Übersetzungslandschaften: Themen und Akteure der Literaturübersetzung in Ost- und Mitteleuropa 9783839433027

What are the central questions confronting literary translators between German and five Slavic languages? This volume pr

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Übersetzungslandschaften: Themen und Akteure der Literaturübersetzung in Ost- und Mitteleuropa
 9783839433027

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Übersetzung und Übersetzungskulturen in Mittelosteuropa
Sichtbare Übersetzer – transkulturelle Biographien. Am Beispiel von Karl Dedecius und Ilma Rakusa
Übersetzen in Mitteleuropa. Zur Konzeptualisierung der Übersetzungen der Autoren der Prager deutschen Literatur
Alterität und Übersetzung im ukrainisch-deutschen Kontext
Übersetzungen in der geschrumpften literarischen Welt der Sowjetukraine
Kulturspezifische Elemente in Jo Nesbøs Roman Rotkehlchen. Aus dem Norwegischen ins Slowenische, Englische und Deutsche
Translationskultur im Wandel: Hugo von Hofmannsthals Jedermann in der slowenischen Übersetzung und Neuübersetzung
Bolesław Leśmian und Bruno Schulz in deutschen Übersetzungen. Übersetzer im Spannungsfeld von Kultur, Individualästhetik und (Sprach-)Philosophie
Gesellschaftskritik übersetzen. Auseinandersetzungen mit der polnischen Gesellschaft in Sylwia Chutniks Roman Dzidzia und dessen Übertragung ins Deutsche
Panoramen der Literatur- und Übersetzungslandschaften
Polen
Kroatien
Slowenien
Tschechien
Ukraine
Deutschsprachiger Raum
Essay
Lebensläufer. Zu einer kleinen Theorie unauratischer Kulturen

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Schamma Schahadat, Šteˇpán Zbytovsky´ (Hg.) Übersetzungslandschaften

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft hrsg. v. Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg | Band 9

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Schamma Schahadat, Šteˇpán Zbytovsky´ (Hg.)

Übersetzungslandschaften Themen und Akteure der Literaturübersetzung in Ost- und Mitteleuropa

Gefördert vom Programm für lebenslanges Lernen der Europäischen Union

Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung (Mitteilung) trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Vorwort

Schamma Schahadat, Štěpán Zbytovský | 7

ÜBERSETZUNG UND ÜBERSETZUNGSKULTUREN IN M ITTELOSTEUROPA Sichtbare Übersetzer – transkulturelle Biographien. Am Beispiel von Karl Dedecius und Ilma Rakusa

Schamma Schahadat | 19 Übersetzen in Mitteleuropa. Zur Konzeptualisierung der Übersetzungen der Autoren der Prager deutschen Literatur

Manfred Weinberg | 41 Alterität und Übersetzung im ukrainisch-deutschen Kontext

Maria Ivanyc’ka | 55 Übersetzungen in der geschrumpften literarischen Welt der Sowjetukraine

Chrystyna Nazarkevyč | 79 Kulturspezifische Elemente in Jo Nesbøs Roman Rotkehlchen. Aus dem Norwegischen ins Slowenische, Englische und Deutsche

Tanja Žigon, Marija Zlatnar Moe | 93 Translationskultur im Wandel: Hugo von Hofmannsthals Jedermann in der slowenischen Übersetzung und Neuübersetzung

Janko Trupej | 109

Bolesław Leśmian und Bruno Schulz in deutschen Übersetzungen. Übersetzer im Spannungsfeld von Kultur, Individualästhetik und (Sprach-)Philosophie

Katarzyna Lukas | 127 Gesellschaftskritik übersetzen. Auseinandersetzungen mit der polnischen Gesellschaft in Sylwia Chutniks Roman Dzidzia und dessen Übertragung ins Deutsche

Magda Wlostowska | 145

P ANORAMEN DER LITERATUR - UND ÜBERSETZUNGSLANDSCHAFTEN Polen

Joanna Jabłkowska, Artur Pełka, Karolina Sidowska | 161 Kroatien

Monika Blagus, Milka Car | 181 Slowenien

Karmen Schödel, Irena Smodiš | 197 Tschechien

Štěpán Zbytovský | 213 Ukraine

Olha Hončar, Nelja Vachovs’ka, Claudia Dathe | 229 Deutschsprachiger Raum

Claudia Dathe | 247

E SSAY Lebensläufer. Zu einer kleinen Theorie unauratischer Kulturen

Jurko Prochasko | 267

Vorwort S CHAMMA S CHAHADAT , Š TĚPÁN Z BYTOVSKÝ

Die Übersetzung, seit den 1980er Jahren produktiv als kulturwissenschaftliche Kategorie eingesetzt, erlebt aktuell ein erneutes Interesse – bei weitem nicht nur im Kontext der Debatten um den sog. ›translational turn‹, sondern angeregt beispielsweise durch soziale und politische Krisenentwicklungen in der Welt, angesichts derer sich die eminente politische Bedeutung der Kulturvermittlung in neuer Dringlichkeit erweist. Die doppelte Problematisierung eines naiven Strebens nach einem ›vollkommenen Textäquivalent‹, die einerseits die Vorstellung einer restlosen strukturellen und semantischen Gleichwertigkeit von Translat und Original in Abrede stellt und andererseits die Einschränkung auf ein TextText-Verhältnis auf kulturelle Kontexte hin öffnet, ist in der Übersetzung und Übersetzungstheorie derart selbstverständlich geworden, dass sie selbst eine Hinterfragung hinsichtlich ihrer Wirkung und Brauchbarkeit benötigt. Die Debatten der letzten Jahrzehnte ergaben u.a. die Einsichten, dass in diesen Problematisierungen immer noch die üblichen essentialistischen Kategorien wie ›Werk‹ oder ›Kultur‹ transportiert werden, und haben sich von der Vorstellung von Übersetzung als textuelles Produkt gelöst. Die Übersetzung wird demnach vielmehr in seiner Prozesshaftigkeit bzw. fortwährenden Transformationsdynamik betrachtet, deren Komplexität über ein einfaches Binärschema ›ein Originaltext – ein Translat‹ bzw. ›eine Ausgangskultur – eine Zielkultur‹ hinaus geht. Damit wird der Begriff des Übersetzens produktiv gemacht im Zuge seiner versuchsweisen Verschiebung in die Position einer grundlegenden

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Beschreibungs- und Konstruktionskategorie für Kulturphänomene und -prozesse überhaupt. So geht Doris Bachmann-Medick davon aus, dass die Bedeutung des translational turn und des »translational thinking« (Bachmann-Medick 2012: 26) nicht nur den Blick auf die Kultur als Ganzes sowie ihre diverse Kulturerscheinungen eröffnet und deren Prozess-, Transformations- oder Hybriditäts-Charakteristiken erst sichtbar macht. Zudem, so Bachmann-Medick, eigne sich die Übersetzung als ein in den verschiedensten Geistes- und Sozialwissenschaften anzuwendendes »analytisches Werkzeug«: »At that point, translation also turns into a model for the study of culture as it transforms cultural concepts by making them translatable and translating them continuously into different fields. […] In this framework, translation becomes an analytical concept for social theory, action theory, cultural theory, microsociology, migration studies, history, the theory of interculturality, and so on. As analytical concept, translation no longer remains on the merely metaphorical level but is worked out on the basis of empirical social processes.« (Bachmann-Medick 2012: 26f.)

Der Begriff der Übersetzung wird daher nicht nur (1.) von der textuellen auf die allgemeinere Ebene einer Übersetzung von kulturellen Akten samt ihrer pragmatischen Intentionen aufgewertet, oder (2.) als allgemeines epistemisches Modell verstanden, sondern auch (3.) als grundlegendes methodologisches Muster für alle Geistes- und Sozialwissenschaften und ihre Wechselbeziehungen gesehen. Für diejenigen, die sich weiterhin primär aus philologischer Perspektive mit der Übersetzung befassen, wäre es sicherlich verfehlt, diese Entwicklungen bloß als Export oder Expansion des ›eigenen‹ Methodenguts zu verstehen. Möglicherweise noch mehr als für andere Fachgebiete ergeben sich gerade für die philologisch ›Engagierten‹ aus der Reflexion des konzeptionell neu gefassten Übersetzungsbegriffs folgenreiche Konsequenzen für die Praxis und Reflexion der Text-Übersetzung – genauso wie für die Rolle der Übersetzer_innen. Der translational turn hat jedoch nicht nur die Formel von der ›Kultur als Text‹ aufgegriffen und damit dem Übersetzen eine kulturtragende Funktion zugeschrieben; zudem ist das Übersetzen in die Überlegungen sowohl der Weltliteratur als auch der Komparatistik mit einbezogen worden. Dem Zusammenhang zwischen Weltliteratur und Übersetzen am Beispiel des slavischen Raums ist Walter Koschmal nachgegangen; seine Beobachtung

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ist, dass im Falle von Übersetzungen der ästhetische Wert eines literarischen Werkes für den Kanon der Weltliteratur verloren geht und damit auch Werke, die für den Kanon einer Nationalliteratur von ungeheurem Wert sind. Dafür werden literarische Werke in den Weltliteratur-Kanon aufgenommen, die aufgrund ihrer weltanschaulichen, religiösen oder sittlichen Inhalte von universalem Wert sind (Koschmal 1995: 105f.). In den Fokus der Debatte um Komparatistik ist die Übersetzung im Zusammenhang mit Gayatri Spivaks These vom ›Tod der Übersetzung‹ geraten: Susan Bassnett argumentiert in ihrem Aufsatz Reflections on Comparative Literature – der als Antwort auf Spivaks These konzipiert ist –, dass Übersetzungen als »a force for literary renewal and innovation« agieren können und keineswegs »marginal« sind: »whereas once translation was regarded as a marginal area within comparative literature, now it is acknowledged that translation has played a vital role in literary history and that great periods of literary innovation tend to be preceded by periods of intense translation activity.« (Bassnett 2006: 8)

Doch zurück zum Bereich der Kulturtheorie: In der Reflexion der kulturellen Interferenzen und Kontakte in der globalisierten Welt wird in der gegenwärtigen Kulturtheorie dem Begriff der »travelling concepts« eingehende Aufmerksamkeit geschenkt (z.B. Bal 2001; 2002). Auch die hiermit benannten und verfügbar gemachten Aspekte der Zirkulation von Ideen und Handlungskonzepten lassen sich – so der Appell in einem der jüngsten Aufsätze Bachmann-Medicks (2014) – vermittels der Kategorie der Übersetzung noch ertragreicher beleuchten als es bisher der Fall war. Eine eher beiläufige Frage Bachmann-Medicks dürfte fruchtbar verfolgt werden: »Today they have themselves become travellers. But what has happened to their carriers, intermediaries, and brokers?« (Bachmann-Medick 2014: 121) Im Sinne der Verschiebung vom Studium einer depersonalisierten Zirkulation von Konzepten zum Studium ihrer transformativen sowie räumlichen Übersetzung scheint hier u.a. auch eine Aufwertung und Ausweitung der Rolle der Übersetzer_innen im breiteren Sinne des Wortes vorgenommen zu werden, die nunmehr nicht nur als (Über-)Träger und Transmitter der kulturellen Inhalte gelten, sondern zu ihren prototypischen Setzern und Performern werden, zu personalen und beweglichen Schnittstellen in dem

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Netzwerk der Hand in Hand vor sich gehenden Kultur-Vermittlung und -Erzeugung. Aus der oben erwähnten Beobachtung, dass nicht der Text alleine, sondern Text als Bestandteil vielfältiger kulturell bedingter kommunikativer Akte im Prozess der Übersetzung begriffen ist, wird häufig eine unproblematische Konsequenz gezogen, dass vorhandene, mehr oder weniger verfügbare kulturelle Kontexte des Ausgangs- und des Zieltexts im Übersetzen berücksichtigt und mit-übersetzt werden müssen. Die Annahme eines dem Text vorangehenden und orientierungsstiftenden Kontextes, verstanden meistens als Summe verschiedenster Realien, Sprachmittel und Redeweisen und evtl. auch Ideologemen, die dem national-sprachlich festgelegten Rahmen zugeschrieben werden, basiert jedoch schließlich auf der Vorstellung von der Kultur als einer homogenen und in sich geschlossenen Größe. Eine assoziationstheoretische Konzeptualisierung der Kategorie der Übersetzung als Verknüpfung, in der nicht Kontexte, Kulturen oder Sprachen, sondern Sprechakte bzw. Texte verbunden werden, legte neulich Andreas Langenohl vor. Die Übersetzungsdynamiken, so Langenohl (2014), beruhen weniger auf präexistenten kulturellen Kontexten, zwischen denen es zu vermitteln gilt, sondern vielmehr werden Kontexte im Prozess des Übersetzens erst aufgerufen und perspektiviert, d.h. als solche erst erzeugt. Dies wird nicht als ontologische, sondern primär als epistemologische Aussage aufgestellt: »Es geht nicht darum zu bezweifeln, dass Texte, Sprechakte und Adressierungen niemals im luftleeren Raum stattfinden und stets auf die eine oder andere Weise ›kontextualisiert‹ sind – sondern es geht um das Argument, dass eine Anschließung und Aufschließung von Kontexten stets anhand konkreter Texte, Sprechakte und Adressierungen stattfindet, niemals aber in abstracto. Die Behauptung, Kontext sei bei jedem Text, Sprechakt und Adressierung immer schon gegeben, ist eine ontologische Behauptung, die hier nicht zu beurteilen ist; das einzige, was kulturtheoretisch relevant ist, ist die Sinnaufschließung und der Sinnanschluss des Kontextes, die ohne konkreten Text, Sprechakt oder Adressierung nicht denkbar sind. […] Schließlich hätten all die Konsultationen von ›Sprache‹, ›Zeit‹ und ›Kultur‹ in ihrer Gezieltheit ohne den Text, der zu übersetzen ist, nie stattgefunden; und anhand eines anderen Textes hätten sie in anderer Weise stattgefunden.« (Langenohl 2014: 23f.)

