if on its maxim the freedom of choice of each can coexist with everyone’s freedom in accordance with a universal law’ (230). This principle may bear a superficial resemblance to the Formula of Universal Law: ‘Act only in accordance with that maxim through which you can at the same time will that it become a universal

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sungen des gleichen Imperativs und daher äquivalent sind, heißt es auch: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS IV 429; zur Bedeutung von ,Menschheit‘ s. S. 54). Das „Verhältnis der beiderseitigen Willkür“ ist also bei Kant anspruchsvoller als die bloße Koexistenz der Willküren bzw. der Handlungsfreiheiten unter dem Prinzip der Gleichberechtigung wie im liberalen Verständnis einer gerechten Rechtsordnung. Der Bezug auf eine anspruchsvolle moralische Freiheit ist in der abschließenden Formulierung von § B der Einleitung in die Rechtslehre zwar vorhanden, jedoch nicht hervorgehoben: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (RL VI 230). Man bemerke hier, dass der Ausdruck „nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit“ weder ‚nach einem allgemeinen Gesetz der Willkür‘ noch ‚nach einem allgemeinen Gesetz‘ tout court bedeuten kann. Im ersten Fall wäre „Freiheit“ redundant gewesen und hätte „Willkür“ heißen sollen wie in der Mitte des Satzes. Im letzteren Fall wäre „der Freiheit“ überflüssig gewesen. Am Anfang vom § C finden wir eine Variante derselben Definition des Rechts, in der präzisiert wird, welcher Aspekt der Willkür gemeint ist („die Freiheit der Willkür“, d. h. die Form der Freiheit bzw. die Willensfreiheit in der Willkür), und der nun entbehrlich gewordene Zusatz „nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit“ (Hervorhebung JCM) verschwindet: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (RL VI 230). Die „Freiheit“ der „Willkür“ und das ‚allgemeine Gesetz‘ werden im Rest von § C, ja in der gesamten Rechtslehre bei jeder Wiederholung der Definition des Rechts erwähnt. Ausdrückliche Hinweise auf den kategorischen Imperativ law’ […]. Like that formula, the principle of right provides us with a test only of the permissibility […]. But the principle of right says nothing about willing maxims as universal laws […].” (Wood 1999, 35) Woods Argument gegen die Ableitung des Rechts aus dem kategorischen Imperativ bei Kant ist aber nur gegen eine Ableitung seiner Exekution aus dem kategorischen Imperativ gültig; es überzeugt nicht gegen eine Dijudikation der Handlungen aus dem kategorischen Imperativ.

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und auf die Pflicht sind aber viel seltener zu finden, so dass der Rahmen und daher die genaue Bedeutung von „Freiheit“ und ‚allgemeines Gesetz‘ leicht übersehen werden können. Zum anderen beruht die liberale Kant-Interpretation auch auf einem minimalistischen Verständnis der zweiten Formel des kategorischen Imperativs. Kant wendet zwar (wie oben dargestellt) nur einen Teil des kategorischen Imperativs auf das Recht an, weil er der Ansicht ist, dass sich die Pflichten zur Beförderung der Menschheit nur auf einen „Zweck“, nicht aber auf äußere Handlungen beziehen dürfen, weshalb sie keine „äußere Gesetzgebung“ bilden können. Dagegen können für ihn die Pflichten zur Erhaltung der Menschheit als Zweck an sich selbst sehr wohl eine äußere Gesetzgebung ausmachen, und zwar alle diese Pflichten zusammen. Das minimalistische Verständnis führt nun aber dazu, dass man, auch wenn man die Ableitung des kantischen Rechtsbegriffs aus dem kategorischen Imperativ nicht übersieht bzw. vergisst, die Forderung des kategorischen Imperativs an die Rechtsordnung streng auf die Erhaltung der Mitbürger bzw. auf das Verbot der Tötung, der Sklaverei, der Enthebung aus dem Status eines Staatsbürgers usw. begrenzt glaubt. Wenn Recht soviel bedeutet wie die Koexistenz der Handlungsfreiheit aller Menschen nach dem Gesetz der Gleichberechtigung, dann handelt es sich um die liberale Definition des Rechts aus dem Schadensprinzip ohne den utilitaristischen Hintergrund Mills und ohne umfassende moralische Begründung. In einem solchen Kontext sind die Forderungen einer minimalistisch aufgefassten zweiten Formel des kategorischen Imperativs bis auf wenige Ausnahmen nicht besonders schwer zu erfüllen (die Ausnahmen bestehen z. B. im Fall des Selbstmordes, den der kategorische Imperativ verbietet). Ein liberaler Rechtsbegriff und eine genuine Unabhängigkeit des Rechts von der Moral lassen sich nicht durch den Zwang als Triebfeder der Exekution allein gewinnen, sondern erst durch eine unabhängige Dijudikation, d.h. erst dann, wenn der Inhalt des Rechts nicht mehr aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet wird. Es sollte sich von selbst verstehen, dass eine solche Rechtsauffassung keinesfalls einen Rechtspositivismus bedeutet. Der liberale Rechtsbegriff der Koexistenz der äußeren Freiheiten nach dem Gesetz der Gleichberechtigung enthält nämlich durchaus normative Forderungen (nach

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einem Schutz der Existenz aller Individuen, einer Gleichheit vor dem Gesetz usw.); viele rechtspositiv gültige Rechtsordnungen entsprechen diesen Maßstäben aber nicht, d.h. sie verletzen sie. 1.4 Der liberale Rechtsbegriff Einführend habe ich behauptet, dass sich bei Kant durchaus die beiden folgenden Aspekte finden lassen: erstens ein liberaler Rechtsbegriff, zweitens eine Ableitung des Rechts aus dem kategorischen Imperativ, die zu einem anderen Rechtsbegriff führt, welcher mit dem liberalen Rechtsbegriff nicht vereinbar ist. Nachdem ich den zweiten Aspekt entwickelt habe, möchte ich auf den ersten Aspekt zurückkommen. Es seien hier nur zwei Textstellen erwähnt, die diesen liberalen Rechtsbegriff bei Kant belegen. (a) Mit Bezug auf die platonische Republik schreibt Kant: Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann, (nicht von der größten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen) ist doch wenigstens eine nothwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß […]. (KrV B 373)

(b) Kant nennt als „höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung“ „eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung“ (Idee, 5. Satz, VIII 22). Kant präzisiert, dass es sich um diejenige Gesellschaft handele, „die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne“ (ebd.). Der Kontext dieser beiden Zitate sowie weiterer Textstellen in Kants Werk, an denen dieser Rechtsbegriff erwähnt wird, ist eine Teleologie der Geschichte, was Kersting als eine „moralteleologische Rechtsauffassung“ (Kersting 1993, 142) bezeichnet. Kersting lehnt aber jede teleologische Perspektive als normativ irrelevant ab. Er erhebt folgenden Einwand gegen den teleologischen Blick auf das Recht, dem er eine enge „Affinität“ mit der wolffschen Idee der menschlichen Vervollkommnung diagnostiziert:

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I. Den Verbrecher bestrafen, weil er es verdient hat?

Welchen Sinn macht aber eine derartige teleologische, sittlichkeitspragmatische Rechtsbegründung, wenn das Zwangsrecht auf Pflichterfüllungsfreiheit keine Vervollkommnungspflicht, auch keine Selbsterhaltungspflicht zum Inhalt hat, sondern sich auf eine Pflicht beziehen muß, die die formalgerechte Behandlung anderer verlangt, und wenn die moralische Pflicht nicht in einer lex naturalis, sondern in einer inneren Gesetzgebung begründet ist, die nicht die Realisierung von Naturabsichten, sondern ein Handeln aus Achtung vor dem Gesetz fordert und daher auf keinen äußeren Beistand angewiesen sein kann? (KERSTING 1993, 151)

Diese rhetorische Frage Kerstings ist aus drei Gründen erstaunlich. Erstens übersieht Kersting, dass die Naturabsicht in Kants Philosophie gerade keine andere ist, als die „vollständig[e]“ und „zweckmäßig[e]“ Entwicklung der „Naturanlagen“ des Menschen, „die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind“ (Idee, 1.–2. Satz, VIII 18). Da ein Vernunftwesen, das der Vernunft – nicht etwa seinen Trieben – folgt, gerade dem kategorischen Imperativ gehorcht, so ist nach Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) die Naturabsicht beim Menschen klarerweise nicht nur die Kultivierung seines Verhältnisses zur Natur, die Zivilisierung seines Umgangs mit den Mitmenschen und die Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft bzw. des Rechtszustandes, sondern auch die Moralisierung des Menschen selbst, kurz, gerade das von Kersting geforderte „Handeln aus Achtung vor dem Gesetz“ und die von ihm ebenfalls geforderte „moralische Pflicht“ als „inner[e] Gesetzgebung“. Zweitens ist das „Zwangsrecht auf Pflichterfüllungsfreiheit“ tatsächlich so vorhanden, wie Kersting meint, denn Kant spricht von „der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen“, ohne diese Freiheit dem Individuum nur unter der Bedingung zu gewähren, dass er irgendwelche Pflichten erfüllt: Das Individuum muss nur die Gesetze der Koexistenz beachten, um diese durch Zwang garantierte Freiheit zu genießen. Dies heißt, dass er sie gleichermaßen genießt, ob er nun moralisch oder unmoralisch handeln mag, solange er nur nicht rechtswidrig handelt. Die Freiheit ermöglicht es aber einem nach moralischer Pflichterfüllung strebenden Individuum, die Pflichten der Erhaltung und der Beförderung der Menschheit als Zweck an sich selbst, die Kant aus dem kategorischen Imperativ ableitet, zweckmäßiger zu erfüllen. Das Individuum erhält nämlich durch die Freiheit mehr und bessere Mittel, die Menschheit in sich zu erhalten und

1. Die beiden kantischen Begriffe des Rechts

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zu fördern. Insoweit ist zwar in der Pflichterfüllungsfreiheit weder eine Vervollkommnungs- noch eine Selbsterhaltungspflicht enthalten (wäre sie darin enthalten, so hätten wir es nicht mehr mit einem liberalen Rechtsbegriff zu tun), vielmehr ist die Pflichterfüllungsfreiheit in der Selbsterhaltungs- und Vervollkommnungspflicht enthalten (an einer der oben genannten Stellen behauptet Kant beispielsweise, die „Glückseligkeit“ werde dem Rechtszustand „von selbst“ folgen: KrV B 373). Damit gehört das Recht tatsächlich zu einer ‚Sittlichkeitspragmatik‘, ohne dadurch Kants System der Vernunft zu verraten. Drittens geht Kersting davon aus, dass sich „das Zwangsrecht auf Pflichterfüllungsfreiheit“ auf „eine Pflicht beziehen muß, die die formal-gerechte Behandlung anderer verlangt“ und „in einer inneren Gesetzgebung begründet ist, die […] ein Handeln aus Achtung vor dem Gesetz fordert und daher auf keinen äußeren Beistand angewiesen sein kann“. Hier zeigt Kersting, dass er die Triebfeder zur Befolgung des Rechts zwar im Zwang ansiedelt, den Ursprung des Rechts als zwangsbefugte Institution aber in einer moralischen Pflicht sieht, das „Zwangsrecht auf Pflichterfüllung“ zu errichten. Ich leugne keinesfalls, dass es nach Kant zu unseren Pflichten gehört, einem Rechtszustand beizutreten, wo noch der Naturzustand herrscht, und nach Kräften zur Errichtung einer gerechten Rechtsordnung beizutragen. Kant sagt aber nicht, dass die Rechtsordnung aus der bewussten Pflichterfüllung der Menschen stammen sollte. Im Gegenteil erwähnt er vor allem die Not, d.h. den Zwang der Natur als Trieb zur Errichtung einer Rechtsordnung gegen die Neigung der Menschen. Gleich nach einem der beiden oben angeführten Zitate finden wir folgende Bemerkung: In diesen Zustand des Zwanges zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Noth; und zwar die größte unter allen, nämlich die, welche sich Menschen unter einander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, daß sie in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können. Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist, thun eben dieselben Neigungen hernach die beste Wirkung […]. (Idee, 5. Satz, VIII 22)

In seiner Kritik der Urteilskraft und in der Schrift Zum ewigen Frieden wiederholt Kant diese Auffassung: es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man

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I. Den Verbrecher bestrafen, weil er es verdient hat?

ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen. (Zum ewigen Frieden, VIII 366)

1.5 Eine doppelte Aufgabe Wenn es bei Kant tatsächlich zwei grundverschiedene Rechtsbegriffe gibt, wie ich meine, welcher sollte als der ‚kantischere‘ gelten, d.h. welcher der beiden Begriffe ist konsistenter mit Kants System? Und welcher ist der überzeugendere? Die Antwort auf die zweite Frage scheint klar: Der liberale Rechtsbegriff entspricht nicht nur der Wirklichkeit der Rechtsordnungen, die wir als gerecht einstufen, und vielleicht sogar der Wirklichkeit der Rechtsordnungen überhaupt, sondern auch unseren normativen Intuitionen. Die Antwort auf die erste Frage ist schwieriger. Wir können aber zunächst in Kants Rechtslehre selbst die zahlreichen Abweichungen von jenen Handlungen feststellen, die aus der Perspektive des kategorischen Imperativs eigentlich für nötig gehalten werden sollten, etwa betreffs des Lügeverbots, des Gebots der Einhaltung von Versprechen usw. Andere Beispiele ließen sich leicht finden. Bei Kant enthält etwa das Eigentumsrecht das Recht, die Früchte verderben zu lassen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob andere Menschen sie nötig haben oder gut gebrauchen könnten. Der kategorische Imperativ würde eine solche Verschwendung verbieten; das kantische Recht nicht. Weiterhin findet sich der liberale Rechtsbegriff bei Kant im Gegensatz zum anderen Rechtsbegriff nicht nur in einem Werk: Der Kritik der reinen Vernunft (1781), der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), der Kritik der Urteilskraft (1790), dem Gemeinspruch (1793) und der Schrift Zum ewigen Frieden (1795) steht allein die Metaphysik der Sitten (1797) gegenüber; und alle genannten Werke gehören zum kritischen Teil des kantischen Œuvres. Dass der Rechtsbegriff in der Rechtslehre umfangreicher entwickelt wird als in den anderen Werken, darf hier wohl weniger zählen als die Wiederholung im jeweiligen systematischen Kontext. Systematisch gesehen ist der liberale Rechtsbegriff auch überzeugender als der andere. Denn er verstärkt die Unabhängigkeit des Rechts von der Moral, erweitert die Reichweite des Zwanges von der Rechtsbefolgung auf die Errich-

1. Die beiden kantischen Begriffe des Rechts

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tung des Rechts und erspart der Metaphysik der Sitten eine Gliederung in zwei Teile. Um noch einige äußerliche Indizien zu nennen: Es fällt auf, dass viele befremdende – ja manchmal gar peinliche – Rechtsbestimmungen, die sich in Kants Rechtslehre finden und von einer direkten Anwendung des kategorischen Imperativs ableiten lassen, von den meisten KantInterpreten schamhaft bzw. aus Respekt vor einer sonst so eindrucksvollen Philosophie unberücksichtigt bleiben. In diesem Zusammenhang wären etwa Kants Auffassung der Ehe (RL VI 277–280), sein rigoroses Verbot der „öffentliche[n] Wollust (venus volgivaga)“ (ebd. 325), das Inselbeispiel (ebd. 333), die Bemerkung zur Bestialität (ebd. 363) usw. zu nennen. Solche Peinlichkeiten findet man in den aus den anderen Werken genannten Textstellen zu Recht nicht. Nicht einmal Vittorio Hösle, der in Anlehnung an Kant, Fichte und Hegel „auch jene Delikte“ bestrafen will, „deren Straflosigkeit […] die metaphysische Würde der Person auflösen muß“ (Hösle 1989, 54f.), und damit einen nicht-liberalen Rechtsbegriff vertritt, geht so weit, derartige Schlüsse zu ziehen. Nicht zuletzt scheinen mir viele Kant-Interpreten die Rechtslehre gerne als Darstellung eines liberalen Rechtsbegriffes misszuverstehen und dadurch das zu wählen, was sie – mehr oder weniger bewusst – für diejenige Interpretation halten, die am besten zum kantischen System passt. Insoweit ist mir diese m.E. falsche Interpretation sympathischer. Sollte ich mich irren und sie wäre richtig, würde ich jedoch weiterhin bedauern, dass Kant in der Rechtslehre nicht die entsprechenden Rechtsbestimmungen aus dem liberalen Rechtsbegriff gezogen hat. Schon deswegen, weil die Kant-Interpretation offen ist, werde ich im Folgenden die jeweiligen Konsequenzen untersuchen, die sich aus jeder der beiden Interpretationen ergeben. Zu einer solchen Untersuchung bewegt mich auch ein anderer Grund. Die Argumentation von § 49E der Rechtslehre zugunsten einer Wiedervergeltungstheorie lässt sich schon auf den ersten Blick nicht restlos in einen liberalen rechtlichen Rahmen einordnen. Wie oft in der Rechtslehre (vgl. Merle 1999) finden wir auch in diesem Paragraphen Elemente, für die der liberale Rechtsbegriff sicherlich nicht zuständig ist. Wenn Kant beispielsweise von einer Verhältnismäßigkeit der Strafe „mit der inneren

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Bösartigkeit der Verbrecher“ (RL VI 333) spricht, meint er offensichtlich eine innere Bösartigkeit im Gegensatz zu einer äußeren Bösartigkeit, d.h. zu einer bloßen Rechtswidrigkeit der äußeren Freiheit. Es ist aber durchaus möglich, dass solche Elemente zwar nicht dem liberalen Rechtsbegriff angehören, aber dennoch mit ihm vereinbar sind und wir es also mit einer zwar heterogenen, dennoch konsistenten Straftheorie zu tun haben. In diesem Fall müssten wir feststellen, dass Kant die Trennung zwischen Rechtslehre und Tugendlehre nicht einhält; eine kantische Wiedervergeltungstheorie bliebe jedoch haltbar; allerdings würde sie auf einem moralischen Argument beruhen. Sie würde eben einfach die nicht-liberale Interpretation von Kants Rechtsbegriff verstärken. Erst wenn wir also sowohl die gegenüber der Moraltheorie neutralen als auch die durch die Moraltheorie geprägten kantischen Argumente zugunsten der Wiedervergeltung untersucht haben werden, werden wir sie für widerlegt halten dürfen. Im Folgenden werde ich dementsprechend zunächst die von der Moraltheorie unabhängige Argumentation Kants zugunsten des Retributivismus (Kap. 2), sodann aber die durch die Moraltheorie geprägte Argumentation (Kap. 3) prüfen. Sowohl der liberale Rechtsbegriff als auch die Moraltheorie Kants werden sich als unvereinbar mit seiner Wiedervergeltungstheorie erweisen.

2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung? Utilitarismus und deontologische Ethik haben traditionell die Debatte über die Rechtfertigung von Strafe beherrscht und wurden dabei entsprechend mit präventiven bzw. retributiven Straftheorien assoziiert. Heutzutage dominieren zunehmend Mischtheorien die Rechtfertigungsdebatte der Strafe (vgl. Scheid 1983; Byrd 1989; Hill 1997; Holtman 1997; Höffe 1999c). Die meisten dieser Mischtheorien stellen Versuche von Seiten deontologisch, vor allem kantianisch geprägter Philosophen dar, die traditionelle Vorstellung von der deontologischen, vor allem der kantischen Strafrechtfertigung als einer rein retributiven Theorie zu überwinden. Solche Theorien wurden tatsächlich mit guten Gründen

2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung?

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verdächtigt, mehr auf privater Moralität als auf Rechtsprinzipien zu beruhen. Im Folgenden werde ich den Erfolg dieser Versuche, die kantische Vergeltungstheorie durch die Einbindung von Abschreckungs- oder Präventionselementen in ihre Rechtfertigung zu stärken, untersuchen. Zuerst hoffe ich zeigen zu können, dass diese Versuche nur scheinbar eine Vermischung vornehmen, während sie in Wirklichkeit gänzlich auf einer retributiven Begründung basieren. Daraufhin werde ich die Argumentation untersuchen, mit der Kant das Prinzip der Vergeltung sowie die von ihm eingeführte Art derselben rechtfertigt, und die Schwäche dieser Argumentation herauszustellen versuchen. Schließlich werde ich ein Strafprinzip vorschlagen, das meiner Ansicht nach besser zu Kants Rechtsprinzip passt als seine eigene Konzeption der Strafe. Ich werde dabei als Bewertungskriterium für die Richtigkeit jedes Strafprinzips bewusst durchgehend Kants Rechtsprinzip verwenden. Die Einleitung in die Rechtslehre formuliert Letzteres in § B wie folgt: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (VI 230). Auf dieser Grundlage werde ich Kants Theorie der Strafe kritisieren und versuchen, sie neu zu konstruieren. 2.1 Die Interpretation von Kants Strafrecht als Mischtheorie Lange Zeit wurde die philosophische Debatte über das Strafrecht von der Dichotomie zwischen Vergeltung, exemplarisch veranschaulicht durch die kantianische Schule, und Generalprävention dominiert. Unter Letzterer ist die Verhinderung zukünftiger Verbrechen durch Abschreckung nicht nur der Kriminellen, sondern auch anderer Bürger zu verstehen. Neuerdings hat sich die Situation jedoch radikal verändert: die Diskussion wird jetzt von Mischtheorien beherrscht, welche Retributiv- und Präventivtheorien als gegenseitige Ergänzung und Einschränkung auffassen. Einerseits erklären Theoretiker der Generalprävention die Schuldhaftigkeit eindeutig zu einer Voraussetzung für jede Strafe und befürworten eine Art von Verhältnismäßigkeit zwischen Verbrechen und Strafe. Andererseits stimmen Retributivisten im Allgemeinen der

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I. Den Verbrecher bestrafen, weil er es verdient hat?

Feststellung zu, dass das Vergeltungsprinzip zwar an sich ein moralisches Prinzip bildet, aber insofern nicht als Rechtsprinzip taugt, als die von ihm verlangte Strafe offenbar nicht von der Begehung irgendeines Verbrechens abzuschrecken vermag. Jede dieser Positionen ergänzt die andere, weil ein in der einen stärker ausgeprägter Aspekt in der anderen schwächer ist und vice versa. Die Theorien der Generalprävention beheben eine Schwäche des Vergeltungsprinzips, indem sie eine Begründung für die Strafe liefern, welche Letztere eindeutig nicht an private Moralität, sondern an das System des öffentlichen Rechts bindet. Der Retributivismus verbessert die Präventionstheorie, indem er ein Prinzip bereitstellt, das eine einfache Antwort auf die Frage nach dem Strafmaß gibt und im Bezug auf die Gerechtigkeit gegen Individuen unbedenklich scheint. Sharon Byrds wichtiger Aufsatz über Kants Strafrechtskonzeption (Byrd 1989) hat diese Kombination in brillanter Formulierung der traditionellen Ansicht entgegengesetzt, dass Kants Strafrecht durch und durch retributivistisch sei. Byrd argumentiert, die Rechtsordnung müsse gegen die Neigung der Bürger zum Rechtsbruch garantiert werden und erlange diese Garantie durch die Androhung von Strafe. Demzufolge stelle Abschreckung die Erfüllung des öffentlichen Zwangsrechts dar. Werde aber der Zweck der Strafe dergestalt bestimmt, so folge ihre Durchführung – d.h. Art und Maß der Strafe – nicht mehr dem Abschreckungs-, sondern dem Vergeltungsprinzip. Den Hauptgrund dieser Verschiebung von der Prävention zur Retribution sieht Byrd darin, dass nur Letztere den Menschen nicht bloß als Mittel, sondern als Zweck in sich selbst behandele. So liegt laut Byrd in Kants Rechtslehre die Abschreckung in der Androhung der Strafdurchführung, während in der tatsächlichen Durchführung der Strafe das Retributivprinzip anzutreffen sei, so dass Abschreckung und Vergeltung sich gegenseitig „einschränken“. Obwohl Byrd meint, dass Abschreckung und Vergeltung sich in dieser Verbindung gegenseitig limitieren, besteht zwischen ihnen doch eine offensichtliche Asymmetrie, die m.E. die Vergeltung privilegiert und die Attraktivität von Kants Retributivismus im letzten Jahrzehnt erklärt. Denn obwohl in Byrds Rekonstruktion die Generalprävention das Ziel der Strafe darstellt, bestimmt die Vergeltung ihr Maß. Ich möchte dies folgendermaßen ausdrücken. Bürger sollten für ihre Verbrechen bestraft werden, wenn und nur wenn:

2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung?

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I) die Androhung einer Strafe sie abschrecken könnte (Abschreckungsbedingung) und II) die Strafe das Verbrechen bestraft (Vergeltungsbedingung) und III) das Strafmaß durch das Vergeltungsprinzip bestimmt wird (ich werde dieses Prinzip unten näher bestimmen). Die ersten beiden Bedingungen sind rein negative Voraussetzungen: Werden sie nicht erfüllt, ist sowohl die Strafe als auch ihre Androhung verboten. Sie bestimmen jedoch nicht positiv Art und Maß der Strafe. Zur Verdeutlichung möchte ich das stärkste Beispiel betrachten, auf das Byrd ihre Kant-Neuinterpretation stützt, nämlich Kants Ausführung zum „Nothrecht (Ius necessitatis)“ anhand des sogenannten ‚Bretts des Karneades‘: Es kann nämlich kein Strafgesetz geben, welches demjenigen den Tod zuerkennte, der im Schiffbruche, mit einem Andern in gleicher Lebensgefahr schwebend, diesen von dem Brette, worauf er sich gerettet hat, wegstieße, um sich selbst zu retten. Denn die durchs Gesetz angedrohte Strafe könnte doch nicht größer sein, als die des Verlusts des Lebens des ersteren. Nun kann ein solches Strafgesetz die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben; denn die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist, (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch) kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist, (nämlich dem Ersaufen) nicht überwiegen. Also ist die That der gewaltthätigen Selbsterhaltung nicht etwa als unsträflich (inculpabile), sondern nur als unstrafbar (impunibile) zu beurtheilen […]. (RL VI 235f.)

Kant führt zwei Prämissen ein. Die erste besagt, dass das Strafrecht „den Tod zuerkennte“ (retributive Bestimmung des Strafmaßes: oben Punkt III). Die zweite ist indirekt, d.h. negativ formuliert: „Nun kann ein solches Strafgesetz die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben“. Der logische Gegensatz dazu ist, dass wir vom Strafrecht fordern, dass es das Verbrechen verhindert, was bedeutet, dass nicht bewiesen werden kann, dass die Androhung keine Wirkung hat. Dieser logische Gegensatz bedeutet nicht, dass die Abschreckungswirkung entweder bewiesen oder sicher oder maximal usw. sein muss. Diese Voraussetzung ist so schwach, dass ich mich frage, ob irgendeine vorstellbare Strafe sie je nicht erfüllen könnte. Gibt es tatsächlich niemanden, der das sichere Ertrinken dem möglichen Tod durch ein Gerichtsurteil vorzöge? Angenommen dass das Risiko, erwischt zu werden (weil es beispielsweise Zeugen für das Ereignis gab, oder aus irgendeinem anderen Grund), nicht vernachlässigbar ist: würde es tatsächlich niemand vorziehen, zu ertrinken und wegen seines tragi-

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schen Unfalls betrauert zu werden, wenn die Alternative in der Entehrung durch eine rechtliche Verurteilung bestünde, der ohnehin möglicherweise oder wahrscheinlich der Tod folgt? Um diesen Punkt zu betonen, nehmen wir an, dass das Gericht wahrscheinlich mildernde Umstände annehmen und den Täter zu einer Gefängnisstrafe von zwanzig Jahren verurteilen würde, so dass die Person, welche zwischen Mord und Ertrinken zu wählen hat, sicher sein könnte, für den Mord nicht sterben zu müssen. Können wir ausschließen, dass die Person dennoch den tragischen Tod einem Leben im Gefängnis ohne Ehre und Karrierechancen vorzöge? Wenn dem so ist, dann verhindert die Androhung der Todesstrafe (sogar schon einer Gefängnisstrafe) tatsächlich selbst in einem solchen Notfall einige Morde. Ich gestehe zu, dass ein „nicht ungewisser“ Tod durch ein gerichtliches Urteil die Abschreckungswirkung erhöhen dürfte, d.h. er würde einige Morde verhindern, bei denen die Androhung einer ungewissen Todes- oder Gefängnisstrafe keine Wirkung erzielte. Zumindest in einigen Fällen kann und wird in der Tat „die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist“, die Angst vor einem sicheren Übel also doch aufwiegen. Der logische Gegensatz zu der Wendung „kann […] die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben“ setzt nur irgendeine Abschreckungswirkung voraus, keineswegs die maximale Abschreckungswirkung. Deshalb kann es ein Strafrecht geben, das auch in einem solchen Notfall für Mord die Todesstrafe (oder eine geringere Strafe) verhängt. Allgemeiner gesagt sehe ich keine Strafe, keine Zufügung von Schmerzen an schuldige Personen, von der man behaupten könnte, sie schrecke überhaupt nicht ab (die Bestrafung Unschuldiger hingegen dürfte bei der Verbrechensprävention völlig versagen, weil eine solche Bestrafung nicht auf ein Verbrechen bezogen wäre). Selbst wenn Mord mit etwas so Lächerlichem wie einer Gefängnisstrafe von einem Monat oder einem Bußgeld von 10.000 Euro geahndet würde, würden diese Strafen immer noch einige potentielle Mörder abschrecken, hätten also immer noch eine Präventionswirkung. Da das Vergeltungsprinzip eine Bestrafung für alle Verbrechen vorschreibt, scheint die oben genannte Voraussetzung I (dass Strafe eine Abschreckungswirkung haben muss) immer erfüllt zu werden. Daher schränkt die Präventionsvoraussetzung das Vergeltungsprinzip überhaupt nicht ein. Umgekehrt schränkt das Vergeltungsprinzip ebenso

2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung?

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wenig das Abschreckungsprinzip ein, weil Letzteres nur irgendeine Abschreckungswirkung voraussetzt. Wenn wir aber (im Gegensatz zu Byrds Kant-Interpretation) das Abschreckungsprinzip so verstehen, dass es auch das Strafmaß bestimmt, dann würde es darauf abzielen, die Präventionswirkung zu maximieren. In diesem Fall würde das Vergeltungsprinzip das Abschreckungsprinzip tatsächlich einschränken. In unserem Notfall würde die Maximierung der Abschreckungswirkung nicht nur die Todesstrafe, sondern den Tod nach einer langen und vielfältigen Folterung erfordern. Man könnte einwenden, dass das Verbot von Folter nur bedeutet, dass eine Strafe nicht eine bestimmte Schwelle überschreiten sollte, die beispielsweise durch das Verbot einer grausamen oder inhumanen Behandlung festgelegt wird, unterhalb dieser Schwelle jedoch das Abschreckungsprinzip noch immer den Einsatz der am gründlichsten abschreckenden Strafe fordere. Dies könnte ein alternativer Ansatz sein, es ist jedoch sicherlich nicht der Ansatz Kants bzw. Byrds, da das Vergeltungsprinzip keine Freiheit gewährt, irgendeine Art von Leximin-Regel anzuwenden. Das Vergeltungsprinzip erlaubt vielmehr nur eine Lösung, beispielsweise die Todesstrafe für Mord wie im oben genannten Notfall. Wenn in Byrds Mischtheorie keine Inkompatibilität zwischen dem retributiven und dem präventiven Element herrscht, dann liegt dies einzig an der Schwäche des Kriteriums, das für Letzteres angenommen wird: die Strafe muss zumindest einige zukünftige Verbrechen verhindern. Das Vergeltungsprinzip erfüllt dieses Kriterium und wird daher von ihm nicht wirklich eingeschränkt. Diese Mischtheorie fügt der klassischen Vergeltungstheorie mithin nichts weiter hinzu als die Bedingung, dass der klassische Retributivismus nicht gerechtfertigt wäre, falls die von ihm festgesetzte Strafandrohung nicht wenigstens irgendein Verbrechen verhindert. Die Behauptung, dass für Kant der Zweck der Strafe in der Abschreckung liegt, stellt nur eine Weise dar, den Retributivismus stärker zu machen. Ansonsten setzt die Mischtheorie dasselbe Strafmaß wie die klassische Vergeltungstheorie an. Um noch deutlicher zu machen, dass die Mischtheorie keine wirkliche Verbindung von Retributivismus und Prävention darstellt, möchte ich die möglichen Bedeutungen einer retributiven bzw. präventiven Theorie unterscheiden. Der Retributivismus kann mindestens die vier folgenden Thesen enthalten:

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(a) Alle Kriminellen und nur Kriminelle sollten bestraft werden. (b) Die Bestrafung der Kriminellen stellt eine Vergeltung für das begangene Verbrechen dar. (c) Das Strafmaß sollte dem Verbrechen (ordinal, nicht kardinal) proportional sein, d. h. das Verhältnis der Strafen zueinander sollte dem Verhältnis der Verbrechen zueinander entsprechen. Damit meine ich, dass ein schwereres Verbrechen härter bestraft werden sollte als ein leichteres Verbrechen, und dass zwei gleichschwere Verbrechen gleich hart bestraft werden sollten. (d) Das Strafmaß muss dem Verbrechen gleich sein. These (c) vergleicht zwei Gruppen von Verhältnissen, d.h. das Verhältnis zwischen verschiedenen Verbrechen und das Verhältnis zwischen verschiedenen Strafen. Im Gegensatz dazu bindet These (d) ein Verbrechen ohne Abwägung von Verhältnismäßigkeiten direkt an eine Strafe. These (c) impliziert offensichtlich These (d) nicht, These (c) verbietet lediglich, dass wir einen Ladendieb schwerer als einen Mörder bestrafen. Nun stelle man sich folgende Möglichkeiten vor. Erste Möglichkeit: der Dieb wird zu einer Woche Sozialarbeit verurteilt, der Mörder zu zwanzig Jahren Gefängnis. Zweite Möglichkeit: der Dieb wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, der Mörder zum Tode. Dritte Möglichkeit: der Dieb wird zu einer Woche Sozialarbeit verurteilt, der Mörder zum Tode. Alle drei Beispiele erfüllen These (c). Sie stellen aber nicht nur sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die Strafgesetzgebung dar. Die erste Möglichkeit erfüllt sicherlich nicht These (d), da der Mörder nicht zum Tode verurteilt wird. Das Kriterium für These (d) scheint mir besser von der dritten als von der zweiten Möglichkeit erfüllt zu werden, aber ich gebe zu, dass dies umstritten sein mag. Ich will hier nicht erörtern, ob man sich ein Strafrecht vorstellen könnte, das These (d) erfüllt, ohne These (c) zu erfüllen, obgleich mir dies nicht unmöglich erscheint. Der einzige Grund für meine Unterscheidung zwischen These (c) und These (d) besteht darin, These (d) als mit Kants Rechtsprinzip unvereinbar zurückzuweisen, obwohl Kant diese These verteidigt, während er zugesteht, dass These (c) statistisch wahr ist.10 Darunter verstehe ich, dass die Schwere der Tat mit dem tatsächlich absolvierten Strafmaß korreliert, obwohl es auch Fälle geben sollte, wo schwerere Taten 10

2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung?

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Ich stelle fest, dass die Thesen (a) bis (d) von Byrds Mischtheorie unangetastet bleiben. Ich möchte nun die möglichen Thesen zu den Präventionstheorien unterscheiden: (a) Zukünftige Verbrechen werden durch die Bestrafung tatsächlicher Verbrecher verhindert (im Gegensatz zu den folgenden zwei Thesen gehört diese deskriptive These zu keiner normativen Präventionstheorie). (b) Zukünftige Verbrechen sollten durch die Bestrafung tatsächlicher Verbrecher verhindert werden. (g) Bürger sollten so bestraft werden, dass diese Bestrafung die effektivste Prävention zukünftiger Verbrechen bietet. (d) Kriminelle und nur Kriminelle sollten bestraft werden, und zwar auf diejenige Weise, welche die effektivste Prävention zukünftiger Verbrechen darstellt. Ich stelle fest, dass These (g) und (d) von der Mischtheorie nicht gestützt werden. Da (a) eine rein deskriptive These ist, bleibt als einzige These der Generalprävention innerhalb der Mischtheorie nur These (b) übrig. Daher werde ich mich nun auf das Vergeltungsprinzip konzentrieren. In einem ersten Schritt werde ich Kants Rechtfertigung für dieses Prinzip untersuchen und zu zeigen versuchen, dass seine Rechtfertigung eindeutig unzureichend ist. In einem zweiten Schritt werde ich nachweisen, dass Kants Vergeltungsprinzip seinem Rechtsprinzip widerspricht. 2.2 Retributivismus als Rechtfertigung für Strafe Ehe wir Kants Rechtfertigung für das Vergeltungsprinzip untersuchen, müssen wir zwei Bedeutungen von Vergeltung unterscheiden, eine schwächere und eine stärkere: diese bestehen in Vergeltung (These (b) oder schlichte Vergeltung) und Wiedervergeltung (These (d), ius talionis). Die meisten der zeitgenössischen kantianischen Retributivisten argumentieren für die Vergeltung und weisen die Wiedervergeltung zurück (vgl. Scheid 1983; Murphy 1987; Höffe 1999c). milder bestraft werden als weniger gravierende Straftaten. Dies wird am Ende dieses Kapitels erklärt und in Kapitel 7 am Beispiel der Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit illustriert.

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In § 49E der Rechtslehre argumentiert Kant in zwei Schritten: erstens versucht er das Recht zu strafen generell zu rechtfertigen, zweitens versucht er das ius talionis als Prinzip für die Setzung des Strafmaßes zu bestimmen. Im ersten Schritt weist Kant die utilitaristische Auffassung des Strafrechts zurück: Richterliche Strafe […] kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, […] verhängt werden […]. Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vortheil, den es verspricht, ihn von der Strafe […] entbinde […]. (RL VI 331)

Die meisten Interpreten leiten das Vergeltungsprinzip stillschweigend aus dieser Zurückweisung ab. Doch weder das Wort ‚Vergeltung‘ noch sein Begriff erscheint vor Kants zweitem Schritt, und selbst darin ist keine reine Vergeltung, sondern nur die Wiedervergeltung zu finden. Daher vermute ich, dass sich die Auslegung des ersten Schritts als Rechtfertigung von Vergeltung aus der Auslegung des zweiten Schritts, also der Rechtfertigung der Wiedervergeltung ableitet. Bezeichnenderweise enthält der zweite Schritt noch einmal dieselbe Zurückweisung der utilitaristischen Theorie wie der erste: Nach Kant sind alle Prinzipien außer dem ius talionis „hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten“ (RL VI 332). Im fünften Teil des „Anhangs“ plädiert Kant ebenfalls durch Zurückweisung der utilitaristischen Auffassung von Strafe für das ius talionis (RL VI 363). Kants Formulierung des Wiedervergeltungsrechts, also des ius talionis, bestätigt meine Vermutung: was für unverschuldetes Übel du einem Anderen im Volk zufügst, das thust du dir selbst an. Beschimpfst du ihn, so beschimpfst du dich selbst; bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst; schlägst du ihn, so schlägst du dich selbst; tödtest du ihn, so tödtest du dich selbst. (RL VI 332)

Der erste Satz erwähnt ein nicht näher bestimmtes „unverschuldetes Übel“ und bezieht sich daher nicht auf das Strafmaß, er kann also nicht die Wiedervergeltung betreffen. Darüber hinaus muss, wer die Stelle als ein Plädoyer für die bloße Vergeltung verstehen will, diesen Begriff aus dem zweiten Satz ziehen. In der Tat finden sich vor die-

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sem zweiten Satz keine Beispiele für das Strafprinzip „Gleiches mit Gleichem“. Folgende Interpretation des ersten Satzes wäre beispielsweise vollkommen hinreichend: Wenn du ein Verbrechen begehst, wirfst du die Gesellschaft in den Naturzustand zurück, in dem du vor unverschuldeten Übeln, die gegen dich begangen werden, nicht geschützt bist. Es gibt in diesem Zustand keine Vergeltung, nicht einmal ‚bloße‘ Vergeltung. Eine solche Auslegung vermag den zweiten Satz jedoch offensichtlich nicht zu erklären. Daher basiert die Interpretation des ersten Schritts als Rechtfertigung für Vergeltung lediglich auf der Wiedervergeltung. Diese wiederum gründet sich einzig und allein auf eine Zurückweisung der utilitaristischen Position, womit stillschweigend angenommen wird, dass es keine dritte Alternative zum Retributivismus und der utilitaristischen Präventionstheorie geben kann. Diese Annahme erscheint mir falsch. Um dies zu zeigen, werde ich eine andere Lösung vorschlagen. Zunächst möchte ich aber klarstellen, dass Kant selbst Ausnahmen bei der Wiedervergeltung zulässt. Die erste Ausnahme liegt im angeblichen Notfallrecht mit dem schon oben (2.1) zitierten Beispiel: Es kann nämlich kein Strafgesetz geben, welches demjenigen den Tod zuerkennte, der im Schiffbruche, mit einem Andern in gleicher Lebensgefahr schwebend, diesen von dem Brette, worauf er sich gerettet hat, wegstieße, um sich selbst zu retten. Denn die durchs Gesetz angedrohte Strafe könnte doch nicht größer sein, als die des Verlusts des Lebens des ersteren. […] Also ist die That der gewaltthätigen Selbsterhaltung nicht etwa als unsträflich (inculpabile), sondern nur als unstrafbar (impunibile) zu beurtheilen […]. (RL VI 235f.)

Dieser Fall wird von keiner der Thesen (b) bis (d) gestützt, nicht einmal von These (a). Es gibt eine weitere Ausnahme: Wenn aber doch die Zahl der Complicen (correi) zu einer solchen That so groß ist, daß der Staat, um keine solche Verbrecher zu haben, bald dahin kommen könnte, keine Unterthanen mehr zu haben, […] so muß es auch der Souverän in seiner Macht haben, […] ein Urtheil zu sprechen, welches statt der Lebensstrafe eine andere den Verbrechern zuerkennt, bei der die Volksmenge noch erhalten wird, dergleichen die Deportation ist […]. (RL § 49E, VI 334)

These (a) muss also in These (a’) umgewandelt werden: ‚Alle Kriminellen und nur Kriminelle sollten vom Staat bestraft werden, es sei

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denn, das Verbrechen geschah im Naturzustand (wie in der ersten Ausnahme) oder die Bestrafung würde zu einem Rückfall in selbigen führen (wie in der zweiten Ausnahme).‘ Oder, anders formuliert: ‚Alle Kriminellen und nur Kriminelle sollten bestraft werden, vorausgesetzt, der Staat kann das Recht zur Gänze durchsetzen, von der Zeit vor der Tat bis nach der Durchführung der Strafe.‘ Dies bedeutet: ‚In einem gefestigten Staat sollten alle Kriminellen und nur Kriminelle bestraft werden‘. Daraus können wir schließen, dass für Kant selbst die schwächste Vergeltungsthese (a) – und damit erst recht auch die stärkste These (d), das Prinzip der Wiedervergeltung – keine absolute Gültigkeit besitzt, sondern der Verwirklichung seines Rechtsprinzips unterworfen ist. 2.3 Die Mehrdeutigkeit der Begriffe der Vergeltung und des Rechts Ich möchte nun erläutern, warum das Vergeltungsprinzip nichts mit Kants Rechtsprinzip zu tun hat, ja seine Anwendung in der Rechtslehre Kants Rechtsprinzip sogar im Wege stehen kann. Es wurde bereits gezeigt, wie das Wiedervergeltungsprinzip in § 49E plötzlich auftaucht, ohne dass Kant versuchen würde, es von seinem Rechtsprinzip abzuleiten. Wenn wir in der Rechtslehre nach einem Argument für dieses Prinzip suchen, finden wir in den „Vorbegriffe[n] zur Metaphysik der Sitten (Philosophia practica universalis)“ Folgendes: Was jemand dem letzteren [dem Gesetz] angemessen thut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger thut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum). Der rechtliche Effect einer Verschuldung ist die Strafe (poena); […] die Angemessenheit des Verfahrens zur Schuldigkeit hat gar keinen rechtlichen Effect. (RL VI 227f.)

Wenn der Kriminelle die Pflicht nicht erfüllt, bleibt er etwas schuldig und es hängt an ihm eine unbeglichene Schuldigkeit (debitum), die das Gesetz von ihm fordert. Hier spielt die doppelte Bedeutung des Wortes ‚Schuld‘ im Deutschen eine Rolle. Es bedeutet ‚etwas schuldig sein‘ (debitum) ebenso wie ‚Schuldhaftigkeit‘ (culpa). Der Retributivismus kann dementsprechend wie folgt schematisch dargestellt werden:

2. Kants Strafrecht: eine rechtstheoretische Rechtfertigung?

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(a) Wer sich eines Verbrechens schuldig (zu culpa) gemacht hat, hat seine Schuld (debitum) der Gesellschaft gegenüber nicht bezahlt. (b) Unbezahlte Schulden müssen abbezahlt werden. (c) Die Strafe ist das Abbezahlen der Schulden. Eine Gleichwertigkeit der zwei Bedeutungen von ‚Schuld‘ – debitum und culpa – anzunehmen, ist irreführend und führt zu Trugschlüssen im Fall von Verbrechen, die Schäden anrichten, für die es keine Entschädigung gibt, d.h. bei allen nicht wiedergutzumachenden Verbrechen. Alle wiedergutzumachenden Gesetzesübertretungen sind private Verbrechen, für welche nicht die Straf-, sondern die Zivilgerichtsbarkeit zuständig ist. Kant gibt das Beispiel der „Veruntreuung, d. i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten Gelder oder Waaren, Betrug im Kauf und Verkauf bei sehenden Augen des Anderen“ (RL VI 331). Solche Verbrechen gefährden nicht die Existenz der Rechtsgemeinschaft, sondern nur einzelne Menschen, die dem Kriminellen vertrauten und freiwillig einen Vertrag mit ihm eingegangen sind. Öffentliche Verbrechen schädigen dagegen keine privatrechtlichen Verträge, sondern den Rechtsstaat selbst. Dafür ist, wie im Fall der Anwendung von vielleicht sogar tödlicher Gewalt gegen ein Opfer, keine Entschädigung möglich. Wie kann beispielsweise eine Gefängnis- oder Todesstrafe jemals das Opfer eines solchen Verbrechens entschädigen? Was könnte jemals für die Unsicherheit aller Bürger entschädigen, die durch einen Mord verursacht wird? Die Schulden (debita) gegen die Rechtsgemeinschaft wären nur dadurch abzutragen, dass man sich aller Verbrechen von vornherein enthielte: Sobald jedoch ein Verbrechen geschehen ist, kann der Verbrecher seine Schulden nicht mehr abzahlen. Ist er erst einmal seiner bürgerlichen Persönlichkeit verlustig gegangen, besitzt er nicht einmal mehr die Möglichkeit, seine Schulden gegenüber der Gesellschaft in Zukunft abzuzahlen, d.h. dem Gesetz zukünftig Folge zu leisten. Man könnte einwenden, dass zwar keine echte Entschädigung zwischen Rechtsgemeinschaft und Verbrecher möglich sei, aber doch wenigstens eine innere Entschädigung (Kompensation). Eine solche innere Entschädigung stünde möglicherweise mit der Problematik des ‚höchsten Guts‘ in Verbindung, d. h. mit „der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit“ (KpV V 125). Kant scheint sich auf einen solchen Gedanken zu stützen, wenn er schreibt:

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Diese Gleichheit der Strafen, die allein durch die Erkenntniß des Richters auf den Tod nach dem strengen Wiedervergeltungsrechte möglich ist, offenbart sich daran, daß dadurch allein proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher das Todesurtheil über alle […] ausgesprochen wird. (RL VI 333)

Man kann zwei Arten von Einwänden gegen solch eine Rechtfertigung des Retributivismus vorbringen (für eine ausführlichere Widerlegung der Theorien der Strafe als Wiederherstellung eines Gleichgewichts vgl. Wolf 2003). Der erste und offensichtlichste Einwand besteht darin, dass nach Kant der Staat die Kontrolle im Rechtszustand ausübt, d.h. das Verhältnis der äußeren Freiheit der einzelnen zueinander regelt. Das höchste Gut ist dagegen Teil eines inneren und daher individuellen Verhältnisses (vgl. Hill 1999, 429; vgl. auch hier Kap. 3). Zweitens würden, selbst wenn die Sorge für das höchste Gut in die Zuständigkeit des Staates fiele, die Anforderungen für das höchste Gut die retributivistische Straftheorie niemals rechtfertigen, sie vielmehr eher widerlegen. Das höchste Gut würde verlangen, dass das relative Verhältnis von Unmoral und Unglück oder Schmerz (oder Reue) gleich wäre. Kant bestimmt Strafe in der Tat als „das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“ (RL VI 331). Worin sollte der Schmerz bestehen, damit er mit dem Maß an Unmoral vergleichbar wäre? Ich möchte mich auf die präzise Definition der Glückseligkeit aus der Kritik der praktischen Vernunft stützen: Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens. (KpV V 124)

Wenn Schmerz das Gegenteil von Glück ist, dann muss Schmerz der Zustand eines vernünftigen Wesens sein, dem im Ganzen seiner Existenz nichts „nach Wunsch und Willen geht“. Schmerz sollte daher in der gänzlichen Abwesenheit von Übereinstimmung zwischen Natur und Zweck eines Menschen sowie zwischen diesem Zweck und dem „wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens“ bestehen. Wegen der Strafe profitiert der Verbrecher, der zur Läuterung seines ‚Wunsches und Willens‘ einer strengen Disziplin unterworfen wird, nicht von seiner Tat. Man muss daher einräumen, dass die Strafe zum Zwecke der Besserung viel Schmerz beinhaltet. Das ius talionis macht

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den Verbrecher also nicht glücklich. Es erlaubt aber dennoch, dass etwas in der Welt nach seinem ‚Wunsch und Willen‘ geschieht. Das Strafprinzip würde tatsächlich nach der Maxime des Verbrechers selbst bestimmt: wenn der Verbrecher töten wollte, so wird der Staat ihn töten; wollte er das Eigentum eines anderen an sich nehmen, so wird der Staat sein Eigentum nehmen usw. Paradoxerweise erreicht die Bestrafung so etwas wie eine Universalisierung der Maxime des Verbrechers. Für Kant stellt die Universalisierung nun bekanntlich einen Test für die Moralität einer Maxime dar (vgl. z.B. GMS IV 393–421). Selbst die bloß teilweise Universalisierung einer bösen Maxime ist als Maxime für eine Handlung ausnahmslos verboten. Dies sollte als Warnsignal gegen das ius talionis verstanden werden. Es ist zufälligerweise auch die Maxime, die einer Vendetta, also Privatjustiz und Blutrache zugrunde liegt. Meine Argumente werden von der Debatte, ob das ius talionis bei Kant wörtlich zu nehmen sei oder nicht, nicht berührt. Man kennt Hegels ironischen Kommentar gegen die wörtliche Anwendung des ius talionis (vgl. GPhR § 101 Anm.). Kant weigert sich aber bereits, den Sexualverbrecher mit Vergewaltigung zu bestrafen, vielmehr will er ihn kastrieren lassen (RL VI 363). Er verurteilt den Räuber zur Sklavenarbeit, aber sicher nicht dazu, ein Opfer von Gewalt zu werden, wie es seinen Opfern geschehen sein mag (RL VI 333). Da genügend Kant-Interpreten diesen Punkt betont haben (z.B. Höffe 1999c, 227), brauche ich nicht weiter zu erklären, warum mein Argument These (c) nicht von These (d) unterscheiden muss, sondern mir diese These zusammen mit These (b) zurückzuweisen erlaubt. Die einzige Vergeltung, die in der Strafe vollzogen wird, ist rein negativer Art. Kant schreibt: „Wer da stiehlt, macht aller Anderer Eigenthum unsicher; er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der Sicherheit alles möglichen Eigenthums“ (RL VI 333). Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Verbrecher aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen und in den Naturzustand zurückbefördert wird. Deshalb dürfen und sollen nur Verbrecher bestraft werden, unter der oben mit These (a’) genannten Bedingung, dass ein gefestigter Staat existiert. Der Retributivismus hat nur dann recht, wenn wir ihn so verstehen. Der Gebrauch des Wortes ‚Vergeltung‘ in diesem Sinne ist allerdings irreführend. In der Tat könnte man die wechselseitige Begrenzung der Rechte in der Rechtsgemeinschaft und den wech-

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selseitigen Schutz der Bürger eines Staates wechselseitige Vergeltung nennen. Die Anerkennung der Rechte eines anderen und ihr Schutz sind tatsächlich eine Art von gegenseitigem Beitrag oder ‚Tribut‘. Ein Verbrechen ist im Gegensatz dazu bloß negativ und in keiner Hinsicht ein Beitrag. Die Begriffe ‚Vergeltung‘ und ‚Wiedervergeltung‘ scheinen daher zur Beschreibung von These (a’) unangemessen. Einfachheit und Strenge des ius talionis mögen für manche Leute faszinierend sein. Die Strenge einer Strafe sollte jedoch nicht mit der Strenge eines Begriffs verwechselt werden. Das ius talionis kann nicht aus Kants Rechtsbegriff hergeleitet werden, vielmehr widerspricht es diesem; es entspringt noch nicht einmal dem gesunden Menschenverstand, da es zwischen Strafrechtsexperten und Bürgern gleichermaßen umstritten ist. Vor allem aber ist es möglich, Kants Strafrecht ohne das ius talionis direkt aus seinem Rechtsbegriff zu rekonstruieren. 2.4 Der Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft In der Tat gibt es neben der Dichotomie zwischen der utilitaristischen Präventionstheorie und der sogenannten kantischen Vergeltungstheorie noch einen dritten, authentisch kantischen und rechtlichen Weg. Weder der Verhinderung der Wiederholung eines Verbrechens noch der Besserung des Verbrechers, die man Spezialprävention nennen könnte, wird in der heutigen Debatte über die Strafe viel Aufmerksamkeit geschenkt, da beiden Gedanken unterstellt wird, sie würden die wahre Bedeutung der Strafe durch soziale Erwägungen ersetzen, die mit dem Verbrechen nichts zu tun haben. Ich halte einen solchen Vorwurf für völlig unbegründet und glaube, dass diese Art der Spezialprävention sogar die Begründung für das Strafrecht selbst bieten könnte. Im Folgenden beschreibe ich die Straftheorie, die Kant auf seinem Rechtsprinzip aufbauen hätte sollen, um damit jene Theorie zu kritisieren, die er tatsächlich darauf aufgebaut hat und die m.E. diesem Prinzip widerspricht. Ich werde mich jedoch so weit wie möglich auf Einzelstellen in Kants Rechtslehre beziehen, solange mir diese mit seinem Rechtsprinzip verträglich scheinen. Ich werde für folgende Thesen argumentieren: (i) Verbrecher sollten bestraft werden, um sie daran zu hindern, weitere Verbrechen zu begehen. Dies sollte durch die Maßnahmen (ii) und (iii) erreicht werden.

