Die Bilder des Comics: Funktionsweisen aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive 9783839442937

In order to be able to read comics the right way, you have to look at them the right way. A systematic approach to the m

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Die Bilder des Comics: Funktionsweisen aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive
 9783839442937

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Der blinde Fleck der Sprechblase
2. Funktionen des graphischen Stils
3. Der Integrationseffekt
4. Vom Text zur Narration
5. Vom Bild zur Narration
6. Noch einmal: Die Geschichte des Comics
7. New York um 1900
8. Das Comicbildverständnis
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis

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Alexander Press Die Bilder des Comics

Image  | Band 132

Alexander Press (M.A.), geb. 1981, lehrt Kunstwissenschaften an der Universität Bremen mit den Forschungsschwerpunkten zeitgenössische Kunst, Bildwissenschaft und ästhetische Theorie.

Alexander Press

Die Bilder des Comics Funktionsweisen aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive

Diese Arbeit wurde als Dissertation an der Universität Bremen vorgelegt. Das Kolloquium fand am 13.12.2016 in Bremen statt. Gutachter waren Prof. Dr. Winfried Pauleit (Universität Bremen) und Prof. Dr. Bernd Dolle-Weinkauff (Goethe-Universität Frankfurt).

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4293-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4293-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7 1 Der blinde Fleck der Sprechblase | 13 1.1 Vom Schriftband zum Spruchband zur Sprechblase? Kurze historische Einordnung | 13 1.2 Rückschlüsse von der Anwesenheit der Sprechblase auf ein ,phänomenologisches Bildverständnis‘ nach Balzer und Wiesing | 17 1.3 Gibt es ein comicspezifisches Bildverständnis? | 20 Funktionen des graphischen Stils | 25 2.1 Zwei Beispiele für Funktionsweisen des graphischen Stils aus der Kunst- und Bildgeschichte | 27 2.2 Funktionsweisen des graphischen Stils im Comic | 32 2

3 Der Integrationseffekt | 55 3.1 Ein Beispiel für den Integrationseffekt | 56 3.2 Im Wechselbalg der Gefüge: Bildtypen, Intertextualität, Intermedialität, Multimodalität, Integration | 60 3.3 Ein zweites Beispiel für den Integrationseffekt | 69 3.4 Zur Definition des Integrationseffektes | 76 4 Vom Text zur Narration | 79 4.1 Gérard Genettes Unterscheidung und Roman Ingardens vorgetäuschter Ernst | 82 4.2 Wolfgang Isers Begriff der Leerstelle und Brigitte Raths Konzept des narrativen Schemas | 88 4.3 Das Konzept der kognitiven Narratologie | 93 5 Vom Bild zur Narration | 97 5.1 Die Symbole Rudolf Wittkowers und die Probleme Erwin Panofskys | 106 5.2 Wichtiges Wohnen im falschen: Das bedeutsame Interieur des Asterios Polyp | 113

5.3 Der Begriff der Leerstelle bei Wolfgang Kemp | 120 5.4 Bilder sehen: Der homo pictor bei Hans Jonas | 122 6

Noch einmal: Die Geschichte des Comics | 131

6.1 Vom sicheren Stand griechischer Vasen | 136 6.2 Die Vasenbilder und ihre Bildpraxis | 142 7 New York um 1900 | 155 7.1 Ideengeschichte | 156 7.2 Die mediale Sonderstellung des 19. Jahrhunderts | 159 7.2.1 Comics für die Massen | 162 7.2.2 Migration nach Amerika um 1900 | 164 7.2.3 Die Geburt der Massenpresse | 165 7.2.4 Vom Flugblatt zu den Satirezeitschriften | 169 7.2.5 Das Konzept des Grotesken | 173 8

Das Comicbildverständnis | 177

Literaturverzeichnis | 179 Abbildungsverzeichnis | 195

Einleitung

I Als Frank Lloyd Wright seine ersten Häuser baute, Louis und Auguste Lumières mit ihren neuen Filmprojektoren und Aufzeichnungsgeräten weltweit Erfolge feierten, Thomas Mann Die Buddenbrooks schrieb, Friedrich Nietzsche im Sterben lag und Kasimir Malewitsch Das schwarze Quadrat malte, befand sich der Comic als Phänomen der Populärkultur in seinen Anfängen. Es gab sie hauptsächlich als kleine Streifen, unten auf der letzten Seite der amerikanischen Tageszeitungen, gedruckt auf billigem Papier. Anders als in Die Buddenbrooks, wurden darin kurze witzige Episoden erzählt, die weit davon entfernt waren, so tiefsinnig zu sein wie Malewitschs Quadrat. Gelesen und betrachtet wurden sie von den Massen der Zeitungsleser. Jeden Tag ein kleiner Comic, unten auf der letzten Seite, millionenfach. In vielen Zeitungen war am Sonntag diese ganze Seite den Comics vorbehalten, dann sogar in Farbe. Rückblickend lässt sich der Comic als ein Konglomerat aus Satirezeitschriften, Illustration und Karikatur, Zeitgeist und Verkaufshilfe von Zeitungen verorten, denen im beginnenden 20. Jahrhundert eine Vielzahl neuer Techniken des (Farb-)Druckes zur Verfügung standen. Angesichts der streng ökonomisch strukturierten Produktionsbedingungen war der Comic noch weit davon entfernt, als Kunst wahrgenommen zu werden. Jedoch wurden diese einfachen, meist komischen Geschichten auf eine bemerkenswerte Art und Weise erzählt. Es ergab sich ein Wandel in der Publikationsform: die kleinen, einfachen Geschichten aus den Zeitungen wurden gesammelt und in Heftform veröffentlicht, darauf folgten Hefte mit eigens produzierten Geschichten.

8 | Die Bilder des Comics

Doch die Anerkennung als eigenständiges Medium war damit noch nicht gegeben. Dem standen u.a. genau die Faktoren entgegen, denen der Comic seine eigentliche Form verdankt: Die Kombination von Wort und Schrift auf vielfältigste Weise und das Verwenden von Bilderreihen. Beides wiederum findet in den zeitgenössischen Ausprägungen eine bemerkenswerte narrative Virtuosität.

II Gleichzeitig fällt es schwer das Wesentliche des Comics zu fassen, weil es sich, streng analytisch betrachtet, an den Hauptbestandteilen anderer Medien und Künste bedient. Die einzelnen Wissenschaften von Literatur, Bild und Narration müssen, dem Untersuchungsgegenstand entsprechend, ihre Methoden und Begriffe kombinieren, um zu umfassenden Ergebnissen zu gelangen. Die Komplexität der augenscheinlichen Dialektik von Wort und Bild macht sich im medientheoretischen Überbau bemerkbar, es finden sich nicht nur Beiträge von Literatur- und Bildwissenschaftlern, auch Medienwissenschaftler, Philologen, Historiker, Phänomenologen, Filmwissenschaftler, Narratologen und Kommunikationswissenschaftler erkennen im Comic ,ihren‘ Untersuchungsgegenstand. Im rezeptionsästhetischen Modus, also beim ,Lesen‘ von Comics, haben wir es mit einer wirkmächtigen Synthese aus Wörtern, Bildern und daraus resultierenden Narrationselementen zu tun. Den Betrachter_innen eines modernen Comics wird die Fähigkeit und das Verständnis von antizipatorischen Konzepten und Begriffen unterstellt – Narration, Empathie, Repräsentation, Induktion, Stilbewußtsein – ,deren Anwendung zur Verarbeitung des Inhaltes notwendig erscheint. Die folgende Untersuchung widmet sich diesen Konzepten und Begriffen mit dem Ziel, die kunst- und bildwissenschaftlichen Dimensionen von Comics für den Diskurs zu erschließen. Dazu erfolgt im ersten Teil eine Untersuchung eben dieser bemerkenswerten Art und Weise. Warum stört es uns nicht, dass die Comicfiguren die Sprechblase nicht sehen? Was passiert, wenn der individuelle Stil der Zeichner_innen Aufgaben der Narration übernimmt? Können nur fachkundige Mediziner_innen einen Comic verstehen, in dem ein Röntgenbild vorkommt?

Einleitung | 9

Der zweite Teil widmet sich einem historischen Überblick zur Herkunft des Comics, weniger um einen weiteren Ausblick auf die historischen Vorläufer zu präsentieren, sondern um die historischen Bedingungen zu skizzieren, unter denen die Elemente des Comics, das besondere Bildverständnis und seine Erzählweise entstanden sind.

III Überblickt man das immer noch recht junge Feld der Comicforschung, so erkennt man vier Bereiche. Neben den formal-inhaltlichen Analysen finden sich Untersuchungen zur Produktionsweise, zur Rezeptionsforschung und daraus folgend Beobachtungen im kulturellen Kontext des Comics. Eine Schlüsselrolle in allen Bereichen der Comicforschung spielen die Elemente des Comics, ihr Zusammenwirken und die Frage danach, welche Funktion sie bei der Konstruktion einer Erzählung haben. Streng analytisch betrachtet, finden sich in einem Comic die Elemente Bild und Schrift. Dass sich Bild-Schriftkombinationen allerdings auch in zahllosen anderen Bereichen finden, die eindeutig kein Comic sind, verweist auf ein weiteres Element des Comics, das sich in einem schlichten Überblick nicht erschließt. Der Zusammenhang der Bilder erscheint für den Comic notwendig. Scott McCloud hat in seiner populären Untersuchung Comics richtig lesen1 den Begriff der Induktion für diesen, vom Betrachter mittels der Bildinformationen konstruierten, Zusammenhang eingeführt. Wenn mit Bildern, Schrift und Induktion Geschichten erzählt werden, entsteht aus diesen drei Elementen ein Gefüge, dem kein geringeres Arsenal an Möglichkeiten der Bedeutungsschöpfung zur Verfügung steht als eben der Wirkmächtigkeit der Bilder, der Leistungsfähigkeit der Schrift und der Phantasie der Betrachter_innen. In der Comicpraxis haben sich Konventionen des Zusammenhanges von Bild und Schrift etabliert, die im nächsten Abschnitt kurz vorgestellt werden.

1

McCloud, 1997

10 | Die Bilder des Comics

IV Wie der Medienwissenschaftler Stephan Packard treffend formuliert, ist die Frage nach der Narrativität des Comics eine Frage danach, was synthetisiert wird und wie das geschieht. Wie Packard daraufhin in einer Beispielanalyse des Comickünstlers Chris Ware veranschaulicht, besteht das kognitive Verfahren, einen Comic zu rezipieren, nicht in der simplen Addition der Comicbilder zu einer fortlaufenden Handlung.2 Um die Frage danach, was synthetisiert wird, beizubehalten, lässt sich aus der formalen Perspektive fragen, wie der narrative Inhalt in die Form des Comics gelangt. Hierzu lohnt es sich zu differenzieren, mit welchen formalen Möglichkeiten der Comicproduzent mittels des Comics die Geschichte vermittelt bzw. wie hier Bedeutung entsteht. Zu den Elementen des Comics und ihrem Zusammenwirken liegen bereits zahlreiche Untersuchungen vor3. Im Folgenden sollen die Aspekte betont werden, die für die vorliegende Arbeit wesentlich sind. 1.

Bilder

Die Komposition der Bilder einer Comicseite erfolgt in aller Regel unter narrativen Aspekten. Eine These, die in dieser Arbeit aufgestellt wird, widerspricht einer Vorstellung, bei der es sich bei Comicbildern um eine Verkürzung, Vereinfachung oder Ironisierung eines Sachverhaltes handelt, nur weil die meist gezeichneten Bilder, in ihrer Zeichenhaftigkeit, nicht dem Detailreichtum einer Fotografie entsprechen. Die These lautet: Comicbilder sind kein spezifischer Bildtypus. Innerhalb einer Comicnarration können Bildtypen verschiedenster Herkunft verwendet werden, um der Erzählung Bedeutungselemente beizusteuern. 2.

Induktion

Anders als bei den meisten Bildersammlungen, ist der Zusammenhang zwischen Bildern bei einem Comic in aller Regel narrativer Natur. So genannte

2

Brunken. S. 21 ff.

3

Eine kleine Auswahl in der empfohlenen Lesereihenfolge: Eisner, McCloud 1997, Grünewald 2000, Groensteen 2007, Brunken 2013

Einleitung | 11

Instruktionscomics können als Sonderform der Narration gelten.4 Induktion, als Beitrag des Betrachters, wird meistens dann benötigt, wenn zwei benachbarte Bilder unter der Prämisse betrachtet werden, dass es sich trotz des Bildplurals um eine Geschichte handelt. Bei der Mehrzahl der Bildübergänge handelt es sich um Raum- und Zeitsprünge, die mal mehr, mal weniger ausgeprägt sind. Diese direkte Induktion deckt allerdings nicht den gesamten Beitrag des Betrachters ab. Findet sich z.B. eine Art Leitmotiv in einem Comic, so taucht dieses selten in direkt benachbarten Bildern auf, ebenso verhält es sich beispielsweise mit der Veränderung einer Persönlichkeit eines Protagonisten. Bei solchen Erzählstrukturen beziehen sich Bilder aufeinander, die durch weitere Bilder und Seiten voneinander getrennt sind. Ein Beispiel dafür findet sich in David Mazzucchellis ,Asterios Polyp‘. Im Laufe der Geschichte begegnen uns verschiedene Großaufnahmen des Wohnzimmers des Protagonisten. Ob streng minimalistisch eingerichtet oder kombiniert mit japanischen Antiquitäten, chaotisch und unaufgeräumt oder im Begriff abzubrennen: der Zustand des Wohnzimmers ermöglicht Rückschlüsse auf das Seelenleben seines Bewohners. Dementsprechend werden die Darstellungen des Wohnzimmers an der dramaturgisch notwendigen Stelle präsentiert. Die immer anderen Darstellungen des Wohnzimmers erhalten nur dann eine Bedeutungsebene als Spiegelbild des Gefühlslebens ihres Bewohners, wenn sie sich aufeinander beziehen können. Das ist nur möglich, wenn die Induktion des Betrachters auch diese Art der Bilderfolge erfassen kann. (Vgl. Abschnitt 5.2) 3.

Wörter

In aller Regel bezieht der Text in einem Comic seine Bedeutung für die Geschichte durch sein Verhältnis zur diegetischen Welt. Erstens kann Text als diegetischer Teil der erzählten Welt verstanden werden. Wenn auf einer abgebildeten Konservendose das Wort ,Katzenfutter‘ zu lesen ist, ist dieser Text als Teil der Erzählwelt anzusehen. Zweitens kann ein Text als Geräusch gemeint sein, dann ist der Text insofern Teil der Erzählwelt, als die Protagonisten Schall/Geräusch wahrnehmen, während die Leser eine Lautmalerei betrachten. Drittens verhält es sich

4

Vgl.: Hangartner 2013

12 | Die Bilder des Comics

ähnlich, aber nicht identisch, mit den Sprechblasen als Verweis auf Sprache. Jedoch erfolgt nicht über jeden dieser „Kanäle“ eine eigenständige Kommunikation. Erst das Zusammenspiel, die Synthese dieser drei Elemente ergibt die Narration als solche. 5 „Handlungsablauf und Sinn ergeben sich infolge eines dialektischen Vorgangs des Zusammenspiels zwischen Text und Bild, Wort und Symbol.“6 Dieser dialektische Vorgang der Bedeutungskonstruktion kann auf verschiedenste Art und Weise im Comic stattfinden. Zur genaueren Bestimmung dieses Vorgangs wird in den Abschnitten 4.2 und 4.3 das Konzept des ,narrativen Verstehens‘7 für die Comicforschung spezifiziert.

5

Natürlich ist es auch möglich, ganz und gar wortlose Comics herzustellen. In Anbetracht der Tatsache, das ein Großteil der (aktuellen) Comicpublikationen allerdings nicht auf diese verzichtet, werden sie in diese Forschungsarbeit mit einbezogen. Ob wortlose Comics eine Reduktion auf „das Wesentliche“ des Comics darstellen oder eine besondere Form des Comics sind, stellt die Ausgangshypothese für eine lohnenswerte Debatte dar.

6

Groensteen, Thierry: Zwischen Literatur und Kunst: Erzählen im Comic, in: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 35, Sp. 2

7

Vgl. Rath

1

Der blinde Fleck der Sprechblase

Die Sprechblase ist augenscheinlich ein typisches Element des Comics. Bei der ersten Einordnung einer mit Bildern bedruckten Seite ist die Sprechblase ein sicheres Indiz dafür, dass wir es weder mit einem Katalog, noch mit einem Bildlexikon oder einer Überblicksbildersammlung zu tun haben. Eine schlicht gehaltene Definition, wie etwa: ,Die Sprechblase ordnet in grafischer Form, Schrift oder Symbole, die als (sprachliche, oder auch nur hörbare) Äußerung eines Protagonisten gemeint sind, diesem zu‘, ist auf der inhaltlichen Ebene durchaus hinreichend, verbirgt allerdings den bemerkenswerten, rezeptionsästhetischen Status einer Sprechblase. Die Anwesenheit einer Sprechblase in einem Bild offenbart sich als Indiz für ein bemerkenswertes Bildverständnis. Dieses Bildverständnis ist allerdings nicht abhängig von der Anwesenheit einer Sprechblase. Die Möglichkeitsbedingungen dieses Bildverständnisses sollen in dieser Arbeit dargelegt werden. Im folgenden Abschnitt wird, ausgehend von der Anwesenheit der Sprechblase, dieses Bildverständnis skizziert.

1.1 VOM SCHRIFTBAND ZUM SPRUCHBAND ZUR SPRECHBLASE? KURZE HISTORISCHE EINORDNUNG Der Anlass für die Untersuchung von Schrift- und Spruchbändern im Vergleich zu Sprechblasen ist die umfassendere Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Text und Bild bei der szenischen Entwicklung eines Themas. Obwohl Bilder auch schon vorher zum Träger komplexer Gedanken gemacht wurden, setzt im 12. Jh. eine Tendenz ein, sie mit Hilfe von

14 | Die Bilder des Comics

Schrift- und Spruchbändern mit Bedeutung aufzuladen. Nicht nur allegorische, auch narrative Bilder sollten zur Reflexion anregen können. In dieser Hinsicht können aus den vorliegenden Untersuchungen zu Schrift- und Spruchbändern Erkenntnisse über die Funktionen und Eigenschaften von Sprechblasen gewonnen werden. Die Kunsthistorikerin Susanne Wittekind erläutert in ihrem Aufsatz Vom Schriftband zum Spruchband1 den Funktionswandel von mittelalterlichen Spruchbändern in der Illustration biblischer Stoffe. Wittekind merkt an, dass der früheren kunsthistorischen Forschung die „Spruchbänder ..., gemessen am Ideal des autonomen Gemäldes und seiner Entfaltung bildimmanenter Ausdrucksmittel, als bildfremde Hilfsmittel [erscheinen], die den künstlerischen Wert der Darstellung mindern. In der kunsthistorischen Mittelalterforschung überging man sie daher meist schweigend, obgleich sie ein zentrales Element mittelalterlicher Bilder sind. Spruch- oder besser Schriftbänder kommen seit der Spätantike vor, zunächst in der Monumentalkunst, seit dem Hochmittelalter auch in der Buchmalerei. Sie treten in Verbindung mit Evangelistenbildern, Aposteloder Prophetendarstellungen auf und stehen entweder stellvertretend für das literarische Werk des dargestellten Autors, der oft beim Schreiben gezeigt wird, oder für prophetische Rede. Die Schriftbänder werden hier als Attribut verwendet.“2

Was wiederum im Gegensatz zu einer Sprechblase steht. Eine attributive Verwendung kann Sprechblasen insofern nicht zugesprochen werden, als ihre Funktion nicht darin besteht, ihren ,Träger‘ zu identifizieren. Im Gegenteil, die Identität des ,sprechenden‘ Protagonisten verleiht dem durch die Sprechblase Gesagten erst die Bedeutung innerhalb der Geschichte. Zur attributiven Verwendung von Spruchbändern genügt häufig schon die Darstellung einer unbeschriebenen Rolle als Merkmal oder Hinweis auf ein Evangelium o.ä. Die unbeschriebenen Rollen, wie auch diejenigen, die die ersten Sätze oder Wörter des intendierten Textes darstellen, sind somit Stellvertreter für den ganzen Text. Ein seltenes, aber mit der Sprechblase vergleichbares Element bieten allerdings die Schriftbänder mit der Möglichkeit, einzelne Sätze und Passa-

1

Wittekind Susanne, Vom Schriftband zum Spruchband – Zum Funktionswandel von Spruchbändern in Illustrationen biblischer Stoffe, in: Keller, S. 343 – 367

2

Ebd. S. 343

Der blinde Fleck der Sprechblase | 15

gen von Werken im Bild darzustellen, sie quasi zu zitieren. „Werden sie mit anderen Propheten- oder Evangeliumsworten zusammengestellt, kann eine komplexe theologische Aussage verbildlicht werden. Die dargestellten Personen sind dann einerseits Autoren, andererseits Träger einer Idee. Es gibt zwischen den Personen keinen Handlungszusammenhang, sondern einen gedanklichen.“3 Im Unterschied zur Sprechblase handelt es sich hier immer noch um Schriftbänder, also um wirklich dargestellte Schrift, nicht um ein Medium zur bildlichen Darstellung gesprochener Rede. Verschiedene Kunsthistoriker betonen weitere Aspekte, die bei der analytischen Betrachtung von Schrift- und Spruchbändern untersucht werden können. Wilhelm Messerer analysiert die gestalterische Darstellung von Spruchbändern.4 Dabei betont er deren Funktion als „Fortsetzung von Körpergebärden, als Mittel zur Personen-hervorhebung“.5 Es ist natürlich durchaus vorstellbar, Sprechblasen innerhalb der Bildkomposition auch in diesem Sinne einzusetzen, jedoch ist das nicht ihre Hauptfunktion. Karl Clausberg hebt hervor, dass die Art und Weise, mit der eine Figur mit einem Spruchband verbunden ist, einen konkreten Hinweis darauf gibt, welche Emotionen die Figur mit dem Inhalt des Spruchbandes verbindet.6 Auch bei der Sprechblasengestaltung hat der Zeichner die Möglichkeit anzudeuten, in welchem Tonfall das Gesagte betont wird. Darüber hinaus gibt es auch eine Funktion von „Spruchbändern im szenischen Kontext, in dem sie zu Trägern gesprochener Rede werden“7. Jörg Hucklenbroich verweist auf den „schriftlichen Gehalt der Spruchbänder, die er auch als Informationsträger und als Mittel zur Darstellung direkter Rede auffasst“8, was einer Sprechblasenfunktion ähnelt.

3

Wittekind Susanne, Vom Schriftband zum Spruchband – Zum Funktionswandel

4

Messerer, Wilhelm: Illustrationen von Wernhers ,Drei Liedern von der Magd‘,

5

Keller, S. 344

6

Clausberg, Karl: Spruchbandaussagen zum Stilcharakter. Malende und gemalte

von Spruchbändern in Illustrationen biblischer Stoffe, in: Keller, S. 343 f. in: von Cormeau, S. 447-472

Gebärden, direkte und indirekte Rede in den Bildern der Veldeke-Äneide sowie Wernhers Marienliedern, in: Städel-Jahrbuch, S. 81-110 7

Keller, S. 344

8

Ebd.

16 | Die Bilder des Comics

Wie Balzer und Wiesing anmerken, besteht der qualitative Unterschied in der kanonisierten Form der Sprechblase. Die Schrift in den Spruchbändern war nicht an eine Zeilenhöhe oder der strengen horizontalen Ausrichtung der Zeilen gebunden, so dass ein Rezipient, um den Text lesen zu können, die Abbildung mitunter auf den Kopf drehen musste. Auch der Umstand, dass Schriftbänder häufig auch materiell als ebensolche gezeichnet wurden, hatte zur Folge, dass sie dadurch den Status eines diegetischen Objektes bekamen.9 Von den ersten Schriftbändern in der Spätantike über die spätmittelalterlichen Spruchbänder in illustrierten Bibeln und den Einblattholzdrucken der Renaissance, bis hin zu den neuzeitlichen Satirezeitschriften, lassen sich durchgängig Bild-Text-Kombinationen in der Manier eines Spruchbandes nachweisen. Die Kenntnis dieser europaweit verbreiteten Satirezeitschriften bzw. das den Karikaturen zugrundeliegende Bildverständnis kann mit großer Wahrscheinlichkeit den Millionen Auswanderern unterstellt werden, die in den Jahren um 1900 nach Nordamerika, hier insbesondere New York, emigrierten. Drei Tendenzen sind es, die sich bei der Integration von Spruchbändern in szenische Kontexte besonders abzeichnen. Das Einfügen von Spruchbändern legt ein Verständnis von Ereignissen als Handlungsfolgen nahe. Um einzelne Handlungsschritte zusammenzufügen, wählte man die Form des Spruchbandes. Des Weiteren „sind die Spruchbänder in ihrem ambivalenten, zwischen mündlicher Rede und schriftlicher Fixierung stehenden Charakter Indikatoren des Wandels einer oralen in eine schriftlich geprägte Kultur.“10 Entgegen der früheren Verwendung des Schriftbandes kommt dem Spruchband nun keine verweisende Funktion mehr zu, sondern das Spruchband ist ein Element der Handlung selbst. Während das Schriftband also als Verweis auf einen außerbildlichen Text dient, ist das Spruchband zu einem gewissen Grad Teil der diegetischen Bilderwelt. Der Vergleich der Eigenschaften von Schrift-/Spruchbändern und Sprechblasen kann fälschlicherweise so etwas wie eine zielstrebige Entwicklung zur Sprechblase nahelegen, der eine Jahrhunderte überdauernde Idee der grafischen Darstellung von Wort und Ton zugrunde liegt. Ohne produktionsästhetische Kategorien wie Tradition oder Einfluss marginalisieren zu wollen, ist dieses Konzept einer ,Spruchblasenevolution‘ auch dadurch nicht tragbar, dass die

9

Vgl.: Balzer, S. 35 – 62

10 Keller, S. 345

Der blinde Fleck der Sprechblase | 17

Vorstellungen davon, was ein Bild ist und was es zu leisten habe, einem steten Wandel unterliegen. Obwohl das Spruchband also einige formale Merkmale mit der Sprechblase teilt, soll im nächsten Abschnitt dargelegt werden, warum die Sprechblase wesentliche Eigenschaften besitzt die ein Spruchband nicht hat.

1.2 RÜCKSCHLÜSSE VON DER ANWESENHEIT DER SPRECHBLASE AUF EIN ,PHÄNOMENOLOGISCHES BILDVERSTÄNDNIS‘ NACH BALZER UND WIESING Die Sprechblase ist eines der hervorstechendsten Merkmale des modernen Comics. Es gibt Bild- und Kunstwissenschaftler, die der Sprechblase eine ganz eigene Qualität zusprechen. Der Philosoph David Carrier vertritt in The Aesthetics of Comics11 den Standpunkt, dass man sogar nur dann von einem Comic sprechen kann, wenn Bild und Text auf eine ganz bestimmte Art und Weise verwoben werden. Mit dieser speziellen Art der Verbindung ist die Sprechblase gemeint. Die Kunst- und Bildwissenschaftler Jens Balzer und Lambert Wiesing haben einen vergleichbaren Ansatz: „Das Besondere an einer Sprechblase – man kann sagen: ihre epochale Bedeutung für die Geschichte des Bildes – ist schlicht und ergreifend die Tatsache, dass ihre Entstehung nicht von der Erfindung neuer technischer Möglichkeiten abhängig ist. Eine Sprechblase kann mit jedem gewöhnlichen Stift gezeichnet werden. Das ist das Bemerkenswerte an einer unscheinbaren Sprechblase: Sie entsteht in vollkommener Autonomie gegenüber der Technikentwicklung und steht in genau dieser Hinsicht auf einer Stufe mit so wichtigen Bilderfindungen wie der Zentralperspektive, dem abstrakten Bild und der Collage. Diese dürften jedenfalls die berühmtesten Beispiele für Bildformen sein, deren Entstehung sich nicht aus der vorgängigen Erfindung einer Technik erklären lässt. [...] Denn wenn keine vorgängige technische Erfindung die Sprechblase ermöglicht, bleibt nichts anderes übrig, als nach begrifflichen, kulturellen oder geistigen Voraussetzungen zu suchen.“12

11 Vgl.: Carrier 12 Balzer, S. 37

18 | Die Bilder des Comics

Balzer und Wiesing gehen in ihrer Untersuchung der These nach, dass der Comic in dem Moment entstanden ist, in dem auch ein entsprechendes Bildverständnis bereitstand. Das sei insofern wichtig, als genau das Bildverständnis, welches zur Lektüre eines Comics benötigt wird, kunsthistorisch nicht das leitende Bildverständnis war. In diesem von Balzer und Wiesing phänomenologisch genannten Bildverständnis diene das Bild nicht zur symbolischen Repräsentation, sondern zur Herstellung artifizieller Präsenz. Auf die Begriffe des phänomenologischen Bildverständnisses und der artifizellen Präsenz gehen Balzer und Wiesing genauer ein. Sie beziehen sich dabei auf das, was Edmund Husserl das Bildobjekt nennt: „Das Bildobjekt ist der Gegenstand, den der Betrachter auf einem Bild zu sehen meint und welcher sich im Gegensatz zu anderen, materiellen Dingen nicht nach den Gesetzen der Physik verhält.“13 Diese phänomenologischen Bildobjekte unterscheiden sich nämlich in mehrfacher Hinsicht von realen Gegenständen. Zum Beispiel altern sie nicht und sind weder dem Tast-, noch dem Geruchs- oder Hörsinn zugänglich. Die einzige Gemeinsamkeit ist die Sichtbarkeit von realen Objekten und Bildobjekten, und selbst in diesem Punkt muss man Abstriche machen. Eine perspektivische Verzerrung, ein Betrachten von der Seite ist mit Bildobjekten nicht möglich. Doch grade aus dieser primären Beschränkung ergeben sich einige wirkmächtige, sekundäre Eigenschaften. Dieses physiklose Bildobjekt ermöglicht eine Darstellungsweise, die mit realen Objekten nicht möglich ist. Diese Darstellungsweise lässt sich nach Balzer und Wiesing am besten als artifizielle Präsenz bezeichnen: „Denn Bilder sind für Menschen eine Technik, die erlaubt, etwas herzustellen, was sich ohne Bilder nicht herstellen ließe: Etwas, das im eigentlichen Sinne des Wortes unsichtbar ist. Nämlich sichtbare Gegenstände, die keine andere Eigenschaft haben, als sichtbar zu sein. Damit wird nun nicht gesagt, dass Bilder reale Präsenz erzeugen; sie erzeugen mit ,Phantomen‘ eine artifizielle Präsenz, denn sie zeigen nicht Dinge, die abwesend sind, sondern sie zeigen Dinge, die anwesend sind, aber aufgrund ihrer Physiklosigkeit nicht auf der gleichen ontologischen Stufe stehen wie normale materielle Dinge in der Welt.“14

13 Ebd.: S. 40 14 Ebd.: S. 41 f.

Der blinde Fleck der Sprechblase | 19

Hervorgegangen aus dem phänomenologischen Bildverständnis, sei die artifizielle Präsenz bei Bildobjekten am augenscheinlichsten an der Sprechblase zu erkennen. Die Kombination einer dargestellten Figur mit einer Sprechblase impliziert ein Bildverständnis, welches die Figur nicht als Repräsentation oder „verweisendes Symbol“15 auffasst. Die Figur sei durch die Sprechblase artifiziell präsent. Balzer und Wiesing bezeichnen die Sprechblase als „Realitätseffekt“16 und meinen damit, dass die „Sprechblase ... den Comic-Figuren eine Realität [gibt], die diese Figuren in Bildern ohne Sprechblase nicht hätten.“17 Die Eigenschaften der Anwesenheit der Comicfiguren werden durch die Sprechblase verändert. Eine Sprechblase behandelt die sprechende Figur nicht als Zeichen für etwas Abwesendes, sondern als anwesende Figur. Beschäftigt man sich mit den Eigenschaften der Sprechblase selbst, so wird deutlich, dass sie innerhalb der Bilderwelt einen bemerkenswerten Status einnimmt. Die Schrift in einer Sprechblase ist nicht im gleichen Sinne abgebildet, wie es der Rest des Comicbildes ist. Eine Sprechblase ist in aller Regel die graphische Darstellung von gesprochener Sprache. Obwohl sie artifizielle Präsenz hervorrufen soll, ist diese für eine Sprechblase selbst nicht erwünscht. Balzer und Wiesing reden hier von einer „wirklichen Sprechblase“18 in Abgrenzung zur artifiziellen Präsenz der Figur. Laut Balzer und Wiesing ist die Schrift in einer Sprechblase gewöhnliche Schrift, das heißt, dass sie keine gezeigte Schrift ist. Womit wir beim wesentlichen Unterschied zwischen Spruchband und Sprechblase wären. Spruchbänder sind aufgrund ihrer gezeichneten oder gemalten Materialität mit größerem Anteil der diegetischen Bilderwelt verhaftet als Sprechblasen. Da diese grafisch dargestellte Äußerungen der Protagonisten sein sollen, sind sie als Bildobjekt metadiegetisch zu verstehen. Die dargestellte Sprechblase ist nicht diegetisch, der dargestellte Inhalt ist aber als Schall, Wort oder Ton innerhalb der Bilderwelt vorhanden/intendiert. Die Rezeptionsweise einer Sprechblase benötigt also bereits ein bestimmtes Abstraktionsvermögen des Betrachters.

15 Ebd.: S. 42 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd.

20 | Die Bilder des Comics

1.3 GIBT ES EIN COMICSPEZIFISCHES BILDVERSTÄNDNIS? Es gibt gute Gründe, die Entstehung des Comics mit der Entstehung der Sprechblase gleichzusetzen, denn die Sprechblase ist ein untrüglicher Indikator für eine Bildkompetenz, auf die der Comic konstitutiv angewiesen ist. Jedoch kann die Sprechblase nicht der Impuls ihrer eigenen Entstehung sein. Da die Sprechblase nur ein Merkmal, eine Wirkung ist, dessen Ursache in einem spezifischen Bildverständnis liegt, so wie Balzer und Wiesing es zu Beginn ihrer Untersuchung darstellen, stellt sich nun die Frage nach den Eigenschaften und Entstehungsbedingungen dieses Bildverständnisses. Hier stößt man bei der oben dargelegten Konzeption des phänomenologischen Bildverständnisses auf den Umstand, dass sich ähnliche Rezeptionsweisen auch außerhalb von Comicbildern nachweisen lassen. Zusätzlich muss betont werden, dass das Konzept der artifiziellen Präsenz auch ohne Sprechblasen, also nur mit bildlichen Mitteln zu realisieren ist. Eine Definition für den Comic allein auf die Sprechblase abzustellen, schließt auch Comics aus, die ganz ohne Sprechblasen auskommen. Der entscheidende Nachteil ist, dass mit dieser Art und Weise, den Comic zu bestimmen, der Gegenstandsbereich so stark begrenzt wird, dass etwas ausgeschlossen wird, was aber eindeutig ein Comic ist. Wie schon erläutert, ist die Sprechblase lediglich ein Produkt, wenn auch ein wirkmächtiges, eben des Bildverständnisses, das für einen Comic notwendig erscheint, nicht umgekehrt. Die Sprechblase ist durchaus ein wirkmächtiges Werkzeug in den Händen eines Comiczeichners. Die Frage ist nun aber, ob nur Sprechblasen artifizielle Präsenz hervorrufen oder es auch andere Ursachen haben kann, ob wir eine dargestellte Person als Repräsentation, Allegorie oder Verweis oder eben als artifiziell anwesend betrachten. Die Frage nach den Eigenschaften des Bildobjektes, besonders nach der Art und Weise seiner Präsenz, ist aus kunsthistorischer Sicht nicht erst seit der Anwesenheit der Sprechblase aktuell. Während eine artifizielle Präsenz des Bildgegenstandes für die erfolgreiche Lektüre eines Comics wünschenswert erscheint, wurde die Möglichkeit, im Bild bzw. im Bildgegenstand nichts geringeres als eine göttliche Präsenz zu erblicken, zu Beginn der christlichen Tradition als äußerst problematisch bewertet. Das ambivalente Verhältnis der christlichen Lehre zu Bildern lässt sich durch keinen Kontrast besser darstellen als die Gegenüberstellung des biblischen zweiten

Der blinde Fleck der Sprechblase | 21

Gebotes19 und der Tatsache, dass die Auseinandersetzungen darüber, wie und ob eine Idee des Göttlichen darzustellen sei, zu großen Teilen an und mit Bildern geführt wurde.20 Diese Auseinandersetzungen sind gleichzeitig ein wesentlicher Teil der europäischen Kunstgeschichte. Zusammenfassend hat die Argumentation der Bildgegner direkt etwas mit einer Facette des Präsenzbegriffes zu tun. Die Gefahr einer menschengemachten Darstellung des Göttlichen bestünde darin, das Bild selbst mit einer göttlichen Präsenz zu verwechseln oder diese durch das Bild vermeintlich wahrzunehmen.21 In einem Versuch, die kirchliche Bildpraxis im Rahmen des sogenannten Byzantinischen Bilderstreites zu vereinheitlichen und einer Form der Götzenanbetung vorzubeugen, wurde im sogenannten Zweiten Konzil von Nizäa

19 2. Mose 19. 20,4 „Du sollst Dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.“ in: Bibel, Die; Luther-Übersetzung 20 Vgl.: Belting, 1990 21 Belting, 2005, S. 48: „Gewöhnlich wurde das Verlangen nach Bildern durch die Toten ausgelöst, von denen aber nicht ,bewiesen‘ werden musste, dass sie wirklich gelebt hatten. Die Toten wurden schon in den Anfängen der menschlichen Bildpraxis durch Bilder repräsentiert, die an die Stelle ihrer verlorenen Körper traten. Auch Jesus starb, aber, wie es der Glaube will, keinen menschlichen Tod oder keinen Tod auf immer. Da er aus dem Tod auferstand, war er nicht auf Bilder angewiesen, in denen er weiterlebte. Bildete man ihn ab, so konnte es nicht um ein Totenbild handeln. Aber auch das Götterbild kam hier nicht in Betracht, von dem man wusste, daß es die körperlosen Götter verkörperte. Damit fielen die beiden Bildgattungen hier weg, mit welchen das antike Publikum vertraut war. Die Lehre von einer Verkörperung Gottes entzweite das Christentum nicht nur mit dem Judentum, sondern auch mit dem Heidentum der alten Welt. Der Sohn Gottes hatte nicht nur in einem Körper aus Fleisch und Blut gelebt, sondern war darin gestorben, wie alle Körper sterben. Die ,heidnischen‘ Götter, weil sie keinen Körper besaßen, waren auf Bilder angewiesen, die ihnen einen Ersatzkörper gaben. In unserem Falle aber sollten Bilder, im Gegenteil, Christi Körperlichkeit sichern. Also musste sie jede Analogie mit Götterbildern ebenso vermeiden, wie die Analogie mit Totenbildern, in denen gewöhnlich sterbliche überlebten.“ Belting, 2005, S. 98f: „Erst die Kunst, seit sie ihren Begriff in der Renaissance gefunden hatte, verabschiedete sich von dem eskalierenden Körperrealismus des späten Mittelalters.“

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von 787 von den Kirchenoberhäuptern die Aufstellung von Ikonen gestattet. Diese jedoch durften eben nur in Kirchen gezeigt werden, da hier der Ort sei, in dem der heilige Geist wohne und Ikonen selbst ein Teil der Überlieferung seien. Weiterhin dürften sich die Darstellungen nur auf Jesus Christus, Maria oder die Heiligen beschränken, weil das Göttliche hier tatsächlich eine menschliche Form angenommen habe. Die Darstellung dieser Form dürfe nur verehrt, nicht aber angebetet werden. Somit stellt die Ikone eigentlich etwas dar, was unsichtbar ist/sein soll. Wie der Theologe Johannes B. Uphus festhält, standen diese Entscheidungen darüber, welche Aufgaben diese Bilder zu erfüllen hatten, primär im Schlagschatten einer Bildpraxis die den Bedürfnissen der Gläubigen entsprang, weniger entsprechen sie den theologischen Konsequenzen des zweiten Gebotes.22 Es lassen sich im Laufe der Kunstgeschichte auch Beispiele finden, die diesen Richtlinien komplett zuwiderlaufen. Beispielhaft lässt sich die Untersuchung über sakramentalen Realismus in Bildern des Corpus Christi der Kunsthistorikerin Heike Schlie anführen 23. Schlie attestiert den Christusbildern der niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts eine Präsenzerfahrung, die über die verweisende Repräsentation eines Bildes hinausgeht. Ihrer „Meinung nach stehen die verschiedenen Techniken, Mittel und Strategien der niederländischen Malerei [...] im Dienst einer angestrebten Auflösung der Bildgrenze, die die Möglichkeiten der Bildwirkung und das Spektrum von Rezeptionsmöglichkeiten erheblich erweitert. Die Entgrenzung des Bildes, die Übermittlung des Bildinhaltes in den Betrachterraum hinein und die Sogwirkung in das Bild, der der Betrachter ausgesetzt ist, werden im niederländischen 15. Jahrhundert gezielt verfolgt und verändern die medialen Eigenschaften des Bildes in einer grundsätzlichen Weise. Das Bild ist nicht mehr nur etwas, das betrachtet werden kann, das etwas repräsentiert oder erzählt. Es dringt in die Realität der Rezeptionssituation, aktualisiert sich selbst – oder wird im Vorgang des Betrachtens aktualisiert, tritt in eine dynamische Wechselbeziehung mit dem Betrachter. Der Betrachter und die Interaktion mit dem Dargestellten sind bei der Konzeption des Bildes bereits mitgedacht. [...] Der

22 Vgl.: Uphus, S. 351-364 23 Vgl.: Schlie

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Betrachter wird vor dem Altar verortet und erhält gleichzeitig durch die Öffnung des Bildes nach vorn Eingang in die liturgierelevante Bildwelt.“24

Mit dieser Wahrnehmungsweise von Bildern finden sich unter ganz unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen auch Vergegenwärtigungsmöglichkeiten von Präsenz im Bild.25 Mit dieser kurzen kunsthistorischen Spitzfindigkeit soll jedoch nicht das wesentliche Konzept eines Bildverständnisses kritisiert werden. Im Gegenteil, das kunsthistorische Intermezzo soll eben die Notwendigkeit eines solchen vor Augen führen. Die Frage, die sich im weiteren Verlauf dieser Untersuchung folglich stellt, ist die nach den Faktoren, die sich für ein Verständnis von Comicbildern ausmachen lassen. Diese liegen noch vor der Sprechblase als Ursache für artifizielle Präsenz und tragen somit zu einem Bildverständnis bei, das umfassend genug ist, einen Comic zu erkennen, auch wenn er keine Sprechblasen hat. Wenn also, wie Balzer und Wiesing richtig beobachten, der Erfindung bzw. Entwicklung der Sprechblase keine technische Entwicklung vorausging, wie ist es dann zu den „begrifflichen, kulturellen oder geistigen Voraussetzungen“26 gekommen? Die Suche nach diesen Voraussetzungen ist allerdings erst möglich, wenn wir gleichsam ein Bild davon haben, was am Ende dieser Entwicklung steht. Auch das Phänomen der artifizellen Präsenz ist nur ein Aspekt des facettenreichen Verständnisses, das notwendig ist, um einen modernen Comic verstehen zu können. Sei es eine Sensibilität für Variationen im graphischen Stil, die Kompetenz, Bilder verschiedenster Provenienz in eine Geschichte zu integrieren oder eben das Vermögen selbst, eine Reihe Bilder als die Möglichkeit einer Geschichte zu betrachten. In den folgenden Abschnitten soll nach den Gründen gesucht werden, warum die Verdichtung dieser Qualitäten zu Comicbetrachter_innen so stattfand, wie sie stattfand.