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Sowohl der Ausgangs- als auch der Zielkontext werden demnach durch eine Übersetzung reformuliert, rekonfiguriert und modelliert, was einerseits als Bestätigung der These von der ›Übersetztheit‹ jeglicher Kultur, andererseits als prinzipielles Argument für die politische Relevanz und Macht des Übersetzens gelesen werden kann. *

Das vorliegende Buch ist im Kontext eines europäischen Projekts zum literarischen Übersetzen und zur Kulturvermittlung entstanden: TransStar Europa (http://transstar-europa.com/). Drei Jahre lang, von 2012 bis 2015, wurden junge Übersetzer_innen aus den deutschsprachigen Ländern und aus Polen, Tschechien, Slowenien, Kroatien und der Ukraine im literarischen Übersetzen aus dem Deutschen in ihre Sprachen und aus ihren Sprachen ins Deutsche sowie im internationalen Kulturmanagement geschult. Der Ausgangspunkt des Projekts war die Beobachtung, dass trotz vielfältiger Bemühungen immer noch ein Ungleichgewicht in der Integration der verschiedenen europäischen Kulturen und im Kulturtransfer herrscht – die Bewegung geht bis heute, wie Karl Schlögel 2008 in seinem Aufsatz Asymmetrien der Erfahrung, Asymmetrien der Erinnerung schrieb, eher von Ost nach West als umgekehrt: »Das östliche Europa holte [nach 1989] nach, was ihm so lange vorenthalten war: eine Explorationsbewegung größten Ausmaßes. Das kann man vom westlichen Europa […] nicht sagen. Die Neugier hielt sich in Grenzen, zeitweilig überwogen sogar allerlei Befürchtungen […].« (Schlögel 2015: 266)

Das Ziel des Projekts TransStar Europa war nicht nur die praktische Ausbildung junger Menschen in einem europäischen Lebensraum, sondern auch die Erweiterung der »Explorationsbewegungen« zwischen dem deutschen und dem (ost)mitteleuropäischen und südosteuropäischen Literaturmarkt. Da Deutschland eine Art Umschlagplatz für Übersetzungen ist, ein Multiplikator und eine Kontaktzone zwischen dem westlichen und dem östlichen Europa, besteht die Hoffnung, dass andere europäische Länder auf diese weniger bekannten Literaturen aufmerksam werden. Wie wichtig Sprachkundige und Kulturvermittler_innen in Zeiten der Krise sind, hat sich im Ukraine-Konflikt gezeigt, als die ukrainisch-deutschen Teilnehmenden von TransStar Europa plötzlich ungeheuer gefragt waren, sowohl

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als Übersetzer_innen als auch als Informant_innen über eine in Deutschland nur wenig bekannte Kultur. Unser Buch hat sich das Ziel gesetzt, praktische und theoretische Fragestellungen aufzugreifen; spezifische Übersetzungsfragen (wie zum Beispiel in den Beiträgen von Tanja Žigon und Marija Zlatnar Moe, von Janko Trupej und von Katarzyna Lukas) werden ebenso behandelt wie kulturelle Dimensionen (so bei Manfred Weinberg, Marija Ivanytska, Chrystyna Nazarkevyč oder Magdalena Wlostowska) oder die Sichtbarkeit des Übersetzers (so in dem Beitrag von Schamma Schahadat). Eine dezidiert praktische Ausrichtung haben die Länderpanoramen, in denen die literarischen und übersetzerischen Felder in Deutschland, Polen, Tschechien, Slowenien, Kroatien und der Ukraine aufgebarbeitet werden. Dabei ist nicht nur zu berücksichtigen, dass die Literaturmärkte in den einzelnen Ländern mehr oder weniger institutionalisiert und strukturiert sind,1 sondern auch, dass die Übersetzungstheorie sich in Europa und den USA ganz unterschiedlich entwickelt hat: Während die ost(mittel)europäische Übersetzungstheorie im Kontext der Prager Schule entstanden ist und damit eine linguistisch-strukturalistische Basis hatte (Roman Jakobson, Jiři Levý), zeichnete sich die westeuropäische Theorie ab den 1970er und 1980er Jahren durch einen stark deskriptiven Zugang aus, was damit zusammenhing, dass die translation studies sich zunächst als akademische Disziplin legitimieren mussten. Die Leipziger Schule unter der Leitung von Albrecht Neubert vertrat einen pragmatischen Ansatz, der die Funktion der Übersetzung im Kontext von Institutionen und Machtbeziehungen untersuchte. Die osteuropäische Translationstheorie betreibt bis heute Forschungen zur »sprachlichen Identität (Persönlichkeit) des Übersetzers« (языковая личность переводчика), wobei sie sich auf die Ideen des russischen Linguisten Jurij Karaulov stützt (Karaulov 1987) Hier werden linguistische, kognitive und pragmatische Aspekte berücksichtigt. In der angloamerikanischen und, in der Folge, auch in der westeuropäischen Übersetzungstheorie wiederum spielt der bereits genannte cultural turn in der Übersetzungstheorie eine prägende Rolle, für den Mary Snell-Hornby als eine der Initiatorin-

1

Zum wenig organisierten Literaturmarkt in der Ukraine s. zum Beispiel Dathe (2013).

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nen gilt und der dann von Susan Bassnett (1980) und von Doris BachmannMedick (2009) weiter entwickelt wurde. Gerade im Vergleich verschiedener nationaler Traditionen bildet die neuere Übersetzungstheorie die Spannungen ab, die sich zwischen dem kulturellen Erbe auf nationaler und auf europäischer Ebene auftun - während die westeuropäische und die angloamerikanische Übersetzungstheorie den Mehrwert der Übersetzung in der kulturellen Grenzüberschreitung sieht und damit das auf Schleiermacher und Goethe zurückgehende Ideal einer verbesserten Kommunikation zwischen den verschiedenen Völkern (bei Schleiermacher ist es die Übersetzung, bei Goethe das Konzept der Weltliteratur) zurückgreift, haben die ›kleineren‹ Sprachen andere Interessen, wie man am Beispiel der ukrainischen Übersetzungstheorie beobachten kann: Gerade die moderne ukrainische Übersetzungstheorie betont die wichtige Rolle der Literaturübersetzer für die Erhaltung der ukrainischen Sprache und Kultur im 20. Jahrhundert und betrachtet die ukrainische Literaturübersetzung als Teil des nation building.2 Aus dieser Perspektive wird das Wirken von wichtigen ukrainischen Übersetztern dargestellt, wie Ivan Franko, Mykola Serov, Mykola Lukaš, Hryhorij Kotšur und andere. Doch, wie bereits erwähnt, Übersetzen bedeutet nicht nur Sprache und Kultur, sondern Übersetzen ist ein höchst politischer Akt, der schon lange seine Unschuld verloren hat.3 Welche Bedeutung die Übersetzung und die Macht des Übersetzens im Kulturkontakt zwischen hierarchisch unterschiedlichen Kulturen hat, beschreibt der ukrainische Übersetzer Jurko Prochasko in seinem Essay Lebensläufer. Eine kleine Theorie der unauratischen Kulturen. Obwohl dieser Essay am Schluss des Bandes steht, hat er für unser Anliegen, die kleineren, oder, mit Proschasko: »unauratischen« Kulturen bekannter zu machen, eine programmatische Bedeutung: »Die[…] peripheren, unauratischen Länder stehen im Abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Das offenbart eine traditionelle Schwäche sowohl des Westens als auch des ihm in seinem Kanon nacheifernden Restes der Welt: die Schwierigkeit bis

2

Siehe dazu z.B. M. Stricha (2006). Für die Hinweise zur ukrainischen Überset-

3

Diese Tatsache ist bekannt; ein beliebtes Beispiel, um den Eurozentrismus, die

zungstheorie danken wir Maria Ivanytska. Schuld und die Gewalttätigkeit der Übersetzungspraxis vorzuführen, ist die Übersetzungsgeschichte von 1001 Nacht. S. dazu z.B. Borges (2004).

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Unmöglichkeit, sich eine wirklich attraktive Kultur anders vorzustellen als (post)imperial […] sich [mit den unauratischen Ländern] zu beschäftigen, heißt, die meist unbewussten, aber immer übermächtigen Mechanismen ein wenig zu begreifen, mit denen verschiedene Kulturen in Europa – und verschiedene Geschichten – hierarchisiert, gewertet und (nicht) wahrgenommen werden. Eine genaue Auseinandersetzung mit einer Kulturgeschichte erschwert nämlich das Beibehalten der Projektionen und Vorurteile.«

* Wir danken allen Förderern, die das Projekt »TransStar Europa« sowie seinen damit verbundenen Zwilling für die Öffentlichkeit, das Projekt »Übersetzungswürfel – Sechs Seiten europäischer Literatur und Übersetzung«, nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich und moralisch unterstützt haben: dem Programm für lebenslanges Lernen der Europäischen Union, der Kulturstiftung des Bundes mit Friederike Tappe-Hornbostel und vor allem auch der Robert Bosch Stiftung mit Dr. Maja Pflüger, die das literarische Übersetzen an der Universität Tübingen seit 2005 begleitet. Für das geduldige Lesen, Recherchieren und Korrigieren danken wir Daniela Amodio, Gaia Englert, Sebastian Kornmesser, Aurelia Ohlendorf, Valentin Peschanskyi und Elena Pylaeva; für die großartige Zusammenarbeit in den beiden Projekten danken wir allen Kolleginnen und Kollegen von TransStar – allen voran Claudia Dathe, die nicht nur für ihre eigenen Beiträge Zeit in den vorliegenden Band gesteckt hat. Die Publikation des Buches wird finanziert von der Europäischen Union im Programm Life Long Learning.

L ITERATUR Bachmann-Medick, Doris (1997): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: E. Schmidt. Dies. (2012): Translation – A Concept and Model for the Study of Culture. In: Birgit Neumann & Ansgar Nünning (Hg.): Travelling Concepts for the Study of Culture. Berlin/Boston: de Gruyter, S. 23-43. Dies. (2014): From Hybridity to Translation: Reflections on Travelling Contexts. In: dies. (Hg.). The Trans/National Concept of Culture. A Translational Perspective. Berlin/New York: De Gryuter, S. 119-136.

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Bal, Mieke (2001): Introduction: Travelling Concepts and Cultural Analysis. In: Joyce Goggin & Sonja Neef (Hg.): Travelling Concepts: Text, Subjectivity, Hybridity. Amsterdam: ASCA. S. 7-25. Dies. (2002). Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide. Toronto: University of Toronto Press. Bassnett, Susan (1980): Translation Studies. New York: Psychology Press. Dies. (2006): Reflections on Comparative Literature. In: Comparative Critical Studies 3/1-2 (2006), S. 3-11. Borges, Jorge Luis (22004): The Translators of The One Thousand and One Nights, übers. v. Esther Allen. In: Lawrence Venuti (Hg.): The Translation Studies Reader. New York/London: Routledge, S. 94-108. Clifford, James (1997): Traveling Cultures. In: ders.: Routes: Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge, MA/London: Harvard University Press, S. 17-46. Dathe, Claudia (2013): Das deutsch-ukrainische literarische Feld: Akteure und Asymmetrien. In: Claude Dathe & Renata Makarska & Schamma Schahadat (Hg.): Zwischentexte. Literarisches Übersetzen in Theorie und Praxis, Berlin: Frank & Timme, S. 255-286. Genkler, Edwin (2007). Translation Studies on Both Sides of the Atlantic. In: Lew N. Zybatow (Hg.): Sprach(en)kontakt – Mehrsprachigkeit – Translation. Innsbrucker Ringvorlesungen zur Translationswissenschaft V. Frankfurt a.M./Berlin/Bern: Peter Lang, S. 41-52. Karaulov, Ju. N. (2010) [1987]: Russkij jazyk i jazykovaja ličnost’. Moskva: LKI. Koschmal (1995): Ästhetischer und universeller Wert. National- und weltliterarische Funktion. Die slavischen Literaturen am Rande der Weltliteratur? In: Manfred Schmeling (Hg.): Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven. Würzburg, S. 101-122. Langenohl, Andreas (2014): Verknüpfung, Kontextkonfiguration, Aspiration. Skizze einer Kulturtheorie des Übersetzens. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2/2014, S. 17-27. Schlögel, Karl (2015): Asymmetrien der Erfahrung, Asymmetrien der Erinnerung. In: ders.: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. Frankfurt: Fischer Verlag, S. 263-278. Spivak, Gayatri (2003): Death of a Discipline. New York: Columbia University Press.

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Stricha, M. (2006): Ukrainskij chudožniij pereklad: miž literaturoiu i nacietvorenijam. Kyjiv: Naš čas.

Übersetzung und Übersetzungskulturen in Mittelosteuropa

Sichtbare Übersetzer – transkulturelle Biographien Am Beispiel von Karl Dedecius und Ilma Rakusa S CHAMMA S CHAHADAT

1995 hat der Übersetzungstheoretiker und -historiker Lawrence Venuti seine These von der Unsichtbarkeit der Übersetzer aufgestellt: Übersetzungen, so Venuti, werden eingebürgert (»domesticated«) und familiarisiert (»familiarized«); Übersetzer unterwerfen ihre Übersetzungen dem Diktat der Lesbarkeit und Flüssigkeit (Venuti 2002: 1, 5). Wenn der Übersetzer oder die Übersetzerin sich unsichtbar macht, so betreffe das nicht nur seine bzw. ihre Kreativität und Originalität, die im übersetzten Text verdeckt, zurück genommen oder ausgemerzt wird, sondern auch die Persönlichkeit des Übersetzers. Was die Sichtbarkeit betrifft, so ist die Geschichte des Übersetzens mit der Geschichte der Autorschaft eng verknüpft; in beiden Fällen ist eine Bewegung von der Unsichtbarkeit hin zur Sichtbarkeit zu beobachten. In der Geschichte der Autorschaft haben der Stil und die ›Signatur‹ (vgl. Derrida 1998) wesentlich dazu beigetragen, den Autor zu legitimieren (Wetzel 2000, 495); wenn der Übersetzer seinen Stil der Lesbarkeit unterordnet und wenn seine Signatur auf dem Titelblatt des Buches fehlt, so verschwindet er nicht nur im Text, sondern auch als Stimme und Person. Beim Übersetzer, wie vormals beim Autor, ist eine allmähliche Bewegung der Signatur auf das Titelblatt zu beobachten – zwar ist es immer noch möglich, auf Übersetzungen

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zu treffen, bei denen kein Übersetzername genannt wird,1 doch ist dies, zumindest im west- und mitteleuropäischen Literaturbetrieb, ein eher seltener Fall. In der Regel schaffen die Übersetzerinnen und Übersetzer es zumindest auf die Titelei und in einigen wenigen Fällen sogar auf die Titelseite. Diese Sichtbarkeit des Namens, der Signatur, über oder unter dem Text seit der Renaissance markierte den »Wandel von einer Funktionsbestimmung zur Personalisierung« (Wetzel 2000: 480); damit trat neben das Werk die Person. Mehrere hundert Jahre später vollzieht sich dieser Wechsel von der Funktion zur Person in Bezug auf den Übersetzer, der damit sichtbar(er) gemacht wird. Venuti hat seine These von der Unsichtbarkeit des Übersetzers speziell am angloamerikanischen Raum festgemacht; im deutschen Sprachraum setzen sich die Übersetzer seit mehreren Jahren für ihr Recht ein, als »›Schöpfer‹ von Texten« (Scheffel 2013: 61) anerkannt zu werden; ihre Übersetzungen unterliegen dem Urheberrecht. Dabei, so Tobias Scheffel, Übersetzer aus dem Französischen, unterscheidet sich die Rolle der Übersetzer_innen in der deutschen Kultur- und Verlagsszene, je nachdem, aus welcher Sprache übersetzt wird: »Zur Rolle der Übersetzer innerhalb des Kulturtransfers von einem Land in ein anderes bleibt noch nachzutragen, dass die allermeisten Übersetzer die Bücher angeboten bekommen, die ein deutscher Verlag bereits ›eingekauft‹ hat, wie es heißt. Dies gilt zumindest für die zahlenmäßig größte Gruppe der Übersetzer aus dem Englischen – und heutzutage auch mehrheitlich für Übersetzer aus dem Französischen. Natürlich haben literarische Übersetzer auch eine Vermittlerrolle in dem Sinne, dass sie Verlage beraten, ihnen Bücher empfehlen, häufig Bücher begutachten oder mehr oder minder ausgeprägt auch als ›Scout‹ arbeiten [...] Am stärksten ausgeprägt ist diese Rolle der Übersetzer jedoch bei den sogenannten ›kleinen‹ Sprachen – also im Grunde allen außer Englisch und Französisch [...] Hier ist die Rolle des Übersetzers bzw. der Übersetzerin als Mittler, als ›Agent‹ der Literatur des Landes, aus dessen Sprache sie übersetzt, sehr viel größer [...].« (Scheffel 2013: 64)

1

So zum Beispiel die deutsche Übersetzung von Henryk Sienkiewiczs Ogniem i mieczem als Mit Feuer und Schwert 2004 im area verlag Erftstadt; diese Übersetzung gibt erstens keinen Übersetzernamen an und ist zweitens gekürzt, ohne dass die Kürzungen markiert oder auch nur thematisiert sind.