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(ii) Die Bestrafung sollte dem Verbrecher den Bürgerstatus aberkennen, bis (iii) erreicht ist. (iii) Die Bestrafung sollte den Verbrecher so umerziehen, dass ihm der Bürgerstatus wieder zuerkannt werden kann. Im Folgenden werde ich das Rechtsprinzip an den kategorischen Imperativ koppeln, um eine kantische Straftheorie zu rekonstruieren. Neben der Zurückweisung des Utilitarismus nennt Kant in seinem ersten Schritt (s.o. Kap. 2.2) zwei affirmative Argumente: erstens muss der Kriminelle bestraft werden, „weil er verbrochen hat“, zweitens ist das Strafgesetz ein „kategorischer Imperativ“ (RL VI 331). Diese beiden Punkte stellen je ein deskriptives und ein normatives Element dar: Wegen des Verbrechens, das der Verbrecher begangen hat, muss er um des kategorischen Imperativs willen bestraft werden. In der Rechtslehre wird jedoch kein weiterer Imperativ erwähnt, der sich speziell auf das Strafrecht bezöge. In der eigentlichen Bedeutung des Begriffs kann es nur einen einzigen kategorischen Imperativ geben, für den die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verschiedene Formulierungen anbietet. Die Rechtslehre entwickelt einen Rechtsimperativ als Partikularisierung des kategorischen Imperativs unter Einbeziehung des Umstandes, dass eine Vielzahl von Menschen dieselbe Welt teilt. Ich schlage vor, den ‚kategorischen Imperativ‘ des Strafrechts als Partikularisierung des kategorischen Rechtsimperativs zu betrachten, und zwar unter der Prämisse, dass ein Verbrechen begangen worden ist. Aufgrund des Verbrechens herrscht zwischen dem Verbrecher und dem Rest der Rechtsgemeinschaft per definitionem der Naturzustand. Kant betrachtet hierbei den Rechts- und den Naturzustand als Dichotomie, die eine dritte Möglichkeit ausschließt. In der Tat bezeichnet Kant die Situation nach dem Geschehen eines Verbrechens dreimal mit „Naturzustand“, nämlich im Fall eines Mörders, der viele Komplizen hat, im Fall des Duells und im Fall des Kindsmordes (RL VI 334 bzw. 336). Im ursprünglichen Naturzustand vor der Errichtung einer Rechtsgemeinschaft gebietet der kategorische Rechtsimperativ ebenso wie beim Rückfall in den Naturzustand die Erschaffung eines Rechtszustands. Sollte die Errichtung der Institutionen des Rechtszustands nicht auf der Stelle erreichbar sein, gebietet das Erlaubnisgesetz (ZeF VIII 347f. Fußnote, vgl. Brandt 1982)

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dessen Erreichen für alle – also auch für den Verbrecher – auf schnellstem Wege. Ich argumentiere nun, dass nichts außer Strafe den Verbrecher resozialisieren und wieder zu einem Mitglied der Rechtsgemeinschaft machen kann, da man bedenken muss, dass der Verbrecher nicht sofort fähig ist, der Rechtsgemeinschaft wieder beizutreten. Indem er ein Verbrechen beging, hat sich der Kriminelle offensichtlich dafür entschieden, in den Naturzustand zurückzufallen. Im Naturzustand besitzt niemand ein Recht und die äußere Freiheit wird kontinuierlich bedroht, wogegen der kategorische Imperativ uns dieselbe zu achten gebietet. Der Verbrecher akzeptiert das Verschwinden der äußeren Freiheit aus eigenem Willen. Dies bedeutet, dass der Wille des Verbrechers eine Art von Selbstmord begeht, was die entsprechende Person „unfähig macht, Staatsbürger zu sein“ (RL VI 331). Der Verbrecher kann vom Staat nicht mehr als freie Person, als Vernunftwesen behandelt werden. Art und Maß der von Kant geforderten Strafe zeigen dies in besonders klarer Weise. Das berühmteste Beispiel ist sicherlich die Todesstrafe für Mörder. Cohen (1928, 341) erhebt dagegen ebenso wie einige zeitgenössische Interpreten (vgl. Pugsley 1981, 1516; Schwarzschild 1985) den überzeugenden Einwand, dass diese Strafe dem kantischen Moralgesetz widerspricht, weil sie ein Vernunftwesen unwiderruflich auslöscht. Aus diesem Grund schlagen sie alternative Strafen vor. Ihr Argument war so erfolgreich, dass sich heutzutage kaum ein Philosoph traut, Kants Theorie des Strafrechts in diesem Punkt zu befürworten. Wenn man, wie Cohen dies tut, die kantische Straftheorie annimmt, sind solche Einwände aber nicht schlagend. Zwingend werden sie erst dann, wenn man eine alternative Straftheorie aus Kants Rechtsbegriff rekonstruiert, die der kantischen deutlich entgegengesetzt ist (vgl. Kap. 2.5). Kant selbst würde mit diesen Einwänden nämlich wohl wie folgt umgehen. Zum einen hört das Vernunftwesen nicht erst ein solches zu sein auf, wenn man es bestraft, sondern schon, wenn es ein Verbrechen begeht. Die Bestrafung zieht nur die Konsequenz aus dem Umstand, dass durch das Verbrechen ein Vernunftwesen sein rationales Wesen verleugnet hat. Zum anderen zeigt das Strafmaß, das Kant für alle anderen von ihm erwähnten Verbrechen verhängt, deutlich, dass er den Verbrecher nicht länger als Vernunftwesen betrachtet. Ich möchte dafür ein Beispiel geben:

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Was heißt das aber: „Bestiehlst du ihn, so bestiehlst du dich selbst“? Wer da stiehlt, macht aller Anderer Eigenthum unsicher; er beraubt sich also (nach dem Recht der Wiedervergeltung) der Sicherheit alles möglichen Eigenthums; er hat nichts und kann auch nichts erwerben, will aber doch leben; welches nun nicht anders möglich ist, als daß ihn Andere ernähren. Weil dieses aber der Staat nicht umsonst thun wird, so muß er diesem seine Kräfte zu ihm beliebigen Arbeiten (Karren- oder Zuchthausarbeit) überlassen und kommt auf gewisse Zeit, oder nach Befinden auch auf immer in den Sklavenstand. (RL VI 333)

An dieser Stelle versäumt Kant, zweierlei zu unterscheiden: (a) dass jemand ohne Eigentum für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss und (b) dass die Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt im Zustand der Sklaverei statt beispielsweise als Tagelöhner erfolgt. Tatsächlich gibt es eine Gemeinsamkeit dieser Versklavung mit der Todesstrafe, ebenso wie mit jeder anderen in der Rechtslehre erwähnten Strafe, beispielsweise der Deportation (RL VI 334), der „Ausstoßung aus der bürgerlichen Gesellschaft auf immer“ (RL, Anhang, 5. Teil, VI 363) oder sogar der Kastration (ebd.). Für Kant ist die Kastration nämlich ein ‚partieller‘ Mord, ebenso wie die Selbstkastration: „Sich eines integrirenden Theils als Organs berauben (verstümmeln), […] gehört zum partialen Selbstmorde“ (TL VI 423). Selbst wenn wir die Frage beiseite lassen, ob Selbstmord strafbar ist oder nicht, so bleibt die Kastration durch eine andere Person doch eine Art partieller Tod. Bei all diesen Strafarten wird der Verbrecher weder als Bestandteil der Rechtsgemeinschaft angesehen noch so behandelt. Kant selbst spricht sich gegen Sklaverei aus, ebenso gegen freiwillige Versklavung sowie den Verkauf eigener Kinder oder geborener Sklaven. Er macht jedoch eine einzige Ausnahme, namentlich gegenüber demjenigen, „der sich durch ein Verbrechen seiner Persönlichkeit verlustig gemacht hat“ (VI 283). Die exakte Konsequenz dieses Ausschlusses scheint mir am deutlichsten Fichte ausgedrückt zu haben: entweder wird der Verbrecher als ‚Outlaw‘ in die Wüste abgeschoben, wo er eines noch grausameren Todes sterben wird, oder er wird vogelfrei, so dass jeder ihn töten darf wie irgendein schädliches Tier. Dieser extreme Schluss, der aus dem Ausschluss aus der Bürgergesellschaft folgt, hat hier freilich nur heuristische Funktion, denn sowenig er Fichtes letztes Wort ist, sowenig wird er das letzte Wort unserer Rekonstruktion von Kants Straftheorie sein.

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2.5 Resozialisierung durch Disziplin Obwohl der Verbrecher seine Persönlichkeit verloren haben mag, verbietet es sich auch aus kantischer Sicht, ihn als Ding oder als – möglicherweise schädliches – Tier zu behandeln, und zwar aus folgenden Gründen. Den wichtigsten Grund gibt Kant in § 49E der Rechtslehre an, wo er sich auf eine der Formulierungen des kategorischen Imperativs zu stützen scheint: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS IV 429). Die Rechtslehre scheint diese Formulierung nun auf den Fall des Verbrechers anzuwenden: […] denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurtheilt werden kann. (RL VI 331)

Obwohl diese Sätze einander ähneln, scheinen sie nicht genau dieselbe Dichotomie zu verwenden: während die Grundlegung von ‚Menschheit‘ und ‚Persönlichkeit‘ spricht, benutzt die Rechtslehre die Wörter ‚angeborne‘ und ‚bürgerliche Persönlichkeit‘. Bei der Untersuchung der Bedeutung dieser Dichotomie scheint die Formulierung der Grundlegung aber relevant für die Erläuterung des Satzes aus der Rechtslehre. Kant definiert Persönlichkeit mit Bezug auf den Begriff der Zurechenbarkeit. In den „Vorbegriffe[n] zur Metaphysik der Sitten (Philosophia practica universalis)“ gibt er folgende Definition: Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen ist. Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist. Ein jedes Object der freien Willkür, welches selbst der Freiheit ermangelt, heißt daher Sache (res corporalis). (RL VI 223)

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Thomas Pogge liest diese Passage – meiner Meinung nach richtig – als zwei Definitionen: Durch die Hervorhebung von ‚moralisch‘ kennzeichnet Kant die ‚moralische Persönlichkeit‘ als spezifischer als die ‚Persönlichkeit‘. […] Moralische Persönlichkeit zu besitzen bedeutet, ein Subjekt zu sein, dessen innere Handlungen zurechenbar sind, ein Subjekt, das (transzendentale) Willensfreiheit besitzt. […] Personen im weiteren, schwächeren Sinne sind dann Subjekte, denen ihre äußeren Handlungen als Äußerung ihres Willens, ihrer Willkür oder ihrer Absichten zugerechnet werden können.11 (POGGE 1997, 163)

Ich werde Letzteres ein Subjekt mit Handlungsfreiheit nennen, im Gegensatz zu Ersterem, das darüber hinaus Willensfreiheit besitzt. Nach Pogges Ansicht setzt eine moralische Persönlichkeit die weitere, schwächere Persönlichkeit voraus und mithin auch Handlungsfreiheit, die nur durch ein Rechtssystem garantiert werden kann. Dies bedeutet, dass die moralische Persönlichkeit die bürgerliche voraussetzt. Andererseits kann man ein Rechtssystem konstruieren, das gleichzeitig die Handlungsfreiheit sichert und das Ablegen der Willensfreiheit weder voraussetzt noch erfordert. Worin besteht nun die ‚angeborene Persönlichkeit‘, auf die sich Kant beruft? Da er sie deutlich von der bürgerlichen Persönlichkeit absetzt, kann es sich entweder um die moralische oder um eine dritte Art von Persönlichkeit handeln. Da jedoch die moralische Persönlichkeit die bürgerliche voraussetzt, die ‚angeborene‘ der bürgerlichen aber entgegengesetzt ist, kann die ‚angeborene‘ nicht die moralische Persönlichkeit sein. Aus dem Ausdruck ‚angeboren‘ können wir ableiten, dass diese Persönlichkeit ursprünglich (nicht erworben) und unveräußerlich ist, aus dem Ausdruck ‚Persönlichkeit‘ wiederum, dass sie irgendwie von einer Art Zurechenbarkeit abhängt bzw. sich darauf bezieht. Da Kant bei seiner Unterscheidung von Personen und Sachen die ‚Zurechnung‘ mit der ‚freien Willkür‘ identifiziert (vgl. obiges Zitat, RL VI 223), d.h. mit der Handlungsfreiheit, könnte man schließen, 11 Im Original: “By italicizing ‘moral’, Kant flags that ‘moral personality’ is more specific than ‘personhood’. […] Having moral personality means being a subject whose inner actions are capable of imputation, a subject with (transcendental) freedom of the will. […] Persons in the wider, weaker sense are then subjects whose external actions can be imputed to them as expressive of their will, choice, or intentions.”

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dass die angeborene Persönlichkeit ebenso wie die bürgerliche und indirekt die moralische Persönlichkeit von einem Rechtssystem garantiert werden soll. Tatsächlich erhält die angeborene Persönlichkeit den Schutz des Strafrechts. Dennoch ist die angeborene Persönlichkeit nicht dasselbe wie die bürgerliche und man kann Träger der erstgenannten sein, ohne Träger der letzteren zu sein. Ich wende mich jetzt dem Grund zu, aus dem die ‚angeborene Persönlichkeit‘ laut § 49E der Rechtslehre nicht einfach als bloßes Mittel behandelt werden darf. Gemäß der Grundlegung (IV 429) besteht er in der Menschheit in meiner Person oder in der Person jedes anderen. In diesem Zusammenhang kann der Begriff ‚Menschheit‘ nun auf eine irreführende Weise verstanden werden, nämlich indem man ihn mit einer Dichotomie verbindet, die nur dort eine Rolle spielt, wo es um die Unterscheidung von Moralität und Recht geht: Der Mensch nun als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d.i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet […]. (TL VI 418) Da in der Lehre von den Pflichten der Mensch nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz übersinnlich ist, also auch bloß nach seiner Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit, (homo noumenon) vorgestellt werden kann und soll, zum Unterschiede von eben demselben, aber als mit jenen Bestimmungen behafteten Subject, dem Menschen (homo phaenomenon) […]. (RL VI 239)

In diesen beiden Zitaten bedeutet ‚Menschheit‘ eindeutig moralische Persönlichkeit bzw. Willensfreiheit. Verstünden wir die ‚Menschheit‘ in der Formulierung des kategorischen Imperativs (GMS IV 429) auf diese Weise, so würde dessen Aussage redundant: „Handle so, daß du die [moralische Persönlichkeit] sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Ich schlage daher vor, jene Formulierung des kategorischen Imperativs folgendermaßen zu verstehen: „Handle so, daß du [den Menschen (homo phaenomenon)] sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Die Grundlegung bestätigt diese Lesart:

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Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen in meiner Person nichts disponiren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu tödten. (GMS IV 429)

Im spezifischen Kontext der Rechtslehre herrscht folgende Lesart vor: Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. (TL VI 462)

Das Verbot, Menschen zu ‚gebrauchen‘, kann auf zweierlei Weise gelesen werden. Vom Standpunkt des kategorischen Imperativs aus betrachtet, ist es sicherlich gerechtfertigt, da schlechterdings alle Menschen in der Lage sind, Autonomie, d.h. einen freien Willen zu entwickeln. Vom Standpunkt des Rechtssystems aus bedeutet es, dass dieses System keineswegs nur die Bürger beschützt, die das System achten, indem sie ihre Handlungsfreiheit so beschränken, dass sie mit der Handlungsfreiheit aller anderen Bürger vereinbar ist. Das Rechtssystem schützt vielmehr alle Menschen, selbst diejenigen, welche faktisch unfähig sind, es zu achten, beispielsweise Kinder und Kriminelle. In Analogie dazu, wie Kant mit Kindern verfährt, schlage ich vor, die Kriminellen von den Staatsbürgern durch den Gebrauch des Begriffs ‚Weltbürger‘ zu unterscheiden. Über Eltern schreibt Kant nämlich: Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (den ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigenthum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein Weltbürger in einen Zustand herüber gezogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann. (RL § 28, VI 281)

Weder Kinder noch Kriminelle sind in der Lage, dem Gesetz zu gehorchen, d. h. ihre Handlungsfreiheit durch die Handlungsfreiheit anderer einschränken zu lassen. Dennoch sind beide handlungsfähig,

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also mit Freiheit ausgestattet, ohne jedoch zugleich tatsächlich (mit Pogge gesprochen) ‚ihren Willen, ihre Willkür oder ihre Absichten‘ auf eine Weise entwickeln zu können, welche mit der Freiheit aller anderen verträglich wäre. Das Rechtssystem kann ihnen also keine Handlungsfreiheit erlauben, muss ihnen aber zugleich die Möglichkeit zur Erlangung dieser Freiheit gewähren, sobald und solange sie in der Lage sind, die Handlungsfreiheit der anderen zu achten. Meiner Meinung nach ist das die Bedeutung des Ausdrucks ‚Weltbürger‘ in der genannten Passage (RL § 28, VI 280f.). Ich sehe zumindest zwei wichtige Bestätigungen meiner Interpretation. Erstens nimmt Kant seit der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) im Menschen eine Naturanlage zur Entwicklung der Vernunft in einem historischen Prozess an, der bis zur Errichtung einer „vollkommen gerechte[n] bürgerliche[n] Verfassung“ führt (Idee, 5. Satz, VIII 22). In diesem Zusammenhang ist ‚Vernunft‘ nicht im transzendentalen Sinne von Autonomie oder Willensfreiheit zu verstehen, sondern als „ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern“ (Idee, 2. Satz, VIII 18). So fordert nach Kant der allen Handlungsfähigen angeborene Charakter von ihnen ihre eigene Entwicklung in Richtung auf die Errichtung von und Mitgliedschaft in einer Rechtsgemeinschaft, deren Aufriss die Rechtslehre entwickelt. Andere Schriften – v.a. Zum ewigen Frieden – enthalten denselben Gedanken. Zweitens werden selbst zur Sklaverei verurteilte Verbrecher ausdrücklich nicht dem Sachenrecht unterstellt. Für Kant unterscheidet sich der Sklave nämlich von jedem Tier und jeder Sache dadurch, dass er in der Lage ist, Pflichten zu erfüllen, selbst wenn er keinerlei Rechte besitzt. In der „Eintheilung der Metaphysik der Sitten überhaupt“ bestimmt Kant den Rechtsstatus von Sachen und Tieren als „[d]as rechtliche Verhältniß des Menschen zu Wesen, die weder Recht noch Pflicht haben“. Über „[d]as rechtliche Verhältniß des Menschen zu Wesen, die lauter Pflichten und keine Rechte haben“ sagt Kant, dass es in der Rechtslehre fehle („vacat“), „[d]enn das wären Menschen ohne Persönlichkeit (Leibeigene, Sklaven)“ (RL VI 241). Obwohl diesen Menschen der Bürgerstatus fehlt, können sie doch weder zu „schandbaren Zwecken“ benutzt noch darf über ihr „Leben und Gliedmaßen verfüg[t]“ werden (RL VI 330).

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Gegen eine solche Interpretation könnte man einwenden, dass sie sich auf metaphysische Annahmen stützt. Kant macht allerdings in der Rechtslehre offensichtlich metaphysische Annahmen, zum Beispiel betreffs der Kinderzeugung, dass „das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen“ (RL § 28, VI 280). Man braucht solche Annahmen jedoch nicht zu akzeptieren, weder um alle handlungsfähigen Menschen als potentielle Bürger anzuerkennen noch um sie zu faktischen Bürgern zu befördern, sobald und solange sie eben in der Lage sind, die Rechte der anderen zu achten – aus welchen Gründen auch immer: aufgrund der Beachtung des kategorischen Imperativs oder einfach nur aufgrund des Eigeninteresses an der Achtung der eigenen Rechte durch die Rechtsgemeinschaft. Jeder ‚Weltbürger‘ hat einen Anspruch gegenüber dem Staat darauf, dass dieser für ihn die Möglichkeit aufrechterhält, wirklich ein Staatsbürger zu werden. Darüber hinaus stellt die Errichtung einer Rechtsgemeinschaft zwischen allen Menschen ein Postulat oder eine Voraussetzung dar. Sie ist eine Voraussetzung nicht nur aus dem Blickwinkel des kategorischen Imperativs, sondern sogar auch dann, wenn wir mit Pogges ‚Einbahnthese‘ annehmen, dass wir, sobald wir Kants kategorischen Imperativ akzeptieren, auch sein System der Rechte akzeptieren müssen, nicht aber umgekehrt. Tatsächlich ist Kants Rechtslehre ja nicht bloß deskriptiv, sondern normativ – sie enthält eindeutig das Kriterium der Universalisierbarkeit und wendet es auf alle Subjekte äußerer Freiheit an, z. B. auf handlungsfähige Wesen. Kants Rechtssystem erschafft also Handlungsfähigkeit nicht, sondern setzt sie voraus und sollte sie so weit wie möglich in das Gesetz der wechselseitigen Beschränkung der Freiheit aufnehmen. Meiner Meinung nach verlangt dies, dass die Rechtsordnung die Entwicklung der Fähigkeit zur Gesetzestreue fördert. Kant setzt sich tatsächlich ausdrücklich mit der Entwicklung dieser Fähigkeit bei Kindern und ‚Wilden‘ auseinander. Nun gibt es zwischen Verbrechern und Kindern keine Differenz hinsichtlich ihres Rechtsstatus. Daher werde ich die Behandlung von Verbrechern analog zu Kants Behandlung von Kindern betrachten. In seiner Pädagogik konzipiert Kant die Erziehung als eine doppelte Aufgabe, d.h. „Disciplin“ und „Cultur“ (IX 449). Dasselbe Ziel ist

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sowohl bei Kindern als auch bei ‚Wilden‘ zu verfolgen. Kants Rechtsbegriff besteht in einem wechselseitigen Zwang der Bürger, welcher durch den vom Staat ausgeübten öffentlichen Zwang garantiert wird. Im Gegensatz dazu ist der Verbrecher wie das Kind und der ‚Wilde‘ Gegenstand eines einseitigen Zwangs, den Kant in der Pädagogik „Disciplin“ oder „Zucht“ nennt. „Disciplin unterwirft den Menschen den Gesetzen der Menschheit und fängt an, ihn den Zwang der Gesetze fühlen zu lassen“ (Päd. IX 442). Kant konzipiert Disziplin als Voraussetzung zur Kultur, d. h. zum positiven Teil der Erziehung. Gesetzesgehorsam muss zuerst durch eine äußere Kraft erlernt werden, die gegen den Menschen eingesetzt wird, ehe er die Fähigkeit erwirbt, dem Gesetz freiwillig Folge zu leisten und – das ist das Wichtigste – sich selbst sein eigenes Gesetz zu geben, worin die Freiheit unter dem Gesetz, also dem Rechtszustand besteht. Wenn wir einen Hund zwingen, einer Regel zu gehorchen, wollen wir nur, dass er unserer Regel gehorcht. Bei einem Menschen sollten wir jedoch versuchen, als Ziel die Menschheit zu befördern, d.h. die äußere Freiheit unter dem Gesetz. Strafe sollte also die Besserung des Verbrechers voranbringen. Kant denkt an die Möglichkeit einer zeitlichen Begrenzung der Strafe. Der Dieb „kommt auf gewisse Zeit, oder nach Befinden auch auf immer in den Sklavenstand“ (RL VI 333). Unglücklicherweise findet sich diese zeitliche Begrenzung an keiner anderen Stelle der Rechtslehre. Der Grund hierfür mag darin liegen, dass Kant annimmt, die Erziehung von Verbrechern und ‚Wilden‘ sei viel schwieriger als jene von Kindern. Er erläutert: „Der Mensch hat aber von Natur einen so großen Hang zur Freiheit, daß, wenn er erst eine Zeit lang an sie gewöhnt ist, er ihr Alles aufopfert“ (Päd. IX 442). An keiner Stelle schließt Kant jedoch für irgendeinen Verbrecher die Möglichkeit der Resozialisierung explizit aus. In Kants Rechtslehre muss nicht einmal der Mörder immer sterben. Zu den Ausnahmen gehören nicht nur die oben (Kap. 2.2) genannten Fälle, beispielsweise dass der Mörder zu viele Komplizen hat, sondern auch der Fall, in dem der Souverän „einen Act des Majestätsrechts“ vollzieht, „der als Begnadigung nur immer in einzelnen Fällen ausgeübt werden kann“ (RL VI 334). Der Mörder kann also letztlich resozialisiert und entlassen werden, es sei denn, diese Entlassung würde die Sicherheit anderer Bürger bedrohen, da der Verbrecher beispielsweise noch nicht ‚diszipliniert‘ wurde.

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Die Möglichkeit der Resozialisierung ist nun mit der Todesstrafe vollkommen unverträglich. Die Alternative zum Retributivismus, die ich hier darlege, ist in keiner Weise utilitaristisch. Sie betrachtet die Strafe absolut nicht „bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft“ (RL VI 331). Zwar profitiert der Mörder sicherlich mehr von seiner Resozialisierung als von der Todesstrafe. Das skizzierte Resozialisierungsmodell stützt sich aber einzig und allein auf das Ziel, den durch das Verbrechen zerstörten bürgerlichen Zustand wiederherzustellen, und zwar solchermaßen, dass auch der Verbrecher in denselben wieder eingebracht werden kann. Das einzige zu diesem Zweck verfügbare Mittel liegt in der Bestrafung durch einseitigen Zwang. Während der Zeit der ‚Disziplinierung‘ ist die Rechtsgemeinschaft vor dem Risiko einer Wiederholung der Tat durch den Verbrecher geschützt. In meiner Skizze besitzt die Strafe also auch ein sowohl dem Rechtsbegriff als auch der Menschheit in jeder Person immanentes Ziel. Ich gebe zu, dass die Theorie der Generalprävention ebenfalls ein dem Rechtsbegriff immanentes Ziel verfolgt, insofern die Strafe andere Bürger motiviert, gesetzestreu zu bleiben. Eine Theorie, welche die allgemeine Abschreckung zur Begründung von Strafe erhebt, nimmt die Menschheit in der Person des Verbrechers allerdings nicht wirklich ernst. Um die Abschreckungswirkung zu maximieren, könnte die Theorie der Generalprävention die Bestrafung sogar über jene Zeit und jenes Maß hinaus ausdehnen, welche notwendig sind, um den Verbrecher zu einem vollwertigen Bürger zu resozialisieren. Gegen die Spezialprävention, die ich als Alternative zum Vergeltungsprinzip vorschlage, mag man einwenden, sie verstoße gegen das Fairnessprinzip, demzufolge eine Strafe nicht verlängert oder neu formuliert werden darf, sobald der Verbrecher einmal verurteilt ist. Ein solcher Einwand müsste sich jedoch auf die unrichtige Annahme berufen, zur Nichtrevidierbarkeit einer Strafe zähle auch, dass das Urteil die exakte Dauer des Strafvollzugs bestimme. Aber diese Dauer ist in meinem Vorschlag klar definiert: die Strafe endet mit der Resozialisierung des Verbrechers, d. h. der Wiederherstellung seiner Fähigkeit, das Gesetz wie andere Bürger zu achten, so dass er keine größere Bedrohung für das Gesetz darstellt als jene. Ein gewichtigerer Einwand läge in der Schwierigkeit zu bestimmen, wann genau ein Verbrecher fähig ist, als vollwertiger Bürger wieder in die Rechts-

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gemeinschaft einzutreten. Um einzuschätzen, ob ein Verbrecher resozialisiert ist, bedarf es sicherlich in den meisten Fällen einer komplizierten Entscheidung, bei der stets die Gefahr eines Irrtums besteht. Diese Gefahr besteht jedoch bei jedem Gerichtsurteil. Darüber hinaus wendet das heutige Gerichtssystem zum Teil tatsächlich eine Art von Spezialprävention an: die meisten Gefangenen werden auf Bewährung freigelassen, was die effektive Strafdauer reduziert, Wiederholungstäter werden oft härter bestraft als Ersttäter usw. Stellen wir uns einen Augenblick lang vor, wie ein Mechanismus aussehen könnte, mit dem man das Willkür-Risiko bei der Einschätzung der Resozialisierung beseitigen könnte. Man könnte sich ein System von Institutionen vorstellen, das die Beweislast Schritt für Schritt vom Verbrecher zu den zuständigen Richtern verschöbe. Dieses System würde es dem Verbrecher anfangs schwer machen, einen ‚Resozialisierungstest‘ zu bestehen, später aber leichter. Nach einer Weile würde sich die Beweislast verlagern und es würde für die zuständigen Richter zunehmend schwerer nachzuweisen, dass die Bestrafung weiter andauern muss. Daneben könnten Maßnahmen wie Bewährung, gemeinnützige Arbeit und härtere Strafen für Wiederholungstäter eine zweite Art von Test darstellen. Dieser fände im ‚wahren‘ Leben statt und stellte für den Gefangenen gleichermaßen eine Gefahr dar wie einen Anreiz, sich auf ehrliche Weise in das Rechtssystem einzufügen und es zu respektieren. Schließlich könnte die Bestrafung auch fallspezifische Maßnahmen zur Spezialprävention enthalten. Die Richterin Marianna Pfaelzer verurteilte den Hacker Kevin Mitnick nicht nur zu knapp vier Jahren Gefängnis, sondern auch dazu, nach seiner Haftentlassung keine Computer oder Handys ohne schriftliches Einverständnis seines Bewährungshelfers zu benutzen. Sicherlich verhindern Spezialprävention und Resozialisierung – und Letztere bedeutet strikte Disziplinierung – außerdem viele Verbrechen, die andere Bürger begehen könnten. Beide Theorien enthalten daher stets auch eine generalpräventive Dimension, obgleich sie nicht auf deren Maximierung abzielen. Spezialprävention und Resozialisierung ‚belegen den Verbrecher‘ tatsächlich ‚mit Schmerz‘, wie es Kants Strafdefinition fordert (RL VI 331). Und die Androhung von Schmerz bei Gesetzesbruch schreckt sicherlich einen bedeutenden Teil potentieller Täter vom Verbrechen ab. Die Generalprävention wird damit jedoch nicht zur Begründung der Strafe, da wir Verbre-

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cher selbst dann bestrafen würden, wenn dadurch kein einziger der anderen Bürger von einem Verbrechen abgeschreckt würde; die generalpräventive Wirkung macht jedoch sicher eine starke und sehr glückliche Nebenwirkung der Strafe aus. Ich möchte betonen, dass der Begriff der Strafe als Resozialisierung in keiner Weise „theilnehmender Empfindelei einer affectirten Humanität (compassibilitas)“ (RL VI 334f.) entspringt, derentwegen Kant Beccarias Straftheorie tadelt. Disziplin, Zucht, ‚Versklavung‘ und einseitiger Zwang erscheinen einem Verbrecher gewiss nicht als eine attraktive und angenehme Art, bestraft zu werden. Spezialprävention und Resozialisierung dürften zudem oft mit der von These (b) geforderten Proportionalität der Strafe zur Tat übereinstimmen. Man kann zwar nicht prinzipiell (vgl. Fletcher 1998, 31), aber doch empirisch feststellen, dass ein Dieb mit höherer Wahrscheinlichkeit schneller resozialisiert sein wird als ein Geiselnehmer oder gar ein Mörder – auch wenn es gewiss Fälle gibt, in denen das Gegenteil zutrifft. Nicht zuletzt schließen Retributivismus und Generalprävention die Todesstrafe nicht aus. In der Tat schreibt Kant sie ausdrücklich vor, obgleich viele seiner Interpreten dies missbilligen oder zu diesem Thema vorsichtiges Schweigen bewahren. Lange Zeit wurde um die Todesstrafe als Mittel der Generalprävention gestritten (eine klassische – und skeptische – Darstellung der Debatte gibt Hart 1968). Alle Teilnehmer dieser Debatte waren sich jedoch darüber einig, dass die Todesstrafe gerechtfertigt wäre, wenn nachgewiesen werden könnte, dass sie wirkungsvoll Verbrechen anderer Bürger verhindert. Im Gegensatz sowohl zum Retributivismus als auch zur Generalprävention schließt meine Alternative die Todesstrafe radikal aus. Sie schließt auch die Verurteilung eines Verbrechers zu einer unverringerbar lebenslangen Strafe aus, obwohl sie dem Staat nicht verbietet, einen Verbrecher lebenslang hinter Gittern zu belassen, falls dessen Resozialisierung fehlschlägt. Die von mir vorgeschlagene Lösung scheint mir somit bestmöglich zu erreichen, was eine doppelte Anforderung an alle Straftheorien sein sollte: die Sicherheit aller Bürger sicherzustellen und die Menschheit aller Verbrecher zu achten.

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2.6 Zwischenbilanz Die sogenannten Mischtheorien des Strafrechts scheitern beim Versuch, Retributivismus und Generalprävention wirklich zu verbinden, ja müssen dabei sogar scheitern, weil sich jene beiden Theorien als Begründung von Strafe zu deutlich voneinander unterscheiden. Ich habe daher vorgeschlagen, an den Begriffen der Debatte zwischen deontologischer Ethik und Präventionstheorie eine doppelte Modifikation vorzunehmen. Einerseits habe ich zu zeigen versucht, dass Kants retributivistisches Strafrecht nicht auf seinem Rechtsbegriff beruht. Andererseits habe ich bewusst nicht versucht, Kants Rechtsbegriff mit einem generalpräventiven Prinzip zu vermischen, sondern argumentiert, dass Kants Rechtsbegriff vollkommen mit einer Theorie der Spezialprävention übereinstimmt, welche sowohl die Abschreckung als auch die Resozialisierung von Verbrechern umfasst. Diese Theorie ist keine Mischtheorie und braucht es auch nicht zu sein. Wenn Kants Straftheorie also doch noch auf der Grundlage des kantischen Systems zu rechtfertigen sein sollte, so könnte diese Rechtfertigung nur mehr auf dem Weg einer moraltheoretischen Argumentation stattfinden, aus welcher rechtliche Konsequenzen resultieren. Im folgenden Kapitel möchte ich zeigen, dass auch Kants Moraltheorie diese Rechtfertigung nicht leisten kann. Im Gegenteil wird sie das Ergebnis dieses Kapitels nur bestätigen, das die Rechtstheorie als Ausgangspunkt hatte.

3. Kants Strafrecht: eine moraltheoretische Rechtfertigung? Nachdem ich Kants Wiedervergeltungstheorie auf der Grundlage der liberalen Interpretation seines Rechtsbegriffs zugunsten einer Kombination von Spezialprävention und Resozialisierung abgelehnt habe, möchte ich untersuchen, ob die alternative, strengere bzw. moralische Interpretation seines Rechtsbegriffs Kants Wiedervergeltungstheorie begründen kann. Wie im ersten Kapitel dargestellt wurde, besteht diese Interpretation in einer Umsetzung des kategorischen Imperativs in das Rechtssystem, soweit sich die Gebote und Verbote des kategorischen Imperativs durch Zwang durchsetzen lassen.

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3.1 Welche Art von moralischer Verhältnismäßigkeit? Oft werden retributivistische Straftheorien vertreten, die von Kants eigener Theorie grundsätzlich abweichen, indem sie einen Zweck der Strafe annehmen, wie bescheiden auch immer dieser Zweck sein mag. Der Expressivismus vertritt etwa die Auffassung, dass die Strafe retributivistisch ausfallen soll, damit das moralische Urteil der Gesellschaft über die Straftat ausgedrückt wird (vgl. Hill 2002, 320ff.). Eine andere Theorie der Strafe (vgl. Hampton/Murphy 1988, 43–53) sieht in der Straftat einen Versuch des Verbrechers, seinen Wert über denjenigen des Opfers zu stellen. Die retributivistisch festgesetzte Strafe sollte dementsprechend dazu dienen, das richtige Verhältnis zwischen dem Wert des Verbrechers und dem Wert des Opfers wiederherzustellen. Im Gegenteil zu solchen und ähnlichen Theorien und zur juristischen Tradition, die Senecas Diktum „Nemo prudens punit quia peccatum est sed ne peccetur“ 12 folgt, behauptet Kant, dass die Strafe keinen Zweck haben darf, sondern nur deswegen verhängt werden soll, weil der Verbrecher das Recht verletzt hat („weil er verbrochen hat“: RL VI 331). Diese Forderung betrachtet Kant als moralische Rechtfertigung der Strafe, durch die er die Strafwürdigkeit des Verbrechers definiert. Im Folgenden möchte ich eine Interpretation von Kants moralischem Retributivismus vornehmen, die dieser Forderung gerecht wird. Ich werde zu zeigen versuchen, dass, auch wenn sich aus Kants Moraltheorie eine retributivistische Auffassung der Strafwürdigkeit gewinnen lässt, auf dem Fundament dieser Strafwürdigkeit unmöglich eine retributivistische Strafe in der Rechtsordnung gerechtfertigt werden kann, sondern vielmehr jene Kombination von 12 De ira I xix 7: „Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde“. Seneca bezieht sich auf Platons Gesetze (XI 933e– 934b), wo es heißt, jeder Räuber solle nicht nur das geraubte Gut ersetzen, sondern je nach seinen Motiven auch eine leichtere oder schwerere Strafe erleiden, „und zwar nicht um der begangenen Übeltat willen – denn das Geschehene lässt sich nun doch einmal nicht ungeschehen machen –, sondern zu dem Zweck, damit in die Folge sowohl er selbst als auch diejenigen, die ihn bestraft sehen, entweder ganz und gar das Unrecht verabscheuen lernen oder doch zum großen Teil von diesem Übel befreit werden“ (Übersetzung nach Susemihl, ähnlich schon Platon, Protagoras 324a–c). Platons – und Senecas – Intention gilt also neben der Entschädigung des Opfers eindeutig der Besserung des Täters sowie einer gewissen Generalprävention, die als kollektive Besserung konzipiert wird.

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Spezialprävention und Resozialisierung, die sich schon aus dem liberalen Rechtsbegriff ergeben hat (siehe Kap. 2.5). Hier muss ich die Klassifikation aus Kapitel 2.1 durch eine zusätzliche Unterscheidung verfeinern, in der ich einige mögliche retributivistische Thesen aufzähle. Hart gliedert die retributivistischen Positionen in drei Thesen: zunächst, dass eine Person bestraft werden kann, wenn – und nur wenn – sie absichtlich etwas moralisch Falsches getan hat; zweitens, dass auf irgendeine Weise ihre Bestrafung der Bosheit ihrer Rechtsverletzung entweder entsprechen oder ihr gleichwertig sein muss; und drittens, dass sich eine solche Bestrafung nur dann rechtfertigen lässt, wenn es in sich gerecht bzw. moralisch ist, den Schmerz [der durch die Straftat zugefügt wurde] dem Täter für das absichtlich begangene moralische Böse zurückzugeben.13 (HART 1968, 231)

Die erste These ist nicht spezifisch für den Retributivismus, da m.E. keine alternative Straftheorie je die Bestrafung von Unschuldigen zugelassen hat (vgl. Rosen 1997). Die dritte These habe ich bereits in ihren verschiedenen Varianten ausformuliert (vgl. Kap. 2.1, Thesen a–d). Sie verbindet eine rechtliche deskriptive Feststellung (die Feststellung einer Straftat) mit einer rechtlichen Folge (der Bestrafung der Tat). Die zweite These verbindet dagegen eine rechtliche Folge (die Bestrafung der Tat) mit einer moralischen deskriptiven Feststellung (der Bosheit des Täters). Die moralische Begründung des Retributivismus betrifft daher die zweite These; sie kann allerdings die dritte These stützen bzw. ihr widersprechen. Im Folgenden werde ich zeigen, dass sie ihr widerspricht. Schon der Bezugspunkt für eine Verhältnismäßigkeit zwischen der moralischen Bosheit und der Strafe fehlt. Kant kennt zwar pflichtwidrige und pflichtgemäße Handlungen, und unter den Letzteren bloß pflichtgemäße Handlungen sowie Handlungen aus Pflicht allein. Dafür lässt sich bei Kant nirgendwo eine Abstufung der Pflichtgemäßheit bzw. der Pflichtwidrigkeit finden. Kant schreibt lediglich: Im Original: “first, that a person may be punished if, and only if, he has voluntarily done something morally wrong; secondly, that his punishment must in some way match, or be equivalent of, the wickedness of his offence; and thirdly, that the justification for punishing men under such conditions is that the return of suffering for moral evil voluntary done, is itself just or morally good.” 13

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Was jemand pflichtmäßig mehr thut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann, ist verdienstlich (meritum); was er nur gerade dem letzteren angemessen thut, ist Schuldigkeit (debitum); was er endlich weniger thut, als die letztere fordert, ist moralische Verschuldung (demeritum). (RL VI 227) Der Tugend = + a ist die negative Untugend (moralische Schwäche) = 0 als logisches Gegentheil (contradictorie oppositum), das Laster aber = – a als Widerspiel (contrarie s. realiter oppositum) entgegen gesetzt […]. (TL VI 384)

Die Schwere der Straftat ist nämlich nicht mit der Entsprechung zwischen der Absicht und der Pflicht zu verwechseln. Während eine Straftat mehr oder weniger gravierend ist, gilt jegliche Verletzung der Pflicht als eine Pflichtwidrigkeit, ohne dass Kant darunter differenziert. Kant betont sogar, dass eine Ausnahme vom Moralgesetz bzw. von der Pflichterfüllung keineswegs bagatellisiert werden darf, sondern durchaus eine volle Verfehlung bedeutet (vgl. etwa GMS IV 424). Die einzelnen Verfehlungen lassen sich nach Kant auf eine oberste Maxime zurückführen, die dem kategorischen Imperativ nicht gehorcht. Weil die Behauptung einer Abstufung in der Bosheit bei Kant zumindest problematisch ist,14 werde ich also im Folgenden die retributivistische moralische These Kants auf die Behauptung beschränken, nach der die Strafe nicht verhängt wird, um einen Zweck zu erreichen, sondern bloß weil der Verbrecher das Recht verletzt hat. 3.2 Das höchste Gut und die notwendige Verbindung zwischen Schuld und Strafe Die Forderung nach einem Verhältnis zwischen der moralischen Bosheit des pflichtwidrigen Menschen und seiner Bestrafung stammt aus dem Postulat vom höchsten Gut her, wie es in der Kritik der praktischen Vernunft formuliert ist. Bekanntlich fordert dieses Postulat eine notwendige Verbindung zwischen den beiden Komponenten der Idee des höchsten Guts, d. h. zwischen der Tugend und der Glückseligkeit; diese Verbindung präzisiert Kant jedoch als eine Unterordnung der Glückseligkeit unter die Tugend als die Bedingung der Glückseligkeit. Kant schreibt: 14 Dass sie auch im Allgemeinen problematisch ist, hat z. B. Bedau (1978) gezeigt.

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So fern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit […] ausgetheilt, das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt. (KpV V 110f.)