24 Ebd.: S. 258 f. 25 Belting, 1990: S. 54 ff. und S. 117 – 163 26 Balzer, S. 37

2

Funktionen des graphischen Stils „Die erste vorsätzlich gezogene Linie erschließt jene Dimension der Freiheit, in der auch Treue zum Original, oder überhaupt zu einem Modell, nur eine Entscheidung ist: diese Dimension transzendiert die aktuelle Wirklichkeit als ganze und bietet ihr Feld unendlicher Variation als ein Reich des Möglichen an, das vom Menschen wahrgemacht werden kann nach seiner Wahl. Dasselbe Vermögen ist Wacht des Wahren und Macht des Neuen.“ Hans Jonas1

Im folgenden Abschnitt wird untersucht, welchen Einfluss der Stil von Comicbildern auf deren Produktion von Bedeutung haben kann. Spricht man von Stil im Zusammenhang mit Comics, kann vieles gemeint sein. Der Autor der Geschichte hat seinen Stil, im Rhythmus der Bilder lässt sich ein Stil ausmachen, und nicht zuletzt verfügen die Zeichner_innen eines Comics über etwas, das wir Stil nennen. Was an dieser Stelle mit Stil gemeint ist, muss also erläutert werden. Weniger auf die sozialwissenschaftliche Kategorie des Individual-/Kollektivstils oder den literarischen Stil wird im Folgenden Bezug genommen, sondern auf die zeichnerische oder malerische Spur, die Künstler_innen beim Schaffen ihrer Darstellung hinterlassen: den graphischen Stil. Diese allgemein gehaltene

1

Jonas: S. 40

26 | Die Bilder des Comics

Bezeichnung wird bei einigen folgenden Beispielen auch durch ,zeichnerischer‘ oder ,malerischer‘ Stil konkretisiert. Doch selbst nach dieser Eingrenzung des Begriffs haben wir es immer noch mit einer der ältesten Kategorien zu tun, die uns beim Nachdenken über Kunst begleiten. In seinem Versuch, die Unterschiede in der Formensprache von ägyptischen und griechischen Skulpturen auszuformulieren, verwendet Hekataios (ein Schüler Demokrits) um 500 v. Chr. das Begriffspaar ,Symmetrie und Rhythmus‘ in einer Art und Weise, dass diese als stilistische Eigenschaften erscheinen.2 Auch die Entstehung der Kunsttheorie als Wissenschaft geht mit der Entwicklung der Stilkunde als Methode einher, „namentlich mit Hilfe der Übertragung von Johann Joachim Winckelmanns nach der Mitte des 18. Jh. erarbeitetem stilhistorischem ,Lehrgebäude‘ der antiken Kunst auf alle Zeiten und Völker. Noch vor vierzig Jahren konnte behauptet werden, es gebe kaum eine größere Herausforderung für das Fach als die Erklärung der Gründe und Eigentümlichkeiten von Stilwandlungen.“3 Im zeitgenössischen Diskurs um den Begriff des Stils ist hervorzuheben, dass das wissenschaftliche Interesse an der Kunstgeschichte und -gegenwart facettenreicher geworden ist, der moderne und aktuelle Werkbegriff mit Stilbegriffen nur zu einem kleinen Teil gefasst werden kann und auch viele Künstler_innen in einer schlichten Beschreibung mittels Stilaspekten ihre Intention nicht

2

Schweitzer, S. 26, Hier heißt es: „Unter den berühmten Griechen, welche Ägypten besucht und von den Ägyptern gelernt haben, werden am Ende des ersten Buches des Diodor (97, 5-6 und 98, 6-9) die Plastiker Daidalos und Telekles und Theodoros, die Söhne des Rhoikos aufgezählt. Die Stellen stammen aus den Aigyptaika des Demokriteers Hekataios von Abdera. Sie enthalten die geistvollsten und treffendsten Beobachtungen über archaische Kunst, die wir aus der Antike besitzen. Dem Daidalos werden Bauwerke angedichtet. Der Rhythmus der daidalischen Werke aber – wir würden sagen: der Stil – wird als der gleich erkannt wie der der ägyptischen Skulptur. [...] Während die Symmetrie, d.h. die Proportion der ägyptischen Statuen eine starre ist, ist sie bei den griechischen eine bewegliche; dort ist sie objektiv und genormt, hier ist sie subjektiv und abhängig von dem visuellen Vorstellungsbild [...]“

3

Brückle, Wolfgang: II. Stil (kunstwissenschaftlich), S. 664 – 688, in: Barck, Bd. 5, S. 665, Sp. 1

Funktionen des graphischen Stils | 27

adäquat abgebildet sahen. „Die Demontage des Begriffs vom ,Werk‘ und seit dem Strukturalismus auch von dessen ,Autor‘ brachte den Stilbegriff um seine hauptsächlichen Bezugspunkte, und mit der Frage nach dem Stil drohte das Fach eines Stücks seiner Identität verlustig zu gehen. Die Forderung nach einer historischen Bildwissenschaft ist nur die jüngste Reaktion auf diese Situation.“4 War Stil in früheren Zeiten ein Konzept, nach dem man, dem Anspruch nach, die gesamte Kunstgeschichte in Reih und Glied ordnen konnte, so erscheint er in der zeitgenössischen Debatte als ein „Untoter der kunsthistorischen Theoriebildung“5 und dient in erster Linie der Charakterisierung einzelner Künstlerpersönlichkeiten, weniger ihrer stilistischen Kategorisierung. Der Stilbegriff als Wirkbegriff lebt (untot) weiter und hat seinen Anteil an Begriffen wie „Wirkmächtigkeit“ oder „künstlerische Strategie“. In Bezug auf die Funktionsweise des graphischen Stils im Comic wird an zwei Beispielen aus der klassischen Kunst- und Bildgeschichte demonstriert, welche rezeptionsästhetischen Eigenschaften der graphische Stil entwickeln kann. Daran anschließend wird mit diesen Erkenntnissen untersucht, wie sich graphischer Stil und Narration beeinflussen können.

2.1 ZWEI BEISPIELE FÜR FUNKTIONSWEISEN DES GRAPHISCHEN STILS AUS DER KUNSTUND BILDGESCHICHTE I Die Kulturwissenschaftlerin Angela Fischel setzt sich in dem Aufsatz „Zeichnung und Naturbeobachtung. Naturgeschichte um 1600 am Beispiel von Aldrovandis Bildern“6 mit der Sammlung von naturdokumentarischen Zeichnungen auseinander, die der Naturphilosoph Ulisse Aldrovandi (15221605) zusammengetragen hat. Angesichts der Frage, welchen Beitrag der

4

Ebd.

5

Imorde, Joseph; von Brevern, Jan: A word to avoid, in: Felfe, S. 3

6

Fischel, Angela: Zeichnung und Naturbeobachtung. Naturgeschichte um 1600 am Beispiel von Aldrovandis Bildern in: Bredekamp, 2006, S. 212 – 223

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zeichnerische Stil der Zeichnungen zu Aldrovanis wissenschaftlichem Anspruch leisten kann, führt Fischel folgende Punkte ins Feld. Einige Zeichnungen der Sammlung wurden nicht angesichts ihres dargestellten Gegenstandes angefertigt, sondern von Druckvorlagen abgezeichnet. Dieses Abzeichnen bot die Gelegenheit, als unwichtig erachtete Details nicht in die Zeichnung aufzunehmen und die Zeichnung im Nachhinein zu kolorieren. „Die Zeichnungen vermitteln also gegenüber ihrem gedruckten Vorbild einen visuellen Mehrwert, da sie die Farbigkeit ihrer Gegenstände unmittelbar darstellen.“7 Dieser Eingriff offenbart ein Verständnis, dass so etwas wie eine „naturadäquate Darstellungstechnik“8 möglich ist.9 Wie Fischel betont, war auch Aldrovandi die Brisanz solcher Übernahmeverfahren bewusst. Als große Fehlerquelle machte Aldrovandi die Hand des Zeichners aus, die aufgrund von „Unwissenheit oder ... Fantasie, Fehlinformationen in die Zeichnungen einfließen“10 lassen kann. Die Ansprüche, die also an einen ,objektiven Stil‘ gestellt werden müssen, sind genaue Kenntnisse der Natur und die Zügelung/das Ausschalten der Phantasie. Die ungeprüfte Übernahme von fremden Inhalten widerspricht unserem heutigen Verständnis von Wissenschaftlichkeit. Worauf in unserem Zusammenhang jedoch das Augenmerk gerichtet werden soll, ist der Anspruch an den zeichnerischen Stil. Fischel bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Eine der wichtigsten Funktionen der Zeichnung bei Aldrovandi bestand darin, naturadäquate Beobachtungen zu vermitteln, und nicht so sehr darin, unmittelbare Naturwahrnehmungen festzuhalten. Die Zeichnung wurde zur Vermittlerin einer analytischen Naturbeobachtung.“11 Der Vorteil dieser speziellen Möglichkeit des zeichnerischen Stils macht sich bis in unsere Gegenwart darin bemerkbar, dass einige moderne Pflanzen- und Tierbestimmungsbücher mit gezeichneten Grafiken arbeiten, obwohl ihnen die Technik der Fotografie zur Verfügung stünde.

7

Ebd. S. 221

8

Ebd.

9

Ebd.: „Die Zeichnungen dienten der Inszenierung eines von den Naturhistorikern des 16.Jahrhunderts auf diese Weise festgelegten Wesens von Natur, sie zielten vor allem auf die Wahrnehmung ihrer zukünftigen Betrachter, für die sie als Erkenntnis- und Erfahrungsgrundlage dienten.“

10 Ebd. 11 Ebd.: S. 222

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Abbildung 1: Ullise Aldrovandi, Specimens of Nature, 2. Hälfte 16. Jh.

Warum verlässt man sich gerade dann auf das zeichnerische Handwerk einer dritten Instanz, wenn die Sinneswahrnehmung, die Beobachtung, für naturwissenschaftliche Zwecke eine tragende Rolle spielt? Hier stellt sich die Frage, was und wie man beobachten/bestimmen möchte. Der Vorteil eines gezeichneten Prototyps ist die universelle Wiedererkennbarkeit, die Möglichkeit, Besonderheiten/Abnormitäten außer Acht zu lassen, daraus resultierend die Konzentration auf die wesentlichen Merkmale, aber auch

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beispielsweise Wurzel, Blüte und Frucht in einer Abbildung zu präsentieren.12 Die Funktionsweise eines Pflanzenbestimmungsbuchs als epistemologisches Werkzeug ist nur dann gegeben, wenn die gezeichneten Pflanzen mehr darstellen als einen beliebigen Vertreter der jeweiligen Spezies, so wie es herkömmliche Fotografien tun würden. Um als naturwissenschaftliches Instrumentarium zu funktionieren, steht und fällt die Zweckmäßigkeit solcher Zeichnungen mit ihrer mimetischen bzw. abbildenden Korrektheit. Abstraktion ist nur dahingehend möglich, als das hier Prototypen einer Art und nicht einer individuellen Pflanze abgebildet werden sollen. Eine in diesem Sinne korrekte Zeichnung birgt den Vorteil der Identifizierbarkeit und Klassifizierbarkeit des Dargestellten, ohne durch überflüssige Details vom Wesentlichen abzulenken. Während die Zeichner_innen nach prototypischer Mimesis streben, erfordert die Einordnung vom Betrachter einen Abstraktions-vorgang. Dabei wird nachvollziehbar, welche sichtbaren Eigenschaften der Pflanze bildwürdig bzw. notwendig sind. „Mithilfe der Bilder werden individuelle Wahrnehmungen in die Sphäre des Vergleichs, und der Kritik gezogen. [...] Die Zeichnung schien das geeignete Mittel, um die Individualität von Natur in den wissenschaftlichen Apparat von Naturbeschreibungen und -deutungen zu integrieren und zu einem wissenschaftlich kommunizierbaren Wissen zu machen.“13 Der Stil, in dem Comiczeichnungen ausgeführt sind, ist produktionsästhetisch zurückzuführen auf die Hand/den Strich der Zeichner _innen und die Faktoren des Vervielfältigungsprozesses. Rezeptionsästhetisch hat der Stil Einfluss darauf, wie der Betrachter die dargestellte, erzählte Welt wahrnimmt/rezipiert. So wie sich die Blütenzeichnung der Verfasstheit unserer Wahrnehmungsbedingungen versucht anzunähern, so etabliert und vermittelt der zeichnerische Comicstil die Eigenschaften des diegetischen Erzählraums. Die oberste Priorität der Pflanzenzeichnungen ist die Vermittlung von Naturwahrnehmung, sie sind an das, worauf wir uns als Realität geeinigt haben, gebunden. Die Comicbilder sind es nur, wenn die Narration es erfordert. Während es bei den Pflanzenbildern um die „Kommunikation von [realweltlicher] Beobachtung“14 geht, bieten Comicbilder mittels ihres zeichnerisch-malerischen Stils die Möglichkeit, andere Welten zu präsen-

12 Vgl.: Farjon, Hora, Weiler 13 Bredekamp, 2006, S. 221 f. 14 Ebd.

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tieren. Während es dem Naturphilosophen Aldrovandi also um die unbedingte Vermeidung von subjektiven Naturerfahrungen mittels eines bestimmten Stils ging, besteht die Funktionsweise, die im im zweiten Beispiel aus der Kunstgeschichte vorgestellt werden soll, in der Möglichkeit, dem Betrachter eine solche Wahrnehmung zu vermitteln. Wieder hat der zeichnerische Stil dabei eine Schlüsselrolle. II Der Maler Joseph Mallord William Turner (1775-1851) hatte Zeit seines Wirkens nicht nur Bewunderer, sondern auch hartnäckige Kritiker. Als Vollmitglied der Royal Academy of Art und Professor für Perspektive war Turner alles andere als ein Außenseiter. Sein Oeuvre, vor allem sein Spätwerk, fällt jedoch aufgrund des damals als sonderbar wahrgenommenen, abstrakten Stils aus dem üblichen Rahmen der Zeit heraus. In der Kunstgeschichte wird er deshalb mitunter als der „erste Impressionist“ bezeichnet. Die weiträumig verteilten, übergreifenden Farbschichten, sowie der dynamische Duktus der Pinselführung, wurden zu einer für sein Spätwerk charakteristischen Malweise. Wenn er, im Unterschied zu seinen Vorgängern, seinen Stil geändert hat, entsprach das möglicherweise auch einer Modifikation seiner Intentionen. Turner war sich darüber im Klaren, dass die Abkehr von einer nach Realismus strebenden Darstellungsweise nicht zwingend in Referenzlosigkeit oder formelle Selbstbespiegelung mündet. Im Gegenteil, das was Turner in einigen seiner abstraktesten Ölgemälde und Aquarelle darzustellen versucht, entzieht sich eben den Möglichkeiten der geometrisch konstruierten Darstellungskonventionen der Zentralperspektive oder der anatomisch fundierten Darstellung von Lebewesen seiner Zeit. Betrachtet man vor allem die unzähligen Aquarelle und Skizzenbücher, so sieht man, dass es konkrete Landschaften und Wetterphänomene sind, die er in immer abstrakterer Weise zu Papier bringt. Unter diesem Eindruck lässt sich die These aufstellen, dass Turner durchaus Gefallen an der Abstraktion an sich fand, er diese aber auch immer wieder einsetzte, um eben die Erfahrung/den Eindruck der Landschaft und des Wetters (und auch den ihn beeindruckenden technischen Fortschritt seiner Zeit) in seinen Sinneseindrücken wiederzugeben. Dabei wollte Turner in vielen seiner Werke seinen abstrakten Stil gewiss nicht als quasi referenzlose, ästhetische Erfahrung verstanden wissen. Die für ihn adäquate Darstellung der Dynamik von

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Licht und Atmosphäre, der Versuch des Menschen, die Erhabenheit der Natur zu begreifen und dabei lediglich auf seine Sinne und seinen Verstand zurückgeworfen zu werden, mündeten in dem für Turner ,typischen‘ Stil. Abbildung 2: J.M.W. Turner, Crichton Castle (Mountainous Landscape with a Rainbow), ca. 1818

Wir sehen bei der Betrachtung von Turners Bildern also weniger eine nach idealer Abbildhaftigkeit strebende Darstellung einer Landschaft, sondern den Versuch der Vermittlung einer bestimmten Art und Weise, etwas wahrzunehmen. In dieser Hinsicht darf der verwendete Stil nicht weniger präzise sein als in einem Pflanzenbestimmungsbuch.

2.2 FUNKTIONSWEISEN DES GRAPHISCHEN STILS IM COMIC Was nun die Rezeption des graphischen Stils im Comic betrifft, so steht die Methode der kunstwissenschaftlichen Stilkunde vor der Situation, dass mittels des graphischen Stils wesentlich Einfluss genommen werden kann auf etwas, das der Methode in dieser Qualität fremd ist: der Narration. Natürlich

Funktionen des graphischen Stils | 33

haben auch Einzelbilder, an denen die Stilkunde wesentlich entwickelt wurde, einen narrativen Gehalt, dieser allerdings konnte bisher im Kompetenzbereich der Ikonographie/Ikonologie oder der Symbolik verhandelt werden. Dass der zeichnerische Stil im Comic in einer besonderen Art und Weise in die Narration eingreift, wird in den folgenden Beispielen illustriert. Stil als Darstellung eines Bewusstseinszustandes Die 7 Panels dieses Comicstrips (Abb. 3) sind in eine obere Reihe von 3 und eine untere von 4 Panels angeordnet. Die Unterteilung in 2 Reihen kann hier weniger auf die Dramaturgie als auf das Arrangement der Seite selbst zurückgeführt werden. Der wesentliche Bruch in diesem Beispiel findet sich erst in der Differenz des graphischen Stils des letzten Panels im Vergleich zu den 6 vorhergehenden. In den ersten 6 Panels sehen wir eine Frau und einen Mann mittleren Alters, die beim Abendessen in einen Disput geraten. Woraufhin sich der Mann seiner Kleidung entledigt – bis auf die Unterhose – und, an einer Liane schwingend, die Frau verlässt. Aus den Sprechblasen erfahren wir, dass die beiden Protagonisten die vorliegende Situation ganz unterschiedlich bewerten. Die Frau findet das Essen köstlich, behauptet, sie sei die Präsidentin der Vereinigten Staaten und dass der Mann als ihr „First Husband“ nur sauer sei, weil er den ganzen Tag im Weißen Haus staubsaugen müsse. Der Mann hingegen meint, das Essen sei „Hundefutter“, die Frau sei die Präsidentin der anonymen Irren, er gar nicht mit ihr verheiratet, sondern in Wirklichkeit WONG-TAA, der König des Urwaldes. Diese 6 ersten Panels sind in einem Stil gezeichnet, der sich an Stilkonventionen der klassischen amerikanischen Abenteuercomics anlehnt. Ein Stil, der in Kontrast zum üblichen Stil von Bill Watterson steht, dem Zeichner der Calvin&Hobbes-Comics. Beide Figuren gehören, dem ersten Anschein nach, nicht ins Ensemble der regelmäßig auftretenden Calvin&Hobbes-Figuren.

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Abbildung 3: Stilvariation trotz narrativer Kontinuität, Calvin & HobbesSonntagsseite vom 31.01.1993

Funktionen des graphischen Stils | 35

In dem gewohnten graphischen Stil der Serie präsentiert sich das letzte Panel. Es zeigt Calvins Mutter im Vordergrund am Telefon, im Hintergrund sehen wir Calvin und Hobbes miteinander sprechen. Hier im letzen Panel wird die vorherige, rätselhafte Sequenz aufgelöst. Calvins Mutter erfährt am Telefon, dass Calvin seine Sachen beim Spielen mit Susi ausgezogen und bei ihr gelassen hat. Dazu passt, dass Calvin im Hintergrund nur seine Unterhose trägt. In Calvins Gespräch mit Hobbes erfahren wir, dass er froh sei nicht mehr mit Susi zu spielen, da diese sich nur ,Mist‘ ausdenkt. Der Schluss liegt nahe, dass es sich in den vorhergehenden Panels um eben diesen ,Mist‘ bzw. um die fiktionale Welt des Spiels von Susi und Calvin handelt, die beide so unterschiedlich bewerten. Die von Susi erdachte Spielwelt sah vor, dass sie die Präsidentin der Vereinigten Staaten ist und Calvin, als ihr Ehemann, sie zuhause mit einem romantischen Abendessen erwartet. Diese Vorstellung torpediert Calvin mit den Kommentaren und Handlungen, die in den ersten 6 Panels für die entsprechenden Irritationen sorgen. Erst das letzte Panel macht klar, worum es in den vorherigen ging. Das letzte Panel bildet den notwendigen Kontrast, um Sinn und Pointe der Geschichte konstruieren zu können. Hier sehen wir, dass die Stilkonsistenz zugunsten eines Perspektivenwechsels aufgegeben wurde. Während dieses Beispiel in den ersten 6 Panels einen Einblick in Susis Vorstellungswelt gibt, macht der wechselnde Stil zwischen Bild 6 und 7 klar, dass wir Susis Welt verlassen haben. Der Kontrast der zeichnerischen Stile nimmt hier direkt Einfluss auf die Bedeutung der Geschichte. Diese Funktionsweise des graphischen Stils, als Vermittler der Perspektive einer diegetischen Figur, wurde vom Literaturwissenschaftler Kai Mikkonen mit dem Begriff des Mindstyle in die Comicforschung eingeführt. Kai Mikkonens Konzept des Mindstyle In seinem Aufsatz Subjectivity and Style in Graphic Narratives15 begründet Kai Mikkonen seine These, dass der Stil einen Anteil an der Präsentation der Wahrnehmungsbedingungen der dargestellten Charaktere hat, damit, dass die narrativen Techniken des Comics nicht nur die Möglichkeit zur

15 Mikkonen, Kai: Subjectivity and Style in Graphic Narratives, in: Stein, S. 101123

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Verfügung stellen, die formalen Eigenschaften des Bildes (position, angle, field, and focus of vision) zur Darstellung von Subjektivität einzusetzen (perceptual focalization)16, sondern die eigentliche Frage darin besteht, zu welchem Grad jedes Bild, das Teil einer Narration ist, bereits durch diesen narrativen Kontext und die daran anschließenden Konventionen subjektiviert ist. Damit ist gemeint, dass Wahrnehmung und Bewusstsein eines zeichnerisch gestalteten Protagonisten bereits in der Art und Weise der Komposition der bildlichen Mittel dargestellt ist. „The major emphasis [...] is the character‘s subjectivity in graphic narratives, particularly the presentation of subjective consciousness through narrative perspective (focalisation and ocularization) and graphic style. [...] All of these means can attribute to the image a sense of subjective perception. The most common techniques of subjective focus of perception, in comics as in film (but in different portions and combinations), include the various ways in which the characters positioning in a given image – in relation to the frame and what is shown in the image – suggests a subjective narrative perspective.“17

Aus der Perspektive des literaturwissenschaftlichen Konzepts der Fokalisation betont Mikkonen, dass zwischen der Darstellungsweise der Subjektivität ( „the relation between what the camera shows and what the characters are presumed to be seeing“18) und der angebotenen Weltsicht („visual representation of perception“19) unterschieden werden muss. Diese Weltsicht wiederum ist „a complex product of what one sees, what the character is presumed to be seeing, what he or she is presumed to know, what he or she says and so forth“.20 Auch der graphische Stil prägt nach Mikkonen im Comic diese narrative Perspektive. Grade das Ausdruckspotential des graphischen Stils birgt die Möglichkeit, die Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird, zu spezifizieren:

16 Ebd.: S. 102 17 Ebd.: S. 102 18 Stam, S. 74 19 Stein, S. 106 20 Stam, S. 74

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„One advantage of the narrower focus of graphic style is that it allows us to pose the question of style as a more specific question of enunciation: to what or whom do we attribute graphic style? This is not simply a pragmatic question of attributing particular graphic features to a particular author, cartoonist, or a colorist, but it involves the complex issue of the relation between graphic style and meaning, for instance, the functions of style in terms of the presentation of the characters mental life.“21

Diese Bedeutungsebene des Stils, in Bezug auf die Vermittlung von Wahrnehmungskonventionen, ist, wie im vorangegangenen Abschnitt an den Beispielen der Bestimmungsbücher und der Bilder des Malers William Turner gezeigt wird, für die kunstwissenschaftliche Disziplin nichts Neues. Dass es um Wahrnehmungsbedingungen geht, ist hier auch nicht die Herausforderung, in Kombination mit einer Narration jedoch erhält diese Eigenschaft des graphischen Stils die besondere Wendung, dass die Betrachter_innen es mit der Darstellung einer Wahrnehmungsbedingung einer diegetischen Figur zu tun haben. Besonders in den Beispielen, in denen es innerhalb der Narration einen Stilwechsel gibt, offenbart sich laut Mikkonen die fokalisierende Natur des graphischen Stils, so können z.B. Traumsequenzen in einem anderen Stil gezeichnet werden, um sie als eben solche zu markieren. Diese Verwendung des Stils als Ausdrucksmittel der mentalen Verfassung eines Protagonisten im Comic wird von Mikkonen nun treffenderweise Mindstyle genannt. Dass der graphische Stil im Comic die Funktion eines Mindstyle übernehmen kann, wird im Folgenden nicht bestritten, im Gegenteil: die Funktion des graphischen Stils als Repräsentation der inneren Vorgänge eines Charakters scheint sogar häufig Verwendung zu finden. Jedoch ist die Funktion des graphischen Stils als Mindstyle im Comic auf verschiedenste Arten so verbreitet, dass wir, um Mindstyle als Analysewerkzeug nutzen zu können, an dieser Stelle genauer differenzieren müssen. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die These, alles wäre bis zu einem gewissen Grad subjektiviert, letztlich dazu führen würde, dass gleichsam nichts subjektiviert erscheint. Aber der Einwand sei gestattet, dass ein so umfassendes Konzept, wie Mikkonen es skizziert, eben wegen seiner umfassenden Allgemeinheit als Werkzeug der Interpretation von Narration im Allgemeinen und Comics im Speziellen wenig zweckmäßig

21 Stein, S. 112

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erscheint. Wie Mikkonen es im oberen Zitat prägnant formuliert, geschieht alles Zeigen – vor allem das graphische – bereits aus einer bestimmten Absicht heraus. Fokalisation ist der Rahmen, in dem Denkprozesse abgebildet werden können bzw. Bedeutung evoziert werden kann. Die folgende Analyse verschiedenster Beispiele soll nicht dazu dienen, eine Gegenposition zu Mikkonens Ansatz zu entwickeln, vielmehr soll die aus dem literaturwissenschaftlichen Kontext stammende und auch durch die Filmwissenschaft adaptierte Theorie der Fokalisation nun genauer für den Comic spezifiziert werden. Vor allem der graphische Stil erscheint als Eigenschaft des Comics, die in der Schrift keine, und meines Erachtens im Film nur eine entfernte Entsprechung hat. Daher sollen im Folgenden die Wirkmächtigkeiten des graphischen Stils im Comic analysiert werden. Betrachten wir mit dem Wissen um das Konzept des Mindstyles noch einmal das letzte Panel in Abb. 3, so ist zu fragen, in wessen Weltsicht wir uns hier befinden. Da es sich um den ,Leitstil‘ handelt, in dem nahezu alle Calvin&Hobbes-Folgen gezeichnet sind, muss also geklärt werden, aus welcher Sicht dem Betrachter das Calvin&Hobbes-Universum präsentiert wird. Der Umstand, dass Calvin im letzten Panel sagt, er sei froh, Hobbes zu sehen, könnte einerseits nahelegen, dass es sich um Calvins Weltsicht handelt. Andererseits ist es eine immanente Prämisse in allen Calvin&HobbesComics, dass nur der Hauptprotagonist Calvin den Tiger Hobbes als lebenden und sprechenden Begleiter/Freund wahrnimmt. Alle anderen Protagonisten nehmen einen leblosen Plüschtiger wahr. Dieser Umstand führt in den Comics zu der Konvention, dass, sobald Calvin in einem Panel nicht allein mit Hobbes erscheint, dieser als Plüschtiger dargestellt ist. In dem oben verhandelten Beispiel wird diese Konvention spielerisch durch einen Fensterrahmen variiert. (Was mir auch dramaturgisch notwendig erscheint, um auf die Pointe zu zuspitzen.) Die Tatsache, dass der Hauptprotagonist der Serie augenscheinlich nicht die gleichen Wahrnehmungsbedingungen hat wie alle anderen, lässt sich an einem weiteren Beispiel darlegen, in der durchgehend ein einheitlicher Stil vorherrscht, Calvin aber wieder froh ist, Hobbes zu sehen.

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Abbildung 4: Verzicht auf mögliche Stilvariation, Calvin & HobbesSonntagsseite vom 14.03.1993

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Stil als Darstellung der diegetischen Welt In Abb. 4 ist der Betrachter wieder mit zwei Reihen irritierender Bilder konfrontiert, die auf den ersten Blick keine herkömmliche Geschichte zu erzählen scheinen; wieder ist es das letzte Panel, das in diesem Fall unter den beiden Reihen angeordnet ist, welches aus den Bildern rückblickend eine sinnvolle Geschichte macht. Mit dem Wissen, dass es sich um einen ,normalen‘ Schultag handelt, erhalten die Bilder eine metaphorische Ebene. Im ersten Bild wird Calvin also nicht mit den anderen Rindern auf die Weide (oder in den Schlachthof/die Weiterverarbeitung) getrieben, sondern in die Schule. Das zweite Bild zeigt eine Fabrik, in der Calvin das Wissen mittels Rohr und Fließband direkt in den Schädel gegossen wird. Eine Metapher für den zeitlich streng geregelten, didaktisch massenkompatiblen Unterricht. Welche Unterrichtsfächer oder Begebenheiten eines normalen Schultages in den Bildern dargestellt werden, in denen wir Calvin in einem Hamsterrad sehen, als Sträfling beim Eisenbahngleisbau, als Roboter, Papagei, Zombie und Klötzchen in einem Steckspiel, bleibt wohl den Betrachter_innen und ihren Vorstellungen eines normalen Schultages überlassen. Im vorletzten Bild sehen wir einen japsenden Fisch mit Calvins Frisur an Land, der kurz davor ist, in das rettende Wasser zu hüpfen. Entsprechend der Rindermetapher im ersten Bild, haben wir es hier wohl mit den letzten Minuten/Sekunden des Schultages zu tun, bevor die Schüler entlassen werden. Die Bilder des Schultages sind in einen Rahmen gefasst, der mit dunklem Lila ausgefüllt ist, so dass dieser Schultag über dem letzten Panel quasi als eigenständige Einheit steht. Im Kontrast dazu ist das letzte Bild rahmenlos und indiziert damit, dass es sich über den Seitenrand hinaus erstreckt. Dieser formale Umstand korreliert mit der inhaltlichen Ebene des streng regulierten Schultages und der freien Zeit. Für die Frage, welche Eigenschaften des Leitstils in Bezug auf die Weltsicht wirksam sind, ist die Sprechblase, bzw. – in diesem Fall – die Zuweisung des Ausspruchs, Calvins interessant. Das fett hervorgehobene „DICH“ in: „MANN, BIN ICH FROH, DICH ZU SEHEN.“ Ausschnitthaft wird dem Betrachter Calvins Weltsicht zuteil, in dem auch er des lebenden Tiger Hobbes ansichtig wird. Jede weitere Person, jeder weitere Gegenstand, der im Leitstil der Serie gezeichnet ist, steht unter Verdacht, von Calvin nicht in dieser Art und Weise wahrgenommen zu werden. Das entspricht auch dem

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Leitmotiv der Serie, dass Calvin mit seiner Sicht der Dinge, die zwischen Unschuld und Abgeklärtheit oszilliert, den Betrachter implizit dazu auffordert, die verhandelten Themen ebenfalls einer Revision zu unterziehen. Anders als in Susis Welt (Abb. 3) würde es hier wenig Sinn ergeben, den Stil während der Schultagserfahrung zu wechseln, denn der Schultag widerfährt Calvin innerhalb der diegetischen Welt. Der Leitstil bindet die metaphorischen Inhalte dieses Beispiels an die Realität der diegetischen Welt. Die wechselhafte Figur des Tigers Hobbes ist ein Indiz dafür, dass wir es bei der diegetischen Welt in den Calvin&Hobbes-Comics mit einer Welt zu tun haben, mit der der Hauptprotagonist umgehen muss. Der Widerspruch, die der Leitstil einer narrativ geprägten Comicserie und der metaphorische Inhalt hier hervorrufen, lässt sich nur so auflösen, dass der Leitstil in Calvin&Hobbes nicht Calvins Weltsicht wiedergibt, sondern wir es mit einem diegetischem Stil zu tun haben, dessen Aufgabe es ist, dem Leser Informationen über die Erzählwelt zu liefern. Die hier verwendeten Metaphern übertragen Inhalte des Schulalltags auf pejorativ gemeinte Situationen und Figuren. Dadurch rückt unser Beispiel in die Nähe einer (politischen) Karikatur und eröffnet somit eine Interpretationsebene, die konträr zu unserer Suche nach fokalen Standpunkten steht: Dieser Comic kann auch als Kommentar des Zeichners zum umkämpften Feld darüber gelesen werden, wie eine angemessene Beschulung auszusehen bzw. nicht auszusehen hat. Einen weiteren Aspekt zu dieser Thematik liefert uns der Zeichner Chris Ware. Der Hauptprotagonist ist hier ein Brillenträger, dessen rechtes Brillenglas im Laufe der Geschichte zerbricht. Um die Tragweite dieses Problems darzustellen, wird der Ausschnitt unscharf dargestellt, sobald der Bildausschnitt die Perspektive des Protagonisten zeigt, was dem fehlenden Stück Brillenglas entspricht. (Abb. 5) Der Umgang des Zeichners Chris Ware mit seinem eigenen Stil als etwas, das von der Sehstärke der Protagonisten abhängig ist, legt nahe, dass der Leitstil seines Comics als Weltsicht betrachtet werden muss, die keinem expliziten Protagonisten zugesprochen werden kann. Nichtsdestoweniger haben wir es mit einer narrativen Instanz zu tun, die derjenigen ähnelt, die uns auch aus filmischen und literarischen Narrativen bekannt ist. 22

22 Einen guten Einstieg in die Debatte darüber, wie diese narrative Instanz charakterisiert werden kann, bietet der Begriff der Nullfokalisation bei Gerard Gennette.

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Abbildung 5: Stilmontage zur Darstellung optischer Effekte in Chris Wares Acme Novelty Library #19

Dass Calvin sich in einer Welt bewegt, die er selbst mit ganz anderen Augen sieht, lässt sich auch am nächsten Beispiel demonstrieren. Dieses Beispiel (Abb. 6) aus der Calvin & Hobbes-Reihe bringt die Frage des Mindstyle als durchaus mögliche, aber immer zu konstruierende Funktionsweise des Comics auf den Punkt.

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Abbildung 6: Stilvariation als Mindstyle? Calvin & Hobbes-Sonntagsseite vom 19.09.1993

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Hier sehen wir als erstes Bild einen toten Vogel, der – im Vergleich zum üblichen und im weiteren Verlauf vorherrschenden Stil – naturgetreu gezeichnet wurde. Rechts neben dem hochformatigen Bild des toten Vogels sind zwei Reihen à vier Bilder mit sehr viel dünneren Panelumrahmungen angeordnet. Unter dem Vogelbild und den beiden Reihen befindet sich das letzte Bild, es nimmt die gesamte Breite des Formats ein. Während der Betrachter den Vogel im ersten Bild von oben in aller Ausführlichkeit betrachten kann, sieht er im zweiten Bild Calvin und Hobbes, diesmal seitlich, wie sie wiederum den Vogel von oben betrachten. Es liegt nahe, dass Bill Watterson dem Betrachter im ersten Bild die Perspektive von Calvin und Hobbes präsentiert. Der darauffolgende, quasi philosophische Monolog Calvins über den Wert und Sinn des Lebens, erfolgt unter dem Eindruck des toten Vogels. Die wiederholte Abbildung des Vogels und der Ausruf „Sieh mal, ein toter Vogel!“ im zweiten Panel, die rhetorische Frage „Ist er nicht wunderschön?“ im dritten Panel und die lebendigen, fliegenden Vögel im letzten Panel geben den Betrachter_innen immer wieder Anlass zu der detaillierten Darstellung im ersten Panel zurückzuschauen und den sequenziellen Pfad zu verlassen. Das wiederum unter dem Eindruck Calvins quasiphilosophischer Ausführungen. Folgen wir der These, dass wir es im ersten Panel mit der Wahrnehmung Calvins zu tun haben, so ist es der Blick eines Jungen auf eine Welt, die sich außerhalb seiner Wahrnehmung als das darstellt, was man als den Hauptstil der Calvin&Hobbes-Comics bezeichnen kann. Der Betrachter erhält eine Ahnung von Calvins Sicht der Dinge durch seine Handlungen und Bemerkungen oder solche Ausnahmen wie die direkte Übernahme von Calvins Point of View. Jedoch finden sich in diesem Beispiel auch Hinweise, dass der naturalistisch gezeichnete Vogel direkt vom Zeichner an den Betrachter adressiert wurde, ohne dass diese Stilvariation die Sichtweise Calvins tangiert. Zum einen wäre da die überdurchschnittlich dick gehaltene Panelrahmung, die einerseits an Todesanzeigen erinnert und somit den Umgang mit Tod und Leben thematisiert23, andererseits hebt

23 Passend zu dieser Interpretationsebene lässt sich der Vogel als Symbol der Seele bis zur griechischen Klassik zurückverfolgen. Zusammen mit den Darstellungskonventionen eines kleinen Menschen oder Flügelwesens wurde der Vogel als Seelensymbol von der frühen christlichen Kunst übernommen. Er erklärt sich

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sie dieses Panel von allen anderen ab, kann somit als Teil der Geschichte infrage gestellt und eben auch als illustrierendes Bild neben der Geschichte gelesen werden. Die Handlung selbst beginnt nun wiederum im eigentlich zweiten Panel, in dem der Vogel für die Protagonisten noch einmal im Stil der diegetischen Welt gezeichnet wurde.In dieser Konsequenz ergibt sich unter dem Eindruck aller vorangegangen Panels, dass das letzte Panel als Sinnbild für die Suche Calvins nach dem Sinn des Lebens fungiert. Als Gegenstück zum schwarzen Rahmen des Memento mori des ersten Bildes, haben wir es hier mit einem rahmenlosen bzw. weiß gerahmten Panel zu tun, wie es der Abstand der Blätter zu den darüber angeordneten Panels andeutet. Die Eigengesetzlichkeit von Susis Welt und das Staunen über die vergessenen Wunder des Lebens, werden von den Betrachter_innen als solche erkannt, weil sie im Kontrast oder in Ergänzung, im Nebeneinander der Verschiedenartigkeit der verwendeten Stile innerhalb der Geschichte auftreten. Die Absurdität des Schulalltags wird uns im Stil der regulären diegetischen Welt nähergebracht, damit die karikierende Wirkung der Bilder nicht durch einen individuellen Mind Style – der stilistisch markiert werden müsste – geschwächt wird. Der Schulalltag ist so gesehen, nicht etwas, was Calvin aktiv wahrnimmt, sondern etwas, das ihm widerfährt. Was hier vor allem zum Gelingen der Geschichte beiträgt, ist die Bildkompetenz der Betrachter_innen, insbesondere in der Frage der Stilwahrnehmung. Wir können nicht viel über die Rezipient_innen eines Comics an sich sagen, die nötigen Kompetenzen sind bei diesen Beispielen komplexer als das sequenzielle Aneinanderreihen der Comicbilder. Stil als Zeichen In Betracht der für einen Comic notwendigen Rezeptionskompetenzen, ist eine Lesart, die während der Rezeption des Comics ganz in der Geschichte aufgeht, möglich. Jedoch stellt sie nicht die einzige Option dar. Schon allein die Tatsache, dass die Bilder räumlich nacheinander folgen aber damit (in aller Regel) eine zeitliche Abfolge meinen, stellt die Konstruiertheit des Comics zu jedem Zeitpunkt seiner Rezeption zur Schau. Ein etwaiger

aus der verbreiteten Vorstellung der Seele als Lufthauch. Vgl.: Kemp. W.: Seele, in: Kirschbaum, Band 4, S. 138, Sp. 2

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Mindstyle ist somit nicht zwangsläufig auch die Position des Betrachters, weil eben die Mittel, mit denen eine solche Fokalisation intendiert wird, den Betrachter_innen wortwörtlich vor Augen und damit einer distanzierten, analytischen Betrachtung zur Verfügung stehen. Das eine solche analytische Betrachtung der Absicht des Comics, eine Geschichte zu erzählen, nicht im Weg stehen muss, sondern diese Kompetenz der Betrachter_innen die Geschichte erst möglich macht, soll das folgende Beispiel verdeutlichen. In den vorhergehenden Beispielen hatten wir es immer mit einem menschlichen Mindstyle zu tun, in der Comicserie Hawkeye24 gibt es ein ganzes Heft, das aus der Perspektive des alten, einäugigen Hundes, des Protagonisten erzählt wird. Die Mittel, mit denen der Eindruck dieser ,Hundeperspektive‘ erweckt wird, sind größtenteils piktogrammatischer Natur. (Abb. 7) Nur zum Teil (und gar nicht im graphischen Stil) orientieren sie sich an dem, was über die Wahrnehmungsbedingungen von Hunden bekannt ist. Innerhalb der Sprechblasen sind nur die Wörter lesbar, deren Bedeutung dem Hund geläufig sind. Dem graphischen Stil der diegetischen Welt wird ein ,Piktogrammstil‘ zur Seite gestellt, der die Wahrnehmungswelt des Hundes als Folie von Objekten darstellt, die auf ihre Umrisse reduziert sind. Sobald ein Objekt von Interesse ist bzw. die Aufmerksamkeit des Hundes weckt, werden die einsetzenden Assoziationsketten wiederum und konsequenterweise mit verbundenen Piktogrammen dargestellt. Das Hunde ihre Welt nicht in diesem Piktogrammstil wahrnehmen, war den Autoren und Zeichnern höchstwahrscheinlich bewusst. Die Entscheidung jedoch, die Strukturen des „Hundedenkens“ auf eine Art und Weise darzustellen, die dem in der Comicreihe etablierten Darstellungsstil fremd ist, befähigt die Rezipient_innen, die Motive und Handlungen des Hundes nachzuvollziehen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Begriff des Mindstyles – also die Zuschreibung von graphischem Stil, Stilunterbrechungen oder Stilheterogenität zu einem individuellen Bewußtsein in der Storywelt – ausreicht, um zu erklären, was rezeptionsästhetisch hier von den Betrachter_innen erwartet wird, damit sie die Geschichte nachvollziehen können.