S ICHTBARE Ü BERSETZER | 21

Im Folgenden wird es mir um jene Übersetzerinnen und Übersetzer gehen, die als Mittler_innen und Agent_innen im kulturellen Austausch zwischen (mindestens) zwei Ländern unterwegs sind, um jene aus »›kleinen‹ Sprachen«. Wenn Venuti vom unsichtbaren Übersetzer spricht, dann geht er von einem Markt aus, der die Illusion einer Einheitlichkeit der Kulturen nährt und eine englischsprachige, gut verkaufbare Weltliteratur produziert, von einem Markt, der den Fokus von der Ebene des Signifikanten (dem ästhetischen Wert) auf die Ebene des Signifikats (die Aussage) verlagert. Die Übersetzer als Kulturvermittler allerdings agieren nicht mehr im Verborgenen, sie sind nicht unsichtbar – ganz im Gegenteil, sie nehmen eine wichtige Rolle im Kulturtransfer ein. Ich werde beispielhaft zwei erfolgreiche kulturelle Mittlerpersönlichkeiten vorstellen, die ihre sich als Übersetzer bzw. Übersetzerin in ihren autobiographischen Schriften und in ihren Kommentaren zur Übersetzungstätigkeit vorstellen: Karl Dedecius, Übersetzer aus dem Polnischen, und Ilma Rakusa, Übersetzerin aus dem Russischen, Französischen, Ungarischen und Serbokroatischen. Beide haben einen transkulturellen Hintergrund; Karl Dedecius kommt aus einer multiethnischen, vielsprachigen Stadt, während Ilma Rakusa in einer transkulturellen Familie und in mehreren europäischen Ländern aufgewachsen ist. Während Dedecius Bedeutung erlangt hat als Vermittler zwischen zwei Kulturen zu einer Zeit, als die diplomatischen Beziehungen zwischen diesen eingefroren waren, ist Rakusa eher eine Art kulturelle und sprachliche Nomadin, für die die Grenzund Kulturüberschreitung mit transkulturellem Gepäck alltäglich ist. Übersetzer und Übersetzerinnen haben oft transkulturelle Erfahrungen in ihrer Biographie, die sich nicht unbedingt aus der Familie oder aus dem Wohnort ergeben müssen; ihr Umgang mit fremden Kulturen kann auch in Studien-, Arbeits- oder Forschungsaufenthalten erworben sein. Sie alle bringen ein zusätzliches kulturelles Kapital ein; dazu gehören »unter anderem die von ihnen beherrschten Sprachen, die zeit- und ereignisbezogenen transkulturellen Erfahrungen und Wissensbestände, aber auch ihre professionellen Fähigkeiten als Übersetzer und ihre Schreiberfahrung als Autoren« (Dathe 2015: 1f.).

In einem Jahrhundert, in dem Imperien zerfallen, Kriege geführt und Nationalstaaten in immer wieder neuen Konstellationen gebildet wurden, in dem Staaten als ethnisch homogene Konstrukte künstlich erzeugt wurden und

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man reale kulturelle Vermischungen ignoriert oder bekämpft hat, ist derjenige, der sprachliche und kulturelle Grenzen überwinden kann, von enormer Bedeutung. Im 20. und 21. Jahrhundert lassen sich mit der Auflösung der Vielvölkerstaaten und der Formierung ethnisch und kulturell homogener Nationalstaaten auf der einen Seite und mit der stetigen Migration und der daraus folgenden Globalisierung auf der anderen Seite zwei gegenläufige Tendenzen beobachten, die beide kulturelle Vermittler benötigen. Sowohl die Bildung neuer Nationalstaaten mit sprachlicher Differenzierung, die einer Nationalsprache einen hohen symbolischen Stellenwert zuweisen, als auch die durch Globalisierung bedingte postnationale Hybridisierung von Kulturen erfordern Vermittler, die sprachlich und kulturell zwischen und quer zu den Nationalkulturen stehen. Übersetzen erscheint damit als Verhandlung und Vermittlung,2 und die Übersetzer_innen bzw. kulturellen Vermittler_innen sind diejenigen, die einen third space schaffen, in dem diese Verhandlung stattfinden kann. Übersetzer_innen mögen, das ist meine Ausgangsthese, als Vermittler_innen ›großer‹ Literaturen (also der deutschen, englischen oder französischen) auf dem Literaturmarkt unsichtbar sein, wie Venuti in seiner historisch angelegten Studie zeigt; in den transkulturellen Verhandlungen, die nicht nur große, sondern auch kleine Kulturen umfassen, dagegen spielen sie als Vermittler zwischen den Kulturen aufgrund ihrer Kenntnisse mindestens zweier Sprachen und Kulturen eine wesentliche Rolle in der Kommunikation, mithilfe derer sowohl Imperien als auch Nationalstaaten funktionieren. Dabei kommt den Übersetzern und Übersetzerinnen von Literatur nicht nur eine kulturelle, sondern auch vor allem politische Funktion zu, denn ästhetische Felder sind Schauplätze der Kommunikation, des Aushandelns von Konflikten und Differenzen und Orte, an denen das Eigene und das Fremde zur Schau gestellt und reflektiert wird. Und gerade, wenn es um Sprachen und Kulturen geht, die auf dem globalen Markt weniger einflussreich und

2

Doris Bachmann-Medick betont die Bedeutung der Übersetzung auch innerhalb von Kulturen und erweitert damit den Übersetzungsbegriff: Kulturen, so ihr Argument, enthalten immer auch Gegenkulturen, »kulturinterne Gegendiskurse, bis hin zu Diskursformen von Widerstandshandlungen« (Bachmann-Medick 2006: 249). Damit werden, wie sie sagt, »Differenzbildungsprozesse« (ebd., S. 250) freigelegt, und Kultur erscheint so eher als »Handlungsraum von Übersetzungsprozessen [...] statt als bloßer Vermischungsraum« (ebd.).

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präsent sind, haben Übersetzerinnen und Übersetzer aufgrund ihres Spezialwissen, ja fast Arkanwissens, eine nicht zu unterschätzende Macht. Im Fall der Ukraine-Krise war im Jahr 2014 zu beobachten, dass – aufgrund der mangelnden Ukraine-Expertise im deutschen Sprachraum – Übersetzer_innen und Schriftsteller_innen eine Deutungsrolle für politische und gesellschaftliche Entwicklungen zugewiesen wurde; so avancierten mit Jurij Andruchowytsch und Serhij Zhadan zwei ukrainische Autoren zum Sprachrohr ihres Landes, und die wenigen deutschsprachigen Übersetzer_innen aus dem Ukrainischen wurden immer wieder von den Medien zur Lage des Landes befragt.3 Um die Sichtbarkeit des Übersetzers anhand zweier Fallbeispiele vorzuführen, werde ich zunächst eine historische Schleife ziehen und auf die Rolle des Übersetzers sowohl im imperialen als auch im nationalstaatlichen Kontext eingehen. Auf diese Weise wird deutlich werden, dass die Sichtbarkeit des Übersetzers keineswegs an die postmoderne globale Zirkulation von Waren und Symbolen geknüpft ist; vielmehr ist der Übersetzer als Garant für Kommunikation immer schon von zentraler kultureller und damit auch gesellschaftlicher und politischer Bedeutung. In einem zweiten Schritt werde ich allgemein auf die Figur des Kulturvermittlers eingehen, speziell auch auf jenen mit transkultureller Biographie, um schließlich zu den Fallbeispielen zu kommen. Dabei wird sich zeigen, erstens, dass Übersetzer_innen schon immer eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben, und dass sie, zweitens, gerade durch ihre Vermittlerfunktion, die oft auch ethische und politische Implikationen hat, nicht nur sichtbar, sondern auch auf der kulturpolitischen Bühne einflussreich sind. Beide Fallbeispiele, Karl Dedecius und Ilma Rakusa, werden daraufhin befragt werden, welche Folgen ihre transkulturelle Biographie – im Vergleich zu einer national verankerten – für ihre Übersetzungs- und Vermittlungstätigkeit hat.

3

Daraus hervorgegangen ist zum Beispiel der von Claudia Dathe und Andreas Rostek herausgegebene Band »Majdan! Ukraine, Europa« (Dathe/Rostek 2014).

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D ER SICHTBARE Ü BERSETZER IN P ERSPEKTIVE

HISTORISCHER

In seinem Buch The Translator’s Invisibility macht Lawrence Venuti einen Parcours durch die angloamerikanische Übersetzungsgeschichte, um zu zeigen, dass das Diktat der »Flüssigkeit« (»fluency«) seit der frühen Neuzeit die Beurteilung von Übersetzungen durchzieht: Venuti beginnt mit Sir John Denhams Übersetzung der Aeneis im Jahr 1666, die einer »aristocratic literary culture« im England des 17. Jahrhunderts geschuldet war (Venuti 2002: 39) und einer »domesticating translation culture« (Venuti 2002: 43) folgte. Diese wiederum hatte einen durchaus politischen Zweck, nämlich die englische Monarchie zu stärken, indem die englischen Könige in einer trojanischen Genealogie verankert wurden (ebd.). Mit seiner »flüssigen« Übersetzung erzeugte Denham den Eindruck, dass Vergil im Original Englisch geschrieben hat (Venuti 2002: 49). Alternativen zur domestizierenden Übersetzungspraxis sieht Venuti in der deutschen Übersetzungstheorie (Schleiermacher) und in der britischen und amerikanischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Dichter die Poetik der Verständlichkeit durch heterogene Diskurse störten – doch habe sich diese Praxis der Verfremdung in der Übersetzung (»foreignizing«) nicht durchsetzen können: »[T]he innovations that distinguish modernist translation practices continue to be marginal, seldom actually implemented in an English-language translation, seldom recommended in theoretical statements by translators or other commentators, seldom even given a coherent and incisive formulation by modernist translators themselves.« (Venuti 2002: 164)

Schleiermachers These, dass Übersetzungen die heimische Kultur bereichern können,4 ist, wie Venuti zeigt, eng verbunden mit der Idee der (deutschen) Nation und mit einer Kulturpolitik, die auf die literarische und kulturelle Bildung des Volkes und die Formierung einer liberalen Öffentlichkeit abzielte (Venuti 2002: 83-98).

4

Schleiermacher vergleicht die Übersetzung mit dem »Hineinverpflanzen fremder Gewächse«, durch die »unser Boden selbst reicher und fruchtbarer geworden ist, und unser Klima anmuthiger und milder« (Schleiermacher 2008: 234).

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An dieser Verbindung zwischen Sprache, Übersetzung und Nation möchte ich ansetzen. Welche Rolle spielten die Übersetzer in imperialen Großreichen und wie hat diese sich im Zuge der Nationenbildung verändert? Denn während Imperien sich durch ihre Heterogenität auszeichnen, zielen neu entstandene Nationalstaaten häufig auf Homogenität ab und versuchen Differenzen auszuschalten. Um diese verschiedenen staatlichen Formierungen und ihre Besonderheiten hinsichtlich des Kulturtransfers zu verstehen, ist ein schneller Blick ins 19. Jahrhundert nötig: »Imperien und Nationalstaaten waren im 19. Jahrhundert die größten politischen Ordnungseinheiten menschlichen Zusammenlebens«, schreibt Jürgen Osterhammel (2010: 565). »Fast alle Menschen lebten unter einer imperialen oder einer nationalstaatlichen Autorität. Eine Weltregierung und supranationale Ordnungsinstanzen gab es noch nicht.« Zugleich war das 19. Jahrhundert »die Geburtsepoche der internationalen Beziehungen« (Osterhammel 2010: 566). Innerhalb dieser Bewegungen kam es einerseits zu nationalen Bestrebungen kleinerer Volksgruppen, die mehr Selbstbestimmung anstrebten (Osterhammel 2010: 572), andererseits entstand ein »ideologischer Hypernationalismus« (Osterhammel 2010: 573). Die Nationalstaaten,5 die im Zuge des Niedergangs der Imperien sowie durch die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert entstanden, nahmen sich als ›natürliche‹ Kollektive wahr – im Gegensatz zu ›künstlichen‹ Imperien –, die durch eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Geschichte zusammen gehalten werden (Osterhammel 2010: 582). Dabei ignorieren die politischen Eliten der Nationalstaaten häufig die Tatsache, dass diese Staaten eigentlich multinationale Konstruktionen sind:

5

Ich vereinfache hier etwas mit Blick auf mein eigentliches Thema; Osterhammel differenziert, erstens, zwischen verschiedenen Entstehungsformen des Nationalstaats und damit auch zwischen den Nationalstaaten; er unterscheidet Nationalstaaten, die im 19. Jahrhundert durch »revolutionäre Verselbständigung von Kolonien« entstanden sind, »durch hegemoniale Vereinigung« und durch »evolutionäre Autonomisierung«, was drei unterschiedlichen Formen von Nationalismus entspricht: anti-kolonialem Nationalismus, Vereinigungsnationalismus und separatistischem Nationalismus (Osterhammel 2010: 586). Zweitens sieht er den eigentlichen »Schub nationalstaatlicher Emanzipation« erst nach dem Ende des 1. Weltkriegs und nicht im 19. Jahrhundert (ebd.).