Mit dem höchsten Gut wird die Herrschaft des Moralgesetzes über die physische Welt postuliert, die sonst dem physischen Gesetz folgt. Das höchste Gut lässt sich nur unter dieser Herrschaft verwirklichen. Dabei spielt zunächst eine Wiedervergeltung der Bosheit keine Rolle, sondern nur die Belohnung der Sittlichkeit der Gesinnung. Wie lässt sich von einer solchen Definition des höchsten Guts das Verhältnis zwischen der Bosheit der Gesinnung und der Strafwürdigkeit ableiten? Zunächst müssen wir uns auf den Status und den Inhalt des höchsten Guts beziehen, dessen negative Variante die Strafwürdigkeit darstellt. Als Postulat der praktischen Vernunft hat das höchste Gut den Status einer noumenalen und synthetischen notwendigen Verbindung zwischen der Tugend und der Glückseligkeit; in der Sinnenwelt kann diese Verbindung, wo sie überhaupt vorhanden ist, nur zufällig zustande kommen (vgl. KpV V 114f.). Kant hält es sogar für „befremden[d], daß gleichwohl die Philosophen alter sowohl als neuer Zeiten die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden, oder sich ihrer bewußt zu sein haben überreden können“ (KpV V 115). Sollte das Verhältnis zwischen Schuld und Strafe die Negativfolie des höchsten Guts darstellen und daher denselben Status wie das höchste Gut haben, so müsste es ebenfalls ausschließlich zum noumenalen Bereich gehören. In der Tugendlehre finden wir eine Bestätigung dieser Vermutung: Nun ist […] Strafe nicht ein Act der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über Alle, die demselben unterworfen sind, Effect giebt, und wenn wir die Menschen (wie es in der Ethik nothwendig ist) in einem rechtlichen Zustande, aber nach bloßen Vernunftgesetzen (nicht nach bürgerlichen) betrachten, so hat niemand die Befugniß Strafen zu verhängen und von Men-

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schen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein (nämlich Gott) kann sagen: „Die Rache ist mein; ich will vergelten.“ (TL VI 460 nach Dtn 32, 35)

Schon in der Vorlesung über Ethik (etwa 1775–80) kommt das präventive Strafen dem irdischen Herrscher, das vergeltende Strafen aber dem moralischen, nicht dem irdischen Herrscher zu: Alle Strafen sind entweder warnende oder rächende. […] Alle obrigkeitlichen Strafen sind warnende Strafen, entweder, den Menschen selbst, der gesündigt, zu warnen oder andere zu warnen durch dies Beispiel. Allein die Strafen eines solchen Wesens, welches der Moralität gemäß die Handlungen bestraft, sind rächende Strafen. (Ethik 66)

Für den noumenalen Status des höchsten Guts gibt es zwei Gründe. Erstens lassen sich für uns Menschen die Handlungen aus Pflicht nie von den bloß pflichtgemäßen Handlungen unterscheiden (GMS IV 407, Ethik 43). Zweitens lässt sich kein irdischer Herrscher finden, von dem man sicher sein kann, dass er selbst immer dem kategorischen Imperativ gehorcht (vgl. Idee, 6. Satz, VIII 23). Gegen die Übertragung dieses ausschließlich noumenalen Status auf die Negativfolie des höchsten Guts, d. h. auf das Verhältnis zwischen Schuld und Strafe könnte man einwenden, dass man von einer rechtswidrigen Handlung durchaus mit hundertprozentiger Sicherheit auf das Bestehen einer bösen Gesinnung schließen darf. Damit entfiele der erstgenannte Grund gegen eine durch die irdische Obrigkeit verhängte vergeltende Strafe. Allerdings bestünde immer noch der zweite Grund, weil sich kein aus Pflicht handelnder Mensch als oberster Richter mit Sicherheit finden ließe. Im Folgenden werde ich zeigen, dass sogar dann, wenn von diesem zweiten Grund abgesehen wird, die irdische Obrigkeit dennoch nicht zum retributivistischen Strafen befugt ist, und zwar aus Gründen, die aus dem Inhalt des höchsten Guts resultieren. Das höchste Gut besteht aus der notwendigen Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit, in der die Tugend die Bedingung der Glückseligkeit ist. Daher sollte sich aus dem Gegenteil der Tugend, d.h. aus der Bosheit der Gesinnung, das Gegenteil der Glückseligkeit ergeben. Es scheint prima facie nahezuliegen, dass das Gegenteil der Glückseligkeit das Unglück im Sinne eines unglückseligen Zustandes wäre. Dies wäre aber ein Fehlschluss, denn das logische Gegenteil der

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Glückseligkeit ist die fehlende Glückseligkeit als einfache privatio schlechthin. Nun definiert Kant die Glückseligkeit auf folgende Weise: Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens. (KpV V 124)

Das Gegenteil der Glückseligkeit ist demnach der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem im Ganzen seiner Existenz nichts „nach Wunsch und Willen geht“, und beruht also auf der völlig fehlenden Korrespondenz zwischen der Natur und seinem ganzen Zweck, d. h. „zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens“. Kurz: der Wille des bösen Menschen sollte sich nie verwirklichen können. Die fehlende Wirkung des bösen Willens ist etwas anderes, als dem bösen Menschen irgendeinen Schaden zuzufügen. Letzteres wird von Kant auf die klarste Weise als unmoralisch abgelehnt und von der eigentlichen Strafe streng abgegrenzt: Es ist also Tugendpflicht nicht allein selbst blos aus Rache die Feindseligkeit Anderer nicht mit Haß zu erwiedern, sondern selbst nicht einmal den Weltrichter zur Rache aufzufordern; theils weil der Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen hat, um der Verzeihung selbst sehr zu bedürfen, theils und zwar vornehmlich, weil keine Strafe, von wem es auch sei, aus Haß verhängt werden darf. (TL VI 460f.)

In der kantischen Perspektive sollte sich die Strafe aus dem Verbrechen selbst nach einem über die Welt herrschenden Moralgesetz ergeben. Dies bedeutet eine ähnliche Notwendigkeit wie diejenige der Naturgesetze. Kant selbst verwendet die Analogie: Ehe die Vernunft erwachte, war noch kein Gebot oder Verbot und also noch keine Übertretung […]. Der erste Schritt also aus diesem Stande war auf der sittlichen Seite ein Fall; auf der physischen waren eine Menge nie gekannter Übel des Lebens die Folge dieses Falls, mithin Strafe. (MAM VIII 115)

Für die Verbrechen bedeutet dies, dass der moralische Gesetzgeber deren Begehung verhindern sollte, und zwar schon vor der Umsetzung der verbrecherischen Absicht. Dass es in der phänomenalen Welt nicht immer so zugeht, ist auch Kant nicht entgangen. Allerdings darf man postulieren, dass sich die notwendige Verbindung zwischen Schuld und Strafe in der noumenalen Welt angleichen lässt.

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Wenn man einmal festgestellt hat, dass die pflichtwidrige Absicht trotz dieses Postulats zu einer pflichtwidrigen Tat geführt hat, stellt sich die Frage, warum die böse Absicht, deren Verwirklichung nicht verhindert werden konnte, im Nachhinein bestraft werden darf. Hier empfiehlt es sich, zwei Fälle zu unterscheiden: Entweder bleibt der Täter nach der Straftat ein böser Mensch oder er bekehrt sich zum Guten. Wenn der Täter ein böser Mensch bleibt, so wird er weiterhin pflichtwidrige Absichten verwirklichen wollen. Die notwendige Verbindung müsste dazu führen, dass er an deren Verwirklichung gehindert würde. Diese Hinderung findet allerdings nicht um der Bestrafung des spezifischen Verbrechens willen statt, das er begangen hat, sondern wegen der Bosheit, die sich anlässlich der Begehung dieses Verbrechens manifestiert hat. Der Fall, in dem sich der Täter inzwischen zum Guten bekehrt hat, muss in der kantischen Perspektive von zwei verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden. In der Religionsschrift analysiert Kant die Beziehung der moralischen Bekehrung zur Strafe wie folgt. Im Fall der Bekehrung findet die Strafe in einem Zustand statt, in dem „der Mensch schon im neuen Leben wandelt und moralisch ein anderer Mensch ist“ (Rel. VI 73). Kant siedelt die Strafe „im Zustande der Sinnesänderung selbst“ an, wobei die „Sinnesänderung […] ein Ausgang vom Bösen und ein Eintritt ins Gute“ (Rel. VI 74) ist; und er sieht „in diesem letzteren schon durch den Begriff einer moralischen Sinnesänderung diejenigen Übel als enthalten […], die der neue, gutgesinnte Mensch als von ihm […] verschuldete und als […] Strafen ansehen kann“ (Rel. VI 73). Die Sinnesänderung beschreibt Kant als ein gleichzeitiges Bestehen des alten und des neuen Menschen: In ihr […] als intellectueller Bestimmung sind nicht zwei durch eine Zwischenzeit getrennte moralische Actus enthalten, sondern sie ist nur ein einiger, weil die Verlassung des Bösen nur durch die gute Gesinnung, welche den Eingang ins Gute bewirkt, möglich ist, und so umgekehrt. Das gute Princip ist also in der Verlassung der bösen eben sowohl, als in der Annehmung der guten Gesinnung enthalten, und der Schmerz, der die erste rechtmäßig begleitet, entspringt gänzlich aus der zweiten. (Rel. VI 74)

Die Bestrafung des bösen Menschen besteht also vollständig in den Geburtswehen des guten Menschen, kurz: darin, dass er zu einem

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guten Menschen wird. Dies stellt par excellence die fehlende Glückseligkeit des bösen Menschen dar, denn in der Bekehrung bricht er mit den bösen Absichten und seine neuen guten Absichten führen ihn zur Glückseligkeit, d. h. zu deren voller Wirkung. Kant beschreibt diese Bestrafung in anschaulicher Form mit Anklang an Formulierungen der neutestamentlichen Paulusbriefe (Röm 6, 2. 6; Gal 5, 24; Eph 4, 17–24; Kol 3, 1–17): Der Ausgang aus der verderbten Gesinnung in die gute ist (als „das Absterben am alten Menschen“, „Kreuzigung des Fleisches“) an sich schon Aufopferung und Antretung einer langen Reihe von Übeln des Lebens, die der neue Mensch in der Gesinnung des Sohnes Gottes, nämlich bloß um des Guten willen, übernimmt; die aber doch eigentlich einem andern, nämlich dem alten (denn dieser ist moralisch ein anderer), als Strafe gebührten. (Rel. VI 74)

Was vom neuen Standpunkt aus als „moralische Glückseligkeit“ erscheint, wird vom alten Standpunkt aus als Übel und Strafe wahrgenommen (vgl. Fußnote zu Rel. VI 75). Hier erweist sich die Berufung einer üblichen Interpretation der retributivistischen Strafe auf Kant als falsch. Thomas Hill (vgl. Hill 2002, 358ff.; ähnlich Deith 1984, 210 f.) sieht in den Gewissensbissen des moralischen Menschen bezüglich seiner früheren Vergehen ein Motiv zum künftigen moralischen Verhalten. Gerade das Umgekehrte ist aber der Fall bei Kant. 3.3 Strafwürdigkeit und rechtliche Strafe Welche Konsequenz müssen wir aber aus dieser moralischen Strafe in der noumenalen Welt für die rechtliche Strafe in der phänomenalen Welt ziehen? Aus dem Fall desjenigen Menschen, der weiterhin ein böser Mensch bleibt, empfiehlt sich die Unschädlichmachung 15 als Mittel dazu, dass seine bösen Absichten in der Zukunft nicht zur Verwirklichung kommen. Im Fall des inzwischen bekehrten Menschen entfiele jeder Grund zur Bestrafung, vorausgesetzt dass man erkennen könnte, dass er sich tatsächlich wirklich gebessert hat. Nun lässt Den Ausdruck ‚Unschädlichmachung‘ benutze ich hier wie im Folgenden im Sinne des englischen incapacitation, d.h. in dem neutralen Sinne, dass der Verbrecher zum Schutz der Gesellschaft durch geeignete Maßnahmen von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten wird. Die Assoziationen, die dem deutschen Begriff durch seinen Missbrauch als Euphemismus für ‚Hinrichtung‘ oder dergleichen anhaften, sollen dabei ausdrücklich ausgeschlossen sein. 15

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sich aber die – in der noumenalen Welt abgeschlossene – Bekehrung in der phänomenalen Welt nicht mit hundertprozentiger Sicherheit nachweisen. Zunehmend vermuten lässt sich eine solche Bekehrung allerdings bei einem fortgesetzten pflichtgemäßen Verhalten, so dass sich im Lauf der Zeit angesichts eines solchen Verhaltens eine Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft immer mehr empfiehlt. Da man zumindest in einer ersten Zeitperiode nicht erkennen kann, ob wir es bei einem verurteilten Verbrecher mit dem ersten oder aber mit dem zweiten Fall zu tun haben, ist im Allgemeinen Spezialprävention – in Form der Unschädlichmachung – mit anschließender Resozialisierung angesagt. Sowohl die Spezialprävention als auch die Resozialisierung stehen der Behörde nicht zur Disposition, sondern sie sind eine Pflicht für sie. Einerseits umfasst nämlich die Pflicht der Hilfeleistung an den Notleidenden auch den Fall derjenigen, welche die möglichen zukünftigen Opfer von Verbrechen sind. Andererseits dürfen wir aber (mittlerweile) guten Menschen wegen ihrer früheren Vergehen keine für die öffentliche Sicherheit unnötigen Schäden bzw. Freiheitsverweigerung zufügen. Hier gelangen wir also genau zu dem Punkt, den schon unsere kantische Kritik an Kants Strafrecht aus dem kantischen liberalen Rechtsbegriff erreicht hat (siehe Kap. 2.5). Anders als in der Rechtslehre zieht Kant im selben Jahr (1797) in der Tugendlehre genau dieselbe Konsequenz wie wir: Daher ist Versöhnlichkeit (placabilitas) Menschenpflicht; womit doch die sanfte Duldsamkeit der Beleidigungen (mitis iniuriarum patientia) nicht verwechselt werden muß, als Entsagung auf harte (rigorosa) Mittel, um der fortgesetzten Beleidigung Anderer vorzubeugen; denn das wäre Wegwerfung seiner Rechte unter die Füße Anderer und Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst. (TL VI 461)16

Der Retributivist könnte zwar in diesem Ergebnis einen halben Sieg feiern wollen, weil – wenn nicht die rechtliche Strafe – doch die moralische Strafe retributivistisch gedacht wird. Schon in der Vorlesung über Ethik definiert Kant die „rächenden Strafen“ bzw. die retribu16 Wolf macht die interessante Bemerkung, dass es „in Kants Version des Retributivismus [wie sie in der RL vertreten wird] keinen Platz für Verzeihen [gibt], und das Begnadigungsrecht […] von ihm sehr ungnädig als schlüpfrigstes Recht bezeichnet“ wird (Wolf 1992, 76).

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I. Den Verbrecher bestrafen, weil er es verdient hat?

tivistischen Strafen als diejenigen, „die da deklariert werden, weil das Übel geschehen ist“ (Ethik 66). Anders als die präventiven Strafen werden „[d]ie moralischen Strafen […] erteilt, weil gesündigt worden, es sind consectaria der moralischen Übertretung“ (Ethik 66f.). Dabei übersähe der Retributivist aber, dass Kant, auch wenn er dies hier nicht ausdrücklich sagt, unter den „moralischen Strafen“ die Strafwürdigkeit versteht, während er die anderen Strafen als rechtliche Strafen – also als Strafen im eigentlichen Sinne – auffasst. Kant sagt über die rechtliche Strafe in der Vorlesung über Ethik genauso wie später in der Tugendlehre: Die Obrigkeit straft nicht, weil verbrochen ist, sondern damit nicht verbrochen werde. Allein jedes Verbrechen hat doch noch außer dieser Strafe eine Strafwürdigkeit, darum, daß es geschehen ist. Solche Strafen, die also notwendig auf die Handlungen folgen müssen, sind die moralischen, und das sind poenae vindicativae. So wie eine Belohnung erfolgt auf eine gute Handlung nicht darum, damit man ferner gute Handlungen tue, sondern darum, weil gut gehandelt ist. (Ethik 67)

Weil die Strafwürdigkeit bzw. die moralische Strafe zur noumenalen Welt gehört, stehen die alternativen Straftheorien mit diesem moralischen Retributivismus nicht in Konkurrenz, aus einem einfachen Grund: Die anderen Theorien sind bloß rechtliche Straftheorien, die keinen Anspruch auf den noumenalen Bereich erheben. Also äußern sich die Alternativtheorien nicht gegen die zweite These, wie sie bei Hart formuliert ist (s.o. Kap. 3.1). Sie ignorieren einfach das Thema der Vergeltung der moralischen Bosheit und bestreiten bloß die dritte These, welche die Retributivisten mit der zweiten These begründen wollen. Von der retributivistischen moralischen These, die wir soeben untersucht haben, wollen die Retributivisten nämlich die dritte These ableiten, derzufolge eine notwendige Verhältnismäßigkeit zwischen der Straftat und der Strafe bestehen muss. Wir haben aber soeben gezeigt, dass sich in unserer Rekonstruktion von Kants moralischer Argumentation aus der zweiten These keineswegs diese dritte These ergibt, sondern vielmehr eine Kombination von Spezialprävention und Resozialisierung. Somit kann sich die dritte These nur auf sich selbst stützen, wie wir sie im vorigen Kapitel widerlegt haben. Als Zwischenbilanz dürfen wir also feststellen, dass weder der liberale (Kap. 2) noch der moralische (Kap. 3) Rechtsbegriff, die man von unterschiedlichen Kant-Interpretationen (Kap. 1) ableiten kann, eine

3. Kants Strafrecht: eine moraltheoretische Rechtfertigung?

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retributivistische Straftheorie rechtfertigen können. Mehr noch: wenn beide Argumentationsschienen auf die Konsistenz ihrer Ableitung der Strafe vom kantischen Rechtsbegriff achten würden, würden sie wie in unserer Rekonstruktionsskizze zu einer Kombination von Spezialprävention und Resozialisierung führen, welche den Retributivismus strikt ausschließt, ohne dabei die Generalprävention zu vertreten. Hier zeigt sich, dass – anders als Kant und viele von ihm inspirierte Autoren behaupten – die Wiedervergeltungstheorie nicht die einzige Alternative zur Generalprävention anbietet. Meine Rekonstruktionsskizze will ich nun detaillierter entwickeln; ich werde dies mittels einer Rekonstruktion der fichteschen und hegelschen Straftheorien tun, die ich beide für einen konsistenteren Ausbau einer Rechtfertigung der Strafe auf der Basis von Kants Rechtsbegriff halte.

II. Bestrafen, damit der Verbrecher wieder zur Rechtsgemeinschaft gehört? 4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“ Bekanntlich teilen die liberalistische Interpretation von Kants Rechtsbegriff (vgl. Kap. 1) und Fichte denselben Begriff des Rechts, obwohl sie ihn auf zwei grundverschiedene Weisen deduzieren (vgl. Merle 2001a, 161): die gegenseitige Begrenzung der äußeren Freiheiten nach dem allgemeinen Gesetz der Gleichberechtigung. Dennoch entwickelt Fichte eine Theorie des Strafrechts, die mit derjenigen Kants schlechthin unvereinbar ist. Darum will ich im Folgenden nicht nur die beiden Theorien miteinander vergleichen, sondern – nachdem ich in Kapitel 2 und 3 bereits Kants Strafrechtstheorie mit dessen Rechtsbegriff konfrontiert habe – nun auch Fichtes Theorie mit jenem Kant und Fichte gemeinsamen Rechtsbegriff vergleichen. Ich habe oben (Kap. 2) schon Kants Retributivismus kritisiert, und zwar sowohl in der klassischen Interpretation dieses Retributivismus als alleinige Rechtfertigung des Bestehens von Strafe als auch in der neueren Interpretation dieses Retributivismus als Rechtfertigung des Strafmaßes. In beiden Interpretationen lässt sich Kants Retributivismus nicht aus seinem Begriff des Rechts ableiten bzw. deduzieren; mehr noch: sein Retributivismus widerspricht seinem Rechtsbegriff sogar. Darum werde ich nun eingangs kurz skizzieren, aus welchen Gründen Fichte den kantischen Retributivismus als Rechtfertigung des Strafmaßes ablehnt, obgleich er das Strafmaß am Maßstab des Talionsrechts bestimmt. Fichte hat den ersten Teil (§§ 1–16) seiner Grundlage des Naturrechts 1796 ein halbes Jahr vor der Veröffentlichung der Rechtslehre Kants publiziert. Erst ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung von Kants Rechtslehre erschien dann 1797 der zweite Teil (§§ 17–24) der Grundlage des Naturrechts. Schon 1796 entwickelt Fichte im Kapitel der Grundlage des Naturrechts über das Zwangsrecht (§§ 13–15) jenen Aspekt der kantischen Mischtheorie, der traditionell vergessen und erst seit zwei Jahrzehnten wieder beachtet wird: die Generalprävention durch Androhung. Fichtes eigentliche Theorie, wie sie 1797 in § 20 der Grundlage des Naturrechts formuliert ist, scheint aber eine Mischtheorie zu sein: Fichte-Interpreten haben gezeigt, dass sich in

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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der Grundlage des Naturrechts eine Kombination von Elementen der Generalprävention durch Androhung, Elementen der Spezialprävention und Elementen der Besserung und der Resozialisierung finden lässt. Insoweit sieht Kaufmann zu Recht eine Gemeinsamkeit zwischen dem als Mischtheorie interpretierten kantischen Strafrecht und Fichtes eigener Straftheorie: In den Prinzipien seiner Zwangstheorie ist Fichte hier sehr modern, insofern er die heute überwiegend akzeptierte Vereinigungstheorie, die Verbindung von Präventions- und Retributionstheorie propagiert. Die Rechtfertigung der Strafe überhaupt geschieht durch die Prävention, bei der Bestimmung, wer gestraft werden soll, spielt neben dem Schaden auch die Tatsache eine Rolle, inwieweit ein schlechter oder unzulänglicher Wille eine Rolle spielte, ebenso bei der Bemessung der Strafe. (KAUFMANN 2001, 132)

Lazzari (2001, 183) stellt ebenfalls fest, „daß beide Grundpfeiler der Fichteschen Straftheorie, die Gedanken der Abbüßung und der Abschreckung, weitgehend mit der diffusen Forderung nach einer humaneren Strafordnung in Einklang stehen“. Lazzari begrüßt den mischtheoretischen Charakter des fichteschen Strafrechts, obwohl er sich der damit verbundenen Probleme bewusst ist: Ein derartiger ‚gemischter‘ Ansatz erscheint in vielen Punkten gerade einleuchtend und der Vielfalt der zu berücksichtigenden Aspekte angemessen. Problematisch für Fichtes Argumentation ist vor allem die Inkompatibilität der rechtstheoretischen Annahmen, die im ersten Teil der Grundlage des Naturrechts den präventiven Teil von Fichtes Straftheorie und in § 20 den einschränkenden Rahmen desselben begründen. (LAZZARI 2001, 184)

Mein oben (Kap. 2) gegen die mischtheoretische Kant-Interpretation vorgebrachter Einwand gilt aber eo ipso gegen Fichtes Mischtheorie. Darum werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen, dass die Generalprävention durch Androhung mit dem fichteschen – und kantischen – Begriff des Rechts nicht vereinbar ist. Es ist also kein Zufall, wenn Fichte ein Jahr später im eigentlichen Kapitel der Grundlage des Naturrechts über das Strafrecht (§ 20) seinem Kapitel über das Zwangsrecht widerspricht und m. E. die Strafe primär mit der Spezialprävention und der Resozialisierung begründet, obgleich er auf seine frühere Mischtheorie nie ausdrücklich verzichtet.

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

4.1 Die fehlende rechtliche Argumentation zugunsten des Retributivismus Ich erinnere zunächst kurz an Kants Argumentation zugunsten einer retributivistischen Begründung des Strafrechts. Im § 49E der Rechtslehre vertritt Kant eine retributivistische Position, genauer das Talionsrecht: „Gleiches mit Gleichem“ (RL VI 332). Kant liefert keine direkte Rechtfertigung des Talionsrechts, er behauptet lediglich, dass es keine akzeptable Alternative gebe (s.o. Kap. 2.2). Akzeptabel kann nur eine Alternative sein, die den Test am kategorischen Imperativ übersteht, insbesondere an seiner dritten Formulierung: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS IV 429). Kant wendet diesen Test auf den Verbrecher an: denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborene Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche einzubüßen gar wohl verurtheilt werden kann. (RL VI 331)

Kant erklärt dann den Retributivismus des Talionsrechts für die einzige Theorie des Strafrechts, welche den Test dieser Formel überstehe; alle anderen Strafrechtstheorien behandelten den Verbrecher bloß als Mittel. Nun verletzen nicht nur die durch das retributivistische Talionsrecht bestimmten einzelnen Strafen klarerweise die genannte Formel des kategorischen Imperativs (s.o. Kap. 2.4), Kants negatives Argument zugunsten des Retributivismus trifft auch klarerweise auf jene Theorien zu, welche die Generalprävention – ob durch Androhung oder durch das vollzogene Exempel – als primäre Rechtfertigung der Strafe ansehen, wogegen es m.E. die These der Spezialprävention unangetastet lässt (s.o. Kap. 2.5). Gerade zu dieser Option wird Fichte als Ergebnis seiner Deduktion des Strafrechts gelangen. Fichte geht von demselben Rechtsbegriff aus: „Alles Rechtsverhältniß ist bestimmt durch den Saz: jeder beschränke seine Freiheit durch die Möglichkeit der Freiheit des andern“ (GNR I/3 411). Er hält Kants negative Argumentation zugunsten des Retributivismus offensichtlich für einen groben Fehlschluss. Im zweiten Teil seiner Grundlage des Naturrechts kritisiert Fichte mit starken Worten Kants neun Monate zuvor erschienene Rechtslehre:

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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Die Strafe ist nicht absoluter Zweck. Es läßt bei einer solchen Behauptung, sie geschehe nun ausdrücklich, oder es werden Sätze aufgestellt, die sich nur aus stillschweigender Voraussetzung einer solchen Prämisse erklären lassen, (z.B. der unmodificirte, kategorische Ausspruch, wer getödtet hat, muß sterben) sich gar nichts denken. (GNR I/4 60)

Einige Seiten weiter bezieht Fichte die von ihm angegriffenen „Behauptungen“ ausdrücklich auf Kant, den „großen, doch nicht infallibeln Man[n]“ (Fußnote zu GNR I/4 76), der Beccaria seine angebliche „theilnehmend[e] Empfindelei einer affectirten Humanität“ (RL VI 334 f.) zum Vorwurf machte. Fichte wendet sich gegen ein absolutes Strafrecht […], nach welchem die richterliche Strafe nicht als Mittel sondern selbst als Zweck betrachtet werden, und sich auf einen unerforschlichen kategorischen Imperativ gründen soll. Da man in dieser Theorie wegen der vorgeschüzten Unerforschlichkeit sich des Beweises seiner Behauptungen überheben kann, hat man gut, diejenigen welche anders denken, der Empfindelei, und einer affectirten Humanität zu bezüchtigen […]. (GNR I/4 76)

Damit will Fichte keineswegs bestreiten, dass die Wiedervergeltung ein Gerechtigkeitsprinzip ist. In der zweiten Ausgabe seines Versuch[s] einer Kritik aller Offenbarung (1793) sieht Fichte durchaus in der – moralisch – notwendigen Verhältnismäßigkeit zwischen Tugend und Glückseligkeit, d.h. in Gott als dem unendlichen Vernunftwesen, das Fichte als gerecht bezeichnet, einen Beweggrund moralischen Handelns (vgl. Merle 1995). In der Grundlage des Naturrechts behauptet Fichte weiterhin: „Es ist sonach darüber gar kein Streit, ob dem Mörder unrecht geschehe, wenn er das Leben wieder auf eine gewaltsame Weise verlieren muß“ (GNR I/4 77). Fichte betont aber sofort, dass die Fragestellung des Strafrechts die „ganz andere Frage“ sei, woher denn irgend einem Sterblichen das Recht dieser moralischen Weltregierung, das Recht, dem Verbrecher sein Recht anzuthun, kommen solle; und diese lediglich juridische Frage hatte der edle Beccaria im Sinne; welchem ohne Zweifel jenes moralische Urtheil nicht unbekannt war. Wer dem weltlichen Oberherrn dieses Recht zuschreibt, der ist allerdings […] genöthigt, […] alle Regierung für Theokratie zu halten. (ebd.)

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

4.2 Strafrecht als Zwangsrecht In seinen Kapiteln über das Zwangsrecht (§§ 13–16) identifiziert Fichte dieses mit dem durch den Staat ausgeübten Zwangsrecht. Nun ist eine solche Gleichsetzung keinesfalls selbstverständlich, wie ein Vergleich mit Kants Zwangs- bzw. Strafrecht zeigt. Zahlreiche Kant-Interpreten gehen ohne Weiteres davon aus, dass bei Kant das Strafrecht selbstverständlich und direkt zum Zwangsrecht gehört, obwohl Kant dies weder behauptet noch nahegelegt hat. Untersuchen wir zunächst, worin das Zwangsrecht für ihn genau besteht. Das durch den Staat ausgeübte Zwangsrecht wird aus demjenigen Zwangsrecht abgeleitet und deduziert, das jedem Menschen zukommt, sobald sein strenges Recht verletzt wird. Dieses individuelle Zwangsrecht berechtigt den lädierten Menschen, die Freiheit eines Mitmenschen einzuschränken, denn, so Kant, es ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen […]. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, […] mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen [d.h. mit dem Rechtsbegriff] zusammen stimmend, d. i. recht […]. (RL VI 231)

Exemplarisches Beispiel dieses individuellen Zwangsrechts ist das Recht auf Notwehr. Der Staat, dem dieses Recht übertragen wird, verwendet das Äquivalent des individuellen Rechts auf Notwehr, wenn er mit polizeilichen Mitteln die Begehung einer Rechtsverletzung bereits in jenem Moment zu verhindern versucht, in dem die Rechtsverletzung noch bloßer Versuch ist. Der Staat ist auch befugt, ein Zwangsrecht in Form der Nichtigkeits- bzw. der Ungültigkeitserklärung, der Beschlagnahme, des Entzugs einer Erlaubnis (einer Konzession, heute z.B. des Führerscheins usw.) auszuüben. Der Staat verfügt außerdem über ein Zwangsrecht nach der Begehung einer Rechtsverletzung (wie bei der Zwangsrückgabe gestohlener Güter) und bei der gerichtlich verordneten Leistung von Schadenersatz, wo diese möglich ist (bei manchen Rechtsverletzungen – typischerweise beim Mord – ist kein Schadenersatz angemessen). Hier geht es um eine Retribution im engen Sinne. Wo sie überhaupt möglich ist (bei manchen Rechtsverletzungen – wieder typischerweise beim Mord – ist sie schlechthin unmöglich, s.o. Kap. 2.3), erfüllt diese Retribution vollkommen die legitimen individuellen Ansprüche des Opfers einer

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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Rechtsverletzung. Es handelt sich aber auf keinen Fall um eine Strafe. Während Kant das Zwangsrecht gleich in seiner Einleitung in die Rechtslehre (§ D, VI 231) darstellt und jedes Recht mit einem Zwangsrecht verbindet, behandelt er das Strafrecht erst viel später und zwar bloß als ein einzelnes Element des „öffentlichen Rechts“ (VI 331–337). Fichte weicht nicht nur dadurch von Kant ab, dass er das Strafrecht schon bei der Deduktion des Zwangsrechts im Allgemeinen einführt, sondern auch durch seine Definition des Zwangsrechts sowie durch den Zweck, den er demselben zuschreibt. Während sich das kantische Zwangsrecht lediglich einem bestehenden „Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ widersetzt, soll der Zwang laut Fichtes Kapitel über das Zwangsrecht bereits die Entstehung eines solchen Hindernisses – noch vor dem Versuch – verhindern: Wenn es nun so eingerichtet werden könnte, daß aus dem Wollen jedes unrechtmäßigen Zwecks nothwendig, und nach einem stets wirksamen Gesetze, das Gegentheil des beabsichtigten erfolgte, so würde jeder rechtswidrige Wille sich selbst vernichten. […] Es war nothwendig, diesen Saz in seiner ganzen synthetischen Strenge auszustellen, da auf ihn alle Zwangsgesetze, oder Strafgesetze, (die ganze peinliche Gesezgebung) sich gründen. (GNR I/3 426)

Gemäß der jeweiligen Definition des Zwangsrechts, die Kant und Fichte liefern, tritt das Zwangsrecht bei Kant erst bei der Begehung der Rechtsverletzung auf, bei Fichte findet es dagegen grundsätzlich schon bei der Absicht dieser Begehung statt. Fichte sagt deutlich: Die Sicherheit beider [d.h. die Sicherheit von zwei Menschen] soll nicht von einem Zufalle, sondern von einer, der mechanischen gleichenden Nothwendigkeit abhängen, von welcher eine Ausnahme gar nicht möglich sey. Eine solche Sicherheit findet nur unter der Bedingung Statt, daß für beide das Rechtsgesez das unverbrüchliche Gesez ihres Willens sey […]. (GNR I/3 424)

Übrigens ist es bemerkenswert, dass in Kants Rechtfertigung der Strafe die Abschreckung durch Androhung nur in der Passage über das Notrecht (RL VI 235f.) eine explizite Rolle spielt, und auch dort nur auf eine indirekte und negative Weise; bei Fichte erhält die Abschreckung also eine weit größere Bedeutung.

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

4.3 Die Generalprävention ist nicht die echte Rechtfertigung des Strafrechts bei Fichte Fichte spricht in § 20 der Grundlage des Naturrechts – dem eigentlichen Paragraphen über das Strafrecht – nicht mehr von der Androhung der Strafe, sondern von der Strafe selbst,17 was voraussetzt, dass die Abschreckung durch Androhung – zumindest teilweise – gescheitert ist: das Verbrechen hat bereits stattgefunden. Angesichts des anspruchsvollen erklärten Zwecks der generalpräventiven Androhung – „Der böse Wille soll durch die angedrohte Strafe unterdrückt […] werden; […] und dann bedarf es nie der Strafe“ (GNR I/4 60f.) – ist das Scheitern offensichtlich. Der Bestrafung des Verbrechers muss dann entweder die bescheidenere Aufgabe der Generalprävention durch das Exempel zukommen oder sie muss einen anderen Zweck haben. Im ersten Fall und beim Fehlen jegliches anderen Zwecks würde der Verbrecher bloß als Mittel der Generalprävention behandelt, was sich jedoch verbietet (s.o. Kap. 4.1). Man muss also nach einer anderen primären Rechtfertigung der Strafe suchen, welche wiederum die normative Zulässigkeit der Abschreckung durch Androhung – allerdings nicht mehr als primären Zweck der Strafe, sondern nur allenfalls als sekundären Zweck – begründen würde. Wer nun am Anfang von § 20 These („Thesis“) und Antithese („Antithesis“) jener Deduktion näher betrachtet, die zum „Abbüßungsvertrag“ führt, wird bemerken, dass sich erstens in der These kein Hinweis auf die Strafe finden lässt und dass sich zweitens die Antithese nicht mehr auf denselben Begriff des Zwangsrechts bezieht wie das ältere Kapitel über das Zwangsrecht. Die These stellt das Verbrechen als einen Bruch des Bürgergesellschaftsvertrags seitens des Verbrechers dar, welcher sich damit eo ipso von der Gesellschaft ausschließt. Obwohl die Antithese im strengen Sinne – worunter ich den Absatz verstehe, der mit „Antithesis“ Zaczyk (1981, 80) hebt hervor, dass es im Kapitel über das Zwangsrecht „(noch) nicht um Strafrecht i.e.S. geht, sondern zunächst nur um einen ‚Willenszwang‘ im näher zu kennzeichnenden Sinn“. Die Androhung der Strafe hängt dennoch notwendigerweise – also doch nicht in so weitem Sinne – mit der Strafe zusammen. Darin liegt ein Merkmal der fichteschen Theorie, nämlich der Versuch, Strafe als Bestandteil des Zwangsrechts im Allgemeinen statt als eine für besondere Fälle bestimmte und besondere Form des Zwangsrechts aufzufassen. 17

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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beginnt (GNR I/4 59f.), nicht die folgenden, implizit der Synthese gewidmeten Absätze – von „diese[r] Strafe“ im Gegensatz zu „andere[n] Strafen“ (ebd.) spricht, handelt es sich offensichtlich nicht um eine Strafe im rechtlichen Sinne, was deutlich wird, sobald man die Textstelle über das Schicksal des Verbrechers liest, der als unverbesserlich gilt und für welchen es deshalb bei der These, d.h. beim Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft bleibt. Fichte betont: Sein Tod ist gar nicht Strafe, sondern nur Sicherungsmittel. Dies giebt uns die ganze Theorie der Todesstrafen. Der Staat als solcher, als Richter, tödtet nicht, er hebt bloß den Vertrag auf […]. Wenn er hintennach noch tödtet, so geschieht dies nicht durch die richterliche Gewalt, sondern es geschieht durch die Policei. […] Es geschieht nicht zufolge eines positiven Rechtes, sondern aus Noth. (GNR I/4 74)

Die Synthese beginnt inhaltlich mit dem Satz: „Dies könnte nur durch einen Vertrag Aller mit Allen geschehen“ (GNR I/4 60), obwohl sich nach der Überschrift „Antithesis“ bis zum Ende des Kapitels keine Überschrift „Synthesis“ finden lässt. In der Synthese geht es sofort und ausdrücklich um eine Strafe im rechtlichen Sinne. Die „öffentliche Sicherheit“ wird aber nicht mehr durch das Zwangsrecht im Sinne des Kapitels über das Zwangsrecht, d. h. durch ein hundertprozentig wirksames Zwangsrecht in Form der Generalprävention durch Androhung erreicht (GNR I/3 426, s.o. Kap. 4.2). In der Synthese geht es vielmehr einerseits um die Spezialprävention – sowohl durch die Unschädlichmachung 18 des Verbrechers (die Sträflinge leben auf eigenen Inseln) als auch durch die Androhung des endgültigen Ausschlusses von der Rechtsgemeinschaft beim Ausbleiben jeglicher Besserung – und andererseits um die Generalprävention durch das Exempel: Die erste Absicht desselben [d.h. des Strafgesetzes] war die, den Verbrecher vom Verbrechen zurückzuhalten. Da diese Absicht nicht erreicht worden, hat seine Bestrafung eine andere; die, die übrigen Bürger, und ihn selbst für die Zukunft von dem gleichen Vergehen abzuhalten. (GNR I/4 61)

Wenn die Generalprävention – ob durch Androhung oder Exempel – Zweck der Strafe wäre, so wäre sie meistens durch die Aussicht auf einen Tod in der Wüste bzw. durch die Hinrichtung des Verbrechers

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Im neutralen Sinne des englischen Begriffs incapacitation – s.o. Kap. 3.3.

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

ohne Strafprozess besser bedient als durch eine Freiheitsstrafe oder gar durch Zwangsarbeit. Da Fichte die Möglichkeit der Besserung des Verbrechers und seiner Resozialisierung vorsieht, werden die Verbrecher möglicherweise eines Tages entlassen. Jeder Rückfall bedeutet für die von Fichte vorgeschlagene Strafe, dass sie hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit bzw. der Generalprävention durch Androhung oder Exempel weniger wirksam ist als der Ausschluss aus der Gesellschaft, der nach Fichte entweder auf den Tod des Verbrechers in der Wüste oder auf seine Erschießung gleich der eines schädlichen Tieres hinausläuft. Dass die rechtliche Strafe den Ausschluss des Verbrechers von der Rechtsgemeinschaft ersetzt, macht Fichte in der Antithese ausdrücklich davon abhängig, dass die „gegenseitig[e] Sicherheit der Rechte Aller vor Allen“ (GNR I/4 59) damit ebenso gut erreicht wird wie durch den Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft. Aus der Inkaufnahme eines möglichen Rückfalls kann man den Schluss ziehen, dass die öffentliche Sicherheit, welche im Kapitel über das Zwangsrecht noch die hundertprozentige, quasimechanische Verhinderung jedes Verbrechens bereits vor dem Stadium seines Versuchs verlangte, jetzt nur mehr in einem viel relativeren Sinne verstanden wird: die öffentliche Sicherheit mag ein wichtiges Gut sein, sie ist kein absolutes Gut mehr. Wer das Kapitel über das Zwangsrecht näher liest, findet allerdings schon dort eine ähnliche Inkonsistenz. Fichte setzt für die Generalprävention durch Androhung ein Strafmaß fest, das zu diesem Zweck keinesfalls optimal ist: das ius talionis, das dazu bestimmt ist, die Triebfeder des Verbrechers zum Verbrechen aufzuwiegen („das Gegentheil von A.“ – A ist der verbrecherische Zweck –; das „Gegengewicht“: GNR I/3 426f.). In § 20 verweist Fichte ausdrücklich zurück auf § 14, um als „materielle[s] Princip positiver Strafe im Staate“, kurz als Maßstab die „Strafe des gleichen Verlustes, poena talionis“ vorzuschlagen (GNR I/4 61). Fichte untermauert mit keinem Argument – außer dem vagen Bild des Gegengewichts, also des Gleichgewichts der Schalen einer Waage – seine Behauptung, dass sowohl die Generalprävention – ob durch die Androhung oder durch das Exempel – als auch die Spezialprävention am besten mittels des Talionsrechts, also mit einem retributivistischen Strafmaß erreicht würden. Der Streit zwischen den verschiedenen Theorien des Strafrechts beträfe also nur die Begründung der Strafe und nicht ihr Maß.

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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Dennoch hebt Fichte hervor, dass „die Ausschliessung vom Staate das schrecklichste Schicksal“ ist, „welches dem Menschen begegnen kann“ (GNR I/4 68); er lehnt sogar jede Folter vor der Tötung des Verbrechers ab (vgl. GNR I/4 74). Dagegen wäre einzuwenden, dass die nicht richterlich verordnete, also bloß polizeiliche Tötung, die Folter vor dieser Tötung und die Publizität einer solcher Strafe auch in jenen Fällen abschrecken könnten, in denen es dem Talionsrecht nicht gelingt, die verbrecherische Triebfeder zu hemmen. In seiner Antithese erwähnt Fichte selbst, das Talionsrecht sei ein viel milderes Strafmaß als der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft.19 Wenn man nun von Fichtes psychologischer Prämisse ausgeht, dass die Hinderung der verbrecherischen Triebfeder umso stärker ausfällt, je härter eine Strafe ist, dann ergäbe sich daraus, dass der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft präventiv effizienter wäre als das ius talionis. Nichtsdestotrotz lehnt Fichte schließlich den Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft ab. Mehr noch: er versucht nicht einmal zu zeigen, dass dieser Ausschluss nicht doch mit einem Präventionsverlust verbunden wäre. Nur wegen Fichtes unbegründeter und unplausibler Annahme, dass die Generalprävention am besten durch das ius talionis erreicht wird, stehen wir vor einem Paradox: die rechtliche Strafe (die Wiedervergeltung als Talionsrecht), die der Generalprävention durch die Androhung dienen sollte, ist milder als das Fehlen einer rechtlichen Strafe, sprich als die außerrechtliche Strafe bzw. der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft. Wer also die rechtliche Strafe mit dem Fehlen der rechtlichen Strafe vergleicht, dem wird klar, dass die rechtliche Strafe keine Strafe im Sinne der Zufügung eines Schmerzes wegen eines Verbrechens, sondern eine Milderung der außerrechtlichen Strafe bedeutet. Unter diesen Umständen hätte Fichte für die schwächere Antithese argumentieren sollen, nach der die rechtliche

19 Man könnte einwenden, dass die Ausschließung von der Rechtsgemeinschaft der generalpräventiv bestimmten Strafe eine Grenze setzt. Es ist unstrittig, dass die Ausschließung von der Rechtsgemeinschaft meistens weniger schmerzhaft ausfällt als die Folter vor der Tötung. Dennoch bleibt in den meisten Fällen der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft, der zu einem sicheren Tod „in der Wüste“ führt, ein schlechteres Schicksal als das von Fichte vorgeschlagene Strafmaß des Talionsrechts.

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

Strafe trotz ihrer geringeren präventiven Wirkung doch nicht jeder präventiven Wirkung entbehrt, wie es der Fall wäre, wenn der Verbrecher weiterhin den Status eines normalen Bürgers, also Straffreiheit genösse. Mit einer solchen Antithese muss die von Fichte vorgeschlagene rechtliche Strafe einen nicht unbedeutenden präventiven Effekt ausüben. Da diese rechtliche Strafe jedoch keinesfalls die Generalprävention optimiert, kann die Generalprävention unmöglich der primäre Zweck der rechtlichen Strafe sein. Wenn überhaupt, so wäre die Generalprävention eher der primäre Zweck einer außerrechtlichen Strafe (m.E. ist sie nicht einmal dies, denn der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft hat eher einen Grund – der Verbrecher ist eine potentielle Gefahr für die Rechtsgemeinschaft – als einen generalpräventiven Zweck). Insofern dürfte Fichte nicht mehr vom Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft behaupten, dass, da dieser Ausschluss nicht präventiv wirksamer sei als die rechtliche Strafe, „kein Grund“ bestünde, „sie in diesen Fällen einzuführen, aber bis jetzt freilich auch keiner, sie nicht einzuführen. Die Entscheidung hinge ab von der Willkühr“ (GNR I/4 60). Nachdem Fichte auf diese Weise die Gleichwertigkeit der rechtlichen und der außerrechtlichen Strafe unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention angenommen hat, greift er zu einem subsidiären Kriterium, um die genannte „Entscheidung“ nicht der „Willkühr“ zu überlassen. Das subsidiäre Kriterium könnte in der Untersuchung dessen bestehen, was sich unmittelbar aus der Kombination des Rechtsbegriffs mit dem Begriff der Rechtsverletzung ergibt. Das Ergebnis dieser Untersuchung sollte eigentlich nicht bloß ein subsidiäres Kriterium für die Bewertung konkurrierender Vorstellungen vom Strafmaß, sondern die primäre Begründung der Strafe selbst liefern. Auf den ersten Blick lässt sich diese Option aber nicht finden. Nun wäre die logische Folge der im fichteschen Rechtsbegriff enthaltenen gegenseitigen Begrenzung der Freiheiten und der Verletzung dieser Begrenzung die völlige rechtliche Straffreiheit, d.h. der schlichte Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft. Es würde sich primär bloß um die Konsequenz der Rechtsverletzung, d.h. um die Beseitigung der Hinderung des Rechts handeln, und nicht um eine zweckgerichtete Maßnahme, d. h. um die Prävention von Hinderungen des Rechts, die es noch nicht gegeben hat.

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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Stattdessen nimmt Fichte als subsidiäres Kriterium die gegenseitige „Nützlichkeit“ des Verbrechers und des Staates füreinander an. Aus diesem Kriterium ergibt sich, dass der Verbrecher trotz seines Verbrechens weiterhin der Rechtsgemeinschaft angehört. Der Subsidiarität dieses Kriteriums zufolge bleibt die Generalprävention durch Androhung und Exempel im gesamten Text von § 20 der Grundlage des Naturrechts „Hauptzweck“ des Staates (GNR I/4 60); die Resozialisierung stellt nur eine sekundäre Rechtfertigung der Strafe dar. Nun führte Fichte das subsidiäre Kriterium nur wegen seiner falschen Prämisse ein, dass der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft – die außerrechtliche Strafe – und die rechtliche Strafe unter dem Gesichtspunkt der Prävention gleich effizient wären. Weil diese Prämisse falsch ist, muss Fichte de facto und stillschweigend die Generalprävention als Hauptzweck des Strafrechts aufgegeben haben, die den Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft verlangen würde. Allerdings erwähnt Fichte das Prinzip der Generalprävention nicht nur am Anfang, sondern im gesamten Text von § 20. Dennoch argumentiert er nicht zugunsten dieses Prinzips und zieht aus ihm auch keine Konsequenzen für das Strafmaß. Also müssen wir folgende Bilanz ziehen: was Fichte als subsidiäres Kriterium einführt, bildet in Wirklichkeit die einzige echte primäre Rechtfertigung der rechtlichen Strafe in § 20. Es ist nun an der Zeit, diese Rechtfertigung näher zu untersuchen. 4.4 Spezialprävention und Resozialisierung als Rechtfertigung der rechtlichen Strafe Fichte rechtfertigt nur sehr kurz, warum er sich für eine Alternative zum Ausschluss des Verbrechers von der Rechtsgemeinschaft entscheidet. Seine ganze Begründung lässt sich in zwei Zitaten zusammenfassen: Es ist dem Staate eben so viel an der Erhaltung seiner Bürger gelegen, […] als jedem Einzelnen daran liegt, nicht um jedes Vergehens willen für rechtslos erklärt zu werden. (GNR I/4 60) Dieser Vertrag ist ein nüzlicher sowohl für Alle, (das Staatsganze,) als für jeden Einzelnen. Das Ganze erhält dadurch die Aussicht, den Bürger, dessen Nüzlichkeit seine Schädlichkeit überwiegt, zu erhalten, und die Verbindlichkeit, die Abbüßung anzunehmen; der Einzelne das vollkommene Recht, zu fodern, daß man sie statt der verwirkten größern Strafe annehme. (ebd.)

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

Während das Interesse des Staatsbürgers daran, rechtlich statt außerrechtlich bestraft zu werden, leicht nachvollziehbar ist, bedarf die Nützlichkeit des Verbrechers für die Rechtsgemeinschaft zumindest einer Erklärung. Es wäre ein Fehler, in dieser Nützlichkeit ein utilitaristisches Element zu vermuten. Es wäre gleichermaßen falsch zu meinen, dass diese Berufung auf die Nützlichkeit keine rechtliche Begründung darstellte und der Rechtsbegriff durch den Ausschluss des Verbrechers von der Rechtsgemeinschaft nur aus dem Grund unangetastet bliebe, dass die Rechtsgemeinschaft zwischen den anderen, unschuldigen Staatsbürgern fortbestünde. Schon in § 4 beweisen zwei Momente der Deduktion des Rechtsbegriffs, dass für Fichte der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft wegen der Verweigerung gegenseitiger Anerkennung kein endgültiger und absoluter Ausschluss sein kann. Der Ausschluss soll vielmehr auf die Dauer dieser Verweigerung gegenseitiger Anerkennung befristet bleiben. Dies gilt für alle endlichen Vernunftwesen. Betrachten wir nun die genannten zwei Momente. 1. Fichte schreibt: Ich muß auf jene geschehene Anerkennung in jedem Verhältnisse, in das ich mit dem Individuum C. komme, mich berufen, und ihn nach derselben beurtheilen. […] Gesezt, er handelt, so, daß seine Handlung zwar durch die sinnlichen Prädikate der vorhergehenden bestimmt sey, […] nicht aber durch die geschehene Anerkennung meiner, als freies Wesen, d. i. er raubt mir durch sein Handeln die mir zukommende Freiheit, und behandelt mich insoferne als Objekt […]. Ich kann demnach, mit vollkommner Consequenz, die hier mein einziges Gesez ist, ihn für diesen Fall behandeln, als bloßes Sinnenwesen, so lange, bis beides, Sinnlichkeit und Vernünftigkeit in dem Begriffe von seiner Handlung wieder vereinigt ist. (GNR I/3 355f.)