24 Fraction, Matt: Die Serie handelt von den Abenteuern eines überdurchschnittlich begabten Bogenschützen, der für einen amerikanischen Geheimdienst arbeitet.

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Abbildung 7: Stilvariation als Zeichen für eine tierische Wahrnehmung in Matt Fractions Hawkeye

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Noch einmal: Im Kontrast zum Leitstil steht die vereinfachte graphische Darstellung, die im Hintergrund an Bauzeichnungen erinnert und auf dieser Folie Piktogramme benutzt. Die so evozierten Assoziationen sollen den Betrachter darüber informieren, wie der Hund die Welt wahrnimmt. Das macht meiner Meinung nach den eigentlichen Reiz der Lektüre aus: das Dechiffrieren der Diagramme in Bezug zu den Gedanken und Gefühlen des Hundes gerät zur eigentlichen Aufgabe der Betrachter_innen.25 In diesem Sinne ist der hier verwendete Stil also kein Mindstyle, denn es ist ganz bewusst kein Versuch, einen graphischen Stil anzuwenden, der einer Visualisierung dessen nahekommt, was wir über die Gedanken- und Gefühlswelt eines Hundes zu wissen glauben. Nicht nur die Piktogramme sind hier Zeichen, sondern der gesamte vereinfachte Stil verweist auf die Wahrnehmungsbedingungen des Hundes, er stellt sie nicht dar. Verweisen ist etwas, was Zeichen am besten können. Stil wird in der klassischen Kunsttheorie selten als Zeichen bezeichnet. In Kombination mit einer Narration musste allerdings geklärt werden, wie die Sichtweise, die uns der Stil auf die diegetische Welt gewährt, zu bewerten ist. In den bisher vorgebrachten Beispielen ging es um den kleinen Jungen Calvin, der die Welt schärfer sieht als die meisten Erwachsenen, den namenlosen tragischen Helden mit der eingeschränkten Sicht – die Sorte deprimierender Figuren, für die der Zeichner Chris Ware so bekannt ist – und einen einäugigen Hund. Das nächste Beispiel für einen spezifischen Mindstyle handelt von einem blinden Superhelden: „Imagine there were a color only you would see. What name would you pick out for it? Would you even bother to name it if no one else could experience it? When i was

25 „Piktogramme bilden den zeichentheoretischen Grenzfall von Bildern nicht aufgrund ihrer Abstraktheit, sondern weil ihre bildhaften Aspekte sich in der begriffsveranschaulichenden Funktion erschöpfen. Daher ist der kommunikative Gehalt von Piktogrammen und von den entsprechenden Ausdrücken, für die sie stehen, völlig identisch. Der einzige Unterschied zwischen Wort und Piktogramm besteht in ihrer Zugänglichkeit. Piktogramme lassen sich auf Grund ihrer visuellen Merkmale gegenüber Wörtern schneller identifizieren und besser erinnern. Dementsprechend ist die Frage nach ihrer Qualität ausschließlich durch vergleichende empirische Analysen der jeweiligen kognitiven Verarbeitungsprozeduren zu beantworten.“ in: Sachs-Hombach, S. 199

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a kid, i was permanently blinded by radioactive waste. The radiation -- the universes attempt at balance, if you believe in that sort of thing -- compensated by giving me an indescribable way of perceiving my surroundings. Vaguely like some crazy, 360 degree form of echolocation.“26

Mit diesen Worten werden im Comic ,Daredevil‘ die Wahrnehmungsbedingungen von Matthew Murdock, dessen Geheimidentität die Figur des Daredevils ist, umschrieben. Wie soll man nun eine unbeschreibliche Art der Wahrnehmung darstellen? Wie sieht der Mindstyle von jemandem aus, der sein Augenlicht durch einen Unfall mit radioaktivem Müll verloren hat, aber durch diesen radioaktiven Müll im Ausgleich eine unbeschreibliche Art der Wahrnehmung entwickelt? Abbildung 8: Stil als Zeichen für eine nicht darstellbare Wahrnehmung in Mark Waids Daredevil

26 Waid, keine Paginierung

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Bei allen Möglichkeiten, die uns das Konzept der Stilunterscheidung als Indikator für einen Mindstyle bietet, bleibt einem hier nur wiederum der Stil als Zeichen – für eben diese unbeschreibliche Art. Trotz Blindheit wird der Hauptprotagonist nicht nur Anwalt, sondern auch Kämpfer für die Gerechtigkeit. Mit seinem indescribable way of perceiving ist es ihm also auch möglich, einen Attentäter, der sich ihm von hinten nähert, zu lokalisieren und auszuschalten. Auch hier bezieht der Mindstyle von Daredevil seine Wirkung durch den Kontrast zum Leitstil der Serie, auch hier ist der gewählte Stil nur ein Vehikel um die eigentlichen Wahrnehmungsbedingungen anzudeuten. Diese an Echoortung erinnernde Darstellungsweise ist laut Eigenauskunft des Protagonisten nur ein vager Vergleich (Abb. 8). Das in dem Textblock angesprochene stark duftende Magazin, wird in dieser Darstellungsweise überhaupt nicht bildlich adäquat dargestellt. Sowohl das Erleben von Geruchs- als auch Geräuschphänomenen wird von dem hier verwendeten Stil nicht berücksichtigt Stil als Darstellung von mentalen Zuständen Das letzte Beispiel (Abb. 9) soll eine weitere Möglichkeit illustrieren, den graphischen Stil nicht zwangsläufig als Mindstyle zu interpretieren, sobald er vom Leitstil abweicht. Wir sehen die beiden Hauptprotagonisten während eines Streits, in einem Panel, aus dem jeglicher Leitstil verbannt wurde. Der titelgebende Asterios Polyp27 wurde mit blauem Strich gezeichnet und in seine geometrische Grundform zerlegt, seine Partnerin Hana erscheint in kräftigem Rot, ihr Körper wurde nicht geometrisch konstruiert, sondern aus einer Kritzelei heraus, gleichsam tastend, gefunden. Nicht nur die Art der zeichnerischen Ausführung lässt Rückschlüsse auf die Verfassung der Protagonisten zu, auch Mazzucchellis Entschluss, die verschiedenen Standpunkte des Disputes mit unterschiedlichen Primärfarben zu versehen, illustriert den jeweiligen Charakter. Entsprechend der vorhergehenden Charakterisierung ist Asterios in Blau gehalten, der gängigen Farbsymbolik der neueren Zeit folgend, gilt diese Farbe als ruhig, ernst und kalt, aber auch niederdrückend und melancholisch.28 Dementsprechend verweist Hanas Rot auf ihre lebhaften, emotionalen und warmen Charakterzüge. Die

27 Mazzucchelli, David 28 Vgl: Gage, S. 185 ff

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Attribute der beiden Figuren fügen sich in dieses Schema. Ein BauhausSofa von Le Corbusier, gezeichnet in demselben Stil wie Asterios und eine Katze, ein lebendes, fühlendes Wesen, dargestellt im Stil von Hana. In dieser Abbildung aus David Mazzucchellis Asterios Polyp haben wir es nicht mit der Darstellung von Wahrnehmungsbedingungen zu tun. Vielmehr geht es um die Darstellung von mentalen Zuständen; mittels des graphischen Stils soll eine visuelle Metapher für die emotionale Disposition der Protagonisten geschaffen werden. Das Dargestellte entspricht nicht der diegetischen Wahrnehmung der Charaktere. Abbildung 9: Stilmontage als Darstellung mentaler Zustände in David Mazzucchellis Asterios Polyp

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Zusammenfassung Die Funktionen des graphischen Stils im Comic: • • • • •

Darstellung eines Bewußtseinszustandes Darstellung der diegetischen Welt Stil als Zeichen Stil als Darstellung von mentalen Zuständen Stil als graphische Spur des Künstlers

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass Brüche im graphischen Stil auch zur Darstellung von Veränderungen im diegetischen RaumZeit-Kontinuum (Zeitreisen, Dimensionswechsel, etc.) verwendet werden können. Meines Erachtens handelt es sich hierbei um Mischformen von Bewusstseinszuständen, evtl. mentalen Zuständen und diegetischen Weltdarstellungen. Bei der Frage nach der Unterscheidung der Funktion des graphischen Stils als Darstellung eines Bewusstseinszustandes oder eines mentalen Zustandes ist es notwendig, eben diese Begrifflichkeiten genau zu differenzieren und sich die Möglichkeiten ihrer Darstellung im Comic bewusst zu machen. Darum ist es hilfreich, auf das, in geisteswissenschaftlichen Disziplinen verbreitete, ursprünglich psychologische Konzept des ,Altered State of Consciousness‘29 zurückzugreifen: „It denotes states in which the content form or quality of experiences is significantly different from ordinary states of consciousness and it depicts states that are not symptoms of any mental disorders. Due to the lack of a commonly accepted view on ordinary states of consciousness, this definition remains imprecise.“30 Sobald mittels des Stils also Erfahrungsqualitäten oder Wahrnehmungsbedingungen des Akteurs dargestellt werden sollen, kann dazu das Konzept des Mindstyles verwendet werden. „Der charakteristische phänomenale Gehalt des B.[ewusstseins] ist nicht öffentlich, sondern nur für die Person zugänglich, die sich in dem betreffenden sensorischen Zustand be-

29 Eingeführt wurde der Begriff durch Arnold M. Ludwig in seinem Aufsatz Altered States of Consciousness im gleichnamigen Sammelband, herausgegeben von Charles T. Tart, vgl.: Tart 30 Kokoszka, Andrzej: Altered State of Consciousness, in: Kazdin, Bd.1, S. 122, Sp.2

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findet.“31 Der Mindstyle dient der Vermittlung von subjektiven Bezügen einer Person auf Gegenstände der Wahrnehmung und des Denkens. Der Psychologe Arnold Ludwig listet 10 Charakteristika von veränderten Bewusstseinszuständen auf: „1. alterations in thinking; 2. disturbed time sense; 3. loss of control; 4. change in emotional expressions; 5. body image change; 6. perceptual distortions; 7. change in meaning or signifcance; 8. sense of the ineffable; 9. feelings of rejuvenation; 10. hypersugestibility“.32 Obwohl ursprünglich zur Beschreibung eines Krankheitsbildes gedacht, hilft uns diese Liste ein Verständnis dafür zu bekommen, welche Funktionsweise der graphische Stil im Comic erfüllen kann. Die Merkmale 1 und 5 treffen meiner Ansicht nach auch auf Susis Fantasiewelt in Abb. 3 zu. Mit dem Begriff des mentalen Zustandes33 soll vor allem der Unterschied zu physischen oder körperlichen Zuständen betont werden, damit ist die Darstellung von Emotionen, Meinungen, Begierden und Absichten usw. gemeint, nicht die Darstellung von (veränderten) Wahrnehmungsbedingungen. In solchen Fällen haben wir es nicht mit einem Mindstyle zu tun. Die expressive Kraft des graphischen Stils wird hier verwendet, um beispielsweise emotionale Ausnahmezustände adäquat zu illustrieren. Einerseits haben wir es mit Darstellung von Wahrnehmungsbedingungen zu tun, andererseits mit der Visualisierung eines mentalen Zustandes; der wiederum kann für den jeweiligen Protagonisten bewusst oder unbewusst sein, ein Traum, eine Fantasie, eine Erinnerung. Alles hier Angesprochene wird beeinflusst durch den graphischen Stil. Um einen durch graphische Differenz intendierten Mindstyle zu dechiffrieren, ist es notwendig, sich eben des graphischen Stiles als subjektive Sicht der diegetischen Welt bewusst zu werden. Die schlichte Anwesenheit eines graphischen Stils in einem Comic ist meines Erachtens nicht hinreichend, um ihn zur Sichtweise einer bestimmten Person innerhalb des Comics zu

31 Metzinger, Thomas: Bewusstsein, in: Sandkühler, S. 278, Sp.2 32 Kazdin, Bd. 1, S. 123, Sp.1 33 Gessmann: Mental, in: ders.: „Mental [...], ein in der philos. Fachsprache im Kontrast zu >physisch< oder >körperlich< verwendetes Adj., das meist mit ,psychisch‘ wiedergeben werden kann. Zu den m.en Entitäten rechnet man Meinungen (engl. beliefs), Begierden (Begehren) bzw. Wünsche (desires), Absichten (intentions), Stimmungen (moods), aber auch Empfindungen (sensations).“ S. 483, Sp. 2

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erklären. Diese Illusion wäre in dem Moment zerstört, in dem der Protagonist selbst innerhalb ,seines‘ Stils agiert oder andere Protagonisten dieselbe Weltsicht teilen. Die Konnotation eines graphischen Stils als Mindstyle ist ein Vorgang, der bewusst vom Rezipienten nachvollzogen und daher im Comic konstruiert werden muss. Wenn ein Mindstyle auf der graphischen Ebene spürbar werden soll, benötigt der Rezipient hinreichende Hinweise, um das Dargestellte als Mindstyle zu erkennen und eine Innenperspektive einzunehmen. Auf Grundlage dieser Unterscheidungen kann eine Analyse der verwendeten Stile Aufschluss über die Intention der Zeichner_innen geben und einer Interpretation des gesamten Comics zuträglich sein.

3

Der Integrationseffekt

Die häufig formulierte, profan erscheinende Feststellung, dass sich eine Comicgeschichte aus Bildern konstituiert, die sich unter narrativen Gesichtspunkten aufeinander beziehen, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als komplexes Gefüge verschiedenster Modi der Zeichencodierung. Bereits Scott McCloud hat in seinem Schlüsselwerk Comics richtig lesen1 verschiedene Kategorien der Bildübergänge vorgeschlagen. Diese strukturieren sich nach der Länge der verstrichenen Zeit zwischen den Panels, unter der Maßgabe, dass die Bilder selbst die entsprechenden Schlüsselmomente darstellen. Beherrschen die Rezipient_innen diese Kategorien, ergibt sich daraus der ,Lesefluss‘. Obwohl die Begriffe ,Lesen‘ und ,Text‘ in der aktuellen Rezeptionsforschung kognitive Konzepte meinen und ihre althergebrachte Bedeutung von ,Verstehen von Buchstaben/Wörtern‘ und ,sinnvoll geordnete Wörter‘ nur einen Aspekt im Spektrum des Begriffes ,Lesen‘ ausmacht, besteht grade in diesem tradierten Verständnis die Gefahr, der Bildsequenz durch einen Vergleich mit der Textsequenz nicht gerecht zu werden. Der englische Originaltitel von McClouds Buch – Understanding Comic‘ – spiegelt den interdisziplinären Versuch, den Comic in seinen Strukturen und Funktionsweisen zu verstehen, adäquater wieder als seine deutsche Übertragung. Wie im Abschnitt zum graphischen Stil bereits dargelegt wurde, kann es auch Bilder geben, die neben der Darstellung eines Handlungsmomentes einen weiteren Eigenwert mitbringen.

1

McCloud, 1997

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3.1 EIN BEISPIEL FÜR DEN INTEGRATIONSEFFEKT Im diesem Bildbeispiel (Abb. 10) sehen wir einige ungeordnete Panels vor einem Gebäudegrundriss. In diesen Panels sehen wir eine erwachsene Frau, die einem Jungen die Hausregeln erklärt. Um anzudeuten, dass es sich um sehr viele Regeln handelt, wurden die Panels unsystematisch über den Hausgrundriss verteilt. Das Beispiel stammt aus Logicomix – Eine epische Suche nach der Wahrheit2. Dabei handelt es sich um einen Versuch, das Leben des Philosophen Bertrand Russell nachzuzeichnen. Auch seine jüngsten Einflüsse und Erlebnisse in der Kindheit, werden auf den ersten Seiten erzählt. Aus einem ihm unbekannten Grund wird er früh von seinen Eltern getrennt und zu seinen Großeltern geschickt. Das Gebäude, in dem er aufwächst, ist Teil eines herrschaftlichen Anwesens und hat entsprechende Dimensionen. Bemerkenswert ist hier die Verwendung des Gebäudegrundrisses. Dass es sich bei einem großen Gebäude um einen entsprechend komplexen Gebäudeplan handelt, liegt auf der Hand. Solche Grundrisse, die zur Orientierung und schematischen Darstellung der Bausubstanz dienen, sind nicht lesbar ohne die Kenntnis der Regeln, nach denen sie zu ,lesen‘ bzw. zu verstehen sind. In einer ähnlichen Situation befindet sich der junge Russell als seine religiös-konservative Großmutter ihm in dem großen, noch unübersichtlichen Gebäude die mannigfachen Hausregeln predigt. Um dieses Gefühl zu illustrieren, bedienen sich die Zeichner_innen der strikten Funktionalität eines Grundrisses und verkehren die eigentliche Bildfunktion in ihr Gegenteil. Die vielen Hausregeln erscheinen weniger als Orientierungshilfe, sie sind vielmehr Ursache der Orientierungslosigkeit.

2

Doxiadis

Der Integrationseffekt | 57

Abbildung 10: Montage zweier Bildtypen zu narrativen Zwecken, A. Doxiadis Logicomics

Bauzeichnungen sind Ausdruck eines abstrahierenden Denkens, dessen grafische Repräsentation der Abbildung, der Bestandsaufnahme und der Planung dienen: „Bauzeichnungen sind Zeichnungen, die für die verschiedenen Bauphasen, sowohl in der Objektplanung, als auch in der Tragwerksplanung, zur technisch einwandfreien und sachlichen Darstellung baulicher Objekte dienen. Die Baukörper oder Bauteile werden in Grundrissen, Ansichten und Schnitten dargestellt. Der Inhalt dieser Zeichnungen ist normativ geregelt.“3 Trotz der anfänglichen Unübersichtlichkeit des großen Hauses und seiner Regeln ist vor allem klar, dass das Haus unter der

3

Holschemacher, S. 12.16

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Leitung der Großmutter steht. Der junge Russell versucht, kraft seiner Vernunft die Geheimnisse des Hauses und seiner Familie zu lüften. Dazu muss er einige der Regeln brechen, ganz ähnlich wie er in seinem späteren Leben auch gegen Konventionen und ungeprüfte Prämissen vorgehen muss, um der (logischen/mathematischen) Wahrheit näher zu kommen. Entsprechend dieses Leitmotivs der Geschichte um Bertrand Russell ist die Karte des Hauses ein Instrument, „entweder der Orientierung und Forschung oder des Ausdrucks imperialer Herrschaft, der Wissensmacht, des Seins und Bewusstseins.“4 Da die ursprüngliche Funktionalität der Bauzeichnung des Hauses aufgrund der Art und Weise der Integration als Comicbild nicht (mehr) gegeben ist, sie ist angeschnitten und teilweise von anderen Panels überdeckt, dient die außer Kraft gesetzte Funktionalität als Metapher für die anfängliche Orientierungslosigkeit. Die Erzählperspektive und die Informationen, die uns die Geschichte zur Verfügung stellt, platziert die Betrachter_innen näher an den jungen Russell als an seine Großmutter. Nichtsdestotrotz ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der funktionellen Bauzeichnung und ihrer Wahrnehmung als Metapher für Orientierungslosigkeit, dass die Bauzeichnung gleichzeitig als Karte des Herrschaftsgebietes der Großmutter verstanden werden kann.Die ordnende, planerische Funktionalität einer Bauzeichnung wird, mittels dessen, was im Folgenden als Integrationseffekt vorgestellt werden soll, zu einer Metapher für die neue Lebenssituation, vor die der junge Bertrand Russell gestellt wird. Die Beispiele für den Einsatz verschiedenster Bildtypen im Comic sind zahlreich. Um einen komischen Effekt zu erzeugen, sehen die Betrachter im Band Reiseziel Mond5 der bekannten Serie Tim & Struppi die beiden Ermittler Schulze und Schultze, auf der Suche nach einem Einbrecher, hinter einem Röntgenschirm vorbeischleichen, auf dem ihre Skelette zu sehen sind. Die Kopie eines Fotos seines Vaters in KZ-Kleidung fügt Arthur Spiegelmann in seinen Comic ,Maus‘6 ein, um die Comicgeschichte mit der realen, biografischen Vergangenheit des Vaters zu verknüpfen und der Geschichte weitere Authentizität zu verleihen. In einem Comic7 von Chris Ware sehen wir eine startende Rakete, die, einer Querschnittsgraphik

4

Velminski, Wladimir: Mysterien der Kartographie, in: Bredekamp 2006, S. 225

5

Hergé: S. 26

6

Spiegelmann, Bd. 2, S. 134

7

Ware, n.p.

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gleich, ein großes Loch in der Außenhaut aufweist, ohne das die in dem Comic handelnden Protagonisten daran Anteil nehmen würden, den Betrachter_innen aber Aufschluss über den inneren Aufbau der Rakete liefern. In ,Spirou, Ein Portrait eines Helden als junger Tor‘8 dient eine Landkarte von Europa nicht nur dazu, den Betrachter_innen Informationen über Ort und Zeit der Handlung zu geben, sondern auch den Hauptprotagonisten darüber zu informieren, warum das Mädchen, in das er verliebt ist, sich der Résistance anschließt. Die Handlung spielt während des Zweiten Weltkrieges und die von den Nationalsozialisten besetzten Länder sind auf der Karte mit einem Hakenkreuz versehen. In dem Werk ,Logicomics‘9, aus dem auch die beiden ausführlich besprochenen Beispiele dieses Abschnittes stammen, finden sich Darstellungen von Landschaften, in der zwei der Protagonisten spazieren gehen und gleich mehrmals abgebildet sind. Dass es sich nicht um Doppelgänger handelt, deuten die Sprechblasen an, in denen sich ein Gespräch zwischen beiden fortsetzt. Gleichzeitig wird aber auch eine kunsthistorische Darstellungskonvention10 verwendet, die sich z.B. häufig in Gemälden des Leidenswegs Christi findet und als Simultanbild bezeichnet wird. Auch wenn das eine Unterbrechung im Lesefluss bedeutet, kann diese intendiert sein, sie bedeutet kein Versagen der Erzählung. Aufgrund der permanenten Konstruktionstätigkeit des Rezipienten ist ein ununterbrochener Lesefluss zwar nicht ausgeschlossen, allerdings bedarf es zum Zwecke selbstreflexiver oder metadiegetischer Intentionen von Autor_innen oder Zeichner_innen keiner aufwändig gesetzten Hinweise auf die Materialität des Comics und die Konstruiertheit der Vermittlung, da diese der Rezeptionsoberfläche inhärent sind.

8

Bravo, S. 38

9

Doxiadis, S. 23 u. S. 202-3

10 Kemp 1996: S. 57 ff.

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3.2 IM WECHSELBALG DER GEFÜGE: BILDTYPEN, INTERTEXTUALITÄT, INTERMEDIALITÄT, MULTIMODALITÄT, INTEGRATION Was sind Bildtypen? Für den Comic lassen sich also zahlreiche Beispiele finden, in denen die Rezipient_innen es mit Bildern zu tun haben, deren Bedeutung von unterschiedlichen Verständnissen davon abhängt, wie ein Bild zu verstehen ist. Dies ist eine Facette der größeren Problematik des schwer zu fassenden Begriffs des Bildes. Der Bildwissenschaftler Hans Belting kann in dieser Hinsicht einen Überblick verschaffen. Lassen wir ihn ein wenig länger zu Wort kommen: „In den letzten Jahren ist die Rede über Bilder in Mode gekommen, aber dabei zeigt sich eine Diskrepanz der Redeweisen, die nur dadurch verschleiert wird, daß immer wieder wie ein Narkotikum der Begriff „Bild“ auftaucht. Er verbirgt die Tatsache, daß man nicht von denselben Bildern spricht, auch wenn man denselben Begriff wie einen Anker in die Untiefen der Verständigung auswirft. Es kommt immer wieder zu Unschärfen in der Rede über Bilder. Manche erwecken den Eindruck, als zirkulierten sie körperlos, wie es nicht einmal die Bilder der Vorstellung und der Erinnerung tun, die doch unseren eigenen Körper besetzen. Manche setzen Bilder generell mit dem visuellen Bereich gleich, womit alles Bild ist was wir sehen, und nichts mehr Bild bleibt mit einer symbolischen Bedeutung. Andere identifizieren Bilder pauschal mit ikonischen Zeichen, welche in der Referenz der Ähnlichkeit an eine Realität gebunden sind, welche nicht Bild ist und dem Bild überlegen bleibt. Endlich gibt es den Diskurs der Kunst [...]. Nicht nur reden wir von ganz verschiedenen Bildern auf die gleiche Weise. Wir wenden auch auf Bilder gleicher Art ganz verschiedene Diskurse an.“11

Eine Bildkompetenz, also eine Kenntnis der Konventionen der verschiedenen Bildtypen, muss beim Betrachter vorausgesetzt werden, um auch die oben beschriebenen Beispiele so zu interpretieren, wie es hier vorgeschlagen wurde. Der Kontext eines Bildes bzw. sein Status als Werkzeug, Ikone,

11 Belting, 2001, S. 11

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Karikatur etc. ist wesentlich für die Bedeutung des Bildes. Kunst und Kunstgeschichte, Religion, private Erinnerung, Beweismittel, Diagnoseinstrument, naturwissenschaftliches Werkzeug oder Verkaufshilfe, die Praxis der Bilder kann viele Formen annehmen. Das übergeordnete Konzept des Bildes fächert sich somit auf in die verschiedenen konkreten Bildpraktiken. Hans Belting skizziert in seiner Bild-Anthropologie12 die Möglichkeitsbedingungen der Wahrnehmung von bildlicher Repräsentation als sozialen Akt. Die Frage danach, was ein Bild war, ist und höchstwahrscheinlich auch sein wird, lässt sich an einem roten Faden der Revolutionen beantworten. Die verschiedenen Vorstellungen davon, wie ein Bild repräsentiert, lässt die Betrachter_innen weniger als Konsumenten, sondern vielmehr als Ursache der verschiedenen Medialitäten von Bildern erscheinen. „Die Metapher von Bildern als ,Nomaden der Medien‘, die in veränderten Umgebungen und Displays immer wieder neu inszeniert werden, stellt die jeweilige rezeptionelle und individuelle Gegenwart in den Vordergrund. Nach Belting erreichen Bilder unsere Körper seit jeher über unterschiedliche Medien, das Bild-Artefakt wird in seiner wechselnden Rolle zwischen mentaler und physischer Existenz beschrieben.“13

Ergänzend erinnert der Bildwissenschaftler Klaus Sachs-Hombach daran, dass Bilder als ,wahrnehmungsnahe Zeichen‘ zu verstehen sind. Mit dem Begriff der Wahrnehmungsnähe können Gegenstände versehen werden, denen wir einen „Inhalt auf Grundlage unserer Wahrnehmungskompetenzen zuteilen“.14 Entscheidend ist hier weniger, dass durchaus auch (kulturell vermitteltes) Wissen notwendig ist, sondern dass, um den Bildinhalt zu interpretieren, „der Rekurs auf Wahrnehmungskompetenzen konstitutiv ist“.15 Von einem engen Bildbegriff ausgehend und damit Phänomene wie ,innere Bilder‘ u.ä. ausschließend, postuliert Sachs-Hombach drei Bildtypen: darstellende Bilder, Srukturbilder und reflexive Bilder.

12 Belting, 2001 13 Reisinger, Gunther: Hans Belting, in: Naredi-Rainer, Paul von, S. 35 14 Sachs-Hombach, S. 88 15 Ebd.

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„Allen Bildtypen ist gemeinsam, dass sie wahrnehmungsnah zu interpretieren sind. Sie unterscheiden sich aber in der Art ihres jeweiligen Bildinhaltes und Bildbezuges. Bei den darstellenden Bildern besteht ein Entsprechungsverhältnis zwischen den visuellen Eigenschaften des Zeichens und entsprechenden visuellen Eigenschaften eines Gegenstandes. Die Strukturbilder zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass keine Entsprechungen zwischen Eigenschaften, sondern zwischen Eigenschaftsrelationen vorliegen und hierbei auch nicht-visuelle Eigenschaften in visuelle übersetzt werden können. Der Ausdruck ,reflexive Bilder‘ bezeichnet schließlich die Klasse der Bilder, die bildhafte Darstellungsverfahren in bildhafter Weise thematisiert. Hierzu zählen vor allem Werke der bildenden Kunst.“16

Eine Differenzierung innerhalb dieser Bildtypen richtet sich laut SachsHombach danach, in welchem Maße das jeweilige Bild wahrnehmungsnah ist. D.h. es ergibt sich ein Spektrum von fotorealistischen Bildern bis hin zu Ideogrammen.17 Dieses Vorgehen, den Oberbegriff des Bildes in verschiedene Unterkategorien zu unterteilen, lässt sich bei vielen weiteren Bildwissenschaftlern beobachten.18 Der Vorschlag, das oben beschriebene Phänomen, dass verschiedene Bildtypen innerhalb einer Comicerzählung auftauchen, als Integrationseffekt zu bezeichnen, erscheint insofern notwendig, als bereits vorhandene Konzepte zum Umgang mit verschiedenen Ausdrucksressourcen innerhalb eines Werkes entweder die spezifischen medialen Eigenschaften von Bildern nicht berücksichtigen oder auf anders gelagerte Medienkonstellationen ausgerichtet sind. Intertextualität Das literaturwissenschaftliche Konzept der Intertextualität bezeichnet einfache bis vielschichtige Bezüge zwischen Texten. Da wir es bei dem Grundriss-Beispiel auch mit einer Bezugnahme zwischen Bildern zu tun haben, ein Bild sich sogar wesentlich von den anderen unterscheidet, weil es aus einem völlig anderen Kontext in die anderen Bilder eingefügt wurde,

16 Ebd., S. 191 17 Vgl.: ebd., S. 192 18 Vgl. Mitchell, Wesing 2008

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erscheint der Versuch lohnenswert, das Konzept der Intertextualität auf dieses Phänomen anzuwenden. Die Intertextualitätsforschung versucht Bezüge zwischen konkreten Texten und anderen, im weitesten Sinne zugrundeliegenden Texten aufzuspüren. Es wird mit Intertextualität „auf unterschiedliche Aspekte textuell repräsentierter wechselseitiger Beziehungen zwischen Texten Bezug genommen, d.h. auf Texteigenschaften, welche die Produktion oder Rezeption eines Textes von der Kenntnis eines oder mehrerer vorher aufgenommener Texte abhängig machen.“19 Ob der Begriff der Intertextualität für das Verwenden verschiedener Bildtypen in einer Comicnarration fruchtbar gemacht werden kann, hängt meines Erachtens von der Frage ab, ob die Texte, auf die Bezug genommen wird, in einer vergleichbaren Art und Weise wirksam sind, wie es die integrierten Bildtypen sind, oder ob wir es hier mit einer strukturell anderen Funktionsweise zu tun haben. „Zu den Erscheinungsformen solcher Text-Text-Relationen, die unter Intertextualität zusammengefasst werden, gehören

im Wesentlichen sprachlich-kommunikative

Charakteristika eines Textes, die seine Zugehörigkeit zu einer Textsorte kenntlich machen [...], das für bestimmte Textsorten (z.B. Richtigstellung, Parodie, Rezension) konstitutive Merkmal der Bezugnahme auf ein vorgängiges Textexemplar, ein die Textintention des Originaltextes veränderndes Wiederverwenden, Zitieren oder Inszenieren eines Textes“20.

Gérard Genette unterscheidet zwischen fünf Typen der Intertextualität, die er Transtextualität nennt. Aus diesen Typen der Paratextualität, Metatextualität, Architextualität, Hypertextualität und Intertextualität, erscheint mir nur der letztere Typ mit seiner Eigenschaft „der effektiven Präsenz eines Textes in einem anderen Text“21, der Eigenschaft der Übernahme der originären Wirkmächtigkeit der Bilder verwandt. Diese effektive Präsenz allerdings geschieht nur in Form von Zitat, Plagiat oder Anspielung. Der direkten Präsenz der Bilder im Comic entspricht keiner dieser abgeschwächten Formen. Durch die Bezugnahme bzw. Kommentarfunktion der Texte wird die ursprüngliche Funktion/Wirkmächtigkeit der Texte, auf die Bezug ge-

19 Pätzold, Jörg: Intertextualität, in: Glück: S. 314, Sp. 2 20 Ebd. 21 Genette: S. 10

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nommen wird, aufgehoben bzw. gemindert. Bei der Frage nach der zu konservierenden Wirkmächtigkeit eines Textes bei intertextuellen Bezugnahmen kann es immer nur Variationen des Textes geben. Genette formuliert es etwas drastischer: „Es ist unmöglich, einen Text direkt nachzuahmen, er läßt sich nur indirekt nachahmen, indem man seinen Stil in einem anderen Text verwendet. Nebenbei bemerkt, gilt dies jedoch nur für die Literatur und die Musik, da es die Nachahmung in den bildenden Künsten sehr wohl gibt [...] Dieser Bedeutungsunterschied verweist auf den unterschiedlichen Status dieser beiden Kunstrichtungen bzw., wenn man diese Formulierung vorzieht, auf eine Besonderheit des Status jenes Typs (literarischer oder musikalischer) Werke, die aus Texten bestehen, kurzum eine Besonderheit von Texten, welche nur im Rahmen einer ästhetischen Phänomenologie beschrieben werden könnte, d.h. einer, wie ich meine, komparativen Analyse der den verschiedenen Künsten eigentümlichen Idealitätstypen. Hier mag es genügen, diesen Unterschied festzuhalten und daraus den Schluss zu ziehen, daß die direkte Nachahmung in Literatur und Musik im Unterschied zu ihrer Rolle in den bildenden Künsten keineswegs einen bedeutungsschaffenden Akt darstellt.“22

Die Möglichkeit der Übernahme verschiedener Bildtypen unter eine Narration stellt einen bedeutungsschaffenden Akt des Comics dar. Der Punkt, den ich mit dem Begriff des Integrationseffektes herausstellen möchte, ist der, dass die integrierten Bilder nach wie vor, je nach Ausführung, ihre ganze oder zumindest einen Teil ihrer genuinen Wirkmächtigkeit behalten; ihre ursprüngliche Funktion sogar der Grund ist, weshalb sie für die Narration ausgewählt wurden. Der Versuch einer Analogiebildung von Intertextualität auf so etwas wie eine Interpiktoralität, ist also aufgrund der medialen Differenz von Bild und Text nicht möglich, er würde das hier besprochene Phänomen nicht adäquat abbilden. Was hier mit medialer Differenz gemeint ist, kann an der näheren Betrachtung des Begriffes ,Bildzitat‘ demonstriert werden. Ziel dieses kurzen Exkurses ist es nicht, den in der akademischen Praxis gängigen Begriff des Bildzitates zu diskreditieren. Es kann durchaus, in vielen Formen, Bezug genommen werden auf die Wirkmächtigkeit eines Bildes.

22 Ebd., S. 111

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Bedeutsam für das Konzept des Integrationseffektes ist allerdings, was ein Bildzitat sehr streng genommen nicht kann. Der Punkt, der hier noch mal besonders betont werden soll, ist, dass Bild und Text jeweils unterschiedliche rezeptionsästhetische Eigenschaften haben. Betrachten wir den Begriff ,Bildzitat‘ nämlich nur unter diesem Aspekt, steht er streng genommen unter Verdacht, zwei unvereinbare Grundbestandteile gewaltsam zu vereinen, weil er eben diese mediale Unüberbrückbarkeit zwischen Bild und Text vertuscht. Betrachtet man den Begriff ,Zitat‘, im engen Sinne des Wortes, als textliche Form des Anführens und Aufrufens, so intendiert ,Bildzitat‘ eine unmögliche Vorgehensweise. Die rhetorische Figur des ,Bildzitates‘ erscheint mir unter erkenntnistheoretischen Aspekten als fruchtlose Anstrengung, da sie nicht zu realisieren ist. Die Möglichkeit der viel besprochenen technischen Reproduzierbarkeit23 von Bildern und evtl. auch die Eigengesetzlichkeiten der Comicbilder untereinander, in der die Sequenzialität – wie bei Texten – eine große Rolle spielt, darf nicht zu dem Fehlschluss führen, dass Bilder zitiert werden können. Im weitesten Sinne kann an das Erinnerungsvermögen der Betrachter_innen appelliert werden. Selbstverständlich bietet auch die Reproduktion eines Bildes sensorische Qualitäten, die es wiederum als Bild auszeichnen; und auch eine Angabe wie z.B.: Claude Monet, Seerosen, um 1920, Öl auf Leinwand, Triptychon, jede Tafel 200 x 245 cm, ruft eventuell ein mentales Bild hervor. Nun hat ein Zitat allerdings die Aufgabe/Möglichkeit, Bedeutungen, Argumente, Belege und Begründungen zu konservieren und an anderer Stelle wirken zu lassen. Weder die Angabe, noch das innere Bild haben aber die Qualität der direkten Wahrnehmung von Monets Seerosen, sie ist nicht zitierbar. Ein Bild kann so gesehen nicht zitiert werden, es ist aufgrund seiner medialen Beschaffenheit nur möglich es zu zeigen oder es eben nicht zu zeigen.

23 Walter Benjamins Standardwerk Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit folgend, gibt es durchaus einen Unterschied zwischen Kopie und Original. Der allerdings ist nicht deckungsgleich mit dem Unterschied zwischen Text und Bild. Vgl.: Benjamin

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Intermedialität Ein der Intertextualität vergleichbares Konzept, welches jedoch nicht vor Schwierigkeiten gestellt wird, wenn es mit dem Zusammenwirken verschiedener Medien umgehen muss, sondern gerade die „Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene“24 zum Untersuchungsgegenstand hat, ist das der Intermedialität. „Um Unterschieden der genannten Art und damit verschiedenen Manifestationsformen des Intermedialen gerecht zu werden, mit denen man es in der literatur- bzw. kunstwissenschaftlichen Analysepraxis immer wieder zu tun hat, werden in Intermedialitätskonzepten dieser Provenienz gemeinhin verschiedene Subkategorien von Intermedialität angesetzt. Ausgegangen wird dabei von der Beobachtung, dass konkrete mediale Konfigurationen, je nachdem, mit welchen Phänomenen man es im Einzelnen zu tun hat, unterschiedliche Qualitäten des Intermedialen aufweisen, aus denen sich unterschiedliche Intermedialitätsbegriffe im engeren Sinne ableiten lassen.“25 Irina O. Rajewsky unterscheidet hier zwischen drei „Subkategorien des Intermedialen“26. Als Medienwechsel (z.B Literaturverfilmungen), Medienkombination (z.B. Klangkunstinstallationen) und intermediale Bezugnahme („Phänomene ... die in der Forschung auch als ,filmische Schreibweise‘ oder ,Musikalisierung der Literatur‘ bezeichnet werden“27) werden diese drei Phänomene bezeichnet. Wobei es nach Rajewsky einen qualitativen Unterschied zwischen Medienwechsel einerseits und Medienkombination und intermedialer Bezugnahme andererseits gibt. Im Medienwechsel liegt die Intermedialität darin, dass der „Produktionsprozess des jeweiligen medialen Produkts, z.B. einer Literaturverfilmung“28, gebunden ist an einen „Ursprungstext [...] und deren Genese folglich ein Transformationsprozess intermedialen Charakters zu Grunde liegt.“29 Bei Medienkombinationen und intermedialen Bezugnahmen grei-

24 Rajewsky, S. 12 25 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung, in: Paech, S. 53 26 Ebd. 27 Ebd. S. 53 f 28 Ebd. S. 54 29 Ebd.

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fen Merkmale von mindestens zwei Medien in den Prozess der Bedeutungsschaffung, „in the significaton and/or structure of a given semiotic entity“30 ein. „Dabei kann es aufgrund der nicht zu tilgenden medialen Differenz natürlich immer nur zu einer mehr oder weniger starken, in jedem Fall aber asymptotisch zu denkenden Annäherung an das aufgerufene Bezugssystem kommen. Eine Realisierung bzw. Aktualisierung desselben ist faktisch unmöglich: Das Tanztheater kann nicht zu Malerei werden, ebenso wenig wie Malerei ihrerseits etwa genuin fotografisch werden kann, wie dies der Fotorealismus zuweilen zu suggerieren scheint; aufgebaut werden kann immer nur eine entsprechende Illusion.“31

Nach dieser Lesart haben wir es bei verschiedenen Comicbildern nicht mit einer intermedialen Bezugnahme zu tun, sondern mit etwas, das einer Medienkombination ähnelt. Ein dominantes Bezugssystem, dem sich das andere anzupassen strebt, kann unter Comicbildern gerade nicht postuliert werden, weniger weil wir es in allen Fällen immer noch mit einem Bild zu tun haben, sondern weil die verschiedenen Bildtypen gleichberechtigt der Narration Bedeutung verschaffen. Für den hier vorgestellten Sachverhalt der Verwendung verschiedenster kodierter Bilder im Comic, stellt sich die Frage, ob das Konzept der Intermedialität Begriffe bereitstellt, die diese Funktionsweise näher erläutern. Es gibt beim herkömmlich gedruckten Comic32 zwar keine Möglichkeit, das Medium zu wechseln, betrachten wir jedoch die Art und Weise, wie Bedeu-

30 Wolf,W.: Intermediality, in: Herman, S. 253 31 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung, in: Paech, S. 57 32 Bei digitalen Comics und der Möglichkeit Filme, Animationen, etc. einzufügen, muss die Frage nach der Intermedialität neu verhandelt werden. Eine Frage, die sich zwangsläufig stellt ist, ob sich bei der Analyse der möglichen Intermedialitäten des Comics das genuin Wesentliche des Comics herauskristallisieren lässt, oder uns grade die zahlreichen intermedialen Spielarten vor Augen führen, dass eine medienkonstituierende Definition unmöglich ist, da wir es mit einem Medienhybriden zu tun haben. Daran anschließend stellt sich die alte Frage, was unter einem Medium zu verstehen ist, was hier wiederum auch noch hybridisiert wird.