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»Die Polyethnizität aller Imperien hat sich in die Nationalstaaten hinübergerettet, gerade auch durch die jungen des 19. Jahrhunderts, auch wenn diese das stets hinter homogenisierenden Diskursen zu verbergen versuchen.« (Osterhammel 2010: 583)

Während Imperien ihre Heterogenität ausstellen und nur auf der Ebene einer imperialen Elite Vereinheitlichung anstreben, basiert der Nationalstaat auf dem Diskurs der Homogenität (Osterhammel 2010: 608). Diese verkürzte Darstellung der Imperien und Nationalstaaten macht noch einmal deutlich, dass die globale Gemeinschaft kein Produkt des (späten) 20. Jahrhunderts ist, sondern im imperialen Vielvölkerverbund und auch im Nationalstaat bereits angelegt ist. Übersetzung ist damit nicht nur zwischen den Nationen und Kulturen notwendig, sondern bereits innerhalb derselben. Doris Bachmann-Medick begründet darauf ihren erweiterten Übersetzungsbegriff, der für sie nicht nur eine Metapher, sondern eine »soziale und kulturelle Praxis« (Bachmann-Medick 2006: 251) ist: »Eine bloß metaphorische Bedeutung hat es also nicht, wenn Kultur als Übersetzung verstanden wird. Denn im Gegenzug zu Vereinheitlichungstendenzen, zu Identitätsbehauptungen und essentialistischen Festschreibungen lassen sich mit der Übersetzungsperspektive konkrete Differenzstrukturen freilegen: heterogene Diskursräume innerhalb einer Gesellschaft, kulturinterne Gegendiskurse, bis hin zu Diskursformen von Widerstandshandlungen. Kulturanthropologie und Postkolonialismus haben schließlich die Aufmerksamkeit nicht nur auf Differenzen und Übersetzungen zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb von Kulturen und quer zu kulturellen Grenzziehungen gelenkt.« (Bachmann-Medick 2006: 249-250)

Praktisch sah es im 19. und frühen 20. Jahrhundert so aus, dass die Nationalstaaten, die ja die gemeinsame Sprache als eines ihrer Fundamente ansah, diese Nationalsprache erst schaffen und propagieren mussten (Osterhammel 2010: 1116). Was benötigt wurde, waren Menschen, die in der Lage waren, zwischen den Sprachen zu vermitteln. Doch zurück zur Übersetzungstheorie: Eine Aufwertung des Übersetzens (und damit auch des Übersetzers) ist mit dem cultural turn eingetreten: Susan Bassnett argumentiert in ihrem Aufsatz Reflections on Comparative Literature (Bassnett 2006) – der eine Antwort auf Gayatri Spivaks These vom Tod der Komparatistik (Spivak 2003) ist –, dass Übersetzungen als »a force for literary renewal and innovation« agieren können:

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»whereas once translation was regarded as a marginal area within comparative literature, now it is acknowledged that translation has played a vital role in literary history and that great periods of literary innovation tend to be preceded by periods of intense translation activity.« (Bassnett 2006: 8)

Wenn Übersetzungen, wie Venuti behauptet, zwischen einer Micro- und Macroebene verhandeln (Venuti 2002a: 482),6 wenn Literatur ein ästhetisches Spielfeld ist, auf dem gesellschaftliche Konflikte und Probleme ausagiert werden, dann geht die Aufgabe des Übersetzers über das Vermitteln zwischen Sprachen und sogar Kulturen hinaus und ist eminent politisch. Jean Delisle und Judith Woodsworth sprechen von der universalen Aufgabe des Übersetzers, u.a. im Zusammenhang mit der Erfindung des Alphabets, der Entwicklung der Nationalsprachen, des Aufkommens von Nationalliteraturen und, nicht zuletzt, mit der Verbreitung kultureller Werte (»transmission of cultural values«) und »the Making of History« (Delisle/Woodsworth 1995).

K ULTURVERMITTLER Nachdem Roland Barthes in den 1960er Jahren den ›Tod des Autors‹ verkündet hat, lässt sich seit der Jahrtausendwende eine Rückkehr dieses Autors beobachten; das gilt für literarische Texte, die starke Autorfiguren ins Zentrum stellen und die Ereignisse häufig aus der Ich-Perspektive des Erzählers, d.h. die Perspektive ist (nach Genette) homodiegetisch und intern fokalisiert (Genette 1998: 241-249). Das gilt aber auch für die (Auto-)Biographieforschung: »Mit der Rückkehr des Künstlers in das Feld der Kunstbetrachtung ist auch eine Rückkehr der biographischen Reflexion verbunden«, schreiben Anja Tippner und Christopher Laferl (2014: 7). Allerdings sind es KünstlerPersönlichkeiten, die eine exponierte Stellung einnehmen und deren Biogra-

6

Ähnlich schreibt Albrecht Neubert (2007: 53): »the micro level of translation which resides in the rendering of individual texts is inextricably bound up with what happens on the macro level where the translational scenarios take place between discoursive systems such as national literatures or any other large-scale textual domains or genres separated by different languages.«

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phie per se als beschreibungswürdig erscheint. Kulturvermittler dagegen erscheinen aus der Perspektive einer Genieästhetik eher wenig »biographiewürdig« (Keller 2013: 129). Ein methodischer Ausgangstext für die Erforschung der Vermittlerfiguren mit Hinsicht auf ihre transkulturellen Biographien ist Thomas Kellers Transkulturelle Biographik und Kulturgeschichte (2013). Wenngleich er sich konkret mit deutsch-französischen Akteuren befasst, so entwickelt er zunächst ein theoretisches Modell: Das Genre Biographie, so der Ausgangspunkt, ist »gattungsgeschichtlich deutlich mit ausgezeichneten Kulturen der Antike und mit der Entstehung von Nationalstaaten und -kulturen verbunden« (Keller 2013: 121). Die Biographie hatte eine »nationalideologische Funktion« (ebd.). Grenzüberschreitende, bi- und plurikulturelle Lebensläufe jedoch laufen dieser teleologischen, national fundierten Lebensbeschreibung zuwider und fallen damit häufig aus dem Kanon heraus; auch sie erscheinen – aus nationaler Perspektive – als nicht »biographiewürdig«. Kulturelle Mittlerfiguren zeichnen sich durch einen »nicht-monologischen Lebensimpuls« aus; sie haben Biographien, »die Mehrfachzugehörigkeiten, Mittlerfunktionen, Abweichungen, Grenzgängertum, Brüche und Doppelgängertum herausarbeiten, sich quer stellen zur geläufigen Vorstellung personaler biographischer Kohärenz« (ebd., S. 125). Aufgrund der Migration von herausragenden Persönlichkeiten sind transkulturelle Biographien spätestens im 20. Jahrhundert keine Ausnahme mehr; dabei zeigt sich, dass diese Persönlichkeiten keineswegs »Pendler zwischen den Kulturen« sind (ebd., S. 130), sondern, ganz im Gegenteil: Sie machen die Brüchigkeit und Durchlässigkeit zwischen den Kulturen sichtbar. Vermittlerfiguren öffnen geschlossenes Wissen, laden es fremdkulturell auf. Hier könnte man noch einen Schritt weiter gehen: Sie decken die kulturelle Hybridität, die auch in scheinbar geschlossenen Nationalkulturen immer schon da ist, auf. Ausgehend von diesen verschiedenen Faktoren, die kulturelle Mittlerfiguren auszeichnen, sollen in Bezug auf zwei konkrete Biographien folgende Fragen gestellt werden: erstens, wie sieht die kulturelle Transgression genau aus? Wie bringen die Mittler scheinbar klare kulturelle Grenzen in Unordnung, welches Gepäck tragen sie mit sich und wie bringen sie die Texte und die Kontexte über die (scheinbar geschlossenen) nationalen Grenzen? Wie öffnen sie die Kulturen, wie legen sie ihre transkulturellen Grundlagen frei? Zweitens, wie geraten die Kulturvermittler ins Rampenlicht? Sowohl Karl Dedecius als auch Ilma Rakusa sind bekannte Übersetzer_innen, aber beide

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sind zudem prominente Akteure im literarischen Feld, in das sie kulturelles, soziales und symbolisches Kapital einbringen – ihr kulturelles Kapital sind ihre Vielsprachigkeit und ihre transkulturellen Erfahrungen, aber auch ihre Übersetzungen und ihr eigenes Schreiben; ihr soziales Kapital ist ihre Einbindung in den Literaturmarkt; ihr symbolisches Kapital bilden zum Beispiel ihre Reputation, ihre Preise und Auszeichnungen.7 Damit werden sie sichtbar und erwerben sich das Recht, selbst nicht nur eine transkulturelle, sondern zudem eine außergewöhnliche, aufschreibenswürdige Biographie zu besitzen. Eine dritte Frage wäre die nach der Reflexion über ihre Vermittlerfunktion, denn Dedecius und Rakusa schreiben (unter anderem) ihr eigenes Leben auf, sie werden nicht aufgeschrieben, d.h. sie schreiben autobiographische Texte, in denen sie sich selber als »Europäer« (Dedecius) oder als vielsprachige Nomaden (Rakusa) setzen8. Dabei wird dem Akt der Vermittlung ein großer Raum gegeben. In ihren Autobiographien folgen sowohl Dedecius als auch Rakusa – das soll noch voraus geschickt werden – den Topoi des europäischen Bildungsromans: Im Zentrum steht ein Leben, das die Spannung zwischen Individualität und sozialem Umfeld9 nicht dadurch löst, dass es die Ansprüche der Gesellschaft erfüllt, sondern die gelungene Individuation beruht auf der Beweglichkeit zwischen verschiedenen Gesellschaften bzw. Kulturen. Sie übererfüllen das Ziel einer erfolgreichen Ich-Bildung, indem sie die von Thomas Keller genannten »Mehrfachzugehörigkeiten, Mittlerfunktionen, Abweichungen, Grenzgängertum, Brüche und Doppelgängertum« realisieren anstatt zu einem Individuum in einer Gesellschaft zu reifen. Der bürgerliche Bildungsroman wird in einen transkulturellen umgewandelt, der einige typische Topoi aufweist: ein multikulturelles Umfeld (sei es in der Stadt, wie

7

Zum literarischen Feld und den verschiedenen Formen des ›Kapitals‹ s. Bourdieu (1999), der das literarische Feld in Frankreich im 19. Jahrhundert untersucht; zu Übersetzer_innen bzw. Kulturvermittler_innen in diesem Kontext s. Dathe (2015).

8

Während der Titel von Dedecius‘ Autobiographie auf das Selbstverständnis des Europäers anspielt (der Titel lautet »Ein Europäer aus Lodz«), ist das Nomadentum, das m.E. für Rakusa gilt, eine Zuschreibung meinerseits.

9

So Franco Moretti über den Plot des Bildungsromans, der die Spannung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in seinem Protagonisten verkörpert und die gelungene Integration dieses Protagonisten vorführt (Moretti 1987: 15-16).

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bei Dedecius, sei es in der Familie, wie bei Rakusa), der Held bzw. die Heldin erlebt »Lehr- und Wanderjahre« (Dedecius 2006: 41), sei es durch Krieg und Nachkriegsmobilität, wie bei Dedecius, sei es durch Migration und Studium, wie bei Rakusa. Dazu kommt die Mehrsprachigkeit, gepaart mit einer außergewöhnlichen Sprachbegabung. In den Autobiographien finden sich aber auch Topoi aus dem bürgerlichen Bildungsroman, so eine idyllische Kindheit, ein früher Kontakt mit Kunst, eine musikalische Begabung 10 sowie das Bewusstsein, ein außergewöhnlicher Mensch, ein Außenseiter zu sein – anders, begabter als die andern.11 Die Bildung, die erworben wird – in Form von Musik, von Fremdsprachen oder Literatur – wird allerdings, anders als im klassischen Bildungsroman, nicht nur zur Ausbildung des eigenen Ich genutzt, um den ganzen Menschen im Zusammenspiel zwischen Welt und Ich zu bilden,12 sondern die Bildung wird (transkulturell) funktionalisiert. In seinem Vorwort zu einer von ihm zusammengestellten und übersetzen Anthologie polnischer Lyrik (Leuchtende Gräber), die erstmals neue polnische Dichtung für ein deutsches Publikum lesbar machte, schreibt Karl Dedecius 1958: »Wer wäre so weltfremd, nur hinter geschlossenen Fensterläden zu leben [...] ohne den Wunsch, das Gesicht des Nachbarn zu erkennen, das in der Glasscheibe gegenüber erscheint und ebensolche Sorgenfalten trägt, wenn’s auf die Straße blickt, die unten fertig daliegt? Die Straße, die wir gehen, ist uns gemeinsam: Verantwortung.

10 Bei Dedecius: »Die erste Entdeckung meiner Kindheit waren die Töne, die Laute, die Musik, die meine Natur formten. Diese Präferenz blieb.« (Dedecius 2006: 38) Bei Rakusa: »Was heißt musikalisch? Mein Ohr war wach [...] Hören, hören, hören. Und akustisch nachahmen. Behandelte ich nicht auch die Worte wie Musik?« (Rakusa 2013: 114) 11 Bei Dedecius: »Außenseiter, wenn ich mich recht erinnere, war ich schon als Kind.« (Dedecius 2006: 33) Bei Rakusa: »Ein Gefühl der Differenz hat alle meine Schreibversuche diktiert, als lebte ich in einem no man's land, mit Verlass nur auf die Sprache.« (http://www.ilmarakusa.info/Uber_mich.pdf; Zugriff 25.9.2015) 12 So sieht es Wilhelm von Humboldt: Der »Austausch zwischen Mensch und Welt« bringt die Ganzheit der Fähigkeiten und Kräfte hervor, wobei die Welt der Kunst die ideale Welt ist, der der Mensch sich zu nähern versucht. S. dazu Franke (2000: 717).