Fichte erläutert seine Position folgendermaßen: ich berufe mich auf ein Gesez, das für uns beide gilt, und wende dasselbe an auf den gegenwärtigen Fall. […] Aber, indem ich mich gegen ihn auf jenes gemeinschaftliche Gesez berufe, lade ich ihn ein, mit mir zugleich zu richten; und fordere, daß er in diesem Falle, mein Verfahren gegen ihn selbst consequent finden und billigen müsse, durch die Denkgesetze gedrungen. […] Dieses Verbindende ist keinesweges das Sittengesez: sondern das Denkgesez; und es tritt hier ein eine praktische Gültigkeit des Syllogismus. (GNR I/3 356)

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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In den darauf folgenden Zeilen (Überschrift „C.“) universalisiert Fichte diese Forderung eines konsequenten Verhaltens: sie gilt für das Verhältnis zu jedem Individuum. 2. In § 4 versucht Fichte im Allgemeinen zu zeigen, was seine Überschriften bereits deutlich formulieren: „I.) Ich kann einem bestimmten Vernunftwesen nur insofern anmuthen, mich für ein vernünftiges Wesen anzuerkennen, inwiefern ich selbst es als ein solches behandle“ (GNR I/3 352). „II.) Aber ich muß allen vernünftigen Wesen ausser mir, in allen möglichen Fällen anmuthen, mich für ein vernünftiges Wesen anzuerkennen“ (ebd. 353). „III.) […] Ich muß das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d.h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken“ (ebd. 358). Hier sei dahingestellt, warum nach Fichte die Erfüllung dieser Forderungen die Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewusstseins bei endlichen Vernunftwesen darstellt; noch weniger werde ich hier auf die Frage eingehen, ob Fichte damit recht hat. Hier muss ich nur feststellen, dass nach Fichte die Forderung, jedes endliche Vernunftwesen solle der Rechtsgemeinschaft angehören und als deren Mitglied behandelt werden, Bestandteil des Rechtsbegriffs ist, so dass die Entscheidung darüber, wer der Rechtsgemeinschaft angehört, auch der Rechtsgemeinschaft selbst nicht zur Disposition steht. Die „Denkgesetze“ selbst verlangen, dass jedes endliche Vernunftwesen als Mitglied der Rechtsgemeinschaft anerkannt wird, solange es die anderen Vernunftwesen anerkennt und dementsprechend handelt bzw. sobald es wieder dazu bereit ist, nachdem es den anderen diese Anerkennung eine Weile verweigert hat. So macht Fichte in § 4 deutlich, dass der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft nicht endgültig sein kann. Er ist bloß eine Suspendierung, die nur solange dauert, bis der Anerkennungsverweigerer die anderen erneut anerkennt. Daraus erhellt, dass Fichtes Verwendung des Wortes ‚Nützlichkeit‘ ganz und gar nicht utilitaristisch gemeint ist. Fichtes Hintergrund ist weder die schottische Schule noch der Utilitarismus des achtzehnten Jahrhunderts, sondern das neuzeitliche Naturrecht, das sich mehr von Cicero als von Aristoteles inspirieren ließ. Nach Cicero lässt sich diejenige Nützlichkeit (utilitas), die keine bloß scheinbare Nützlichkeit ist, nicht anders definieren denn als das, was zum Recht im Sinne einer gerechten Gemeinschaftsordnung

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

beiträgt.20 Fichtes folgende Erläuterung sollte anhand dieser Definition von Nützlichkeit gelesen werden: Dieser Vertrag ist ein nüzlicher sowohl für Alle, (das Staatsganze,) als für jeden Einzelnen. Das Ganze erhält dadurch die Aussicht, den Bürger, dessen Nüzlichkeit seine Schädlichkeit überwiegt, zu erhalten […]. (GNR I/4 60)

Die Nützlichkeit für den Staat und den Bürger besteht darin, dass die Strafe zum Gerechten, d.h. zur Errichtung der Rechtsordnung beiträgt. Wenn Rechts- und Naturzustand eine Dichotomie ohne Drittes ausmachen, was sowohl bei Kant als auch bei Fichte der Fall ist, dann stellt das Verbrechen einen Übergang vom Rechts- zum Naturzustand zwischen dem Verbrecher und den anderen Menschen dar. Rechtsbegriff und Nützlichkeit fordern aber, dass alle Menschen der Rechtsgemeinschaft angehören. Die Nützlichkeit der rechtlichen Strafe (im doppelten Sinne des Wortes ‚Nützlichkeit‘: im antiken und im modernen Sinne) besteht also darin, den Rechtszustand zwischen dem Verbrecher und der Gemeinschaft wiederherzustellen, und zwar möglichst schnell. Der Rechtsbegriff fordert gleichzeitig die Suspen-

Vgl. z.B. Cicero, De officiis II ii 9f.: „Das aber, was wir jetzt behandeln, ist genau das, was das Nützliche genannt wird. Bei diesem Wort ist der Sprachgebrauch gestrauchelt, vom Weg abgekommen und allmählich dahin geraten, dass er, indem er das Sittliche vom Nützlichen trennte, die Behauptung aufstellte, sittlich sei etwas, was nicht nützlich, und nützlich, was nicht sittlich sei – kein größeres Unglück als dies konnte dem menschlichen Leben angetan werden! […] Was immer nämlich gerecht ist, das schätzen sie [die Philosophen] auch als nützlich, ebenso was sittlich ist zugleich als gerecht, woraus sich ergibt, dass, was immer sittlich ist, zugleich nützlich ist. Diejenigen, die dies zu wenig durchschauen, halten, weil sie oft verschlagene und durchtriebene Menschen bewundern, Tücke für Weisheit. Den Irrtum dieser Leute muss man herausreißen und diese ganze (Irr-) Meinung in die Hoffnung überführen, dass sie begreifen, dass sie durch sittliche Absichten und gerechte Taten – nicht durch Betrug und Tücke – das, was sie wollen, erreichen können.“ – Im Original: „Hoc autem de quo nunc agimus, id ipsum est, quod utile appellatur. In quo verbo lapsa consuetudo deflexit de via sensimque eo deducta est, ut honestatem ab utilitate secernens constitueret esse honestum aliquid, quod utile non esset, et utile, quod non honestum, qua nulla pernicies maior hominum vitae potuit afferri. […] quicquid enim iustum sit, id etiam utile esse censent, itemque quod honestum, idem iustum, ex quo efficitur, ut, quicquid honestum sit, idem sit utile. Quod qui parum perspiciunt, ii saepe versutos homines et callidos admirantes, malitiam sapientiam iudicant. Quorum error eripiendus est opinioque omnis ad eam spem traducenda, ut honestis consiliis iustisque factis, non fraude et malitia, se intelligant ea, quae velint, consequi posse.“ 20

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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dierung und die baldmöglichste Resozialisierung des Verbrechers als Mitglied der Rechtsgemeinschaft, vorausgesetzt, dass er wieder genauso wie andere zur Einhaltung der Gesetze fähig ist. Darum verlässt Fichte das ius talionis, das er zunächst als Strafmaß angesetzt hatte, bald zugunsten von Spezialprävention und Besserungstheorie. Am Anfang von § 20 spricht Fichte noch von der „Strafe des gleichen Verlustes, poena talionis“ (GNR I/4 61). Vier Seiten weiter sagt Fichte vom Verbrecher: „Er muß seine Freiheit verlieren, bis man seiner Besserung sicher ist, oder ohne Barmherzigkeit ausgeschlossen werden“ (GNR I/4 65). Wiederum fünf Seiten weiter präzisiert Fichte: Diese Besserungsanstalten nun müssen nur auch zweckmäßig eingerichtet seyn. Zuförderst, von der Gesellschaft wirklich abgeschieden; nach dem Geiste des Gesetzes [Spezialprävention durch Unfähigmachung (incapacitation)]. Für allen Schaden, den diese aus der Gesellschaft vorläufig ausgeschlossenen anrichten, hat der Staat schwere Verantwortung. Also, sie haben insofern ihre Freiheit völlig verloren. Aber wer sich bessern soll, muß frei seyn: und über wessen Besserung man urtheilen soll, der muß gleichfalls frei seyn. Es ist also eine Hauptmaxime: diese Menschen müssen innerhalb der nothwendigen Begrenzung frei seyn, und unter sich in Gesellschaft leben. (GNR I/4 70)

Von der „Thesis“ bleibt also der Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft übrig, der aber nur noch ein vorläufiger ist; von der „Antithesis“ bleibt die Zugehörigkeit des Verbrechers zur Rechtsgemeinschaft übrig, die aber vorläufig suspendiert wird und erst nach seiner Besserung wieder voll in Kraft tritt. Die Synthese ist der „Abbüßungsvertrag“. Der Abbüßungsvertrag besteht darin, dem verurteilten Verbrecher die Chance anzubieten, dem Ausschluss von der Rechtsgemeinschaft und dem Status eines „vogelfreien“ Menschen zu entgehen, der wie ein wildes schädliches Tier frei abgeschossen werden darf. Statt des Ausschlusses kann sich der Verbrecher für eine Strafe entscheiden, die er im Gefängnis bzw. auf einer Insel mit anderen Sträflingen verbringt. Je nach seinem Verhalten in diesem Straflager wird er dann nach einer bestimmten Zeit entweder wieder in die Rechtsgemeinschaft aufgenommen oder endgültig aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen (vgl. GNR I/4 71). Was sich schließlich als Fichtes Begründung des Strafrechts (Spezialprävention und Resozialisierung) erweist, übernimmt zwei wesent-

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

liche Elemente von Kants Rechtsphilosophie. Erstens: Die Entscheidung darüber, wer der Rechtsgemeinschaft angehören soll, steht der Rechtsgemeinschaft nicht zur Disposition, denn jeder Mensch soll einer Rechtsgemeinschaft angehören. Zweitens: Der Rechtszustand soll auf dem kürzestmöglichen Weg errichtet werden; Abweichungen sind nur auf diesem Weg erlaubt – und geboten (Kants ,Erlaubnisgesetz‘, vgl. dazu oben Kap. 2.4 und Brandt 1982). 4.5 Ist der Umweg über die Generalprävention nötig? Natürlich kann gegen meine Auslegung von § 20 der Einwand erhoben werde, Fichte habe in diesem gesamten Paragraphen nirgendwo ausdrücklich auf die Begründung des Strafrechts mit der Prävention durch Androhung verzichtet. Dennoch verlässt Fichte im Laufe von § 20 die Generalprävention und das Talionsrecht; am Ende bestimmt die Besserung des Verbrechers – und nicht das ius talionis – das Datum seiner Entlassung. Dies bedeutet auch, dass die Strafe manchmal härter sein soll, als die Wiedervergeltung fordern würde: Es würde sehr zweckmäßig sein, wenn der Verbrecher sich selbst, nach Maasgabe seiner Verdorbenheit, die Zeit bestimmen dürfte, binnen welcher er gebessert seyn wollte; doch mit dem Vorbehalte, daß es ihm etwa späterhin frei stünde, sie nach einem gewissen Maasstabe zu verlängern. Allen aber muß nach Befinden der Umstände ein peremptorischer Termin der Besserung gesezt seyn. (GNR I/4 71)

Nach Ablauf dieses Termins soll der Verbrecher entweder – im Falle seiner Besserung – wieder in die Rechtsgemeinschaft aufgenommen oder – im Falle, dass er sich nicht gebessert hat – endgültig von ihr ausgeschlossen werden.21 Aufgrund des Vorkommens mehrerer Begründungen des Strafrechts bei Fichte, die einander als primäre Begründungen ausschließen und auch nicht in einer Mischtheorie kombiniert werden können, da sie auf unterschiedliche Vorstellungen vom Strafmaß führen, muss man entweder Fichtes Strafrecht für hoffnungslos widersprüchlich erkläHier scheint mir Fichte seiner Prämisse und seiner „Antithesis“ zu widersprechen, nach welcher jedem Menschen die rechtliche Strafe angeboten werden soll, vorausgesetzt dass dies keine Gefährdung – etwa für die Gefängniswächter – darstellt. Nun ist nicht auszuschließen, dass ein Verbrecher nach langer Zeit noch nicht gebessert ist, ohne dass es jedoch eo ipso ein zusätzliches Sicherheitsproblem darstellt, wenn er weiterhin in der „Besserungsanstalt“ bleibt. 21

4. Fichtes „Abbüßungsvertrag“

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ren oder die einzelnen Argumente sowie deren Rolle und Bedeutung in der Grundlage des Naturrechts im Detail untersuchen und zu einer Gewichtung kommen. Angesichts dieser Sachlage hat meine Argumentation gezeigt, dass einerseits, wenn wir nicht die offensichtlich falsche Prämisse annehmen wollen, rechtliche und außerrechtliche Strafe wirkten gleichermaßen präventiv, als primäre Begründung des Strafrechts nur noch Fichtes Argument für die Spezialprävention durch Unfähigmachung (incapacitation) oder Resozialisierung des Verbrechers übrig bleibt, und andererseits allein dieses Argument dem Strafmaß entspricht, das Fichte am Ende von § 20, also endgültig übernimmt. Darum bin ich der Ansicht, dass Fichte – zugegebenermaßen erst nach langem Hin und Her – das Strafrecht mit der Spezialprävention und der Resozialisierung begründet. Selbstverständlich übt die rechtliche Strafe eine präventive Wirkung aus, indem sie im Gesetz öffentlich verkündet (Generalprävention durch Androhung) und ihre Vollstreckung nicht geheimgehalten wird (Generalprävention durch das Exempel). Diese Wirkung trägt gewiss zur öffentlichen Sicherheit bei und ist darum für die Rechtsgemeinschaft durchaus willkommen. Dennoch sind Androhung und öffentliche Vollstreckung der Strafe nur dann zulässig, wenn die Zufügung der Strafe selbst gerechtfertigt ist. Denn die Strafe geht über die im Rechtsbegriff enthaltene gegenseitige Beschränkung der Freiheiten hinaus. Wenn die Generalprävention durch Androhung hundertprozentig erfolgreich wäre und die Strafe eo ipso nie vollstreckt werden müsste, wie Fichte im Kapitel über das Zwangsrecht wünscht, so müsste die Zufügung der Strafe nie gerechtfertigt werden; dann wäre aber der ganze Paragraph 20 der Grundlage überflüssig. Das Kapitel über das Zwangsrecht sah eindeutig eine hundertprozentig wirksame Generalprävention durch die Androhung vor: „Die Sicherheit“ zweier beliebiger Menschen soll nicht von einem Zufalle, sondern von einer, der mechanischen gleichenden, Nothwendigkeit abhängen, von welcher eine Ausnahme gar nicht möglich sey. Eine solche Sicherheit findet nur unter der Bedingung Statt, daß für beide das Rechtsgesez das unverbrüchliche Gesez ihres Willens sey […]. (GNR I/3 424)

Richtig ist, dass das Rechtsgesetz normativ unantastbar sein sollte. Dagegen ist die menschliche Freiheit im Sinne von Willkür potentiell

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

unendlich; sie ist immer fähig, Grenzen – und zwar auch normativ unantastbare Grenzen – zu übertreten. Allein Naturgesetze können nicht verletzt werden. Der Zwang ist sicherlich ein wirksames, dennoch kein hundertprozentig wirksames Mittel zur Erreichung öffentlicher Sicherheit. Wie Hegel später schreiben wird, kann „nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will“ (GPhR § 91). Manche Täter nehmen bei der Begehung eines Verbrechens die Strafe in Kauf, auch wenn sie dies später aus Angst bereuen und sich bewusst werden mögen, dass die Strafe doch ein zu hoher Preis war. Deshalb bedarf nicht nur – und auch nicht in erster Linie – die Androhung der Strafe, sondern ihre Zufügung selbst der Rechtfertigung. Hegel gelangt zu ähnlichen strafrechtlichen Einzelbestimmungen wie Fichte, ohne des Umwegs über die Generalprävention und deren Mängel zu bedürfen. Hegel geht außerdem von der notwendigen Geltung des Rechts aus und braucht also das Experiment des Ausschlusses aus der Rechtsgemeinschaft nicht. Insoweit bietet Hegel eine systematisch stringentere Darstellung der gleichen Ansicht über das Strafrecht, wie ich im Folgenden zu zeigen versuchen werde.22 Einen aufschlussreichen Vergleich zu den Konzeptionen Fichtes und Hegels bietet die zeitlich zwischen ihnen auf ähnlichen kantisch-idealistischen Grundlagen entstandene Rechtsphilosophie Karl Christian Friedrich Krauses (1781– 1832). Zwar erschienen von Krauses eigener Grundlage des Naturrechts nur die erste (1803) sowie postum die zweite (1890) Abteilung mit dem Weltbürgerrecht, das geplante Staatsrecht und damit das Strafrecht blieb in den Vorarbeiten stecken (vgl. Forster 2000, 210–216). Doch schon Krauses Habilitation von 1802, die er 1805 ins Deutsche übersetzte und kommentierte (Abhandlung über die Idee und die Eintheilung der Philosophie und der Mathematik und den innigen Zusammenhang beider), gibt eine aufschlussreiche Skizze der Rechtsphilosophie. Das Strafrecht soll Krause zufolge bewirken, dass dem Bürger die Befolgung des Gesetzes nützlicher erscheint als die Befolgung seiner Triebe (ebd. 34 f.); in einer Fußnote – wohl von 1805 – präzisiert er dies: die Strafe ziele „vorzüglich darauf, dass der Verbrecher gründlich und auf eine vernünftige Weise bürgerlich gebessert, und dass er auch durch die Strafe nicht in einem anderweitigen Rechtsbesitze gestört werde“ (ebd. Fußnote). Krause geht bei der Bestimmung der Strafe bemerkenswerterweise von den unverlierbaren Rechten des Täters aus, die als „Formel“ „zugleich die Grenze der Strafe“ angeben (ebd. 35). Krause setzt sich damit deutlich vom Retributivismus ab. Wie die erschienenen Teile seiner Grundlage des Naturrechts (1. Abt., S. 237f.) sowie briefliche Hinweise zeigen, leitete Krause aus diesem Ansatz u.a. die absolute Unverletzlichkeit des Körpers und damit ein Verbot der Todes- sowie aller Leibesstrafen ab (vgl. Forster 2000, 108f.; 303). Wie 22

5. Hegels präventive Negation des Verbrechens

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5. Hegels präventive Negation des Verbrechens und die untergeordnete Funktion des Retributivismus 5.1 Die umstrittene Klassifizierung der hegelschen Straftheorie Anders als in der Sekundärliteratur über Kants Strafrecht, das lange Zeit als Vorbild aller retributivistischen bzw. absolutistischen Theorien des Strafrechts galt, hat die Abweichung von der überlieferten – und oft für selbstverständlich gehaltenen 23 – retributivistischen Lesart bei den Interpreten von Hegels Strafrecht schon Tradition. Während die Interpretation von Kants Strafrecht als eine sog. Mischtheorie erst in den letzten zwei Jahrzehnten entstand (s.o. Kap. 2.1), wurde Hegels Strafrecht schon früh mit Köstlin (1845; vgl. Piontkowski 1960, 199) als Mischtheorie, mit dem britischen Neuhegelianismus von Bosanquet (1899) als Präventionstheorie und mit McTaggart (1918 Kap. V) als Besserungstheorie angesehen. Allerdings hat sich letztere Lesart nicht durchgesetzt. Noch heute streitet man aber darüber, ob Hegel ein Retributivist ist,24 ob er eventuell auch general- bzw. spezialpräventive Elemente übernimmt 25 oder ob er doch nur ein reiner Präventionstheoretiker ist.26 Genau wie in der Kant-Forschung herrschen z. Z. auch in der HegelForschung die Mischtheorien vor. Manche der besten Interpreten, z. B. Wood und Mohr, kombinieren die retributivistische mit der präventiven Interpretation. Nach Mohr (1997, 95) liefert Hegels in einigen anderen Bereichen (etwa in der Ehelehre: Grundlage des Naturrechts, 1. Abt., S. 169–171) kommt der schwärmerische Krause so in seinen Konsequenzen ironischerweise den zu erwartenden Resultaten einer liberalen Interpretation des kantisch-idealistischen Rechtsbegriffes tlw. näher als die berühmteren Denker (vgl. den Überblick bei Landau 1985). 23 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung Teil I § 62, S. 474ff.; vgl. heutzutage etwa Klug 1968; Roxin 1973, 2; Hassemer 1990, 283f.; Wolf 1992, 50; Höffe 2004, 79. 24 Vgl. besonders Tunick 1992, daneben u. a. Flechtheim 1963, 13; Flechtheim 1968, 542; Stillman 1976, 173; Primorac 1980, 193; Primoratz 1986, 53; Seelmann 1993, 228–236; Seelmann 1993a, 315–326; Kaufmann 1996, 308; Kervégan 1998, 180f.; Höffe 2001, 79. 25 Vgl. u.a. Honderich 1969 Kap. 1.6; Schild 1984, 71–112; Wood 1990, 110; Kaufmann 1996, 311. 26 Vgl. u. a. Benn 1958, 321–341; Quinton 1969, 55–64.

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

Straftheorie „eine damals neuartige Begründung für die bis dahin argumentativ eher schlechte Vergeltungstheorie“. Mohr zufolge gelingt dies Hegel aber dadurch, dass er „der Strafe als ihrem immanenten Zweck die Aufgabe einer positiven Generalprävention“ zuweist (ebd. 109). Gleichermaßen behauptet Wood (1990, 109) zunächst: „Hegel ist ein echter Retributivist. Hegel verwirft als ‚oberflächlich‘ alle Theorien, welche die Strafe durch das Gute zu rechtfertigen versuchen, das sich angeblich aus ihr ergibt.“ 27 Auf der nächsten Seite stellt Wood fest: „Aber die Absicht des Staates, die Geltung des Rechts gegenüber dem Unrecht wiederherzustellen, scheint keine Absicht der Gerechtigkeit zu sein, sondern die Absicht, einen guten Zweck, nämlich die öffentliche Anerkennung der Geltung des Rechts zu befördern.“ 28 Wood fragt: „Warum ist es für den Staat so wichtig, die Geltung des Rechts zu behaupten, seine Missbilligung des Verbrechens auszudrücken? Hat er einen anderen Grund, dies zu tun, als die Verfolgung eines konsequentialistischen Zwecks, etwa den der Verhütung künftiger Verbrechen […]?“ 29 Indes unterstreichen gerade die genannten Interpreten, dass Hegel für den Retributivismus überzeugender argumentiere als Kant. Nach Mohr (1997, 121) ist „gegenüber der Kantischen Vergeltungstheorie […] die Straftheorie Hegels die argumentativ besser ausgeführte Fundierung dieses Theorietyps“. Wood (1990, 109) sagt von Hegels Straftheorie: „Diese Position stimmt mit Kant überein, dessen Bekenntnis zum Retributivismus klar ist, den er aber bestenfalls ansatzweise verteidigt“.30 Genauso wie für Kants Strafrecht liegt auch für Hegels Strafrecht eine Mischtheorie der Strafe nahe, die jedem Argument einen Teil der Rechtfertigungsaufgabe zuschreibt. So will Mohr (1997, 122) die VerIm Original: “Hegel is a genuine retributivist. He rejects as ‘superficial’ all theories that try to justify punishment by the ‘good’ which is supposed to come of it.” 28 Im Original: “But the state’s intention to reassert the validity of right in the face of wrong looks like an intention not to do justice as such, but to promote a good end, namely the public recognition of the validity of right.” 29 Im Original: “Why it is important for the state to assert the validity of right, to express its disapproval of crime? Is there any reason for it to do this apart from its devotion to such consequentialist ends as preventing future crimes and reassuring people that their rights are being protected?” 30 Im Original: “This position agrees with Kant, whose commitment to retributivism is clear, but whose defense of it remains at best embryonic.” 27

5. Hegels präventive Negation des Verbrechens

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dienste des hegelschen Strafrechts um „ein theoretisches Instrumentarium“ anerkennen, „das den heutigen Ansprüchen an eine Vereinigungstheorie gewinnbringend zuarbeitet“. Genau wie die heute vorherrschende Kant-Interpretation sieht Mohr auch bei Hegel eine Mischtheorie der Strafe: Legt man alle relevanten Stellen aus den Grundlinien der Interpretation von Hegels Straftheorie zugrunde, so ergibt sich das differenzierte Bild einer modernen ‚Vereinigungstheorie‘, die zwischen der nur vergeltungstheoretisch zu begründenden Gerechtigkeit der Strafe als Institution und der präventionstheoretisch zu spezifizierenden Gerechtigkeit des Strafmaßes unterscheidet. (MOHR 1997, 119)

Nach Mohrs Interpretation gestaltet sich das Verhältnis von vergeltungs- und präventionstheoretischem Argument bei Hegel freilich gerade umgekehrt wie bei Kant. Gemäß der mischtheoretischen Interpretation rechtfertigt bei Kant die Präventionstheorie die Strafe als Institution und die Vergeltungstheorie das Strafmaß. Lesch dagegen sieht bei Hegel das gleiche Verhältnis beider Elemente der Mischtheorie wie bei Kant (Lesch 1999, 97). Die mischtheoretischen Interpretationen von Hegels Begründung des Strafrechts entsprechen allerdings dem Argumentationsgang in Hegels Text nur indirekt. Die Verbindung von präventions- und vergeltungstheoretischem Argument, die eine solche Mischtheorie zu bieten hat, betrifft nämlich nicht die Beziehung der Argumente aus dem „abstrakten Recht“ (GPhR, 1. Teil) zum Argument aus der „Sittlichkeit“ (GPhR, 2. Teil). Die interne Beziehung der einzelnen Argumente aus dem „abstrakten Recht“ zueinander bleibt vielmehr unberücksichtigt. 5.2 Die Pluralität der Textstellen und die Thesen einer Doppelrechtfertigung Dass die Interpretationen von Hegels Strafrecht derart gegensätzlich sein können und manche Interpreten zwischen mehreren Interpretationen zu schwanken scheinen, mag erstaunen. Diese verschiedenen Interpretationen beziehen sich aber auf ebenso verschiedene Textstellen seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Nicht nur im „abstrakten Recht“ unter dem Titel „C. Zwang und Verbrechen“ (§§ 90–103), sondern auch in der „Sittlichkeit“ unter der

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

Überschrift „B. Die Rechtspflege“ und jeweils unter den untergeordneten Überschriften „b. Das Dasein des Gesetzes“ und „c. Das Gericht“ (d. h. in § 218 bzw. § 220) lassen sich Elemente der hegelschen Straftheorie finden. Die präventionstheoretischen Interpretationen Hegels stützen sich oft auf die „Sittlichkeit“, während die retributivistischen Interpretationen § 218 und § 220 entweder schlicht vergessen oder für unwichtig erklären. Die letztgenannten Interpretationen stufen diese Paragraphen zumeist als bloßen Hinweis darauf ein, dass die Strafe an die jeweilige Situation der Gesellschaft angepasst werden muss, ohne dass die Begründung der Strafe und das ihr Maß bestimmende Prinzip durch §§ 218–220 berührt würden. 5.2.1 Eine objektive und eine subjektive Rechtfertigung der Strafe?

Jenen Interpretationen, welche §§ 218–220 ignorieren bzw. vernachlässigen wollen, steht aber auf der Gegenseite eine Überschätzung des zweiten Teils der Grundlinien der Philosophie des Rechts („Die Moralität“) gegenüber. In der „Moralität“ finden sich zwar Elemente, die eindeutig mit dem Verbrechen zu tun haben, vor allem der Abschnitt „Der Vorsatz und die Schuld“. Dennoch lässt sich im Teil über die „Moralität“ nur dreimal das Wort ‚Strafe‘ finden, zudem weder im Haupttext noch in den „Anmerkungen“, sondern im „addendum“, und auch dort nur in einer Nebenbemerkung. Die Strafe wird nur im Teil des Rechts als des „Allgemeinen“ bzw. des Rechts „an sich“ und im Teil der „subjektive[n] Gesinnung, aber des an sich seienden Rechts“ (Anm. zu § 141) verhandelt. Die Strafe gehört klarerweise zur objektiven Seite der Idee des Rechts. Viele Interpreten versuchen jedoch in der Passage aus dem „abstrakten Recht“ eine doppelte Argumentation – und zwar zugunsten des Retributivismus – nachzuweisen: eine objektive und eine subjektive. Am deutlichsten wird diese Doppelargumentation von Flechtheim (1963, 1968, 1975) und Primorac bzw. Primoratz (1980, 1986), in einer abweichenden Form durch Seelmann dargestellt (Seelmann 1993, 1993a). Flechtheim unterscheidet eine „objektive Rechtfertigung“ von einer „subjektiven Rechtfertigung“. Denn „die objektive Legitimierung der Strafe erscheint Hegel […] als noch nicht ausreichend. Er will nachweisen, daß der Verbrecher auch subjektiv durch die Straftat in die Bestrafung einwilligt“ (Flechtheim 1963, 17f.).

5. Hegels präventive Negation des Verbrechens

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Zur objektiven Rechtfertigung gehört ein Argument, das sich „auf die Natur des Verbrechens und auf das dadurch verletzte Gesetz“ (Primoratz 1986, 39) bezieht. Flechtheim betont: „Schon in den theologischen Jugendschriften liegt Hegels Deduktion das Axiom zugrunde, daß der Zusammenhang von Tat und Strafe unzerreißbar ist; daß die Tat die Strafe bereits in sich birgt und daß die Strafe der Tat notwendig folgt“ (Flechtheim 1963, 12). Ich werde diese These die These der Negation der Negation nennen. Sie soll Flechtheim zufolge in § 93 formuliert sein, wo Hegel sagt: Der Zwang [sprich die Gewalt] hat davon, daß er sich in seinem Begriffe zerstört, die reelle Darstellung darin, daß Zwang durch Zwang aufgehoben wird; er ist daher nicht nur bedingt rechtlich, sondern notwendig – nämlich als zweiter Zwang, der ein Aufheben eines ersten Zwanges ist. (GPhR § 93)

In § 99 setzt Hegel „das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde“, mit der „Wiederherstellung des Rechts“ gleich. Flechtheim (1963, 13) identifiziert sie ausdrücklich mit der klassischen These der Wiedervergeltung, die in § 101 erörtert wird. Nach Flechtheims Interpretation bildet die klassische retributivistische These das Bindeglied zwischen der objektiven und der subjektiven Rechtfertigung. Denn anders als das Recht an sich bezieht sich das Prinzip der Wiedervergeltung nicht auf die gesamte Rechtsordnung, sondern auf das Individuum und auf seine individuelle Tat. Zur subjektiven Rechtfertigung gehört ein Argument, das sich auf das Verhältnis der Strafe zum „empirischen Willen des Verbrechers“ bezieht. Flechtheim sieht die subjektive Rechtfertigung vornehmlich in § 100, den er auf folgende Weise interpretiert: Dem Verbrechen als der Handlung eines vernünftigen Wesens ist angeblich immanent, daß es etwas Allgemeines ist und ein Gesetz aufstellt, das der Rechtsbrecher in seiner Tat als für ihn selbst gültig anerkennt und unter das er also als unter sein eigenes Recht subsumiert werden darf. Daß seine Handlung so angesehen wird, als wenn sie selbst die Strafe als ihr eigenes Recht beansprucht, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt. (FLECHTHEIM 1963, 17)

Flechtheim kommentiert: Aus dieser Auffassung des Delikts ergibt sich für Hegel die Bedeutung, die er dem Geständnis und dem Schwurgericht beimißt. Wenn der Täter, nicht nur insoweit er Personifikation des objektiven Vernunftwillens ist, sondern

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

darüber hinaus auch als Erscheinung seines subjektiven Sonderwillens in seine Bestrafung einwilligt, so erübrigt sich eigentlich jedes Gericht und jedes Verfahren, da der Verbrecher selbst sein eigenes Urteil fällen kann. Aber sogar Hegel wagt nicht, die Realität im Sinne dieser ‚Idee‘ auszulegen, und begnügt sich mit der Forderung, daß „das, was die Richter sprechen, im Bewußtsein nicht verschieden sei“ von dem subjektiven Selbstbewußtsein des Täters. (ebd. 18)

Was Flechtheim ohne Angabe der Quelle zitiert, stammt allerdings aus dem Zusatz zu § 227, in dem es sich ausdrücklich um das Eingeständnis des Tatbestands handelt – also nicht um die Einwilligung des Verbrechers in das Strafgesetz, wie Flechtheim annimmt. Bei Flechtheim wird § 101 sodann als Präzisierung von § 100 gesehen. Der Verbrecher solle das Gesetz der Wiedervergeltung anerkannt haben. Das heißt, er solle anerkennen, dass er „Strafe verdiene“ und dass „dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan hat“ (GPhR § 101 Anm.). Diese These wird im Prinzip der „Gleichheit“ zwischen Verbrechen und Strafe umgesetzt. Dieses Prinzip wiederum wird nicht als „spezifisch[e] Gleichheit“, sondern als Gleichheit „nach ihrem Werte“ präzisiert (ebd.). Allerdings bleibt unklar, warum die Strafe einer solchen Doppelrechtfertigung bedürfen soll. Der Zusammenhang bei Flechtheim legt nahe, dass diese Doppelrechtfertigung dazu bestimmt ist, die Versöhnung des Verbrechers mit der Gesellschaft zustande zu bringen. Es erhebt sich aber ein offenbarer Einwand gegen diese Begründung der Doppelrechtfertigung. Versöhnung war zwar das Ziel von Hegels Jugendschriften. Die Strafe wurde damals allerdings als etwas angesehen, das dem Verbrecher als Menschen fremd gegenüberstand. Denn sie war nichts Subjektives, sondern nur Objektives. Um etwas Objektives geht es auch von vornherein unter dem Titel „C. Zwang und Verbrechen“: um die Aufhebung des Verbrechens und um die Wiederherstellung des Rechts. Wenn Hegel schreibt: „Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht [objektive Seite] […], sondern sie ist auch ein Recht an den Verbrecher selbst, d.i. in seinem daseienden Willen, in seiner Handlung gesetzt [subjektive Seite]“ (GPhR § 100), so impliziert dies weder erstens, dass dieser subjektive Aspekt als Ergänzung zur objektiven Rechtfertigung für die Rechtfertigung der Strafe nötig wäre, noch zweitens, dass der Verbrecher in das Strafgesetz einwilligen müsste, damit die Strafe legitim würde. Hegels Formulierung in § 100 lässt durchaus zu, dass der Ver-

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brecher erst nach Verhängung und Verbüßung der Strafe einsieht, dass seine Tat die Strafe implizieren musste, obwohl die Tat die Strafe an sich schon beim Begehen der Tat implizierte. In einem solchen Fall wäre die Einwilligung des Verbrechers – anders als die Aufhebung des Verbrechens bzw. die Wiederherstellung des Rechts – keine (normative) Voraussetzung, sondern eine Folge der Strafe. Dies soll selbstverständlich nicht bedeuten, dass die subjektive Einsicht des Verbrechers in die Rechtfertigung seiner Strafe keinen systematischen Ort in den Grundlinien der Philosophie des Rechts hätte. Offensichtlich ermöglicht der Prozess, durch welchen der Verbrecher die Notwendigkeit des Strafgesetzes einsieht, den „Übergang vom Recht in Moralität“ (vgl. GPhR § 104). Im Teil über die Moralität, welche ja die „fortgebildete innere Begriffsbestimmtheit des Willens“ darstellt, ist von Strafe thematisch nicht die Rede, das Wort ‚Strafe‘ selbst erscheint sogar so gut wie nie.31 Erst im Teil über die „Sittlichkeit“ (genauer in GPhR §§ 218 und 220), welche den Gegensatz zwischen dem allgemeinen Willen an sich und dem allgemeinen Willen für sich aufhebt, wird die Strafe nochmals besprochen, diesmal unter den Aspekten der Gefährlichkeit als des Kriteriums der Strafe sowie der rechtlichen Strafe als Gegensatz zur privaten Rache. Die Paragraphen 218 und 220 erheben aber offenbar nicht den Anspruch, zur Rechtfertigung der Existenz von Strafe beizutragen. Insoweit liegt die Rechtfertigung der Strafe ausschließlich in der Entwicklung des allgemeinen Willens an sich, also im objektiven Teil. Fazit: die subjektive Seite der Strafe liefert keine Rechtfertigung der Strafe als Rechtfertigung einer rechtlichen Institution, auch wenn in ihr durchaus Momente des Rechtsbegriffs eine Rolle spielen. Im Unterabschnitt „Zwang und Verbrechen“ formuliert Hegel deutlich die Zugehörigkeit der Rechtfertigung der Strafe zur objektiven Seite des Rechtsbegriffs. In seiner Anmerkung zu § 99 spricht Hegel 31 Das Wort ‚Strafe‘ tritt wörtlich nur in Hegels eigenhändigen Bemerkungen zu GPhR § 118 sowie in der Anmerkung zu § 132 auf. Es wird dort in folgenden Kontexten verwendet: „Leiden überhaupt, – auch Strafe darunter, – als eine Folge überhaupt der Handlung“, „Strafe, Verletzung“, „Unglück bloß als solches hat kein sittliches Interesse – wie Unrecht, noch Strafe, nicht bloße Übel sind“ (Bemerkungen zu § 118); „Die Sphäre, wo jene Umstände als Milderungsgründe der Strafe in Betracht kommen, ist eine andere als die des Rechts, die Sphäre der Gnade“ (§ 132 Anm.).

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von der „objektive[n] Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist“ (GPhR § 99 Anm.). Wenn die vermeintliche subjektive Rechtfertigung unter dem Stichwort „ein Recht an den Verbrecher selbst“ erwähnt wird, so bleibt deren Gültigkeit ausdrücklich durch die Gültigkeit der objektiven Rechtfertigung bedingt: „Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht – als gerecht [Hervorhebung JCM] ist sie zugleich sein an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht“ (GPhR § 100). Und wenn die angebliche subjektive Rechtfertigung im Kontext der klassischen Wiedervergeltungstheorie auftritt, so wird sie wiederum ausdrücklich durch die Gültigkeit der objektiven Rechtfertigung bedingt: „Das Aufheben des Verbrechens ist insofern [Hervorhebung JCM] Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist“ (GPhR § 101). Hegel kritisiert die klassische Theorie der Wiedervergeltung, indem er ihr das Argument der Nichtigkeit des Verbrechens entgegensetzt: „Allein der Begriff selbst muß überhaupt das Grundprinzip auch für das Besondere enthalten“ (GPhR § 101 Anm.); dies nennt Hegel noch „das Substantielle der Sache selbst“ (ebd.). Außerdem stellt kein Interpret die Frage, ob denn die objektive Rechtfertigung allein bzw. die subjektive Rechtfertigung allein nicht genügen könnte. Wenn keine der beiden allein genügen könnte, so müsste man noch die weitere Frage stellen, inwiefern sie sich gegenseitig ergänzen und nur zusammen genügen können. Was sich in der Sekundärliteratur zu diesem Punkt findet, vermag nicht wirklich zu überzeugen. Auf folgende Weise versucht Primoratz die doppelte Rechtfertigung zu begründen: Dieses Bestreben Hegels, die Strafe sowohl im objektiven als auch im subjektiven Sinne zu rechtfertigen, ist keineswegs zufällig; auch ist es kein Ausdruck seines Zweifels an der Richtigkeit und Überzeugungskraft der einen oder der anderen Rechtfertigung und des konsequenten Bedürfnisses nach einem ergänzenden Argument […]. Sein wesentlicher Einwand, den er gegen Platon vorbringt, besteht darin, daß dieser das Prinzip der Subjektivität nicht anerkenne, d. h. daß es in seinem Staat keinen Platz für den Einzelnen gebe. (PRIMORATZ 1986, 40)

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5.2.2 Ein Gesetzesargument und ein Anerkennungsargument?

Es bleibt die alternative Interpretation der doppelten Rechtfertigung der Strafe zu betrachten, die Seelmann gibt. Dieser will bei Hegel „zwei verschiedene Konstruktionen zur Legitimation von Strafe und Strafrecht“ sehen (Seelmann 1993a, 319; vgl. Seelmann 1993, 228): das „Gesetzesargument“ und das „Anerkennungsargument“. Beide verbinden die objektive mit der subjektiven Dimension. Das Gesetzesargument ist die soeben genannte These des ‚Rechts des Verbrechers an sich‘ bzw. der ‚Subsumtion‘ unter das eigene Gesetz des Verbrechers (vgl. GPhR § 100). Ich werde später darauf zurückkommen. Im Folgenden werde ich zunächst fragen, ob dieses (objektive) Gesetzesargument von Hegel mit dem (subjektiven) Anerkennungsargument in einer Doppelrechtfertigung verbunden ist. Das Anerkennungsargument beruft sich auf § 97 der Grundlinien der Philosophie des Rechts: Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung jener Verletzung – die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung vermittelnde Notwendigkeit. (GPhR § 97)

Nach Seelmann kann man dieses Argument „nur verstehen, wenn man als Ausgangspunkt Hegels Verständnis des Rechts als eines allseitigen Verhältnisses wechselseitiger Anerkennung als freier und gleicher Personen annimmt […] – ein von Fichte mit Modifikationen übernommenes Verständnis“ (Seelmann 1993, 230). Seelmann selbst formuliert das Argument folgendermaßen: Da […] Anerkennung ein wechselseitig bedingtes Verhältnis sei, entziehe der Täter sich auf diese Weise selbst die Anerkennung. Strafe sei dann nichts anderes als die bloße Manifestation dieses vom Täter selbst herbeigeführten Zustandes, indem sie den Täter auch äußerlich erkennbar in seinem Rechtsstatus erniedrige, um so wieder ein auf Gleichheit beruhendes Rechtsverhältnis zu schaffen. (SEELMANN 1993a, 320)

Das Anerkennungsargument ist demnach nicht in dem Sinne zu verstehen, dass das Verbrechen als Verweigerung der Anerkennung seitens des Verbrechers die Strafe rechtfertigen würde, weil man aufgrund dieser Verweigerung den Verbrecher genauso gut wie ein schädliches Tier erschießen könnte, das jeder ohne Weiteres – ohne

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Rechtsurteil – töten darf, wie dies in Fichtes Gedankenexperiment der Fall ist (GNR I/4 59; vgl. Lazzari 2001, 173–186), worauf sich Hegel an einer anderen Stelle (GPhR § 100 Anm.) bezieht. Das Anerkennungsargument besagt vielmehr, dass der Strafzweck darin liegt, vom Täter die Anerkennung des Opfers als seinesgleichen zu erzwingen: Zweck der Strafe ist, „ein auf Gleichheit beruhendes Rechtsverhältnis zu schaffen“ (Seelmann 1993a, 320). Dies heißt, dass die dem Täter durch die Strafe zugefügte Erniedrigung nur vorübergehend stattfinden soll. Die Strafe ist daher nicht an sich, sondern lediglich durch ihren Zweck gerechtfertigt: durch die Resozialisierung. Wenn hier die Wiedervergeltung überhaupt eine Rolle spielen soll, dann nur als Instrument der Resozialisierung. Bevor man das solchermaßen rekonstruierte Anerkennungsargument übernimmt, muss man aber festhalten, dass ihm jegliche Textgrundlage in diesem Paragraphen fehlt; der Bezug des Arguments auf § 97 wird bei Seelmann (1993 und 1993a) nicht belegt. Das Anerkennungsargument sieht in der Nichtigkeit der Rechtsverletzung den Bruch eines „wechselseitig bedingten Verhältnisses“ (Seelmann 1993a, 320). Zumindest für das Recht im Staat, wie es in der „Sittlichkeit“ definiert ist, kann dies nicht gelten. In § 218 schreibt Hegel: Indem Eigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit haben, so ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat. (GPhR § 218)

Spätestens im Staat ist das Recht als rechtsgültiges Recht nicht mehr durch die Anerkennung seitens des Individuums bedingt. Wenn das Verbrechen nicht durch einen „zweiten Zwang“ aufgehoben würde, so würde zwar ein Präzedenzfall die Geltung des Rechts in Frage stellen. Dabei stünde aber nicht nur – wie bei Fichte – der Rechtsstatus des Verbrechers auf dem Spiel, sondern auch – anders als bei Fichte – das Rechtsverhältnis zwischen allen anderen Personen. Das Verbrechen bedeutet auch nicht unbedingt die Nicht-Anerkennung einer Rechtsperson seitens des Verbrechers. In seiner Anmerkung zu § 95 macht Hegel darauf aufmerksam, dass die Negation der Rechtsfähigkeit einer Person nur eine „Gestaltung“ des Verbrechens darstellt. Hegel erwähnt eine „weitere Entwicklung und Gestaltung“, wofür er die Beispiele vom „Meineid“ und von der „Münz-, Wechselverfälschung usf.“ (GPhR § 95 Anm.) gibt, also von Verbrechen, die gegen

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keine einzelne Person, sondern gegen den Staat gerichtet sind. Mehr noch: „das in diesen Formen Substantielle ist das Allgemeine, das in seiner weiteren Entwicklung und Gestaltung dasselbe bleibt und daher ebenso dessen Verletzung, das Verbrechen, seinem Begriffe nach“ (ebd.). Vor allem lässt sich die „Nichtigkeit“ des Verbrechens offensichtlich auf eine andere Weise erklären. Nach Hegel „zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst, als Äußerung eines Willens, welche die Äußerung oder das Dasein eines Willens aufhebt“ (GPhR § 92). Die Nichtigkeit des Verbrechens beruht darauf, dass sich im Verbrechen der Wille selbst zerstört. Nach Hegel besteht also das Verbrechen eher in einem Selbstwiderspruch als in einer nicht eingehaltenen Gegenseitigkeit. 5.2.3 Eine Mischtheorie der Strafe (Retributivismus und Präventionstheorie)?

Eine andere Doppelrechtfertigung der Strafe als die objektive und die subjektive wird auch in Anlehnung an die heute vorherrschende Interpretation von Kants Strafrecht vertreten: eine Mischtheorie (s.o. Kap. 2.1). Eine solche Mischtheorie der Strafe besteht darin, dem Retributivismus und der Theorie der Generalprävention jeweils einen Teil der Rechtfertigungsaufgabe zuzuschreiben. So will Mohr (1997, 122) die Verdienste des hegelschen Strafrechts um „ein theoretisches Instrumentarium“ anerkennen, „das den heutigen Ansprüchen an eine Vereinigungstheorie gewinnbringend zuarbeitet“. Mohr zufolge verbinden die Grundlinien eine retributivistische Begründung der Strafe als Institution mit einer generalpräventiven Spezifikation des Strafmaßes (ebd. 119; s. o. Kap. 5.1). Eine solche Interpretation sieht das präventionstheoretische Element in der „Sittlichkeit“ (vor allem in § 218), während sie das retributivistische Element im „abstrakten Recht“ ansiedelt. Sie kehrt also jene Interpretationen von Kants Strafrechtstheorie als Mischtheorie um, nach denen bei Kant die Präventionstheorie die Strafe als Institution und die Vergeltungstheorie das Strafmaß rechtfertigt. Wenn Kant und Hegel tatsächlich Mischtheoretiker sind, so ist Hegel damit der Einzige von beiden, welcher die Strafe selbst retributivistisch rechtfertigt.

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Eine Mischinterpretation muss sich aber der Frage nach der Kompatibilität ihrer beiden Bestandteile stellen. Vergegenwärtigen wir uns die Resultate von Kapitel 2: In Kants Auffassung ist bekanntlich eine Kollision zwischen der Generalprävention in der Durchführung der Strafe und der Anwendung des kategorischen Imperativs, die gebietet, die Menschheit auch im Verbrecher nicht nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu behandeln, nicht zu vermeiden. Die Generalprävention, die mit dem Retributivismus gemischt wird, betrifft nur die Androhung der Strafe. Kants – kontroverse – implizite Annahme setzt voraus, dass die bloße Androhung der Strafe niemanden als bloßes Mittel behandelt, da durch die bloße Androhung niemandem ein Übel zugefügt wird, solange er kein Verbrechen begeht. Wer ein Verbrechen begeht, wird dann nach einem nicht generalpräventiven, sondern retributivistischen Maß bestraft. Somit ist nur die Androhung der Strafe, nicht die Strafe selbst generalpräventiv gerechtfertigt. Die Existenz der Strafe und das Strafmaß bleiben beide rein retributivistisch begründet. Denn man darf nach Kant das Strafmaß nur retributivistisch bestimmen. Die Androhung eines nicht-retributivistischen Strafmaßes darf bei Kant zu keinem nicht-retributivistischen Strafmaß in der Durchführung der Strafe führen, das dem kategorischen Imperativ widerspräche. Die mischtheoretische Interpretation ist somit nur scheinbar eine Mischtheorie: In Wirklichkeit bleibt sie eine retributivistische Rechtfertigung der Strafe. Wie sieht es nun in Hegels angeblicher Mischtheorie damit aus? Für Mohr ist der generalpräventive § 218 „ein weiterer für die Strafzumessung relevanter, von Hegel erst in der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft nachgetragener Gesichtspunkt“ (Mohr 1997, 118). Die Möglichkeit einer Mischtheorie setzt voraus, dass dieser für die Strafzumessung relevante Gesichtspunkt mit der angeblichen Wiedervergeltung des „abstrakten Rechts“ kompatibel ist. Bei der Wiedervergeltung im kantischen Sinne wäre dies offenbar nicht der Fall. Hegel definiert die Gefährlichkeit in Bezug auf die „in sich feste und starke Existenz“ (GPhR § 218), die das Gesetz haben soll, d.h. auf die Befolgung des Gesetzes. Je mehr das Verbrechen die allgemeine Befolgung des Gesetzes gefährdet, desto strenger muss es geahndet werden. Wenn kein Staat besteht, ist die Gefährlichkeit per definitionem „unendlich“ (GPhR § 218 Anm.) und die Rache muss dementsprechend groß sein. Wenn „die ihrer selbst sicher gewordene Macht

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der Gesellschaft“ (GPhR § 218) vorhanden ist, können und sollen die Strafen viel milder ausfallen. Eine solche Definition der Strafe setzt die Prävention weiterer Verbrechen als Zweck der Strafe fest. Einen Retributivismus könnte man darin nur dann sehen, wenn man die Definition des Retributivismus so weit fassen würde, dass die Verhältnismäßigkeit bzw. die Gleichheit zwischen Verbrechen und Strafe einer Gleichheit zwischen Gefährlichkeit und Strafe gleichkäme. Damit wäre die retributivistische These aber überhaupt nicht mehr von der präventiven These zu unterscheiden. Fazit: eine hegelsche Mischtheorie der Strafe kann in Wirklichkeit ebenso wenig eine echte Mischtheorie sein wie die vermeintliche kantische Mischtheorie. Eine kantische Mischtheorie bleibt im Grunde retributivistisch; eine hegelsche Mischtheorie bleibt letztlich eine Präventionstheorie. 5.3 Einwände gegen die retributivistischen Interpretationen Wenn sich für Hegel weder eine Doppelargumentation noch eine Mischtheorie konstatieren lässt, sondern nur eine objektive Interpretation, die entweder auf dem Retributivismus oder auf einer Präventionstheorie beruht, so liegt die retributivistische Lektüre nahe. Sie ist denn auch die traditionelle und meistvertretene Lesart. Nun erweist sich aber die Kompatibilität des klassischen Prinzips der Wiedervergeltung mit dem hegelschen Rechtsbegriff als problematisch, und zwar zumindest in zwei Hinsichten. 5.3.1 Hegels Kritik am Talionsrecht betrifft mehr als dessen buchstäbliche Anwendung

Bei der ersten Stelle, an der sich Hegel auf die Wiedervergeltung beruft, geschieht dies ausschließlich in Bezug auf das Argument der Negation der Negation (GPhR § 93 und § 97) sowie auf die Berücksichtigung der Quantität und der Qualität des Verbrechens in der Bestimmung der Negation der Negation (GPhR § 96): Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als sie dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist und dem Dasein nach das Verbrechen einen bestimmten, qualitativen und quantitativen Umfang, hiermit auch dessen Negation als Dasein einen ebensolchen hat. (GPhR § 101)

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Gleich darauf lehnt Hegel ausdrücklich die klassische Wiedervergeltung als „Gleichheit in der spezifischen […] Beschaffenheit der Verletzung“ (ebd.) ab. Hegel schreibt: „Diese auf dem Begriffe beruhende Identität ist aber nicht die Gleichheit in der spezifischen, sondern in der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung – nach dem Werte derselben“ (ebd.). Was diese „auf dem Begriffe beruhende Identität“ bzw. die „Gleichheit in der an sich seienden Beschaffenheit der Verletzung“ bedeuten kann, erläutert Hegel in der Anmerkung: „Nur nach der letzteren [der spezifischen Gleichheit] sind Diebstahl, Raub und Geld-, Gefängnisstrafe usf. schlechthin Ungleiche, aber nach ihrem Werte, ihrer allgemeinen Eigenschaft, Verletzungen zu sein, sind sie Vergleichbare“ (GPhR § 101 Anm.). Also ist die einzige „Wiedervergeltung“, als deren Vertreter sich Hegel erklärt, nichts anderes als die Verletzung der Verletzung, die Negation der Negation. Manche Interpreten sind nun der Meinung, Hegels Kritik richte sich nur gegen eine buchstäbliche Anwendung der klassischen Wiedervergeltungstheorie. Diesen Interpreten zufolge reduziert sich die hegelsche Kritik auf diese Zeilen: „in dieser [der Sphäre der Äußerlichkeit] ist ohnehin keine absolute Bestimmung möglich […]; diese bleibt im Felde der Endlichkeit nur eine Forderung, die […] nur eine Annäherung zuläßt“ (ebd.). Dieser Aspekt der hegelschen Kritik erklärt sicherlich die „unübersteigliche Schwierigkeit“ für die These der „spezifischen Gleichheit“, die Strafen zu bestimmen (vollends wenn noch die Psychologie die Größe der sinnlichen Triebfedern und die damit verbundene – wie man will – entweder um so größere Stärke des bösen Willens oder auch die um so geringere Stärke und Freiheit des Willens überhaupt herbeibringt) […]. (GPhR § 101 Anm.)