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tung entsteht – indem ein neuer/anderer Bildtypus in die Bildgeschichte integriert wird – haben wir es innerhalb des bildlichen Spektrums des Comics mit einem Effekt zu tun, der mit intermedialen Funktionsweisen durchaus vergleichbar ist. Die Bezeichnung der unterschiedlich medialisierten Bilder bietet hier eine sinnvolle Differenzierung. Diesen Effekt allerdings mit Intermedialität zu bezeichnen, wäre dahingehend nicht angemessen, als wir es hier intensional zwar mit unterschiedlich kodierten Bildern zu tun haben. Doch auch wenn die Comicbetrachter_innen es mit zu unterscheidenden Arten der Bezugnahme und verschieden Betrachtungsweisen von Bildern zu tun haben, wird extensional die bildliche Ebene nicht verlassen, es findet hier keine Überschreitung zwischen Medien (Intermedialität) statt. Multimodalität Ebenso gibt es Aspekte im Konzept der Multimodalität, mit denen man sich dem Phänomen der verschiedenen Bildtypen nähern könnte. Einerseits haben wir es bei multimodalen Werken mit einer „gleichzeitige[n] Wirksamkeit von Wort, Bild und Ton und anderer semiotischer Modi“33 zu tun. Weiterhin determinieren erst alle „vorhandenen Zeichen zusammen ... [den] kommunikativen Gehalt.“34 Verstehen wir also unter Multimodalität die Möglichkeit, auf mehr als eine Ausdrucksressource zurückzugreifen, kann gesagt werden, dass angesichts der Verschiedenheit und Spezialisierung der Bildfunktionen, die sich im Comic finden lassen, durchaus von bildlichen Ausdrucksressourcen im Plural gesprochen werden kann. Andererseits entspräche es nicht der eigentlichen Konzeption und Bedeutung des Begriffs der Multimodalität, Bilder als multimodal zu bezeichnen. Zur Differenzierung der Bedeutungsbildung durch Schrift, Bild und Induktion, ist der Begriff der Multimodalität nur eingeschränkt angemessen. Die verschiedenen Bildtypen teilen sich Materialität und vergleichbare Bedeutungsressourcen/Wahrnehmungsnähe, lediglich die Kontexte, aus denen heraus den verschiedenen Bildern Bedeutung zugeschrieben wird, sind zu unterscheiden.35 Schrift und Bild schöpfen aus verschiedenen Bedeutungsressourcen, verharren dabei aber im Modus der Sichtbarkeit. In der Bildsprache des Co-

33 Hallet, W., Multimodalität, in: Nünning, 2008, S. 250, Sp. 2 34 Ebd. 35 Vgl.: Kress, S. 86

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mics gibt es, wiederum visuell codiert, Referenzen auf Töne, Gerüche und haptische Empfindungen, insofern handelt es sich – im besten Sinne des Konzepts der Multimodalität – um Multi-code-alität. Zusammenfassung Wie oben beschrieben, finden sich in dem Verfahren, verschiedene Bildtypen zum Zwecke einer Comicnarration zu sequenzialisieren, verschiedene intertextuelle, intermediale und multimodale Eigenschaften/Dimensionen. Gemäß dem intertextuellen Modell der Bezugnahme braucht es mitunter vorherige Kenntnis, um Bedeutungsdimensionen zwischen Comicbildern zu erkennen. Das Wissen um die Bildformel des „Wanderers über dem Nebelmeer“ legt die Intention der Zeichner des Comicbildes offen zu Tage (vgl. Abschnitt 3.3). Nichtsdestotrotz bleibt bei einer Unkenntnis die Wirkmächtigkeit der Bildformel erhalten, auch wenn sie evtl. nicht sprachlich bewusstgemacht werden kann. Obwohl, wie die Intermedialität es fordert, keine mediale Differenz vorliegt, haben es die Betrachter aufgrund der unterschiedlichen Provenienz der Bilder mit unterschiedlichen Ausdrucksressourcen zu tun. Die erfolgreiche Betrachtung eines Röntgenbildes verlangt eine andere Kompetenz als die Betrachtung eines nach mimetischer Korrektheit strebenden Bildes. Dass es sich bei den verschiedenen Bildtypen um verschiedene Modi handelt, lässt sich insofern ausschließen, als es sich bei einem noch so abstrakten Bild immer noch um ein wahrnehmungsnäheres Ding handelt als ein Schriftzeichen. Das Konzept der Multimodalität bietet sich insofern an, die Kombination von Bild und Schrift zum Zwecke einer Comicerzählung zu untersuchen.

3.3 EIN ZWEITES BEISPIEL FÜR DEN INTEGRATIONSEFFEKT In einem weiteren Beispiel (Abb. 11) aus ,Logicomix – Eine epische Suche nach der Wahrheit‘, sehen wir in der Bildmitte unseren Protagonisten Bertrand Russell als jungen Mann in der Rückansicht. Er steht am Rande einer Klippe, mit beiden Beinen fest auf dem Boden lehnt er seine Körpermitte ein wenig nach vorne. Die Arme hält er, seitlich von sich gestreckt, schräg nach oben. Das darunterliegende Tal ist mit Nebel/Wolken gefüllt, nur ver-

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einzelt ragen Steinformationen daraus hervor. Im Vordergrund wird der gesamte linke Bildrand von einem Baum eingenommen, der untere Bildrand von Büschen. Abbildung 11: „Verschmelzung“ diverser Vor-Bilder, A. Doxiadis Logicomics

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Über die Bildfläche des wolkenbetürmten Himmels wurde ein Zitat aus dem Gedicht ,Alastor oder der Geist der Einsamkeit‘ von Percy Bysshe Shelley gelegt. Während sich die vorigen Zeilen des Gedichtes schon in den vorigen Bildern finden, stellt dieses Bild und die entsprechende Zeile den Höhepunkt dieser Sequenz dar. Nach einer schwierigen Kindheit, die – wie im ersten Beispiel dieses Abschnitts beschrieben – geprägt war von einem allzu streng geregelten Alltag, Verboten und religiösem Konservatismus, gelangt unser Protagonist in dieser Szene zu einer neuen, selbstbestimmten Freiheit. Wir sehen den Moment, in dem Russell seinen familiären, konservativen Ballast hinter sich lässt und nur Vernunft und Logik als Richtlinien für sein weiteres Leben und Wirken akzeptiert. Auf der bildlichen Ebene findet sich eine Strategie, diesen Freiheitsmoment zu illustrieren, die ein gutes Beispiel dafür liefert, was hier mit Integrationseffekt gemeint ist. Dieses Bild integriert gleich mehrere Bilder aus der Kunstgeschichte. Eine detaillierte Kenntnis dieser Bilder erhöht natürlich die Bedeutung dieser Bildermelange, jedoch soll im Folgenden nicht behauptet werden, die Zeichner_innen dieses Comics seien nur auf eine kunsthistorisch versierte Zielgruppe fokussiert. Im Gegenteil, mit der Zuhilfenahme bereits erfolgreicher Bildformeln wird ein wichtiger Punkt in der Handlung auch auf der bildlichen Ebene markiert. Um mit Aby Warburg36

36 Warburgs Konzept der Pathosformeln liefert für den beschriebenen Vorgang das angemessene Vokabular. Es muss darauf hingewiesen werden, dass sich der Zeichner der Übernahme der Friedrich-Gemälde mit Sicherheit bewusst war. Was ihn aus dem Warburg-Konzept nicht ausschließt, aber zu einem Sonderfall macht. Somit haben wir es produktionsästhetisch mit einer nicht markierten Bildwiedergabe, rezeptionsästhetisch mit der Verwendung oben beschriebener Pathosformel zu tun. (Vgl.: Didi-Huberman, S. 212 – 224) Auch die Beobachtungen des Erkenntnisphilosophen Ernst Cassirer liefern Einsichten zum Begriff der Pathosformel: „Denn sein [Warburgs A.d.A] Blick ruhte nicht in erster Linie auf den Werken der Kunst, sondern er fühlte und sah hinter den Werken die großen gestaltenden Energien. Und diese Energien waren ihm selbst nichts anderes als die ewigen Ausdrucksformen menschlichen Seins, menschlicher Leidenschaft und menschlichen Schicksals. So wurde alle bildende Gestaltung, wo immer sie sich regte, ihm lesbar als eine einzige Sprache, in deren Struktur er mehr und mehr einzudringen und deren Gesetze er sich zu enträtseln suchte. Wo

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zu sprechen, lässt sich die Wirkmächtigkeit dieses Bildes auf das ,Lichtgebet‘ von Hugo Höppener (genannt Fidus) und zwei Bilder des Malers Caspar David Friedrich zurückverfolgen. Während das Lichtgebet (mehrfache Ausführungen, erstmals 1908) gleichsam eine Ikone der sogenannten Jugendbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist37 und die Selbstfindung/Selbstbestimmung unseres Protagonisten schon illustriert, wird die Bezugnahme auf zwei besonders populäre Bilder aus dem Werk Caspar David Friedrichs hier tiefer analysiert. C.D. Friedrich hat mit seinen beiden Werken Wanderer über dem Nebelmeer (Abb. 12) und Kreidefelsen auf Rügen, so etwas wie die Formel geliefert, um diesen Moment der Selbstwerdung/Selbsterkenntnis darzustellen. Wobei die Nebellandschaft und die Rückenfigur auf der Klippe dem Wander über dem Nebelmeer und der Baum im linken Bildfeld dem Kreidefelsen auf Rügen zuzuschreiben sind. Anders als in den meisten Bildern von C.D. Friedrich, werden die Betrachter_innen in unserem Comicbild durch eine Buschreihe im direkten Vordergrund gleichsam aus dem Bild ausgeschlossen und somit weniger Teilhaber der Geschichte, sondern Betrachter dieses Bildes. Das hat zur Folge, dass die bildlichen Strategien nun genauer betrachtet werden können. Der Wanderer über dem Nebelmeer enthält neben einem religiösen und/oder politischen Interpretationsstrang auch einen frühromantischnaturmystischen, dessen Wirkung man auch für unser Beispiel geltend machen kann. Die Wirkmächtigkeit der „Allegorie für das menschliche Ausgesetztsein in der Welt“38 machen sich Autoren und Zeichner hier zunutze. In Kombination mit der dazugehörigen Narration des Comics haben wir es hier allerdings nicht mit einer schlichten Nachahmung zu tun.

andere bestimmte abgegrenzte Gestalten, wo sie in sich ruhende Formen gesehen hatten, da sah er bewegende Kräfte, da sah er das, was er die großen ,Pathosformeln‘ nannte, die die Antike als einen bleibenden Besitz für die Menschheit geschaffen hat.“ in: Cassirer, S. 370 37 Vgl.: Frecot 38 Lüttichau, Mario-Andreas von: Motive, in: Gaßner, S. 229

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Abbildung 12: C.D. Friedrich, Wanderer über dem Nebelmeer, 1818

Dieses Nachleben der Romantik, in der aus einem Wanderer über dem Nebelmeer ein Wahrheitssuchender vor seiner neuentdeckten Freiheit wird, funktioniert nicht nur dann, wenn die Betrachter auch C.D. Friedrichs Bilder hier als Vorbilder wiedererkennen. Es gibt zunächst einen augenscheinlichen Zusammenhang zwischen der dargestellten physischen Realität und der angestrebten Metapher. Der Wanderer/Bertrand Russell ist an einen Punkt gelangt, an dem er nicht

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mehr weiterkann. Hinter ihm allerdings liegt bereits erschlossenes Land. Wenn er also etwas Neues entdecken will, muss er das Alte mit neuen Augen sehen. Dieser neue Blickwinkel ist in Russells Fall die Philosophie. Weiterhin ist die Landschaft/die Welt, die er betrachtet, vom Nebel verschluckt, der Blick in die Tiefe verhüllt. Die Unklarheit und scheinbare Unbegrenztheit einer felsigen Nebellandschaft inszeniert in der romantischen Tradition eine existenzielle Ungewissheit.39 Nicht jedoch in unserem Beispiel, integriert man diese Beobachtung in die Geschichte des Comics, so verbirgt dieser Nebel das neue Weltbild, das es nun zu erkunden gilt. „Caspar David Friedrich nutzt die Weite seiner Meeresansichten, über die sich häufig Nebelschleier legen, um den Bildgegenstand mit dem Möglichkeitsraum der weißen Leinwand in Beziehung zu setzen.“40 Obwohl wir es de facto mit einer nebeldurchfluteten Felsenschlucht zu tun haben, erscheint mir ein Vergleich mit dem Motiv des Meeresbetrachters für die Interpretation angemessen. Wir haben es zwar nicht mit einer identischen, aber vergleichbaren Landschaftssituation zu tun. Schon in den mittelalterlichen Weltkarten konnte das Meer als „kosmologisch und damit das Anfang und Ende meinend interpretiert werden.“41 Auch für Bertrand Russell endet in diesem Bild ein Lebensabschnitt und ein neuer beginnt. Der Filmwissenschaftler Roman Mauer betont in seiner Untersuchung Das Meer im Film – Grenze, Spiegel, Übergang, dass „Naturräume in ihren Eigenschaften fiktionale und dokumentarische Erzählungen prägen und eigene Handlungsmuster, Standardsituationen und Figurenkonzeptionen, eigene Wahrnehmungsstrukturen, Atmosphären und symbolische Konnotationen im Kino provozieren können, die in der Kulturgeschichte tief liegende Wurzeln haben“42. Die Darstellung des (Nebel-)Meeres kann in diesem Sinne, jenseits seiner Funktion als Ort der Handlung, von den Betrachter_innen als Meta-

39 Trotha, Hans von: Verschiedene Empfindungen vor verschiedenen Landschaften, in: Gaßner, S. 49 40 Abel, Matthias: Anmerkungen zum Seestück, in: Mauer, S. 37 41 Holl, Oskar: Meer, in: Kirschbaum, Bd. 3, S. 240, Sp. 2 42 Mauer, S. 23. Roman Mauer kommt in seiner Untersuchung zu einem spannenden Punkt: „Die Frage ist: Lässt sich die vielgestaltige Dynamik des Wassers nur als metaphorisches Reservoir zur Übersetzung emotionaler Vorgänge verstehen oder als atmosphärische Qualität, die abseits der Symbolik auf die Gefühle des Zuschauers tatsächlich wirkt?“, ebd, S. 19

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pher für weiterführende Bedeutungsstränge der Geschichte und Vermittler des Gefühlslebens des Protagonisten gesehen werden. Der kunstwissenschaftliche Reflex, Caspar David Friedrich als Landschaftsmaler mit Erhabenheitsstrategien in Verbindung zu bringen, muss in diesem Fall unterdrückt werden, denn die Rückenfigur des Comicbildes wird eben nicht, wie es die Erhabenheitssituation fordert43, der Gefahr zwar ansichtig, aber nicht gefährdet. Die vermeintlich dargestellte Gefahr ist hier Darstellung innerer Konflikte, und die Landschaft samt Betrachter steht in unserem Beispiel metaphorisch für deren Auflösung. Die Erfahrung des Erhabenen ist auf einen äußeren Eindruck angewiesen. Der Zustand/die Situation, die uns diese Pathosformel präsentiert, ist eine innere, existenzielle. „Gegen derlei existentielle Erfahrungen hilft das Erhabene gerade dann nicht, wenn sie individuell sind, da das Erhabene strukturell ein kollektives und damit konventionelles Lösungsmuster darstellt. Hier ist die Sollbruchstelle zwischen Aufklärungsästhetik und Romantik.“44 Um diese Sollbruchstelle zu betonen, finden die geneigten Betrachter_innen dieses Comicbildes ein weiteres Bild aus der Kunstgeschichte integriert. Nicht ganz so offensichtlich, aber der inhaltlichen Deutung durchaus folgend, findet sich in der Rückenfigur des Comics, die, im Unterschied zum Wanderer über dem Nebelmeer, Arme und Beine ausgestreckt hat, eine Referenz an den sogenannten Vitruvianischen Menschen. Die wohl bekannteste Darstellung der Proportionsstudie des römischen Architekten Vitruvius (ca. 80–70 v.Chr. bis ca. 10 v.Chr.) stammt von Leonardo da Vinci. Wie der Kunsthistoriker Daniel Kupper zutreffend urteilt, fällt es „wie bei der Mona Lisa [...] auch hier schwer mit unverbrauchtem Blick auf die Zeichnung zu schauen: auf den homo vitruvianus oder Vitruvmann, dessen Rezeption in der europäischen Kulturgeschichte im neuen Jahrtausend dadurch gekrönt wurde, dass er die Rückseite der italienischen Eineuromünze zieren darf. Im Fach Kunstgeschichte wird die ungeheure

43 „Dagegen hat es in der philosophischen Tradition ständig ein starkes, ja heftiges Erlebnis bezeichnet. Erhaben ist z.B. der Anblick des tosenden Meeres, insofern ich mich als Lebewesen hier (potenziell) gefährdet fühle, ich mich aber zugleich auf eine zunächst rätselhafte Weise gleichsam über diesem Anblick und dieser Gefahr stehend fühle.“ Galland-Szymkowiak, Mildred: Erhabene, das; in: Sandkühler, Bd. 1, S. 571 Sp. 2 44 Gaßner, S. 54

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,Bildvernutzung‘ dieses Werks beklagt.“45 Nun ist es allerdings genau dieses allgemeine Bildgedächtnis, das in diesem besonders populären Fall dazu führt, in der Rückansicht des Comicbildes auch ein Echo von Leonardos Vitruvianschen Menschen auszumachen. Im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte wird der Vitruvianische Mensch mit vielen Bedeutungen aufgeladen, die nicht zwingend zur Intention Leonardos gehören müssen.46 Künstler wie Brunelleschi, der die mathematischen Gesetze der Zentralperspektive formulierte und somit gleichsam die menschliche Wahrnehmung zur geistigen Grundlage der Bildproduktion erhob, oder Donatello, der eben mit seiner Wahrnehmung und Naturbeobachtung Statuen schuf, die nichts mehr von „der unpersönlichen verklärten Schönheit mittelalterlicher Heiliger“47 haben, erkannten bereits das Studium der diesseitigen Welt, der Natur, der Darstellungsgesetze als wesentliche Quelle für neue Kunstwerke und Entdeckungen.48 An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass sich da Vinci in einem Maße auf seine Sinne und Vernunft verließ, wie vermutlich kein Künstler zuvor. Die Proportionsstudie des Vitruvianischen Menschen wird vor diesem Hintergrund zu einer Metapher für das neue Menschenbild der Renaissance. Dieses Menschenbild wird im Comic zur Darstellung der Selbsterkenntnis des Bertrand Russell verwendet.

3.4 ZUR DEFINITION DES INTEGRATIONSEFFEKTES I Obwohl hauptsächlich in sozialwissenschaftlichen Bereichen verwendet, lösen die Begriffe, die uns das Konzept der Integration liefert, das comicspezifische Problem der verschiedenen Bildtypen. Einerseits ist es in dem

45 Kupper: S. 59 46 Vgl.: Lester 47 Gombrich, S. 230 48 Vgl.: ebd.: S. 224-323, Die Entwicklung der Ölmalerei, die Erkenntnisse im Bereich der Anatomie, das neu erwachte Interesse an der Natur und den antiken Philosophen, usw.: die Ansprüche an einen Künstler, aber auch das (soziale) Selbstbild der Künstler änderte sich während der Renaissance auf grundlegende Weise.

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komplexen Bereich des Sozialen und seiner Wissenschaft problematisch, sich auf eine einzige Definition des Begriffs der Integration zu verständigen49, trotzdem haben alle Entwürfen einen „strukturgestaltenden Vorgang innerhalb von Gesellschaften“50 gemeinsam. Zweck der vorliegenden Untersuchung ist die Erforschung strukturgestaltender Vorgänge innerhalb von Comics. Wird nun ein Bildtyp, der kulturell anders kodiert ist als die Mehrheit der bereits vorhandenen Bilder, inmitten eben dieser Mehrheit platziert, so wird er, aufgrund der Prämisse, dass wir es mit einem Comic und mit einer Narration zu tun haben, als Teil der Bilderfolge dieses Comics in die Geschichte mit aufgenommen: Das Bild wird integriert. „Die Substantivbildung ,Integration‘ leitet sich vom lateinischen Adjektiv ,integer‘ ab [...] , ,integer‘ bedeutet ... ,unangetastet, unversehrt, unvermindert‘, sowohl in physischer ... als auch in moralischer bzw. psychischer Hinsicht [...].“51 Der Praxis des sozialwissenschaftlichen Integrationsbegriffs und der bildwissenschaftlichen Analogie folgend, bleiben auch die Bilder nicht immer hundertprozentig integer. Sei es durch eine Umkehrung ihrer Bedeutung, wie im Beispiel mit dem Grundriss (Abb. 10), oder durch die grafische Anpassung durch den gemeinsamen Zeichenstil (Abb. 11). Die Integration erfolgt durch die Narration. Eine nicht erfolgreiche Integration würde in unserem Fall bedeuten, dass im Bilderfluss ein Bild auftaucht, welches der Narration keine weitere Bedeutung beisteuert, sondern als Fremdkörper für eine nicht konstruktive Form der Irritationen sorgt. Dass wir es in aller Regel mit erfolgreicher Integration neuer Bildtypen zu tun haben, liegt also einerseits an der Hoffnung seitens der Autoren/Zeichner auf einen Nutzen für die Narration, anderseits an der grundsätzlichen Fähigkeit der Rezipient_innen, dem vorgebrachten Integrationswunsch zu entsprechen. Das Integrieren verschiedener Bildtypen trifft genau dann an seine Grenzen, sobald das Wissen um die Funktionsweise des Bildes die Bildkompetenz des Betrachters übersteigt. So ist ein Beispiel denkbar, in dem die detaillierte Auswertung eines Röntgen- oder Mikroskopbildes wesentlich zur Bedeutung einer Geschichte beiträgt, die Betrachter aber nicht über das notwendige Expertenwissen verfügen.

49 Vgl.: Zwengel, Almut: Integration, in: Endruweit, S. 201 ff. 50 Olshausen, Eckhart: Versuch einer Definition des Begriffs ,Integration‘, in: Beer, S. 32 51 Ebd.: S. 30

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II Wenn also die Handlung (plot, histoire, fabula) einer Geschichte mit den Mitteln des Comics umgesetzt wird, ist es möglich die verschiedenen Ursprünge bzw. die Spezialisierung der verschiedenen Bildtypen zur Ausarbeitung der Geschichte (story, discours, sujet) als bedeutungsschaffende Mittel einzusetzen. Als Fazit dieses Abschnitts ergibt sich die Definition des Integrationseffektes im Kontext der Comicforschung: Integrationseffekt Die Handlungsstrukturen der Geschichte und die Funktionsweisen der verschiedenen Bildtypen gehen eine Synthese ein, in der der ursprüngliche Zweck des Bildes direkt verwendet, verstärkt oder allegorisiert werden kann. Auf diese Weise konstruieren verschiedene Bildtypen, immer auf Grundlage ihrer originären Funktion, den Sinngehalt der Geschichte mit.

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Vom Text zur Narration „To be sure, the kinds of stories we are apt to notice, draw attention to their status as the product of storytelling, and they often have an entertaining side. We might therefore think that storytelling is a special performance rather than a constant mental activitiy. But story as a mental activity is essential to human thought. “ Mark Turner, The Literary Mind1

I Der amerikanische Künstler Christian Marclay war in der Ausstellung KABOOM – Comics in der Kunst in der Weserburg – Dem Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bremen – mit seinem Werk Manga Scroll (2010) vertreten.2 Die Betrachter_innen stehen bei diesem Werk vor einem hüfthohen Tisch. Der Tisch ist circa zwei Meter lang und einen halben Meter breit. Darauf montiert ist ein sogenanntes Rollbild. „Marclay nutzt hier im Rückbezug auf das japanische Emakimono ein Rollbild im Querformat. Über eine Länge von 20 Metern verbindet er Lautmalereien aus Mangas zu einer schlangenförmig bewegten Struktur. Marclay übernimmt die Ästhetik des Comics, funktioniert sie allerdings um, indem er die

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Turner, S. 12

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KABOOM – Comics in der Kunst, 15.06.2013 – 06.10.2013, Weserburg – Museum für moderne Kunst, Bremen

80 | Die Bilder des Comics

grafischen Soundeffekte von ihrem narrativen Kontext befreit.“3 Zur Ausstellung des Werkes gehört in aller Regel auch eine Lesung, wenn der Begriff Lesung hier überhaupt treffend ist. Die Aufführung gleicht eher einer Performance. Die als Text dargestellten Geräusche werden von den Vorführenden, je nach Schriftgröße, Typografie etc. verschieden interpretiert. Sowohl die Betrachtung der Performance als auch der Schriftrolle selbst rücken jedoch nicht den Text als solchen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Obwohl die Lautmalereien von ihren ursprünglichen Mangaerzählungen gelöst wurden, provozieren sie im Betrachter narrative Assoziationen, die weniger auf den textuellen Gehalt als auf die graphische oder performative Prägnanz zurückzuführen sind. Betrachter_innen dieses Kunstwerks, die mit ausgeprägter Einbildungskraft ausgestattet sind, versuchen evtl. eine konsistente Geschichte für die Lautmalereien zu ersinnen, weniger begabte konstruieren evtl. eine Collage aus verschiedenen Szenen. Die erfahrenen Betrachter zeitgenössischer Kunst wissen, dass das allerdings nur der erste Schritt in der Rezeption eines Werkes sein kann. Ein nächster Schritt bestünde darin, die Erfahrung der ersten Betrachtung, in die weitere Betrachtung einzubeziehen4. Nach der Erfahrung, dass Manga Scroll die Einbil-

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Clauß, S. 126

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Luhmann, S. 93 f: „Jede Beobachtung ist unmittelbare Beobachtung von etwas, was man unterscheiden kann – von Dingen oder von Ereignissen, von Bewegungen oder von Zeichen. [...] Wir erinnern an diesen elementaren Sachverhalt hier nur, um die nicht ganz einfache Unterscheidung von Beobachtung erster Ordnung und Beobachtung zweiter Ordnung einzuführen. [...] Als Beobachtung zweiter Ordnung wollen wir die Beobachtungen von Beobachtungen bezeichnen. Auch die Beobachtung zweiter Ordnung ist demnach als Operation eine Beobachtung erster Ordnung, nämlich die Beobachtung von etwas, was man als Beobachtung unterscheiden kann. Es muss demnach strukturelle Kopplungen zwischen Beobachtungen erster Ordnung und Beobachtungen zweiter Ordnung geben, die sicherstellen, das überhaupt etwas beobachtet wird, wenn im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet wird; und wie immer hat der Begriff der strukturellen Kopplung zwei Seiten: Der Beobachter zweiter Ordnung ist durch sein Beobachten erster Ordnung (etwa Eigenarten eines Textes oder Eigenarten der Beobachtungen eines anderen Beobachters) stärker irritierbar, zugleich aber auch mit höherer Indifferenz gegen alle denkbaren anderen Einflüsse ausgestattet. Als Beobachter erster Ordnung bleibt der Beobachter zweiter

Vom Text zur Narration | 81

dungskraft aktivieren kann, stellt sich die Frage, warum es geschieht und warum es auf diese Art und Weise geschieht. Der Kurator der Ausstellung schreibt: „Die emotionsgeladenen Performances legen die komplexen Wahrnehmungsmechanismen offen, die jeder Betrachter beim Lesen, Verstehen und sprachlichen Umsetzen der fiktionalen Bild- und Textwelten wie von selbst leistet.“5 In diesem Abschnitt soll versucht werden, eben diese Selbstleistungen und komplexen Wahrnehmungsmechanismen genauer zu beschreiben. II Wie in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt wurde, können die Mittel, mit denen der Comic seine Geschichten erzählt, vielfältig und komplex sein. Warum aber fällt es dann so leicht, aus der Bilderflut und den Wörtern, Geschichten zu konstruieren, Protagonisten zu charakterisieren, ihre Entwicklung zu verfolgen, sich mit ihnen zu identifizieren oder auch zwischen Zeitebenen oder gar Dimensionsebenen zu unterscheiden? Die Feststellung, dass sich Bilder und Texte nun mal gut dazu eignen, Geschichten zu erzählen, verschiebt die Antwort lediglich, sie ist nicht die Antwort. Jedoch hilft sie, die Frage neu zu formulieren: Warum pflegen wir einen augenscheinlich intuitiven Umgang mit Bildern und Texten, wenn es darum geht, Geschichten zu erzählen? Eine mögliche Antwort liefern die theoretischen Ansätze, die in diesem und dem nächsten Abschnitt vorgestellt werden. Sie stammen aus verschiedenen Disziplinen, arbeiten aber alle mit einer vergleichbaren These: Narrationsvermögen, das Denken in und mit Geschichten, ist eine grundsätzliche Kompetenz der Rezipient_innen. Die vorgestellten literatur-, narrations-, kunstwissenschaftlichen und philosophischen Ansätze konzentrieren sich weniger auf den Text als Träger einer Narration, sondern viel mehr auf die Rezipient_innen als diejenigen, die die Narration erst vollziehen.

Ordnung in der Welt (und bleibt folglich selbst beobachtbar). Und er sieht nur das, was er selbst unterscheiden kann. Will er in der Perspektive zweiter Ordnung beobachten, muss er daher Beobachtungen unterscheiden können von etwas anderem (z.B. von Dingen).“ 5

Clauß, S. 126

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4.1 GÉRARD GENETTES UNTERSCHEIDUNG UND ROMAN INGARDENS VORGETÄUSCHTER ERNST Aus der Literaturwissenschaft hervorgegangen, kann die moderne Narrationstheorie als eigenständige Disziplin betrachtet werden.Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, warum es augenscheinlich so leichtfällt, einen Comic zu lesen/betrachten/verstehen, finden wir in narrations- und literaturtheoretischen Schlüsseltexten Gründe zur Annahme, dass die Kompetenz, Geschichten zu verstehen, bereits in unserer kognitiven Konstitution angelegt ist. Bereits Gérard Genettes Unterscheidung6 von Narration, Erzählung und Geschichte impliziert das Vermögen des Rezipienten, die Geschichte hinter einer jeden Erzählung zu erkennen. Die Unterscheidung zwischen den Begriffen Geschichte und Erzählung ist dahingehend zu verstehen, als das Erzählung das fertige Erzählprodukt meint und Geschichte den zu erzählenden Sachverhalt, der mit den zur Verfügung stehenden narrativen Mitteln in eine Erzählung verarbeitet wird. Das Konzept des unzuverlässigen/ fehlbaren Erzählers, die Etablierung verschiedener Blickwinkel innerhalb der Erzählung und die bewusste Nicht-Beachtung der Chronologie der zugrundeliegenden Geschichte als weitverbreitete stilistische Mittel erscheinen als hinreichendes Indiz dafür, dass sich der Beitrag der Betrachter_innen, die Geschichte hinter der Erzählung zu entschlüsseln, auf belastbare narrative Kompetenzen stützt.7 Diese Kompetenzen bedingen, bei literarischen Werken, zwar die Fähigkeit lesen zu können, allerdings scheinen sie darüber hinaus keine besondere Form der Spezialisierung zu sein. „Beim Lesen eines narrativen Textes können wir eine bestimmte Einstellung gegenüber dem Text einnehmen, in der wir von den Worten, dem

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„Ich schlage vor [...] das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen (auch wenn dieser Inhalt nur von schwacher dramatischer Intensität und ereignisarm sein sollte), den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt,“ in: Genette, 1998: S, 16

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Nünning, 1998

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Stil oder den Erzählverfahren absehen, mit denen uns die Geschichte vermittelt wird. Die Umstände der Vermittlung treten dann in der Wahrnehmung zurück zugunsten der erzählten Welt, die der Text beschreibt. In dieser Einstellung identifizieren wir uns mit bestimmten Figuren und nehmen Anteil an ihrem Schicksal, wir erklären und beurteilen ihr Verhalten nach Maßstäben unserer lebensweltlichen Praxis. Wenn und solange wir eine solche Lesehaltung einnehmen, konzentrieren wir uns auf das, was uns erzählt wird, und blenden die Art und Weise, wie die Geschichte vermittelt wird, aus dem Bereich unserer Aufmerksamkeit aus.“8 Auf der Suche nach dem Ursprung unserer Narrationskompetenz ist eben dieses Vermögen des Lesers ein erstes Indiz, welches vom Text wegführt, ohne ihn gänzlich als Träger der Narration zu verlassen. Die Rezipient_innen verfügen über die Kompetenz, sich mit einer narrativen Einstellung dem Medium, in dem die Geschichte vermittelt wird, zu nähern. Wie aber kommt diese Verbindung zustande, in der die Leser_innen Maßstäbe der lebensweltlichen Praxis zugrundelegen, um der erzählten Welt Sinn zu verleihen? Die erzählte Welt von der im obigen Zitat die Rede ist, bedient sich nur des Mediums der Schrift, es gibt keinerlei Ähnlichkeiten zwischen der Darstellung und dem Darstellenden, und auch die lebenswichtige Notwendigkeit, mit der wir die Maßstäbe für unsere lebensweltliche Praxis entwickeln und anwenden, lässt die Anwendung dieser Maßstäbe auf schriftliche vermittelte Narrative auf den ersten Blick als bemerkenswert erscheinen. Der Literaturwisschenschaftler Roman Ingarden schreibt in seinem Standardwerk Das literarische Kunstwerk, dass die Anwendung der lebensweltlichen Maßstäbe auf eine spezifische Art und Weise geschieht: „So sind wir hier beim Verstehen der auftretenden Sätze nicht direkt auf reale und in der realen Seinssphäre verwurzelten Sachverhalte bzw. Gegenstände gerichtet und auch nicht mit den Intentionen in dieser Sphäre verankert, so daß die rein intentionalen Korrelatgehalte unbeachtet passiert wären, sondern umgekehrt werden diese letzteren selbst, mit dem nicht schwindenden Bewußtsein, daß sie in der Intentionalität des Satzsinnes ihren Ursprung haben, in die Realität hinausversetzt und dort gesetzt. Diese Setzung und Hinausversetzung wird aber hier – dem eigenen Sinne der so modifizierten Behauptungssätze nach – nicht in dem Modus des vollen Ernstes, wie

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Martinez, S. 20

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bei den echten Urteilssätzen, sondern in einer eigentümlichen, diesen Ernst nur vortäuschenden Weise vollzogen. Deswegen werden die zugehörigen rein intentionalen Sachverhalte bzw. Gegenstände nur als realexistierende angesprochen, ohne daß sie – bildlich gesprochen – mit dem Realitätscharakter durchtränkt wären.“9

Konzentrieren wir uns bei diesem Phänomen auf den Betrachteranteil, so macht Ingarden deutlich, dass es weniger die Beschaffenheit der realen Welt ist, sondern die Art und Weise, wie die Leser_innen diese erkennen, die die Rezeption von Geschichten mitbestimmen. „Der dargestellte Raum lässt sich auch weder in den realen Raum noch in die verschiedenen wahrnehmungsmäßigen Orientierungsräume als ein Stück von ihnen einordnen, und dies auch nicht, wenn die dargestellten Gegenstände ausdrücklich als solche dargestellt werden, die sich in einer bestimmten Gegend des realen Raumes (z.B. „in München“) ,befinden‘.“10 Nicht das Referenzobjekt, sondern das Vorstellen als Akt selbst definiert den Vorstellungsgegenstand. Somit ist auch nicht relevant, ob es sich um einen real existierenden Gegenstand handelt oder nicht. Ingardens Beispiele dafür sind ein real existierender, nicht anwesender Freund und ein Zentaure. Sobald beide jeweils in der Vorstellung auftauchen, ist es eben dieses Vorstellungserlebnis, welches den Vorstellungsgegenstand ausmacht. „Dieser Akt, als ein intentionaler Meinungsakt, hat einen eigenen, und zwar unanschaulichen Inhalt. Dieser Inhalt ist in dem Akte selbst, in dem Vorstellungsmeinen enthalten.“11 Dieser Rezeptionsmodus des vorgetäuschten Ernstes schlägt sich in vielen Variationen in den verschiedenen Theorien nieder. Schauspieler auf der Theaterbühne oder der Leinwand werden als Figuren der Handlung wahrgenommen, und Gegenstände und Materialien bekommen im musealen Kontext die Möglichkeit, über ihre alltäglichen Zuschreibungen hinaus, mehr zu bedeuten. Eine spezifische Eigenschaft des Konzepts des vorgetäuschten Ernstes ist der bemerkenswerte Umgang mit den darstellerischen Unvollkommenheiten eines Textes im Vergleich zur Wahrnehmung der Realität. Ingarden fasste das unter dem Begriff der Unbestimmtheitsstelle zusammen. Im Vergleich zur Wahrnehmung von dargestellten Gegenständen, zeichnet sich die Wahrnehmung realer Gegenstände, nach Ingarden,

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Ingarden, S. 178

10 Ebd., S. 236 11 Ebd., S. 238

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durch drei Eigenschaften aus, aus denen sich im Umkehrschluss der Begriff der Unbestimmtheitsstelle ableiten lässt: „Jeder reale Gegenstand ist allseitig (d.h. in jeder Hinsicht) eindeutig bestimmt.“ Dieses allseitige Bestimmtsein ist so zu verstehen, daß der „reale Gegenstand in seinem gesamten Sosein keine Stelle aufweist, an welcher er in sich selbst überhaupt nicht [...] bestimmt wäre.“12 Damit ist keine Aussage zu den Bedingungen der menschlichen Wahrnehmung getan, ebenso wenig zu der Unmöglichkeit, dieses allseitige Bestimmtsein in der Wahrnehmung adäquat abzubilden. Daraus folgt, dass erst „wenn sie [die allseitigen Bestimmtheiten, A.d.A] durch ein Erkenntnissubjekt voneinander unterschieden werden, werden sie aus ihrem ursprünglichen Zusammengewachsensein intentional hervorgeholt und bilden dann eine unendliche, d.h. unausschöpfbare Mannigfaltigkeit.“13 Die eigentliche, a priori angenommene, Abgeschlossenheit des Objekts ist durch die Art und Weise ihrer Erkenntnis nicht betroffen. Objekte bestimmen sich durch Eigenschaften. Diese Eigenschaften sind individuell an das Objekt gebunden. „Jeder reale Gegenstand ist schlechthin individuell; d.h.: Soll ihm überhaupt eine Bestimmtheit ... zukommen, so muss sie individuell sein. Erscheinen z.B. viele Objekte in derselben Farbe, bleibt die Farbigkeit trotzdem eine individuelle Eigenschaft des Objektes. Sobald der Rezipient es aber mit literarisch dargestellten Gegenständen zu tun hat und überhaupt mit intentionalen Gegenständen, verhält es sich, nach Ingarden, grundlegend anders. Hier ist die Quelle der Informationen über die Gegenstände nicht ein allseitig bestimmtes Objekt, die Gegenstände werden „im literarischen Werke auf doppeltem Wege intentional entworfen: durch nominale Ausdrücke und durch volle Sätze, indem die letzteren bestimmte Sachverhalte entfalten, in welchen die Gegenständlichkeiten zur Darstellung und zur Konstitution gelangen.“14 Wenn also das Wahrnehmungsvermögen an realen Gegenständen entwickelt wurde und bei der Rezeption von Text auch eine Rolle spielt, dann muss der Unterschied zwischen der Wahrnehmung realer und literarisch dargestellter Gegenstände kompensiert werden. Befragt man Ingarden danach, welche Form literarisch dargestellte Gegenstände haben, so liest man folgendes:

12 Ebd., S. 261 13 Ebd., S. 262 14 Ebd., S. 263

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„Aber diese Form ist bei den dargestellten Gegenständlichkeiten nur ein Schema, das – im Unterschiede zu der Form der realen, bzw. allgemeiner: der seinsautonomen Gegenstände – nie voll durch materiale Bestimmtheiten ausgefüllt werden kann. [...] Und gerade deswegen, weil dieser Gegenstand zugleich formaliter als eine konkrete Einheit, die unendlich viele, miteinander verwachsene Bestimmtheiten in sich birgt, vermeint und eben damit als ein solcher intentional geschaffen wird, entstehen in ihm „Unbestimmtheitsstellen“, und zwar an Zahl unendlich viele. Diese Unbestimmtheitsstellen sind prinzipiell durch keine endliche Bereicherung des Inhalts eines nominalen Ausdrucks ganz zu beseitigen. Sagen wir statt bloß „Mensch“ „ein alter erfahrener Mensch“, so werden zwar durch die Hinzufügung der attributiven Ausdrücke einige Unbestimmtheitsstellen beseitigt, aber es bleiben immer noch unendlich viele zu beseitigen.“15

Wie erklärt sich daraus aber der mögliche Einwand, dass im Lektüreprozess kein entsprechender Mangel gespürt wird, also die Unbestimmtheitstellen nicht bewusst wahrgenommen werden? Die dargestellten Gegenstände „treten uns in der ästhetischen Erfassung ganz so, als ob sie in der erwogenen Hinsicht reale Gegenstände wären, entgegen, nur das sie – wie wir wissen – „bloß phantasiert“ sind. Wir wollen diese Tatsache gar nicht bestreiten. Sie ändert aber nichts an unseren Feststellungen. Im Gegenteil. Es ist gerade bei unserer Auffassung selbstverständlich, daß wir uns die Unbestimmtheitsstellen nicht zum Bewußtsein bringen.“16 Ingarden führt für das NichtBewußtwerden der Unbestimmtheitsstellen während des Lesens drei Gründe an. In aller Regel sind es die positiv bestimmten Merkmale des beschriebenen Gegenstandes, die für die Bedeutung und den Fortlauf der Geschichte notwendig erscheinen. Das lenkt von den fehlenden, nicht notwendigen Merkmalen ab. Diese positiv bestimmten Merkmale können von den Leser_innen zu einem beschriebenen Gegenstand zusammengefügt werden, da diese – laut Ingarden – über entsprechende Schemata verfügen: „Die vorbestimmten Ansichtenschemata werden bei der Lektüre immer durch verschiedene Einzelheiten ergänzt und ausgefüllt, die eigentlich nicht zu ihnen gehören und welche der Leser aus den Gehalten anderer ehemals erlebter, konkreter An-