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Wie kann uns, was hüben und drüben die Blicke bewegt, nicht brüderlich berühren?« (zit. in Dedecius 2006: 199)

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges formuliert Dedecius hier sein kulturpolitisches Programm für Deutschland und für Polen: die Nachbarn zu Brüdern machen, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und sich überhaupt erst einmal als Nachbarn zu erkennen. Fallbeispiel 1: Karl Dedecius Karl Dedecius’ Autobiographie trägt, wie bereits erwähnt, den Titel Ein Europäer aus Lodz; dieser Titel buchstabiert die kulturelle Hybridität gleich mehrfach aus: Da ist zum einen der Europäer, der Lodz, bis 1989 noch Teil des sogenannten ›Ostblocks‹, zurück nach Europa holt. Dabei streicht Dedecius die Zeit zwischen dem deutschen Lodz und dem polnischen Łódź aus, indem er den deutschen Namen nennt, denn den Hintergrund für seine Lebensbeschreibung ist Polens »Heimweh nach Europa« (Dedecius 2006: 55) – womit Dedecius an einen Topos anknüpft, der in der Mitteleuropa-Debatte mehrfach aufgekommen ist, prominent in Milan Kunderas 1986 auf Französisch erschienen Artikel Die Tragödie Zentraleuropas (Un occident kidnappé ou La tragédie de l’Europe Centrale), in dem Kundera den Westen aufruft, Zentraleuropa nicht zu vergessen, denn dieses gehöre zwar politisch zum Osten, kulturell aber zum Westen.13 Wenn Polen zu Europa gehört, dann sind Deutschland und Polen natürlich, wie Dedecius 1958 schreibt, »Brüder« und »Nachbarn«. Vor Willy Brandts symbolisch hoch aufgeladenem Kniefall am Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos im Dezember 1970 jedoch gab es keine politischen Kontakte zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik und das Interesse der Deutschen für polnische Literatur war gering, 14 so dass den inoffiziellen Kontakten im Kulturbereich eine enorme politische Bedeutung

13 »Hinsichtlich seines politischen Systems gehört Zentraleuropa zum Osten; mit Blick auf seine kulturelle Vergangenheit ist es Teil der westlichen Welt«, schreibt Kundera (1984: 52). 14 Chojnowski nennt als Gründe für dieses Desinteresse eine »problematische Nachbarschaft«, zudem galt die polnische Literatur als schwierig, zu durchsetzt mit

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zukam. »Übersetzungen halfen dabei, die Sprachlosigkeit zwischen Deutschen und Polen zu durchbrechen.« (Chojnowski 2005: 26-27) Vor diesem Hintergrund sah Dedecius sich bereits mit seinen ersten Übersetzungen aus dem Polnischen als Mittler mit einer politischen Aufgabe und Vision. 1921 geboren, ist er im vielsprachigen und multikulturellen Łódź15 aufgewachsen, einer Stadt, die für seinen Vater, dessen Familie aus Böhmen und Mähren kam, und seine Mutter, die einer schwäbischen Siedlerfamilie entstammte, sowohl Zielort des Exodus als auch »gelobtes Land« war (Dedecius 2006: 12). Dedecius besuchte ein polnisches humanistisches Gymnasium, weil die polnischen Schulen billiger waren als die deutschen (ebd., S. 41); in seiner Klasse gab es »Polen, Deutsche, Juden, Franzosen, auch einen Russen« (ebd., S. 44). Nach dem Abitur kam der Krieg, und damit der Kriegsdienst, Stalingrad, russische Gefangenschaft. 1949 wurde Dedecius aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, arbeitete zunächst in Weimar am Theater, bis er 1952 mit seiner Familie nach Westdeutschland floh. Seit 1958 arbeitete er in Frankfurt bei der Allianz Versicherung. So der kurze Abriss eines Lebenslaufes, der zwangsläufig – durch die Geburtsstadt und durch die historischen Ereignisse – transkulturell war. Angekommen an einem sicheren Ort mit einem sicheren Einkommen, wurde Dedecius bald zu einem prominenten Akteur im literarischen Feld der Nachkriegs-Bundesrepublik, da er ein nicht zu unterschätzendes kulturelles und soziales Kapital mitbrachte: seine Mehrsprachigkeit, seine Kenntnisse der polnischen Sprache, Kultur und Literatur sowie seine Kontakte zur polnischen Literaturszene, die er allmählich auf- und ausbaute. Wenn Thomas Keller schreibt, dass Personen mit einem transkulturellen Lebenslauf ein »Zweitleben« und einen »imaginierten Lebenslauf« haben unter dem Vorzeichen des »was wäre, wenn nicht ...« (Keller 2013: 138), dann ist bei Kulturvermittlern wie Dedecius zu beobachten, dass das Mögliche, der imaginierte Lebenslauf, produktiv genutzt wird: Indem Dedecius Kontakte nach

historischen Anspielungen und daher als uninteressant für den deutschen Literaturmarkt (Chojnowski 2005: 27). 15 »Lodz war ein eigenartiger Ort [...] Die Bevölkerung war von Anfang an gemischt; die meisten Einwohner kamen aus verschiedenen Ländern, Verhältnissen, Glaubensrichtungen, Sprachen und Berufen. Das forderte besonderen Ehrgeiz und Fleiß heraus, generierte die Fähigkeit zum Zusammenleben, zur Toleranz, aber auch zum Konkurrenzkamp der Profiteure.« (Dedecius 2006: 12)

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Polen aufnahm, holte er ein Stück seines nicht gelebten polnischen Lebens nach Frankfurt. Und sah er sich einerseits als Vermittler zwischen zwei Kulturen in einer politisch ungemütlichen Zeit, so begriff er seine Aufgabe auch darin, die Toten – genauer: junge polnische Dichter, die im Krieg gefallen waren – durch ihre Texte am Leben zu erhalten. Dadurch wurden sie Teil des kulturellen Gedächtnisses sowohl der Deutschen – die den Krieg begonnen hatten und dadurch die Schuld an dem Tod der Dichter trugen – als auch der Polen: »Als der zwanzigste Jahrestag des Kriegsausbruchs nahte, wollte ich, deutscher Soldat, Kriegsteilnehmer mit einem versteinerten Kanten Trockenbrot im Brotbeutel, meiner gefallenen Altersgenossen auf der anderen Seite des Schützengrabens gedenken […] Ich hatte das Bedürfnis, den Gefallenen einen Kranz aufs Grab zu legen.« (Dedecius 2005: 201)

Das Ergebnis war der Gedichtband Leuchtende Gräber. In einem Vortrag zum Thema ›Übersetzen und Gesellschaft‹ führt Dedecius die Verbindung zwischen Übersetzen, Tod und Erinnern weiter aus und verknüpft diese mit einem ethischen und politischen Credo: »Die Übersetzung will am Leben erhalten: vor allem die dem Tode besonders ausgesetzten Werte: Empfindungen und Wahrheiten. Solche, die uns unbekannt geblieben sind, die uns fremd geworden sind oder die uns unterschlagen werden. Wer Kunst überträgt, wirkt gegen den Tod und für das Leben, also für die Gesellschaft, für ihren uralten Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einer Sprache ohne Falsch und Heuchelei.« (Dedecius 1986: 52)

Die Sichtbarkeit des Übersetzers ist im Falle von Karl Dedecius nicht (nur) ästhetisch begründet, sondern auch ethisch und politisch – Übersetzung kann Leben retten, indem sie die toten Dichter erinnert, indem jedes einzelne, auch abgenutzte Wort wieder zum Leben erweckt wird: Sprache, die »durch den Gebrauch in Jahrhunderten verschlissen, verdreht, schematisch, schemenhaft geworden« ist (Dedecius 1986, 35-36), wird dadurch, dass der Übersetzer über sie nachdenkt und sie deutet, wieder zum Leben erweckt (Dedecius 1986: 39). Dedecius’ Grenzgänge waren, um es zusammenzufassen, am Anfang ganz konkrete Bewegungen über eine Grenze, die unüberbrückbar schien:

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in Briefen, persönlichen Kontakten und Reisen überwand er sie und trug die Literatur und Kultur Polens dabei im Gepäck. Dabei war es zunächst ein einseitiger Kulturtransfer, denn durch die polnische Kultur sollte der Dialog zwischen Deutschland und Polen in Gang gesetzt werden. In diesem Prozess sammelte Dedecius ein gewaltiges symbolisches Kapital an: Er verkehrte mit den wichtigsten und prestigereichsten Dichterinnen und Dichtern, die er übersetzte (u.a. mit Wisława Szymborska, Czesław Miłosz und dem Russen Joseph Brodsky, alles Nobelpreisträger und daher selbst mit Bedeutung ausgestattet), und er wurde mit Preisen, Orden und Ehrendoktortiteln ausgezeichnet. Auf seine Initiative wurden politische Institutionen eingerichtet, so die Villa Decius in Krakau und das Deutsche Polen Institut in Darmstadt. Erfolgreicher kann eine transkulturelle Biographie nicht sein, sichtbarer kann ein Übersetzer nicht werden – Karl Dedecius’ Erinnerungen eines »Europäers aus Lodz« sind als Erfolgsgeschichte konzipiert, wodurch ein brüchiger Lebenslauf mit katastrophalen Einschnitten wie Krieg und Gefangenschaft sich in das Narrativ eines modernen Helden verwandelt. Indem Dedecius sein eigentliches Leben in die Poesie verlagert, in die Texte und ihre Übersetzungen, verliert das Alltagsleben seinen Schrecken. Dedecius’ Erinnerungen führen vor, dass ein Leben zwischen den Kulturen sich lohnt – das Buch endet damit, dass Dedecius 2003 vom damaligen polnischen Präsidenten als erstem Deutschen der Orden des Weißen Adlers, die »höchste polnische Auszeichnung« (Dedecius 2006: 365), verliehen wird: »Die Reise nach Warschau glich einem Ausflug in die deutsch-polnische Geschichte, denn ich übernachtete im Warschauer Schloss Belvedere, im goldenen Himmelbett von Józef Piłsudski, der nach dem Ersten Weltkrieg als erster mit dem reaktivierten Orden des Weißen Adlers dekoriert wurde, ein Orden, den übrigens August der Starke, König von Polen, vormals Kurfürst von Sachsen, 1709 gestiftet hat.« (Dedecius 2006: 366)

Nicht nur zeigt dieser Abschluss der Erinnerungen, dass Deutschland und Polen immer schon zusammen gehörten, dass das Polnische auch deutsch und das Deutsche auch polnisch war, zudem schreibt Dedecius sich in diese deutsch-polnische Zwillingsgenealogie als letzter Erbe ein.

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Fallbeispiel 2: Ilma Rakusa Eine ganz andere, nomadisierende transkulturelle Prägung weist die Biographie von Ilma Rakusa auf, die eine Generation jünger ist als Karl Dedecius und die durch ihre Familie von Beginn an mit Mehrsprachigkeit und dem Zusammenleben verschiedener Kulturen konfrontiert war: Die Mutter war Ungarin, der Vater Slowene, geboren wurde sie 1946 in der Slowakei. In den ersten Jahren kam es zu Umzügen zunächst nach Ungarn, dann nach Slowenien, Italien und, im Alter von fünf Jahren, in die deutschsprachige Schweiz. Studiert hat Rakusa Russisch, Serbokroatisch und Französisch, mit längeren Aufenthalten in Frankreich und Russland. Mehr Mehrsprachigkeit gibt es nicht. Anders als Dedecius war der Impuls zum Übersetzen nicht ein kulturpolitisch-ethisches Anliegen der Völkerversöhnung, sondern eine quasi-natürliche mehrsprachige, multikulturelle Weltwahrnehmung, für die das Hin und Her zwischen den Sprachen und Kulturen den Kontakt in einem immer schon globalisierten Umfeld sicherte und zudem ästhetische Dimensionen beinhaltete. In Mehr Meer. Erinnerungspassagen von 2009 verknüpft sie Stationen ihrer mittel-, west- und osteuropäischen Biographie zu einem dichten Gewebe, das die verschiedenen Sprachen und Kulturen fest aneinander bindet; dabei erstreckt sich die »Nachbarschaft«, von der Dedecius in Bezug auf Deutschland und Polen spricht, auf große Teile Europas – allerdings mit einer deutlichen Neigung zum europäischen Osten: »Den Osten Europas, über den sich das Netz der Familiengeschichte breitet, habe ich kreuz und quer bereist, vor allem auf Schienen. Schrecken und Anziehung der Bahnhöfe: marietheresiengelber, schmutziggrauer, räudiger, hinfälliger Bahnhöfe, mit Säulen und ohne, mit einer stinkigen Kneipe oder einem einfachen Ausschank, mit vertrockneten Geranien und einem Stationswärterhäuschen, mit toten Gleisen in provinzieller Tristesse.« (Rakusa 2013: 21)

Und, an anderer Stelle: »Die innere Kompaßnadel zeigt nach Osten.« (Rakusa 2013: 23) Eine Biographie, die geographisch und kulturell in Mitteleuropa, das politisch bis mindestens 1989 zu Osteuropa gezählt wurde, verankert ist, strebt in den Osten, um diesen Osten in Übersetzungen, Texten und öffentlichen Auftritten in den Westen zu transportieren. Rakusa schreibt sich ein in eine Familiengenealogie und -geographie: »Ein zufälliger Geburtsort.

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Ein nicht ganz zufälliger Geburtsort, denn meine Mutter wurde hier geboren. In Rimaszombat« (Rakusa 2013: 25). Mit ihrer transkulturellen Genealogie und Biographie ist Rakusa das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari als nomadisches Subjekt bezeichnen: Verkörperung eines mythischen Bildes der Deterritorialisierung, eine wandernde Intellektuelle, die nicht migriert, sondern sich permanent bewegt und Grenzen überschreitet. In Mille plateaux unterscheiden Deleuze und Guattari den Migranten vom Nomaden: Während der Migrant reterritorialisiert wird, einen neuen Raum besetzt, entgeht der Nomade (oder hier: die Nomadin) der Reterritorialisierung (Deleuze/Guattari 1980: 473). Rakusa beschreibt diesen Nomadismus wie folgt: »Im übrigen bist du dein eigenes Haus. Unterwegs oder nicht, Obdach gewährst du dir selbst. Das wußte ich, bevor ich es wissen wollte. Die Umzüge stießen mich in eine Selbständigkeit, deren Kehrseite die Angst war. Vater, Mutter, die Koffer und ich – das war die Welt.« (Rakusa 2013: 37)16

Rosi Braidotti17 betont die kreative Energie, die nomadische Subjekte besitzen; im Falle von Irma Rakusa ist es nicht nur eine Energie der Bewegung, des Reisens zwischen den verschiedenen Kulturen, sondern zudem eine poetische Energie des Übersetzens und Schreibens. Ihre Heimat findet sie in der Sprache, über das Deutsche schreibt sie:

16 Ein von Ilma Rakusa gemeinsam mit Michael M. Thoss herausgegebenes Buch trägt den Titel Hotel Europa (erschienen 2012 im Verlag Das Wunderhorn) und versinnbildlicht Rakusas Nomadismus gleich doppelt: die Heimat ist ein Hotel, kein Haus, und es ist Europa, eine Vielzahl von Ländern, Sprachen und Kulturen. 17 Rosi Braidotti lädt den Terminus »nomadic subject« feministisch auf und erweitert ihn metaphorisch, so dass er einen Widerstand gegen die Norm bedeutet: »the nomadism in question here refers to the kind of critical consciousness that restists settling into socially coded modes of thought or behavior. Not all nomads are world travelers; some of the greatest trips can take place without physically moving from one’s habitat.« (Braidotti 2011: 7). Im Falle von Rakusa ist der Nomadismus jedoch wörtlich zu nehmen: Sie ist ein »world traveler«.

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»Nach drei Sprachen, die ich zuvor erlernt hatte, war diese vierte Fluchtpunkt und Refugium. Hier wollte ich mich niederlassen, hier baute ich mir mein Haus.« (Rakusa 2013: 107)

Rakusa, wie auch Dedecius, ist sichtbar; auf ihrer Homepage heißt es: »Ilma Rakusa übersetzt aus dem Russischen, Serbokroatischen, Ungarischen und Französischen, als Publizistin (Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit) und als Lehrbeauftragte setzt sie sich für die Vermittlung osteuropäischer Literaturen ein. Ihre Arbeit wurde mit namhaften Preisen und Stipendien ausgezeichnet.«18

Rakusa, wie auch Dedecius, ist nicht nur Übersetzerin, sondern auch Kulturvermittlerin und bewegt sich auf internationalem Parkett. Auf zwei Ebenen ist sie Agentin der Literatur- und Kulturvermittlung, denn zum einen übersetzt sie die kleinen ost-, ostmittel- und südosteuropäische Literaturen ins Deutsche, wo diese Literatur eine große Leserschaft erreicht, zum anderen schreibt sie über sie, und das sowohl in Vor- und Nachwörtern der übersetzten Werke als auch in prominenten Presseorganen, die eine große Reichweite haben. Zudem sind in ihre eigenen literarischen Werke immer wieder – wie in Mehr Meer – Reflexionen über den Osten Europas, über seine Sprachen, Kulturen und Literaturen, eingebunden. Ein Beispiel für das Erklären der fremden Kultur, die so den deutschsprachigen Leser_innen vermittelt wird, findet sich in dem Nachwort zu der von ihr selbst herausgegebenen Neuausgabe von Danilo Kišs Romanen und Erzählungen. Hier19 stellt Ilma Rakusa weniger die Übersetzung als den Autor, seine Position im literarischen Feld und ihre eigene Beziehung zu ihm ins Zentrum. Ähnlich wie Dedecius formuliert sie dabei das ethische Anliegen, den Autor vor dem Vergessen zu bewahren: »Im Gedächtnis – und im Werk – vieler südosteuropäischer Autoren lebt Kiš weiter. Breiten Leserkreisen, vor allem hierzulande, aber ist er zu wenig bekannt [...] Ein

18 http://www.ilmarakusa.info/html/leben.html [25.9.2015]. 19 Susanne Hagemann und Julia Neu bezeichnen die Paratexte der Übersetzungen, die Vor- und Nachworte, als »Übersetzungsränder«, die »deklarative Sprechakte« (Hagemann/Neu 2012: 26) sind und damit die Macht haben, eine Übersetzung zu legitimieren und als die ›richtige‹ zu deklarieren.