Wenn man jedoch Hegels Kritik an der klassischen Wiedervergeltung unverkürzt liest, so muss man vor allem die zweite Hälfte des hegelschen Arguments berücksichtigen: Übersieht man nicht nur diese Natur der Endlichkeit, sondern [Hervorhebung JCM] bleibt man auch vollends bei der abstrakten, spezifischen Gleichheit stehen, so entsteht nicht nur eine unübersteigliche Schwierigkeit, die Strafen zu bestimmen […], sondern [Hervorhebung JCM] es ist sehr leicht, die Wiedervergeltung der Strafe (als Diebstahl um Diebstahl, Raub um Raub, Aug um Aug, Zahn um Zahn, wobei man sich vollends den Täter als einäugig oder zahnlos vorstellen kann), als Absurdität darzustellen, mit der

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aber der Begriff nichts zu tun hat, sondern die allein jener herbeigebrachten spezifischen Gleichheit zu schulden kommt. (ebd.)

Die Absurdität liegt mithin nicht in einer fehlerhaften buchstäblichen Bestimmung. Sie liegt vielmehr in dem Grundsatz, dass „dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan hat“ (ebd.), also in der spezifischen Gleichheit bzw. im Talionsrecht, im Gegensatz zum hegelschen Prinzip der Negation der Negation. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass Hegel von vornherein diesem Grundsatz der klassischen Wiedervergeltung nicht den Status einer philosophischen Bestimmung des Rechtsbegriffs zuschreibt. Er leitet die Anmerkung zu § 101 wie folgt ein: Da in der gewöhnlichen Wissenschaft die Definition einer Bestimmung, hier der Strafe, aus der allgemeinen Vorstellung der psychologischen Erfahrung des Bewußtseins genommen werden soll, so würde diese wohl zeigen, daß das allgemeine Gefühl der Völker und Individuen bei dem Verbrechen ist und gewesen ist, daß es Strafe verdiene und dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan hat. (GPhR § 101 Anm.)

Primoratz (1986, 37) behauptet, diese „Grundhaltung“ der „Reziprozität“ sei jene des „Mann[es] auf der Straße“. Er kommentiert Hegel: „An diesem Punkt hat der gesunde Menschenverstand recht, meint Hegel, und die Philosophie hat sich an sein Urteil zu halten“ (ebd.). Dem widerspricht nicht nur die Tatsache, dass Hegel immer wieder die Philosophie vom common sense und von der bloßen Verstandeswissenschaft streng unterschieden hat bzw. ausdrücklich unterschieden haben wollte. Einer der vielen Punkte der hegelschen Kritik am common sense und an der Verstandeswissenschaft ist, dass sie sich in Widersprüche verwickeln, die sie vergebens zu lösen versuchen, weil sie dieselben nicht philosophisch aufheben können. Auch in der Passage über das Verbrechen fährt Hegel fort: Es ist nicht abzusehen, wie diese Wissenschaften, welche die Quelle ihrer Bestimmungen in der allgemeinen Vorstellung haben, das andere Mal einer solchen auch sogenannten allgemeinen Tatsache des Bewußtseins widersprechende Sätze annehmen. (GPhR § 101 Anm.)

Damit meint Hegel vermutlich jene „Verhütungs-, Abschreckungs-, Androhungs-, Besserungs- usw. Theorie[n]“, die in der Begründung der Strafe den „oberflächlichen[n] Charakter eines Übels“ (GPhR § 99 Anm.) voraussetzen. Hegel kritisiert sie scharf:

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Durch jene oberflächlichen Gesichtspunkte wird die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist, beiseite gestellt, und es folgt von selbst, daß der moralische Gesichtspunkt, die subjektive Seite des Verbrechens, vermischt mit trivialen psychologischen Vorstellungen […] zum Wesentlichen wird. (ebd.)

Ich gehe davon aus, dass die „widersprechenden Sätze“, welche Hegel in § 101 Anm. tadelt, eben die oben genannten Theorien sind, weil diese und der Retributivismus schon damals die beiden dominanten konfligierenden Straftheorien waren: entweder wurde die Strafe verhängt, weil das Verbrechen begangen wurde (Retributivismus), oder damit etwas geschehe (Resozialisierung, General- oder Spezialprävention; alle konsequentialistisch gerichtet). Man spricht auch von ‚rückwärts‘ bzw. ‚vorwärts gerichteten‘ (retrospektiven bzw. prospektiven) Theorien. Dem Retributivismus und den verschiedenen konsequentialistischen Straftheorien macht Hegel denselben Vorwurf: Sie beruhen auf dem common sense, sie sind subjektive Begründungen und sie widersprechen einander. Wo immer Verstandestheorien einander widersprechen und ihr Streit unlösbar scheint, besteht Hegels „Vernunftwissenschaft“ (vgl. z.B. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften § 36, Zusatz) bekanntlich darin, diesen Widerspruch aufzuheben. In dieser Aufhebung erweisen sich die entgegengesetzten Theorien als bloß partielle Einsichten in den einschlägigen Begriff. Auch in der Frage des Strafrechts verfährt Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts genau nach dieser Methode. Sowohl der Retributivismus als auch der Konsequentialismus wird von Hegel ausdrücklich als bloß partielle Einsicht in den Begriff der Strafe eingestuft, so dass beide durch ihren Anspruch, eine Begründung der Strafe zu geben, eben den Begriff der Strafe verzerren. Von den konsequentialistischen Straftheorien sagt Hegel: Die verschiedenen Rücksichten, welche zu der Strafe als Erscheinung und ihrer Beziehung auf das besondere Bewußtsein gehören und die Folgen auf die Vorstellung (abzuschrecken, zu bessern usf.) betreffen, sind an ihrer Stelle, und zwar vornehmlich bloß in Rücksicht der Modalität der Strafe, wohl von wesentlicher Betrachtung, aber setzen die Begründung voraus, daß das Strafen an und für sich gerecht sei. In dieser Erörterung kommt es allein darauf an, daß das Verbrechen, und zwar nicht als die Hervorbringung

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eines Übels, sondern als Verletzung des Rechts als Rechts aufzuheben ist, und dann, welches die Existenz ist, die das Verbrechen hat und die aufzuheben ist […]. (GPhR § 99 Anm.)

Vom Retributivismus sagt Hegel: „Die innere Identität ist es, die am äußerlichen Dasein sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert“ (GPhR § 101 Anm.). Mit der ‚inneren Identität‘ ist hier die Verletzung der Verletzung gemeint, mit ‚Gleichheit‘ die klassische Wiedervergeltung. Bevor ich zur hegelschen Aufhebung des Gegensatzes zwischen diesen beiden Theorien im Begriff der Strafe übergehe, habe ich noch einen Punkt zu behandeln, welcher der Annahme mancher Interpreten, die klassische Wiedervergeltungslehre und das hegelsche Strafrecht seien kompatibel, widerspricht. 5.3.2 Die Negation der Negation ist keine Wiedervergeltung

Die bereits genannte ‚Negation der Negation‘ ist nicht als Negation eines Entgegengesetzten zu verstehen, wie im Falle, dass A die Negation von ¬A ist, also ¬¬A. Die Negation der Negation ist für Hegel vielmehr Aufhebung der Negation, d. h. Aufhebung von Zwang. Sie ist nicht ¬¬A, sondern A. Sie ist dennoch nicht das unmittelbare A, sondern ein A, das durch die Aufhebung der Negation Geltung hat. Selbstverständlich wird durch die Negation der Negation ¬A negiert. Dass ¬A negiert wird, heißt aber noch nicht, dass die Negation überhaupt negiert wird. Nun fordert aber das Recht, dass die Negation selbst negiert wird, also dass keine Gewalt auf die Strafe folgt. Die Strafe ist die Negation, welche die Negation überhaupt beenden soll. Wie verhält es sich nun mit der klassischen Wiedervergeltung, welcher zufolge „dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan hat“ (GPhR § 101 Anm.)? Der Verbrecher hat die Persönlichkeit (A) seines Opfers negiert: ¬A. Dass ihm geschieht, was er getan hat, heißt, seine Persönlichkeit (B) zu negieren: ¬B. Der Zusammenhang zwischen ¬A und ¬B ist selbstverständlich, dass B die Handlung ¬A durchgeführt hat. Durch ¬B wurde zwar ¬A negiert, aber B wurde auch negiert. Also muss ¬B negiert werden. Anders ausgedrückt: wer dafür sorgt, dass dem Verbrecher geschieht, wie er getan hat, tut das, was der Verbrecher getan hat. Also sollte auch ihm das geschehen, was der Ver-

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brecher getan hat. Die Wiedervergeltung vervielfältigt die Negation, statt sie aufzuheben. Hegel drückt dies so aus: Das Aufheben des Verbrechens ist in dieser Sphäre der Unmittelbarkeit des Rechts zunächst Rache, dem Inhalte nach gerecht, insofern sie Wiedervergeltung ist. […] Die Rache wird hierdurch, daß sie als positive Handlung eines besonderen Willens ist, eine neue Verletzung: sie verfällt als dieser Widerspruch in den Progreß ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte fort.32 (GPhR § 102)

Hegel zieht deutlich die Konsequenz dieses Gegensatzes zwischen der Negation der Negation und der klassischen Wiedervergeltungslehre. Die Forderung, daß dieser Widerspruch [zwischen der Negation des Verbrechens und dessen Vervielfältigung] […] aufgelöst sei, ist die Forderung einer […] nicht rächenden, sondern strafenden Gerechtigkeit. Darin liegt zunächst die Forderung eines Willens, der als besonderer subjektiver Wille das Allgemeine als solches wolle. (GPhR § 103)

Eine verbreitete Lesart dieser Passage will darin lediglich eine Forderung nach Unparteilichkeit des Richters gegen das Risiko einer interessierten, daher parteiischen Privatjustiz lesen. Diese Lektüre bedeutet aber eine unzulässige Verkürzung. Denn selbst wenn sich diese Privatjustiz zur Unparteilichkeit verpflichtete, so bliebe das von Hegel angesprochene Problem dennoch bestehen. Das Problem liegt nämlich darin, dass das Opfer „in jede geschehene Verletzung seine Unendlichkeit legen kann und dessen Gerechtigkeit daher überhaupt zufällig […] ist“ (GPhR § 102). In diesem Satz leugnet Hegel nicht, dass der Rächende gerecht handelt. Die Rache, schreibt er, ist „dem Inhalte nach gerecht“ (ebd.), und Hegel spricht von „dessen Gerechtigkeit“ (ebd.). Es geht also nicht um das Risiko des Missbrauchs der Strafe. Es geht um das Recht, das wiederherzustellen ist. Während in der Rache zwei Personen einander gegenüberstehen, die beide als Dasein des Willens anzusehen sind und daher das Recht der Persönlichkeit in Anspruch nehmen dürfen, steht im Staat jede Person dem Gesetz gegenüber, dem das objektive Recht des Allgemeinen zukommt. Gegenüber dem Gesetz hat die Person nur das subjektive Recht der Persönlichkeit, was z.B. heißt, dass sie der Staat nicht Diesen Progress der Rache erläutert der „Zusatz“ zu § 102 mit Verweis auf die „unsterbliche“ Blutrache bei „ungebildeten Völkern“, die sich als Rache und Rache für die Rache von Generation zu Generation fortpflanzt. 32

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beliebig behandeln darf. Die Konsequenz daraus ist, dass das, was als Recht wiederherzustellen ist, im Fall der Rache die Persönlichkeit des Opfers, im Fall der Strafe aber die Geltung des Gesetzes ist (diese Unterscheidung fehlt m.E. bei Honneth 1992, 39). Nun enthält die Persönlichkeit des Opfers nicht unmittelbar die Persönlichkeit des Verbrechers, während das Gesetz per definitionem die Persönlichkeit aller Mitglieder der Rechtsgemeinschaft anerkennt. Von der strafenden Gerechtigkeit des Staates sagt Hegel: „Statt der verletzten Partei tritt das verletzte Allgemeine auf“ (GPhR § 220). Der subjektiven und zufälligen Rache stellt Hegel die Strafe entgegen, in objektiver Rücksicht als Versöhnung des durch Aufheben des Verbrechens sich selbst wiederherstellenden und damit als gültig verwirklichenden Gesetzes, und in subjektiver Rücksicht des Verbrechers als seines von ihm gewußten und für ihn und zu seinem Schutze gültigen Gesetzes, in dessen Vollstreckung an ihm er somit selbst die Befriedigung der Gerechtigkeit, nur die Tat des Seinigen findet. (GPhR § 220)

Was Hegel „Wiedervergeltung“ als „Verletzung der Verletzung“ (GPhR § 101) nennt, ist also nicht mit der Wiedervergeltung des klassischen Retributivismus zu verwechseln. Auch im Strafmaß zeigt sich nun ein Unterschied zwischen der Wiederherstellung der Persönlichkeit einer Einzelperson – oder einer Gruppe von Einzelpersonen – und der Wiederherstellung des Gesetzes. Das Gesetz wiederherzustellen, d. h. seine Gültigkeit wieder zu behaupten, ist durchaus machbar. Das Dasein des Willens in einer Person wiederherzustellen, in der sie sich vor dem Verbrechen befand, ist dagegen nur in manchen Fällen möglich. Diese Fälle werden in § 98 der Grundlinien der Philosophie des Rechts behandelt: „die Aufhebung der Verletzung als einer Beschädigung ist die zivile Genugtuung als Ersatz, insofern ein solcher überhaupt stattfinden kann [zweite Hervorhebung JCM]“. In den meisten Fällen ist aber kein Ersatz zu finden. Und auch dort, wo ein Ersatz möglich ist, bleibt die „positive Existenz der Verletzung“, d.h. „der besondere Wille des Verbrechers“ (GPhR § 99) davon unberührt: der Verbrecher kann durchaus den Ersatz leisten und seine verbrecherischen Maximen dennoch beibehalten. Manche Autoren versuchen das klassische Prinzip der Wiedervergeltung nicht bloß unter Berufung auf die Wechselseitigkeit im Allge-

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meinen, sondern noch auf andere Weisen zu rechtfertigen. Hampton (1988, 127) erwähnt z.B. die Erklärung, dass das Talionsrecht den Zweck hat, den Anspruch des Verbrechers zu zerstören, die Überlegenheit über sein Opfer dauerhaft zu erwerben. Das Auge des Verbrechers auszustechen sei nach dieser Auffassung für das einäugig gewordene Opfer das Mittel, sich der ungerechtermaßen erworbenen Überlegenheit des Verbrechers zu entziehen. Hier sei die Frage der Richtigkeit dieser und ähnlicher Erklärungen dahingestellt (Hampton selbst lehnt sie ab). Man beachte hier nur, dass Hegel auf keine ähnliche Interpretation der klassischen Wiedervergeltungstheorien eingeht. Stattdessen nimmt Hegel eine symbolische Interpretation an: „Die innere Identität [der Verletzung mit der Verletzung der Verletzung] ist es, die am äußerlichen Dasein sich für den Verstand als Gleichheit reflektiert“ (GPhR § 101 Anm.). In der Rache kann die Wiederherstellung des Rechts nicht wirklich stattfinden; also findet sie symbolisch – d.h. als Talion, als spezifische Gleichheit – statt: „Diebstahl um Diebstahl, Raub um Raub, Aug um Aug, Zahn um Zahn“ (ebd.). Die „Absurdität“ solcher ‚Strafen‘ besteht darin, dass sie nichts mit der Wiederherstellung des Rechts, mit der Beendigung des Zwangs und mit der Versöhnung – auch mit dem Verbrecher – zu tun haben. Im Gegenteil, solche Strafen behandeln den Verbrecher nicht als Dasein der Freiheit. Nur insoweit der Verbrecher Mitglied einer Rechtsgemeinschaft ist, ist die Erhaltung des Daseins des Willens in der Person des Verbrechers für die Wiederherstellung einer Gemeinschaft nötig und geboten, zu der auch er gehört und durch die auch sein Recht geschützt wird. Die Verstümmelung des Verbrechers ist für eine solche Wiederherstellung der Gesetzesgeltung nicht nötig. Die Verstümmelung widerspricht vielmehr der Idee einer Rechtsgemeinschaft freier Personen. Darum ist die Verstümmelung eine „Absurdität“ (ebd.). 5.4 Rekonstruktion der hegelschen Rechtsbegründung: das Kernargument Die Begründung der Strafe besteht bei Hegel in dem Nachweis, dass die Strafe eine rechtliche Notwendigkeit ist. Der Grundstein der normativen Konstruktion der Strafe, nämlich der „zweit[e] Zwang“ bzw. das „Aufheben eines ersten Zwanges“ (wir werden später sehen, was

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darunter zu verstehen ist), ist „nicht nur bedingt rechtlich, sondern notwendig“ rechtlich (GPhR § 93). Die Strafe ist also nicht allein rechtmäßig, ohne sie gäbe es vielmehr überhaupt kein Recht. Dagegen ist der erste Zwang „unrechtlich“ (GPhR § 92). Mit ihm gibt es kein Recht. Hegels Begründung der Strafe trennt die Befugnis zu strafen nicht von der Pflicht zu strafen ab; sie zeigt nicht zunächst, dass bestraft werden darf, und erst dann, dass bestraft werden soll, sondern beides zusammen. Hegel begründet diese Notwendigkeit wie folgt: „Der Zwang hat davon, daß er sich in seinem Begriffe zerstört, die reelle Darstellung darin, daß Zwang durch Zwang aufgehoben wird“ (GPhR § 93). Diese These der begrifflichen Selbstzerstörung des Zwangs ist nicht als eine physische These zu verstehen. Es geht nicht etwa um die physische Selbstzerstörung des Zwanges, sondern darum, dass er „unrechtlich“ ist (GPhR § 92). Die Unrechtlichkeit ist die rechtliche Unmöglichkeit (es geht um mehr als um die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung bzw. um die Ehrlichkeit der Rechtsbehörde, die Cooper 1971, 163 im Kern der hegelschen Argumentation sieht). Dass sich der Zwang selbst zerstört heißt, dass der Zwang rechtlich unmöglich bzw. mit dem Begriff des Rechts unvereinbar ist. In dieser Selbstzerstörung müssen zwei Elemente unterschieden werden: 1. der Zwang wird zerstört; 2. diese Zerstörung führt er selbst durch: es handelt sich um eine Selbstzerstörung. Der (erste) Zwang wird nämlich nur durch einen (zweiten) Zwang aufgehoben, nicht durch etwas anderes als einen Zwang. In dieser zweiten Hinsicht unterscheidet sich der unrechtliche Zwang von der Verletzung, die er verursacht, d. h. von dem „Übel“ bzw. von dem „Schaden“, denn die „geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist“ (GPhR § 97). Auch wenn die Verletzung als Folge des Zwangs eine physische Existenz – als Schaden – hat, hat sie überhaupt keine rechtliche Existenz. Diese Verletzung zerstört sich nicht selbst. Der Unterschied zwischen der Selbstzerstörung des Zwangs und der Fremdzerstörung des Schadens kommt in der Unterscheidung zwischen dem (rechtlichen) „Aufheben“ (GPhR § 93) des Zwanges und der (rechtlichen) „Nichtigkeit“ (GPhR § 97) des Schadens zum Aus-

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druck. Bekanntlich bedeutet die ‚Aufhebung‘ von Widersprüchen als Hauptbegriff der hegelschen Dialektik nicht allein, das, worin Widerspruch entsteht, zu zerstören, sondern es zugleich auch aufzubewahren. Es wird also etwas von dem Zwang aufbewahrt, indem er zerstört wird. An diesen Punkt werden wir uns später erinnern müssen. Viele Interpreten können mit der Selbstzerstörung des Zwangs nichts anfangen oder halten sie sogar schlechthin für Unsinn. Das Unverständnis besteht oft darin, dass die Prämisse übersehen wird, auf welcher die These der Selbstzerstörung beruht: Weil [Hervorhebung JCM] der Wille, nur insofern er Dasein hat, Idee oder wirklich frei und das Dasein, in welches er sich gelegt hat, Sein der Freiheit ist, so [Hervorhebung JCM] zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst […]. (GPhR § 92)

Grundannahme ist hier – wie in den Grundlinien der Philosophie des Rechts im Allgemeinen überhaupt –, dass sich der freie Wille entwickeln muss; und diese Entwicklung ist das Recht. Es sei hier nur an einige zentrale Aussagen aus den einleitenden Paragraphen der Grundlinien erinnert: „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande“ (GPhR § 1); „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit […] ist“ (GPhR § 4); „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee“ (GPhR § 29). Dass das Recht sein muss, spielt bei Hegel die Rolle, welche der kategorische Imperativ bei Kant spielt: die Errichtung eines Rechtszustandes ist eine Notwendigkeit. Das durch die Idee des Rechts geforderte Dasein der Freiheit besteht im „abstrakten Recht“ aus dem individuellen Leib und Leben sowie dem individuellen Eigentum.33 Hegel notiert, dass der freie Wille […] an und für sich nicht gezwungen werden [kann], als nur sofern er sich selbst aus der Äußerlichkeit, an der er festgehalten wird, oder Vgl. GPhR § 90 („Eigentum“) und § 91 („seine physische und sonst äußerliche Seite“). 33

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aus deren Vorstellung nicht zurückzieht […]. Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will. (GPhR § 91)

Es ist aber anzumerken, dass sich der „freie Wille“ auf diese Weise von dem Verbrechen zwingen lassen wollen muss, weil er der Idee des Rechts zufolge ein Dasein haben muss: er kann sich also rechtlich nicht von der Äußerlichkeit zurückziehen. Das Recht verbietet dem Opfer einen stoischen Rückzug in die Innerlichkeit, um dem Zwang des Verbrechers zu entkommen. In der „Sittlichkeit“ wird es nicht das Individuum, sondern der Staat sein, der das höhere Dasein des freien Willens darstellt. Die Begründung des Strafrechts im abstrakten Recht gilt aber sowohl für diejenigen Verbrechen, deren direkte Opfer Individuen sind, als auch für solche Verbrechen, deren direktes Opfer der Staat ist.34 Nun sind Leib, Leben und Eigentum der einzelnen Individuen allesamt ein Dasein des freien Willens. Also sind der Leib, das Leben und das Eigentum des Verbrechers ebenso das Dasein des freien Willens wie Leib und Leben des Opfers. Daher ist die Selbstzerstörung in § 92 auf mehrere Weisen zu verstehen: Erstens ist sie als These der nötigen Zerstörung dessen zu verstehen, was dem Recht widerspricht. Da die Verwirklichung des Rechts – und damit auch das Dasein des freien Willens im Leib, im Leben und im Eigentum des Opfers – eine Notwendigkeit ist, kann das Verbrechen als Versuch der Verletzung dieses Daseins nur scheitern und zur Zwangsausübung gegen den Verbrecher führen. Zweitens ist sie als These der Identität des freien Willens des Verbrechers mit dem des Opfers zu verstehen. Der Verbrecher zwingt bzw. zerstört das Dasein des freien Willens in der Person des Opfers und zwingt bzw. zerstört sich dadurch selbst, weil auch er das Dasein des freien Willen ist. Beide Thesen sind miteinander verbunden, da das Recht sein Dasein in jeder Person haben muss, so dass für das Recht die Persönlichkeit des Verbrechers und des Opfers einander gleichkommen. Bei Hegel bedeutet die Verweigerung der Anerkennung der Persönlichkeit aller 34 Vgl. GPhR § 95 Anm.: „Den besonderen, weiter bestimmten Inhalt, z.B. in Meineid, Staatsverbrechen, Münz-, Wechselverfälschung usf., betrifft daher auch die im folgenden § zu berücksichtigende Bestimmung.“

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anderen Menschen eine Diskrepanz innerhalb derjenigen Person, welche die Anerkennung verweigert: einerseits ist das allgemeine Element in ihrem Willen eins mit dem allgemeinen Element im Willen der anderen Personen; andererseits ist ihr diese Allgemeinheit fremd. Ihr besonderer Wille und ihr allgemeiner Wille treten auseinander. Dies bedeutet, dass dem Menschen, der den Status der Persönlichkeit bei anderen Menschen nicht anerkennt, die Grundlage fehlt, auf die er sich für seinen eigenen Status als Person berufen kann. Nach Hegel sind Gesellschaften, in denen die Persönlichkeit nur mancher Menschen anerkannt wird (etwa Ägypten und das antike Griechenland), Gesellschaften, in denen die Persönlichkeit etwas Zufälliges ist. Die rechtliche Notwendigkeit fordert also die Selbstzerstörung des Zwangs. Nun ist diese Forderung noch „abstrakt genommen“, solange sie sich nicht verwirklicht hat: „Gewalt oder Zwang“ zerstört „in ihrem Begriff [Hervorhebung JCM] sich unmittelbar selbst“ (GPhR § 92). Nach Hegel ist die Strafe die „reelle Darstellung“ (GPhR § 93) der begrifflichen Selbstzerstörung des Zwangs. Die rechtliche Notwendigkeit – d.h. die Forderung, dass sich das Recht verwirklicht, weil es sich verwirklichen muss – will, „daß Zwang durch Zwang aufgehoben wird“ (ebd.). Hegel nennt die Verwirklichung bzw. Umsetzung der Forderung des Rechts auch die „Manifestation“ dieser Forderung (z.B. GPhR § 97); „die Strafe ist […] Manifestation des Verbrechens“ (GPhR § 101 Zusatz). Wie kann der Zwang den Zwang aufheben? Hegel gibt folgende Definition des Zwangs: In seiner Äußerlichkeit „kann“ der Wille „teils Gewalt überhaupt leiden, teils kann ihm durch die Gewalt zur Bedingung irgendeines Besitzes oder positiven Seins eine Aufopferung oder Handlung gemacht, Zwang angetan werden“ (GPhR § 90). Zum Zwang gehören also drei Aspekte; Zwang ist 1. die Ausübung einer Gewalt auf eine Person, 2. damit sie anders handelt bzw. etwas aufopfert, 3. indem man diese Handlung bzw. diese Aufopferung zur Bedingung ihres Leibes, ihres Lebens oder ihres Eigentums macht. Während sich die These der Selbstzerstörung in § 92 sowohl auf den Zwang als auch auf die bloße Gewalt bezieht 35 und der „erste“ – 35 Vgl. GPhR § 92: „so zerstört Gewalt [Hervorhebung JCM] oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst“.

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unrechtliche – Zwang, d.h. das Verbrechen entweder Zwang oder Gewalt sein kann,36 ist in § 93 lediglich von der Aufhebung des Zwangs durch Zwang und – mit der Erwähnung einer ersten Gewalt in der Anmerkung zu § 93 – von der Aufhebung der Gewalt durch Zwang die Rede. Nirgendwo spricht Hegel von der Ausübung von Zwang bzw. von Gewalt durch Gewalt. Angesichts der Definition von Gewalt als bloßes Leiden wird die Aufhebung durch Gewalt von Hegel explizit ausgeschlossen, indem er Kleins 37 Auffassung der Strafe als willkürliche Aufhebung eines Übels durch ein Übel kritisiert: Wenn das Verbrechen und dessen Aufhebung, als welche sich weiterhin als Strafe bestimmt, nur als ein Übel überhaupt betrachtet wird, so kann man es freilich als unvernünftig ansehen, ein Übel bloß deswegen zu wollen, weil schon ein anderes Übel vorhanden ist […]. (GPhR § 99 Anm.)

Daraus ergeben sich mindestens drei Konsequenzen. 1. Es stellt sich die Frage der Anwendbarkeit der Aufhebung des Zwangs durch einen auf den Verbrecher ausgeübten Zwang, wenn sich der Verbrecher nicht zwingen lässt. Wir werden später auf diese Frage zurückkommen. 2. Die Todesstrafe ‚zwingt‘ offenbar den Verbrecher nicht, d.h. sie bewegt ihn nicht zu einer Handlung bzw. zu einer Aufopferung, sondern sie übt bloße Gewalt auf ihn aus. Hegels Stellung zur Frage der Todesstrafe scheint inkonsistent zu sein. Einerseits behauptet er, dass auf Mord „notwendig die Todesstrafe steht“ (GPhR § 101 Zusatz). Er schreibt es zwar Beccarias Einfluss zugute, dass bei vielen Verbrechen die Todesstrafe abgeschafft wurde. Hegel selbst will diese aber in besonderen Fällen, d.h. eben für Mord beibehalten: Wenn auch weder Joseph II. noch die Franzosen die gänzliche Abschaffung derselben [der Todesstrafe] jemals haben durchsetzen können, so hat man doch einzusehen angefangen, was todeswürdige Verbrechen seien und was nicht. Die Todesstrafe ist dadurch seltener geworden, wie diese höchste Spitze der Strafe es auch verdient. (GPhR § 100 Zusatz)

Andererseits sieht Hegel durchaus Alternativen zur Todesstrafe. Weil die Strafe den Verbrecher zwingen muss und die Todesstrafe die eigeVgl. GPhR § 93 Anm.: „erster Zwang oder wenigstens Gewalt“. Hegel bezieht sich hier auf Ernst Ferdinand Klein: Grundsätze des gemeinen deutschen peinlichen Rechts, Halle 1795, § 9f. 36 37

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nen Wünsche mancher zum Tod Verurteilten geradezu erfüllt, so muss Hegel auch beim Mord Alternativstrafen zulassen. Handschriftlich merkt er in seinem Exemplar der Grundlinien zu § 99 an: „Strafe muß empfindlich sein […]. Selbst bei Mord vorgekommen, um das Leben zu verlieren, – also Todesstrafe nicht empfindlich, – so ist geschehen, daß in Gefängnisstrafe verwandelt worden.“ In der Vorlesung über Philosophie des Rechts (1824/25) heißt es ausführlicher: es haben sich Fälle ereignet, daß ein Mord geschehen ist um hingerichtet zu sein. Der Mörder that es aus Ueberdruß, Geringachtung des Lebens, besonders aber in religiöser Hinsicht […]. So ist die Todesstrafe ihm nicht empfindlich, es ist schon sein Wille aus dem Leben herausgegangen, konsequent hat man da die Lebensstrafe in Gefängniß verwandelt, um den Willen des Verbrechers anzugreifen. (PhR 285)

In den Grundlinien der Philosophie des Rechts lässt sich kein Argument dagegen finden, dass die Todesstrafe bei allen Verbrechen durch eine Alternativstrafe ersetzt werden könnte. Im Gegenteil würde ein Festhalten an der Todesstrafe zu einer anderen Definition der Strafe, nämlich zur Aufhebung des Zwanges bzw. (z.B. im Fall von Mord) der Gewalt durch (bloße) Gewalt führen. Mehr noch: diese neue Definition widerspräche in mancher Hinsicht Hegels Theorie. Ich habe schon seine Kritik an Klein erwähnt. Hier sei noch Hegels Kritik an einer von Fichte erwogenen Straftheorie genannt. Eine Aufhebung des Zwanges bzw. der Gewalt durch Gewalt käme dieser Auffassung der Strafe gleich, derzufolge ein Verbrecher „nur als schädliches Tier betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei“ (GPhR § 100 Anm.). Diese von Fichte erwogene – und abgelehnte – Straftheorie (s.o. Kap. 4.3) würde den Verbrecher allerdings nicht als Vernunftwesen behandeln. Aus diesem Grund wird sie auch von Hegel verworfen. 3. Die begriffliche Selbstzerstörung des Zwangs und die reelle Aufhebung des Zwangs durch den Zwang scheinen das gleiche Selbstverhältnis in sich zu schließen. Die Versuchung liegt nahe, von einer Selbstaufhebung des Zwangs zu sprechen, was möglicherweise ein Argument zugunsten des Retributivismus sein könnte. Doch Hegel tut dies eigentlich nicht, während er von einer begrifflichen Selbstzerstörung des Zwangs ausdrücklich spricht.38 Außerdem haben wir Vgl. GPhR § 92: „so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst“. 38

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gerade gesehen, dass eine Selbstaufhebung der – bloßen – Gewalt durch – bloße – Gewalt nicht in Frage kommt, so dass nur eine Aufhebung der – bloßen – Gewalt durch Zwang denkbar ist. Unabhängig davon, ob das Verbrechen bloße Gewalt oder Zwang war, kommt es auf die Aufhebung des Verbrechens als einen Zwang an. Wie wir gesehen haben, ist Zwang 1. die Ausübung einer Gewalt auf eine Person, 2. damit diese anders handelt bzw. etwas aufopfert, 3. indem man diese Handlung bzw. diese Aufopferung zur Bedingung der Beibehaltung ihres Leibes, ihres Lebens oder ihres Eigentums macht. Wenn diese Definition auf den „zweiten Zwang“ – auf den Zwang gegen den Verbrecher – angewandt wird, so ergeben sich aus diesen drei Elementen drei Implikationen. Die Aufhebung des Verbrechens ist 1. ein Übel – bzw. eine Gewalt –, das auf den Verbrecher ausgeübt wird, 2. damit er anders handelt bzw. etwas aufopfert, 3. indem diese veränderte Handlung bzw. diese Aufopferung zur Bedingung der Beibehaltung seines Leibes, seines Lebens oder seines Eigentums gemacht wird. 5.5 Die Integration der anderen Straftheorien Gegen eine solche Interpretation erhebt sich ein dreifacher Einwand: Erstens Hegels Kritik an Kleins Theorie der Strafe als Zufügung eines Übels (vgl. GPhR § 99 Anm. und § 101 Anm.), zweitens Hegels Kritik an der Besserungstheorie der Strafe (vgl. GPhR § 99 Anm. und § 100 Anm.), drittens der Umstand, dass Hegel nirgendwo – zumindest nirgendwo im „abstrakten Recht“ – die Rehabilitation des Verbrechers thematisiert. Die beiden ersten Einwände missverstehen Hegels Kritik an Klein und an der Besserungstheorie. Hegels Kritik richtet sich ausschließlich gegen die Verabsolutierung des Übels und der Besserung. Hegel schreibt nämlich: Wenn das Verbrechen und dessen Aufhebung, als welche sich weiterhin als Strafe bestimmt, nur [Hervorhebung JCM] als ein Übel überhaupt betrachtet wird, so kann man es freilich als unvernünftig ansehen, ein Übel bloß deswegen zu wollen, weil schon ein anderes Übel vorhanden ist […]. (GPhR § 99 Anm.)

Hegels Kritik behauptet nur, dass der Zweck der Strafe, der sie begründen soll, nicht derjenige sein darf, dem Verbrecher ein Übel zuzu-

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fügen, auch wenn er selbst seinem Opfer ein Übel zugefügt hat. Hegel spricht deswegen vom „oberflächliche[n] Charakter eines Übels“: das Übel ist kein primärer, sondern allenfalls ein abgeleiteter Zweck der Strafe. Was die Besserungstheorie betrifft, so wird sie ebenfalls nur als Verabsolutierung der Besserung verworfen. Hegel schreibt: Die verschiedenen Rücksichten, welche zu der Strafe als Erscheinung und ihrer Beziehung auf das besondere Bewußtsein gehören und die Folgen auf die Vorstellung (abzuschrecken, zu bessern usf.) betreffen, sind an ihrer Stelle, und zwar vornehmlich bloß in Rücksicht der Modalität der Strafe, wohl von wesentlicher Betrachtung [Hervorhebung JCM], aber setzen die Begründung voraus, daß das Strafen an und für sich gerecht sei. (GPhR § 99 Anm.)

Was die Rehabilitierung betrifft, so findet sie sich ausdrücklich in der „Sittlichkeit“. In „subjektiver Rücksicht“ ist die – von Hegel der „Wiedervergeltung durch Rache“ entgegengesetzte – „wahrhafte Versöhnung des Rechts“ die Versöhnung „seines [d. h. des Verbrechers] von ihm gewußten und für ihn und zu seinem Schutze gültigen Gesetzes“ (GPhR § 220). Schon im „abstrakten Recht“ sagt Hegel von der Aufhebung des Verbrechens: „als gerecht ist sie zugleich sein [des Verbrechers] an sich seiender Wille, ein Dasein seiner Freiheit, sein Recht“ (GPhR § 100). Als gerecht garantiert die Strafe auch das Recht, das Dasein des freien Willens des Verbrechers. Die Strafe ist also die Bedingung der Vollmitgliedschaft des Verbrechers. Hier ist noch einmal zu notieren, dass die Rehabilitation des Verbrechers als volles Mitglied der Rechtsgemeinschaft die „Gerechtigkeit“ der Strafe voraussetzt. Also ist der Aspekt der Rehabilitation auch ein sekundärer, abgeleiteter Zweck der Strafe. Hegels Theorie ist nicht absolutistisch, d. h. er vertritt nicht die These, dass die Strafe an sich gut und schon deswegen berechtigt sei, weil der Verbrecher sie durch sein Verbrechen verdient habe. In einer absolutistischen Straftheorie wird die Strafe nur in Bezug auf den Verbrecher und auf das begründet, was er verdient hat; die Strafe wird dann als verdientes Übel gedacht. Einen exemplarischen Beleg finden wir in Kants Inselbeispiel, in dem als einzige Rechtfertigung der Strafe nur angeführt wird: „damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind“ (RL VI 333). Hier sei die Rolle dieses Beispiels in der kantischen Rechtstheorie dahingestellt (vgl. aber oben Kap. 1.2). Es sei nur darauf hingewiesen, dass man bei Hegel vergeblich nach einem ähnlichen Beispiel sucht.

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Hegels Straftheorie weist der Strafe durchaus einen Zweck zu: die Aufhebung des Verbrechens. Die Aufhebung des Verbrechens durch Zwang hat zwei ungleiche Dimensionen: die Vergangenheit und die Zukunft. Die Aufhebung der vergangenen Dimension des Verbrechens heißt sicher nicht, dass das Verbrechen rückgängig gemacht würde. Allenfalls lassen sich manche Konsequenzen des Verbrechens beheben, und zwar durch eine „zivile Genugtuung als Ersatz, insofern ein solcher überhaupt stattfinden kann“ (GPhR § 98). „[I]nsofern die Beschädigung eine Zerstörung und überhaupt unwiederherstellbar ist“, muss an ihre Stelle „die allgemeine Beschaffenheit derselben, als Wert, treten“ (GPhR § 98 Anm.). Insofern der Verbrecher gezwungen wird, diese zivile Genugtuung zu leisten, lässt sich diese zivile Genugtuung in die Aufhebung des Zwangs durch den Zwang einordnen. Hegel hält aber diesen Aspekt der Aufhebung des Verbrechens für nebensächlich. Die zivile Genugtuung ist für das Verbrechen unspezifisch. Im „unbefangene[n] Unrecht“ (GPhR § 84–86) bzw. in Fällen von Rechtsstreitigkeiten, die im Zivilrecht – nicht im Strafrecht – vorkommen, gibt es auch oft Ersatzleistungen. Das Verbrecherische liegt also nicht im Übel bzw. im Schaden. Wie gesagt, erkennt Hegel zwar dem Schaden eine „positive, äußerliche Existenz“ (GPhR § 97) zu; sie ist aber „in sich nichtig“ (ebd.), weil sie nicht das Dasein eines Willens bildet, sondern ein „bloße[s] Produkt“ (GPhR § 99). Der Schaden war nämlich nicht das, was der Verbrecher beabsichtigte. Der Verbrecher beabsichtigte die Verwirklichung seiner Freiheit in einem besonderen Dasein – in einem fremden Gut, in einer größeren Freiheit durch die Beseitigung anderer Menschen usw. – mittels der Ausübung eines Zwangs auf einen anderen Willen. Den Schaden hat der Verbrecher allenfalls in Kauf genommen. Der Schadenersatz ist hier nicht etwa mit der Rückgabe gestohlener Güter an deren Eigentümer zu verwechseln. Hier erhebt sich natürlich die Frage nach der Bewertung des Vandalismus und anderer Verbrechen, die ausschließlich die Absicht haben, zu zerstören. Eine mögliche Antwort auf diesen Einwand wäre, in diesen Fällen den enttäuschten Willen eines Verbrechers zu sehen, der selbst nicht das Dasein bekommt, das er für seinen freien Willen wollte. Wie auch immer es mit diesem Einwand steht, jedenfalls gehört für Hegel der Schaden endgültig zur Vergangenheit: dem Schaden entspricht weder etwas im Willen des Opfers,

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der aufgehört hat, von dem Verbrecher gezwungen zu werden, noch etwas im Verbrecher, der eine andere Absicht hatte. Die Zukunftsdimension der Aufhebung des Verbrechens ist die für das Verbrechen spezifische Dimension. Hegel stellt fest: „Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers“ (GPhR § 99). Die Aufhebung des Verbrechens durch Zwang kann nun entweder während der Begehung des Verbrechens oder nach seiner Begehung stattfinden. Die Aufhebung des Verbrechens während seiner Begehung gehört zum Zwangsrecht des klassischen ius strictum (das „abstrakte oder strenge Recht“, GPhR § 94 Anm.). Zu dieser sofortigen Aufhebung des Verbrechens während seiner Begehung gehört in der Naturrechtslehre vor allem die Notwehr. Durch die Notwehr wird der Verbrecher gezwungen. Hegel erwähnt diese Art von Zwang, die im strengen Sinne weder (durch den Staat verordnete) Strafe noch (private) Rache ist, freilich nur kurz (vgl. GPhR § 94). Sie ist auch so gut wie unumstritten. Diese Existenz des Verbrechens ist nicht nur als Absicht bzw. Vorsatz des Verbrechers während der Begehung des Verbrechens zu sehen, sondern auch als der gegenwärtige und zukünftige Wille des Verbrechers. Hegels Voraussetzung ist, dass der „besondere Wille des Verbrechers“ weiterhin ein verbrecherischer Wille ist, wenn er unbestraft bleibt. In seiner Vorlesung über Naturrecht und Staatswissenschaft von 1818/19 sagt Hegel ausdrücklich: Was der Wille thut, ist der Erscheinung nach ein Einzelnes, aber auch zugleich ein Allgemeines – etwas Zeitliches und etwas Zeitloses. – So bleiben die Folgen der Handlung, wenn die That auch selbst verborgen ist. So bleibt der stiehlt, ewig ein Dieb, nicht bloß in der Erinnerung, sondern wirklich. (NRSW 275f.)

Und wenig später fügt er hinzu: „die That des Verbrechers ist nicht bloß etwas Vorübergehendes, Einzelnes, sondern zugleich Allgemeines ein Gesetz, daß es erlaubt sey einen zu verletzen“ (ebd. 276f.). Wenn also die Strafe nicht stattfände, so beginge der Verbrecher nochmals Verbrechen. Demnach muss, damit das Recht nicht wieder verletzt wird, der Wille des Verbrechers gezwungen werden: „Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers. Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also

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ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederherstellung des Rechts“ (GPhR § 99). Die Spezialprävention ist also ein Zweck der Strafe, die notwendigerweise zum primären Zweck der Aufhebung des Verbrechens gehört. Allerdings ist auch die Generalprävention nicht nur eine indirekte Nebenfolge der so begründeten Strafe, sondern notwendigerweise auch ein Zweck der Strafe selbst. Es heißt: „Ist die Gesellschaft noch an sich wankend, dann müssen durch Strafen Exempel statuiert werden, denn die Strafe ist selbst ein Exempel gegen das Exempel des Verbrechens“ (GPhR § 218 Zusatz). Dieser generalpräventive Zweck der hegelschen Straftheorie ist auch indirekt von dem Hauptzweck der Aufhebung des Verbrechens abgeleitet. In seiner Tat nimmt der Verbrecher alle Folgen in Kauf, die er voraussehen kann. Diese handlungsinternen Folgen, darunter das Risiko, dass sein Verbrechen andere Bürger zum Begehen eines Verbrechens bewegt, gehören zu seiner verbrecherischen Absicht. Die Beziehung zwischen dem Willen des Verbrechers und diesen Folgen ist also enger als die Beziehung zwischen dem Willen des Verbrechers und dem Schaden, für den er mit Schadenersatz haftet. Der Schaden ist nämlich nicht unbedingt vom Verbrecher vorhersehbar: er gehört teilweise zu den handlungsexternen Folgen. Dass der Verbrecher für die handlungsinternen Folgen nicht nur haftet, sondern auch bestraft wird, ergibt sich daraus, dass der verbrecherische Wille zu zwingen ist, zu dem nur die handlungsinternen Folgen, nicht aber die handlungsexternen Folgen gehören. Die handlungsinternen Folgen müssen nicht unbedingt geschehen; sie stellen aber ein Risiko (Hegel spricht in GPhR § 218 Anm. von „Gefährlichkeit“) dar, das der Verbrecher in Kauf nimmt. Hegel erklärt dies in der Vorlesung über Philosophie des Rechts (1824/25) an einem Beispiel: Ein Verbrechen ist gefährlich d. h. es ist zunächst Verbrechen, es hat aber noch einen weiteren Effekt, weiteren Zusammenhang. Die einzelne Handlung ist so in sich etwas weiterreichendes, allgemeineres, als sie ihrer äusseren Realität nach scheint. Wenn ich ein Licht an ein Stück Holz halte, so berührt die Flamme nur einen kleinen Theil der Oberfläche. Der Brandstifter thut dasselbe und geht fort, so ist sein Verbrechen von geringem Umfange, aber das Holz hängt mit anderem Holz zusammen, was zusammen ein Haus ausmacht, dieß mit anderen Häusern, die eine Stadt ausmachen, und so kann das Feuer eine Stadt zerstören. Diese Allgemeinheit ist die Gefährlichkeit des Verbrechens. (PhR 279)

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Diese handlungsinterne Gefährlichkeit ist von der handlungsexternen Gefährlichkeit streng zu unterscheiden, wenn man nicht einer konsequentialistischen Fehlinterpretation Hegels aufsitzen will: Manche qualitative Bestimmungen, wie die Gefährlichkeit für die öffentliche Sicherheit, haben in den weiter bestimmten Verhältnissen ihren Grund, aber sind auch öfters erst auf dem Umwege der Folgen statt aus dem Begriffe der Sache aufgefaßt; – wie eben das gefährlichere Verbrechen für sich, in seiner unmittelbaren Beschaffenheit, eine dem Umfange oder der Qualität nach schwerere Verletzung ist. (GPhR § 96 Anm.)