15 Ebd., S. 264 16 Ebd., S. 267

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sichten schöpft.“17 Dieser Tendenz des selbsttätigen Schematisierens der Leser_innen folgend, konstatiert Ingarden, dass die Leser_innen zu einer „Lektüre und ästhetischen Erfassung“18 in der Lage seien, deren Schematisierungen und Zuschreibungen über das literarische Werk selbst hinausgehen.19

17 Ebd., S. 281 f. 18 Ebd., S. 268 19 Inwiefern abstrakte Konzepte oder beispielsweise fantastische Welten (für einen Großteil der real existierenden Comicproduktion nicht unerheblich) mit einem Schemabegriff der auf Rezipientenerfahrung beruht, vereinbar sind, kommentiert Ingarden wie folgt: „Sowohl das bei einem vorgegebenen Gegenstandsund Situationstypus „Unwahrscheinliche“ als auch das in einer bestimmten Seinssphäre Unmögliche ist prinzipiell intentional entwerfbar und darstellbar, wenn es auch oft nicht zur Schau gestellt werden kann. [...] Es kann prinzipiell literarische Werke geben, die sich gar nicht um das Verbleiben innerhalb eines besonderen Gegenstandstypus kümmern, sondern grade dadurch einen besonderen ästhetischen Eindruck ausüben können, daß sie eine faktisch unmögliche, aber auch über die Grenzen, welche durch das regionale Wesen der Realität bestimmt sind, hinausgehende, widerspruchsvolle Welt zur Darstellung bringen. Wir haben es dann mit einem grotesken Tanz an Unmöglichkeiten zu tun. Inwiefern eine solche „unmögliche“ Welt zur Schau gestellt werden kann und welche ästhetischen Wertqualitäten und Werte sie dann zuläßt, das sind Fragen, die ganz neue Gesichtspunkte einführen, welche unzweifelhaft festgeregelte Bindungen für die zulässigen Ausfüllungen der Unbestimmtheitstelle fordern. Erst eine speziell darauf eingestellte Untersuchung könnte aber die entsprechenden Einzelheiten und Gesetzmäßigkeiten innerhalb einer allgemeinen Betrachtung der möglichen Stilarten herausstellen.“ ebd., S. 269

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4.2 WOLFGANG ISERS BEGRIFF DER LEERSTELLE UND BRIGITTE RATHS KONZEPT DES NARRATIVEN SCHEMAS Aufbauend auf dem Begriff der Unbestimmtheitsstelle formuliert Wolfgang Iser in Der Akt des Lesens20 den Begriff der Leerstelle. Die Leerstelle ist eine bestimmte Form der Unbestimmtheitsstelle, da in ihr keinerlei Gegenstände dargestellt werden, sie aber trotzdem einen Betrachteranteil evoziert. „Leerstellen sind als ausgesparte Anschließbarkeit der Textsegmente zugleich die Bedingungen ihrer Beziehbarkeit. Als solche indes dürfen sie keinen bestimmten Inhalt haben, denn sie vermögen die geforderte Verbindbarkeit der Textsegmente nur anzuzeigen, nicht aber selbst vorzunehmen. Als sie selbst lassen sie sich daher auch nicht beschreiben, denn als ,Pausen des Textes‘ sind sie nichts; doch diesem ,nichts‘ entspringt ein wichtiger Antrieb der Konstitutionsaktivität des Lesers.“21 Im Abschnitt Die funktionale Struktur der Leerstelle erörtert er die zwei wesentlichen Funktionen, die im obigen Zitat schon angedeutet sind. Im Hinblick auf die Frage, inwiefern aus der Verschiedenheit der Segmente innerhalb eines Textes (z.B. eines Romans) die Gefahr der „Bildung subjektiver Willkür zumindest strukturell entzogen bleibt“22, betont Iser, dass die ganze Bedeutung eines Teils nicht allein nur in eben diesem Teil angelegt ist, sondern erst in Verbindung mit den anderen ersichtlich wird. Den Filmtheoretiker Béla Balázs zitierend23, spekuliert Iser, dass es sich

20 Iser, 1976 21 Ebd., 1976: S. 302 22 Ebd., 1976: S. 302 23 Gemäß der mir vorliegenden Ausgabe: „Im Film genügt auch die bedeutungsvollste Einstellung nicht, um dem Bild seine ganze Bedeutung zu geben. Diese wird letzten Endes von der Position des Bildes zwischen den anderen Bildern entschieden. [...] Wir deuten auf alle Fälle, zwangsläufig, auch dann, wenn wir einen erklärenden Zusammenhang nicht kennen. Dann fällt das Bild eben in die zufällige Assoziationsreihe, die in uns gerade gegenwärtig ist. In diese wird das Bild gleichsam hineinmontiert und bekommt durch sie seine Bedeutung. [...] Die Bilder sind also gleichsam mit einer Bedeutungstendenz geladen, die sich im Augenblick ihrer Berührung mit einem anderen Bild (gleich ob gesehen oder

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dabei um ein „allgemeines Charakteristikum für alle künstlerischen Medien“24 zu handeln scheint: „Hier wie dort eröffnet die Leerstelle zwischen den Segmenten bzw. der Schnitt zwischen den Bildern ein Netz von Beziehbarkeiten, durch das sich die Segmente bzw. die Bilder wechselseitig bestimmen.“25 Die doppelte Funktion der Leerstelle ist also eine nur auf den ersten Blick widersprüchliche. Einerseits trennt sie die Textsegmente voneinander, und andererseits ermöglicht sie erst die sinnstiftende Beziehung unter den Textsegmenten. Wolfgang Iser findet hierfür den Begriff der „Kommunikationsstruktur“26. Eine Leerstelle ist nach Iser nicht bloß eine simple Zäsur, „[d]enn die Leerstelle organisiert den Perspektivenwechsel des Leserblickpunktes in einer bestimmten Weise.“27 Während des Lesevorgangs werden die vorhergegangen Textsegmente zu „wechselseitigen Projektionsflächen“28. Somit wird der Leserblickpunkt im Verbund mit den Textsegmenten zum Teil eines Netzwerks der Bedeutungsschöpfung. „Insofern nimmt der Text hier wie anderwärts allgemeine Dispositionen der Erfassungsstruktur des Bewusstseins in Anspruch.“29 Diese Wahrnehmungsstruktur des Bewusstseins ist eine Bedingung für den von Ingarden konstatierten vorgetäuschten Ernst bei der Rezeption von Narrativen. Dadurch ist der Beitrag der Leser_innen nicht willkürlich. Durch die Gerichtetheit der Lektüre, der Etablierung eines Be-/Deutungshorizontes im Fortgang der Geschichte und dem „Netz an Beziehbarkeiten“30, die sich um eine Leerstelle finden lassen, ist die schlussfolgernde Tätigkeit der Rezipient_innen gleichsam vorskizziert. Die Leerstelle „gewinnt so den Charakter einer sich selbst regulierenden Struktur, die allerdings immer nur in der Wechselwirkung von Text und Leser zu

gedacht) auslöst. Sie wirken schon Bedeutung, bevor der konkrete Inhalt dieser Bedeutung bestimmt ist.“ in: Diederichs, S. 82 f. 24 Iser, 1976: S. 302 25 Ebd., 1976: S. 303 26 Ebd., S. 305 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 303

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funktionieren beginnt. [...] So ermöglicht die Leerstelle die Beteiligung des Lesers am Vollzug des Textgeschehens.“31 Das oben eingeführte Konzept des vorgetäuschten Ernstes ist also so zu verstehen, dass es sich um mehr als nur eine Einstellung der Leser_innen handelt, mit der sie sich dem Text nähern. Die Wahrnehmungsstrukturen der Rezipienten_innen liefern gleichsam die Blaupause für die Rezeptionsstrukturen, ohne dass die rezipierten Inhalte mit realen raumzeitlichen Geschehnissen verwechselt werden. Dass sich dies zwar gut an Unbestimmtheitsstellen und Leerstellen demonstrieren lässt, der Beitrag der Rezipient_innen aber darauf nicht reduziert werden kann, versucht die Literaturwissenschaftlerin Brigitte Rath mit dem Begriff des narrativen Schemas zu erläutern. Rath geht es um die Gesamtheit der narrativen Verstehensleistung der Rezipient_innen. Sie betont, dass abseits der medialen Vermittlungsumstände Narration zuallererst als Rezeptionskompetenz bzw. als narratives Schema verstanden werden müsse. Der Begriff des Schemas bezieht sich in der Narratologie auf „knowledge representations of relatively static objects and relations, in contrast with the representations of dynamic (or temporal) processes known as scripts. Whereas scripts generate expectations about how particular sequences of events are supposed to unfold, schemata create expectations about how domains of experience are likely to be structured at a particular moment in time.“32 Der wesentliche Aspekt des Schemas ist hierbei, dass ein „Standardmuster von Objekten, Ereignissen, Situationen und Handlungsabläufen, die unsere Normalitätserwartungen steuern“33, gemeint ist. Jedoch gibt es im Vergleich zum traditionellen Schemabegriff bei Raths narrativen Schema einen wichtigen Unterschied: „Vorausgesetzt wird, daß sich verschiedene Gruppen von individuellen Verstehensakten sinnvoll auf je gemeinsame Weise beschreiben lassen; eine These der Arbeit ist, daß dies grade auch auf jene Verstehensprozesse zutrifft, die typischerweise bei der Rezeption als ,narrativ‘ bezeichneter Texte auftreten. Denn dass es bei einer überwältigenden Zahl von Texten einen Konsens darüber gibt, sie einer gemeinsamen Klasse zuzuordnen, dass es andererseits aber außerordentlich schwierig scheint,

31 Ebd., 1976: S. 314 32 Schemata, in: Herman, S. 513 Sp. 2 33 Knobloch, Clemens: Schemata in: Glück, S. 602, Sp. 2

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eine Definition für ,narrativ‘ zu finden, spricht dafür, dass es weit verbreitetes implizites Wissen über die Gemeinsamkeiten dieser Texte gibt. Und diese Gemeinsamkeiten – so meine These – sind nicht eine Kernmenge übereinstimmender Textmerkmale, sondern eine gemeinsame Art, verstanden zu werden.“34

Während Schemata, laut Definition, die Aufgabe haben, Geschichten zu strukturieren, zeichnet sich Raths narratives Schema dahingehend durch eine produktive Unterdeterminiertheit aus. Das narrative Schema kann als Kompetenz der Rezipient_innen verstanden werden, Narrationen jenseits von Genrekonventionen oder spezifischen Gattungen zu erkennen. „Das Schema grenzt durch seine holistischen und aktiv-produktiven Qualitäten ausgewählte Daten von einem Hintergrund ab. Es leitet einen Verstehensprozeß, indem es das Ziel des Verstehensprozesses als Ganzes setzt. Schemata leisten im Wahrnehmungs- und Verstehensprozeß folgendes: Sie modellieren die Untergliederung des Datenstroms, die Privilegierung bestimmter Daten, die Kontextualisierung gegebener sowie die Ergänzung von nicht verfügbarer Information. [...] Dieser erweiterte Schemabegriff ist damit im Hinblick auf das hier zentrale narrative Schema im Besonderen in der Lage zu erklären, daß zeitlich auseinanderliegende Ereignisse als Einheit verstanden werden können, daß narratives Verstehen nicht an bestimmte mediale Formen gebunden ist, diese aber jeweils unterschiedlich verarbeitet, und daß ein narratives Schema einen dynamischen Verstehensprozeß leiten kann.“35

Bereits die Fähigkeit, aus einer nicht chronologisch vorgetragenen Geschichte eine konsistente Erzählung zu konstruieren oder eine Leerstelle auszufüllen, sind einfache Beispiele für das Wirken eines narrativen Schemas.

34 Rath, S. 8 35 Ebd., S. 75, Weiterführend heisst es dazu auf Seite 203: „Narratives Verstehen wird geleitet von einem Schema, das genau drei, in einer triadischen Relation stehende Kategorien von Variablen – Regeln, Charaktere/Objekte und Ereignisse – und bestimmte Arten von Relationen zwischen einzelnen dieser Variablen erwartet und schon zu Beginn des Verstehensprozesses eine – noch unterbestimmte – Gestalt als dessen Ziel projiziert; die Differenz zwischen jeweils aktuell instantiierter und projizierter Konstellation erzeugt eine gerichtete Dynamik des Verstehensprozesses.“

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Selbstverständlich spielt der Text im Rezeptionsprozess eine wesentliche Rolle. Solange sich die Rezipient_innen nicht nur um ihr, nach Adorno, „ästhetisches Selbst“36 drehen möchten, sind sie auf eine irgendwie geartete Intention (eines Künstlers) angewiesen. In Ihrer Antwort konkret auf die Literatur bezogen, beantwortet Rath die rethorische Frage: „Wo also ist der Text? In narrativem Verstehen ist der Text nicht etwa getrennt von einer Geschichte, sondern stößt bestimmte Instantiierungen und Füllungen von Variablen, bestimmte Verbindungen, bestimmte Abgrenzungen und Ausfaltungen und bestimmte Textspuren an; und genau in all diesen Aspekten ist der Text im narrativen Verstehensprozeß präsent.“37 Ein Beispiel dafür, wie wesentlich der Beitrag des Rezipienten zum Gelingen einer Narration gehört, erläutert Michael Richter. Am Beispiel der biblischen Hiobsgeschichte legt er dar, dass Ereignisse, die in der realen Welt als unmöglich/unwahrscheinlich gelten, in einer Narration als Tatsachen akzeptiert werden, da in der diegetischen Welt der Narration andere Kausalverhältnisse wirksam sein können. In seiner Untersuchung über sogenannte narrative Urteile geht er davon aus,

36 Adorno, S. 33: „Die alte Affinität von Betrachter und Betrachtetem wird auf den Kopf gestellt. [...] Der Konsument darf nach Belieben seine Regungen, mimetische Restbestände, auf das projizieren, was ihm vorgesetzt wird. Bis zur Phase totaler Verwaltung sollte das Subjekt, das ein Gebilde betrachtete, hörte, las, sich vergessen, sich gleichgültig werden, darin erlöschen. Die Identifikation, die es vollzog, war dem Ideal nach nicht die, daß es das Kunstwerk sich, sondern daß es sich dem Kunstwerk gleichmachte. Darin bestand ästhetische Sublimierung; Hegel nannte solche Verhaltensweise die Freiheit zum Objekt. Damit grade erwies er dem Subjekt Ehre, das in geistiger Erfahrung Subjekt wird in seiner Entäußerung, dem Gegenteil des spießbürgerlichen Verlangens, daß das Kunstwerk ihm etwas gebe. Als tabula rasa subjektiver Projektionen jedoch wird das Kunstwerk entqualifiziert. Die Pole seiner Entkunstung sind, daß es sowohl zum Ding unter Dingen wird wie zum Vehikel der Psychologie des Betrachters. Was die verdinglichten Kunstwerke nicht mehr sagen, ersetzt der Betrachter durch das standardisierte Echo seiner selbst, das er aus ihnen vernimmt.“ 37 Rath, S. 151

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„dass es an uns, den Rezipienten, liegt, selbst jeweils eine plausible Verknüpfung zu bestimmen, und zwar in Abhängigkeit vom konkreten Zweck des Erzählens, seiner Funktion.“38 „Die Verknüpfungsregeln kohärenten Erzählens – den Eindruck innerer Wahrscheinlichkeit – gewinnen wir nicht aus unserem Wissen über mögliche kausale Zusammenhänge (sozusagen die praktische Wahrscheinlichkeit), sondern wir nutzen auch unser Wissen über andere Arten von Ordnungsbeziehungen (z.B. ideologische) und nicht zuletzt unser Wissen über Texte – also insbesondere uns verfügbare narrative Schemata – um ein kohärente Erzählung zu gewinnen.“39

So ist eine nach Präzision strebende Beschreibung nur eine der möglichen Funktionen des Erzählens. Vor allem liegen sie nach Richter in „dem Erklären von Zuständen, der Begründung von Voraussagen, der Herstellung von Kontinuität oder dem Unterhalten“40. Mit dem Begriff des narrativen Urteils betont Richter, dass „auch die Bewertung eines Geschehens, eines Handelns oder Charakters als richtig oder falsch, gut oder schlecht“41, zu diesen Funktionen gehört. Diese Funktionen des Erzählens erscheinen unter dem Blickwinkel des Betrachteranteils als Dimensionen des narrativen Schemas. Somit reicht ein Text hin, was die kognitiven Strukturen des Rezipienten ausreichend machen. Diese Art der narrativen Problemverhandlung impliziert narrativ geprägte Denkstrukturen.

4.3 DAS KONZEPT DER KOGNITIVEN NARRATOLOGIE Die Erkenntnisse, die das Konzept der kognitiven Narratologie liefern kann, lassen sich nicht nur auf literarische Narrative anwenden, die kognitiven Strukturen des menschlichen Geistes erkennen Narration auch in Artefakten jenseits des geschriebenen/gesprochenen Wortes. „Kognitive Rhetorik identifiziert die Schemata und Prozesse, die in fiktionalen oder alltägli-

38 Richter, S. 12 39 Ebd., S. 14 40 Ebd., S. 15 41 Ebd., S. 14 f.

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chen Erzählungen ebenso wirksam sind wie in Argumentationen oder Gedichten.“42 Literaturwissenschaftliche Narrationstheorien arbeiten zum großen Teil mit einem Text-/Narrationsbegriff, der Geschichten als Artefakt begreift, als etwas von Menschen Gemachtes. Wie weiter oben im Text bereits dargelegt, finden sich aber in eben diesen Artefakten, z.B Comicgeschichten, Hinweise darauf, dass die Fähigkeit des Menschen, Geschichten zu verstehen, auf Rezeptionskompetenzen verweisen, die das Konzept der Narration bereits in den weiterverarbeitenden Wahrnehmungsmechanismen, den kognitiven Strukturen des Menschen verorten. Das Konzept der kognitiven Narratologie als Untersuchungsmethode birgt einerseits den Nachteil, dass Kognition selbst nicht direkt beobachtet werden kann, wir können den Untersuchungsgegenstand nicht objektiv betrachten, da er gleichzeitig Teil des Untersuchungsinstrumentariums ist. Andererseits birgt die Kognitionstheorie den Vorteil, dass sie die Textzentriertheit der originär literaturwissenschaftlichen Analysemethoden von Narrationen relativiert und so Phänomene, z.B die in Abschnitt 2 und 3 beschriebenen Funktionsweisen des Comics, mit in den Blick nimmt, deren Erkenntnis mit herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Begriffen nicht adäquat zu beschreiben wären. „Die heute [...] für die Kognitionswissenschaften maßgebliche Verwendung versteht unter Kognition alle Leistungen des Geistes/Gehirns, die am Zustandekommen intelligenten Verhaltens beteiligt sind. [...] Die Themen der Kognitionswissenschaften reichen somit von Theorien des Wissens und Sprechens über Theorien des Problemlösens bis zu kognitiven Emotionstheorien. Kognition muss und darf dabei weder mit ,Intentionalität‘ noch mit ,Bewusstsein‘ gleichgesetzt werden.“43

Das erzähltheoretische Interesse an der Kognitionswissenschaft lässt sich dahingehend erklären, dass sich für den Untersuchungsbereich der Kognitionstheorie – „the relations between perception, language, knowledge, memory, and the world“44 – die Frage stellen lässt, inwiefern Geschichten bzw. narrative Konzepte von Geschichten hier eine Rolle spielen: „At the

42 Ebd., S. 42 43 Bremer, Kognition/Kognitionstheorie, in: Reinalter: S. 405 44 Jahn, Manfred: Cognitive Narratology, in: Herman: S. 67, Sp. 2

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same time [...] the cognitive sciences themselves have begun to recognise the ,storied‘ nature of perception, sense-making, memory, and identity formation.“45 Das Eingliedern von Narrativen in alltägliche Praktiken, in die Rezeption der direkten Umwelt, das Weltverstehen oder in die spezifischen Fälle von Patientengeschichten und Rechtsprechung lässt den Narratologen David Herman zu dem Schluss kommen, dass „stories function as a powerful tool for thinking, i.e., a cognitive instrument used as an organisational and problem-solving strategy in many contexts.“46 In einem Aufsatz mit dem treffenden Titel Stories as a Tool for Thinking47 legt Herman dar, dass z.B. in Gesprächssituationen, in denen Geschichten erzählt werden, eben diese Geschichten den Zweck des SinnGebens erfüllen, indem sie den Gesprächsparteien die Möglichkeit geben, Erfahrungen auszutauschen, Szenarien, Modelle und Theorien zu konstruieren und gemeinsam zu bewerten, etc.: „My essay draws [...] to address the following question: what is it about narrative (viewed as a cognitive artifact) that explains its multi-situational servicability, the richness and longlastingness of its processes and products, its power to organize thougt and conduct across so many different domains of human activity?“48 Herman betont, dass Untersuchungen, die Narration als kognitives Instrument betrachten, anstatt sich auf die Arten zu konzentrieren, wie Geschichten verstanden werden, Erkenntnisse darüber liefern können, wie Geschichten die Intelligenz selbst fördern: „In this model, narrative can be construed as a system for structuring any time-based pattern into a resource for consciousness, making it possible for cultural as well as natural objects and phenomena to assume the role of cognitive artifacts to begin with. Indeed, in the case of objects fashioned to accomplish particular tasks, the very notion of ,artifact‘ implies sequence, which narrative helps make cognizable. A tool presupposes a sequentially organized activity in which things are more or less constrained with respect to an order of operations, a form of practice. And narrative is a primary means of mapping processes not directed toward any particular goal – that

45 Ebd. 46 Herman, David: Narrative as Cognitive Instrument, in: ders.: S. 349, Sp. 1 47 Herman, David: Stories as a Tool for Thinking, in: ders. 2003, S. 156 48 Herman, 2003, S. 163, (vgl., S. 163 – 192)

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is, mere temporal flux – onto patterns of temporal progression. [...] Moreover, there are grounds for characterizing narrative as a pattern forming cognitive system that organizes sequentially experienced structure, which then can be operationalized to create tools for thinking. Narrative thus provides cognitivley beneficial structures in a wide range of ways [...] that is in some ways more fundamental than descriptive, instructive, expository, or argumentative types of text. “49

Auf eine Narration als kognitives Instrument verweist beispielsweise Hayden Whites These von der Geschichtsschreibung als so etwas wie eine literarische Form.50 Die Ursache dafür, dass geschichtliche Ereignisse nur narrativ erschlossen werden können – sollten sie den Anspruch einer sinnvollen Einheit mit einer sinnvollen Zeitordnung haben – liegt nach White darin, dass sich menschliches Handeln eben in den Formen der Geschichtsschreibung spiegelt51 und in der menschlichen Sprache der tiefere Grund dafür zu finden ist, dass historische Fakten nach literarischen Formen organisiert werden52. Diese literarischen Formen wiederum sieht er als „sprachliche Kristallisationen grundlegender gedanklicher Zuordnungen“53.

49 Ebd., S. 170f 50 White, 1990, S. 177 ff. 51 White, 1991, S. 21 ff. 52 Ebd.:, S. 50 ff. 53 Fulda, Daniel: White, Hayden, in: Reinalter, S. 1343 Weiter heißt es hier: „Als fruchtbarer erwiesen hat sich Whites Betonung der Plausibilisierungsfunktion, die Erzählmuster in der Historiografie haben: Mit Hilfe ihrer tiefenstrukturellen Erzählmuster (Plotstrukturen) betreiben Geschichtswerke eine implizite Interpretation ihrer Fakten-Elemente, die sich kulturell vorgegebener Sinngebungsmuster bedient. In manchen Formulierungen deutet sich darüber hinaus an, dass White nicht nur bestimmte narrative Muster im Blick hat, welche die jeweilige Darstellung einer bereits als Geschichte aufgefassten Vergangenheit prägen, sondern dass er der Erzählung eine generell geschichtskonstituierende Bedeutung zumisst, nämlich die Konfiguration von bloßer Vergangenheit zu kohärenter Geschichte.“

5

Vom Bild zur Narration

I Wie Makiko Kuwahara in ihrer Feldstudie über die Rolle des Tattoos im gegenwärtigen Tahiti darlegt, erfüllen Tattoos in Gegenwart und Tradition eine wichtige Funktion in der dortigen sozialen und kulturellen Körperkonstruktion und -wahrnehmung sowie, darauf aufbauend, der kulturellen Identität.1 Auch in Kulturkreisen, in denen Tattoos am ehesten unter den sozial marginalisierten Bevölkerungsschichten zu finden waren, erfüllten sie eine konkrete Aufgabe.2 In der europäischen Seefahrertradition durfte sich z.B. nur dann ein Seefahrer die Darstellung eines Ankers tätowieren lassen, wenn er erfolgreich den Atlantik überquert hat.3 Die, für diesen Kontext, klassisch gewordene Darstellung eines Ankers, weitergewandert4 aus dem biblischen Hoffnungssymbol5, war Teil eines maritimen Symbolsystems, in dem verschiedene Darstellungen auf biographische Ereignisse des Trägers referierten. So waren Darstellungen von Seilen den Seeleuten vorbehalten, Darstellungen von Knoten den Steuermännern, die Darstellung eines Spat-

1

Vgl.: Kuwahara, hier besonders: S. 89 – 128

2

Ebd., S. 224

3

Schiffmacher, Henk: Anchor, in: Seinen, S. 27

4

Maxwell-Stewart, Hamish u. Duffield, Ian: Skin Deep Devotions: Religious Tattoos and Convict Transportation to Australia, in: Caplan, S. 125 f.

5

Sauser. E.: Anker, in: Kirschbaum, Bd. 1, S. 119, Sp. 1

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zen verwies auf 5000 absolvierte Seemeilen und Neptundarstellungen auf die Überquerung des Äquators.6 Obwohl Tattoos auch als reiner, in diesem Sinne bedeutungsloser Körperschmuck durchaus denkbar und beobachtbar sind, scheint der wesentliche Aspekt dieses globalen Phänomens einen autobiographischen bzw. identitätsstiftenden Charakter zu haben. „Through objectifying the body, they mark the similarities and differences, and include and exclude each other according to the representation, experience and social contexts of the tattooed body. Tattooing as a body inscription, is the embodiement and reprensentation of identities and relationships resulting from objectification of the tattooee‘s own body, and others, in shared time and space. [...] Of course, we understand a person not only by looking [...]. Yet, looking is one of the main ways in which we understand others. At the same time we use the appearance of the body to express ourselves to let others understand us“7.

Die grundsätzliche Entscheidung, die Motivwahl und auch die Stelle der Tätowierung am Körper, eröffnen ein Netz sinnstiftender Elemente, aus denen die individuelle Bedeutung des Tattoos hervorgeht. Während ein prominent platziertes Tattoo kommunikativen Charakter hat, können ,versteckte‘ Tattoos als privates Memento fungieren. Beiden ist die Möglichkeit gemeinsam, dass sie mit der Intention der Identitätsstiftung angebracht wurden. Verstehen wir unter diesem Phänomen eine Narrativierung der eigenen Biographie durch Bilder, so sind wir bei der Frage dieses Abschnitts angelangt: Wie erzählt ein Bild? Während in der Comicwissenschaft viele und wichtige Vorschläge dazu gemacht wurden, wie die Bilder im Plural ihre narrative Kraft entfalten, wird im Folgenden ein anschlussfähiger Überblick über die narrativen Elemente und Strukturen in Einzelbildern gegeben.

6

Vgl. Seinen

7

Kuwahara, S. 225 f.

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Abbildung 13: Mögliche Flucht als Minimalnarration: Dürers Feldhase

Am Beispiel eines Katalogtextes über Dürers Feldhasen8 wird im Folgenden gezeigt werden, wie sich in einer ,einfachen‘ Tierstudie bereits Elemente finden, die gleichsam als Grundlage einer bildlichen Narration fungieren (Abb. 13). Die Kunsthistorikerin Elisabeth M. Trux hat für den Ausstellungskatalog zu einer Albrecht Dürer-Ausstellung einen Begleittext für Dürers Feldhasen verfasst. Sie leitet ihn mit folgenden Worten ein:

8

Feldhase, Albrecht Dürer, 1502, Aquarell und Deckfarben, 25,1 x 22,6 cm, Standort: Albertina, Wien (in manchen Publikationen auch Hase oder junger Hase genannt)

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„Grundlegend setzt sich ... [das Naturstudium Dürers] aus Kunsterfahrung und -übung, Realitätsbeobachtung, Synopse, Analogiebildung und psychologisierender Interpretation der angestrebten mimetischen Ebene zusammen.“9 Im Text erläutert sie diese Begriffe am konkreten Fall des Feldhasen. Dabei legt Trux auch eine im Bild angelegte Rezeptionsstruktur offen, die zu mikronarrativen Projektionen in/auf das Bild seitens der Betrachter_innen führen kann. Trux orientiert sich dabei an einer internen Bedeutungshierarchie des Bildes. Diese aufeinander aufbauenden Bedeutungsschichten wurden unter anderem von den Kunstwissenschaftlern Rudolf Wittkower und Erwin Panofsky systematisch erfasst und beschrieben.10 Nach der Lektüre des Katalogtextes folgt eine kurze Analyse dieses Textes hinsichtlich dieser Bedeutungsschichten und ihrer narrativen Elemente. In einem zweiten Schritt wird dieses Verfahren auf ein Comicbild angewandt und untersucht, inwiefern die Eingebundenheit eines Bildes in eine Bildsequenz die Bedeutungs-/Narrationsstruktur verschiebt. Im dann folgenden Abschnitt wird der Fokus auf die zugrundeliegenden Theorien gelegt. Diese werden, unter Berücksichtigung des bereits Vorgebrachten, nach den Möglichkeitsbedingungen von Narration im Bild befragt. An dieser Stelle nun der Text zum Dürer-Hasen von Elisabeth M. Trux: „Die Symbolik des Feldhasen ist vielfältig. Unter anderem erscheint er in Dürers Stich Adam und Eva des Jahres 1504 als Figuration des sanguinischen Temperamentes. Der Hase war aber zugleich Mariensymbol und Symbol des Gläubigen, der sich auf dem Heilsweg befindet. Als Fruchtbarkeitssymbol spielte das Tier bereits in der germanischen Götterwelt eine Rolle. Doch wie gestaltet Dürer seinen Feldhasen? [...] Dürer arbeitet hier in dichter Überlagerung mit Analogien [...]. Diese Analogien liegen in der Fertigkeit der Pelzmalerei, in der bereits lange geübten Naturbeobachtung, hier speziell von Kaninchen und Katzen, sowie sicher in der Kenntnis erlegter Feldhasenbalge. Im leicht hochrechteckigen Format ist der Hase auf die von oben links nach unten rechts fallende Blattdiagonale positioniert. Obwohl er dem Betrachter nahegerückt ist, blickt der Hase, dieser Diagonale folgend, in einen Raum außerhalb der Blattfläche. Das ist bereits entscheidend für seine ,flüchtige‘ Erscheinung.

9

Trux, Elisabeth M., Überlegungen zum Feldhasen und anderen Tierstudien Dürers mit einer Datierungsdiskussion, in: Schröder, S. 45 – 55, hier S. 45

10 Vgl.: Michels, S. 1065 ff. und Wittkower, Die Deutung optischer Symbole, in: ders S. 319 ff.

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Dürer wählt das Dreiviertelprofil, zeigt jedoch sowohl Unter- wie Aufsicht. Kopf, Löffel und Brustpartie sind untersichtig dargestellt. Die Rückendecke und die Hinterhand sind in der Aufsicht erfasst. Die bildmäßige Studie des Feldhasen ist eine reine Pinselzeichnung. Die aquarellierte Grundierung variiert vom Rehbraun über Graubraun bis zum gebrochenen Weiß. Darauf sind rhythmisch strukturiert, aber nicht ornamental wie noch im Selbstportrait von 1500 die Haarlagen gesetzt. Diese illustrieren die Felldehnung bei dieser Art Hockstellung ebenso wie grundlegend die tiefe, weiche, glänzende Haptik und Anschaulichkeit von Hasenfell. Zeichnerisch knapper sind die Löffel ausgeführt. Hier wird der Pinselduktus kurz beschieden und knapp. Neben der Positionierung des Hasenkorpus in der Diagonale sind es vor allem die Löffel, die dem Tier in unterschiedlicher Weise Raum aufspannen. Beide wiederholen in einer elongierten, spitz zulaufenden Silhouette die ovoiden Formenkomplexe, die Körper und Schädel begrenzen. Der linke, dem Betrachter zugewandte, leicht nach hinten abgeknickte Löffel sitzt direkt über dem vollständig sichtbaren Hasenauge und demonstriert regelrecht die Fülle sensorischer tierischer Wahrnehmung. Der rechte ist zu einem dem Betrachter verschlossenem Raum nach hinten gerichtet, ebenso wie das darunterliegende Auge. In diesen Raum, zu dem der Betrachter keinen Zugriff hat, sich aber etwas ereignen kann, führt der raumgebende Schatten ebenso wie die langen Fibrillen der Augenwülste und des Äsers. All das sind Raum und Gefahr sondierende Organe, die dieser Tierart das Überleben gewähren. Obwohl Dürer jede Angabe von Sitzfläche und Umgebung vermeidet, sitzt der Hase für den Moment des Betrachtens ruhig und fest. Doch der Schattenschlag nach rechts, der bis zum Blattrand geführt ist, gibt ihm ebenso viel Raum zur Flucht wie die fallende Diagonale, in die er eingespannt ist. Synoptisch sind hier nicht nur Unter- und Aufsicht zusammengeführt, um das Wesentliche der Komplexität dieses Hasen zu veranschaulichen; auch grafische Rhythmisierung der Fellmalerei und kompositorische Platzierung unterstützen die Flüchtigkeit dieses ruhenden Augenblicks. Die Blattfläche, durch Hasenvolumen und -schatten zum Raum erweitert, gehört ausschließlich diesem Tier, dessen Angst – und damit sein Fluchtinstinkt – sprichwörtlich ist. Und diese Bewegungslatenz ermöglicht ihm Dürer von vornherein qua Komposition. Der Feldhase ist kein Porträt nach der Natur im eigentlichen Sinne, zu viel Kunsterfahrung manifestiert sich hier. Das Blatt zeigt ein psychologisch gesteigertes Wesensportrait dieses Tieres, sodass die symbolische oder physiologische Dimension des Hasen darüber völlig in Vergessenheit gerät. Der Porträttopos des sich spiegelnden Fensterkreuzes im Augapfel des Hasen domestiziert diesen nicht, sondern ist Reflex seiner Vitalität. In der gekonnt inszenierten Ambivalenz zwischen statischer,

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schaubarer Präsenz und Bewegungs- und Fluchtlatenz liegt der überzeitliche Reiz dieses Blattes.“11

Es lassen sich im obigen Katalogtext vier Beschreibungsebenen des Bildes ausmachen. In der ersten Ebene betreibt die Autorin eine Art visuelle Bestandsaufnahme. Es werden die verwendeten Farben und die Technik aufgezählt, die Anordnung der Strichführung, aus denen sich das Fell des Hasen ergibt, und die Anordnung des Bildgegenstandes innerhalb des Blattformates. Darauf aufbauend, in der zweiten Ebene, geht es um diesen Bildgegenstand, der sich eben aus diesen visuellen Bestandteilen zusammensetzt. Dieser wurde höchstwahrscheinlich nicht nach einem einzigen lebenden Vorbild gefertigt, sondern nach ,lange geübter Naturbeobachtung‘. Die mimetische Qualität dieser zweiten Ebene wird deutlich, indem die dargestellte Felldehnung, die Anschaulichkeit, ja sogar die glänzende Haptik als ,illustrativ‘ gekennzeichnet wird. Die dritte Ebene verlässt gleichsam den Bildgegenstand und referiert auf den repräsentierten Gegenstand. Obwohl im Text erläutert wurde, dass Dürer in diesem Bild höchstwahrscheinlich keinen konkreten Hasen porträtiert hat, sondern wir einen konstruierten Hasen betrachten, gibt es eine Bedeutungsebene bzw. Rezeptionsebene, in der das keine Rolle spielt. Gesehen wird auf dieser Ebene nicht das Ergebnis einer Handfertigkeit der Pinselführung, die zur Darstellung eines täuschend echten Hasenfells befähigt; gesehen wird ein hockender Feldhase. Aus der Art und Weise der Darstellung werden dem Feldhasen nun Eigenschaften zugesprochen, so als ob es sich um einen real existierenden Feldhasen handelt. Bereits die diagonale Ausrichtung sei ,entscheidend für seine flüchtige Erscheinung‘. Der den Betrachter_innen zugewandte Löffel und das Auge demonstrieren die ,Fülle sensorischer tierischer Wahrnehmung‘. Gleichzeitig wird, aufgrund der anderen verdeckten Gesichtshälfte und des Schattens ein ,Ereignisraum‘ eröffnet, der dem Betrachter nicht zugänglich ist. Wahrnehmung und Ereignisraum, in Kombination mit den langen Spürhaaren über Auge und Nase und dem konzentrierten Blick des Hasen an den Betrachter_innen vorbei, drängt sich eine Deutung auf, die als Grundlage für weitere bildliche Narration verstanden werden kann: Dem hockenden Feldhasen wird die Tendenz zugesprochen jederzeit flüchten zu können/wollen. Nach ,jedem Blick ist verwunderlich, dass der Feldhase noch harrt‘. Diese

11 Schröder, S. 48 ff.

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Bedeutungsebene des Bildes ist für die erfolgreiche Lektüre eines (narrativen) Comics konstitutiv. Setzten wir bei der Fotografie die Belichtungszeit mit der dargestellten Zeit gleich, so ist es die Kenntnis über die technisch bedingte Zeitspanne des Lichteinfalls, die einem fotografischen Bild ,seine‘ Zeit verleiht. Dürer erzeugt mit vollkommen anderen Mitteln ein Zeitempfinden in seinem Feldhasen.12 Es scheint sich die Frage im FuturII zu stellen: Wann wird der Hase verschwunden sein? Über die Leerstelle, die Dürer hier konstruiert, legt er ein Netz aus bildinternen Hinweisen, die die Betrachter_innen die Leerstelle zwar selbständig, aber dennoch nicht willkürlich ausfüllen lassen. Auf der vierten Ebene weist Trux auf die weiterreichende Bedeutung des Bildes hin. Sie findet hierfür die treffende Formulierung des ,psychologisch gesteigerten Wesensportraits‘. Weiterhin verweist Sie darauf, dass Dürer das Motiv/Symbol des Feldhasen häufiger in anderen seiner Bilder verwendete. Ohne ausschließen zu wollen, dass es Einzelbilder im narrativen Comic auch auf diese vierte Ebene ,schaffen‘ können, soll nun im Vergleich mit einem Comicbeispiel gezeigt werden, wie Bedeutungskonstitution im Allgemeinen und Narration im Besonderen geschehen kann, wenn mehr als ein Bild zur Verfügung steht. Der norwegische Zeichner John Arne Sæerøy, der sich schlicht Jason nennt, bevölkert seine Erzählwelten mit menschenähnlichen Tierwesen. Es finden sich u.a. Hunde, Hasen, Vögel, Bären und Mischwesen. Die anthropomorphen Figuren besitzen jedoch keine spezifisch tierischen, sondern ausschließlich menschliche Eigenschaften. Gezeichnet sind seine Figuren mit einfachen schlichten Strichen und Formen. Der Stil erinnert zu großen Teilen an die französische ligne claire. Das Beispiel stammt aus seinem Album Ich habe Adolf Hitler getötet13. Hier findet sich ein Einzelbild (Abb. 14), das eine einfachere, aber dem Feldhasen vergleichbare Dynamik aufweist. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Funktionsweisen der bildlichen Bedeutungsebenen bei Einzelbildern und Bilderreihen variieren können. Die Betrachter_innen sehen vor einem hellbraunen monochromen Hintergrund zwei Figuren.

12 Wobei nicht auszuschließen ist, dass sich auch Fotografien eben dieser Mittel bedienen können und es gleichsam eine bildinterne Zeit und eine bildtechnische Zeit gibt. 13 Jason, S. 11

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Abbildung 14: Möglicher Schuss als Minimalnarration: Jasons anthtropomorphe Tierfiguren

Die rechte Figur sitzt und schaut nach rechts, für die Betrachter_innen ist in diesem Einzelbild nicht ersichtlich, wohin die sitzende Figur schaut. Hinter dieser Figur, etwas mehr als einen Arm weit entfernt, steht die zweite. Sie richtet eine Pistole auf den Hinterkopf der ersten Figur. Als Einzelbild betrachtet, ist es in dieser Situation eher wahrscheinlich, dass sich die sitzende Figur der Gefahr, in der sie schwebt, nicht bewusst ist. Die minimalistische Ausstattung des Bildes – so gibt es z.B. keine Hintergrunddetails, Farbverläufe oder Schraffuren – konzentriert das Bild einzig auf die beschriebene Situation. Es finden sich strukturelle Ähnlichkeiten mit der Komposition des Feldhasen. Im Querformat sind die Figuren – genauer: die beiden Köpfe, der Arm und die Pistole – auf die von links oben nach rechts unten verlaufende Blattdiagonale positioniert. Obwohl die sitzende Figur dem Betrachter am nächsten ist, blickt sie, dem Feldhasen gleich, dieser Diagonale folgend in einen Raum außerhalb der Blattfläche. Das ist bereits entscheidend für die Suspense der Situation. Die aktive, machtvolle Position des Attentäters in Kombination mit der passiven des Opfers lassen Bildaufbau

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und inhaltliche Spannung korrelieren. Sie steigert die Wahrscheinlichkeit, dass die sitzende Figur dem Tode geweiht ist. Obwohl Jason den Sessel nur andeutet, reicht diese Andeutung schon aus, um das Opfer scheinbar ruhig und fest sitzen zu lassen. Doch der undefinierte Raum, der über den Bildrand geführt ist, gibt ihm Raum zur Flucht. Ganz anders als die Bilddiagonale, in die er eingespannt ist. Nicht nur in Erwartung des Schusses, auch in der bildintern arrangierten Ambivalenz zwischen statischer Momentaufnahme und Bewegungs- und Fluchtlatenz liegt somit die Spannung dieser Situation. Die Spannung dieses trügerisch-stillen Augenblicks, wird verstärkt dadurch, dass die Sinnesorgane des Opfers von seiner Bedrohung abgewandt sind. Zögert der Attentäter noch, oder befinden wir uns mit dem Panel in der Sekunde vor dem Schuss? Jedes weitere Zögern seitens des Attentäters steigert die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden. Den Ausdruck dieser Entscheidungslatenz erreicht Jason auch durch die Bildkomposition. Im Wissen darum, dass wir es mit einem Comic zu tun haben, würde es also nicht verwundern, wenn wir im nächsten Panel sehen, wie die Waffe abgefeuert wird. Während beim Feldhasen kein Folgebild vorhanden ist, ist das oben beschriebene Comicbild das dritte Panel in einer 4-teiligen Bilderreihe (Abb. 15). In der hier besprochenen Sequenz14 sehen wir den Hauptprotagonisten im ersten Panel vor dem Fernsehapparat sitzen. Am linken Bildrand, hinter dem Hauptprotagonisten, zeichnet sich ausschnitthaft die Silhouette einer Person ab. Sie trägt eine Schusswaffe in ihrer rechten Hand. Das zweite Panel zeigt uns den laufenden Fernsehapparat gleichsam in Großaufnahme. 15 In der Reflexion auf dem Bildschirm sehen wir die Szene des ersten Panels, über diese Spiegelung befindet sich der Attentäter im Blickfeld des Opfers. Im dritten, dem bereits als Einzelbild beschriebenen Panel zielt der Attentäter mit seiner Waffe auf den Hinterkopf des potenziellen Opfers. Im vierten Panel, durch zwei Bewegungslinien angedeutet, kann das vermeintliche Opfer den Schuss durch einen schnellen

14 Jason, S. 11 15 Die im TV dargestellte Dialogsituation erinnert an die populäre Abschiedsszene in dem Film Casablanca (Regie: Michael Curtiz, 1942). Der in dieser Szene von Humphrey Bogart vorgetragene, popkulturelles Gemeingut gewordene Satz „Here‘s looking at you, kid.“, bricht die vor dem Apparat stattfindende Handlung in ironischer Weise.