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Vierteljahrhundert nach Kišs Tod möchte vorliegende Ausgabe, die die wichtigsten seiner Werke teilweise in Neuübersetzung versammelt, an diesen eminenten Schriftsteller erinnern und zu seiner Lektüre einladen. Kiš zu entdecken, ist ein unschätzbares Erlebnis. Ihn vor dem Vergessen zu bewahren, unsere freudige Pflicht.« (Rakusa 2014: 907)

Die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit des Übersetzers, die Venuti behandelt, betrifft die Sprache, die der unsichtbare Übersetzer so anpasst, dass die Leserinnen und Leser nicht merken, dass sie eine Übersetzung vor sich haben. Sie betrifft aber auch den öffentlichen Auftritt im literarischen Feld, die ›übersetzerischen Ränder‹ ebenso wie Ehrungen und offizielle Funktionen im Literaturbetrieb – Ilma Rakusa zum Beispiel ist Kuratoriumsmitglied der Allianz Kulturstiftung und war Jury-Mitglied in Klagenfurt, wo der Bachmann Literaturpreis vergeben wird. Ihr symbolisches Kapital ermöglicht es ihr, den literarischen Markt entscheidend mit zu gestalten. Karl Dedecius und Ilma Rakusa sind zwei sehr sichtbare Vermittler, die sich – trotz ihrer Präsenz im literarischen Feld der ins Deutsche übertragenen Literatur – in zwei unterschiedlichen Räumen bewegen: Dedecius im strukturell-politischen Bereich, in dem die energische Persönlichkeit des Übersetzers und Kulturvermittlers Institutionen begründet und politische Effekte gezeigt hat, Rakusa in einem eher poetisch-poetologischen Raum, der den (west)europäischen Lektürekanon um eine ost- und mitteleuropäische Poetik und ihre Narrative erweitert hat.

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Übersetzen in Mitteleuropa Zur Konzeptualisierung der Übersetzungen der Autoren der Prager deutschen Literatur M ANFRED W EINBERG

Ü BERSETZEN IN MEHRSPRACHIGEN R EGIONEN – AM B EISPIEL DER B ÖHMISCHEN L ÄNDER Auch wenn dem ›Übersetzen‹, wörtlich genommen, ein räumliches Moment eignet, ist das Übersetzte doch – dem Medium der Schrift entsprechend, in dem sich zumindest das literarische Übersetzen meist niederschlägt – ›situationsentbunden‹ und damit auch nicht an spezifische Orte geknüpft. Dagegen ist die jeweilige Funktion des (literarischen) Übersetzens durchaus auf jene kulturellen Räume bezogen, in Bezug auf die es unternommen wird. Wird z.B. ein Text aus dem Kirgisischen ins Französische übersetzt, ist vorauszusetzen, dass auf diese Weise etwas der französischen Kultur grundsätzlich Fremdes in sie übertragen wird; jenseits von Reiseberichten oder eigener Erfahrung vor Ort ist die Übersetzung dabei wohl der einzige ›Kanal‹, mittels dessen Inhalte der kirgisischen Kultur zur Kenntnis von Franzosen gelangen können (weiterhin abgesehen etwa von der Ausstellung kirgisischer Kunstwerke oder Alltagsgegenständen in französischen Kunst- oder ethnographischen Museen). Einen ganz anderen kulturellen Horizont hat solches Übersetzen aber, wenn es in einem Kulturraum stattfindet, der sich durch Mehrsprachigkeit auszeichnet, wobei in diesem Fall zu differenzieren ist, wie solche Mehrsprachigkeit genau ›statt‹findet resp. -fand. Solche Räume der (oft ehemali-

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gen) Mehrsprachigkeit finden sich in besonderer Dichte in Mittelosteuropa, und die Funktion des literarischen Übersetzens in ihnen soll im Folgenden am Beispiel der Böhmischen Länder, genauerhin der Übersetzungen aus dem Tschechischen, die Vertreter der Prager deutschen Literatur anfertigten, diskutiert werden. Die Böhmischen Länder waren seit dem Mittelalter von einer deutschtschechischen Zweisprachigkeit geprägt. Für die Zeit vor dem 18. Jahrhundert gilt allerdings auch hier die Diagnose, dass das übernationale Latein als Sprache der Bildung fungierte und die alltägliche Kommunikation in den Volkssprachen stattfand. Das änderte sich im 18. Jahrhundert und führte in der gesamten k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn u.a. durch die Reformen Maria Theresias und Josefs II. zu einem Bedeutungsgewinn der deutschen Sprache. Schon ab den 1770er Jahren lässt sich dabei für die Böhmischen Länder konstatieren, dass die Verwendung der deutschen Sprache einen Prestigegewinn brachte. Wer der ›höheren‹ und einflussreichen Gesellschaftsschicht angehörte (oder angehören wollte), musste Deutsch sprechen (können). Dies indiziert auf der anderen Seite, dass Tschechisch zu dieser Zeit eine Sprache mit deutlich geringerem Sozialprestige war oder eben die Sprache der ›niederen‹ Gesellschaftsschichten. Insgesamt hatte das auch damit zu tun, dass sich die höhere Schulbildung auf Deutsch vollzog und ein Unterricht auf Tschechisch nur langsam institutionalisiert wurde. Parallel fanden sich Bestrebungen zu einer Aufwertung des Tschechischen vor allem in Form von Sprach-Kodifizierungen sowie literarisch-kulturellen Bemühungen, denen auch ein politische Dimension eignete: der Aufbau einer modernen tschechischen Gesellschaft und Nation. Es entwickelte sich in der tschechischen Erneuerungsbewegung (»české národní obrození«) ein zum Teil forcierter Nationalismus, der sich unter anderem in einer möglichst selbstbewussten (literarischen) Verwendung des Tschechischen niederschlug. Diese Entwicklung zeigt sich auch bei später kanonisierten Autor_innen der tschechischen Literatur wie František Ladislav Čelakovský, Karel Havlíček, Karel Hynek Mácha, Božena Němcová und Magdaléna Dobromila Rettigová daran, dass sie zwar ihre ›Erstlinge‹ auf Deutsch verfassten, sich allerdings meist später zu diesen deutschen Texten nicht mehr bekannten. Ihre Hinwendung zum Tschechischen entsprach der allgemeinen Tendenz einer nationalkulturellen Identifizierung, der sich nur die zeitgenössisch sogenannten ›obojživelníci‹ (wörtlich: Amphibien) oder ›Zwitter‹ entzogen, was sie aber für beide national(istisch) gesinnten Seiten

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verdächtig machte. Daneben resp. ›darunter‹ spielte ein ›funktionaler Bilingualismus‹ im Leben der Mittelschichten weiterhin eine große Rolle; besonders bei den Juden blieb die Zweisprachigkeit noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiges Merkmal. Andererseits versuchte der ab 1883 rein tschechische Magistrat Prags die Einsprachigkeit in der Stadt durchzusetzen, scheiterte aber an der sozialen Wirklichkeit.1 Es ist wohl schon auf den ersten Blick erkennbar, wie sehr sich diese Situation von der oben imaginierten Übersetzungsszene zwischen dem Kirgisischen und Französischen unterscheidet. Jenseits der angefertigten Übersetzungen haben die von diesen beiden Sprachen geprägten Kulturen rein gar nichts miteinander zu tun. Das Deutsche und Tschechische aber haben in den Böhmischen Ländern eine gemeinsame Geschichte. Im Zuge der nationalen Erneuerung und den ›Gegenmaßnahmen‹ der Deutschen veränderte sich allerdings der Bilingualismus in den Böhmischen Ländern: An die Stelle einer personalen Zweisprachigkeit vieler trat die Tatsache, dass in diesem Kulturraum zwar zwei Sprachen gesprochen wurden, jedoch von je verschiedenen Personen und Gruppen. Man kann dies noch einmal am sogenannten Bohemismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erläutern, den Steffen Höhne ein »Integrationsmodell für die Böhmischen Länder« genannt hat, »welches die nationalen Interessen und Divergenzen zwischen Tschechen und Deutschen zugunsten eines übernationalen Landespatriotismus aufzulösen sucht und dabei von einer prinzipiellen Gleichheit im Sinne einer allgemeinen, auch sprachlichen Gleichberechtigung der Böhmen ›slawischen wie deutschen Stammes‹ ausgeht« (Höhne 2001: 625).

Einer der wichtigsten Vertreter dieses Bohemismus war der Religionsphilosoph Bernhard Bolzano, der in einer seiner Erbauungsreden die Prager Studierenden so ›anging‹:

1

Die vorstehende historische Skizze verdankt sich den Forschungen und Publikationen Václav Petrboks. Genauer habe ich mich sehr eng an der profunden Darstellung orientiert, die er für das 2016 erscheinende Handbuch Prager deutsche Literatur im regionalen Kontext (Becher et al. 2016) bereits angefertigt hat. Vgl. als schon publizierte Studien: Petrbok 2012, 2014a, b und c.

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»Weg denn mit dieser Scheidewand! Böhmen und Deutsche! ihr müsset Ein Volk ausmachen; ihr könnt nur stark sein, wenn ihr euch freundschaftlich vereiniget; als Brüder müsste ihr euch ansehen und umarmen; es lerne der Eine die Sprache des Anderen, nur um sich ihm desto gleicher zu stellen; es theile der Eine seine Begriffe und Kenntnisse brüderlich und ohne Vorenthaltung.« (Bolzano 1850: 155)

Auch wenn Bolzano es als Aufforderung formuliert, im Modell des Bohemismus war die personale Zweisprachigkeit jedes Böhmen mitgedacht. Nicht nur mit diesem Anspruch konnte er sich aber nicht durchsetzen: »Das, was der Bohemismus realpolitisch erstrebte, ist spätestens durch den Juniaufstand2 gescheitert; gleichzeitig damit hatten sich die tschechischen Nationalitätsbestrebungen zu einer politisch selbständigen Kraft kristallisiert. Der Bohemismus war einer primitiveren Dynamik unterlegen.« (Diwald 1959: 113)

Das alles ist nur die lange Vorgeschichte zu jener historischen Situation, in der die Autoren der Prager deutschen Literatur als Übersetzer hervortraten. Mit dieser Vorgeschichte ist deren Übersetzertätigkeit aber bisher viel zu selten zusammengesehen worden.

D IE AUTOREN

DER P RAGER DEUTSCHEN UND DIE TSCHECHISCHE S PRACHE

L ITERATUR

Gilles Deleuze und Félix Guattari schreiben in ihre Studie Kafka. Für eine kleine Literatur über Kafka: »Er gehörte zu den wenigen jüdischen Schriftstellern in Prag, die das Tschechische verstanden und sprachen« (Deleuze/Guattari 2012: 36). Das entspricht zwar der verbreiteten Rede vom »dreifachen Ghetto« (vgl. Eisner 1948), in dem die Autoren der Prager deutschen Literatur gelebt haben sollen (als Juden unter Christen, als Deutsche unter Tschechen und als sozial Höhergestellte unter sozial niedriger Gestellten), die es durch die Konferenzen von Liblice (s. unten) zum Grundbestand der Rede von der ›Prager deutschen Literatur‹ geschafft hat

2

Der Prager Juni- oder auch Pfingstaufstand war – als Aufbegehren tschechischer Nationalisten gegen Österreich – ein Höhepunkt der Revolution von 1848 in Böhmen.

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(vgl. zur Kritik daran: Weinberg 2012), aber nicht den historischen Gegebenheiten. Radikaler gesagt: Es ist, wie fast alles von Deleuze/Guattari über die spezifisch jüdische Lebenssituation Kafkas Gesagte, der bare Unsinn (vgl. Weinberg 2016)! Max Brod hat in seinem Buch Der Prager Kreis klargestellt: »Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft und die tschechischen Dichter liebten wir [...]. Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte« (Brod 1979: 207) – und meinte damit nicht nur den »engeren Prager Kreis« (vgl. ebd., S. 99-168) von Oskar Baum, Franz Kafka, Felix Weltsch und sich selbst, sondern auch den »weitere[n] Kreis« (ebd., S. 169-240), also fast alle auf Deutsch schreibenden Prager Autoren dieser Zeit. Man kann sich aus gutem Grund an Brods Kafka-Interpretationen stören; als Zeuge damaliger Verhältnisse kann man ihn jedoch nicht ignorieren – abgesehen davon, dass die Studien von Kateřina Čapková (2005) und Ines Koeltzsch (2012) inzwischen ein höchst präzises Bild des tatsächlichen Zusammenlebens der Tschechen und Deutschen in Prag resp. den böhmischen Ländern vor und nach der Jahrhundertwende gezeichnet haben. Für die vor diesem Hintergrund zu stellende Frage nach der Funktion der Übersetzungen aus dem Tschechischen seitens der Autoren der Prager deutschen Literatur bietet die Forschung dabei erstaunlich gegensätzliche Erklärungsmodelle an.

B RÜCKENBAUER I ( NACH P AUL R EIMANN UND E DUARD G OLDSTÜCKER ) 3 Die kanonische Sichtweise wurde auf der Tagung Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur, die 1965 in Liblice zwei Jahre nach einer Kafka-Konferenz stattfand, zusammen mit der grundsätzlichen ›Fassung‹ der Prager deutschen Literatur etabliert. Paul Reimann hat in seinem Eröffnungsvortrag als gemeinsamen Nenner der Autoren der Prager deutschen Literatur »die Ablehnung des Chauvinismus« nominiert, den er im selben Atemzug der so genannten sudentendeutschen Literatur ›anhängt‹,

3

Es bestehen in diesem und im nächsten Abschnitt Übereinstimmungen mit meinem Aufsatz zum »kulturellen Übersetzen« der Autoren der Prager deutschen Literatur: Weinberg 2015.