Dass das Verbrechen ein „Exempel“, also einen Präzedenzfall für dritte Personen bilden kann, dieses Risiko gehört zum besonderen Willen des Verbrechers. Indem der Wille des Verbrechers gezwungen wird, wird auch dieser Präzedenzfall aufgehoben, was eine – dann aber erst sekundäre – generalpräventive Wirkung hat. Die unterschiedliche Gefährlichkeit, die der Verbrecher in Kauf nimmt, erklärt die unterschiedliche Härte der Strafe je nach der Epoche. Die Härte der Strafe richtet sich danach, wie sicher die Rechtsgemeinschaft ist bzw. welche Destabilisierungsrisiken für die Rechtsgemeinschaft durch die Nachahmung des Verbrechens bestehen. Eine vorstaatliche Gesellschaft, in der die Ahndung der Verbrechen noch Privatsache ist, bzw. eine schwache Rechtsgemeinschaft müssen hart bestrafen, um sich zu erhalten; eine sichere Rechtsgemeinschaft muss es nicht: sie soll milder ahnden. Eines ist aber für Hegel sicher: die Rechtsgemeinschaft kann nie ihrer selbst so sicher sein, dass sie das Verbrechen unbestraft lassen dürfte. Hegel schreibt: Wenn es […] einerseits für die Gesellschaft unmöglich wäre, das Verbrechen unbestraft zu lassen, weil es alsdann als Recht gesetzt würde, so ist doch, weil die Gesellschaft ihrer selbst sicher ist, das Verbrechen immer nur eine Einzelheit gegen sie, ein Unfestes und Isoliertes. (GPhR § 218 Zusatz)

Denn auch wenn kein anderer Bürger den Verbrecher nachahmen würde, beginge dennoch immerhin der Verbrecher selbst weiterhin Verbrechen, solange er nicht anders gezwungen wird. Es sei darauf aufmerksam gemacht, dass der spezialpräventive Zweck selbst nicht irgendeine Spezialprävention ist. Hegels Spezialprävention wird immer wieder negativ formuliert: „das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde“ 39 (GPhR § 99); es wäre „für die Gesell39

Hegels handschriftliche Bemerkung in seinem Handexemplar erläutert dies

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schaft unmöglich […], das Verbrechen unbestraft zu lassen, weil es alsdann als Recht gesetzt würde“ (GPhR § 218 Zusatz). Eine andere Auffassung der Spezialprävention könnte unter der Annahme, dass eine Strafe umso abschreckender wirkt, je härter sie ausfällt, möglichst harte Strafen verlangen, damit die öffentliche Sicherheit maximiert wird. Dem widerspricht Hegels Spezialprävention. Im Gegenteil sollen die Verbrecher zu gelinderen Strafen verurteilt werden; die Strafen müssen einfach gerade so hart sein, dass sie dem Zusammenhalt der Rechtsgemeinschaft nicht widersprechen bzw. ihn direkt gefährden. Insoweit ist Hegels Straftheorie m. E. primär eine minimale Spezialprävention und sekundär eine ebenfalls minimale Generalprävention. Es ist bezeichnend, dass Hegel verschiedene Theorien als oberflächlich kritisiert, aber nicht die Spezialprävention: „Verhütungs-, Abschreckungs-, Androhungs-, Besserungs- usw. Theorie“ (GPhR § 99 Anm.); „abzuschrecken, zu bessern usf.“ (ebd.), „spezifisch[e] Gleichheit“ (GPhR § 101 Anm.) usw. werden genannt. Allein die Spezialprävention fehlt. Zur Spezialprävention gehört, dass der Verbrecher der einzige wesentliche Adressat der Strafe ist, während in der Abschreckungssowie in der Androhungstheorie als Generalprävention die ganze Bevölkerung Adressat ist: Gegen den Verbrecher, der Gewalt bzw. Zwang ausgeübt hat, wird auch Zwang ausgeübt. Diese reflexive Struktur der Spezialprävention erklärt, warum Hegel in § 101 von „Wiedervergeltung“ spricht. Wir haben aber oben (Kap. 5.3) gesehen, dass diese Wiedervergeltung ansonsten nicht mit der klassischen Wiedervergeltungslehre, d.h. mit dem Retributivismus zu verwechseln ist, den Hegel übrigens scharf kritisiert. Die Frage stellt sich aber, wie sich § 100, den die retributivistischen Interpretationen für eine subjektive Rechtfertigung des Retributivismus halten (s. o. Kap. 5.2.1) und Seelmann (1993, 1993a) als „Gesetzesargument“ bezeichnet (s.o. Kap. 5.2.2), mit der hier vorgeschlagenen Interpretation vereinbaren lässt.

wie folgt: „d.h. allgemeine Existenz haben würde, denn einzelnes Sein ist hier allgemein – für Alle.“

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

Dieser Paragraph beschäftigt sich tatsächlich mit der subjektiven Seite des Verbrechens. Dies lässt sich durch eine spezialpräventive Interpretation aber leicht erklären. Die Vorlesung über Philosophie des Rechts von 1824/25 leitet die subjektive Perspektive ausdrücklich aus der Aufhebung des Verbrechens im besonderen Willen des Verbrechers ab: Dieser daseiende Wille des Verbrechers […] muß angegriffen werden […]. Damit hängt zusammen daß eine Strafe empfindlich sein muß für den Verbrecher. Wenn die Strafe nicht empfindlich ist, so ist nicht sein daseiender Wille darin verletzt […]. (PhR 285)

Die subjektive Seite tritt also nicht etwa als subjektive Rechtfertigung auf, ohne welche es der Strafe an einer Begründung fehlte, sondern sie wird erst von dem spezialpräventiven Zweck der Strafe abgeleitet, der in der Aufhebung des Unrechts begründet ist. Ein Zwang muss per definitionem empfindlich sein. Anders als Anselm Feuerbach versteht Hegel unter dem Empfindlichen nicht nur das, was etwa die Triebe und die Angst bewegt, sondern auch moralische Vorstellungen des Verbrechers. Nun ist nach Hegel das Talionsrecht das, was jeder, daher auch der Verbrecher am ehesten empfinden kann: „Jus talionis ist ein natürlicher Begriff in der Empfindung, und wurde von jeher als Grundlage der Strafen angesehn“ (NRSW 277). Diese subjektiv-moralische Seite des Verbrechens ist weder mit einer Psychologie der Triebe noch mit Hegels rechtlicher Rechtfertigung der Strafe zu verwechseln. Die Anmerkung zu § 99 zeigt das deutlich. Darin spricht Hegel deutlich von dreierlei: a) von einem auf die Triebe durch ein „Übel“ bzw. durch die „Hervorbringung eines Übels“ ausgeübten Zwang (dies entspricht Kleins von Hegel getadelter Straftheorie; im Zusatz zu § 99 lehnt Hegel auch Feuerbachs Begründung der Strafe durch „Androhung“ eines Übels ab); b) von der Rechtfertigung der Strafe („um Unrecht und um Gerechtigkeit“; „die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist“; „die Begründung […], daß das Strafen an und für sich gerecht sei“; „das Verbrechen […] als Verletzung des Rechts als Rechts aufzuheben“);

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c) von dem moralischen Gefühl des Verbrechers („der moralische Gesichtspunkt, die subjektive Seite des Verbrechens“). Hegel unterscheidet (a) von (c), indem er die Konsequenzen der kleinschen Theorie der Strafe als Übel kritisiert: es folgt von selbst, daß der moralische Gesichtspunkt, die subjektive Seite des Verbrechens, vermischt mit trivialen psychologischen Vorstellungen von den Reizen und der Stärke sinnlicher Triebfedern gegen die Vernunft, vom psychologischem Zwang und Einwirkung auf die Vorstellung (als ob eine solche nicht durch die Freiheit ebensowohl zu etwas nur Zufälligem herabgesetzt würde), zum Wesentlichen wird. (GPhR § 99 Anm.)

Die moralisch-subjektive Seite wird durch Vernunft und Freiheit definiert. Eben diese sind die beiden Grundelemente von § 100. Das erklärt, warum Hegel schreibt: Es ist aber weder bloß um ein Übel [das die Triebe bewegen soll] noch um dies oder jenes Gute zu tun, sondern es handelt sich bestimmt um Unrecht und um Gerechtigkeit [d. h. um die Aufhebung des Verbrechens]. Durch jene oberflächlichen Gesichtspunkte wird die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist, beiseite gestellt, und es folgt von selbst, daß der moralische Gesichtspunkt, die subjektive Seite des Verbrechens, vermischt mit trivialen psychologischen Vorstellungen […] wird. (GPhR § 99)

Hegel erkennt die retributivistische Dimension zwar nicht als den „erste[n] und substantielle[n] Gesichtspunkt“ bzw. als Hauptrechtfertigung der Strafe an, wohl aber als nötiges Mittel zum Zweck der Strafe: diese Dimension ist die „subjektive Seite“ des Verbrechens und der Strafe, dennoch keine subjektive Rechtfertigung. Sogar wenn die objektive Rechtfertigung noch einer subjektiven Rechtfertigung bedürfte, ließe sich diese Rechtfertigung sicherlich nicht im Prinzip der Wiedervergeltung finden. Wir haben schon gesehen, wie Hegel dem sich in Widersprüchen verwickelnden common sense das Prinzip zuschreibt, „daß [das Verbrechen] Strafe verdiene und dem Verbrecher geschehen solle, wie er getan hat“ (GPhR § 101 Anm.). Dies gilt nicht nur für das abstrakte Recht: auch die Moralität (GPhR §§ 105ff.) betrachtet das Prinzip der Wiedervergeltung als unmittelbar bzw. „oberflächlich“ 40 und widersprüchlich. So schreibt 40 Vgl. Hegels handschriftliche Bemerkung zu GPhR § 118: „Oberflächlich[:] dem Guten soll es gut gehen – dem Bösen übel“.

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II. Bestrafen zur Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft?

Hegel im Zusammenhang mit dem Prinzip der Wiedervergeltung im „abstrakten Recht“: Es ist nicht abzusehen, wie diese Wissenschaften, welche die Quelle ihrer Bestimmungen in der allgemeinen Vorstellung haben, das andere Mal einer solchen auch sogenannten allgemeinen Tatsache des Bewußtseins widersprechende Sätze annehmen. (GPhR § 101 Anm.)

Ein Beispiel dafür finden wir nun gerade im ersten Abschnitt der „Moralität“ – „Der Vorsatz und die Schuld“ –, der zur Unterscheidung zwischen der Tat bzw. „der äußerlichen Begebenheit“ und der Handlung bzw. „dem Vorsatze und Wissen der Umstände“ führt (GPhR § 118 Anm.). Nach Hegel können die handlungsinternen Folgen von den handlungsexternen Folgen nur mit „Unbestimmtheit“ unterschieden werden, weil „die innere Notwendigkeit [die handlungsinternen Folgen] am Endlichen als äußere Notwendigkeit […] ins Dasein tritt“ (ebd.), d.h. wie handlungsexterne Folgen erscheint. Hegel schreibt: „Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen und sie zum Maßstabe dessen, was recht und gut sei, zu machen – ist beides gleich abstrakter Verstand“ (ebd.). Seit Fazit lautet: Hierin liegt, daß es dem Verbrecher, wenn seine Handlung weniger schlimme Folgen hat, zugute kommt, so wie die gute Handlung es sich muß gefallen lassen, keine oder weniger Folgen gehabt zu haben, und daß dem Verbrechen, aus dem sich die Folgen vollständiger entwickelt haben, diese zur Last fallen. (GPhR § 118 Anm.)

Wenn man abstrakt Tat und Handlung trennt, so führt dies zur „Zersplitterung der [strafrechtlichen] Folgen“ (ebd.). Damit verschwindet aber in der Vorstellung des common sense die Möglichkeit der Wiedervergeltung der Handlung, und nur die Tat kann wiedervergolten werden: „Schuld oder Unschuld – in Beziehung auf Übel – und des Übels auf Schuld. – Leiden überhaupt, – auch Strafe darunter, – als eine Folge überhaupt der Handlung – oder auch nicht“ (handschriftliche Bemerkung zu GPhR § 118). Wenn sich das Wiedervergeltungsprinzip nur auf die Tat bezieht, so kann es die subjektive Seite nicht wahrnehmen und sieht von dem verbrecherischen Willen ab, ohne welchen es kein Verbrechen, sondern nur ein Übel gibt. Das Wiedervergeltungsprinzip kann also nicht als Rechtfertigung der Strafe angesehen werden, sondern – wie bei Fichte (GNR I/4 61, vgl.

5. Hegels präventive Negation des Verbrechens

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Kap. 4.3) – nur als Mittel eines Zwecks der Strafe gerechtfertigt sein. Als äußerliches, oberflächliches Prinzip ist das Wiedervergeltungsprinzip aber besonders geeignet, für den Verbrecher verständlich zu sein: die Wiedervergeltung setzt eine äußerliche, unmittelbare Identität zwischen Verbrechen und Strafe; unmittelbar ist diese Identität, weil sie nicht über die Begriffe des Rechts und des Gesetzes sowie über deren notwendige Geltung läuft, sondern sich nur auf die materiellen Folgen der Tat des Verbrechers für das Opfer und auf die materiellen Folgen für den Verbrecher bezieht, kurz auf das Übel. Gleichwohl suggeriert das Wiedervergeltungsprinzip dem Verbrecher eine regelmäßige, nicht physische Identität zwischen seiner Tat und seiner Strafe. Damit stellt es eine erste Stufe jenes Bewusstseinsprozesses dar, der zur Rehabilitation führt. Insofern Hegel das Strafrecht ursprünglich weder mit der Spezialbzw. mit der Generalprävention noch mit der Rehabilitation noch mit dem Wiedervergeltungsprinzip rechtfertigt, sondern mit der notwendigen Selbstzerstörung des Zwangs bzw. aus der Selbstaufhebung desselben, kann seine Begründung des Strafrechts nicht auf eine bloße Präventionstheorie reduziert werden. Wenn man in den üblichen Kategorien denkt, muss man dennoch feststellen, dass Hegel die Spezialprävention zusammen mit der Rehabilitation als primären Zweck und als primäre Begründung der Strafe ansieht, während die Generalprävention einen sekundären, dennoch wichtigen Zweck darstellt. Der Retributivismus liefert dagegen weder einen Zweck noch eine Rechtfertigung der Strafe. Als Fazit dieser Untersuchung der hegelschen Begründung des Strafrechts muss ich wie in meiner Untersuchung der kantischen (s. o. Kap. 2–3) bzw. fichteschen (s. o. Kap. 4) Begründung feststellen, dass, wenn man nicht von der Absicht oder von der Tat des Verbrechers, sondern von dem Rechtsbegriff ausgeht, der allen drei Autoren gemeinsam ist, der Retributivismus nicht wiederzufinden ist. Da der Rechtsbegriff bei allen drei Autoren (zu Recht) auf einer höheren Stufe als deren Strafrecht steht, muss der Vertreter dieses Rechtsbegriffs auf den Retributivismus verzichten.

III. Retributivismus ohne Respekt vor der Menschenwürde des Verbrechers? Die Wiedervergeltungstheorie ist nicht nur mit dem Rechtsbegriff der kantischen Philosophie (siehe Teil I) und des deutschen Idealismus inkompatibel (siehe Teil II). Entgegen Kants Ansprüchen erweist sie sich sogar als eine Theorie, welche die Würde in der Person des Verbrechers weniger beachtet als präventive Alternativen. Am radikalsten hat Nietzsche die Sorge um die Würde des Menschen sowohl in der Person der Bürger als auch in der Person des Verbrechers als Motiv und plausiblen Zweck der retributivistischen Strafe ausgeschlossen. Nach Nietzsche lässt der Wiedervergeltungsgedanke der nötigen Verinnerlichung und Reflexion keinen Platz, aus der allein das schlechte Gewissen und die Reue im Verbrecher sowie der humane Umgang der Gesellschaft mit ihm entstehen könnten (Kapitel 6). In bewusster Absetzung davon plädiere ich im letzten Kapitel vom Standpunkt einer Kombination von Spezialprävention und Resozialisierung für einen die Würde des Menschen respektierenden Umgang sogar mit den schwersten und inhumansten Verbrechern, d.h. mit den Verbrechern gegen die Menschlichkeit. Claus Roxin glaubt einen schlagenden Einwand gegen die „spezialpräventive Konzeption“ zu erheben, indem er ihr vorwirft, ihre letzten Konsequenzen nicht übernehmen zu wollen: Das schlagende Beispiel sind im Augenblick die KZ-Mörder, von denen manche zahllose unschuldige Menschen aus sadistischen Motiven grausam getötet haben. Diese Mörder leben heute meist unauffällig und sozial eingeordnet, sind also einer ‚Resozialisierung‘ nicht bedürftig; auch die Gefahr der Wiederholung, von der sie abgeschreckt und vor der wir gesichert werden müßten, besteht bei ihnen nicht. Sollen sie deshalb wirklich straflos bleiben? (ROXIN 1973, 7)

Roxin geht implizit davon aus, dass sich niemand trauen würde, auf diese Frage mit Ja zu antworten. Doch gerade diese Antwort scheint mir die richtige zu sein, wie ich über die Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zeigen versuche (Kapitel 7).

6. Strafe hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun

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6. Strafe hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun (Nietzsche) Kant schreibt der Strafe zwar nicht den Zweck zu, das schlechte Gewissen und daher auch die Reue des Verbrechers zu erwecken. Wenn die Strafe zu einem solchen Zweck verhängt würde, fände sie nämlich nicht – wie Kant fordert – bloß deswegen statt, weil der Verbrecher das Recht gebrochen hat, sondern damit ein bestimmter Zustand entsteht. Da die Erweckung des schlechten Gewissens bzw. der Reue aber ein minimalistischer Zweck zu sein scheint, der darüber hinaus einen eindeutigen Bezug auf die Würde des Verbrechers hat, entwickeln manche Kant-Interpreten eine Auffassung der retributivistischen Strafe, die sich nach diesem Zweck richtet (vgl. z. B. Hill 2002 Kap. 9 und 11). Wenn man davon ausgeht, dass die retributivistische Strafe die Menschenwürde des Verbrechers besonders achtet und sie – wie Hegel hervorgehoben hat (siehe Kap. 5.5) – auch in dem einfachsten Verstand den Gedanken einer Verbindung zwischen Verbrechen und Strafe hervorrufen kann, so kann man sich von der retributivistischen Strafe die Reue des Verbrechers erhoffen. Dass eine solche Rechtfertigung nicht selbstverständlich, sondern sehr problematisch ist, zeigt uns am besten Nietzsche. Nietzsches „Streitschrift“ Zur Genealogie der Moral (1887) widersetzt sich einer solchen moralisierenden Auffassung der Wiedervergeltung und der Strafe. In Nietzsches Perspektive stammt die Wiedervergeltung nicht aus der Sorge um die Würde der Menschlichkeit in der Person des Verbrechers, sondern aus der aktiven Schadenfreude der Opfer und der anderen Menschen. Die Abbüßung der Strafe kann auch unmöglich ein Anlass zur moralischen Bekehrung sein, sie stärkt vielmehr den verbrecherischen Willen des Verbrechers. Als humanere strafrechtliche Option erweist sich die präventiv gerichtete Strafe. In Nietzsches Genealogie der Moral gehören die Abschnitte II 8–15 zum Zusammenhang der zweiten Abhandlung, deren Ziel die Erforschung der Herkunft des Schuldgefühls ist. Der Abschnitt II 8 zieht zunächst eine Bilanz der Abschnitte über die Entstehung des Versprechens (GdM II 1–3) sowie über die Entstehungsgeschichte der Schuld und deren Tilgung auch in Form eines Leiden-Lassens des insolventen Schuldners: Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung

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III. Retributivismus ohne Respekt vor der Menschenwürde?

in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person, hier mass sich zuerst Person an Person. (GdM II 8)

Der weitere Gang der Untersuchung besteht in diesen Abschnitten aus drei Schritten. Erstens stellt Nietzsche die Entstehung der öffentlichen Strafe nach dem „Moral-Kanon der Gerechtigkeit“ dar (GdM II 8–10, zitiert 8). Zweitens skizziert Nietzsche sodann die Entstehung der öffentlichen Gerechtigkeit in Ablehnung von Dührings Auffassung der Gerechtigkeit und der Strafe als Ressentiment bzw. als Rache (GdM II 11–13). Drittens und schließlich geht Nietzsche noch einen Schritt weiter: Er trennt die öffentliche Strafe, deren Entstehung er bisher ohne Bezug auf das Schuldgefühl des Verbrechers erklärt hat, von diesem angeblichen Schuldgefühl radikal ab (GdM II 14–15). Im Folgenden werde ich mich vor allem dem ersten Teil widmen, d.h. den Abschnitten 8–10, weil sie den Kern von Nietzsches Auffassung der Strafe darstellen. 6.1 Die Genealogie der öffentlichen Strafe Aus dem nach Nietzsche ältesten Personenverhältnis, d.h. aus dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer entsteht die „Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen“ (GdM II 8). Nach einem physiologischen Prozess, den Nietzsche im Philosophen-Buch erklärt hat (WuL I, 880), wird die Gewohnheit zu einer Allgemeinheit. Auf diese Weise entsteht die „Verallgemeinerung“, welche die „erste Stufe“ der Gerechtigkeit bzw. deren „ältesten und naivsten Moral-Kanon“ ausmacht: „jedes Ding hat seinen Preis; Alles kann abgezahlt werden“ (GdM II 8). Dieser Moral-Kanon ist schon deswegen „naiv“, weil er noch nicht verinnerlicht, ‚vergeistigt‘ ist, um mich des Wortschatzes Nietzsches zu bedienen. In dieser Passage, die auf dem genannten Prinzip der Gerechtigkeit beruht, werden zudem Schuld und Strafe noch nicht in ihrer verinnerlichten Dimension untersucht, sondern nur in der äußerlichen Dimension einer Schädigung und der Bestrafung ihres Verursachers. Nicht nur das Schuldgefühl, sondern auch die innere Schuld werden in dieser Erklärung der Errichtung der öffentlichen Strafe unberücksichtigt bleiben.

6. Strafe hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun

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Weil dieser Moral-Kanon noch nicht verinnerlicht ist, ist er auch in dem Sinne naiv, dass er noch unverhüllt „Macht an Macht“ vergleicht und sich durch Machtverhältnisse definiert: „Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu ‚verständigen‘ – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen“ (GdM II 8). Kurz: die Gerechtigkeit ist hier in einem bloß positivistischen Sinne zu verstehen. Nicht der gerechte Tausch wird durch die Äquivalenz der getauschten Güter definiert, sondern die Äquivalenz wird durch den tatsächlichen Tausch der Güter definiert, welcher wiederum durch ein Machtverhältnis bestimmt ist (vgl. dazu Ottmann 1987, 131). In diesem Punkt folgt Nietzsche Hobbes, der den folgenden Einwand gegen jene Autoren erhebt, die Tauschgerechtigkeit als ein arithmetisches Verhältnis betrachten: Als wäre es ungerecht, teurer zu verkaufen als einzukaufen, oder jemandem mehr zu geben, als er verdient! Der Wert aller Gegenstände eines Vertrags bemißt sich nach dem Verlangen der Vertragspartner, und deshalb ist der gerechte Wert der, den sie zu zahlen bereit sind.41 (Leviathan Teil I Kap. 15, S. 115 der deutschen Ausgabe)

Das Fazit, an das wir uns zur gegebenen Zeit erinnern müssen, lautet: Unparteilichkeit ist unmöglich. Genauso wie bei Hobbes die Gerechtigkeit vom Leviathan allein definiert wird, so wird bei Nietzsche die Rechts- und Staatsgemeinschaft auf die Aufgaben des Schutzes, des Friedens und der Vertrauensstiftung beschränkt. Dementsprechend ist der Verbrecher ein Angreifer (er „vergreift“ „sich sogar an seinem Gläubiger“), ein „Friedlose[r]“ und ein „Vertrags- und Wortbrüchiger“ (GdM II 9) – also jemand, der nicht mehr versprechen darf. Nietzsches Erklärung der Entstehung der Strafe in den Abschnitten II 9–10 seiner Genealogie der Moral zeigt uns prima facie vier Perioden der öffentlichen Strafe:

41 Im Original: “As if it were injustice to sell dearer than we buy; or to give more to a man than he merits. The value of all things contracted for, is measured by the appetite of the contractors: and therefore the just value, is that which they be contented to give.”

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III. Retributivismus ohne Respekt vor der Menschenwürde?

1. die Strafe als eine Art Krieg (GdM II 9); 2. die Strafe als „Compromiss mit dem Zorn“ in einer Zeit „erstarkender Macht“; 3. die Milderung der Strafe („Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht“); 4. die Straflosigkeit in einer „nicht undenkbar[en]“ Zeit des besonders entwickelten „Machtbewusstsein[s]“ (alle GdM II 10). Wenn wir diese vier Perioden näher betrachten, so fällt nicht nur auf, dass lediglich in der zweiten und der dritten Periode eine öffentliche Strafe besteht, sondern auch, dass es eine Rechts- und Staatsordnung nur in den beiden genannten Perioden geben kann. Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, warum dies so ist und zu welcher Funktion für die öffentliche Strafe diese Tatsache führt. Der Abschnitt II 9 zieht in einer ersten Periode die logische Konsequenz aus der Feststellung, dass der Verbrecher ein Angreifer, ein Friedloser und ein Vertrags- und Wortbrüchiger ist. Bestraft wird „am wenigsten“ der „unmittelbar[e] Schaden“, sondern „vor allem“ (GdM II 9) der Wortbruch, dessen logische Folge sein sollte, dass der Verbrecher nicht mehr versprechen darf. Der Verbrecher ist nämlich mehr als bloß ein insolventer Schuldner: Er greift den Gläubiger an, erkennt also das Geschuldete nicht an. Es stellt sich daher die Frage, ob der Gläubiger mit ihm trotzdem einen Ausgleich erreichen kann, wie dies mit dem einfachen insolventen Schuldner der Fall ist, dem der Gläubiger immerhin als Ausgleich Leiden zufügen kann, weil dies Freude macht. Auf diese Frage werde ich noch zurückkommen. Nietzsche bevorzugt aber prima facie einen anderen Gedankenweg. Jedes Mitglied der Gemeinschaft ist nach Nietzsche ein Schuldner, der das Geschuldete zu bezahlen hat: Er muss zum Frieden, zu gegenseitigem Schutz und Vertrauen beitragen. Weil der Verbrecher das nicht kann, vermag er kein Mitglied mehr zu sein. Er ist ‚êlend‘, d.h. ausgewiesen, verbannt und vogelfrei. Denselben provisorischen Schluss zog beispielsweise – wie erwähnt (s. o. Kap. 4.3) – schon Fichte (GNR I/4 59): Der Verbrecher wird von der Gesellschaft in die „Wüste“ ausgewiesen und jeder darf ihn wie ein schädliches Wildtier erschießen. Seine Tötung und alles das, was ihm nach der Ausweisung geschieht, ist nicht mehr Sache der Rechtsgemeinschaft.

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Gleichzeitig lassen sich im selben Abschnitt noch Elemente einer anderen Logik finden: 1. Elemente des Ausgleichs: „Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann“ (vgl. GdM II 5f.). 2. Elemente der Mnemotechnik: Der Verbrecher geht „von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vortheile verlustig, – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, was es mit diesen Gütern auf sich hat“ (vgl. GdM II 3). 3. Elemente des Zufügens von Leid, was in Abschnitt II 6 als Ausgleich für die unbezahlten Schulden galt. Nietzsche fasst zusammen: Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück […]. Die „Strafe“ ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der Mimus des normalen Verhaltens gegen den gehassten, wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind, […] also das Kriegsrecht und Siegesfest des vae victis! in aller Schonungslosigkeit und Grausamkeit […]. (GdM II 9)

Das Leiden ist aber schon der Ausgleich für den einfachen insolventen Schuldner. Wenn auch für den Verbrecher das Leiden der Ausgleich ist, so werden insolvente Schuldner und Verbrecher gleich behandelt, obwohl die Schulden des Verbrechers grundsätzlich qualitativ höher sind. Dies würde auf eine relative Ohnmacht der Rechtsund Staatsgemeinschaft gegenüber dem Verbrecher hinweisen sowie auch darauf, dass nicht der Ausgleich und das Zufügen von Leid die Strafe ausmachen, sondern – wenn überhaupt – die Mnemotechnik (vgl. besonders GdM II 3). Der Kontrast zwischen dem „Zorn […] des Gemeinwesens“ und dessen Reaktion fällt deutlich aus: Zunächst „stösst“ das Gemeinwesen den Verbrecher „von sich“; erst danach „darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen“ (GdM II 9). Es ist auch unklar, wessen Zorn sich mit Grausamkeit gegen den Verbrecher richtet. Nietzsche schreibt bloß: „Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück“ (Logik der Ausweisung) und: „nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen“ (Logik der Zufügung von Leid). Letztere Formulierung ist unbestimmt, genauso wie die folgenden und letzten Zeilen von Abschnitt II 9. Handelt es sich hier um zwei logische Momente der öffentlichen Strafe oder um zwei Akteure der Strafe?

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Entweder weist die Rechts- und Staatsgemeinschaft zuerst den Verbrecher aus (erstes Moment), und dann behandelt sie ihn mit Grausamkeit wie einen wehrlosen Feind, wobei man an „alle Arten Schmach und Folter“ (GdM II 5) denken kann (zweites Moment). Oder der Staat (erster Akteur) weist den Verbrecher aus und die einzelnen Bürger (zweiter Akteur) verüben selbst allerlei Grausamkeiten am Verbrecher – hier kann man als modernes Äquivalent die Lynchjustiz nennen. Die plausiblere Antwort liegt freilich dazwischen: Die Rechts- und Staatsgemeinschaft übt diese Grausamkeiten aus, weil der Verbrecher ausgeschlossen wurde und die einzelnen Bürger zornig sind und diese Grausamkeiten fordern. Die Unterscheidung zwischen der Rechts- und Staatsgemeinschaft als solcher und der Summe ihrer Mitglieder kommt allerdings erst in der zweiten Periode der Strafe klar zum Ausdruck. Nietzsche schreibt dort: „der Übelthäter wird nicht mehr ‚friedlos gelegt‘ und ausgestossen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaassen zügellos an ihm auslassen“ (GdM II 10). Der Ausschluss oder der Verbleib des Verbrechers in der Gemeinschaft wird also vom Zorn der Gemeinschaft als solcher, vom Regierenden getroffen, nicht vom „allgemeinen Zorn“ der Masse. In der ersten Periode entscheidet sich der Regierende für den Ausschluss. Ob er dann selbst die Grausamkeiten durchführt oder sie einfach zulässt, wonach sie von der Menge durchgeführt werden, ist eigentlich Nebensache: In beiden Fällen diktiert „der allgemeine Zorn“ die Strafe, nicht der Regierende und dessen Zorn. Der allgemeine Zorn ist aber reaktiv: Er ist ein Ressentiment, das aus der Ohnmacht entsteht (vgl. GdM II 5). In diesem Fall entsteht die Ohnmacht vermutlich aus der Unmöglichkeit, die Wirkung des Verbrechens rückgängig zu machen. Zorn ist etwas anderes als die Bereitschaft zum Ausgleich. Auch wenn Nietzsche die Zufügung von Leid als Genuss durchaus als einen Ausgleich ansieht (GdM II 5–7), ist es wahrscheinlich, dass die Zornigen auch mit dem Leiden des Verbrechers unzufrieden bleiben. Für das Opfer ist der Genuss des Leidens nur ein Surrogat. Dass es „Krieg“ zwischen der Menge und dem Verbrecher gibt (GdM II 9), weist in diese Richtung hin. Da es sich nicht um einen Krieg zwischen Staaten handelt und der Staat keinen Krieg mit Einzelmenschen führen kann, so kann es nur um einen Krieg zwischen der

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Bevölkerung und dem Verbrecher gehen. Ein Krieg kann aber nur zwischen zwei Gemeinschaften stattfinden; deshalb handelt es sich hier nur um ein „Abbild“ und sogar um den „Mimus“ eines kriegerischen Verhaltens (ebd.): der Mimus war für die Römer nur eine Farce. In der Tat spricht Nietzsche in der zweiten Periode von der Vermeidung „einer weiteren oder gar allgemeinen Betheiligung [am Zorn] und Beunruhigung“ (GdM II 10). Weil im Kontext dieser zweiten Periode ein impliziter Kontrast zur ersten Periode besteht, darf man behaupten, dass die erste Periode durch eine Verbreitung der Beunruhigung gekennzeichnet ist. Die erste Periode war also eher eine Periode der privaten Gerechtigkeit. In der zweiten Periode wird die Strafe nicht mehr durch die Menge, sondern durch die Rechts- und Staatsgemeinschaft als solche bestimmt. Erst hier haben wir es mit einer öffentlichen Strafe im eigentlichen Sinne zu tun; im Zusammenhang mit der ersten Periode schrieb Nietzsche „Strafe“ dagegen nur in Anführungszeichen. Nietzsche beginnt Abschnitt II 10 mit den folgenden Worten: „Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen“. Aus diesem Grund – hier stimmt Nietzsche mit Hegel überein – können die Strafen milder ausfallen. Heutzutage würde man die Gefährlichkeit und das Risiko eines Umsturzes tatsächlich so interpretieren wie Hegel in § 218 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts: Je stabiler der Staat ist, desto geringer wird das Risiko, dass ein Verbrechen weitere Verbrechen anregt und daher eine härtere Generalprävention nötig macht. Anders als bei Hegel ist jedoch bei Nietzsche nicht von diesem Risiko die Rede, vielmehr von dem Risiko, dass ein Verbrechen die ganze Gesellschaft aufrührt bzw. zum Bürgerkrieg führt. In welchem Fall wird dieses Risiko geringer? Vielleicht wenn Anzahl und Schwere der Verbrechen so gering gehalten werden bzw. die Sicherheit und das Vertrauen der Bürger so groß sind, dass die Verbrechen vom größten Teil der Bevölkerung nicht als direkt bedrohlich empfunden werden. Noch wahrscheinlicher ist dies aber, wenn der Staat auf eine stabile Weise über das tatsächliche Gewaltmonopol verfügt, was ihm ermöglicht, dem Zorn seiner Bürger erfolgreich zu widerstehen. Dies dürfte die Definition der „erstarkende[n] Macht“ des Staates sein.

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Der Staat nimmt den Verbrecher gegen den „allgemeine[n] Zorn“ in Schutz, damit sein Verbrechen total abzahlbar ist und tatsächlich abgezahlt wird. Anders als der Feind, mit dem man auch nach dessen Niederlage und Tod unversöhnt bleibt, soll die öffentliche Strafe für die komplette Tilgung bzw. für die vollkommene Abzahlbarkeit der Schuld sorgen, die das Verbrechen darstellt. Dabei sind drei Aspekte von Belang. Erstens muss der Staat „den Verbrecher und seine That von einander […] isoliren“. Die Konsequenz daraus ist, dass anders als ein Feind der Verbrecher nicht zu zerstören ist. Der Verbrecher lässt sich auf diese Weise nicht auf sein Verbrechen reduzieren und kann später wieder Mitglied der Rechts- und Staatsgemeinschaft werden. Dabei darf man nicht übersehen, dass Nietzsche diese Entwicklung keineswegs billigen kann. Denn er schreibt in Abschnitt I 13: „es giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun […]; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles“. Wenn man wie Foucault (1976, 26) als Kriterium des modernen Strafrechts im Gegensatz zum vormodernen Strafrecht das Wort Mablys anführt: „Die Strafe treffe eher die Seele als den Körper“ (Que le châtiment […] frappe l’âme plutôt que le corps), so steht Nietzsche klarerweise auf der Seite des vormodernen Strafrechts. Zweitens muss für die auf diese Weise isolierte Tat ein Äquivalent gefunden werden. Oder genauer: es müssen „Äquivalente“ im Plural gefunden werden (GdM II 10), vermutlich je nach Schwere der Tat. Nun bietet sich eben kein wirkliches Äquivalent. Also kann das Äquivalent nur eine Täuschung sein; die (öffentliche) Strafe kann nur auf einer Illusion beruhen. Die Strafe ist kein Äquivalent, sondern nur der Verzicht auf ein Äquivalent. Drittens soll dadurch ein „Compromiss mit dem Zorn der zunächst durch die Übelthat Betroffenen“ erzielt werden. Nietzsche präzisiert den Inhalt dieses Kompromisses nicht. Man darf aber vermuten, dass der Kompromiss darin besteht, dass die Strafe dem Verbrecher Leiden zufügt und ihn als dem Opfer unterlegen erklärt. In der Tat wird Strafe in den meisten Strafrechtstheorien als Zufügung eines Übels definiert (vgl. etwa Kant, RL § 49E, 331ff.; s. o. Kap. 1–3), nicht bloß als irgendeine Antwort auf das Verbrechen (eine Definition der Strafe ohne konstitutive Zufügung eines Leidens ist nichtsdestoweniger

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möglich; die Resozialisierung z.B. geht über die Wiedergutmachung hinaus, ist aber nicht als Übel gedacht). Schon in Abschnitt II 5 schrieb Nietzsche, dass in jenem Falle, in dem „die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die ‚Obrigkeit‘ übergegangen ist“, das Opfer endlich einmal „zu dem erhebenden Gefühle“ kommt, „ein Wesen als ein ‚Unter-sich‘ verachten und misshandeln zu dürfen“ (GdM II 5). Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass der Staat selbst kein Vergnügen am Leiden des Verbrechers bzw. an dessen Erniedrigung nimmt. Der Kompromiss kann aber auch teilweise darin bestehen, dass der Staat eine relative bzw. eine erhöhte Sicherheit garantiert. Mit dem Prinzip der Abzahlbarkeit wird aber noch nichts über das Strafmaß gesagt. Abzahlen kann der Verbrecher sowohl durch eine leichte Strafe als auch durch die Todesstrafe nach vielfältigen, langen Foltern. Das Prinzip der Abzahlbarkeit fordert nur, dass jedes Verbrechen, wie schwer auch immer, abgebüßt bzw. die Schuld getilgt werden kann. Spätestens mit dem Tod des Verbrechers muss also die Versöhnung stattfinden. Erst in der Prämisse der dritten Periode der Strafe (GdM II 10) spricht Nietzsche die Frage des Strafmaßes an: Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder an’s Licht. Der „Gläubiger“ ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden ist; zuletzt ist es selbst das Maass seines Reichthums, wie viel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. (ebd.)

Hier scheint Nietzsche überraschenderweise sowohl ein anderes Prinzip des Strafrechts als auch eine andere psychologische Grundlage desselben einzuführen. Das Prinzip des Strafrechts scheint nicht mehr der Ausgleich entsprechend dem Machtverhältnis, sondern die Prävention zu sein. Ebenfalls scheint der psychische Beweggrund des Herrschers nicht mehr der Wille zur Macht zu sein, sondern die bloße Sicherheit, d. h. der bloß reaktive Wille zur Selbsterhaltung. Diese dritte Periode spitzt sich noch in einer vierten Periode zu: Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt, – ihren Schädiger straflos zu lassen. „Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer

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an? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!“ … (GdM II 10)

Hier wird sogar auf die Prävention verzichtet: die Schmarotzer dürfen die Gemeinschaft schwächen. Die entsprechende psychische Prämisse ist nicht mehr der Wille zur Macht, nicht einmal mehr die Suche nach Selbsterhaltung und Sicherheit, sondern nur noch die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt bzw. die Verschwendung des Luxus. Der Wechsel in den psychischen Prämissen entspricht Nietzsches Auffassung des biologischen Prozesses der Entwicklung und Erschöpfung der Kräfte. Die aktiven Kräfte bleiben bei Nietzsche nicht konstant, sondern versuchen sich zunächst durchzusetzen: Sie streben nach Macht. Sie erschöpfen sich aber einmal und neigen dann nur noch zur Selbsterhaltung auf bloß reaktive Weise oder gar zum Verschwinden, zum Nihil des Nihilismus. Auf dieses letzte Stadium der biologischen Entwicklung lässt sich das abschließende Urteil des Abschnitts II 11 anwenden. Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt […], wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. (GdM II 11)

Nicht nur in der heutigen Debatte über das Strafrecht gilt die Straflosigkeit kaum als eine ernsthafte Option (zu einer Ausnahme vgl. Bianchi 1994). Auch diejenigen Autoren, die keine Vertreter der Generalprävention als Strafzweck sind, teilen die Ansicht, dass eine totale Straflosigkeit ein wichtiger Anreiz zum Verbrechen wäre, so dass schon aus diesem minimalen generalpräventiven Grund keine Rechtsgemeinschaft die Existenz der Strafe entbehren kann, ohne die Existenz der Gemeinschaft selbst in Frage zu stellen. Die tatsächliche Macht eines Staates kann nie so groß sein, dass er auf jegliche Strafe verzichten kann. Bei zunehmender Macht eines Staates, der seine Sicherheit nicht ganz aufgeben will, mag das Strafmaß abnehmen; die Straflosigkeit bleibt allenfalls der stets unerreichbare Horizont dieser Milderung. Die Straflosigkeit weist also auf eine Utopie hin. In der Tat schreibt Nietzsche nicht: ‚Es wäre eine Machtzunahme der Gesellschaft nicht undenkbar‘, sondern: „Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar“ (Hervorhebung JCM). Dieses Macht-

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bewusstsein kann keiner realistischen Wahrnehmung entsprechen. Vielmehr ist dieses Machtbewusstsein als Symptom einer biologischen bzw. psychischen Lage, einer Lage der Erschöpfung zu verstehen. In der Periode der Straflosigkeit findet keine Abzahlung statt. Insoweit steht die Straflosigkeit außerhalb der Gerechtigkeit, die sich durch das Prinzip der allgemeinen Abzahlbarkeit und Vergleichbarkeit definieren lässt. Die Vergleichs- und Äquivalenzlosigkeit entspricht der Definition des „Luxus“: Luxus ist dasjenige, auf dessen Preis man nicht achtet. In der Periode, in welcher der Verbrecher als ein Feind bekämpft wurde, bestand ebenfalls keine Gerechtigkeit, damals jedoch, weil Krieg herrschte und der Verbrecher dem Zorn des Volkes restlos ausgeliefert war: es gab schlechthin keine Ordnung der Abzahlbarkeit. Der Gläubiger empfindet nach Nietzsche die Wollust, Leid zuzufügen, umso mehr als Rückzahlung, je tiefer und niedriger er „in der Ordnung der Gesellschaft steht“, denn „[v]ermittelst der ‚Strafe‘ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil“ (GdM II 5). Die Opfer des Verbrechers sowie die anderen einfachen Bürger, die den allgemeinen Zorn teilen, genießen dieses ‚HerrenRecht‘. Der Regierende, der sich für besonders mächtig hält und sich für die absolute Straflosigkeit, d. h. die verallgemeinerte Gnade entscheidet, genießt auch „das Vorrecht des Mächtigsten“, tut dies aber aufgrund einer Illusion der Macht. Sowohl der einfache, zornige Bürger als auch der gleichgültige, allbegnadigende Regierende sind einerseits machtlos, haben aber andererseits die Illusion der Macht (GdM II 10). Die tatsächliche Macht besteht dagegen darin, „in Bezug auf weniger Mächtige [in diesem Fall sind die ‚weniger Mächtigen‘ sowohl der Verbrecher als auch dessen Opfer], diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen“ (GdM II 8). In der Tat lässt sich nur in der zweiten und dritten Periode ein Kompromiss finden, und zwar zwischen dem Interesse des Verbrechers (der Straflosigkeit) und dem Interesse des Opfers (der kriegerischen, formlosen Grausamkeit). 6.2 Nietzsches Bewertung der Gerechtigkeit Die Bilanz – beinahe eine Lektion! –, die Nietzsche am Ende seiner Erklärung der Strafe liefert, wirkt zunächst wie ein direkter Einwand gegen meine Lesart. Er schreibt:

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Die Gerechtigkeit, welche damit anhob „Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden“, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit: man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – Gnade […]. (GdM II 10)

Mit diesen Zeilen scheint Nietzsche die Straflosigkeit als den logischen Schluss der Gerechtigkeit bzw. der Abzahlbarkeit zu sehen, also nicht als eine Abweichung von der strengen Gerechtigkeit. Denn Nietzsche spricht ausdrücklich nicht von der Aufhebung, sondern von der „Selbstaufhebung der Gerechtigkeit“ (Hervorhebung JCM). Man würde eher erwarten, dass die Gnade als eine Fremdaufhebung der Gerechtigkeit, ein Jenseits der Gerechtigkeit bezeichnet würde, so wie sie nach Nietzsche auch selbst ein „Jenseits des Rechts“ ist (ebd.). Nietzsches Vorwurf an der Gerechtigkeit lautet, dass sie einerseits die Abzahlung suchen will und den Zahlungsunfähigen trotzdem laufen lässt. Es gibt mindestens zwei Weisen, dies zu verstehen. Entweder will man das Ein-Auge-Zudrücken für den Zahlungsunfähigen lediglich in der vierten, in der absoluten Straflosigkeit sehen. Dann ist aber der Vorwurf der Selbstaufhebung unverständlich. Oder man versteht es so, dass sich das Ein-Auge-Zudrücken zwar erst in der vierten Periode vollkommen entfaltet, aber schon in der zweiten und dritten Periode, also von vornherein anwesend war. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet schon die öffentliche Strafe als Abzahlung der Schuld, ein Auge zuzudrücken, kurz: keine echte Abzahlung zu leisten. In diesem Zusammenhang sollte man sich an zwei Punkte erinnern: 1. Der Verbrecher ist ein Wortbrüchiger, nicht nur ein Schädiger, weswegen er „jedes Rechtes und Schutzes“, mehr noch: „jeder Gnade verlustig“ gegangen ist (GdM II 9). 2. Nietzsche betont: „Man lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile! wir unterschätzen es heute mitunter)“ (ebd.). Diesen beiden Punkten kann man entnehmen, dass erstens die Schuld des Verbrechers qualitativ besonders groß ist und zweitens das Haben des Gläubigers ebenfalls qualitativ besonders groß ist. Nun übernimmt Nietzsche nie selbst das Gerechtigkeitsprinzip „Alles kann abgezahlt werden“ (GdM II 8). Im Gegenteil können vornehme Sachen nicht abgezahlt werden. Und zu diesen vornehmen Sachen

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gehört durchaus die Institution des Staates und seine Errichtung, wie nicht nur Nietzsches Zwischenruf „oh was für Vortheile!“ zeigt. Wir dürfen also davon ausgehen, dass für Nietzsche die Abzahlbarkeit nicht (immer) vorliegt. Die Abzahlung in der zweiten Periode, die öffentliche Strafe bedeutet also, dass die Schuld – zumindest teilweise – unbezahlt bleibt: der Schuldner kommt damit relativ glimpflich davon. Eine Erklärung dieses Paradoxons scheint nahezuliegen: Die diesen Verzicht auf ein wirkliches Äquivalent leitende Gerechtigkeit stamme aus dem Ressentiment der Opfer; zu dieser von Dühring vertretenen Theorie baut Nietzsche eine entgegengesetzte Alternativtheorie auf. Dühring sieht die Verbindung des Verbrechens mit dem Ressentiment und der Rache folgendermaßen: Schon in unsern moralischen Überlegungen haben wir jede ursprünglich in feindlicher Weise verletzende Handlung als den Gegenstand einer nothwendigen Rückwirkung angesehen. Diese Rückwirkung äußert sich zunächst innerlich in einer Rückempfindung, die wir auch Ressentiment und Vergeltungsbedürfniss oder […] gradezu Rache nennen können. (Cursus 224)

Nun versteht Dühring unter Gerechtigkeit die Vergeltung. Daher beruht die Gerechtigkeit auf dem Bedürfnis nach Rache. Warum sollte dieses Bedürfnis aber ein Ressentiment bzw. ein Gegengefühl bleiben und nicht zur Handlung der Rache führen? Dühring erklärt den Verzicht auf die „Blutrache“ dadurch, dass diese „einen immer wieder angeregten und fortgesetzten Einzelkrieg ergiebt“ (Cursus 225). Um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, „schließt sich das sogenannte Compositionensystem, vermöge dessen die Beschwichtigung der Rache auf dem Wege der Sühne und Entschädigung gesucht wird“ (ebd.). Als Gegenleistung zum Verzicht auf Rache erhalten die Opfer neben dem öffentlichen Frieden auch noch die Garantie, dass dem Verbrecher Übel zugefügt wird und er Schuld und Reue empfindet: aber die rohen Tarife, nach denen man sich die eigne Körperverletzung und die Tödtung von Angehörigen hinterher abkaufen liess, dürfen doch nicht übersehen lassen, dass die Bereitschaft zu einem ernsthaften materiellen Opfer auch die Gediegenheit des veränderten Willens und mithin eine wahre Reue und friedliche Gesinnung verbürgen konnte. Das Rachebedürfniss schwindet aber nicht nur durch eigne Niederbeugung und Schädigung des Verletzers, sondern gleicht sich auch dann aus, wenn der Uebelthäter selbst seine Züchtigung aufrichtig übernimmt, indem er sich durch das thatsäch-

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liche Eingeständniss der Schuld demüthigt und sich selbst die Leistung einer Entschuldigung und Strafe auferlegt. (Cursus 225f.)