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Handkantenschlag in eine andere Richtung abwenden. Das ausführlich beschriebene dritte Panel ist zum Verständnis der Handlung nicht zwingend notwendig, erfüllt allerdings eine spannungssteigernde Funktion. Dabei bedient sich der Zeichner Jason einer bildinternen Komposition, die Elisabeth M. Trux in ihrer Analyse des Dürerschen Feldhasen als Flüchtigkeit des ruhenden Augenblicks bezeichnet. Abbildung 15: Auflösung der Bewegungslatenz durch weitere Bilder

5.1 DIE SYMBOLE RUDOLF WITTKOWERS UND DIE PROBLEME ERWIN PANOFSKYS Wie wir im vorigen Abschnitt festgestellt haben, lassen sich verschiedene Beschreibungsebenen eines Bildes ausmachen. Die Kunsthistoriker Erwin Panofsky und Rudolf Wittkower fanden in ihren Aufsätzen, Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst und Die Deutung optischer Symbole, für dieses Phänomen der Bedeutungsschichten zu ähnlichen Ergebnissen. Es lohnt eine vergleichende Darstellung der von Panofsky und Wittkower entwickelten Modelle, da Panofsky aus einer werkästhetischen und Wittkower aus einer rezeptionsästhetischen

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Perspektive argumentiert. Um deutlich zu machen, welchen Einfluss der Umstand, es nicht mit einem Einzelbild, sondern einem Comic zu tun zu haben, auf die Art und Weise der Bedeutungskonstruktion hat, wird die Funktionsweise einer Bilderreihe aus dem Comic Asterios Polyp mit den Theoriemodellen Panofskys und Wittkower verglichen. 1. Panofskys erste Ebene, in der sich beispielsweise aneinander gereihte Farben auf einer Leinwand zu „quasi ornamentalen oder quasi tektonischen Formenkomplexen“16 zusammenfassen lassen, ist als eine rein formale, vorikonographische Beschreibung zu verstehen. Bei Wittkower ist das noch keine explizite Ebene, der Sachverhalt findet sich jedoch andeutungsweise im einleitenden Abschnitt seines Aufsatzes: „Ich möchte mit der unbezweifelbaren Feststellung beginnen, daß ein Blinder keine optische Botschaft empfangen kann. Optische Botschaften stürmen auf uns ein, aber wir sind den meisten gegenüber blind. Auf jede optische Mitteilung zu reagieren, würde das Leben völlig unerträglich machen. Es wäre, als würde man hunderten von verbalen Mitteilungen lauschen, die zur Dauerhaftigkeit erstarrt sind“.17 Für Wittkower beginnt die erste Ebene dort, wo sich so etwas wie eine grundlegende Bedeutung abzeichnet: „Es ist also ein großes Glück, daß die einzigen optischen Botschaften, auf die unser Hirn reagiert, eben jene sind, die wir auf die eine oder andere Weise als für uns nützlich oder wichtig beurteilen. Wenn das geschieht, dann übermittelt uns das optische Zeichen oder Symbol eine Bedeutung.“18 Wie Wittkower folgerichtig feststellt, gibt es relativ eindeutige Botschaften, wie Verkehrsschilder etc., und es gibt Kunstwerke, deren Bedeutung erst durch Interpretation entschlüsselt werden muss und „[d]ie Bedeutung des Kunstwerks hängt von der Interpretation ab.“19 Somit rückt die Beziehung zwischen Werk und den Betrachter_innen in den Fokus, da sie – anders als bei einem Verkehrsschild – wesentlich an der Bedeutungsschöpfung oder Interpretation beteiligt ist.20 Von

16 Michels, S. 1065 17 Wittkower, Die Deutung optische Symbole, in: ders. S. 319-345, hier: S. 320 18 Ebd., S. 320 19 Ebd. 20 Bei der theoretischen Beschäftigung mit (zeitgenössischer) Kunst gerät mitunter in Vergessenheit, dass die Betrachter_innen es mit Botschaften zu tun haben, deren Empfänger_innen sie sind/sein sollen. Die schlichte Tatsache, dass wir es bei einem Kunstwerk mit der Botschaft eines anderen Menschen zu tun haben,

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der weitesten Bedeutung des Begriffs ,optisches Symbol‘ ausgehend, unterscheidet Wittkower zwischen der rationalen und der gefühlsmäßigen Interpretation. Die rationale Interpretation besteht laut Wittkower aus aufeinander aufbauenden Ebenen: der gegenständlichen Bedeutung, der thematischen Bedeutung, der Bedeutungsvielfalt und der Art und Weise des Ausdrucks. 2. Auf der nächsten Ebene wird ganz basal danach gefragt, was dargestellt ist. Da Vincis vitruvianischer Mensch und die Kinderzeichnung eines Menschen würden hier dieselbe Antwort bekommen: Mensch. „Es ist ziemlich wichtig, diesen Punkt genau zu erfassen, denn er zeigt den eigentlichen Unterschied zwischen Wort und Bild. Im Unterschied zum

scheint in der nach Objektivität strebenden Wissenschaftssprache oft unterzugehen. Doch was ist ein Kunstwerk anderes, als die Aufforderung, aktiv an der Kundgebung der Ausdrucks- und Interpretationsfähigkeit von jemand anderem teilzunehmen? Anstelle von Epochenbezeichnungen oder Stilen sind es heutzutage größtenteils die Künstlernamen selbst, unter denen Kunst propagiert wird. Kunsthistorische Zuschreibungen, Medien- und Stilbegriffe werden verwendet, um die Besonderheiten des einzelnen Künstlers zu beschreiben. Doch lassen sich auch Argumente vorlegen, dass die Intention des Künstlers beim Betrachten seiner Werke eher im Hintergrund steht und es eben auf die Beziehung Werk – Betrachter ankommt. Andererseits ist es auch (evtl. sogar nur) die Intention des Künstlers, die uns davor bewahrt, dass das Betrachten von Kunst mit einer ästhetischen Einstellung verwechselt werden könnte, die quasi alles unter kunstästhetischen Gesichtspunkten betrachtet. Doch ohne Künstler bzw. Kunstwerke, würde man sich auf Dauer nur um sein ästhetisches Selbst drehen. Die Intention kann, wie jede Eigenschaft der Kunst, zum Gegenstand der Interpretation werden. Sie verliert dadurch ihren scheinbar autobiografischen Charakter. Im Kunstwerk signalisiert die Freiheit der Form, d.h. die individuelle Erscheinung, deren Urheber immer der Künstler ist, unbedingte Subjektivität. Darum wird man als Betrachter_In das Kunstwerk nicht als Versuch der Wirklichkeitsschilderung akzeptieren können, weil in der Kunst das Konzept der Objektivität eben nur im Sinne einer subjektiven Wahrheit gegeben sein kann. Jedoch die Künstler_innen sagen nicht: „Jetzt spreche ich.“. Mit der Veröffentlichung und damit einer Verselbstständigung ihrer Werke sagen sie: „Sprechen wir über meine Interpretationsfähigkeit.“ Das setzt aktive Betrachter_innen und keine passiven Leser_innen der ikonographischen Einzelteile des Werkes voraus.

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willkürlich gewählten Wortsymbol (das Wort ,Mensch‘ und die Sache Mensch haben nichts miteinander gemein) fängt das Bild etwas von der Identität des Gegenstandes ein.“21 Nichtsdestotrotz muss auf dieser Ebene der Gegenstandsbedeutung, das Wissen darum, was in der Zeichnung repräsentiert ist, schon gegeben sein. Dieses Wissen stammt aus dem, was sich am ehesten als Alltagserfahrung zusammenfassen lässt. Von Panofskys basalen Formenkomplexen ausgehend, befinden wir uns auf dieser Ebene der Betrachtung, sobald die Betrachter_innen in einem dieser Formenkomplexe etwas anderes als die Farbe auf der Leinwand erkennen, einen Baum, einen Stuhl oder einen Menschen. Das Bild wird zu etwas Darstellendem. Ein Bild nur auf der Ebene seiner formalen Darstellungsfaktoren zu beschreiben, ist eine Art der Bestandsaufnahme, des primären Sinns22, noch vor der eigentlichen ikonographischen Betrachtung. „Wenn ich jenen hellen Farbkomplex da in der Mitte als einen „schwebenden Menschen mit durchlöcherten Händen und Füßen“ bezeichne, so überschreite ich zwar damit [...] die Grenzen einer bloßen Formbeschreibung, aber ich verbleibe noch in einer Region von Sinnvorstellungen, die dem Betrachter auf Grund seiner optischen Anschauung, seiner Tast- oder Bewegungswahrnehmung, auf Grund seiner unmittelbaren Daseinserfahrung, zugänglich und vertraut sind.“23

Mit anderen Worten: Selbst wenn den Betrachter_innen die weiterführenden Indizien der durchlöcherten Hände und Füße nicht geläufig sind, so sind die Betrachter_innen aller Wahrscheinlichkeit nach mit der humanoiden Form, Verletzungen dieser Form und dem Ausnahmezustand des Schwebens dieser Form vertraut. „Wir wollen jene „primäre“ Sinnschicht, in die wir aufgrund unserer vitalen Daseinserfahrung eindringen können, als die Region des Phänomensinnes bezeichnen [...]“.24 Die konstitutive Bedeutung dieser Sinnschicht für den Comic kann nicht genug betont werden. Während für Einzelbilder in der Regel eine außerhalb des Bildes liegende Referenz herangezogen werden muss, um weitere Bedeutung zu erzeugen, haben Bildgeschichten die Möglichkeit, diese Referenzquelle in

21 Wittkower, S. 322 22 Vgl.: Michels, S. 1065 23 Ebd., S. 1065 f. 24 Michels, S. 1066

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sich selbst zu generieren. Am Beispiel des Comics Asterios Polyp von David Mazzucchelli im Abschnitt 5.2 wird diese Funktionsweise genauer erläutert. 3. Darauf aufbauend ergibt sich eine weitere Ebene, auf der nach dem Thema des Dargestellten gefragt wird. Wie Wittkower richtig bemerkt, ist es in der Kunstgeschichte eine Ausnahme, wenn Gegenstandsbedeutung und Thema eines Bildes übereinstimmen. Um der Darstellung eines schwebenden Menschen mit durchlöcherten Händen und Füßen die Bezeichnung Der wiederauferstandene Jesus zukommen zu lassen, benötigen die Betrachter_innen weiteres Wissen. „Sobald wir jedoch die optische und thematische Übereinkunft für eine Geschichte erfahren haben, wird uns ihre Bedeutung im Akt der sinnlichen und geistigen Wahrnehmung offenbar.“25 Die Sinnschicht, in der die Betrachter_innen über das Wissen verfügen, dass es sich um eine Jesusdarstellung handelt und mit den Darstellungsprinzipien vertraut sind, nennt Panofsky Bedeutungssinn26. „Es ist tatsächlich so: um ein Kunstwerk, und sei es auch rein phänomenal, zutreffend beschreiben zu können, müssen wir es – wenn auch ganz unbewußt und in dem Bruchteil einer Sekunde – bereits stilkritisch eingeordnet haben, da wir ja sonst auf keine Weise wissen können, ob wir an jene „Suspension im Leeren“ den Maßstab des mittelalterlichen Spiritualismus anzulegen haben. Und wir sehen mit einiger Überraschung, daß wir mit dem so scheinbar einfachen Satz: „ein Mensch entschwebt einem Grabe“ bereits so schwierige und allgemeine Fragen entschieden haben, wie die nach dem Verhältnis zwischen Fläche und Tiefe, Körper und Raum, Statik und Dynamik [...].“27

Daraus folgt, dass bereits die einfache Beschreibung eines Comicbildes, schon und angemessener, als Deutung der Gestalt verstanden werden kann. „Und mehr noch als die beschreibende Aufdeckung des Phänomensinns wächst nun naturgemäß die ikonographische Aufdeckung des Bedeutungssinns über den Begriff einer einfachen Konstatierung hinaus: auch sie ist, und das vielleicht noch mehr als jene, eine Interpretation.“28 Wie Panofsky

25 Wittkower, S. 330 26 Michels, S. 1066 27 Michels, S. 1068 28 Ebd., S. 1069

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folgerichtig feststellt, erhalten diese verschiedenen Ebenen des Bildes ihre Bedeutung auch aus verschiedenen Quellen. Panofsky nennt diese Quellen eine Oberinstanz. „Diese „Oberinstanz“, die bei der Aufdeckung des Phänomensinns die Stilerkenntnis war, ist nun bei der Aufdeckung des Bedeutungssinnes die Typenlehre, wobei ich unter „Typus“ eine solche Darstellung verstehe, in der sich ein bestimmter Sachsinn mit einem bestimmten Bedeutungssinn so fest verknüpft hat, daß sie als Träger dieses Bedeutungssinnes traditionell geworden ist.“29 Panofsky bringt die Bedingungen auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die ikonographische Analyse, die sich mit Bildern, Anekdoten und Allegorien, statt mit Motiven befaßt, setzt natürlich weit mehr voraus als jene Vertrautheit mit Gegenständen und Ereignissen, wie wir sie durch praktische Erfahrung erwerben. Sie setzt eine Vertrautheit mit bestimmten Themen oder Vorstellungen voraus, wie sie durch literarische Quellen vermittelt wird, sei es durch zielbewußtes Lesen oder durch mündliche Tradition.“30 Der Comic verfügt auch über die Möglichkeit, das zu nutzen, was Panofsky als Vertrautheit mit Themen, Vorstellungen und Quellen beschreibt. Jedoch kann er darüber hinaus seine eigene Quelle sein und so aus sich selbst heraus, mit den Bildern, in der Geschichte Bedeutungen evozieren. Der Comic beginnt quasi auf der Ebene des Phänomensinns und entwickelt seine eigene Ikonographie, dass er dabei auch Anleihen an externer Ikonographie nehmen kann, ist kein Widerspruch. Ein vergleichbares Vorgehen ist aus der zeitgenössischen künstlerischen Praxis bekannt.31

29 Ebd. 30 Kaemmerling, S. 217 31 Während man sich bei vormodernen Werken in der Regel eines ikonographischen Lexikons bedienen kann, etabliert jedes zeitgenössische Kunstwerk seine eigene Ikonographie. Was nicht ausschließt, dass es auf die überlieferte Ikonographie Bezug nimmt. Ebenso können Kunstwerke aus Epochen, bevor die Kunst als autonom bezeichnet wurde, in höchstem Maße mehrdeutig sein. Mit Mehrdeutigkeit wird eine Eigenschaft von Kunst bezeichnet, die den (andauernden) Rätselcharakter von Kunst bezeichnen soll. Plastisch formuliert könnte man sagen, dass mit der Mehrdeutigkeit eine Komponente zum notwendigen Anteil des Betrachters am Kunstwerk hinzugefügt wird, die den Unterschied zum bloßen Designobjekt hinreichend macht.

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4. Auf der nächsten Ebene stellt sich die Frage, wie die übertragene Bedeutung des Kunstwerks zu verstehen ist, denn „[d]ie bloße thematische Bedeutung erzählt uns oft nicht die ganze Geschichte. Die überwiegende Mehrzahl der Kunstwerke besitzt eine absichtlich hinzugefügte übertragene Bedeutung, entweder objektiver oder subjektiver Art.“32 Wittkower betont, dass die Bedeutungsschöpfung auf dieser Ebene der Interpretation von Kunstwerken selten linear verläuft, denn „[e]s ist nicht immer möglich die verschiedenen Schichten einer impliziten Bedeutung [eines Bildes] durch den Verweis auf nur einen einzigen Text zu klären. Meistens ist es notwendig, sich in ein Gewirr aus historischen, religiösen, literarischen und philosophischen Bezügen zu stürzen.“33 Panofsky sieht in dieser Ebene der Interpretation eine neue Qualität der Bedeutungsschöpfung. Hatten wir es bis jetzt noch mit Ikonographie, dem Schreiben mit Bildern, zu tun, müssen wir nun von Ikonologie sprechen, dem Sinn oder Denken durch und mit Bilder. „An erster Stelle sei die Art und Weise zu untersuchen, wie die Dinge und Personen der innerbildlichen Kommunikation zueinander in Beziehung treten und dabei den Betrachter einschließen oder (scheinbar) ausschließen. Man spricht hier von Diegese (griech. diegesis = weitläufige Erörterung). Die Diegese erläutert die Verteilung der Handlungsträger auf der Bildfläche und/oder im perspektivischen Raum, die Position, die sie zueinander und zum Betrachter einnehmen, ihre Gesten und Blickkontakte, kurz deiktische Einrichtung des Werks, die Modi des Zeigens und der Orientierung.“34

5. Die Frage, die sich auf der letzten Ebene stellt, zielt zwar auch auf die Bedeutung eines Kunstwerkes, jedoch geht es hier weniger um referenzielles Wissen als um die Art und Weise, wie das Kunstwerk ausgeführt ist, und welche Reaktionen das wiederum im Betrachter auslöst. „Im augenblicklichen Zusammenhang interessiert mich nur ein Punkt: Können wir dieses ›Wie‹, die persönliche Sicht des Künstlers, rational und objektiv interpretieren? Unnötig zu sagen, daß von dem Wie abhängt, ob wir für das

32 Wittkower, S. 330 33 Ebd. 34 Belting, S. 246

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Was empfänglich sind.“35 Der Einfluss des persönlichen Stils des Künstlers auf die Bedeutungsstrukturen einer Comicgeschichte eröffnet für die Betrachter_innen neue Sehgewohnheiten. Im vorliegenden Zusammenhang kann dazu auf die Ausführungen zu den Funktionen des graphischen Stils im Comic in Abschnitt 2 verwiesen werden.

5.2 WICHTIGES WOHNEN IM FALSCHEN: DAS BEDEUTSAME INTERIEUR DES ASTERIOS POLYP Ob es der nicht chronologische Aufbau der Erzählung, die bewusst eingesetzten Variationen im zeichnerischen Stil oder der sinnstiftende Einsatz von Farben jenseits einer mimetischen Darstellungsweise ist: Das mehr als 300 Seiten starke Werk Asterios Polyp von David Mazzucchelli bietet eine Vielzahl an möglichen Interpretationszugängen. Sorgen wir zuerst für einen Überblick: Wer ist die Figur Asterios Polyp und was passiert in ,seiner‘ Geschichte? Die Geschichte wird uns von Asterios‘ tot geborenem Zwillingsbruder erzählt. Dieser Kunstgriff ermöglicht eine auktoriale Erzählsituation, mit besonderem Schwerpunkt auf Asterios Perspektive. 36 Unser Protagonist, ein Mann mittleren Alters, wird als New Yorker Architekturprofessor vorgestellt, als sogenannter Papierarchitekt, keiner seiner Entwürfe wurde jemals realisiert. Trotzdem genießt er einen formidablen Ruf, da er diverse Wettbewerbe und Preise gewonnen und mit seiner ersten Publikation, „Moderne mit menschlichem Antlitz“, einen mo-

35 Wittkower, S. 334 36 Dadurch, dass es sich um einen totgeborenen Zwillingsbruder der Hauptfigur handelt, gerät die, eigentlich strenge, auktoriale Erzählsituation (totgeboren) in Spannung, da das Bewusstsein über einen potentiellen Zwillingsbruder Asterios in einigen Teilen der Geschichte über sein Leben reflektieren lässt. Das geschieht, indem er die hypothetische Perspektive eines lebendigen Zwillingsbruders einnimmt und sein Leben betrachtet. Diese Versionen des lebendigen Zwillingsbruders sind aufgrund ihrer Einbettung in die Gedankenwelt von Asterios jedoch nicht gleichzusetzen, mit der Erzählfigur des totgeborenen Zwillingsbruders.

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dernen Klassiker vorgelegt hat. Mit Hana Sonnenschein – einer hochtalentierten Bildhauerin, die trotz ihres Talents und exzellenter Ausbildung, aber aufgrund ihrer Familiengeschichte mit einem Minderwertigkeitskomplex kämpft – findet Asterios eine Partnerin, mit der er sich auf eine feste Beziehung einlassen kann. Die Geschichte handelt im Wesentlichen von den Prozessen, die Asterios und Hana während und nach der Beziehung durchleben. Hana macht auch Veränderungen durch, der Fokus der Geschichte liegt auf Asterios. Die Handlung wird den Betrachter_innen nicht chronologisch präsentiert. In dem was wir die gegenwärtige Zeitlinie nennen können, begleiten wir Asterios, der hier schon von Hana getrennt ist, aus seiner brennenden Wohnung heraus, auf eine Art Odyssee, an deren Ende er Hana wiedersieht. Diese Odyssee lässt die Figur des Asterios einen Wandel durchmachen, so dass wir es am Ende der Geschichte mit einem anderen, reiferen Asterios zu tun haben. In der vergangenen Zeitlinie begleiten wir Hana und Asterios in ihrer Beziehung bis kurz vor den Zeitpunkt ihrer Trennung. Diese beiden Zeitlinien wechseln sich innerhalb der Geschichte ab, durchsetzt sind diese beiden Zeitlinien von Träumen und traumähnlichen Sequenzen. Bemerkenswert ist die Art und Weise der Charakterisierung der Figuren. Während Asterios nicht müde wird, seine rationale, moderne Sicht der Dinge in Vorträgen und Diskussionen zu verbreiten und es sich hier nicht nur um eine akademische Positionierung, sondern um ein Weltbild handelt, ist Hanas Sichtweise dazu konträr. Asterios Bauhaus-Möbel und Hanas organisch wirkende Skulpturen oder der Kunstgriff Mazzucchellis bei einem Streit des Paares, Asterios Figur in blauen geometrischen Formen zu konstruieren und Hanas Form aus roten skizzenhaften Strichen zu finden, lassen die unterschiedlichen Weltsichten der Protagonisten auch auf der bildlichen Ebene deutlich werden. Unterstrichen wird diese Verschiedenheit auch dadurch, dass Asterios‘ Sprechblasen viereckig und Hanas rund sind. In dem 338-seitigen Werk37 finden sich auf den Seiten 4, 14, 87, 156, 190 und 225 Darstellungen von Asterios Appartement (vgl. Abb. 16). Der Bildausschnitt ist immer identisch gewählt, in einem zentralperspektivisch aufgebauten Bild erhalten die Betrachter_innen Einblick in Asterios Wohnzimmer, im Hintergrund erkennt man die Küche. Der Zustand des Raumes verändert sich im Verlauf der Geschichte. Ordnet man die Darstellungen des Wohn-

37 Eigene Paginierung, beginnend mit dem 4. Blatt

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zimmers chronologisch (wie in der hier gezeigten Zusammenstellung), so werden wir Zeuge einer zunehmenden Unordnung bis hin zur totalen Zerstörung der Wohnung. Was ist zu sehen? Dem oben erläuterten Modell der Bedeutungsschichten folgend, bestehen natürlich auch die hier besprochenen Comicseiten aus aneinandergereihten Farben. Stellen wir die Frage nach der zweiten Ebene, also dem was dargestellt ist, so lautet die Antwort, dass die Betrachter_innen es mit der Innenansicht eines Raumes zu tun haben, in dem sich Möbel und Menschen befinden. Somit liegt das Thema des Dargestellten nahe. Mazzucchelli zeigt uns an verschiedenen Stellen der Geschichte wie Asterios wohnt. Es folgt eine kurze Beschreibung der in dem Comic verwendeten Wohnungsansichten: 1. In der – chronologisch gesehen – ersten Darstellung dominiert die zentralperspektivische Konstruktion das Bild, die streng geometrischen Bauhaus-Möbel befinden sich an ihrem zugewiesenen Ort. Bei den Möbeln handelt es sich um: das LC 2 3-Sitzer-Sofa von Le Corbusier, zwei Stahlrohrsessel B3 von Marcel Breuer (auch bekannt als Wassily-Stuhl), einen Stahlbandsessel MR90 (Barcelona Lounge Chair) und einen Stahlbandtisch (Barcelona Tisch) jeweils von Ludwig Mies van der Rohe, weiterhin den Adjustable Table E 1027 von Eilee Gray, die Nelson Bank von George Nelson und im Hintergrund ist ein Plywood-Stuhl von Charles Eames zu erkennen. Das Sofa von Le Corbusier und die Sessel von Breuer und van der Rohe sind im Zentrum des Bildes angeordnet. Alle drei gehören zu den einflussreichsten Designern des Bauhaus und waren wichtige Architekten des 20. Jahrhunderts. Dem Gründer und ersten Direktor des Bauhaus, Walter Gropius, ging es hauptsächlich um „vernünftige Produkte“38. So etwas wie ein Wesen des Bauhaus-Designs in einer Art Liste aufzuzählen, ist angesichts der vielfältigen Produktion nicht möglich. Jedoch lässt sich festhalten, dass sich gerade die in Asterios Wohnung befindlichen Möbel durch eine strenge Formensprache auszeichnen. Diese Formensprache ist auch wirksam ohne explizit designhistorisches Vorwissen der Betrachter_innen.

38 Polster, S. 10

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Abbildung 16: Bedeutung durch Ähnlichkeit und Variation in D. Mazzucchellis Asterios Polyp

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2. Die zweite Darstellung kontrastiert die erste, da sie die vorher dominante Perspektive und Ordnung des Bildes nun durch ein Umzugschaos, das der Einzug von Hanas in Asterios Wohnung verursacht, zunichtemacht. Konträr zu Asterios gleichsam aseptischem Einrichtungsstil finden sich nun Topfpflanzen und eine japanische Truhe in der Wohnzimmeransicht. 3. Weitere Topfpflanzen sind in der dritten Ansicht dazugekommen, und die japanische Truhe hat die Nelson-Bank verdrängt. Die prägnanteste Veränderung jedoch ist der Tausch des streng rechteckig aufgebauten Stahlbandtisches von Mies van der Rohe gegen einen sogenannten Nierentisch, also einer ausgeprägt organischen Form. 4. In dieser Ansicht fehlen ein paar Topfpflanzen. 5. Nicht nur sind in dieser Ansicht alle Topfpflanzen verdorrt, die gesamte Wohnung erscheint unaufgeräumt, dreckiges Geschirr und leere Flaschen stehen herum, Zeitungen, Bücher und Briefe liegen auf dem Boden. Durch die halboffenen Fenster regnet es herein. 6. Der Regen, der in der vorigen Darstellung durch die Fenster kommt, gehört zu einem Gewitter. Ein Blitz ist die Ursache dafür, dass in der letzten Darstellung die Wohnung, in dem Zustand wie unter 5. beschrieben, nun in Flammen steht. David Mazzucchelli verwendet hier zur Charakterisierung seiner Hauptfigur die Formensprache der Bauhausmöbel, darüber hinaus erscheint mir der Zustand der Wohnung Rückschlüsse auf das Gefühlsleben seines Bewohners zuzulassen. In der Verknüpfung eines radikal-modernen Menschenbildes mit der minimalistischen Formensprache der Möbel soll die modernistische Weltsicht auf den Charakter von Asterios übertragen werden. Diesem Vorgehen liegt die These zugrunde, dass das Interieur etwas über seinen Bewohner aussagt und Mazzucchelli sich dessen als charakterisierende Mittel bedient hat. „Waren die Entwürfe des Bauhauses für ein neues Wohnen immer eingebunden in Konzepte des modernen Lebens, reduziert sich die Wahrnehmung ihrer designerischen Arbeit heute auf Einzelprodukte, wie sie in ihren Katalogen angeboten wurden. Die Auseinandersetzung der Avantgarde mit der aktuellen Zeit und ihre Zukunftsorientiertheit sind inzwischen eingefroren auf Designobjekte. Es ist der modernistische Geist, der in der Ästhetik der Objekte mitschwingt und sich zugleich als beständige Solidität vermittelt. Nicht mehr im eigentlichen historischen Sinne mo-

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dern, sollen die Einzelobjekte vielmehr Symbole genialer Innovation mit durchschlagendem Erfolg sein. Heute hochpreisige Statusobjekte, war ihre einstige Zweckorientierung eher moderat.“39

Diese Symbolhaftigkeit mündet bei den von Mazzucchelli in Szene gesetzten Designklassikern in eine Attributfähigkeit, mittels derer die Protagonisten charakterisiert werden können. Da wir zu dem Zeitpunkt der Geschichte, in dem die erste Wohnungsansicht zu sehen ist, bereits mit Asterios extrovertierter Persönlichkeit vertraut sind, überrascht es wenig, dass seine Wohnung eine für die Betrachter-/Besucher_innen durchkomponierte Erweiterung seiner Persönlichkeit zu sein scheint. Die schon erwähnte Zentralperspektive unterstreicht den ausstellenden Charakter seiner Wohnung. So bringt Asterios Interieur weniger sein privates Innerstes zur Ansicht. Es wird von Asterios das zu-sehen-gegeben40, wovon er sich wünscht, dass es als Ausdruck seiner Persönlichkeit verstanden wird. Damit sind wir bei der Frage, um welche übertragene Bedeutung (4.Ebene) es bei den verschiedenen Darstellungen der Wohnung geht. Da Hana die erste Frau zu sein scheint, auf die Asterios sich ernsthaft einlassen kann, wird aus der Bühne, die der alleinstehende Asterios aus seiner Wohnung gemacht hat, nun ein Raum des Zusammen-Lebens. Das Umzugschaos hebt die bestehende Ordnung auf und etabliert ein neue, die sich als Synthese oder Kompromiss aus Asterios und Hanas Vorstellungen darstellt. Dass hier ganz unterschiedliche Charaktere zusammenleben wollen, macht Mazzucchelli auch dadurch deutlich, dass nun Möbel mit mehr als nur unterschiedlicher Formensprache miteinander arrangiert werden. Im Kontrast zu den programmatisch traditionsverweigernden Bauhaus-Möbeln erhält mit Hanas Einzug ein traditionelles Möbelstück einen Platz in der nun gemeinsamen Wohnung. Diese Art Truhe ist in Japan spätestens seit dem 19. Jahrhundert in allen Bevölkerungsschichten verbreitet. Sie hatten den Zweck, einen Großteil des häuslichen Inventars aufzunehmen und im Falle eines Feuers schnell abtransportiert werden zu können. Möglich wurde das durch Holzräder unter den Truhen. Feuer waren in dem an Erdbeben reichen Gebiet, in Kombination mit

39 Breuer, Gerda: Bauhaus und Neues Wohnen, Utopie und Reform in den 1920er Jahren, in: Brüderlin, S. 210 40 Nierhaus, S. 103 f.

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offenen Feuerstellen, lange Zeit ein Problem.41 In dieser Truhe sind also alle Dinge, die für Hana von familiären Wert sind, zu vermuten. Im Kontrast zu Asterios Möbeln ist die Truhe also weniger ein egozentrisches Ausstellungsstück als ein Ort des Aufhebens und Bewahrens. Rückblickend kann das Fehlen einiger Topfpflanzen in der vierten Ansicht bereits als Zeichen für die bevorstehende Katastrophe gedeutet werden. Der verwahrloste Zustand der Wohnung, der gerade im Vergleich zu der strengen Formensprache des Bauhaus einen besonders starken Kontrast bildet, kann also als Metapher für Asterios emotionale Verfassung gedeutet werden. Der schicksalhafte Wohnungsbrand mag somit am Beginn der Erzählung als Katastrophe gedeutet werden. Im Verlauf der Erzählung kann das Abfackeln des Interieurs als notwendiger, befreiender Neustart für den Charakter Asterios verstanden werden. Auf dieser Ebene der Bedeutungskonstruktion können wir nun eine Funktionsweise beobachten, die uns eine spezifische Möglichkeit der Bildgeschichte und damit auch des Comics vor Augen führt. Aufgrund ihrer narrativen Verbundenheit und ihrer formellen Ähnlichkeit, haben die Bilder nun die Möglichkeit, aufeinander Bezug zu nehmen, um Bedeutung zu evozieren. Obwohl sich der Comic hier der Möglichkeit bedient, mit der Formensprache der Möbel den Wandel der Charaktere noch stärker zu illustrieren, ist er nicht zwingend auf diese externe Quelle angewiesen. Die wiederholte Darstellung der Wohnzimmeransicht ermöglicht den Betrachter_innen, Zeugen eines Prozesses zu werden, der Rückschlüsse auf das Innenleben der Protagonisten zulässt. Während Einzelbilder auf dieser Bedeutungsebene in aller Regel auf externe Quellen angewiesen sind, wurden die geneigten Betrachter_innen des Comics bereits durch den Verlauf der Erzählung mit allen notwendigen Bedeutungsbausteinen versorgt. Das referentielle Wissen bezieht sich im Falle des Comics auf vorhergehende Bilder. Comicerzählungen liefern somit die Möglichkeit, das was Panofsky übertragene Bedeutung nennt, aus sich selbst zu evozieren. Wie beim vorgetragenen Beispiel besteht die Möglichkeit unter Bezugnahme auf eine externe Bedeutungsquelle (Formensprache von Möbeln), die gewünschte Wirkung zu verstärken.

41 Vgl.: Freese, S. 66 ff.

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5.3 DER BEGRIFF DER LEERSTELLE BEI WOLFGANG KEMP Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp sah mit dem Leerstellenbegriff Wolfgang Isers auch ein Phänomen der Malerei beschrieben42. Er übertrug dieses Konzept auf kunsthistorische Gegenstände. Auch Leerstellen in einem Gemälde stellen sich bei näherer Betrachtung dar als ein „sinnfälliges Netz oppositioneller Beziehungen“43, geflochten aus „Vokabeln alltäglicher Evidenz“44. Allerdings sind „[d]iese Begriffe ... nicht deckungsgleich, sie ergänzen sich, aber sie haben als eine Grundannahme, daß jedes Kunstwerk gezielt unvollendet ist, um sich im und durch den Betrachter zu vollenden. Bei diesen Bestimmungen liegt die Betonung auf gezielt oder programmatisch oder konstruktiv unvollendet.“45 Ähnlich wie bei Ingarden und Iser findet sich der ästhetische Wert einer Leerstelle darin, dass sie, als bewusst gesetzte Leerstelle, eine künstlerische Strategie darstellt. Zusätzlich finden wir, vergleichbar zu der literarischen Unbestimmtheitsstelle, ein Merkmal der bildlichen Darstellung: „Neben anderen Eigenschaften bringt es die perspektivische Einrichtung der Malerei mit sich, dass dem Betrachter viele Aspekte vorenthalten werden, Sachinfomationen, aber auch Momente der zeitlichen Dimension. Denn das System der Zentralperspektive ist ein raumzeitliches [...]: Die Einheit des Raumes und die Einheit der Zeit bedingen einander in dieser malerischen Konvention.“46 Wir haben es also mit zwei unterschiedlichen Unvollendungen zu tun. Zum einen eine medieninhärente, ein gezeichneter Baum kann nicht von allen Seiten betrachtet werden, um jedoch zur (darstellenden) Bedeutung des Bildes vorzudringen, muss die vom Zeichner auf dem Papier angeordnete Tinte als Darstellung eines Baumes anerkannt werden. Die zweite Art der Unvollendung kann als künstlerische Strategie bezeichnet werden, weniger als eine Eigenschaft des Mediums selbst. „So finden wir selbst in der klassizistischen Kunstlehre, die nach dem kompletten und aus sich verständli-

42 Kemp, Wolfgang: Verständlichkeit und Spannung, Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: Ders.,1992, S. 307 – 332 43 Ebd, S. 311 44 Ebd., S. 312 45 Ebd., S. 313 46 Ebd., S. 314

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chen Bild verlangt, Einsichten in den relativen Unbestimmtheitscharakter auch der bildenden Kunst. Und wir erhalten einen ersten Hinweis darauf, daß Leerstellen nicht der Feind des ,selbstverständlichen‘ Bildes sein müssen, sondern auch zu dessen Aktualisierung offenbar notwendig sind.“47 Somit sind Leerstellen nicht nur eine Möglichkeit zur Strukturierung der Rezeption, sie selbst setzen bis zu einem gewissen Grad die Bedingungen dafür, wie Bild und Betrachter kommunizieren. Ihre wesentliche Funktion besteht darin, den Betrachter an den kompositorischen Vorgängen innerhalb eines Bildes zu beteiligen. Dieser rezeptionsästhetische Anteil des Betrachters48 untersucht die Annahme eines Betrachters, der gleichsam bei der Produktion eines Bildes mitgedacht wurde: „Rezeptionsästhetik, wie sie hier verstanden wird, arbeitet ... werkorientiert, sie ist auf der Suche nach dem impliziten Betrachter, nach der Betrachterfunktion im Werk. Daß das Werk ‚für jemand‘ gemacht wird, ist keine späte Erkenntnis eines kleinen Zweiges der Kunstgeschichte, sondern konstitutives Element seiner Schöpfung von Anfang an. Jedes Kunstwerk ist adressiert, es entwirft seinen Betrachter, und es gibt dabei zwei Informationen preis, die vielleicht, von einer sehr hohen Warte betrachtet, identisch sind: Indem es mit uns kommuniziert, spricht es über seinen Platz und über seine Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft und es spricht über sich selbst.“ 49

Aus der Betrachterfunktion im Werk schlussfolgert Kemp auf drei Aufgaben einer rezeptionsästhetischen Betrachtungsweise. Zuerst gilt es, die Zeichen und Mittel zu erkennen. Die Aufgaben einer rezeptionsästhetischen Betrachtungsweise bestünden laut Kemp nun darin, nicht nur die Zeichen und Mittel, mit denen ein Bild in Kontakt mit dem Betrachter tritt, zu verstehen, sondern auch ihre sozialgeschichtliche und ästhetische Aussage zu erkennen. „Die Öffnung und Präsentation der inneren Kommunikation wird von Gestaltungsmitteln geleistet, die je nachdem, ob sie den Betrachter direkt adressieren oder auf offenere Reaktionen angelegt sind, Rezeptionsvorgaben oder Rezeptionsangebote heißen können, aber die Formulierung,

47 Ebd., S. 314 48 Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Belting,1998, S. 240 – 257 49 Ebd., S. 243

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die hier wirklich am Platz ist, ist die des impliziten Betrachters – der Betrachter wird durch diese inneren Orientierungen vorgesehen und zur Funktion des Werkes.“50 Orientierungsformen wie die Personenperspektive, der gewählte Bildausschnitt, die Perspektive, bewusst gesetzte Leerstellen und die oben näher erläuterte Unbestimmtheitsstelle zeugen nicht nur in unserem Zusammenhang von der Involviertheit der Rezipient_innen. Sie können als Grundlage eines narrativen Bildverständnisses verstanden werden.