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sowie »eine freundschaftliche Beziehung zu den nationalen, literarischen und kulturellen Bestrebungen der slawischen Völker, insbesondere des tschechischen Volkes« (Reimann 1967: 9). Bei dem mit Namen wie Jaroslav Hašek und Karel Čapek verbundenen »Durchbruch« der tschechischen Literatur »zu weltweiter Anerkennung« (ebd.: 11) im frühen 20. Jahrhundert hätten die Prager deutschen Schriftsteller »durch Übersetzungen und Propagierung der tschechischen Literatur […] eine nicht geringe Rolle gespielt« (ebd.: 12). Später liest man von der »internationalistische[n] Gesinnung, die in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen […] in den fortschrittlichen Kreisen der Intelligenz«, vor allem in der so genannten »Linksfront«, vorherrschte und die sich in einem engen Zusammenwirken von »tschechische[n], slowakische[n] und deutsche[n] Kulturschaffende[n]« ausdrückte (ebd.: 18). Eduard Goldstücker hat auf der gleichen Konferenz der Prager deutschen Literatur ein Hinauswachsen über den »nationalen Rahmen« (ebd.: 25) attestiert; sie sei »ein untrennbarer Teil des humanistischen Kulturerbes der Menschheit« (ebd.: 26). Das Besondere bestand nach Goldstücker darin, »daß der einzige echte Ausweg aus der Deutschsprachiger [sic!] Isolation mit einer Annäherung an das tschechische Volk verbunden war« (ebd.: 31). So sei »die kulturelle Vermittlerrolle zwischen Tschechen und Deutschen, zwischen Tschechen, Slawen auf der einen und den übrigen, besonders der westlichen Welt auf der anderen Seite vermittels der deutschen Sprache« zur »wahrhaft historischen Funktion[…]« (ebd.: 41) der Prager deutschen Literatur geworden. Ausdrücklich erwähnt Goldstücker dabei das »Übersetzungswerk von Otto Pick, Rudolf Fuchs, Franz Werfel, Paul Eisner, F. C. Weiskopf, Louis Fürnberg und weiteren« (ebd.). Die Vermittlerrolle der Autoren der Prager deutschen Literatur sieht Goldstücker auch durch ihr fast durchgängiges Judentum bedingt. Die Argumentation ist bei Reimann und Goldstücker grundsätzlich die gleiche und basiert auf klaren Grenzziehungen: der Gegenüberstellung einer humanistischen Prager deutschen Literatur und einer nationalistischen, gar präfaschistischen sudetendeutschen Literatur einerseits und der Beschreibung der Existenz der Autoren der Prager deutschen Literatur als strikt insular andererseits. Goldstücker unterschreibt ausdrücklich Eisners Formel vom ›dreifachen Ghetto‹. Auf der Grundlage dieser, wie inzwischen erwiesen ist (vgl. Čapková 2005; Koeltzsch 2012), überstarken Abgrenzungen aber schreiben Reimann und Goldstücker den Autoren der Prager deut-

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schen Literatur ein Mittlertum zwischen Tschechen und Deutschen zu, das sich auch und besonders in ihrer Übersetzungstätigkeit zeige und das – gut marxistisch – ins Zeichen eines Internationalismus gerückt wird, der die Autoren zu Propheten einer neuen kommunistischen Zeit machte, selbst wenn sie sich nicht auf die Seite der proletarischen Revolution geschlagen hatten.

»M IDDLE G ROUND « (S COTT S PECTOR ) Scott Spector hat in seiner Studie Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle dagegen abgelehnt, die deutsch-jüdischen Übersetzer um und nach 1900 als Propagandisten eines interkulturellen Dialogs in ansonsten aggressiv nationalistischen Zeiten zu verstehen. Die Vermittlungen hätten zwar eine subversive Wirkung gehabt; ihre Begründung sei aber keinem hehren Streben nach kultureller Pluralität, sondern einer Überlebensstrategie dieser Autoren geschuldet gewesen. »The structural conditions of ›translation‹, of ›mediation‹ […] grounded in an ideological complex of ›identity‹ that anchored Prague German-speaking Jewish writers to untenable territory.« (Spector 2000: 195)

Diesen Bedingungen zu folgen, »had the potential effect of denaturalizing discourses of identity and territory« (ebd.); die Autoren seien auf der Suche gewesen nach einem »›middle ground‹ of mediation inhabitable only by themselves« (ebd.: 195f.), »a strange sort of ›nation‹ between the hostile Czech and German fronts«, »a body of work that became the national literature of that people, and that inscribed a territory for them apart but not isolated from German and Czech Bohemia« (ebd., S. 196). Die Übersetzungstätigkeit dieser Autoren »seemed to bridge the abyss between peoples in Prague into which they themselves had fallen, and at the same time to promise to carve out a space that they could safely occupy as its national poets« (ebd., S. 198). Auch wenn bei Spector die Metapher »to bridge the abyss« begegnet, beschreibt er die Übersetzertätigkeit der Prager deutschen Autoren zuletzt doch nicht als ›Brückenbau‹, also als ein Inbeziehungsetzen des einen Ufers

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eines Flusses mit dem anderen;4 in seiner Metapher geht es ja eher darum, dass ein Abgrund zugeschüttet wird, damit man auf einen sicheren (Unter-) Grund zu stehen kommt.

B RÜCKENBAUER II (H ILLEL J. K IEVAL ) In seinem 2005 publizierten Aufsatz Choosing the Bridge. Revisting the Phenomenon of Cultural Mediation kommt Hillel J. Kieval in direkter Kritik an Scott Spector auf die Brücken-Metapher zurück, die er über Georg Simmels Essay »Brücke und Tür« (Simmel 1909) in seine Argumentation einführt, ohne sie allerdings allzu sehr anzustrengen. Wichtiger ist, dass er Spector für ein Übertreiben der nur subjektiven Begründung des Übersetzens seitens der jüdischen Prager deutschen Autoren kritisiert. Er tut dies, indem er auf verschiedene Projekte eingeht, in denen eben auch den tschechischsprachigen Dichtern in der Frage nach einem angemessenen jüdischen Standpunkt eine Stimme gegeben wurde (eben durch Übersetzungen ins Deutsche); dabei konzentriert er sich im zweiten Teil seines Aufsatzes im Besonderen auf die zionistische Zeitschrift Selbstwehr und den Kreis der an ihr Beteiligten sowie auf die von der Redaktion der Selbstwehr 1917

4

Damit weiche ich hier von einer in Weinberg 2015 gestellten Diagnose ab, in der ich Reimann/Goldstücker wie Spector auf die ›Brückenmetapher‹ verpflichtet habe. Allerdings geschah das in Bezug auf die Kritik, die Leslie A. Adelson an dieser Metapher (wenngleich im Zusammenhang mit deutsch schreibenden, türkischstämmigen Autoren) formuliert hat. Die imaginierte Brücke »zwischen zwei Welten«, auf der diese Autoren gemeinhin verortet würden, sei, so Adelson, dazu gedacht, »voneinander abgegrenzte Welten genau in der Weise auseinander zu halten, in der sie vorgibt, sie zusammenzubringen«. Die Metapher der Brücke aber resultiere zuletzt aus »den nationalstaatlichen Konturen, die diesen [durch die Brücke verbundenen; M.W.] angeblichen ›Welten‹ […] zugeschrieben werden« (Adelson 2006: 38). Dem falschen Bild lasse sich nur begegnen, indem »wir Kultur selbst anders begreifen« (ebd.: 39). Aus dieser Perspektive erscheinen die Autoren der Prager deutschen Literatur tatsächlich bei Reimann/Goldstücker wie Spector als ›Brückenbauer‹. Hier aber geht es darum, wie Spector den Akt der Übersetzung selbst konzeptualisiert.

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herausgegebene »Sammelschrift« Das jüdische Prag. Man liest dazu zunächst: »They [the Prague student Zionists] came mainly from the ranks of the region’s German speakers, but they included a significant minority of Czech-speaking Jews, including former activists in the Czech-Jewish student movement […]. Characteristically, the Prague Zionists understood their ›abstention‹ from the Czech-German nationality struggle not as a withdrawal from the politics of language and culture – a retreat from contested territory and into the self – but rather as a different kind of marking of physical and cultural space […]. Choosing to be a bridge among cultures was to many of these Zionist intellectuals a moral obligation that went hand in hand with the choice of self affirmation.« (Kieval 2005: 23)

Am Ende liest man als Resümee: »In both instances – the opening to Czech language and culture and the closure with regard to German – the operation is relative only, hardly absolute. Moreover, the movement in both cases appears to be as much inner directed as bridge-like; selfcentered; one might even say egotistical.« (Ebd., S. 26)

Kieval dementiert nicht, dass man das Ganze auch als »act of arrogance« und »unredeemed self-centeredness« verstehen könne, aber einen »fair amount of self-aggrandizement« finde man wohl »in the most generous of cultural projects« (ebd., S. 27); es bestehe jedenfalls keine Notwendigkeit, den ›Prager Kreis‹ im Bezug darauf als absolute Ausnahme zu verstehen. Er fährt fort: »In the final analysis, however, to view cultural mediation exclusively as an exercise in narcissism is unfair. The Jews of Central Europe had learned to deploy the universalizing potential of language as a vehicle of assimilation and integration since at least the eighteenth century. The Jews of the Czech lands well understood the power and attractiveness of German in this regard. They also were well aware of the new, nationalist and exclusivist uses to which language was being put in their own day. Yet they chose deliberately to ›transgress‹, to violate the rules of liberal German hegemony. And there was an element of bravery in this. The reading of Czech poetry, the cultivation and promotion of Czech artists, the identification with Czech historical memories, constituted serious choices and genuine elective affinities. They also

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represented clear voices of dissent to the more typical uses to which language was put in the late nineteenth and early twentieth centuries, when language served much more as a marker of difference and separation, a line of battle, a point of no return.« (Kieval 2005: 27)

Zum Abschluss lobt Kieval die Entscheidung für einen sprachlichen Pluralismus als am Vorabend »of Europe's capitulation to fascism« »courageous« (ebd.), womit sein Aufsatz doch wieder zu einer zu einfachen Entgegnung auf Spectors zu einfache Diagnose eines Übersetzens bloß aus narzisstischer Selbstbehauptung wird. Viel wichtiger ist Kievals Einschätzung, dass die Übersetzungen gegen die nationalistische Inanspruchnahme eines Monolingualismus auf das »universalizing potential of language« setzten.

N EO -B OHEMISMUS (S TEFFEN H ÖHNE ) Steffen Höhne hat die ganze Prager deutsche Literatur in die anfänglich skizzierte Tradition des Bohemismus gerückt. Man liest in seiner Darstellung »Böhmische Utopien. Der Bohemismus-Diskurs in der Zeit der Restauration«: »Eine kurze neobohemistische Renaissance setzt erst mit der Prager deutschen Literatur ein. Rainer Maria Rilke, Max Brod, Franz Werfel, Johannes Urzidil u.a. stellen sich dezidiert in die Tradition eines jetzt aber nurmehr ästhetisch zu verstehenden Bohemismus.« (Höhne 2001: 636) In seinem Beitrag zum Sammelband Kafka und Prag hat er dies unter dem Titel »Nachdenken über kulturelle Zugehörigkeit. Neobohemistische Traditionen und nationale Desintegration in der Kafka-Zeit« weiter ausgeführt, wenngleich er nicht unmittelbar auf die Übersetzungstätigkeit der Autoren der Prager deutschen Literatur eingeht. Vielmehr zeigt er an damaligen Akteuren des kulturellen ›Feldes‹ wie August Sauer, Franz Spina, aber auch an »[l]iterarisch-kulturellen Symbiosemodellen« (Höhne 2012: 45) vor allem bei Max Brod sowie an »Johannes Urzidils staatsloyale[m] Kritizismus« (ebd., S. 49) die Propagierung von Konzepten eines Ausgleichs zwischen Tschechen und Deutschen, vor allem im neuen Rahmen der Ersten Tschechoslowakischen Republik.

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F AZIT Aus den vorstehend dargestellten Konzeptualisierungen der Übersetzertätigkeit der Autoren der Prager deutschen Literatur kann man m.E. nur die von Paul Reimann und Eduard Goldstücker als unangemessen ausschließen. Das liegt vor allem daran, dass sie eingebunden ist in eine Gesamtkonzeptualisierung der Prager deutschen Literatur, die heute zur Revision ansteht (vgl. Weinberg 2012). Zudem ist sie auf eine merkwürdige Weise geschichtsvergessen und versteht die Übersetzungen als bloß einer – im Zeichen eines marxistischen Internationalismus gedachten – besseren Zukunft verpflichtet. Scott Spector ist darin zu folgen, dass es falsch wäre, in solchem Übersetzen nur einen grenzenlosen Altruismus zu erkennen; allerdings hat er den gegenteiligen Punkt des jüdischen Eigeninteresses vereinseitigt. Hier rückt Hillel J. Kieval manches wieder zurecht, indem er auf dem kulturellen (und sprachlichen) Kontext beharrt, in dem diese Übersetzungen entstanden – und in dem sie sozusagen zwangsläufig ein Projekt der Stiftung einer (neuen) Gemeinschaft durch Sprache wurden. Dass es eben eine solche neue Gemeinschaft war, die auch den Juden des frühen 20. Jahrhunderts in Prag eine lebbare Identität versprach, muss damit ja gar nicht dementiert werden. Am weitesten geht zuletzt Steffen Höhne, wenn er die Prager deutsche Literatur (und damit auch die in ihrem Horizont entstandenen Übersetzungen) auf den in diesem Beitrag anfänglich skizzierten Bohemismus zurückbezieht. Die Rede von einem »Neo-Bohemismus« scheint mir zwar übertrieben; andernteils ist schlicht unvorstellbar, dass die Autoren der Prager deutschen Literatur so wenig Ahnung von der Geschichte ihres Kulturraums gehabt haben sollten, dass ihnen nicht selbst die Parallele aufgefallen ist oder zumindest hätte auffallen können. Ihre Übersetzungen sind zuletzt der Versuch, eine neue Gemeinsamkeit der Tschechen und Deutschen in den Böhmischen Ländern zu stiften. Die Notwendigkeit dazu hatte sich spätestens mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik verschärft. Es handelt sich dabei aber allein schon deshalb nicht um einen tatsächlichen »Neo-Bohemismus«, weil im vergangenen Bohemismus ein Mit- und Ineinander von Tschechen und Deutschen propagiert worden war. Dahin konnte man nach der (National-) Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zurück; ihm konnte nur ein Mit- und Nebeneinander folgen, das gerade in der Übersetzung sein entscheidendes Zeichen fand. Die Übersetzungstätigkeit der Prager deutschen

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Autoren ist von daher sogar als ›Brückenbau‹ konzeptualisierbar, weil sie dazu führen sollte, dass alle auf beiden Seiten des Flusses unterwegs sein konnten (womit die Übersetzer auch nicht als Mittler für alle Zeiten auf die Brücke gebannt erscheinen). Insofern ist die Übersetzungstätigkeit aber eben kein ›Bohemismus revisited‹, sondern etwas Neues, das man dann jedoch auch zu den neuen, d.h. damals gegenwärtigen Rahmenbedingungen konzeptualisieren muss. Dazu fehlen uns, wie mir scheint, immer noch die angemessenen Beschreibungskonzepte, sodass dieser Beitrag schlicht damit endet, ein Desiderat der Forschung – nicht nur bezogen auf die Übersetzungen der Autoren der Prager deutschen Literatur, sondern wohl auch auf das Übersetzen in allen (ehemals) mehrsprachigen Regionen, wie sie sich in besonderer Dichte in Mittelosteuropa zeig(t)en – zu benennen.