Nietzsche widerlegt diese Erklärung in zwei Schritten. Erstens zeigt er, dass die Gerechtigkeit und die öffentliche Strafe einen anderen Ursprung haben. Zweitens ruft nach Nietzsche die Strafe kein Schuldgefühl bzw. kein schlechtes Gewissen beim Verbrecher hervor, vielmehr das Gegenteil. Hier stellt sich aber sofort ein neues Paradoxon: Wenn die Strafe nach der Gerechtigkeit nicht aus „reaktiven Affekte[n]“, sondern aus „aktiven Affekte[n]“ (GdM II 11) stammen soll, wie lässt sich denn der Verzicht auf ein wirkliches Äquivalent aus diesen „aktiven Affekte[n]“ erklären? Die Antwort liegt in der schon erwähnten (s.o. Kap. 6.1) Unterscheidung zwischen zwei Akteuren, d.h. zwischen der Bevölkerung und den Machthabern. Im Allgemeinen antwortet Nietzsche auf Fragen nach dem Wesen bzw. nach dem Zweck einer Institution immer mit der Rückfrage nach dem Machtverhältnis, aus dem diese Institution entsteht. Mit der Strafe setzt sich das „Bemühen“ der Machthaber durch, „den Fall zu lokalisiren und einer weiteren oder gar allgemeinen Betheiligung und Beunruhigung vorzubeugen“ (GdM II 10). Dieses Bemühen um einen bürgerlichen Frieden, den auch Dühring als Grund der öffentlichen Strafe als Kompromiss und Verzicht auf Vergeltung betrachtet, ist aber bei Nietzsche – anders als bei Dühring – kein letzter Zweck. In Nietzsches Auffassung wurden Rechtsordnung und bürgerlicher Friede nicht um der Sicherheit der einzelnen Bürger willen errichtet, sondern als Mittel der Machtsicherung für die Machthaber. Nietzsche betont diese Unterscheidung: Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, […] dass jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebensfeindliches Princip, […] ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. (GdM II 11)

Also sind die staatlichen Bemühungen um bürgerlichen Frieden – u.a. mittels der Gerechtigkeit und der öffentlichen Strafe – als Kampfmittel zu verstehen. Die Durchsetzung der Macht kann sowohl eine interne als auch eine externe sein. Die interne Machtdurchsetzung besteht darin, dass nicht mehr die einzelnen Menschen – etwa die Opfer – die „Strafe“ zufügen, sondern nur noch der Staat allein;

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dadurch setzt der Staat das durch, was später bekanntlich als sein „Monopol der Gewalt“ bezeichnet wird. Die externe Machtdurchsetzung besteht darin, dass der bürgerliche Friede ein erheblicher Vorteil im Kampf gegen andere Staaten darstellt. Nietzsches Lob des Krieges als lebensfreundliches Prinzip findet in seinen Werken wiederholt statt (etwa Menschliches, Allzumenschliches I § 224; Also sprach Zarathustra IV 312; Götzendämmerung. Streifzüge eines Unzeitgemässen § 38). Die Bilanz der Entwicklung von der Privatrache zur öffentlichen Strafe fällt aber für die Bevölkerung im Allgemeinen und für die Opfer insbesondere zunächst negativ aus. Denn „an der [grausamen] Strafe ist so viel Festliches!“; und „Leiden-sehn thut wohl, Leidenmachen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz“ (GdM II 6). Nun verliert das Volk das ‚Leiden-Machen‘ und erhält als Trost nur noch ein ‚Leiden-Sehn‘, bei dem das Leiden immer sanfter und diskreter wird, je mächtiger der Staat wird. Die Bevölkerung erlebt eine deutliche Frustration, weil „von nun an der Übelthäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von Seiten des Ganzen vertheidigt und in Schutz genommen“ wird (GdM II 10). Zuvor bedeutete die Privatstrafe die Teilnahme an einem „HerrenRechte“ (GdM II 5), was nun verschwindet. Als Kompensation für diese Frustration bzw. als „Compromiss“ oder als „Restriktion“ seines „eigentlichen Lebenswillens“ wird die Fiktion eines Äquivalents bzw. der Gerechtigkeit eingeführt; vor allem aber entsteht die für das Ressentiment tröstende Fiktion des schlechten Gewissens bzw. der Reue des Verbrechers. Diese Reue, die Dühring für etwas Wirkliches und für den Zweck der Strafe hielt, erweist sich hier für Nietzsche als bloßes Mittel zur Durchsetzung der (staatlichen) Macht. Nietzsche betont den Perspektivenwechsel, der sich zwischen der rechtsphilosophischen und strafrechtlichen Tradition und seiner Auffassung abspielt. Nach Nietzsche hat die Strafe keinen „Zweck“, sondern der Begriff der Strafe stellt „eine ganze Synthesis von ‚Sinnen‘“ dar (GdM II 13). Sie entspricht weder dem Zweck der (das ‚LeidenLassen‘ verlierenden) Bevölkerung noch dem Zweck der (sich einschränkenden) Macht, noch bewirkt sie Reue im Verbrecher, wie wir später sehen werden. Wenige Jahre vor Nietzsches Genealogie der Moral (1887) hatten zwei der bedeutendsten Strafrechtstheoretiker

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den Zweck der Strafe in den Mittelpunkt des Strafrechts gestellt: Rudolf von Jhering (Der Zweck im Recht, 1877) und Franz von Liszt (Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1883). Alle großen Theorieentwürfe der Tradition, von Platons Gorgias bis zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts über Beccarias Dei Delitti e delle Pene, Benthams Principes de législation civile et pénale und Kants Rechtslehre, versuchten die Institution der Strafe mit einem Zweck zu rechtfertigen. Insoweit stellt Nietzsche tatsächlich einen radikalen Bruch in der Theorie des Strafrechts dar; nur ein schmale Brücke bleibt zwischen Nietzsche und der Tradition bestehen: beide billigen die Institution der Strafe. Nietzsches Auffassung lehnt aber jegliche Dimension der Gerechtigkeit und der Rechtfertigung von Strafe als bloße Illusion ab. Man könnte zwar zu der Täuschung neigen, dass Nietzsche die Gerechtigkeit lobt, wenn er schreibt: „Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt […], so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden“ (GdM II 11). Drei wesentliche Aspekte dürfen dabei aber nicht übersehen werden. Erstens spricht Nietzsche keineswegs von der Gerechtigkeit, sondern von einem „gerechte[n] Mensch[en]“. Zweitens ist der Satz nur hypothetisch formuliert („Wenn es wirklich vorkommt […]“) und seine Bedingung wird offenbar nicht erfüllt, da sie „sogar Etwas [ist], das man hier kluger Weise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht glauben soll“ (ebd.). Darüber hinaus nimmt Nietzsche nie eine derart idealistische Position ein: Was immer es nur als Ideal gibt bzw. geben kann, wird von Nietzsche grundsätzlich nicht gebilligt. Drittens rührt der gerechte Charakter des der Gerechtigkeit am nächsten stehenden Menschen nicht von seinem Sinn für die Gerechtigkeit her, ohnehin steht er nur „der Gerechtigkeit hundert Schritte näher“ als „der reaktive“ Mensch (ebd.). Nur insoweit er „der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere“ (ebd.) ist, steht er der Gerechtigkeit nahe. Er ist also primär mächtig und aggressiv, erst sekundär gerecht. Die Erklärung dafür haben wir bereits genannt: Die Gerechtigkeit ist für Nietzsche ein Mittel der Macht. Eine Gerechtigkeit als selbstständiger Zweck bzw. als Wert wird von Nietzsche schlicht nicht vertreten.

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6.3 Das Schuldgefühl entsteht nicht beim Sträfling, sondern beim normalen Bürger Wir haben gesehen, dass Nietzsche die Reue für eine bloße Fiktion hält. Nach Nietzsche werden die Sträflinge später entweder rückfällig und nur noch gewitzter im Verbrechen (die Strafe „stärkt die Widerstandskraft“, GdM II 14; „ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung der Strafe vor Allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen“, GdM II 15) oder ihr Wille wird gebrochen und sie werden abgestumpft („Wenn es vorkommt, dass sie die Energie zerbricht und eine erbärmliche Prostration und Selbsterniedrigung zu Wege bringt“, GdM II 14). Eine dritte Möglichkeit wird aber so gut wie ausgeschlossen: „Der ächte Gewissensbiss ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äusserst Seltenes“ (GdM II 14). Um dies zu erklären, muss kurz erwähnt werden, woher und bei wem das Schuldgefühl schließlich entsteht. Die Erklärung fasst Nietzsche pointiert kurz, wenn er in Abschnitt II 22 vom „zum Zweck der Zähmung in den ‚Staat‘ Eingesperrten“ spricht, „der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehe zu thun, nachdem der natürlichere Ausweg dieses Wehe-thun-wollens verstopft war“. Wir haben gesehen, wie der Staat das Leiden-Lassen mit der öffentlichen Strafe monopolisiert hat. Nun übt der Staat auch gegenüber dem Verbrecher ein Monopol der Gewalt aus. Zwar war der Verbrecher kein Gläubiger, sondern ein Schuldner und Wortbrüchiger. Er kann sich also nicht auf die Gerechtigkeit gegen seine Bestrafung berufen. Dennoch wird er wie jeder Mensch durch den Willen zur Macht bewegt und empfindet das Leiden-Lassen als Freude. Und der Sträfling ist genauso eingesperrt wie der normale Bürger, wenn nicht sogar mehr! Warum kann der Sträfling dann anders als der normale Bürger ein Schuldgefühl entwickeln? Nietzsche liefert folgende Erklärung: Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine That, die Art seiner Handlung, an sich als verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gut geheissen, mit gutem Gewissen verübt […]. (GdM II 14)

Diese Erklärung erscheint zunächst rätselhaft, weil sie die Frage nach Schuld und Strafe mit der Frage nach der Diskriminierung zu ver-

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wechseln scheint. Der Sträfling wird vom Rest der Bürger deswegen absichtlich diskriminiert, weil er ein Verbrechen begangen hat. Normale Bürger werden anders behandelt. Diese normative Erklärung ist aber bei Nietzsche irrelevant, weil normative Elemente keine Erklärung liefern, sondern selbst deskriptiv erklärt werden müssen. Nietzsches Erklärung enthält aber zwei wichtige Elemente. Erstens: Anders als der normale Bürger sieht der Sträfling seine ‚Widerstandskraft‘ meistens gestärkt, weil er stärker unterdrückt wird als jener; anders als der normale Bürger muss er gegen die Macht des Staates kämpfen, so dass er keine Verinnerlichung des Leiden-Lassens nötig hat. Zweitens: Anders als die normalen Bürger, insbesondere als seine Opfer, die auf ein wirkliches Äquivalent verzichten müssen (das tröstende Äquivalent ist nur ein ‚Kompromiss‘), erlebt der Sträfling etwas, was er für ein Äquivalent halten kann: Er wird so behandelt wie er gehandelt hat. Mit der Strafe sind die „Schulden“ getilgt. Das Leiden seines Opfers sieht der Sträfling ja nicht, da der Staat ihn von seinem Opfer und dessen Rache getrennt hat. Es bleibt also kein Platz für eine ‚Schuld‘ übrig. Wenn der Sträfling auf diese Weise auch nur äußerst selten gebessert wird, so wird dank der Strafe immerhin der Wille eines Teils der Verbrecher gebrochen. Manche Sträflinge werden also immerhin nicht rückfällig, d.h. sie werden dank der Strafe über die Zeit ihrer Einsperrung hinaus unschädlich gemacht bzw. resozialisiert, was das Ziel der Spezialprävention ist. 6.4 Nur eine Genealogie oder auch eine Straftheorie? Was empfiehlt denn Nietzsche selbst? Die Abzahlung beruht auf einer Illusion. Ich glaube auch nicht, dass Nietzsches Antwort die Ausweisung aus der Gesellschaft wäre. Weder das Herren-Recht noch die Gnade kann für den Verbrecher in Anspruch genommen werden. Nietzsche erklärt sich zwar nicht gegen die Grausamkeit und die Freude am Zufügen von Leid, aber der Zorn als Gegenempfindung, als Ressentiment ist in Nietzsches Auffassung auch nicht zu empfehlen. Eine Alternative bleibt dann noch übrig: die „Schonungslosigkeit“ und die „Grausamkeit“ gegen den „gehassten, wehrlos gemachten, niedergeworfnen Feind“ (GdM II 9), wohl aber ohne Zorn: vielmehr mit Freude, ohne reaktives Gefühl, ohne Ressentiment gegen den Wortbrecher. Der Verbrecher hat einfach versucht, sich

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durch seinen Wortbruch durchzusetzen. Dagegen hat Nietzsche keine moralischen Einwände, denn es gilt nur das Machtverhältnis als Norm. Der Verbrecher, dessen Verbrechen durch den grausamen Tod feierlich sanktioniert wird, hat einfach Unglück gehabt. Schädlich für den ganzen Prozess der Behauptung der Macht, d. h. symptomatisch für den Triumph der Ohnmacht ist nur die Verinnerlichung des Ressentiments, des Zorns der machtlosen Menschen gegenüber dem Verbrecher. In der Tat spricht Nietzsche vom Wortbrecher nicht wie von einem niederträchtigen, verwerflichen Menschen, sondern wie von einem Kämpfer in einem Krieg, eine Metaphorik, die bei Nietzsche meistens positiv geprägt ist und auf Vornehmes verweist. Der Verbrecher lehnt das System der Äquivalenz ab und stellt sich somit als unvergleichbar, als vornehm dar. Wenn er scheitert, darf man sich zwar über seine Niederlage freuen, ihn aber nicht moralisch verurteilen. Nietzsche hatte diese Option in der zweiten Abhandlung schon zuvor ausführlicher erwähnt: Es ist noch nicht zu lange her, dass man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste grössten Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein Autodafé nicht zu denken wusste, […]. Leiden-sehen thut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz […]. Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches! (GdM II 6)

Es fragt sich nur, ob man unter diesen Umständen überhaupt von einer öffentlichen Strafe sprechen darf. Vorausgesetzt, dass Verbrecher nicht vom Privatbürger bestraft werden – z. B. in der Form von Lynchjustiz, die im Übrigen mehr von Zorn als von Freude zeugt –, sondern vom Staat, könnte man doch schließlich von einer öffentlichen Strafe sprechen, ohne dabei Nietzsches Ansicht zu billigen. Was lehrt uns die moralfreie Ansicht Nietzsches über die öffentliche Strafe als Fest der Grausamkeit? Nietzsches Argument scheint zweiteilig und zweiseitig. Einerseits greift Nietzsche auf die klassische Rechtfertigung der Strafbarkeit zurück: Der Verbrecher hat die der Rechtsgemeinschaft zugrunde liegende Gegenseitigkeit nicht eingehalten und die Rechtsgemeinschaft angegriffen, so dass er nicht mehr fähig ist, ein normales Mitglied der Rechtsgemeinschaft zu sein. Andererseits fehlt bei Nietzsche die weitere klassische Prämisse, dass

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der Verbrecher als Mensch sein Verbrechen abzahlen, d. h. nach Verbüßung seiner Strafe wieder Mitglied der Gesellschaft werden kann (nicht nur die Theorien der Resozialisierung, sondern auch die Präventionstheorien und die verschiedenen Formen des Retributivismus lassen – außer im höchst problematischen und kontroversen Fall der Todesstrafe – die Möglichkeit der Resozialisierung zu, wie schon erwähnt). Stattdessen herrschen Macht und Grausamkeit. Fazit: Nietzsches Auffassung der wünschenswerten Strafe wäre eine Mischform von Gerechtigkeit und Grausamkeit. Eine solche Mischtheorie wäre freilich schon in sich unplausibel. In Wirklichkeit sieht die Sache etwas anders aus. Nicht die Gegenseitigkeit als Form einer überpositiven Gerechtigkeit, sondern die Gegenseitigkeit als eines der „Erfordernisse des socialen Zusammenlebens“ (GdM II 3) bildet Nietzsches primäre Prämisse. Nicht erst die Härte der Strafe stellt laut Nietzsche (ebd.) das nötige mächtige „Hülfsmittel der Mnemonik“ dar, sondern schon der Ausschluss aus der Gesellschaft bzw. die Unabzahlbarkeit der Straftat. Unter den Mitteln der Mnemotechnik zitiert Nietzsche lediglich Todesstrafen mit Foltern: das Steinigen, das Rädern, das Werfen mit dem Pfahl, das Zerreißen- oder Zertretenlassen durch Pferde, das Sieden in Öl oder Wein, das Riemenschneiden, das Herausschneiden des Fleisches und die Bestreichung mit Honig unter der brennenden Sonne (ebd.). Als Todesstrafe bedeuten alle diese Strafen eine Ausweisung aus der Rechts- und Staatsgemeinschaft. Die Todesstrafe als Ausschluss und die Folter als Grausamkeit, kurz der Schmerz ist „das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik“ (ebd.), das den strengen Gehorsam lehrt. Hier ist ein generalpräventives Element am Werk. Nietzsches Auffassung der Strafe als Mnemotechnik befasst sich lediglich mit der Machtdurchsetzung der Rechtsgemeinschaft und überlässt Gerechtigkeit und Rechtsordnung den jeweiligen Machtverhältnissen, wie immer auch diese schließlich ausfallen mögen. Eine Genealogie der Strafe ist Nietzsches Erklärung durchaus, ebenso auch eine entschiedene Empfehlung in Bezug auf die Strafe. In dieser Empfehlung lässt sich aber sicherlich keine Inspiration für eine gerechtigkeitsorientierte Debatte über die Strafe finden. Außerdem wäre in unserem Zeitalter möglicherweise der Versuch, Nietzsches Empfehlung durchzusetzen, kein effizientes Hilfsmittel für die Mnemotechnik, sondern würde vielmehr – hoffentlich – zahlreiche Wider-

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stände sowie größere soziale Unruhen hervorrufen. Wenn unsere Rechtsordnungen mit all ihren strukturellen und funktionalen Problemen dennoch stabiler sind als Nietzsches Vorstellung, dann hat er sein eigentliches und einziges Argument verloren. Damit würde sich unser Zeitalter von Nietzsches Vorstellung genauso unterscheiden wie sich jene beiden Zustände unterscheiden, die Voltaire im Zusammenhang mit der wiedervergeltenden Strafe etwas sarkastisch beschreibt: Alle diese Gesetze einer blutigen Staatskunst gelten nur eine gewisse Zeit, und man sieht sehr wohl, daß es keine wahrhaften Gesetze sind, denn sie sind vergänglich. Sie ähneln der Notwendigkeit, der man sich während äußerster Hungersnot ausgesetzt sah, Menschen zu fressen; man frißt sie nicht mehr, seit man Brot hat.42 (Commentaire Kap. XIV 68, S. 141 der deutschen Ausgabe)

7. Wozu werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestraft? 7.1 Das Eigentümliche des Verbrechens gegen die Menschlichkeit Der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit enthält zwei Novitäten. Einerseits ist er dazu bestimmt, Lücken in der internationalen Rechtsordnung auszufüllen. Andererseits konstituiert er eine neue Art von Verbrechen, die Merkmale enthält, welche in keiner der bisher bekannten Arten von Verbrechen vorhanden sind. Die erste Lücke in der internationalen Rechtsordnung, die der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit auszufüllen hatte, war die (positiv-)völkerrechtliche Unmöglichkeit, eine Person wegen eines Verbrechens anzuklagen, das nicht gegen die Kombattanten und Nicht-Kombattanten des Feindes, sondern gegen die eigene Zivilbevölkerung des Täters begangen wurde. Der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erweitert also den Begriff des Kriegsverbrechens um eine neue Klasse von Opfern. Die zweite Lücke, die zu schließen war, war die (positiv-)völkerrechtliche Unmöglichkeit, die42 Im Original: «Toutes ces lois d’une politique sanguinaire n’ont qu’un temps, et l’on voit bien que ce ne sont pas de véritables lois, puisqu’elles sont passagères. Elles ressemblent à la nécessité où l’on s’est trouvé quelque fois, dans une extrème famine, de manger des hommes: on ne les mange plus dès qu’on a du pain.»

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ses erweiterte humanitäre internationale Recht im Fall von Verbrechen umzusetzen, die schon vor dem Inkrafttreten dieser Erweiterung für die jeweilige Zivilbevölkerung begangen wurden. Der Nürnberger Gerichtshof, der für alle Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig war, welche im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg begangen wurden, befasste sich auch mit Verbrechen, die vor seiner eigenen Errichtung begangen worden waren, d.h. vor dem positiv-rechtlichen Bestehen des Begriffs eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Dies bedeutet, dass der Nürnberger Gerichtshof den rechtlichen Grundsatz nulla poena sine lege zum Zweck der Umsetzung eines minimalen Naturrechts im Völkerrecht verletzt hat. Während die Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs (Rome Statute of the International Criminal Court, 17. Juli 1998, im Folgenden ICC) nichts über diese Rückwirkung enthält, wird sie im einzelstaatlichen Strafrecht ausdrücklich erklärt. Eine dritte Lücke schließlich wird erst allmählich ausgefüllt, indem der Internationale Strafgerichtshof eine geographisch und zeitlich unbegrenzte Kompetenz erhält, zumindest in denjenigen Staaten, die das Abkommen über seine Errichtung ratifiziert haben. Die Kompetenz des Internationalen Strafgerichtshofs ist eine subsidiäre Zuständigkeit, weil er sich nach seiner Satzung nur mit Fällen befasst, welche die einzelstaatliche Justiz entweder nicht verfolgt hat oder in denen sie offensichtlich kein angemessenes Urteil zu sprechen in der Lage war. Die Definition des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gemäß der Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs scheint mir aus mindestens drei Gründen die Aufgabe einer Schließung der genannten Lücken vollkommen zu erfüllen. Erstens könnte ein internationaler Gerichtshof, der auf keine Weise ein höchster Gerichtshof ist, sondern nur in seinem Zuständigkeitsbereich in erster – und letzter – Instanz urteilt, für keines der schwersten Verbrechen zuständig sein, die schon in der Kompetenz der einzelstaatlichen Justiz liegen. Nicht nur sehen Definition und Behandlung der schwersten Verbrechen – d.h. in den meisten Ländern der schwersten Tötungen – von einem Land zum anderen sehr unterschiedlich aus (der amerikanische first degree murder, der deutsche Mord und der französische meurtre avec préméditation sind sehr unterschiedliche Begriffe und werden auch in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich bestraft). Sogar unter der Annahme, dass

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die Begriffe überall gleich wären, würde die Anzahl der zu verhandelnden Fälle die Kapazität eines einzelnen Strafgerichtshofs bei weitem überfordern, auch wenn dieser als subsidiäre Instanz urteilen würde. Zweitens sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit ihrer Definition zufolge „systematische Angriffe“ (systematic attacks), d.h. Serienverbrechen (ICC Art. 7 (1)); Serienverbrechen wiederum sind von einem quantitativen Gesichtspunkt her gesehen die schwersten Verbrechen. Drittens erfolgen diese „systematischen Angriffe“ entweder in einem Staat, in dem Chaos herrscht (failed state), oder in einem verbrecherischen Staat, d.h. in einem Staat, der diese Angriffe entweder nicht zu verhindern vermag oder der sie sogar selbst begeht. Darum besteht ein besonderer Bedarf an der subsidiären Einschaltung einer internationalen Institution. Kurz: der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit stellt ein nützliches Kriterium für die schwersten und am häufigsten unbestraften Verbrechen dar, so dass es dem zuständigen internationalen Gerichtshof möglich wird, sich nur mit den allerschwersten Verbrechen zu befassen, und dadurch seine Aufgabe noch überschaubar zu halten. Schon aus diesen Gründen war dieser neue strafrechtliche Begriff nötig. Dementsprechend wurde das Verbrechen gegen die Menschlichkeit in das interne Strafrecht der Einzelstaaten als bloße Konsequenz der Völkerrechtslage eingeführt. Als pragmatisches Kriterium erscheint der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit insoweit als ein notwendiger erster Schritt zur Harmonisierung der Strafverfolgung, als er einen globalen Maßstab und eine entsprechende Prioritätsregel für die globale Strafverfolgung setzt. Obwohl mir diese pragmatischen Gründe das positivrechtliche Bestehen des Konzepts von Verbrechen gegen die Menschlichkeit als eigene Art von Verbrechen schon hinreichend zu rechtfertigen scheinen, habe ich den Verdacht, dass einige Merkmale dieser neuen Art von Verbrechen und die Rechtfertigung ihrer Bestrafung entweder falsch interpretiert werden oder unangemessen sind. Es handelt sich um folgende Merkmale. 1. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind „weitverbreitete und systematische Angriffe (widespread and systematic attacks)“ (ICC Art. 7 (1)), die „entweder dem Plan eines Staates oder einer sonstigen Organisation angehören, diese Angriffe durchzuführen, oder aus

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einem solchen Plan resultieren (pursuant to or in furtherance of a State or organizational policy to commit such attack)“ (ICC Art. 7 (2)). Ein einzelner Verbrecher, der ein ganzes Dorf aus privaten Gründen zerstört und dessen Einwohner tötet, begeht kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind zwar nicht direkt Verbrechen gegen öffentliche Institutionen wie Hochverrat, Amtsmissbrauch, Bestechung usw. Sie sind aber ebenso wenig einfache Rechtsverletzungen, sondern durchaus auch Angriffe gegen die öffentlichen politischen Institutionen, unter anderem weil sie eindeutig versuchen, ganze Gruppen von Menschen von der politischen Repräsentation und Deliberation auszuschließen und ihnen jegliche Einklage ihrer Grundrechte vor einem unparteiischen Gericht zu verbieten. Ich kann auch Antoine Garapons Bezeichnung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit als Verletzung des „Rechts, Rechte zu haben“ („droit d’avoir des droits“: Garapon 2002, 134) nicht zustimmen, weil auch jedes Opfer eines ,einfachen‘ Mordes – also nicht nur das Opfer eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit – das „Recht, Rechte zu haben“ endgültig entbehrt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind vielmehr Verbrechen gegen politische Grundinstitutionen. 2. Verbrechen gegen die Menschlichkeit halten sich weder an die übliche strafrechtliche Hierarchie zwischen einzelnen Verbrechen noch an diejenige zwischen einzelnen Strafen. Anders als es in einzelstaatlichen Strafgesetzen der Fall ist, werden so unterschiedliche Verbrechen wie Mord, Geiselnahme, Folter und Vergewaltigung im selben Artikel 7 der Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs behandelt. Nach Artikel 26 (3) werden sowohl die Tat als auch die Anstiftung zur Tat, die Hilfeleistung zur Tat und sogar die Beibringung von Mitteln zur Tat allesamt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen. Die in Artikel 77 für dieses Verbrechen vorgesehene Strafe ist wiederum all diesen im einzelstaatlichen Strafrecht unterschiedenen Verbrechen gemeinsam. Keine der beiden Optionen für das Strafmaß (entweder Freiheitsstrafe auf Zeit oder lebenslängliche Freiheitsstrafe) wird irgendwie eigens auf eines dieser im einzelstaatlichen Strafrecht getrennt behandelten Verbrechen bezogen. Eine Konsequenz dieses Umstands lässt sich im Fall einer Person A beobachten, die ein Verbrechen begeht, zu dem sie von einer Person B angestiftet, aber nicht genötigt wurde. Im üblichen Strafrecht ist

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Anstiftung nicht immer strafbar, sondern nur in besonders schweren Fällen. Wenn die Anstiftung zu einem Verbrechen strafbar ist, wird sie mit einer weniger schweren Strafe belegt als das Verbrechen selbst. Die Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs sieht dagegen keine leichtere Strafe vor. Mehr noch: Die Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs verbietet keinesfalls eine umgekehrte Hierarchie von Strafen. Und tatsächlich kann ein Politiker, der große Massaker befohlen, selbst aber niemanden getötet hat, zu einer schwereren Strafe verurteilt werden als ein Soldat, der seine Befehle vollstreckt und getötet hat, bei dem aber keine „Nötigung“ zu dieser Vollstreckung vorliegt. 3. Im Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt keine Verjährung, während in den meisten Ländern sogar die schwersten der übrigen Verbrechen verjähren. In Ländern wie Deutschland, wo Mord nicht verjährt, verjähren die meisten der Verbrechen, die in Artikel 7 der Satzung des Internationalen Strafgerichtshofs erwähnt werden (Vergewaltigung, Geiselnahme usw.), wenn sie außerhalb des Rahmens von Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Nicht der geringste Grund dafür, dass Deutschland Mord von der Verjährung ausgeschlossen hat, war die Absicht, nicht die Verurteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unmöglich zu machen, welche ja noch kein Teil des Strafgesetzes waren. Ohne diese Motivation würde Mord wahrscheinlich auch in Deutschland verjähren. In Österreich verjährt Mord auch nicht, aber immerhin wird das Strafmaß erheblich vermindert, wenn der Fall erst nach mehr als zwanzig Jahren verhandelt wird (StGB 57 (1)). 4. Der Ausschluss von der Verjährung wird gerne moralisch durch das Ungeheuerliche aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerechtfertigt. Dieses Ungeheuerliche hat angeblich zwei Konsequenzen. Erstens gelten Verbrecher gegen die Menschlichkeit als Monster, die eine besondere Strafe verdienen. Zweitens sollten Verbrechen gegen die Menschlichkeit deswegen unvergessen bleiben, weil die Schuld unmessbar sei. Darum solle die Strafe eine expressive Funktion haben, d.h. den tiefsten und untilgbaren Abscheu der Menschheit zum Ausdruck bringen. Aus dieser Perspektive kann keine Strafe dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vollkommen gerecht werden. Eine besondere Strafe kann aber etwas von dieser untilgbaren Schuld ausdrücken.

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Dass man das Ungeheuerliche der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Unmöglichkeit, eine der Schuld entsprechende Strafe zu finden, als Rechtfertigung für das Bestehen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit als spezifisches Verbrechen heranzieht, impliziert nicht nur den Ausschluss von der Verjährung (Punkt 3), sondern auch den ersten und den zweiten Punkt, wobei man diese beiden Punkte dann allerdings auf eine bestimmte Weise interpretieren muss. Die Abwesenheit der üblichen und genau geregelten Hierarchie von Schuld und Bestrafung (s. o. Punkt 2) lässt sich in diesem Kontext als Äußerung des Urteils erklären, nach dem ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit so ungeheuer ist, dass es jenseits des üblichen Strafrechts und jeder quantitativen Hierarchie bzw. Skala von Schuld und Strafmaß steht. Wie sieht es aber mit Punkt 1 aus, d. h. der politischen Tragweite des Verbrechens gegen die Menschlichkeit? Wer die Eigentümlichkeit dieses Verbrechens in seinem ungeheuerlichen Charakter sieht, hebt nicht die Gefährdung der politischen Institutionen durch das Verbrechen hervor, sondern betrachtet dasselbe als moralisches Übel, nämlich als Anzeichen der vermeinten Unfähigkeit eines Verbrechers gegen die Menschlichkeit, je wieder ein normales Mitglied der Rechts- und Staatsordnung zu werden. 7.2 Eine alternative Auffassung In den meisten Darstellungen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit machen diese vier Merkmale eine Konstellation aus, die ich im Folgenden in Frage stellen möchte. Ich halte die ersten beiden Merkmale für tatsächliche Merkmale des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Ich werde aber das zweite auf eine völlig andere Weise begründen und das dritte und vierte Merkmal schlechthin ablehnen. Deshalb wird meine Untersuchung aller vier Merkmale mit dem ersten ansetzen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind Verbrechen gegen die grundlegendsten politischen Institutionen des Rechtsstaats. Hier empfiehlt sich eine Unterscheidung, auf die es bei der Bestimmung des angemessenen Strafmaßes ankommt. Ich werde den Zeitraum, in dem die Tat begangen wird (a), von dem Zeitraum nach der Tat (b) unterscheiden. (a) Im traditionellen Naturrecht finden wir zwei Rechte, die angewendet werden, wenn ein Verbrechen gegen Institutionen und

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Grundsätze einer legitimen Staatsordnung begangen wird: den Tyrannenmord und das Widerstandsrecht. Per definitionem ist eine solche Situation dergestalt beschaffen, dass das Recht nicht durchgesetzt wird und deshalb kein fairer Prozess möglich ist. Aus diesem Grund kann weder der Tyrannenmord noch das Widerstandsrecht durch das positive Recht geregelt werden. Das deutsche Grundgesetz besagt, dass „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, […] alle Deutschen das Recht zum Widerstand [haben], wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“ (GG § 20 (4)). Aus den genannten Gründen kann aber das Grundgesetz die Ausübung dieses Widerstandsrechts nicht regeln. Das Widerstandsrecht gehört auch nicht zum Straf-, sondern zum Verfassungsrecht. Tyrannenmord und Widerstandsrecht stellen keineswegs eine Bestrafung des Tyrannen dar, sie gewähren lediglich dem Tyrannenmörder bzw. Widerstandskämpfer eine rechtliche Entschuldigung für Handlungen, die unter normalen Umständen durchaus strafbar wären. Hier möchten wir aber die Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen. Worin soll nun der Zweck liegen, einen Machthaber, der gerade ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, zu bestrafen, während er es begeht? Mir scheint, dass der Zweck der Bestrafung entweder – und primär – die Unschädlichmachung (im neutralen Sinn von incapacitation, s. o. Kap. 3.3) des Verbrechers gegen die Menschlichkeit bzw. seine Entmachtung sein kann, oder aber die Generalprävention, d.h. die Abschreckung von Mitgliedern anderer Regierungen vor dem Begehen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Einen Täter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen, ist entweder überflüssig oder unnütz. Es ist überflüssig, wenn es rechtlich möglich ist, Regierungsmitglieder bzw. die gesamte Regierung auf der Grundlage des üblichen Strafrechts anzuklagen bzw. zu entmachten, und wenn das Parlament, die Justiz und die Polizei nicht so korrupt sind, dass sie die Verbrechen der Regierung entweder dulden oder gar unterstützen. Es ist unnütz, wenn entweder kein Verfahren der Amtsenthebung in der Verfassung vorgesehen ist oder die verbrecherischen Regierungsmitglieder eine derartige Gewaltherrschaft ausüben, dass niemand es wagen würde, gegen sie zu ermitteln. Nicht nur aus solchen Gründen des Rechtsmissbrauchs, sondern auch wegen interner bzw. völkerrechtlich rechtmäßiger Immunität kann die Verfolgung

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von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unmöglich sein. Regierungsmitglieder, Parlamentsmitglieder, Diplomaten usw. genießen eine völkerrechtliche Immunität, die sie sogar vor der Verfolgung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schützt. Da die Vereinten Nationen alle humanitären militärischen Interventionen außer im Fall der Selbstverteidigung bzw. mit der Autorisierung durch die UNO verbieten, scheint das Völkerrecht der Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Amtszeit der sie begehenden Politiker u.ä. nicht gerade förderlich zu sein. Der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit im heutigen Völkerrecht eignet sich nicht besonders als Mittel zur Abschaffung der rechtlichen Hindernisse einer Intervention gegen eine Regierung, welche die Grundrechte ihrer Bevölkerung massiv verletzt. Sofern die Argumente zugunsten einer besonderen Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit überhaupt eine präventive Wirkung dieser besonderen Bestrafung hervorheben, handelt es sich vielmehr um die angebliche generalpräventive Wirkung der Verurteilung des verbrecherischen Machthabers nach seiner Amtszeit. Die Verfolgung und Verurteilung früherer Machthaber, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, soll angeblich Politiker während ihrer Amtszeit von dem Begehen ähnlicher Verbrechen abschrecken. Es ist aber erstens nie nachgewiesen worden, dass Politiker, die im Begehen eines Verbrechers gegen die Menschlichkeit das einzige ihnen verfügbare Mittel sehen, ihre politischen Ziele zu erreichen (von deren Richtigkeit sie zutiefst überzeugt sein mögen) oder schlicht im Amt zu bleiben, durch die Verurteilung ausländischer verbrecherischer Politiker bewegt werden können, die Menschenrechte zu achten. Politische Ziele bzw. der Wille, an der Macht zu bleiben, sind eher die stärkeren Motive. Zweitens sollte die Bestrafung, wenn der Zweck der Strafe die Abschreckung ist, gleich nach dem Begehen der Tat stattfinden, d.h. während der Verbrecher noch im Amt ist und nicht erst nach seiner eventuellen Amtsenthebung. (b) Untersuchen wir jetzt die Situation nach der Entmachtung des Verbrechers. Der präventive Zweck der Strafe kann entweder die Generalprävention sein, gegen welche ich soeben Bedenken geäußert habe, oder die Spezialprävention. Letztere besteht darin, den entmachteten Verbrecher daran zu hindern, wieder an die Macht zu gelangen. Im Fall eines Politikers, der Verbrechen gegen die Institu-

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tionen seines eigenen Staates begangen und den man seines Amtes enthoben hat (z.B. im Fall einer Verschwörung gegen die Staatsordnung, des Hochverrats, des Machtmissbrauchs usw.), stehen traditionell drei Möglichkeiten offen. Jede Möglichkeit entspricht einer anderen Diagnose für den ehemaligen Machthaber. Setzen wir voraus, dass der frühere Machthaber weiterhin eine direkte und akute Bedrohung für die Institutionen darstellt, weil er etwa über genügend Anhänger, Mittel, Waffen usw. verfügt, um mit Aussicht auf Erfolg eine erneute Machtergreifung zu versuchen. Eine erste mögliche Diagnose ist, dass er die Fähigkeit zur Machtübernahme verlöre, wenn er sich nicht mehr auf dem Territorium des Staates aufhielte. Die klassische Lösung heißt: Verbannung. Eine zweite mögliche Diagnose ist, dass er auch im Exil eine Bedrohung für den Staat bliebe, wie er es schon jetzt auf dem Territorium des Staates ist. Die klassische Lösung heißt: Todesstrafe. Eine dritte und letzte mögliche Diagnose ist, dass er nach seiner Entmachtung keine Gefahr mehr für die Institutionen des Staates darstellt. Der Verbrecher wird in diesem Fall bestraft, damit seine Beziehung zur Bevölkerung endgültig abgebrochen wird und kein Missverständnis über den Willen der neuen Regierung entsteht, sich die Wiederholung der Verbrechen der früheren Regierung strengstens zu verbieten. In einem solchen Fall fällt aber die Strafe eher gering aus, oft erfolgt eine vorgezogene Entlassung. Wo es nötig ist, kann noch ein Verbot der Kandidatur für öffentliche Ämter hinzugefügt werden. Bekanntlich ist die Strafe in politischen Straffällen heute meistens entweder (Diagnose 2) die Todesstrafe oder (Diagnose 3) eine kurze Freiheitsstrafe. Es ist interessant festzustellen, dass das positive Völkerrecht keine der genannten drei Möglichkeiten kennt: Den internationalen Gerichtshöfen für Ex-Jugoslawien und Ruanda sowie dem Internationalen Strafgerichtshof in den Haag stehen diese Strafen nicht zur Verfügung. Die Todesstrafe ist in den meisten Mitgliedsstaaten der UNO und des Internationalen Strafgerichtshofs abgeschafft worden, und anders als im Fall der Verjährung wurde die Bestrafung von Verbrechern gegen die Menschlichkeit von dieser Abschaffung nicht ausgenommen. Die schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden nicht schwerer bestraft als die schwersten Mordfälle. Seit der Zeit des Nürnberger bzw. des Tokioer Strafgerichtshofs hat kein internationaler Strafgerichtshof mehr die Todesstrafe verhängt. Andernfalls

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würden die meisten westlichen Demokratien mit diesen internationalen Gerichtshöfen nicht zusammenarbeiten, weil ihnen ihr nationales Recht die Auslieferung von Angeklagten verbietet, die zum Tode verurteilt werden könnten. Die Verbannung wiederum ist schon deswegen keine verfügbare Option, weil die Erklärung der Menschenrechte der UNO (Universal Declaration of Human Rights, 10. Dezember 1948 Art. 9), die European Convention on Human Rights (Art. 7 (1)) und das Abkommen von Helsinki (Final Act of the Conference on Security and Cooperation in Europe, 1. August 1975, Prinzip X), jedem Menschen das Recht verleihen, sich jederzeit im eigenen Land aufzuhalten. Die Strafe kann somit nur eine entweder lebenslängliche oder langjährige Freiheitsstrafe bedeuten. Dennoch kann man zwei erstaunliche Beobachtungen machen: 1. Die Bestrafung von Verbrechern gegen die Menschlichkeit unterscheidet sich grundsätzlich von der traditionellen Bestrafung aller Verbrecher gegen die Institutionen der Rechts- und Staatsordnung, obwohl beide Verbrechen zusammengehören. 2. Die Bestrafung von Verbrechern gegen die Menschlichkeit übertrifft nicht die Bestrafung anderer Verbrecher, obwohl in den meisten Ländern nur die Taten der Letzteren verjähren. Ich werde auf diese Beobachtungen später zurückkommen. Zunächst möchte ich einen Blick auf die Bestrafung derjenigen werfen, welche die Befehle der Politiker lediglich vollstreckt haben. Ich werde nochmals den Zustand während des Begehens eines Verbrechens vom Zustand nach der Tat unterscheiden. Es leuchtet ein, dass während des Begehens eines Verbrechens seine Vollstrecker nicht verfolgt werden können, da sie im Dienst des systematischen „Plans eines Staates oder einer Organisation (State or organizational policy)“ (ICC Art. 7 (1)) agieren. Nach der Tat ist die wichtigste Maßnahme der Spezialprävention die Auflösung aller kriminellen politischen Organisationen, welche das Verbrechen gegen die Menschlichkeit geplant, dazu angeleitet und sie ausgeführt haben. Welchen Zweck sollte aber die Bestrafung der zahlreichen einzelnen Vollstrecker verfolgen? Wie erwähnt, gehört es zu den Merkmalen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit – wie auch von Kriegsverbrechen –, dass es zwar einerseits keine Entschuldigung ist, nur auf Befehl gehandelt zu haben, dass aber andererseits die Ausführung des Verbrechens nicht als schwerere Tat als die Anstiftung dazu gilt, kurz:

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dass sich Befehlshaber und Ausführender gleichermaßen verantworten müssen. Diese Regelung bleibt aber weitgehend Theorie, weil nur eine sehr geringe Anzahl der Vollstrecker wirklich verfolgt und dann meist zu milderen Strafen verurteilt wird als Täter, welche dieselbe Tat außerhalb des Zusammenhangs mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben (man denke etwa an den vom International Crime Tribunal for Ex-Yougoslavia (ICTY) 1996 verhandelten Fall (IT-96-22) von Drazen Erdemovic´ , einem mehrfachen Mörder, der unter mildernden Umständen schließlich zu nur fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde: vgl. Garapon 2002, 185–187). Sogar die freiwillige Mitgliedschaft in vom Nürnberger Strafgerichtshof als kriminell anerkannten Organisationen wie der SS wurde nie systematisch bestraft, nur besonders schwere Fälle wurden verfolgt. Nun kann die Bestrafung einiger weniger Vollstrecker weder spezialpräventiv (ein paar zerstreute Mitglieder allein können keine ganze Organisation wiederaufbauen) noch generalpräventiv (wenn die Wahrscheinlichkeit der Bestrafung sehr gering ist, fällt die Abschreckung meistens ebenfalls gering aus) begründet werden. Generalpräventiv wäre eine weitverbreitete Bestrafung der Ausführenden viel wirksamer. Wenn eine massive Bestrafung einen derartigen Widerstand der angeklagten Verbrecher verursachen würde, dass einerseits ihre Verurteilung schließlich die Stabilität der Staats- und Rechtsordnung gefährdete, andererseits eine sehr geringe Strafe zur Restaurierung der normalen Rechts- und Staatsordnung beitrüge, so würden alle Theorien des Strafrechts, ob präventiv oder retributivistisch, letztere Option bevorzugen. Dennoch besteht auch hinsichtlich dieser Lösung ein wesentlicher Unterschied zwischen präventiven und retributivistischen Theorien des Strafrechts. Eine retributivistische Theorie hält diese Lösung für eine Ausnahme vom Gesetz, die nur deswegen zugelassen wird, weil sie für die Erhaltung des Gesetzes in einem Zustand nötig ist, in dem seine normale Durchsetzung nicht mehr möglich ist. Wie schon in Kapitel 2.2 erwähnt, betrachtet Kant in seiner Rechtslehre einen Zustand, in dem „die Zahl der Complicen“ in einem Mord so groß ist, daß der Staat, um keine solche Verbrecher zu haben, bald dahin kommen könnte, keine Unterthanen mehr zu haben, und sich doch nicht

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auflösen, d.i. in den noch viel ärgeren, aller äußeren Gerechtigkeit entbehrenden Naturzustand übergehen […] will […]. (RL VI 334)

Nach dem hier deutlich retributivistischen Kant sollen die Verbrecher in einer solchen Situation zu milderen Strafen verurteilt werden, und zwar nicht im Rahmen des Strafgesetzes, sondern dank der Begnadigung durch den Souverän. Nach einer präventiven Theorie stellt diese milde Bestrafung hingegen keine Ausnahme vom Strafgesetz, sondern einen Bestandteil desselben dar, weil der Zweck des Strafgesetzes einfach in der schnellstmöglichen Wiederherstellung der normalen Rechtsordnung liegt. Nun besteht keine Gefahr, dass der Täter das Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einer normalen Rechtsordnung wiederholen wird. Die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls ist viel geringer als bei anderen Verbrechen; die Strafe muss daher ebenfalls geringer ausfallen als im üblichen Strafrecht. Ich werde auf die retributivistische Position zurückkommen. Der Schluss, den ich zunächst aus diesen Punkten ziehen werde, mag prima facie als abstoßend wahrgenommen werden: Weil zu den Merkmalen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit seine politische Bedeutung und das Fehlen der üblichen Hierarchie von Schuld und Strafe gehört, sollte das Verbrechen gegen die Menschlichkeit letztlich milder bestraft werden als die übrigen Verbrechen. Von einem general- bzw. spezialpräventiven Gesichtspunkt werden im Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht so schwere Strafen benötigt wie bei anderen Verbrechen. Dieser Schluss mag noch abstoßender wirken, wenn wir folgendes Gedankenexperiment durchführen. Zunächst möchte ich aber betonen, dass ich keinerlei Sympathie für die unten genannte Person hege, deren Politik – insbesondere seine Politik der Massenvernichtung ganzer Menschengruppen – zweifellos nur eine grundsätzliche und uneingeschränkte moralische Verurteilung verdient. Hier möchte ich mich auf den früheren Rechtsanwalt Robert Badinter berufen, der viele seiner Mandanten vor der Todesstrafe rettete, bevor er als französischer Justizminister die Todesstrafe in Frankreich abschaffte. Badinter erklärt, dass je abstoßender ein Verbrechen ist, desto klarer das Grundsatzplädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe formuliert werden kann (vgl. Badinter 2000). Beginnen wir also unser Gedankenexperiment und nehmen wir an, dass der Spiegel vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs entdeckt hätte, dass Adolf

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Hitler doch nicht im April 1945 in seinem Berliner Bunker gestorben wäre, sondern fliehen konnte und seitdem unauffällig in einem irischen Dorf lebte. Außer retributivistischen Argumenten sähe ich kein straftheoretisches Argument, warum man Hitler nach vierzig Jahren noch bestrafen hätte sollen. Zu jenem Zeitpunkt wäre er keine Gefahr mehr für die Institutionen gewesen. Allenfalls hätte man sicherheitshalber seine Redefreiheit einschränken und ihm das Wahlrecht entziehen können. Dieser abstoßende Schluss, nämlich die Forderung nach einer Verjährung selbst derart unsäglicher Verbrechen, widerspricht zwar einem der Merkmale der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bedeutet allerdings nicht unbedingt die Abwesenheit jeglicher Schuldzuweisung, wie die Praxis der Wahrheitskommission zeigt, welche Tat und Schuld durchaus feststellt, aber niemanden verurteilt. Ich vermute, dass einige Schwerverbrecher aus der Zeit der Apartheid eine Haftstrafe zur Resozialisierung gebraucht hätten. Ich beschränke mich also auf die These, dass in den Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit die übliche Verjährungsfrist keinesfalls überschritten, sondern eher unterschritten werden sollte. 7.3 Die Grenzen unserer moralischen Intuition Wie schon gesagt, kann eine Ablehnung meines abstoßenden Schlusses nur auf einer retributivistischen Straftheorie beruhen. Eine solche Theorie bezieht sich typischerweise auf das vierte Merkmal der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das ich einführend dargestellt habe (s. o. Kap. 7.1), also auf deren ungeheuerlichen Charakter, dessentwegen der Verbrecher eine besondere Strafe verdient, welche dennoch nie seiner Schuld vollkommen entsprechen kann. In der Tat ist das Ungeheuerliche jedes Verbrechens gegen die Menschlichkeit offensichtlich. Der Begriff des Ungeheuerlichen kann aber nicht eine neue Art von Verbrechen definieren. Ein Kannibale, der sein Opfer auf Verlangen verspeist, ist m. E. ungeheuerlicher und abstoßender als jemand, der sein Opfer ermordet, um ihm eine Million Euro zu rauben. Trotzdem wird der zweite Täter zu einer schwereren Strafe verurteilt als der erste. Der zweite wird genauso zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wie derjenige, der ein kleines Baby vor den Augen seiner Mutter foltert und tötet, was die meisten von uns doch für ungeheuerlicher halten. Nicht zuletzt sind viele Handlungen ungeheuerlich und straffrei. Man darf in

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einem Luxusrestaurant durchaus erklären, dass der größte Genuss, den die Mahlzeit dort biete, von dem Gedanken herrühre, dass gleichzeitig so viele ‚nutzlose‘ Einwohner Afrikas Hungers sterben. Oder man darf seinem sterbenden Lebenspartner im Krankenhaus erklären, dass man ihn nicht geliebt und immer wieder betrogen hat, und dann das Zimmer ohne Abschied verlassen. Beides ist vollkommen legal. Der Zweck des Strafrechts ist nicht, die moralische Bosheit und die Perversionen zu vergelten, sondern die Gesellschaft bzw. die Rechte der Bürger zu schützen, wie dies auch der Zweck der gesamten Rechtsordnung ist. Das Strafrecht ist also ein Mittel zur Wiederherstellung der Rechtsordnung zwischen allen Menschen – inklusive der Verbrecher – nach der Straftat, und zwar sobald wie möglich. Der retributivistische Einwand gegen meinen abstoßenden Schluss sollte klassischerweise lauten: Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdienen eine schwerere Strafe als gleichartige Verbrechen, die nicht im Zusammenhang von „weitverbreiteten und systematischen Angriffen (widespread and systematic attacks)“ (ICC, Art. 7 (1)) und „entweder dem Plan eines Staates oder einer sonstigen Organisation angehören, diese Angriffe durchzuführen oder aus einem solchen Plan resultieren (pursuant to or in furtherance of a State or organizational policy to commit such attack)“ (ICC Art. 7 (2)) begangen werden. Ich sehe jedoch mehrere ernste Schwierigkeiten in dieser Argumentation. 1. Wenn wir die Tat eines Individuums, die im Zusammenhang mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wird, mit derselben Tat, wenn sie außerhalb eines solchen Zusammenhangs begangen wird, vergleichen, neigen wir dazu, die erste Tat als schwerer zu betrachten. Sollte aber eine Operation der Zwangssterilisierung von Mitgliedern einer bestimmten Gruppe von Menschen wirklich schwerer bestraft werden als ein einfacher Mord? Die Antwort ist jedenfalls nicht selbstverständlich. 2. Soll ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in der industriellen Vernichtung vieler Menschen besteht, tatsächlich schwerer bestraft werden als ein einfacher Mord ohne den Charakter eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit? Wenn Letzteres schon mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe belegt wird, bliebe als mögliche schwerere Strafe nur die Todesstrafe nach einer langen und öffent-

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lichen Folter. Wäre aber eine solche Strafe nicht selbst ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? In der Sache der Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht das Völkerrecht offenbar nicht in diese Richtung. 3. Mit dem Retributivismus ist die Abwesenheit der traditionellen Hierarchie von Schuld und Strafe in den Artikeln 7 und 25 der ICCSatzung nicht kompatibel. Man könnte gegen meinen Schluss einwenden, dass das Strafrecht die Gefühle des Volkes nicht verletzen darf. Eine Verjährung von Hitlers Verbrechen würde die Gefühle des Volkes verletzen, und zwar wahrscheinlich in höherem Grade als die Tatsache, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht schwerer bestraft werden als andere Verbrechen. Dieses Argument kann auf zwei Weisen interpretiert werden. Entweder geht es davon aus, dass kein moralisches Urteil wahr sein kann, wenn es den Gefühlen des Volkes widerspricht. Oder es behauptet, dass der abstoßende Schluss das Volk dazu bewegen würde, die bestehende Rechtsordnung umzustürzen. Das Gemeingefühl darf aber schon deswegen nicht Kriterium für das moralische Urteil über eine Strafe sein, weil es in vieler Hinsicht inkonsistent ist. Das Gemeingefühl mischt retributive, general- und spezialpräventive Elemente. Es kann sich über Strafen empören, die ihm als zu mild erscheinen, und gleichzeitig in Kauf nehmen, dass das Opfer eines Verkehrsunfalls viel besser entschädigt wird als das Opfer einer Vergewaltigung oder einer schweren Körperverletzung. Außerdem ist das Urteil der Gefühle des Volkes oft offensichtlich unmoralisch. Vor Jahrhunderten billigte es ohne Bedenken Strafprozesse gegen Tiere und Hexen, die Folter als Strafe und als Mittel beim Verhör der Verdächtigen, die Bestrafung einer ganzen Familie für das Verbrechen eines einzigen ihrer Mitglieder usw. Noch heutzutage wird der Hungertod von Millionen Menschen von den meisten Menschen nicht als eine schwere Menschenrechtsverletzung wahrgenommen, obgleich schon die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 das universelle Recht auf Subsistenz erklärt hat. In vielen Ländern unterstützt immer noch eine Mehrheit der Bürger die Todesstrafe und billigt die zunehmenden Einschränkungen des Asylrechts. Was andererseits die Gefahr betrifft, dass das Volk die Institutionen des Rechtsstaates umstürzen könnte, wenn Verbrechen gegen die

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Menschlichkeit verjähren würden, so gibt es dafür keinen Beweis. Die Straflosigkeit für die Mitglieder des Apartheid-Regimes hat den südafrikanischen Rechtsstaat nicht geschwächt und die Demonstrationen gegen die Straflosigkeit für frühere Diktatoren, welche die Menschenrechte schwer verletzt haben, haben niemals eine demokratische Rechtsordnung gefährdet. Darum sehe ich keinen gültigen moralischen Einwand gegen die Verjährung und die Milde der Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Während der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ein pragmatisches Kriterium für die global schwersten Verbrechen ist und einen ersten Schritt zur weltweiten Harmonisierung des Strafrechts darstellt, sollte das Verbrechen gegen die Menschlichkeit selbst doch nicht als ein grundsätzlich neuartiges Verbrechen gelten, das neue, besonders scharfe Regeln der Strafverfolgung, des Strafmaßes und des Strafzwecks erforderte. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Menschenrechte weniger verletzen würden als die übrigen Verbrechen. Das Gegenteil ist der Fall; und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind besonders ungeheuerlich. Dieses Paradox erinnert uns daran, dass es keine Aufgabe des Strafrechts ist, uns für unsere vergangene Ohnmacht gegen vergangene Verbrechen an den Verbrechern zu rächen. Aufgabe des Strafrechts ist es vielmehr, künftige Verbrechen zu verhüten und die Rechte sowohl der Opfer als auch der Täter innerhalb des Rechtsstaats zu sichern. Die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wären glücklicher, wenn sich jene demokratischen Regierungen, die sich selbstgefällig für die Errichtung des – gewiss sehr nützlichen – Internationalen Strafgerichtshofs loben, ebenso stark für eine Verstärkung statt für eine Einschränkung des Asylrechts einsetzen würden. Nicht ob Milosˇ evic´ lebenslänglich oder nur viele Jahre hinter Gittern hätte bleiben müsste, ist die wichtige Frage, sondern wie man die Folter weltweit beenden kann.