5.4 BILDER SEHEN: DER HOMO PICTOR BEI HANS JONAS Die Bauanleitungen eines schwedischen Möbelkonzerns sind im Rahmen einer expandierenden Bildwissenschaft schon häufiger Gegenstand verschiedenster Untersuchungen geworden. Exemplarische verwendet werden sie auch bei der Analyse sogenannter Sach- oder Instruktionscomics. Diese finden sich häufig dort, wo es darum geht, verhältnismäßig viel Information in gebotener Kürze darzustellen, bzw. eine Visualisierung als sinnvollste Weise der Vermittlung erscheint. Sei es in der Anleitung bei einem Flickzeug für Fahrradreifen, die Anleitung zum korrekten Einsetzen von Kontaktlinsen, die Anleitung zum korrekten Gebrauch von Verhütungsmitteln oder Hinweisschilder zum nächsten Notausgang. Eine auf das Wesentliche verkürzte graphische Darstellung des Bezeichneten ermöglicht der Zielgruppe ein beinahe intuitives Erfassen. Die beleuchteten Hinweisschilder zu den Fluchtwegen links und rechts einer Kinoleinwand können mitunter, mit einer deutschen-industrie-normativen Penetranz, in direkte visuelle Konkurrenz zu den Bildwelten der illuminierten Leinwand treten. Zwei prägnante Beispiele, bei der sich diese piktoriale Verfasstheit des Menschen als Vorteil herausstellt, sind die Kampagnen zur Bewusstmachung der Gefahr durch Landminen und die Umstände der Entdeckung der paläolithischen Höhlenmalerei im späten 19. Jahrhundert. Die erste Höhle mit paläolithischen Wandmalereien, deren Entdeckungsgeschichte überliefert ist, ist die Höhle Altamira in Nordspanien.51 Ein 9-jähriges Mädchen namens Maria de Sautuola, die Tochter des Hobbyarchäologen Marcellino

50 Belting, 1998, S. 246 51 Vgl.: Lorblanchet, S., 135

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de Sautuola, erblickte die Malereien erstmals wieder, nachdem sie ca. 14.000 Jahren verborgen waren. Diese häufig als Anekdote behandelte Begebenheit ist unter dem Aspekt bemerkenswert, als das junge Mägchen, 14.000 Jahre entfernt von der Bildpraxis der ehemaligen Höhlenbewohner, die Verfärbungen an der Höhlenwand nicht als natürlich entstanden, sondern als menschengemacht erkannte. Es bedurfte also keiner besonderen Ausbildung oder Kenntnis, um die Bilder zu erkennen. Die eigentliche Herausforderung der archäologischen Forschung besteht allerdings darin, herauszufinden, welchen Zweck die Wandbilder erfüllten bzw. erfüllen sollten. Aufgrund der bemerkenswerten mimetischen Korrektheit und der gut erhaltenen Farbpigmente, wurde Marcellino de Sautuola sogar vorgeworfen die Malereien gefälscht zu haben.52 Während sich der Bildgegenstand, in diesem Fall Wisente, Pferde und andere Tiere dieser Zeit und Region, mühelos erkennen lässt, erscheint eine umfassende Deutung der paläolithischen Bildpraxis in weiter Ferne, wenn nicht sogar unmöglich. Bei der Frage danach wann die Geschichtsschreibung des Comics beginnen könne, begegnet uns in Abschnitt 6 die Unwahrscheinlichkeit einer globalen Deutung der Höhlenmalerei noch einmal. Die menschliche Fähigkeit, mittels Bildern etwas zu bezeichnen bzw. darauf zu referieren, erweist sich in einem sehr aktuellen Beispiel als besonders wertvoll. Eine Studie53 von 2015 zählt über 60 Länder, in denen große Gebiete mit Landminen, aus den verschiedensten historischen und aktuellen Konflikten, kontaminiert sind. Nach dem Ende eines Konfliktes bleiben die Minenfelder eine Altlast, mit der schwer umzugehen ist. In der Unsichtbarkeit dieser vergrabenen Sprengfallen liegt die Taktik dieser willkürlichen Waffen. 2014 waren 80% der Opfer von Landminen Zivilisten, 39% der Opfer waren Kinder.54 Neben der sehr aufwändigen und teuren Räumung der Minenfelder ist die Aufklärung der potenziellen Opfer eine wichtige Maßnahme die unsichtbare Gefahr bewußt zu machen. Dabei stellt der vergleichsweise hohe Prozentsatz von Analphabeten unter der betroffenen Bevölkerung ein großes Problem dar. Afghanistan, ein Land in dem Landminen in mehr als 100 Quadratkilometern vermutet werden, leidet auch gleichzeitig unter der höchsten Analphabetenrate. Laut

52 Vgl. Hollingsworth, S. 23 und Honour, S. 33, Sp. 1 53 Landmine-Monitor 2015 54 Ebd., S. 27 f.

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Unesco sind im Schnitt nur 31% der Erwachsenen alphabetisiert.55 Die naheliegende Lösung, Warn- und Hinweisschilder vor bekannten Minenfeldern und die Flugblätter, mit denen auf die Gefahr hingewiesen wird, sehr bildlastig zu gestalten, erscheint vor diesem Hintergrund nur allzu folgerichtig. II Der Philosoph Hans Jonas stellt in seinem Text: DIE FREIHEIT DES BILDENS: Homo pictor und die differentia des Menschen zwei Fragen, die auch für die Comicforschung relevant sind: „Was für Vermögen und Haltungen sind im Bildmachen am Werke?“56 und darauf aufbauend: „Wenn dies die Eigenschaften des Bildes sind, welche Eigenschaften sind in einem Subjekte erfordert für das Machen oder Auffassen von Bildern?“57 Um seine Thesen zu illustrieren bedient sich Hans Jonas in seinem Text einer Narration, die er als heuristisches Experiment bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine „fiktiv[e] ... Situation von Weltraumfahrern, die sich in der ihnen völlig fremden Lebenswelt eines anderen Planeten umtun und sich vergewissern wollen, ob es dort [so etwas wie] „Menschen“ gibt.“58 Mit diesem Gedankenexperiment möchte Jonas, darauf hinweisen, dass das Erkennen eines menschenähnlichen Lebewesens, nicht durch das Erkennen einer menschenähnlichen Form hinreichend gegeben ist, und genau dadurch nur vorgetäuscht werden kann. Etwas genauer, mit den Worten von Jonas: „Die Situation ist ideal rigoros und daher heuristisch ideal, weil sie alle Stützen präjudizierender morphologischer Vertrautheit, d.h. alle Anzeige, aber auch alle Verführung bloßer Erscheinungsähnlichkeit für die Erkennung des Menschlichen versagt. [...] „Menschlich“ muss dann etwas bezeichnen, was die Zuteilung des Namens selbst Angesichts äußerster physischer Unähnlichkeit rechtfertigt.“59

55 Unesco 56 Jonas: S. 28 57 Ebd. 58 Ebd., S. 26 59 Ebd.

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Die Frage, die sich nun stellt, ist, welches Merkmal oder welche Eigenschaft es sein könnte, die unsere außerirdischen und unähnlichen Zwillinge eben erkennbar menschlich, beziehungsweise quasi-menschlich, machen. Gemäß Jonas ist es wahrscheinlicher, dass bildnerische Artefakte von den Weltraumfahrern eher erkannt werden als Sprache.60 „Die roheste, kindischste Zeichnung wäre so beweiskräftig wie die Kunst des Michelangelo. Beweisend für was? Für die mehr-als-tierische Natur ihres Erzeugers; und dafür, dass er ein potentiell sprechendes, denkendes, erfindendes, kurz ein „symbolisches“ Wesen ist.“61 Die Antwort auf die Frage, die Jonas nun stellt, ist für uns insofern von Relevanz, als sie uns einen Einblick in die Funktionsweisen des menschlichen Bildermachens und Bilderverstehens liefert: „Was für Vermögen und Haltungen sind im Bildmachen am Werke?“62 Da Bilder keine basalen biologischen Zwecke zu erfüllen scheinen – weder dienen sie als Nahrung, zur Vermehrung oder der Überwinterung, noch sind sie ein die Umwelt veränderndes Werkzeug – liegt hier eine Beziehung zu dem dargestellten Objekt zugrunde, welche einen anderen, weiteren Zweck haben muss. Die Eigenschaften, die für Jonas ein Ding zum Bild machen, sind, zusammengefasst, die folgenden: Im Unterschied zum Symbol oder Wort, bedarf ein Bild einer Ähnlichkeit mit dem Dargestellten. Die Eigenschaften der Ähnlichkeit sind es, die dem Bild seine wesentlichen Funktionen verleihen. Ähnlichkeit bedeutet, dass es sich um keine vollständige Wiedergabe eines Dinges handelt. „Eine Verdoppelung aller Eigenschaften des Originals würde die Verdoppelung des Dinges selbst ergeben, d.h. ein neues Exemplar derselben Art von Ding.“63 Da ein Bild in aller Regel nur den Sehsinn anspricht, ist es schon in dieser Hinsicht unvollständig. Diese Unvollständigkeit der Ähnlichkeit eines Bildes in Bezug auf sein Dargestelltes ist jedoch als Freiheit zu begreifen. Die Freiheit, einem Bild eine Intention zukommen zu lassen. „Die Beschränkung auf diesen einen Sinn als Perzeptionsmedium der Darstellung ist selber die erste im Bildmachen wirksame ‚Auswahl‘, und sie ist gattungsmäßig vorentschieden durch die Dominanz des Sehens: die menschliche Natur hat im voraus

60 Vgl.: ebd., S. 27 61 Ebd. 62 Ebd. S. 28 63 Ebd.

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den visuellen Aspekt als für die Dinge repräsentativ gewählt. Beschränkung auf zwei Dimensionen fügt eine weitere, speziellere Stufe der Unvollständigkeit hinzu, die ihre eigenen selektiven Forderungen stellt. [...] Der Gewinn liegt nicht nur in der Ökonomie, indem die Darstellungsaufgabe einfacher wird, sondern auch in der Expressivität, indem die Züge, auf die es ankommt, hervorgehoben werden. So kann ein Weniger an Vollständigkeit ein Mehr an wesentlicher Ähnlichkeit bedeuten. Dieser Aspekt der Unvollständigkeit deutet auf Idealisierung, die keineswegs nur in Richtung der Schönheit zu gehen braucht. Sparsamkeit und Idealisierung machen auch den Bildcharakter als solchen unzweifelhaft: man wird schwerlich das wirkliche Ding für ein Bild seiner selbst halten, da es im Überfluß des Zufälligen der symbolischen Konzentration auf das Wesentliche ermangelt.“64

Abstraktion und Stilisierung wohnen also jedem bildnerischen Prozess inne. Abstraktion und Stilisierung, diese Differenzen zum Bestehenden, setzen jedoch das Entstehen eines Bildes durch ein, wie Jonas es formuliert, „menschliches Medium“ 65 voraus. Ob wir es nun mit dem Zeitvertreib eines Kindes oder einem Meisterwerk zu tun haben, sowohl für die Urheber als auch die Betrachter von Bildern bleibt ein Bild die Darstellung von etwas, „solange die Absicht erkennbar bleibt“66. „Aber von allem Anfang sind Abstraktion und Stilisierung dem bildlichen Vorgang inhärent, indem die Forderungen der Ökonomie sich mit der Freiheit der Übertragung begegnen; und in Ausübung eben dieser Freiheit kann die Norm des Gegebenen auch gänzlich verlassen werden für die Schöpfung nie gesehener Formen: das Bildvermögen öffnet den Weg zur Erfindung.“67 Weiterhin ist es der Sehsinn oder das Sehen selbst, welches das Konzept der bildlichen Repräsentation nahelegt. Trotz der gleichsam endlosen Vielfalt der visuellen Daten (Lage und Perspektive, Variationen der Größe, Farbe und Helligkeit, Vollständigkeit der Details) bleibt die Form erkennbar und präsentiert beharrlich dasselbe. Eine weitere Eigenschaft des Bildes ergibt sich aus seiner ontologischen Struktur. Die Unterteilung des Bildes in das Dargestellte (das Ding das dargestellt werden soll), die Darstellung und das Darstellende (das materielle

64 Ebd., S. 29f 65 Ebd., S: 30 66 Ebd. 67 Ebd., S. 31

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Medium, z.B. die Farbe auf der Leinwand) ist in der bildwissenschaftlichen Theorie weit verbreitet. „Das im Bilde Dargestellte ist in ihm herausgehoben aus dem Kausalverkehr der Dinge und überführt in eine nichtdynamische Existenz, welches die Bildexistenz schlechthin ist – ein Existenzmodus, der weder mit dem des abbildenden Dinges noch mit dem der abgebildeten Wirklichkeit zu verwechseln ist. “Sowohl das dargestellte Ding als auch der materielle Träger des Bildes unterliegen dem zeitlichen Verfall. Die Bildfunktion, also die Darstellung, verbleibt in einer „zeitlosen Gegenwart“68; in dieser „begegnet das Bild dem zeitgebundenen Betrachter in einer Anwesenheit, die ebenso den Schatten des eigenen Werdens von sich getan hat, wie sie dem Werdefluss des Beschauers enthoben bleibt.“69 Im zweiten Abschnitt des Textes stellt Hans Jonas die Frage, welche Betrachterkompetenzen benötigt werden, wenn Bilder die von Ihm skizzierten Eigenschaften haben. Er kommt zu dem Schluss, dass es eben das Vermögen ist, Ähnlichkeit wahrzunehmen; dieses Vermögen wiederum äußert sich in der Fähigkeit, die Darstellung unabhängig von ihrem materiellen Träger und den dargestellten Gegenstand unabhängig von dem materiellen Träger und der Darstellung zu unterscheiden. Durch das Konzept der Ähnlichkeit wird beispielsweise eine Leinwand mit Farbe nicht primär als Leinwand mit Farbe wahrgenommen, sondern als Repräsentation von etwas. „Das hier auf der Subjektseite wirksame Prinzip ist die intentionale Trennung von Form und Stoff. Es ist diese, die die bildliche Gegenwart des physisch Abwesenden ermöglicht in eins mit der Selbstverleugnung des physisch Anwesenden. Hier haben wir einen spezifisch menschlichen Tatbestand und den Grund, warum wir von Tieren weder Bildmachen noch Bildverstehen erwarten.“70 In Anlehnung an Hans Jonas sind wir also auf der Suche nach den Möglichkeitsbedingungen der bildlichen Narration von der menschlichen Kompetenz der Ähnlichkeitswahrnehmung „zu dem fundamentaleren Vermögen verwiesen worden, das Eidos vom Dasein zu trennen, oder die Form vom Stoffe.“71 Was das mit Comics zu tun hat? Dass es uns als Menschen möglich ist, so etwas wie ein Bildobjekt auf einem Bildträger auszumachen, führt der

68 Ebd., S. 32 69 Ebd. 70 Ebd., S. 35 71 Ebd., S. 35

128 | Die Bilder des Comics

Philosoph Hans Jonas direkt auf die Art und Weise der menschlichen Wahrnehmung zurück. Die menschliche Wahrnehmung72 liefert uns in ihrer Funktionsweise die Blaupause für Bilderkennen und darauf aufbauend für die Bildnarration. In aller Regel erleben wir unseren Sehsinn beim Sehen nicht in Aktion, wir nehmen die „Sinneserregung selber“73 nicht wahr. Sie dient dem Erkennen der betrachteten Dinge. Jonas findet hierfür die Formulierung der „Selbstmitteilung des Gegenstandes an meine Rezeptivität“74. Betrachten wir diesen Vorgang genauer, so wird deutlich, dass wir augenscheinlich die Fähigkeit besitzen, von verschiedenen Ansichten eines Objektes eben nicht auf verschiedene Versionen eines Objektes, also mehrere Objekte, zu schließen. Sehen wir ein und denselben Gegenstand, mal bei Tag und mal bei Nacht, mal von vorn und mal von hinten, bleibt durch diese Datensätze hindurch die Identität des Gegenstandes erhalten und gewinnt sogar an Schärfe. Es gibt also nicht eine Nachtversion und eine Tagversion des Gegenstandes. Das Konzept der Ähnlichkeit spielt hier bereits eine wichtige Rolle: „Innerhalb dieser umfassenden Transformationsreihe stehen die einzelnen jeweils gegebenen „Aspekte“ nicht für sich selbst, sondern jeder fungiert als eine Art „Bild“ – eines der möglichen Bilder – des Gegenstandes. In dieser Eigenschaft erlauben Sie die Wiedererkennung desselben Gegenstandes oder derselben Art von Gegenstand: sie erlauben sie also durch eine Ähnlichkeit, die Unähnlichkeit mit einschließt. [...] Demnach repräsentiert jede Ansicht den Gegenstand gleicherweise ‚symbolisch‘, obschon als Symbol einer der anderen überlegen sein und den Gegenstand vorzugsweise darstellen kann“75.

Ein Gegenstand kann uns auf dem ganzen Spektrum unserer möglichen Sinnesempfindungen erscheinen. Das grundlegende Vermögen, die Einheit, die Identität des Gegenstandes zu bewahren, bildet die Basis für das Erkennen von Ähnlichkeit und das Erkennen von Bildern. Die Kompetenz der

72 Zum erkenntnistheoretischen Komplex der begrifflichen Funktionen der Wahrnehmung u.a. als Bedeutungsbewusstsein und zur kognitiven Struktur der Wahrnehmung: Vgl.: Plümacher, hier besonders: S. 301 – 319 73 Jonas: S. 36 74 Ebd. 75 Ebd., S. 37

Vom Bild zur Narration | 129

Bildwahrnehmung, die Funktionsweise der Repräsentation und der Abstraktion ist der Art und Weise unseres Sehens bereits eingeschrieben. Der Begriff der Induktion, den McCloud in seiner Untersuchung Comics richtig lesen im dritten Kapitel einführt, referiert auf diesen Sachverhalt. In den Sprechblasen des ersten und zweiten Panels auf Seite 71 heißt es: „Dieses Phänomen, dass wir das Ganze erkennen, obwohl wir nur Teile davon wahrnehmen hat einen Namen: man nennt es Induktion. Im täglichen Leben ziehen wir oft induktive Schlüsse, wenn wir auf der Basis unserer Erfahrung im Geiste vervollständigen, was wir unvollständig wahrnehmen.“76 Die Möglichkeit des Menschen, nicht nur Dinge zu sehen, sondern auch Bilder, setzt bereits ein „Zurücktreten von der Andringlichkeit der Umwelt“77 voraus und ermöglicht so „die Freiheit distanzierten Überblickes“78

76 McCloud, 1997: S. 71 77 Jonas: S. 38 78 Ebd., S. 38

6

Noch einmal: Die Geschichte des Comics „Es liegt etwas Unterwürfiges darin, wenn wir immerzu ein Gesetz suchen, dem wir gehorchen können.“ Henry David Thoreau Vom Wandern1

I In seiner Überblicksdarstellung Comics – Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer erwähnt Andreas C. Knigge2 einleitend die wichtige Rolle der Zeitungen bei der Entstehung des modernen Comics. Die Feststellung „Die Ingredienzien waren beisammen, der Comic konnte entstehen“3 bezog sich bei Knigge noch auf Künstlerpersönlichkeiten, die sich bereits mit dem seriellen Erzählen mit Bildern beschäftigt haben. In diesem Abschnitt soll die Frage nach den Ingredienzien, also den Bedingungen, die benötigt wurden, damit der Comic entstehen konnte, noch einmal gestellt werden. Der Weg zu der alten Erkenntnis, dass um 1900 die Ingredienzien für den Comic beisammen sind, ist allerdings ein anderer. Die rasante Entwicklung des Zeitungswesens zu dieser Zeit ist nur einer der Faktoren, die hier näher dargestellt werden. Dass wir Bilder als Comicbilder wahrnehmen können, ist Ergebnis eines historischen Prozesses. Eine Arbeit, die sich mit Strukturen und Funk-

1

Thoreau, S. 66

2

Knigge

3

Ebd., S. 14

132 | Die Bilder des Comics

tionsweisen auseinandersetzt, kommt um einen historischen Rekurs über ihren Untersuchungsgegenstand nicht herum. Eine Geschichte des Comics wurde schon häufig erzählt. Beispielsweise werden in David Kunzles zweibändiger Geschichte des Comic Strips4 die von Knigge erwähnten Ingredienzien in politische Strömungen, Länder, technische Entwicklungen und nicht zuletzt Persönlichkeiten unterteilt. Innerhalb der historischen Untersuchungen wird vor allem den ,Zeitungsstrip-Jahren‘5 eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da sich von hier sowohl eine konsistente Weiterentwicklung des Comics nachzeichnen lässt und sich auch die formellen Elemente in diesen „formative years“6 voll ausprägten. Zusammenfassend lässt sich die (westliche7) Comicgeschichte in die Bereiche der Entstehungsgeschichte in Europa, der Entstehungsgeschichte in Amerika und der historischen Vorläufer/Vorformen/Frühformen unterteilen. Der historische Bogen der Vorläufer wird mitunter denkbar weit zur paläolithischen Höhlenmalerei geschlagen. Da aufgrund des geraumen zeitlichen Abstandes und dem nur ausschnitthaften Quellenmaterial jede vorgelegte Theorie über die Praxis der Höhlenbilder nur mehr oder weniger wahrscheinlich sein kann, wird einigen früheren Theorien eine umfassende Deutungshoheit über die paläolithischen Höhlenmalereien abgesprochen. So ist es beispielsweise nicht auszuschließen, dass einige Malereien in Zeiten des Jagdglücks und Überflusses in einer l’art pour l’art-Manier geschaffen wurden. Wie der Archäologe Michel Lorblanchet treffend feststellt, verbirgt sich hinter dieser Theorie allerdings die willkürlich gesetzte Annahme, dass der Mensch vor ca. 40.000 Jahren zu keinen komplexeren Gedanken fähig gewesen sei. Damit einhergehend wird dieser frühen bildnerischen Tätigkeit eine relative Zweckfreiheit unterstellt. Eine in diesem Sinne entgegengesetzte Theorie, in der den Bildern eine Schlüsselrolle in jagd- und fruchtbarkeitsmagischen Ritualen zukommt, muss insofern relativiert werden, als wir es hier mit einer simplen Instrumentalisierung eines überaus komplexen Untersuchungsgegenstandes zu tun haben. „Von den vorangegangenen Arbeiten hat die gegenwärtige Forschung vor allem gelernt, daß eine globale Interpretation der Wandkunst

4

Kunzle, 1973 u. 1990

5

Vgl.: Braun

6

Vgl.: Robinson

7

Zur Entstehung und Entwicklung des Mangas: Vgl.: Koyama-Richard

Die Geschichte des Comics | 133

zum Scheitern verurteilt ist.“8 Die Auffassung jedoch, dass sich die Malereien eines Höhlenkomplexes in einer strukturierten Art und Weise aufeinander beziehen, wird von Lorblanchet als grundlegendes methodologisches Prinzip aufgeführt. Seien es nur „zwei Motive [, die] mit genau derselben Farbe ausgeführt worden sind, die dieselbe Verbindung der Hauptund Nebenbestandteile besitzt, dann kann die Hypothese aufgestellt werden, daß beide Malereien von derselben Hand stammen und vermutlich zum selben Zeitpunkt fertiggestellt worden sind“9, oder ob die Struktur der Höhle und ihre Position in der Landschaft mit in die Betrachtungen einbezogen werden muss10. Bei allen Schwierigkeiten, die sich dem Archäologen in den Weg stellen, scheint die Sequenzialität der Bilder bereits hier eine Rolle zu spielen: „Die unterirdische Topographie ist also selbst ein Bedeutungsträger. Es hat in der Tat den Anschein, als verleihe der Standort in der Höhle den Darstellungen eine spezielle Bedeutung. Manche Bildfelder bieten sich den Blicken dar, während andere verborgen sind.“11 Eine Geschichte des Comics, die einen weiten Begriff der Sequenzialität zu Grunde legt, verkennt, dass das Erkennen von Bildobjekten noch nichts über das dazugehörige Bildverständnis verrät. Diese umfassende Comicgeschichtsschreibung erscheint den geneigten Comicforscher_innen vielleicht so attraktiv, weil wir es bei den sogenannten Vorläufern des Comics mit einem bemerkenswerten Modus von Bildlichkeit zu tun haben, „der zwischen den ungeordneten oder bloß repetitiven Formen der beliebigen Bildanhäufung und den isolierten Formen des Meisterwerks und der Ikone steht: Mehrere Bilder werden in einer räumlichen Anordnung so verbunden, dass eine neue, mehrteilige ,Konfiguration‘ mit eigener Bedeutung aus ihnen entsteht. [...] Der Hinwendung zum „Bild im Plural“ liegt die These zugrunde, dass die Verbindung mehrerer Bilder genuine Sinnpotentiale besitzt, die nicht deckungsgleich sind mit denen, über die das Bild im Singular verfügt.“12

8

Lorblanchet, S. 89

9

Ebd., S. 149

10 Vgl.: ebd., S. 200 11 Ebd., S. 203 12 Ganz: S. 8

134 | Die Bilder des Comics

Dieses Prinzip, die Bezugnahme der Bilder, wird dann im weiteren Verlauf als Maßstab angelegt, um sogenannte Vorläufer des Comics in der Kunstund Bildgeschichte auszumachen. Die Beispiele sind zahlreich: die ägyptische Grabmalerei, die griechische Vasenmalerei, der Teppich von Bayeux, die Trajan-Säule, die Wiener Genesis, mittelalterliche und frühneuzeitliche Einblattdrucke, die Bildtradition des Simultanbildes, mittelalterliche Flügelretabel und Totentanzdarstellungen sind hier nur die populärsten Beispiele. Der größtenteils an Einzelbildern orientierten und etablierten Kunstgeschichte lässt sich sehr wahrscheinlich eine Kunstgeschichte gegenüberstellen, die sich nur auf bezugnehmende Bilder im Plural konzentriert. Jedoch: Welchen Erkenntniswert hat es, die Kunst- und Bildgeschichte nach Vorläufern des Comics zu durchkämmen, dessen Definition sich eben nicht an seinen formalen Elementen festmachen lässt? Das einsame Kriterium der Bezugnahme der Bilder verschafft uns eine, Epochen und Kulturen übergreifende, Comicgeschichte, die eben genau die Eigenschaften und Charakteristiken der Zeiten und Kulturen ignoriert. Die Begriffe Vorläufer, Vorform oder Frühform induzieren einerseits, dass wir es (noch) nicht mit einem Comic zu tun haben, andererseits müssen aber schon Strukturen oder Rezeptionsweisen vorliegen, die auch im Comic auszumachen sind. Problematisch am Vorläuferbegriff ist auch die latente Degradierung der kunsthistorischen Beispiele, die Gefahr einer Fehlinterpretation und der mögliche Fehlschluss auf so etwas wie eine Kontinuität der historischen Entwicklung hin zum Comic. Belastbare Erkenntnisse über die tatsächliche Bildpraxis prähistorischer, ägyptischer, griechischer oder mittelalterlicher Gesellschaften gibt diese Art und Weise der Darstellung der historischen Beispiele nicht. Es stellt sich also weniger die Frage, ob wir es hier mit einer beispiellosen Überlieferungsgeschichte der Idee einer Bildsequenz zu tun haben; eher scheint der Schluss nahe zu liegen, dass es der menschlichen Bildproduktion immanent ist, auch das Bild im Plural als Lösung für Darstellungsaufgaben/-probleme/-situationen anzuerkennen. Ein bescheidenerer comichistorischer Bogen wird geschlagen, wenn, beginnend mit den frühneuzeitlichen Satirezeitschriften, über die europäische Migrationswelle um 1900 nach Amerika, bis hin zum Aufkommen der dortigen Tageszeitungen, in denen dann die ersten Formen des Comics auftauchten, eine Genealogie des Comics skizziert werden kann. In den einschlägigen Büchern und Aufsätzen zur Comicgeschichte findet sich weniger ein allgemeiner Konsens da-

Die Geschichte des Comics | 135

rüber, was den Comic konstituiert, vielmehr lassen sich die Positionen innerhalb der Extreme eines Spektrums ausmachen. Auf der einen Seite steht der Comic als narrative Bildsequenz, innerhalb derer es Wort-Bildkombinationen gibt, auf der anderen Seite verliert sich diese klare Kontur innerhalb ihrer kunst-, bild- und kulturgeschichtlichen Verflochtenheit, ihrer medientheoretischen Uneindeutigkeit, ihrem semantisch komplexen Theorieüberbau bei gleichzeitiger, augenscheinlicher Leichtigkeit der Rezeption. Im aktuellen Diskurs über die Genese des Comics scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass der Comic um 1900 herum entstanden ist.13 Man ist sich einig darüber, dass es einige medien- und bildhistorische Vorformen in den Satirezeitschrifen der Neuzeit und eventuell sogar in den mittelalterlichen Einblattdrucken gibt. Während sich in früheren Publikationen durchaus noch Versuche finden lassen, in denen die entlegensten kunstund bildhistorischen Beispiele14, entweder aufgrund ihrer Sequenzhaftigkeit oder ihrer Kombination von Bild und Text als Comic oder wenigstens als Vorläufer des Comics, qualifiziert werden sollen, ist es nun eine bestimmte Art des Bildverständnisses, das um 1900 reift und so mit der Entwicklung des Comics in Wechselwirkung tritt. In dieser Arbeit soll die Frage beantwortet werden, wie sich ein solches Bildverständnis charakterisiert. Dabei kann es wiederum sinnvoll sein, sich den vermeintlichen historischen Vorläufern des Comics noch einmal zu widmen. Diesmal jedoch wird, ausgehend von den formellen Gemeinsamkeiten, der Blick auf die wesentlichen Unterschiede und somit auf die Un-

13 Vgl.: Grünewald, 2000 14 In der Publikation „Im Comic vereint – Eine Geschichte der Bildgeschichte“ (Andreas Platthaus, 1998) findet sich ein Aufsatz über das Bildprogramm des Barbarossaleuchters in der Aachener Pfalzkapelle. Unter den Aspekten einer Bildarchitektur, der Sequenzhaftigkeit und der Verbindung von Wort und Bild wird hier die Comichaftigkeit der Motive auf den acht Bodenplatten des Kronleuchters analysiert. In „Die 101 wichtigsten Fragen – Comics und Mangas“ von 2008 formuliert Andrea Platthaus zur Frage: Warum gibt es nicht schon ewig Comics?: „ Entscheidend ist, dass am Ende des neunzehnten Jahrhunderts sowohl die künstlerischen wie die technischen Voraussetzungen geschaffen waren, um Text und Bild zu einer Einheit zu verschmelzen, für die es zuvor kein Begriff gab – und also auch kein Verständnis.“ Platthaus, 2008, S. 16 f.

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möglichkeit von so etwas wie prähistorischen Comics gelenkt. Die Falsifizierung des Vorläuferbegriffes schärft im Umkehrschluss den Blick auf den eigenen Untersuchungsgegenstand. In einem weiteren Schritt sollen die kunst- und bildhistorischen Entwicklungen nachgezeichnet werden, die ein Bildverständnis des Comics ermöglichten. Der eigenen Bedingtheit des wissenschaftlichen Umgangs mit ‚seinem‘ Untersuchungsgegenstand kann, soweit das möglich ist, nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Entstehungsbedingungen des Comics vermitteln nicht nur ein Bewusstsein darüber, welche Elemente im modernen Comic wirksam sind, sondern führen uns auch die historischen Bedingtheiten ihrer Rezeption vor Augen. Die Sensibilität für solche Bedingtheiten entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit anderen Bildtraditionen und -verständnissen. Während wir bei bewegten Bildern, die in irgendeiner Art elektronisch aufgerufen werden, im Allgemeinen vom Medium Film ausgehen und gebundene, mit Buchstaben bedruckte Seiten als Buch bezeichnen, sind die wesentlichen Elemente, die einen Comic formell auszumachen scheinen, nicht auf diesen allein beschränkt. 15 Bilder, die sich aufeinander beziehen, lassen sich vielfältig in der zeitgenössischen und historischen Kunst- und Bildproduktion beobachten. Warum es problematisch sein kann, in diesen Zusammenhängen von konsistenten Ideengeschichten oder teleologischen Entwicklungen der historischen Bildgeschichten hin zum Comic zu sprechen, soll ebenfalls in diesem Abschnitt erläutert werden.

6.1 VOM SICHEREN STAND GRIECHISCHER VASEN I „Allerdings ist das Betrachten von Bildern dem Menschen nicht immer schon und von Natur aus gegeben. Es handelt sich, ähnlich wie beim Sprechen, um eine kulturell vermittelte Kompetenz, die entwickelt und gepflegt werden will und die ohne entsprechende Pflege leicht wieder verkümmern kann.“16 Der Archäologe Luca Giuliani betont, dass es „in der menschli-

15 Wobei hier nicht postuliert werden soll, dass Film- und Buchmedien problemlos zu definieren sind. 16 Giuliani, S. 12

Die Geschichte des Comics | 137

chen Kultur keine natürlichen Zeichensysteme [gibt], und jeder Bilderproduktion liegt ein bestimmtes System von Konventionen zugrunde.“17 Auf der Suche nach der Bedeutung der Bilder stehen eben diese Bilder und die Konventionen, in denen sie gebraucht werden, in einer Wechselwirkung. Je mehr die Bilder über die Konventionen verraten, in die sie eingebunden waren/sind, desto mehr erschließt sich die Bedeutung der Bilder innerhalb ihres Gebrauchs. 18 Die Verfahren, nach denen ein reales Objekt auf einer zweidimensionalen Fläche dargestellt wird, variieren; ebenso unterliegen die Entscheidungen für die Farbgebung und der Grad der Abstraktion sich wandelnden Faktoren und Einflüssen. Wie vereinfacht oder komplex ist der Bildgegenstand? Welche Eigenschaften und Merkmale wurden in die Darstellung aufgenommen, welche nicht? Um adäquat einschätzen zu können, ob es sich bei historischen Beispielen von Bildern, die sich aufeinander beziehen, um Vorläufer des Comics han-

17 Ebd. 18 Ebd., S. 8: „Mit ihrer Tendenz zur Polarisierung greift die heutige Bildkritik (meist ohne es zu wissen) eine Topik auf, die in einer alten illustren Tradition steht. Ganz ähnliche Argumente wie die, mit denen heute die Gefährlichkeit der Bilder angeprangert wird, finden sich bereits im 16. Jahrhundert in den Schriften jener reformatorischen Theologen, die nur auf das geistige Wort Gottes setzten und alle Werke der bildlichen Kunst aus den Kirchen verbannen wollten. Auch diese Theologen warnten vor dem verderblichen Einfluß der Bilder, denn Bilder, die gar nichts anderes als die vergängliche, leibliche Erscheinung vor Augen führten, seien bestenfalls unwahr und überflüssig, schlimmstenfalls aber schädliche Objekte der sinnlichen Verführung. Im 16. Jahrhundert stören Bilder die Andacht und behindern die Erkenntnis Gottes; im späten 20. Jahrhundert werden sie zu einer Bedrohung menschlicher Rationalität schlechthin. Bilderkritiker und Ikonoklasten aller Zeiten sind mit den Ikonophilen in einem Punkt unmittelbar verwandt; auch sie tendieren zum Bildanimismus, indem sie den Bildern eigene Kraft und Wirkungsmacht zuschreiben. Aber Bilder sind weder Teufelswerk aus Trug und Lüge noch transparente Garanten von Wahrheit. Statt Bilder zu dämonisieren oder eine Form des Heils von ihnen zu erwarten, sollte man lieber versuchen, sie als menschliche Produkte zu verstehen. Denn Bilder sind zunächst nichts anderes als Artefakte, die modellhaft bestimmte Aspekte einer realen oder virtuellen Wirklichkeit vor Augen führen.“

138 | Die Bilder des Comics

delt, müssen wir uns die Mühe machen und das, was wir über das jeweils historische Bildverständnis wissen, mit demjenigen Bildverständnis vergleichen, das notwendig ist, um einen Comic angemessen rezipieren zu können. Nicht hinreichend erscheint mir die formale Feststellung, dass es sich bei einem bild- oder kunsthistorischen Artefakt um einen frühen Comic handelt, sobald wir eine Bilderreihe samt zugehöriger Schrift sehen. Wie am Beispiel eines Möbelkataloges leicht dargelegt werden kann, sind ein bezugnehmender Bildplural und Schrift-Bildkombinationen zwar Symptome eines ComicBildverständnisses, als Indikator funktionieren sie leider nicht, da sich zahlreiche Beispiele finden lassen, die zwar dieselben formalen Eigenschaften haben, jedoch ein anderes Bildverständnis zu Grunde liegt. Warum sollte es bei historischen Beispielen anders sein? „Nur wenn man die jeweils kulturbedingte Sprache der Bilder beherrscht, wird man die Bilder auch erkennen, und das heißt, sie als Ergebnisse gruppenspezifischer Konstruktion und Selektion verstehen. Der Verzicht auf eine solche Deutungsarbeit bringt die Gefahr mit sich, daß Bilder als etwas aufgefasst werden, was sie niemals sein können [...]. Der Betrachter, der auf diese Weise den medialen Charakter von Bildern verkennt, läuft Gefahr, sich selbst zum willfährigen Medium der Bilder zu machen – mit allen Konsequenzen, vor denen zu warnen die Bildkritiker nicht müde werden.“19

Die vielbeschworene ‚Macht der Bilder‘ ist zu einem gewissen Teil adäquater als Ohnmacht des Betrachters auf den Punkt gebracht. In einer Kultur, die in immer größerem Maße Bilder für die verschiedensten Zwecke einsetzt, wird die Ausbildung einer Bildkompetenz nur denjenigen zuteil, die für die Bildproduktion verantwortlich sind. Ein notwendiges Maß an Bemühungen in der Ausbildung eines bewussten, reflektierten Umgangs mit Bildern ist indes nicht auszumachen. Einerseits hat es der Mensch, seit nun über 40.000 Jahren, mit Bildern zu tun, andererseits ist er es, der die Bilder herstellt. Ohne die Wirkmächtigkeit der Bilder in Frage zu stellen, scheint die Rhetorik von der Macht der Bilder, den Bildern gleichsam, bis zu einem gewissen Grad einen ihnen immanenten Voodoozauber‘ anzudichten, den diese von Menschen ge-

19 Ebd., S. 12

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schaffenen Artefakte unmöglich nur aus sich selbst heraus entwickeln können. II Wenn es nun also darum geht, den eigenen Blick zu schärfen und durch die Bilder die zugrundeliegenden Bildverständnisse und Bildpraxen in den Fokus zu nehmen, könnte es hilfreich sein, „nicht am eigenen Alltag und schon gar nicht am alltäglichen Bildschirm einzusetzen, sondern eine ferne, längst vergangene Kultur in Augenschein zu nehmen. Im archaischen Griechenland, das sich durch seine relative Fremdheit unserer Neugier empfiehlt, waren Bilder keineswegs inflationär; sie hatten viel mehr Seltenheitswert und waren ein Anzeichen von Luxus.“20 Da Artefakte aus Keramik nach ihrem relativ kurzen Gebrauch direkt in den archäologischen Bestand gelangen, sind Sie eine der Hauptinformationsquellen der archäologischen Forschung. Wassertransport, Nahrungsaufbewahrung, Kochutensil, Geschirr, Bestandteil von Bestattungsritualen, Spielzeug und Produkt des Handels, Keramikartefakte waren präsent im alltäglichen Leben. Aufgrund dieser intimen Beziehung zu den alltäglichen Aktivitäten der Menschen sind griechische Tongefäße eines der wichtigsten Artefakte aus der Zeit die wir prähistorisch nennen.21 Neben formalen und funktionalen Charakteris-

20 Ebd., S. 14 21 Weiterführend heisst es bei Micheals, George: Pottery, in: Silberman, S. 277 ff.: „Ceramics artifacts, made from fired clay, and stone tools are the most durable objects created by prehistoric peoples. While archaeologically durable, ceramics have another attribute that makes them invaluable to archaeologists – they break or wear out during use, thus entering the archaeological record fairly soon after their manufacture. These two important characteristics have won them a long and enduring role as primary data in archaeological inquiry. [...] Pottery has been of enormous benefit to humanity in the form of the commonest everyday objects – water carriers, food storage vessels, cooking vessels and serving vessels. Precisley because of the intimate relationship among everyday activities such as food storage preparation and consumption, pottery has long been one of the primary types of artifacts collected by archaeologists. Ceramics are not limited to utilitarian wares, however; they include fine wares for ceremonial functions and trade, as well as other types of objects such as figurines, jewelry, and

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tiken erhalten wir zusätzliche Informationen durch Verzierungen und Illustrationen auf den Keramiken selbst: „Since decoration, in contrast to form and function, is more likely to be wholly culturally determined, it is assumed that an analysis of style tends to be more sensitive to culturally bound explicit and implicit information encoded on the pots.“22 Um sich von der alltäglichen, unverzierten Keramik abzusetzen, wurden vorrangig Vasen mit Bildern versehen. Das verlieh ihnen über den Gebrauchswert hinaus einen Status als Prestigeobjekt. Bei dieser Art Statusobjekt war es nicht der Materialwert, der als sozialer Code den Status des Besitzers anzeigte, denn anders als der Gebrauchswert intendiert der Prestigefaktor einen öffentlichen, zur Schau stellenden Charakter der Bilder. Dieser Eigenart folgt auch die Ikonographie.

even toys. [...] In addition to formal and functional characteristics derived from the plasticity of the raw material, pottery often conveys additional information about its makers and users in the form of painted designs and illustrations. From simple geometric patterns to the elaborate illustrative decorations of Maya or Chinese ceramics, artisans added important stylistics and even political and mythological information to their pottery for millenia. To this day, few people fail to be stirred by the wonderful painted decorations of classical greecian urns or the marvelous zoomorphic creatures on Mimbres pots. [...] All of the attributes of ceramic artifacts – shape, size, type of clay, type of temper, surface treatment, and painting, to name a few – serve as a rich and varied set of data for archaeologists intent on reconstructing past human lifeways. [...] Stylistic analysis is perhaps the commonest form of analysis applied to ceramic artifacts. This type of analysis focuses on the decorative styles present on ceramic vessels in the form of painted designs, post-firing incising, pre-firing embossing and appliqués, and other surface treatments. Since decoration, in contrast to form and function, is more likely to be wholly culturally determined, it is assumed that an analysis of style tends to be more sensitive to culturally bound explicit and implicit information encoded on the pots. On the basis of this assumtion, archaeologists worldwide developed quite complex classification models used to trace social changes through time. In the best cases, these models were tested against other archaeological data to determine their validity.“ 22 Micheals, George: Pottery, in: Silberman, S. 278

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„Sie bezieht sich auf Themen, die für die damalige Gesellschaft von zentraler Bedeutung waren. Die griechische Bilderwelt insgesamt ist in ihrer thematischen Bandbreite durchaus überschaubar und schon von daher besonders geeignet, auf ihre strukturelle Regelhaftigkeit hinterfragt zu werden. Dabei erweist sie sich als ein System aus Formen, Chiffren und Formeln, die nach bestimmten Regeln kombiniert und verändert werden konnten. Man muss dieses System kennen, um einzuschätzen, welche Aufgaben darin auf Anhieb leicht zu bewältigen waren und welche hingegen Probleme mit sich brachten, deren Lösung erst noch gefunden werden musste. Vor diesem Hintergrund werden Prozesse der Bildgenese als Lösungsversuche vorgegebener oder neu entdeckter Probleme fassbar: die Ikonografie ist ein Experimentierfeld.“23

Dass die Aussage, die griechische Vasenmalerei sei eine Vorform des modernen Comics, zu kurz greift, zeigt schon ein kurzer Überblick über die Entwicklung der griechischen Vasenmalerei. Zuallererst kann nicht zu jeder Zeit und grundsätzlich von narrativen Motiven auf den Vasen gesprochen werden. Hier sind die Phasen der sogenannten schwarz- und dann rotfigurigen Vasen gemeint (ca. 640 – 300 v. Chr.). Chronologisch lässt sich die griechische Vasenmalerei vom 16. Jahrhundert v. Chr. bis 300 v. Chr. datieren.24 Zu Beginn dieser Epoche lässt sich eine spätbronzezeitliche Phase ausmachen, die auch mykenische Phase genannt wird. Obwohl wir hier schon figürliche Darstellungen auf den Vasen finden, geht diese Praxis wieder verloren. Die submykenische Keramik weist nur noch einfachste Ornamente, wie z.B Wellenlinien, auf. Der Archäologe Thomas Mannack führt den Verlust der bildlichen Darstellungen und der handwerklichen Qualität der Vasen auf den Niedergang der mykensichen Palastkultur um 1200 v. Chr. zurück: „Griechenland tritt in das sogenannte Dunkle Zeitalter ein: Schrift, monumentale Bauten, figürliche Plastik und Malerei gingen verloren. Die Ursachen des Untergangs sind unbekannt, und mögen durch Invasoren, Naturkatastrophen, oder Bürgerkrieg herbeigeführt worden sein.“25 Die submykenische Keramik kann somit als Beginn der nun folgenden Entwicklung gesehen werden. Sie geht in die protogeometrische Keramik über (1000 – 900 v. Chr.), ihr folgt die geometrische Keramik, auf

23 Giuliani, S. 14 24 Vgl: Mannack, S. 63 – 167 25 Ebd., S. 66

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der sich, immer unter dem Diktat der geometrischen Komposition, stark abstrahierte, figürliche Darstellungen finden. „Ungeklärt ist, ob sich Bilder von Menschen aus den Ornamenten entwickelten, eine griechische Erfindung sind oder auf östliche Vorbilder zurückgehen.“26 Bei allen bisherigen Menschendarstellungen handelt es sich um Stereotype: Bogenschütze, Schwertträger, Trauernder, Toter, etc. In der darauffolgenden orientalisierenden Periode treten Tier- und Menschendarstellungen als Dekorationsmittel in den Vordergrund, die aus dem vorderen Orient übernommen wurden. Wir werden noch erfahren, warum eine narrative Rezeption hier nicht vorgesehen gewesen zu sein scheint. Die schwarzfigurige Phase lässt sich ab dem frühen 7. Jahrhundert v. Chr. beobachten. „In der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. begannen Vasenmaler, mit neuen Techniken zu experimentieren, und im letzten Drittel des Jahrhunderts wurden Vasen ganz oder teilweise mit einem weißen Grund versehen, auf den das schwarzfigurige Bild gemalt wurde. [...] Um 530/525 v. Chr. wurde erstmals die rotfigurige Technik verwendet.“27 Obwohl sich auch schon vorher bildliche Darstellungen finden, kann so etwas wie ein narratives Verständnis dieser Bilder erst mit Beginn der schwarzfigurigen Phase festgestellt werden.