Schluss Im ersten Teil dieser Schrift haben wir die kantische retributivistische These untersucht, nach welcher der Verbrecher bestraft wird, weil er es verdient hat. Zwei Interpretationen des kantischen Rechtsbegriffs sind möglich (siehe Kap. 1). Nach der liberalen Interpretation, die sich nicht auf die Gesinnung der Menschen bezieht, wird das Recht bloß als die Koexistenz der Handlungsfreiheit aller Menschen nach dem Gesetz der Gleichberechtigung definiert. Nach der moralischen Interpretation hingegen, die sich wesentlich auf die Gesinnung der Menschen bezieht, soll das Recht den Inhalt des kategorischen Imperativs so weit umsetzen, wie das durch Zwangsanwendung nur möglich ist. Entsprechend diesen beiden Interpretationen lassen sich in der kantischen retributivistischen These zwei Dimensionen ausmachen: eine genuin rechtsethische, von der Gesinnung der Individuen unabhängige Dimension (siehe Kap. 2) und eine personalethische Dimension (siehe Kap. 3). Die rechtsethische Dimension der kantischen retributivistischen These widerspricht der Forderung der Koexistenz aller Freiheiten, wozu auch die Freiheit des Verbrechers gehört und – zumindest auf den kürzestmöglichen Weg – auch wieder gehören sollte. Die personalethische Dimension widerspricht dem Postulat des höchsten Guts, das vielmehr Verzeihung gegenüber dem Verbrecher fordert, solange sich diese Verzeihung mit der Sorge um die Sicherheit der anderen Mitbürger verträgt. Sowohl der Rechts- als auch der Tugendbegriff Kants fordert mithin statt einer Retribution vielmehr eine Resozialisierung, die nach der kürzestmöglichen Spezialprävention, d. h. einer temporären Unschädlichmachung (incapacitation) erfolgen sollte. Im zweiten Teil habe ich dargestellt, wie diese resozialisierende Rechtfertigung der Strafe nach einer Zeit der Spezialprävention von Fichte (siehe Kap. 4) und Hegel (siehe Kap. 5) auf der Grundlage der liberalen Interpretation von Kants Rechtsbegriff vertreten wurde: Der Verbrecher wird bestraft, damit er wieder zur Rechtsgemeinschaft gehört. Fichte setzt bei der Frage des Umgangs mit dem Verbrecher an und zieht zunächst in einem Gedankenexperiment die logische Folge des Verbrechens. Dessen folgerichtige Konsequenz wäre nicht die Wiedervergeltung, sondern der Ausschluss des Verbrechers aus der Rechtsgemeinschaft und der Entzug seines rechtlichen Status. Als Alternative

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zu diesem Schicksal erscheint die rechtliche Strafe an sich, solange sie sich weder auf die Todesstrafe noch auf Folter, sondern auf eine Freiheitsstrafe beläuft, als eine für den Verbrecher bessere Alternative. Eine solche Abbüßung ist also kein Übel, sondern vielmehr eine Chance, die Fichte so gestaltet, dass sich der Verbrecher bessern und schließlich in die Rechtsgemeinschaft wiedereingliedern kann. Hegel wiederum wählt als Leitfaden nicht die Behandlung des Verbrechers, sondern die Wiederherstellung des Rechts als Negation der Negation – wobei die Negation das Verbrechen und die Negation der Negation die Strafe ist. Die ‚Negation‘ der Negation ist dabei keinesfalls, wie oft fälschlich angenommen, derselben Art wie die einfache ‚Negation‘ und darf also nicht mit einer Antwort auf das Übel des Verbrechens in der Form eines zweiten Übels verstanden werden. Entgegen vielen Interpretationen ist Hegel kein Retributivist, obwohl er – wie auch Fichte – dem Retributivismus eine (bloß) instrumentale psychologische Rolle in der Vermittlung des Sinnes der Bestrafung zuweist. Im dritten Teil hat sich gezeigt, dass der Retributivismus oft ohne Respekt vor der Menschheit im Verbrecher bestrafen kann. Nietzsche bietet eine plausible Entstehungsgeschichte der wiedervergeltenden Strafe an (siehe Kap. 6), in welcher das Motiv der Institution solcher Strafen nicht etwa aus der Achtung vor der Menschenwürde entspringt, sondern vielmehr aus einer allgemein menschlichen Grausamkeit gegen den Verbrecher, welche die Entstehung von schlechtem Gewissen und Reue im Verbrecher eher verhindert als sie erweckt. Wenn der Staat ein Gewaltmonopol etabliert und die öffentliche Sicherheit gewährleistet, wird den Menschen die Ausübung dieser Grausamkeit entzogen und die Strafen werden vergleichsweise milde, wie wir sie seit der späten Neuzeit kennen. Um das Versprechen meiner Einleitung einzuhalten, alle Konsequenzen aus der resozialisierenden Alternative zum Retributivismus zu ziehen, argumentiere ich schließlich (siehe Kap. 7) für einen Umgang selbst mit den schwersten und inhumansten Verbrechern, d. h. mit den Verbrechern gegen die Menschlichkeit, der nicht härter ausfällt als der Umgang mit anderen Verbrechern: Auch diese Fälle sollten verjähren, das Strafmaß sollte nicht – proportional zum Verbrechen – größer, sondern tendenziell eher geringfügiger ausfallen, die Vorstellung sollte aufgegeben werden, dass die Ungeheuerlichkeit solcher Verbrechen die Strafe – und zwar eine möglichst harte Strafe – rechtfertigt usw.

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Weitere Konsequenzen ließen sich aus meiner Kritik am Retributivismus sowie aus meiner Alternative ziehen. Ich möchte hier nur kurz skizzieren, wie das Strafsystem nach meinem Alternativentwurf zu reformieren wäre. 1. Im Urteil für die Freiheitsstrafe sollte keine fixe Dauer festgesetzt werden. Statt durch eine bestimmte Dauer sollte das Strafmaß durch einen Zweck bestimmt werden. Der Verbrecher sollte seine Strafe solange abbüßen, bis er keine größere Gefahr für die Rechtsgemeinschaft darstellt als die anderen Bürger. Damit darf das Kriterium für die Entlassung aus der Strafe sicherlich nicht die absolute Sicherheit der Gesellschaft sein, denn auch jeder ‚normale‘ Bürger, der bisher stets dem Gesetz treu gewesen ist, kann zu jeder Zeit plötzlich ein Verbrechen begehen. Schon heute werden Strafen zur Bewährung ausgesetzt und Gefangene werden im Fall einer guten Führung in der Haft vorzeitig entlassen. Andere dürfen tagsüber außerhalb des Gefängnisses arbeiten. Solche Spielräume, die schon heute bestehen, sollten zu einer allgemeinen Aufhebung jeder Fristbestimmung erweitert werden. 2. Auf den Grundsatz der Proportionalität zwischen dem Verbrechen und der Strafe müsste verzichtet werden. Allerdings ist zu erwarten, dass Diebe im Durchschnitt nach einer kürzeren Zeit resozialisiert werden können als mehrfache Mörder, die ihre Opfer noch gefoltert haben. Statistisch würde man also wahrscheinlich eine deutliche Korrelation zwischen der Schwere der Tat und der Dauer des Resozialisierungsprozesses beobachten. Diese Verbindung dürfte aber keine prinzipielle Verknüpfung sein und es bestünden sicherlich auch Ausnahmen. 3. Eine Reform des Strafrechts sollte nicht so ausfallen, dass Strafen allgemein härter oder allgemein milder werden. Im Ergebnis würden manche Strafen milder, andere aber härter bestraft, je nach dem Verhalten des einzelnen Sträflings. 4. Die psychologische Begutachtung der Sträflinge sollte regelmäßiger und sorgfältiger ausfallen. Es wäre ein Verfahren wie das folgende denkbar. Am Anfang des Strafvollzugs wäre das Kriterium für eine Freilassung besonders streng. Das Kriterium würde sich im Laufe der Zeit lockern und schließlich umkehren, so dass allmählich die Beweislast auf der Seite der Rechtsgemeinschaft stünde, dass der Sträfling tatsächlich im Gefängnis bleiben muss.

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5. Der Retributivismus behauptet gerne, dass nur die Wiedervergeltung dem Opfer gerecht werde und jede andere Strafe sowohl für den Verbrecher als auch für das Opfer ungerecht wäre. Im heutigen Strafsystem erscheint dieses Argument eher als ein leerer Trost für das Schicksal der Opfer, das skandalös aussieht. Wer schwere Körperverletzung erleidet, sollte sie sich besser in einem unverschuldeten Autounfall als von einem Serientäter zugezogen haben, weil die Entschädigung der Opfer von Straftaten besonders niedrig ist. Der Öffentlichkeit sollte die Bedeutung eines Strafprozesses klargemacht werden. Während ein eventueller Schadenersatz einschließlich Schmerzensgeld die legitimen Ansprüche der Opfer erfüllen soll, gilt die Strafe nur dem öffentlichen Interesse der gesamten Gemeinschaft an der öffentlichen Sicherheit. Es wird also ein doppelter Prozess geführt, und zwar auch dann, wenn die beiden Anliegen im selben Prozess verhandelt werden. Statt ausschließlich und systematisch härtere Strafen zu verlangen, sollten manche nach Popularität strebenden Politiker zunächst an eine bessere und würdigere Entschädigung der Opfer denken. 6. Der Versuch sollte immer und im selben Ausmaß bestraft werden wie das Verbrechen selbst. Dass dies heutzutage nicht der Fall ist, sondern der Versuch nur bei manchen schweren Verbrechen strafbar ist und mit einem geringeren Strafmaß belegt ist, führt Joel Feinberg überzeugend auf die Verbindung zurück, die der Retributivismus zwischen der Schwere der Tat und der Böswilligkeit des Verbrechers herstellen will: Ich finde es überhaupt nicht plausibel, wenn man zunächst die strafrechtliche Verantwortung auf die moralische Schuld, dann aber die moralische Schuld wiederum auf die durch diese Schuld verursachten tatsächlichen Schaden bzw. auf die Schadlosigkeit gründet. Die altertümliche Ansicht, nach der die strafrechtliche Verantwortung nicht auf die moralische Schuld, sondern unmittelbar auf die Höhe des verursachten Schadens gegründet werden soll, scheint mir ehrlicher, jedoch nicht plausibler. Es scheint beinahe so, als ob der Retributivist so sehr auf den tatsächlichen Schaden fixiert ist, dass er nur noch nach der Frage sucht, auf die der tatsächliche Schaden die richtige Antwort darstellt. Die auf diese Antwort passende Frage ist nicht die Frage „Was sollte die Grundlage der strafrechtlichen Verantwortung sein?“ Denn die moralische Schuld ist eine plausible Antwort auf diese Frage. Die auf die gewünschte Antwort passende Frage ist auch nicht: „Was ist die Grundlage der moralischen Schuld?“ Denn die traditio-

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nelle Vielfalt an Umständen der Schuld, an Motiven, an mildernden bzw. erschwerenden Umständen usw. antwortet auf diese Frage. Wie wäre es denn mit der Frage: „Was ist die notwendige Voraussetzung für die Haftung?“ Sie trifft es eher.43 (FEINBERG 2003, 100)

Damit wird der moderne Retributivismus der Frage ausgesetzt, wie sich eigentlich die innere moralische Schuld der Person in einem Rechtssystem bestrafen lässt, das sich nur mit der Handlungsfreiheit und nicht mit der Moralität befassen will. Über diese konkreten Vorschläge zur Reform des Strafrechts hinaus muss ich als Bilanz meiner Untersuchung noch vier Punkte von allgemeinerem Interesse ansprechen. Erstens kann es für das Strafrecht nicht um die (rein moralische) Bosheit der Menschen gehen, sondern nur um die Beachtung der Gesetze bzw. um die Rechtsverletzung. Auch wenn wir, wie Kant als Möglichkeit in Zum ewigen Frieden erwähnt, alle ‚Teufel‘ wären (vgl. ZeF VIII 366), würde das nicht bedeuten, dass wir alle präventiv bestraft werden sollten. Nur diejenigen, welche weder moralische noch externe Gründe an der Begehung von Verbrechen hindern können, sollen bestraft werden. Zweitens lässt sich nicht der Retributivismus, sondern die resozialisierende Rechtfertigung der Strafe mit jenem Weg vereinbaren, über den Kant den globalen „ewigen Frieden“ erreichen will, mit dem wiederum für Kant erst der Rechtszustand in der gesamten Welt herrschen würde. Die neuzeitliche Tradition des Naturrechts, auf die sich Kant kritisch bezieht, kennt drei gerechte Absichten, um einen Krieg zu führen: Notwehr, Wiedererlangung der eigenen vom Gegner gestohle43 Im Original: “I find no intuitive plausibility at all in first basing criminal liability on moral blameworthiness, but then basing moral blameworthiness in turn upon the actual harm or absence of harm caused. The ancient view, that liability should be based not upon blameworthiness at all but instead directly upon the amount of harmed caused, seems to me more honest, though no more plausible. It seems almost as if the retentionist is so fixated on actual harm that he keeps searching for the question to which it is the right answer. Not the question: ‘What ought to be the basis of criminal liability?’ Moral blameworthiness is a plausible answer to that question. Not the question: ‘What is the basis of moral blameworthiness?’ The traditional multiplicity of culpability conditions, motives, mitigations, aggravations, and so on, answers that question. How about the question: ‘What is a necessary condition for tort liability?’ Now, that is more like it.”

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nen Güter und die Bestrafung des ungerechten Gegners. Diese Bestrafung des besiegten Gegners ist bei den Theoretikern des gerechten Krieges – etwa bei Grotius, Pufendorf, Vattel usw. – präventiv gemeint. Das Ziel ist ein für beide Parteien gerechter Friede. Insofern darf nur soweit bestraft werden, wie es die Sicherheit des Siegers erfordert. Diese Theorie zielt darauf, dass in Zukunft kein weiteres Unrecht begangen wird, das einen gerechten Grund für einen weiteren Krieg darstellen würde. Wenn diese präventive Absicht wirkt, wird immer weniger Krieg geführt. Da der Sieger als Sieger die Überlegenheit schon erworben hat, kann die Bestrafung oft mild ausfallen. Darin besteht die Strategie der Theorie des gerechten Krieges zur Friedenserhaltung. Stellen wir uns jetzt vor, welche Folgen eine retributivistische Auffassung der Strafe für diese Theorie hätte. Wenn der besiegte Gegner nicht zur Einsicht käme, dass die Sache des Siegers richtig war, würde die wiedervergeltende Strafe vom Besiegten als ungerecht empfunden werden. Anders als im innerstaatlichen Recht gibt es nämlich im Völkerrecht keinen übergeordneten Richter, so dass jeder Souverän sein eigener Richter ist und wir es zwar nicht mit zwei Parteien zu tun haben können, deren Anliegen letztendlich gleichermaßen gerecht sind, wohl aber mit zwei bona fide kriegführenden Parteien, deren Kriegsgründe durchaus legitim und prima facie gerecht erscheinen. Anders als die schonend gemeinte präventive Bestrafung als Schutz vor einer Rückkehr des zum Krieg berechtigenden Grundes verlangt der Retributivismus von dem Besiegten nicht nur die Übernahme aller Kriegsschäden (Entschädigungen, Reparationen usw.), sondern auch eine harte Strafe. Wenn die besiegte Partei den Krieg bona fide geführt hatte, wird diese retributivistische Strafe von der besiegten Partei als ungerecht empfunden und ggf. als causa iusta für einen künftigen Krieg betrachtet werden. Damit gerät aber eine derart retributivistische Strafe in Widerspruch zu Kants Hauptanliegen, d.h. zum ewigen Frieden. Kants erster Präliminarartikel entzieht nämlich jeder Wiedervergeltung ihre Voraussetzung, indem er die Nichtberücksichtigung möglicher Entdeckungen über die Vergangenheit fordert: Die vorhandene, obgleich jetzt vielleicht den Pacificirenden selbst noch nicht bekannte, Ursachen zum künftigen Kriege sind durch den Friedensschluß insgesamt vernichtet, sie mögen auch aus archivarischen Documen-

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173

ten mit noch so scharfsichtiger Auspähungsgeschicklichkeit ausgeklaubt sein. (ZeF VIII 343f.)

Obwohl Kant an dieser Stelle die materiellen Ansprüche der Kriegsparteien im Blick hat, gilt diese Bemerkung sicherlich auch im Bereich des Strafrechts. Sogar in der Rechtslehre empfiehlt Kant auf der innerstaatlichen Ebene die gleiche (Bürger-)Friedensstrategie, wie die schon mehrfach zitierte Passage zeigt: So viel also der Mörder sind, die den Mord verübt, oder auch befohlen, oder dazu mitgewirkt haben, so viele müssen auch den Tod leiden; so will es die Gerechtigkeit als Idee der richterlichen Gewalt nach allgemeinen, a priori begründeten Gesetzen. – Wenn aber doch die Zahl der Complicen (correi) zu einer solchen That so groß ist, daß der Staat, um keine solche Verbrecher zu haben, bald dahin kommen könnte, keine Unterthanen mehr zu haben, und sich doch nicht auflösen, d.i. in den noch viel ärgeren, aller äußeren Gerechtigkeit entbehrenden Naturzustand übergehen […] will, so muß es auch der Souverän in seiner Macht haben, in diesem Nothfall (casus necessitatis) selbst den Richter zu machen (vorzustellen) und ein Urtheil zu sprechen, welches statt der Lebensstrafe eine andere den Verbrechern zuerkennt, bei der die Volksmenge noch erhalten wird, dergleichen die Deportation ist; dieses selbst aber nicht als nach einem öffentlichen Gesetz, sondern durch einen Machtspruch, d.i. einen Act des Majestätsrechts, der als Begnadigung nur immer in einzelnen Fällen ausgeübt werden kann. (RL VI 334)

Hier wird die Einhaltung der Gesetze zugunsten einer Erhaltung des bürgerlichen Friedens gerade deswegen zurückgestellt, weil der bürgerliche Friede die Voraussetzung für einen Rechtszustand ist, in dem allein Gesetze erlassen und durchgesetzt werden können. Dieses Problem, dem der Retributivismus innerhalb der kantischen Rechtsphilosophie ausgesetzt ist, hängt eigentlich drittens mit einem grundlegenden Problem zusammen: Der Retributivismus ist mit einem wichtigen Grundsatz der kantischen Rechtsphilosophie, und zwar mit dem sogenannten Erlaubnisgesetz nicht kompatibel (siehe schon Kap. 2.4 und 4.4). Das Erlaubnisgesetz gestattet es, bei der Durchsetzung des Gesetzes eine Ausnahme zu machen, solange diese Ausnahme nur das bisher Geschehene betrifft, nicht aber dasjenige, was in der Gegenwart geschieht bzw. in der Zukunft geschehen wird. Eine solche Ausnahme soll der friedlichen Errichtung eines Rechtszustandes dienen, wo die Anwendung des Gesetzes auf den bestehenden Zustand zu einer Rückkehr in den Naturzustand bzw. in den bürger-

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lichen Krieg führen würde. Die Durchsetzung des Gesetzes in der Gegenwart und in der Zukunft darf aber nicht „ad calendas graecas“ (ZeF VIII 347) verschoben werden, sondern soll auf dem kürzestmöglichen Weg erfolgen (vgl. RL VI 247; vgl. auch Brandt 1982). Nun definiert Kant das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (RL VI 230), wobei die Willkür aller Menschen – also auch der Verbrecher – gemeint ist. Wenn es also tatsächlich einen Weg gibt, der möglichst bald die Wiedereingliederung des Verbrechers in die Gesellschaft ermöglicht, dann ist dieser Weg geboten. Und wenn es diesen Weg überhaupt gibt, dann handelt es sich dabei per definitionem um die resozialisierende Strafe. Der kategorische Rechtsimperativ besteht nämlich nicht nur in einer idealen Rechtsordnung, sondern auch in den Schritten, die zur Errichtung bzw. zur Wiederherstellung dieser Rechtsordnung vonnöten sind. Schriften wie Zum ewigen Frieden und die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gehören zur letzteren Dimension des kategorischen Rechtsimperativs. Obwohl das Strafrecht redaktionell Teil der Rechtslehre ist, welche vor allem mit der idealen Rechtsordnung, also mit der ersten Dimension zu tun hat, ist das Strafrecht thematisch in die zweite Dimension einzuordnen. In dieser Hinsicht ist Gustav Radbruchs Dichotomie zwischen dem Recht als Bereich der ausgleichenden Gerechtigkeit (Tauschgerechtigkeit) sowie einem außerrechtlichen Bereich der austeilenden Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit entschieden abzulehnen (vgl. Radbruch 1970, 265). Das Strafrecht, das unumstritten ein wesentlicher Bestandteil des Rechts ausmacht, gehört nämlich weder zur Tauschgerechtigkeit noch zur Korrektivgerechtigkeit. Ein Tausch setzt nämlich das Einverständnis aller Tauschpartner über Bedingungen und Gegenstände des Tausches voraus. Schon deswegen kann die Strafe unmöglich auf einem Tausch beruhen. Nicht einmal der Retributivismus lässt sich als Tausch beschreiben. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Lev 24, 20) oder „die Vergeltung dessen, was man verdient“ bedeutet nicht einen Tausch von Augen bzw. von Zähnen bzw. den Tausch des Verdienstes eines Menschen gegen die Zufügung von Übel durch einen anderen Menschen. Zur Korrektivgerechtigkeit wiederum gehört die (mindestens teilweise) Rückkehr zum status quo

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ante. Wie kann aber der status quo ante des Opfers eines Mordes – in welchem geringeren Ausmaß auch immer – wiederhergestellt werden? In dieser Hinsicht kann Cesare Beccarias rhetorische Frage nicht widerlegt werden: „Rufen etwa die Schreie eines Unglücklichen die der Vergangenheit angehörenden Handlungen aus der nimmer zurückkehrenden Zeit zurück?“ (Dei Delitti e delle Pene § 12).44 Die Strafe hat vielmehr mit Verteilungsgerechtigkeit zu tun, weil sie jedem Menschen die Eingliederung bzw. die Bemühung um die Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft – unabhängig von seiner Leistung und seinen bisherigen Handlungen – schon aus dem einfachen Grund zusichert, dass jeder Mensch qua vernunftfähiges Wesen ein angeborenes, nicht zu verwirkendes Recht darauf hat. Der kategorische Rechtsimperativ der Eingliederung bzw. der Wiedereingliederung in die Rechtsgemeinschaft findet viertens wiederum eine noch tiefere Begründung in der kantischen Grundlage der Moral, nämlich in den empirischen Bedingungen der Ausübung der Autonomie bei einem begrenzten Vernunftwesen, das auch gegen seine Pflicht bzw. unvernünftig handeln kann. Einerseits soll der Mensch die Verantwortung für seine Handlungen tragen, weil er frei handelt. Andererseits dürfen die Folgen seiner bisherigen Handlungen nicht dazu führen, dass er in der Zukunft nicht mehr frei handeln kann. Diese beiden Dimensionen schränken einander nicht ein. Die Folgen der bisherigen Handlungen werden zwar von dem Gebot begrenzt, jedem Menschen als vernunftfähigem Wesen eine unveräußerliche Handlungsfreiheit zuzuerkennen. Diese unveräußerliche Handlungsfreiheit wiederum wird nicht durch die Folgen der bisherigen Handlungen eingeschränkt, sondern durch die gleichartige unveräußerliche Handlungsfreiheit der anderen Menschen. Nur aus diesem Grund ist der kantische Rechtsbegriff ein Gegenstand des kategorischen Imperativs, den wir also als „kategorischen Rechtsimperativ“ bezeichnen dürfen, um Höffes Ausdruck auszuleihen (vgl. Höffe 1990 Kap. 5). Also finden wir eine doppelte Hierarchisierung von moralischen Gütern, die miteinander kollidieren können. Zum einen erhält die Rechtsgemeinschaft in Kollisionsfällen den Vorrang vor der individu44 Im Original: «Le strida di un infelice richiamano forse dal tempo che non ritorna le azioni già consumate?»

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ellen Freiheit, weshalb die Freiheit des Verbrechers vorläufig eingeschränkt bzw. suspendiert werden darf. Zum anderen erhält wiederum in Kollisionsfällen die individuelle Freiheit den Vorrang vor den Konsequenzen, welche die Handlungen der Individuen mit sich ziehen sollten, weshalb das Verbrechen von der Gesellschaft – unter Berücksichtigung der ersten Priorität, d.h. unter Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit der Rechtsgemeinschaft – auf dem kürzestmöglichen Weg verziehen werden soll.45 Im Mittelpunkt der kantischen Idee der Autonomie, unter der wir immer handeln sollten und also auch die Rechtsordnung steht, steht das zukunftsorientierte Projekt der vollen Entwicklung des Menschen als vernunftfähiges Wesen, nicht die peinlich genaue Buchhaltung über die Vergehen einer Menschheit im Zeitalter der „Gängelwagen“ (Kant, Was ist Aufklärung? VIII 35; auch KrV B 174). Wie Camus in der Debatte über die Todesstrafe beobachtete, könnte man über die Retributivisten sagen, dass „bekanntlich heutzutage die Henker Humanisten sind“ (Camus 1979, 167).46 Nur haben wir nicht dasselbe Menschenbild wie sie.

Dieselbe Prioritätsregelung gilt übrigens ebenfalls für andere Bereiche der kantischen Rechtslehre, z.B. für das Eigentum (vgl. Merle 2001a; Merle 1997 Kap. 2.III). 46 Im Original: „[…] les bourreaux d’aujourd’hui, chacun le sait, sont humanistes“. 45

Personenregister Bei längeren Einträgen sind die Hauptstellen fett hervorgehoben. Aristoteles 87 Badinter, Robert 162 Beccaria, Cesare 2, 61, 77, 117, 146, 175 Bedau, Hugo 65 Benn, Stanley I. 93 Bentham, Jeremy 146 Bianchi, Herman 140 Bosanquet, Bernard 93 Braithwaite, John 4, 6, 12 Brandt, Reinhard 49, 90, 174 Brugger, Winfried 1 Byrd, Sharon 34, 36–41 Camus, Albert 176 Cicero, Marcus Tullius 87f. Cohen, Hermann 50 Cooper, David E. 113 Deith, John 70 Dühring, Eugen 132, 143–145 Ebbinghaus, Julius 16 Erdemovic´, Drazen 161 Feinberg, Joel 170 Feuerbach, Anselm 2, 126 Fichte, Johann Gottlieb 13f., 33, 51, 73, 74–92, 101f., 118, 128f., 134, 167f. Flechtheim, Ossip Kurt 93, 96–98 Fletcher, George P. 10, 12, 61 Forster, Wolfgang 92 Foucault, Michel 1, 138 Garapon, Antoine 154, 161 Grotius, Hugo 172 Hampton, Jean 63, 112 Hart, Herbert Lionel Adolphus 61, 64, 72

Hassemer, Winfried 4, 9f., 93 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 13f., 33, 47, 73, 92, 93–129, 131, 137, 146, 167f. Hill, Thomas E. 34, 46, 63, 70, 131 Hitler, Adolf 162f., 165 Hobbes, Thomas 2, 133 Höffe, Otfried 3, 5, 15, 24, 34, 41, 47, 93, 175 Holtman, Sarah 34 Honderich, Ted 93 Honneth, Axel 111 Hösle, Vittorio 33 Hufeland, Gottlieb 17 Jhering, Rudolf von 146 Joseph II. (Kaiser) 117 Kant, Immanuel 9, 13f., 15–73, 74–79, 88, 90, 92–95, 103–105, 114, 120, 129–131, 138, 146, 161f., 167, 171–176 Karl V. (Kaiser) 1 Karneades von Kyrene 37 Kaufmann, Matthias 75, 93 Kersting, Wolfgang 15f., 18, 29–31 Kervégan, Jean-François 93 Klein, Ernst Ferdinand 117–119, 126f. Klug, Ulrich 93 Koller, Peter 2 Köstlin, Christian Reinhold 93 Krause, Karl Christian Friedrich 92f. Kühl, Kristian 2, 9f., 20 Landau, Peter 93 Lazzari, Alessandro 75, 102 Lesch, Heiko Hartmut 95 Liszt, Franz von 146 Locke, John 25 Ludwig, Bernd 18f.

178

Personenregister

Mably, Gabriel Bonnet de 138 McTaggart, John Ellis 93 Mill, John Stuart 25, 28, 163, 165 Milosˇ evic´, Slobodan 166 Mitnick, Kevin 60 Mohr, Georg 93–95, 103f. Murphy, Jeffrie G. 41, 63 Neumann, Ulfrid 5f., 9 Nietzsche, Friedrich 14, 130, 131–151, 168 Ottmann, Henning

133

Paulus (Apostel) 70 Pettit, Philip 12 Pfaelzer, Marianna 60 Piontkowski, Andrei Andreevich 93 Platon 29, 63, 100, 146 Pogge, Thomas W. 25, 53, 56f. Primorac bzw. Primoratz, Igor 93, 96f., 100, 107 Pufendorf, Samuel von 2, 172 Pugsley, Robert A. 50 Quinton, Anthony M.

Rosen, Fred 2, 64 Roxin, Claus 6, 9, 11f., 93, 130 Scheid, Don E. 34, 41 Schild, Wolfgang 93 Schmalz, Theodor 17 Schopenhauer, Arthur 2, 93 Schroth, Ulrich 5f., 9 Schwarzschild, Steven S. 50 Seelmann, Kurt 93, 96, 101f., 125 Seneca, Lucius Annaeus (d.J.) 63 Shue, Henry 1 Stillman, Peter G. 93 Susemihl, Franz 63 Tunick, Mark 93 van den Haag, Ernest 1 Vattel, Emer(ic) de 172 Voltaire 151 Willaschek, Markus 25f. Wolf, Jean-Claude 46, 71, 93 Wolff, Christian 2, 29 Wood, Allen W. 26f., 93f.

93 Zaczyk, Rainer

Radbruch, Gustav Ricœur, Paul 4

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80

Sachregister

Abschreckung 2, 35–39, 59, 62, 75, 79f., 83, 107, 125, 157f., 161; vgl. Androhung, Exempel, Generalprävention Absolut(istisch)e Theorien 3, 9, 44, 77, 93, 106, 120; vgl. 82, 119f.; vgl. relative Theorien Androhung 2, 18f., 36–39, 60, 74–76, 79–83, 85, 90–92, 104, 107, 125f.; vgl. Abschreckung, Exempel, Generalprävention Antinomie der Strafzwecke 4f., 12 Ausgleich, Strafe als 4f., 8, 10f., 45f., 133–136, 139, 141, 145; vgl. Entschädigung Ausschluss aus der Rechtsgemeinschaft 47–51, 80–87, 89, 92, 136, 150, 167f.; vgl. Rechtsgemeinschaft, Verbannung Begnadigung s. Gnade Besserung(stheorie) 10, 12, 31, 46, 48, 58, 63, 70f., 75, 81f., 89f., 92f., 107f., 119f., 125f., 148, 168; vgl. Disziplin(ierung), Resozialisierung(stheorien), Spezialprävention Bewährung 60, 169 Bösartigkeit, Bosheit 2, 4–7, 33f., 46f., 64–70, 72, 80, 106, 164, 170f.; vgl. Gesinnung, Schwere der Tat Christliche Tradition vgl. Gott

6f., 67, 70, 174;

Dauer der Strafe 3f., 7, 12, 51, 58–60, 86f., 90, 169; vgl. Strafmaß Dijudikation vs. Exekution 16–18, 27f. Disziplin(ierung) 46, 52–61; vgl. Besserung(stheorie), Erziehung Effizienz 9f., 83, 85, 91, 137, 150; vgl. Besserung, Rückfall

Eigentum(sstrafen) 23, 32, 47, 51, 55, 102, 114–116, 119, 176 Endlichkeit vs. Unendlichkeit 77, 86f., 91f., 102, 104, 106, 110, 128 Entschädigung 8, 20f., 45, 63, 78, 121, 123, 143, 145, 165, 170, 172; vgl. Ausgleich Erlaubnisgesetz 49f., 90, 173f. Erziehung, Strafe als 23, 49, 57f.; vgl. Besserung, Disziplin(ierung) Ethik 9–13, 18, 20, 22, 66f., 167; vgl. Moralität, Sittlichkeit – deontologische 34, 62 Exempel 2, 76, 80–82, 85, 91, 123f.; vgl. Abschreckung, Androhung, Generalprävention Folter 1, 39, 83, 136, 139, 145, 147–150, 154, 163–166, 168f.; vgl. Grausamkeit Freiheit 11–13, 15f., 23, 26–31, 34f., 46, 50, 52, 54–58, 74, 76, 78f., 84, 86f., 89, 91f., 100, 112, 114, 120f., 127, 167, 174, 176; vgl. Handlungsfreiheit, Willensfreiheit, Willkür Freiheitsstrafe 1f., 4, 7, 38, 40, 45, 60, 71, 82, 89, 106, 118, 154, 159–161, 163f., 168f., 176 Friede 32, 133f., 143f., 171–173; vgl. Krieg; Rechtszustand; Sicherheit, öffentliche Generalprävention 2–3, 5, 12, 35f., 41, 59–63, 73–76, 80–85, 90–92, 94, 103f., 123–125, 129, 137, 140, 150, 157f., 161; vgl. Abschreckung, Androhung, Exempel Gerechtigkeit 2, 7f., 36, 42, 77, 94f., 100, 108, 110f., 120, 126f., 132f., 137, 141–148, 150, 162, 173–175; vgl. Rechtszustand

180 Gesinnung 18, 66f., 69f., 96, 143, 167; vgl. Bösartigkeit, Moralität Gewaltmonopol 137, 145, 147, 168; vgl. Rechtszustand, Zwangsrecht Gewissen 14, 70, 127, 130–132, 144f., 147f., 168; vgl. Reue Gleichberechtigung 13, 15f., 19, 26–29, 74, 167 Gleichheit der Strafe 46, 98, 101f., 105–107, 109, 112, 125; vgl. Identität Gnade 21f., 58, 71, 99, 141f., 148, 162, 173; vgl. Verzeihung Gott 67f., 70, 77 Grausamkeit 1, 4, 14, 39, 51, 130, 135f., 141, 145, 148–150, 168; vgl. Folter Grund der Strafe 3, 65, 70, 72, 84, 94, 140, 144, 172; vgl. Zweck der Strafe Gut, höchstes 45f., 65–70, 167 Handlungsfreiheit 13, 26–28, 53–56, 167, 171, 175; vgl. Freiheit Humanität s. Menschlichkeit Imperativ, kategorischer 13, 15f., 18–33, 42, 49f., 52, 54f., 57, 62, 65, 67, 76f., 104, 114, 167, 175; vgl. Rechtsimperativ, kategorischer Identität 6f., 52, 106, 109, 112, 115, 129; vgl. Gleichheit der Strafe Inselbeispiel 21, 33, 81, 89, 120 Interessen 2, 5, 8, 10, 24, 57, 86, 99, 141, 170 Internationaler Strafgerichtshof 152–155, 159, 166 ius talionis 41f., 46–48, 74, 76, 82f., 89f., 105–107, 112, 126, 174; vgl. Retributivismus, Wiedervergeltung Kompensation s. Ausgleich Konsequentialismus 94, 108, 124; vgl. Zweck der Strafe Krieg(sverbrechen) 134–137, 141, 143, 145, 149, 151f., 160, 171–174; vgl. Friede; Menschlichkeit, Verbrechen gegen die

Sachregister Legalität 24; vgl. Moralität Leib(esstrafen) 4, 92, 114f., 116, 119, 138 Macht(haber) 11, 43, 104f., 132–134, 137, 139–141, 144–150, 157–159, 173 Menschenrechte 17, 158, 160, 165f.; vgl. Menschlichkeit, Verbrechen gegen die Menschenwürde 3, 5f., 11, 13f., 33, 55, 131, 130f., 168; vgl. Menschheit Menschheit (moralische Persönlichkeit) 22f., 27f., 30, 52, 54f., 58f., 61, 76, 104, 168, 176; vgl. Menschenwürde Menschlichkeit 77, 139 – Verbrechen gegen die 14, 41, 130, 151–166, 168 Mischtheorien 11f., 34–41, 62, 74f., 90, 93–95, 103–105, 150 Mittel 23, 27, 36, 52, 54f., 76, 104, 140, 144–156; vgl. Zweck – Strafe als 3, 11, 21, 42, 59, 76f., 80, 127, 129, 146; vgl. Zweck der Strafe Mnemotechnik, Strafe als 135, 150f. Moralität 24, 35f., 47, 54, 67, 96, 99, 127f., 171; vgl. Ethik, Sittlichkeit Mord 38f., 45, 51, 78, 117f., 130, 152, 154f., 159, 161–164, 173, 175 Natur (des Menschen usw.) 30–32, 46, 54, 56, 58, 68 Naturrecht 30, 87, 122, 152, 156f., 171 Naturzustand 31, 43f., 47, 49f., 88, 173f.; vgl. Rechtszustand Negation 97, 102, 105–107, 109–112, 168 Notrecht 37–39, 43, 79 Notwehr 78, 122, 171 Noumenaler Bereich 54, 66–68, 70–72 Nürnberger Prozesse 152, 159, 161 Nützlichkeit 85–88, 92; vgl. Effizienz, Utilitarismus

Sachregister Opfer 8, 11, 45, 47, 63, 71, 78f., 102, 109–112, 115, 120–122, 129, 131, 136, 138f., 141, 143–145, 148, 151, 154, 163, 165f., 169f., 175; vgl. Ausgleich, Entschädigung Persönlichkeit 45, 51–56, 76, 102, 109–111, 115f. Pflicht 16–18, 20, 22–28, 30f., 44, 54, 56, 64f., 67–69, 71, 110, 113, 131, 175; vgl. Rechtspflichten, Tugendpflichten, Zwang Phänomenaler Bereich 54, 68, 70f. Prävention(stheorien) s. Generalprävention, Spezialprävention Proportionalität s. Verhältnismäßigkeit Psychologie 52, 83, 106–108, 126f., 139, 168f. Rache 47, 67f., 99, 104, 110–112, 120, 122, 132, 143, 145, 148; vgl. Ressentiment, Vergeltung Rechtliche vs. außerrechtliche Strafe 70–73, 82–85, 88, 90f., 99, 168 Rechtsbegriff(e) 13, 15–34, 48, 50, 55, 58f., 62, 64, 71–74, 76, 84, 86–88, 91, 93, 99, 105, 107, 129f., 167, 175 Rechtsgemeinschaft 7f., 10f., 17, 45, 47–52, 56f., 59, 71, 81–92, 111f., 120, 124f., 134, 140, 149f., 167–169, 175f.; vgl. Ausschluss Rechtsimperativ, kategorischer 15, 49, 174f.; vgl. Imperativ, kategorischer Rechtslehre 15, 18, 20, 25, 56f., 176; vgl. Tugendlehre Rechtsordnung 13, 20f., 24, 27–29, 31f., 36, 57, 63, 88, 97, 113, 140, 144, 150f., 161f., 164–166, 174, 176 Rechtspflichten 18, 22f.; vgl. Pflicht, Tugendpflichten Rechtssicherheit 3; vgl. Sicherheit, öffentliche Rechtszustand 30f., 46, 49, 66, 58, 88, 90, 114, 171, 173f.; vgl. Naturzustand, Rechtsgemeinschaft

181 Relative Theorien 3; vgl. 82, absolut(istisch)e Theorien Resozialisierung(stheorien) 3–6, 9f., 12–14, 50, 52–62, 64, 71–73, 75, 82, 85, 89–91, 102, 108, 130, 139, 148f., 163, 167–169, 171, 174f.; vgl. Besserung Ressentiment, Strafe als 132, 136, 143, 145, 148f.; vgl. Rache Retributivismus 2–14, 21, 34–37, 39, 41–47, 61–65, 67, 70–76, 78, 82, 92–94, 96f., 103–105, 108f., 111, 118, 125, 127, 129–131, 150, 161–165, 167–174, 176; vgl. ius talionis, Vergeltung, Wiedervergeltung Reue 4, 14, 46, 92, 130f., 143–145, 147, 168; vgl. Gewissen Rückfall 9f., 44, 49, 82, 162; vgl. Effizienz Schadenersatz s. Entschädigung Schmerz, Strafe als 38, 46, 60, 64, 69, 83, 150; vgl. Übel, Strafe als Schuld 5, 7f., 11, 35, 44f., 64–69, 96, 128, 131f., 134f., 138f., 141–144, 147f., 155f., 162f., 165, 170f. Schuldgefühl s. Gewissen Schwere der Strafe s. Strafmaß Schwere der Tat 2f., 7, 12, 14, 40f., 65, 124, 130, 137–139, 152f., 155, 159–162, 164–166, 168–170; vgl. Bösartigkeit, Verhältnismäßigkeit Selbstzerstörung des Zwanges 113–116, 118, 129 Sicherheit, öffentliche 3f., 7f., 58, 61, 71, 79, 81f., 90–92, 124f., 137, 139f., 143f., 167–170, 176; vgl. Friede, Rechtszustand Sittengesetz 16–18, 25, 86 Sittlichkeit 45, 66, 68, 88, 99, 115, 120; vgl. Ethik, Moralität Sklavenarbeit, Sklaverei 28, 47, 51, 56, 58, 61; vgl. Zwangsarbeit Sozialarbeit 40, 60; vgl. Zwangsarbeit Spezialprävention 3, 5, 8, 10, 12, 14, 48, 59–62, 64, 71–73, 75f., 81f., 85,

182 89, 91, 93, 108, 123–126, 129f., 148, 158, 160–162, 165, 167; vgl. Ausschluss, Generalprävention Staatsordnung s. Rechtsordnung Status des Verbrechers 3, 6, 11, 28, 84, 89, 116, 167 Strafmaß 1, 4, 7, 9–12, 36f., 39f., 42, 50, 74, 82–85, 89–91, 95, 103f., 111, 139f., 154–156, 166, 168–170; vgl. Dauer der Strafe, Verhältnismäßigkeit Strafzweck s. Zweck der Strafe Talionsrecht s. ius talionis Todesstrafe 1, 4, 10, 21, 28, 37–40, 43, 45–47, 50f., 59, 61, 81–83, 92, 117f., 139, 149f., 159–162, 164f., 168, 173, 176 Tugend(lehre, -pflichten) 15, 18, 22–25, 34, 65–68, 77, 167; vgl. Moralität, Pflicht, Rechtslehre, Rechtspflichten Übel, Strafe als 8, 37f., 68–70, 99, 107, 117, 119f., 126, 129, 138f., 143, 168; vgl. Schmerz, Strafe als Übel, Verbrechen als 42f., 104, 113, 121, 128f., 156, 168, 174 Unendlichkeit s. Endlichkeit Unschädlichmachung (incapacitation) 70f., 81, 89, 91, 118, 148, 157, 167 Unschuldiger, Bestrafung 2, 38 Utilitarismus 28, 34, 42f., 48f., 59, 86f.; vgl. Nützlichkeit Verantwortung 2, 5–7, 10, 13, 89, 170, 175 Verbannung, Deportation 43, 51, 134f., 159f., 173 Vergangenheit, Dimension der 5f., 121f., 166, 172f., 175 Vergeltung(stheorien) 2–5, 9, 11f., 35–44, 47f., 59, 72, 94f., 103, 143f., 174; vgl. ius talionis, Rache, Retributivismus, Wiedervergeltung Verhältnismäßigkeit 4, 33–35, 40, 46, 61, 63–67, 72, 97, 168f.

Sachregister Verjährung 155f., 159f., 163, 165f., 168 Versöhnung 4, 71, 98, 111f., 120, 138f.; vgl. Verzeihung Versprechen 20, 23, 32, 131, 133f. Versuches, Bestrafung des 78f., 82, 170f. Vertrag(stheorien) 20f., 46, 80f., 85, 88f., 133f. Verzeihung 68, 71, 167, 176; vgl. Gnade, Versöhnung Völkerrecht 151–153, 157–159, 165, 172 Weltbürger(tum) 55–57, 92 Widerstandsrecht 157 Wiedereingliederung s. Resozialisierung Wiedervergeltung(stheorie) 5f., 8f., 11, 13, 33f., 41–44, 46–48, 51, 62, 66, 73, 77, 83, 90, 97f., 100, 102, 104 –107, 109–112, 120, 125, 127–131, 151, 167f., 170, 172; vgl. ius talionis, Retributivismus, Vergeltung(stheorien) Wille 13, 46, 50, 53, 68, 75, 79f., 91, 99f., 103, 106, 110–112, 114–116, 118, 120–124, 126, 133, 139f., 143f., 147f. Willensfreiheit 26f., 53–56, 106, 114f., 120f., 175f.; vgl. Freiheit, Wille, Willkür Willkür 13, 26f., 35, 52f., 56, 60, 84, 91f., 174; vgl. Freiheit Zeit 21, 44, 59, 122, 156f., 169; vgl. Dauer, Strafmaß, Vergangenheit, Zukunft Zukunft, Dimension der 4f., 10, 35, 39, 41, 45, 70f., 81, 121f., 140, 172–176 Zwang 13, 16–20, 22–24, 28, 30–32, 58f., 61f., 78f., 92, 97–99, 102f., 109, 112–119, 121–123, 125–127, 129, 133, 141, 167; vgl. Pflicht, Zwangsrecht

Sachregister Zwangsarbeit 47, 51, 56, 82; vgl. Sklaverei, Sozialarbeit Zwangsrecht 30f., 36, 74f., 78–82, 91, 122; vgl. Gewaltmonopol, Zwang Zweck 22f., 27f., 30, 36, 46, 52, 54–56, 68, 76, 79, 104; vgl. Mittel

183 – der Strafe 2f., 4f., 10, 12, 22, 36, 39, 46, 59, 63, 65, 77, 79–82, 84, 94, 102, 105, 112, 119–121, 123f., 126f., 129–131, 144–147, 157f., 160, 162, 164, 169; vgl. Grund der Strafe