6.2 DIE VASENBILDER UND IHRE BILDPRAXIS Ausgehend von der These, dass die Verschriftlichung der griechischen Kultur auch einen Einfluss auf die Bilderproduktion dieser Epoche hatte, versucht der Archäologe Luca Giuliani den Nachweis zu führen, dass die Vasenbilder aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. die darstellende Ebene nicht verlassen und keine narrativen Inhalte zur Darstellung bringen. Die archäologische Forschung, die sich mit den Vasenbildern beschäftigt, benötigt zum Verständnis der Entwicklung dieser Bilder Begrifflichkeiten und Konzepte, die Comicforscher_innen nicht fremd sind: ein Verständnis verschiedenster Bildmodi, die Herausforderungen, die ein narrativer Modus mit sich bringt, die verschiedenen Möglichkeiten der Bezugnahme von Wort und Bild und der Befund, dass sich die Bilder aufeinander beziehen. Die Verwendung

26 Ebd., S. 37 27 Ebd., S. 136

Die Geschichte des Comics | 143

von Bildern in der griechischen schwarz- und rotfigurigen Vasenmalerei gleicht in vielen formalen Aspekten einem Comic. Die Schlussfolgerung, es mit einer Früh- oder Vorform des Comics zu tun zu haben, scheint nahe zu liegen. Um was für Bilder handelt es sich nun, die so leicht als Vorläufer des Comics betrachtet werden? Betrachten wir einige Beispiele der griechischen Vasenmalerei, die alle Elemente eines Comics versammeln. Finden sich narrative Elemente auf den frühen Vasenbildern? Luca Giuliani vertritt den Standpunkt, dass die Darstellungen auf griechischer Keramik dann einen narrativen Charakter haben, wenn sie „auf den festen Boden empirischer Tatsachen ... rekurrieren, oder aber man ... von der mythologischen Überlieferung aus[geht].“28 Bei einem ersten von Ihm untersuchten Beispiel ist bemerkenswerter Weise keine der beiden Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und ein narrativer Charakter des Bildes zu verneinen. Es handelt sich um einen attischen, vierfüßigen Kesseluntersatz29 aus der Zeit um 740 v. Christus. Auf dem oberen Drittel sehen wir „eine Prozession von Kriegern mit Schild, Helm und Lanzen; darunter ist auf den vier Beinen jeweils der Kampf zwischen einem Mann und einem Löwen dargestellt. Wie die Krieger im oberen Fries tragen auch die Löwengegner einen Helm; zwei von ihnen sind auch durch ihre Waffen als Krieger charakterisiert. Einer geht mit Schwert und Lanze vor, der andere führt nur in der gesenkten Hand eine (nicht erhaltene) Waffe und greift mit der anderen dem Löwen an die Schnauze. Unbewaffnet scheinen die anderen beiden; sie halten ein Kalb oder ein Schaf im Arm, um es vor dem Angriff des Löwen zu retten.“30 Folgt aus der dramatischen Kombination der Bildmotive des Tierträgers und des bewaffneten Mannes mit einer Löwendarstellung ein narrativer Charakter der Bilder? Lässt sich hier gar eine Sequenz anordnen? Zu den Löwendarstellungen ist anzumerken, dass Löwen im Griechenland dieser Zeit, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Bestandteil der natürlichen Fauna sind.31 Es ist also un-

28 Giuliani, S. 50 29 Athen, Kerameikos-Museum, Inv.-nr. 407 30 Giuliani; S. 47 31 Vgl.: ebd., S. 50: „Löwen leben nicht allein, sondern in Rudeln; diese sind auf weiträumige, schwach bewaldete und vor allem dünn besiedelte Landschaften angewiesen; in Gegenden mit nomadischen Viehzüchtern, die keine erhebliche Bevölkerungsdichte erreichen, ist eine Löwenpopulation gerade noch denkbar;

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wahrscheinlich, dass auf dem Kesseluntersatz von einer alltäglichen Begebenheit berichtet wird. Eine andere mögliche narrative Grundlage ist eine mythologische Überlieferung. „Lässt sich für unsere Löwengegner ein passender Name finden? Nun gibt es in der griechischen Mythologie einen einzigen Löwenbezwinger: Herakles, dessen Kampf mit dem Löwen von Nemea schon bei Hesiod überliefert ist und in der späteren Ikonographie so häufig dargestellt wird wie kein anderes Sagenthema. Die gesicherten Bilder setzen erst im letzten Viertel des siebenten Jahrhunderts ein. Fast immer zeigen sie, wie Herakles den Löwen mit bloßen Händen würgt; das entspricht den literarischen Nachrichten, wonach das Fell des Tieres unverletzbar gewesen wäre.“32

Nun zeigen zwei der Löwendarstellungen auf dem Kesseluntersatz, dass der Löwe mit Waffen attackiert wird, die anderen zwei Darstellungen zeigen einen Tierträger, der ein Nutztier vor dem Wildtier zu schützen versucht. Mit der Heraklessage sind diese Darstellungen nicht in Einklang zu bringen. Die Löwen und vor allem ihre Widersacher bleiben anonym. Sie erlangen nicht den Status eines Protagonisten in einer Geschichte. Welcher Status kann den Darstellungen nun zugeschrieben werden? Wenn Löwen im Alltag nicht zugegen waren, so kann man sich trotzdem ihrer Existenz aus Überlieferungen und Reiseberichten bewusst gewesen sein. Ihnen allein im Kampf gegenüberzutreten (und die Herde zu beschützen), beweist Charaktereigenschaften die zum Selbstverständnis/Selbstbild der aristokratischen Stände gehörte.33 Womit sie quasi in einer Reihe mit der Kriegerprozession im oberen Drittel des Kesseluntersatzes zu betrachten sind.

aber sobald Menschen von der Viehzucht zur Landwirtschaft übergehen, sesshaft werden und dauerhafte Siedlungen anlegen, verschwinden auch die Beutetiere, auf die Löwen angewiesen sind. [...] Das östliche Mittelgriechenland hingegen war bereits im zweiten Jahrtausend dicht besiedelt und landwirtschaftlich genutzt; in noch stärkerem Ausmaß gilt dies für das achte Jahrhundert. Unter solchen ökologischen Bedingungen tendieren die Überlebenschancen für Löwen gegen null. Attische Herden können demnach im achten Jahrhundert niemals von Löwen bedroht worden sein.“ 32 Ebd., S. 52 33 Vgl.: Himmelmann

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„Es ist demnach das Leben des aristokratischen Jedermanns, das hier zum Gegenstand der Beschreibung gemacht wird. [...] Es bestätigt sich unsere Einsicht, wonach die oben erwähnte Deutungsalternative – Episode des Mythos oder alltägliches Ereignis – in die Irre geführt hat. Der Kampf mit den Löwen ist weder Mythos noch Alltag. [...] Als das stärkste und gefährlichste aller Tiere ist der Löwe der ultimative Gegner für den heldenhaften Einzelkämpfer, denn er bietet das Nonplusultra an agonaler Bewährungsmöglichkeit und markiert das obere Ende der Gefahrenskala; in dieser Rolle ist er unverzichtbar. Das Nicht-Vorkommen des Löwen in der Alltagswelt scheint dessen hohem Stellenwert in der aristokratischen Vorstellungswelt keinerlei Abbruch getan zu haben.“34

Bei unserem zweiten Beispiel35, einem sogenannten Dinos aus dem 7. Jahrhundert v. Chr., findet sich die Darstellung eines Kriegsschiffes. Gleichsam querschnitthaft und formell stark an der geometrischen Ausrichtung der früheren Vasenmalereien ausgerichtet, ist das Schiff mit zwei Reihen von Ruderern besetzt. „Ein Mann, in wesentlich größerem Maßstab als die Ruderer gezeichnet, nähert sich dem Heck und ist im Begriff, an Bord zu steigen. Er wendet sich zurück zu einer Frau, die ruhig am linken Bildrand steht, einen Kranz in der erhobenen Hand.“36 Der raumgreifenden Schrittstellung des Mannes steht die bewegungslose Gebärde der Frau gegenüber. Die ruhige Haltung der Frau könnte auf die Geschichte einer Abschiedsszene hinweisen, die besitzergreifende Geste, mit der der Mann das Handgelenk der Frau umfasst, ermöglicht die Deutung des Bildes als Darstellung einer Heimführung der Braut. Einerseits ist diese Geste in Verbindung mit Hochzeitsritualen überliefert, andererseits findet sie sich in den homerischen Epen als Abschiedsgeste.37 Giuliani weist darauf hin, „[dass] nach den ikonographischen Konventionen der Zeit ... eine breitere Schrittstellung bei einer weiblichen Figur ohnehin nicht zu erwarten [wäre], da dynamische Beinstellung als geschlechtsspezifisches männliches Charakteristikum eingesetzt wird.“38 Odysseus und Penelope, Jason und Medea, Paris und Helena, Orpheus und Eurydike, Theseus und Ariadne, da die unzähligen

34 Giuliani, S. 53 35 Attischer Dinos, 730-720 v.Chr., London, British Museum, Inv.-nr. 1899, 2-19.1 36 Giuliani, S. 54 37 Ebd. 38 Ebd.

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Möglichkeiten das Dargestellte etwas konkreter zu fassen, in die Irre führen, ist es nicht möglich eine narrative Bezugsquelle zu dieser Darstellung auszumachen. „Heimführung der Braut oder Abschiedsszene? Das Bild scheint die Antwort zu verweigern, und vielleicht sollte man die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß die Frage selbst falsch gestellt sein könnte. Denn das Bild führt weniger einen spezifischen Vorgang als eine allgemeine Konstellation vor Augen. Rechts sehen wir die männliche Welt der Schifffahrt und des Krieges, links die weibliche Sphäre des Friedens und des Festes. Typisch für diese ist nicht zuletzt der emporgehaltene Kranz, der sowohl in der Ikonographie als auch im Epos als charakteristisches Requisit festlicher Tänze fungiert.“39 Beim ersten Beispiel findet sich keine narrative Bezugsquelle, beim zweiten sind es zu viele, um Eindeutigkeit zu gewährleisten. Beide Beispiele werden narrativ nicht festgelegt. Doch welche Funktion hat das Bild des Seefahrers zwischen Schiff und Frau? Während im ersten Beispiel die heldenhafte Verteidigung der Herde gegen einen Löwen dargestellt wird, so soll dem Betrachter dieser Keramik eine noch kühnere Szene des aristokratischen Lebens vor Augen geführt werden. Der Abschied von der extra für diesen Anlass geschmückten Frau, der Aufbruch mit dem Kriegsschiff in die gefährliche See, zu einem Feind, der mehr bedroht als nur die Herde: diese heroische Darstellung erzählt keine Geschichte, sie verweist auf den Status/Selbstanspruch des Besitzers der Keramik als vorbildlicher Aristokrat. Dieser aristokratischen Ikonologie ist eine narrative Dimension insofern fremd, als die Hauptaufgabe dieser Darstellungen auf verbreiteten Alltagsgegenständen darin bestand, den Besitzer als Mitglied der aristokratischen Klasse auszuzeichnen.40 So stehen also nicht alle Bildplurale unter einem narrativen Paradigma. Es geht darum, bestimmte Themen, wie Kampf, Mut, Verantwortung, Entscheidungswille, Führungskraft, emblematisch vor Augen zu führen. Die Ikonographie der bisherigen Vasenbilder ist stellvertretend für ihre Zeit, die Keramik des 8. Jahrhunderts v. Chr. setzt nur „anonyme austauschbare Figuren ins Bild“41.

39 Ebd. 40 Vgl.: ebd., S. 63-66 41 Ebd., S. 103

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Abbildung 17: Eigenständige Bildform: Exekias, Ajax und Achilles beim Würfelspiel, ca. 540 v. Chr.

In unseren nächsten beiden Beispielen lässt sich nun eine narrative Dimension ausmachen. Das erste stammt von dem Töpfer und Maler Exekias, einem bemerkenswerten Vertreter aus der Phase der schwarzfigurigen Vasenmalerei. „Exekias is made of sterner stuff, and seems to represent archaic art in vase painting coming of age, and aspiring of more than mere decoration and narrative. He is innovative in his subject matter and, in some features of figure drawing, able to impart a degree of phatos into scenes [...] “42. Eines der populärsten Werke Exekias’ ist die Hauptseite einer Bauchamphore43 von ca. 540 v. Chr., auf der wir zwei männliche, sitzende Figuren sehen. Sie sind einander zugewandt, ihre Blicke sind auf einen zwischen ihnen platzierten blockartigen Tisch gerichtet, der dieselbe Höhe hat wie die Blöcke, auf denen sie sitzen. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand scheinen sie etwas vom Tisch aufzuheben. Mit ihrer jeweils linken Hand halten sie zwei Speere, die an ihre Schulter gelehnt sind. Hinter den beiden Männern lehnen ihre Schilde an der Raum- bzw. Bildbegrenzung. Beide sind in eine Rüstung samt Umhang gekleidet, der linke Mann hat seinen Helm auf

42 Boardmann, S. 63 43 Vatikan, Mus. Gregoriano Etrusco, Inv.-nr. 344

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dem Kopf hochgeschoben, so dass sein Gesichtsfeld frei ist. Der Helm des Rechten ruht auf dem dazugehörigen Schild. Im Vergleich zu den vorherigen Beispielen aus der spätgeometrischen Phase ist der zeichnerische Stil um ein Vielfaches detaillierter, die Proportionen sind naturalistischer, die gesamte Darstellung handwerklich anspruchsvoller. Die in der spätgeometrischen Phase schattenrissartigen Zeichnungen sind nun einer nach anatomischer Korrektheit strebenden Körperkonstruktion gewichen, die auch Gesichts- und Kleidungsdetails zulässt.44 Es bleibt eine geometrische Grundordnung in der lockeren Symmetrie, in der sich beide Protagonisten gegenübersitzen, erhalten. Neben der Entwicklung der Darstellungsqualität ist für unseren Zusammenhang ein weiteres Novum von besonderer Bedeutung. In diesem Bild findet sich Schrift, die dem Bildinventar in unterschiedlicher Weise zugeordnet werden kann.45 Die beiden Krieger werden durch die Namen über ihren Köpfen als ,Ajax‘ und ,Achill‘ betitelt, vor ihren Mündern finden sich die Worte ,Drei‘ und ,Vier‘. Wir sehen die Sagengestalten Ajax und Achilles beim einem Würfelspiel. Thomas Mannack vermutet den Ursprung der über 180 Darstellungen, die Ajax und Achilles beim Würfelspiel zeigen, in einer verlorenen Episode der homerischen Epen46. „Die Darstellung wird als eine Art ,Schicksalsbefragung‘ interpretiert, in der die Helden ihr Los in der Schlacht erfahren, [...] in der die Helden so sehr in ihr Spiel vertieft waren, daß sie nicht das Nahen der Feinde wahrnahmen [...].“47 Auch Luca Giuliani verortet die Ursache für die Homogenität von Motivgruppen nicht durch „ikonographische Tradition oder Wechselwirkung – sie lässt sich nicht anders erklären als durch Ab-

44 Mit diesem Grad an grafischer Präzision ist die Möglichkeit gegeben, den Protagonisten einer Geschichte nur auf der bildlichen Ebene zu markieren. Dass wir es mit der bloßen Möglichkeit, dies zu tun, lediglich mit einem hinreichenden, aber nicht ausreichenden Kriterium einer Bilderzählung zu tun haben, sehen wir daran, dass in den uns bekannten Beispielen von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht wurde. 45 Inschriften auf den Vasen gab es schon vorher, diese allerdings dienten der Besitzanzeige, dem Verwendungszusammenhang, waren Herstellersignatur oder Weiheinschrift. Vgl.: ebd., S. 115 f. 46 Mannack, S. 122 47 Ebd., S. 122

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hängigkeit sämtlicher Darstellungen von ein und derselben Geschichte.“48 Der denotative Charakter der Schrift findet sich zwar auch in modernen Comics, und obwohl Mannack sich zu dem Begriff ,Sprechblase‘ hinreißen lässt, kann nicht abschließend geklärt werden, ob es sich bei den Zahlenangaben um den Versuch der Lautwiedergabe handelt. Genauso gut können die Zahlenangaben rein informativen Charakter für den Betrachter haben, ein Aussprechen der gewürfelten Zahl ist im diegetischen Kontext des Würfelspiels nicht zwingend zu erwarten. Auch die einfache Benennung der Protagonisten lässt auf der Vase selbst noch keine Narration entstehen. Mit Verweis auf zwei populäre Figuren aus den homerischen Epen verweist sie vielmehr auf eine bereits existierende Narration außerhalb des Bildes hin. Das zweite Beispiel mit narrativer Dimension ist ein sogenannter Krater49 aus der Zeit um 570 v. Chr., hergestellt von einem gewissen Kleitias. Was die Aufmerksamkeit der Comicforscher_innen insbesondere auf diesen Krater richtet, ist seine rein formelle Ähnlichkeit mit dem vertrauten Erscheinungsbild eines Comics. Sofern man bei einem Vergleich zwischen bedrucktem Papier und bemalter Keramik von Ähnlichkeit sprechen kann. Es befinden sich auf dem 66 cm hohen Krater 6 umlaufende Bildfriese, die sich mit einer Höhe zwischen 11 cm und 5,5 cm den Comicbildern in dieser Hinsicht formal angleichen. Weiterhin finden wir bildliche Darstellungen und Schrift, die sich auf diese Darstellungen bezieht. Eine narrative Deutung dieser Friese scheint also nahe zu liegen. Bei den Darstellungen auf den einzelnen Friesen haben wir es, von oben nach unten, mit Jagdszenen und einer Aneinanderreihung der 7 Knaben und 7 Mädchen, die Theseus mit Ariadnes Hilfe aus dem Labyrinth des Minotaurus befreit, einem Wagenrennen (die von Achill veranstalteten Leichenspiele zu Ehren des Patroklos), der Hochzeitsgesellschaft von Peleus und Thetis, der Verfolgung des Troilos durch Achill, jagenden Raubtieren und einem Kampf zwischen Kranichen und Pygmäen zu tun.50 Diese Motivwahl erlaubt eine Vielzahl an darzustellenden Figuren. Viele der Figuren, die wir auf dem Krater sehen, haben auch eine Namensbeischrift. Es ist anzunehmen, dass ursprünglich fast alle Figuren und auch viele Gegenstände eine hatten, heute sind 130

48 Giuliani; S. 105 49 Attischer Volutenkrater, Museo Archeologico, Florenz, um 570 v. Chr., Inv.-nr. 4209 50 Giuliani, S. 139 – 158

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erhalten.51 „Nun ist der ... an dramatischen Episoden reiche Bericht des Rennens zwar ein Glanzstück epischer Erzählkunst, aber dieses Glanzstück ist für Kleitias‘ Bild von unwesentlicher Bedeutung; das Bild steht dem Text denkbar fern.“52 Das starre Bildschema scheint dem Ereignisreichtum der zugrundeliegenden Erzählung nicht gerecht zu werden. Der Bildtypus des Wagenrennens wurde hier auf die Maße der Keramik ausgedehnt und durch Namensbeischriften mit einem narrativen Verweis versehen. Die Keramik hat eine Höhe von 66 cm, ihr Durchmesser liegt bei 57 cm. Eine Hochzeit, Opferrituale, Jagd- und Kampfszenen: auch die Motive narrativen Ursprungs, die sich in den anderen Friesen befinden, entpuppen sich lediglich als Lieferanten für das notwendige Personal und Inventar, Friese von solchen Ausmaßen zu bevölkern. Es war augenscheinlich nie das Ziel des Urhebers dieser Keramik, die von ihm verwendeten Geschichten auch zu erzählen. Wieder bleibt die Darstellung in ihrem Verweischarakter befangen, zwar bringen die Beschriftungen einen narrativen Aspekt ins Spiel, jedoch dient dieser eher als Anreiz für die Betrachter_innen, sich die Geschichte selbstständig zu vergegenwärtigen. Wie in den vorherigen Beispielen, müssen die Betrachter_innen die Geschichte bereits kennen. Des Weiteren lässt sich zwischen den in den Friesen dargestellten Geschichten kein übergeordneter Zusammenhang ausmachen, somit bleibt die formale Ähnlichkeit zwischen diesem speziellen Krater und einem modernen Comic eben nur eine formale. III Sobald wir in einer griechischen Vase narrative Momente erkennen, sind diese von einer bereits existierenden externen Narration abhängig.53 Diese Motive wurden aus den Heldensagen der griechischen Mythen rekrutiert.

51 Vgl. ebd., S. 140 52 Ebd., S. 142 53 Ebd., S. 111 f.: „Dass Vasenmaler auf das Epos und nicht auf die Märchenüberlieferung zurückgegriffen haben, scheint über den Einzelfall hinaus symptomatisch zu sein. Die Entscheidung der Maler für das Epos und gegen das Märchen ist umso aufschlussreicher, als wir bereits für das 8. Jahrhundert die Existenz eines dichten Gewebes von Märchenerzählungen voraussetzen müssen. [...] Märchen treten niemals als isolierte Exemplare, sondern immer scharenweise

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„Unter diesen Umständen wird man sich kaum darüber wundern, dass Märchenstoffe aus dem niedrigeren Bereich des Spektrums genauso wenig dargestellt worden sind, wie sie verschriftlicht worden sind. Nicht nur die Vasenproduktion, sondern das gesamte Kunsthandwerk war auf die Lebenswelt und die Bedürfnisse des Adels ausgerichtet. Wenn Bilder narrative Elemente aufnahmen, so orientierten sie sich selbstverständlich an den gehobenen Themen der Dichter-Sänger ..., wie sie bei den Gelagen und Festen des Adels vorgetragen wurden.“54

So mäandern diese Darstellungen zwischen Textreue und Textwirkung. Jedoch können sie keine beliebige Geschichte aufgreifen, im Sinne der Zielgruppe der Vasenproduzenten wurde sich auf Erzählungen beschränkt, die man zum Allgemeingut zählen konnte, deren Kenntnis man voraussetzen durfte. Diese Beziehung zur Referenzgeschichte spiegelt sich in der Art und Weise, wie die Vasenbilder repräsentieren, sobald eine Figur eindeutig identifizierbar ist, ist sie mit Sicherheit ein Protagonist eines Mythos. Die Darstellungen beschränken sich auf Motive, von denen ein möglichst eindeutiges Signal ausgeht. Es soll den Betrachter_innen klar sein, welche Geschichte zu erzählen die Vase Anlass geben soll. Die Leichtigkeit der Zuordnung spielte eine große Rolle bei der Konzeption des Motivs. Die eigentliche Veranschaulichung oblag den rhetorischen Fähigkeiten des Er-

auf. Das Phänomen ist für uns deswegen kaum greifbar, weil solche Märchen nicht in schriftliche Form übertragen worden sind, weshalb das antike Griechenland auf den ersten Blick den atypischen Eindruck einer märchenlosen Kultur erweckt. Dieser Eindruck aber trügt. Wo Menschen beieinandersitzen, werden Geschichten erzählt. Das archaische Griechenland dürfte sich kaum von anderen schriftlosen Kulturen unterschieden haben, es wird auch hier das formlose Erzählen als alltägliche Form geselliger Unterhaltung gegeben haben. Der Inhalt solcher Erzählungen dürfte thematisch ein breites Spektrum abgedeckt haben, von mehr oder weniger phantastischen Märchenstoffen bis hin zu jenen Taten aristokratischer Helden und Götter, von denen auch epische Dichter sangen. Diese zwei Themenbereiche sind allerdings – was ihre gesellschaftliche Anerkennung betrifft – unterschiedlichen Höhenlagen zuzurechnen: Der eine ist von der festlichen hohen Dichtung aufgegriffen und infolgedessen schließlich auch verschriftlicht worden; der andere wurde von den Dichtern vernachlässigt und ist daher auf die alltägliche mündliche Sphäre beschränkt geblieben.“ 54 Ebd., S. 112

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zählers. So häufen sich die Hinweise, dass diese Form der narrativen Bilder sich durch ihre soziale Praxis und dem entsprechenden Bildverständnis vom Comic stark unterscheiden. Das Vorgetragene dient uns als Indiz dafür, dass bei den aufwendig bemalten Vasen die ursprüngliche Funktion als Stauraum und Lagermöglichkeit eher eine nachgeordnete Rolle spielte, sie waren in erster Linie ein Medium des Prestiges, ein Statussymbol. Die Bilder auf den Vasen sollten erklärt werden, die Narration ergab sich erst, durch einen leibhaftigen Erzähler, der die Geschichte auch erzählen konnte. Die Darstellungen waren Anlass und Illustration zur Erzählung selbst. Diese Erzählungen wiederum dienten als Vor- oder Leitbild für das aristokratische Selbstverständnis des Vasenbesitzers. „Die Rezipienten konnten sich, mit narrativen Bildern konfrontiert, nicht mehr passiv verhalten; sie wurden aktiviert, durften – und mussten – Geschichten erzählen. Es ergab sich schlagartig und ungeahnt die Möglichkeit, über Bilder zu reden. Die Bildträger waren Luxusgegenstände, zur Verwendung bei geselligen Anlässen bestimmt. Hier, im Milieu aristokratischer Geselligkeit, hatte das Erzählen von Geschichten schon immer seinen eigentlichen Ort und seine pragmatische Funktion.“55

Comics wiederum sind kein Anlass, Geschichten wiederzugeben, sie sind ein Anlass, Geschichten zu rezipieren. Obwohl wir es im weitesten Sinne mit narrativen Bildern zu tun haben, zeigt die genauere Analyse des jeweils zugrundeliegenden Bildverständnisses auf, dass die sogenannten Vorläufer des Comics und der Comic selbst weit weniger verbindet als es die oberflächlichen formellen Gemeinsamkeiten vortäuschen. Somit entlarvt sich die narrative Prämisse des Begriffs ,Comic-Vorläufer‘ als dem Untersuchungsgegenstand unangemessen, da es nichtnarrative Funktionen von Bildern von vornherein ausschließt. Solch eine Funktion entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Kern des dazugehörigen Bildverständnisses. Ohne Kenntnis der Urgeschichte ist ein Verständnis der Vasenbilder nicht möglich. Der Comic hingegen nutzt zwar ähnliche formelle Charakteristika, schafft es aber, eine Geschichte aus sich heraus zu erzählen. Keine der bekannten Vasen etabliert von sich aus eine

55 Ebd., S. 114

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Narration. 56 Wie im Laufe dieser Untersuchung schon mehrfach betont wurde, ist die Rede von Bildern nicht zu trennen von ihrer Bildpraxis. Interpretiert man also ein Bild, muss ebenso eine Reflexion über die Funktion, die Erwartungen, die die Betrachter an das Bild stellen und die Bedingungen unter denen es hergestellt wurde, erfolgen. „So kann man etwa archaische Vasenbilder in Zusammenhang bringen mit der gesellschaftlichen Praxis des Symposions, wofür das Luxusgeschirr von seiner Funktion her normalerweise bestimmt gewesen ist. Oder man kann die Bilder als Widerspiegelung einer Mentalität verstehen, die den aristokratischen Käufern und Benutzern jederzeit eigen gewesen sei; schließlich wird der eine oder andere in ihnen vielleicht sogar nach einer bestimmten politischen Aussage suchen, die sich auf spezifische, aktuelle Verhältnisse bezogen haben könnte. Charakteristisch für alle drei Zugangsweisen ist, daß die Ikonographie jeweils von außen betrachtet und mit externen Faktoren in Zusammenhang gebracht wird.“57

Vor der Frage also, welchen Erkenntniswert die Behauptung hat, dass es sich bei den vielen historischen Bildpluralen um Vorläufer oder Vor- und Frühformen handelt, steht die Frage, unter welchen Bedingungen solche Bildartefakte als dem Comic verwandt angesehen werden. Was haben die ins Feld geführten Bilder mit dem Comic gemeinsam und was nicht?

56 Koselleck, S. 206 :„Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewußtseinsanalysen: all das und vieles mehr läßt sich durch Quellenkritik aufdecken. Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.“ 57 Giuliani, S. 15

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New York um 1900

Das Arbeiten an der Geschichte eines Untersuchungsgegenstandes wie dem Comic – der sich einer einfachen Definition darum zu entziehen vermag, weil er keinen exklusiven Anspruch auf seine formelle Erscheinungsweise hat und auch nicht über ein materielles Medium oder einen Apparat definiert werden könnte – verlangt insofern besondere Aufmerksamkeit, da, wie Scott McCloud es treffend formulierte, „[d]ie Welt der Comics ... groß und vielfältig [ist]. Unsere Definition muss das gesamte Spektrum an Formen umfassen, darf aber nicht so allgemein sein, dass sie etwas einschließt, was eindeutig kein Comic ist.“1 Wie im vorangegangenen Abschnitt, an Beispielen der griechischen Vasenmalerei, gezeigt wurde, lässt sich in der Kunst- und Bildgeschichte durchaus so etwas wie eine Familienähnlichkeit der Bildgeschichten ausmachen, es muss jedoch im Einzelfall geprüft werden, inwiefern die Verständnisse von Bild und Geschichte der historisch dazugehörigen Betrachter_innen vergleichbar sind mit unseren Vorstellungen von einem Comic. Ausgehend von der These, dass es sich bei Comics um zu „räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen“2 handelt, projiziert McCloud diese Definition auf historische Beispiele, um diese als Comics zu charakterisieren. Auf der Suche nach einer Möglichkeit zur Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes stellt sich Scott McClouds Mahnung – dass wir zwar die Gesamtheit aller Comics er-

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McCloud, 1997, S. 12

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Ebd., 1997, S. 17

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fassen müssen, dabei aber nicht so allgemein formulieren sollten, dass wir etwas mit einbeziehen, was eindeutig kein Comic ist – gleichsam als selbsterfüllende Prophezeiung heraus, da die von ihm vorgeschlagene Definition auf jeden Fall historische Artefakte miteinschließt, die keine Comics sind, sondern lediglich formale Eigenschaften mit ihm teilen. Hier soll nun dargelegt werden, dass historische Bildgeschichten vor der Erfindung des Comics um 1900 in New York eben nur in der Rückschau als Comics betrachtet werden können.

7.1 IDEENGESCHICHTE Das Konzept der Epoche oder der Begriff der Kunstlandschaft3 mögen tendenziell willkürliche Grenzen in der Entwicklung des Kunstbegriffes ziehen. Ihr Wert liegt jedoch darin, dass sie ein Kunstschaffen bezeichnen, dass sich über einen gewissen Zeitraum, in der Rückschau, als konsistent erweist. Kontinuitäten solcher Art, vor allem wenn sich der Begriff der Kunst und des Bildes selbst im Laufe seiner Geschichte wandelt, sind immer bemerkenswert. Der Verlauf der Kunst- und Bildgeschichte ist nur einseitig beschrieben, wenn man sich nur auf die kohärenten Entwicklungen bezieht. Ein gleichwertiger Bestandteil dieser Geschichte sind die Brüche, Disharmonien und Widersprüchlichkeiten. Gleichsam lässt sich, in dem was wir Kunstgeschichte nennen, ein roter Faden der Revolutionen des Kunst- und Bildbegriffes entspinnen. „Nicht die Prinzipien eines einheitlichen Stils sind der Schlüssel für das Verständnis einer kunsthistorischen Epoche, sondern die Kontrapunktik der einander antwortenden Gesten und Artikulationen. Ein Zeitraum kann auch kunsthistorisch nicht mehr als monolithe Ganzheit, sondern nur in seinen dialektischen Widersprüchen und Bewegungen begriffen werden. Nicht der Panoramablick auf die künstlerischen Phänomene, sondern die Freilegung der zentralen sozialen Probleme einer Zeit und die Bestimmung des Ortes der Künste in den geschichtlichen Konflikt- und Harmonisierungsstrategien wird eine Epoche erschließen und einen Bezug zu Gegenwart ermöglichen.“4

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Held, S. 131

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Ebd., S. 163

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Zieht man das in Betracht, so wird deutlich, dass eine Geschichte des Comics nicht nur auf die Suche nach Bildsequenzen und TextBildkombinationen gehen darf. Der Historiker Quentin Skinner bringt es in seinem Aufsatz ,Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte‘ auch für die Problematik einer Comicgeschichtsschreibung auf den Punkt: „Wenn nämlich alle Erscheinungsformen einer bestimmten intellektuellen Aktivität durch eine gewisse Familienähnlichkeit verbunden sind, dann ist zunächst diese Familienähnlichkeit zu erfassen, um die Aktivität als solche zu erkennen. Das heißt aber: Es ist unmöglich, eine solche Aktivität oder eine ihrer Erscheinungsformen zu untersuchen, ohne einen Vorbegriff von dem zu haben, was wir zu erfinden erwarten.“5 Da die formellen Eigenschaften, die sich der Comic mit anderen Bildformen teilt, im Laufe der reichhaltigen Kunst- und Bildgeschichte immer wieder auftauchen und somit einen trügerischen Anschein von Vertrautheit erwecken, laufen die Comicforscher_innen hier Gefahr, alle fremdartigen Elemente im blinden Fleck ihrer eigenen Forschungsperspektive zu sammeln. In der Folge würde das bedeuten, dass der moderne Comic gleichsam die Elementaridee wäre, die im geschichtlichen Prozess seiner Selbstwerdung, zu allen Zeiten und in allen Kulturen, wirksam war. Jedoch konnten weder die Schöpfer griechischer Vasen, noch die Meister der mittelalterlichen Retabelaltäre zu einer Genese des modernen Comics beitragen, da ihnen dafür die Bildverständnisse höchstwahrscheinlich nicht zur Verfügung standen. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass das Bild- und Narrationsverständnis des Schöpfers einer Bildgeschichte daraufhin geprüft werden muss, ob das Konzept ,Comic‘ darin überhaupt realisiert werden kann. Insofern sich zeigen lässt, dass mit der Bezeichnung ,Vorform des Comics‘ Beschreibungskategorien, Klassifikationskriterien und Bildverständnisse an den Urheber einer Bildgeschichte herangetragen werden, die diesem eben nicht zugänglich waren, kann auch nicht von einer Frühform des Comics gesprochen werden. Die narrativen Bilder auf griechischen Vasen verweisen zwar nicht mehr auf reale und mögliche Ereignisse in der Welt, jedoch behalten sie ihren Verweisungscharakter; sie verweisen nun auf Ereignisse aus Geschichten der griechischen Mythen. Diese primäre Qualität des Ver-

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Skinner, Quentin: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, in: Stollberg-Rilinger,S. 62

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weisens ist einem narrativen Comicbild insofern fremd, als die Darstellungen eben nicht zwingend auf einen externen Sinnzusammenhang angewiesen sind, sondern als konstitutiver Bestandteil der Narration selbst verstanden werden können. Selbst zum Verständnis einer Comicreportage ist eine Kenntnis der Umstände, über die der Comic berichtet, nicht obligatorisch. „Wenn sich der Historiker dann pflichtgemäß auf die Suche nach der so beschriebenen Idee macht, neigt er meist zu einer Darstellung, der zufolge die voll entwickelte Form der Lehre in gewissem Sinne schon immer in der Geschichte gegenwärtig gewesen sei [...]. Nicht zufällig wird die normalerweise zur Beschreibung wachsender Organismen verwendete Sprache zum bevorzugten Darstellungsmittel. Die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang von Ideen zu sprechen, denkende Subjekte voraussetzt, verschwindet aus dem Blick, sobald die Ideen sich verselbstständigen und aus eigenem Antrieb gegeneinander zu kämpfen beginnen.“6

Das soziale Umfeld ist somit ein wichtiger Faktor des sinnstiftenden Bezugsrahmens, aus dem heraus entschieden werden kann, zu welchen Intentionen ein Künstler überhaupt in der Lage war. „Zweifellos kann unter bestimmten Bedingungen mithilfe der Kategorie „Einfluss“ eine überzeugende Erklärung zustande gebracht werden. Es ist jedoch allzu verführerisch, diesen Begriff zu verwenden, ohne zu überprüfen, ob die dafür hinreichenden oder zumindest notwendigen Bedingungen überhaupt vorliegen.“7

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Ebd., S. 67

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Ebd., S. 80

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7.2 DIE MEDIALE SONDERSTELLUNG DES 19. JH. „Die Masse ist eine matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht. Die Quantität ist in Qualität umgeschlagen: Die sehr viel größeren Massen der Anteilnehmenden haben eine veränderte Art des Anteils hervorgebracht. Es darf den Betrachter nicht irre machen, daß dieser Anteil zunächst in verrufener Gestalt in Erscheinung tritt. Doch es hat nicht an solchen gefehlt, die sich mit Leidenschaft gerade an diese oberflächliche Seite der Sache gehalten haben.“ Walter Benjamin8

Die Techniken des Comicbetrachters In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erörtert Walter Benjamin unter anderem den Aspekt der historischen Verflochtenheit der Betrachter_innen eines Kunstwerks: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt.“9

Ausgehend von der These, dass die menschliche Tätigkeit des Sehens auch etwas ist, das historisch konstruiert ist, untersucht der Kunsthistoriker Jonathan Crary in seiner einflussreichen Studie Die Techniken des Betrachters die Bedingungen, unter denen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „eine neue Art Betrachter“10 hervorgegangen ist. Neuen Sehmodellen werden, laut Crary, bereits zum Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt. Die Bedeutung dieser Entwicklung geht über die Umbrüche in den Darstel-

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Benjamin: S. 39

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Ebd., S. 14

10 Crary, S. 13

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lungskonventionen in Bild und Kunst hinaus. Der Wandel „war vielmehr untrennbar mit einer umfassenden und gewaltigen Umstrukturierung von Wissen und Erkenntnis wie von sozialen Praktiken verbunden, die die produktiven und kognitiven Vermögen des Menschen wie seine Bedürfnisstruktur auf unendlich vielfältige Weise neu strukturierten.“11 Um diesen Wandel zu erläutern, beschreibt Crary, wie die sogenannte Camera obscura und die Prinzipien ihrer Funktionsweisen im frühen 19. Jahrhundert „zu einem bestimmenden Paradigma wurden, das den Status und die Möglichkeiten des Betrachters festschrieb.“12 Das Prinzip einer Camera obscura ist schnell beschrieben. In einem Raum, in dem es optimaler Weise nur ein Fenster gibt, muss dieses Fenster lichtdicht verschlossen werden, beispielsweise mit Karton o. ä.; sticht man nun in diesen Karton ein kleines Loch, so fallen die Lichtstrahlen von außen durch dieses Loch zuerst auf die gegenüberliegende Wand. Auf der Wand entsteht ein seitenverkehrtes, auf dem Kopf stehendes Bild der äußeren Szenerie. Zwischen dieser, seit mindestens zweitausend Jahren bekannten, physikalischen Tatsache und den verschiedenen Auslegungen seit Euklid gilt es nun zu unterscheiden.13 Crary betont, dass es zum Verständnis der Bildpraxis des späten 16., des 17. und des 18. Jahrhunderts von Bedeutung ist zu erkennen, dass das Prinzip der Camera obscura zu einem Gleichnis für die optische Wahrnehmung wurde. Crary schreibt von einem „sozial konstruiertem Artefakt“14. „Im 17. und 18. Jahrhundert wurden das menschliche Sehen und das Verhältnis des Betrachters bzw. die Stellung des denkenden Subjekts zur Außenwelt an keinem Modell häufiger veranschaulicht als an der Camera obscura.“15 Bemerkenswert ist somit die doppelte Belegung des Begriffs Camera obscura. Einerseits dient er als Deutungsrahmen für erkenntnistheoretische Diskurse, andererseits bezeichnet er die oben beschriebene räumliche Anordnung. Die Camera obscura ist also „eine komplexe Verschmelzung sozialer Elemente, deren Vorhandensein als Sprachfigur untrennbar mit ihrem mechanischen Gebrauch verbunden war.“16 Die wegweisende Bedeutung,

11 Ebd., S. 13 f 12 Stiegler, S. 208 13 Vgl.: ebd., S. 207 14 Ebd., S. 208 15 Crary, S. 39 f. 16 Ebd., S. 42

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die dieser Begriff mit dem Ende des 16. Jahrhunderts erhält, bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Betrachter_innen in der Welt aufgehoben seien. Um das menschliche Sehen darzustellen, genügte es, eine Camera obscura vorzuführen. „Vor allem ist sie ein Indikator für das Entstehen eines neuen Modells der Subjektivität, für die Vormachtstellung einer neuen Subjektivierung. Zunächst einmal setzt die Camera obscura einen Individuationsprozeß in Gang, d.h. sie definiert den in ihrem dunklen Raum befindlichen Betrachter notwendigerweise als isoliert, abgeschlossen und autonom. Sie erzwingt eine Form der Askese bzw. des Rückzuges aus der Welt, um die Beziehung des Individuums zu den vielfältigen Inhalten der neuen

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