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Alterität und Übersetzung im ukrainischdeutschen Kontext M ARIA I VANYC ’ KA

Der Begriff der Alterität − der Andersheit − gehört zu den wichtigen heuristischen Begriffen der Geisteswissenschaften. Die Dichotomie ›das Eigene‹ − ›das Andere‹ fand im Kontext der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen Eingang in die Übersetzungswissenschaft. Dabei wird auch mit dem Begriff der ›Fremdheit‹ operiert, der mit dem der ›Alterität‹ parallel verwendet, aber nicht identisch verstanden wird. Hans Robert Jauss benutzt den Begriff einer »befremdlichen Alterität« für Werke des Mittelalters, die er aus heutiger Perspektive betrachtet, wobei er feststellt, dass ein solcher Diskurs uns »als Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergangenheit in befremdender ›Andersheit‹ erscheint« (Jauss 1977: 14). Bei der Übertragung seiner Überlegungen auf das Verständnis übersetzter Literatur lässt sich feststellen, dass sie genauso als Zeugnis einer fernen, manchmal auch historisch entfernten und deswegen als anders oder fremd wahrgenommenen Kultur auf den Zielleser wirken kann. Aber das Andere hat nicht immer befremdende Wirkung: Je mehr man sich mit der fremden Kultur bzw. Literatur beschäftigt, desto vertrauter werden sie einem. Das gilt gleichermaßen für Übersetzer, Literaturwissenschaftler oder Leser, die sich mit anderen Kulturen auseinandersetzen. Für sie bewahren andere Kulturen Alterität, aber sie verlieren allmählich ihre Fremdheit. So kann man dem Terminus ›Alterität‹ einen breiteren semantischen Gehalt zuschreiben als dem Terminus ›Fremdheit‹, wobei ›Alterität‹ als Oberbegriff fungieren kann.

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Harald Weinrich differenziert ›Alterität‹ und ›Fremdheit‹ so aus, dass »Fremdheit nicht notwendig aus der Andersheit folgt und erst durch Interpretation aus ihr entsteht« (Weinrich 1988: 197). Daraus lässt sich schließen, dass ›die Alterität‹ eher objektive Differenzen zwischen zwei (Kultur-) Erscheinungen beschreibt und ›die Fremdheit‹ subjektiv wahrgenommene Differenzen. Ähnliche Ansichten äußert auch Norbert Mecklenburg, der über den relationalen Charakter des Begriffes ›Alterität‹ spricht, dabei aber auf verschiedene Perspektiven hinweist: Beim analytischen Erklären sieht er eher objektive Differenzen, beim hermeneutischen Verstehen − die Fremdheit (vgl. Mecklenburg 1987: 567ff.). Basierend auf den Überlegungen von Horst Turk schlägt Fred Lönker eine phänomenologische Sicht auf die Dichotomie Fremdheit vs. Alterität vor. Die Erfahrung der Fremdheit stellt sich offenbar gegenüber Fällen von objektiv begründeter Andersheit ein und das Prädikat ›fremd‹ wird solchen Phänomenen immer dann zugesprochen, wenn es nicht gelingt, eine überzeugende Interpretation für sie anzubieten, genauer: Wenn es dem Interpreten nicht gelingt, seinen Gegenstand in eine einsichtige Beziehung zum eigenen Wissens- und Erfahrungshorizont zu bringen und ihn in diesen zu integrieren (Lönker 1992: 46). Diese Erkenntnis ermöglicht dem Forscher bezüglich der Übersetzung folgende These aufzustellen: »Der Übersetzer hat es immer dann mit der Fremderfahrung zu tun, wenn der Text Merkmale aufweist, für die ihm auf der Basis der eigenen Sprache, Literatur und Kultur keine einsichtliche Interpretation zur Verfügung steht.« (Ebd., S. 50)

An dieser Stelle müsste man bedenken, dass viele moderne Übersetzer zweisprachig bzw. in zwei Kulturen aufgewachsen sind, dass viele sich gleichzeitig mit den Fremdsprachenkenntnissen auch mit der anderen Kultur und Literatur vertraut machen und sich Wissen aneignen, das für Vertreter ihrer eigenen Kultur fremd erscheint. Daher können sie wohl interpretieren, ohne in den Einzelfällen differenzieren zu können, ob es auf der Basis ihrer eigenen Kultur, ihres Weltwissens oder der Vertrautheit mit der anderen Kultur geschieht. Lönker spricht über dieses Fremdverstehen als Übernahme von systematischen und historischen Voraussetzungen, die einem fremden Phänomen zugrunde liegen, und begreift es als Übernahme des fremden kulturellen Deutungssystems, wobei an die Stelle der Differenz die Interferenz zweier Systeme trete (ebd., S. 45). Für einen modernen Übersetzer können

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demnach solche Phänomene nicht im kognitiven Sinne fremd sein, sondern im Sinne der Möglichkeit ihrer Einbeziehung in den Wissenshorizont seiner Leser, die diese Gegenstände, Erscheinungen und Phänomene nicht aus eigenen Erfahrungen kennen. Deswegen würde ich die Überlegung von Lönker eher auf den potenziellen Leser der Übersetzung projizieren, der auf Basis seiner Sprache und Kultur bestimmte Phänomene des Ausgangstextes nicht interpretieren kann. Dies zu erkennen gehört zur Aufgabe des Übersetzers, der nach seinen eigenen Vorstellungen, seiner eigenen Interpretation des Fremden und entsprechend der vorherrschenden Übersetzungstradition die Fremdheit des Originals bewahrt, mildert oder tilgt. Die Frage, für wen der Text oder ein Textelement fremd ist oder sein kann, scheint mir insbesondere für transkulturelle Übersetzer oder die Übersetzer, die aus ihrer Muttersprache in eine Fremdsprache übersetzen, wichtig zu sein. Die Veränderung der Kategorie der Fremdheit im Zuge der Globalisierung und die schnellere Aneignung anderer Kulturen zeigt auch Michaela Holdenried auf, die durchblicken lässt, dass die Möglichkeiten des Übersetzers, das Fremde kennenzulernen, heute immer breiter werden (vgl. Holdenried 2004: 213). Deswegen verstehe ich im Weiteren unter der Fremdheit bzw. der Alterität des Originals solche Merkmale, die entweder für den Übersetzer selbst unbekannt/ungewöhnlich erscheinen oder bei denen er vermutet, dass sie für die Zieltextleser unbekannt/ungewöhnlich sein können. Dazu gehören Erscheinungen inhaltlicher, kognitiver, kultureller, formaler und sprachlicher Art, die angesichts anderer Verwurzelung des Textes als ›schwer interpretierbar‹ wahrgenommen werden. Lönker und Turk bestimmen drei verschiedene Formen, in denen sich das Fremde in der Literatur manifestieren kann: Realien, Darstellungsweisen und Interpretamente (Lönker, Turk 1987: 527-540). Wie Literaturübersetzer damit umgehen (sollen), steht im Mittelpunkt mehrerer übersetzungswissenschaftlicher Arbeiten, die die Übersetzbarkeit oder Adäquatheit der Übersetzung, Übersetzungsmaximen oder Dialogizitätsentwürfe, kulturspezifische Deutungsmodelle oder Postcolonial Studies thematisierten. Die von Schleiermacher so stark polarisierten Methoden des Umgangs mit dem Fremden − die verfremdende und die einbürgernde Übersetzung − werden im realen Übersetzungsprozess in der Regel kombiniert. Das bestätigt auch Burkhart Kroeber, der aus dem Italienischen und Französischen ins Deutsche übersetzt und der die Schleiermacher’schen Methoden eher als ein Schema begreift; ein Literaturübersetzer vermische diese Methoden, indem er die eine oder die

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andere wähle, was von der Textsorte, Intention des Autors oder von den Erwartungen des Lesepublikums determiniert sei (Kroeber 2008: 100-101). Praktizierende Übersetzer und mehrere Übersetzungswissenschaftler betrachten das Problem der Fremdheit bzw. der Alterität vermehrt aus dem Blickwinkel der Zielsprache und der Zielkultur. Anja Tippner analysiert deutsche Übersetzungen der Werke Čechovs und weist auf die doppelte Alterität von Übersetzungen hin: im Verhältnis zur rezipierenden Kultur und Literatur und im Verhältnis zum Prätext (Tippner 1997: 28). In Übersetzungen werden nämlich Textelemente häufig anders hierarchisiert und bewertet, wird Alterität konkretisiert und werden Metaphern aufgelöst – und der Text erfüllt in der Zielliteratur andere Funktionen und hat eine andere Autorität (ebd., S. 29-30). In der vorliegenden Fallstudie wird der Umgang mit der Fremdheit am Beispiel von ukrainisch-deutschen Übersetzungen analysiert. Schon die ukrainische Literatur, die lange Zeit im Schatten der russischen stand, war bis vor kurzem ein fremder Begriff für das deutschsprachige Lesepublikum und erst seit zehn Jahren gibt es auf dem deutschen Literaturmarkt spürbare Veränderungen in ihrer Rezeption – und das ungeachtet dessen, dass im deutschen Sprachraum Übersetzungen aus dem Ukrainischen auf eine ca. 170jährige Geschichte zurückblicken können.

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Eine der ersten großen ukrainisch-deutschen Übersetzungen, die wir der Faszination am Fremden und Exotischen verdanken können, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in Stuttgart publiziert. Die Sehnsucht der Romantik nach fernen Ländern, ihr Interesse an der Volksdichtung und an großen Freiheitskämpfern vergangener Epochen waren wohl die Beweggründe für die Herausgabe des Bandes Die poetische Ukraine (1845). Der Übersetzer und Verfasser des Vorworts, Friedrich Bodenstedt, der längere Zeit in Russland lebte, wurde dort durch seine Bekannten für ukrainische Folklore sensibilisiert und übertrug mit deren Hilfe 33 lyrische Lieder, zehn Dumen und einen Auszug aus dem mittelalterlichen Igorlied ins Deutsche. Im Vorwort gibt er eine detailreiche, zwar etwas verwirrende (da er nicht ausreichend Quellen verwendete und er selbst nie in der Ukraine war), aber begeisterte Einleitung zur Geschichte der Ukraine und des Kosakentums, in der er seine Kenntnisse

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über die ukrainische Literatur offenbart und ihre Eigenart deutschen Lesern zu erklären versucht. Er charakterisiert das Volk der Ukraine, »welches den Russen und den Polen gegenüber seine Unabhängigkeit behaupten und befestigen wollte« (Bodenstedt 1945: 14), sieht »das Ritterliche im Charakter der Aristokratie des Kleinrußlands; das Wilde im Charakter des Volkes, dieses bunten Gemisches Asiens und Europas« (ebd., S. 15) und zieht schließlich das Fazit: »In keinem Land hat der Baum der Volkspoesie so herrliche Früchte getragen, nirgends hat sich der Geist des Volkes so lebendig und wahr in seinen Liedern ausgeprägt, wie bei den Kleinrussen« (ebd., S. 16). Damit glaubte Bodenstedt das Publikum auf die Rezeption der zeitlich, geographisch und kulturell entfernten Poesie genügend vorbereitet zu haben. Er verhilft ihm mit einbürgernden Anpassungen einiger Namen und Realien und mit Auslassung einiger für die deutsche Sprache untypischer struktureller Elemente, die zu den dominanten Zügen dieser Gattung gehören (Wiederholungen von Verben und Adjektiven, Appositionen, eine Vielzahl von Interjektionen, Diminutiva und Epitheta) zu einem besseren Textverständnis. Man kann feststellen, dass Realien − Bezeichnungen von Gegenständen, Sachverhalten, geographischen Eigennamen, sozialen Begrifflichkeiten –, die Bodenstedt bewusst in den Text unverändert einführt und in den Fußnoten erklärt,1 die Funktion erfüllen, die andere Kultur als fremde zu identifizieren, um dadurch Interesse zu wecken und die Leser mit dieser Kultur bekannt zu machen. Insbesondere gilt dies für den zweiten Teil des Buches, der ukrainische Dumen vorstellt − lyrisch-episch gereimte Werke der ukrainischen mündlichen Überlieferung (16.-18. Jahrhundert),2 die kaum Entsprechungen in anderen Kulturen haben und deswegen in der Übersetzung durch zahlreiche deskriptive Elemente ergänzt sind. In den Paratexten geht Bodenstedt auf die Besonderheiten der Übersetzung und auf eigene Reflexionen zu Differenzen und Ähnlichkeiten zwischen den ukrainischen Dumen und der Dichtung von westlichen Ländern ein. Noch mehr: Er bestimmt anhand der Texte das Besondere am geistigen Leben der Ukrainer, wie z.B. die »seltsame, ergreifende Wehmut« der Lieder, die »Herrschaft des Weibes«, die »innige Vertrautheit mit der Natur« (Bodenstedt 1845: 15-16). Dies kann als Versuch gedeutet werden, die Fremderfahrung zu bewältigen. Schauen wir

1

Z.B. »Tschumack«, »Starost«, »Woit« u.ä.

2

Dumen wurden in Rezitativ-Form in Begleitung der Musikinstrumente Kobsa oder Bandura vorgetragen und thematisieren die Kosakenkämpfe gegen Türken.

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auf übersetzerische Lösungen Bodenstedts anhand der Zeilen eines ukrainischen Liedes, das alle Merkmale der ukrainischen Volksdichtung aufweist: Стоїть явір над водою, в воду похилився; На козака пригодонька, козак зажурився. Не хилися, явороньку, ще ж ти зелененький; Не журися, козаченьку, ще ж ти молоденький! Не рад явір хилитися, вода корінь миє! Не рад козак журитися, так серденько ниє! Ой поїхав з України козак молоденький, − Оріхове сіделечко, ще й кінь вороненький. Steht am Wasser ein Platane, / tief hiernieder hängend; Sorgen quälen den Kosacken, / ihm das Herz bedrängend. Senk dich, Bäumchen nicht herunter, / Bist noch grün und blühend! Gräm' dich nicht, Kosack, sei munter, / Bist noch jung und glühend! Wollt' sich gern der Baum nicht senken / Doch die Flut zernagt ihn; Wollt' sich der Kosack nicht kränken − / Doch tief Wehe plagt ihn! Ritt mit Lanze und Geschosse, / und im Kriegsgewande, Ritt auf schwarz gemähntem Rosse / Fern zum Russenlande. (Bodenstedt 1845: 23).

Bodenstedt stellt fest, dass ukrainische Lieder formelle Ähnlichkeiten mit europäischen aufweisen. So gelingt es ihm, das Versmaß, die Melodie und den Reim der Ausgangstexte ziemlich treu zu bewahren. Einige syntaktische Strukturen, z.B. die Spitzenstellung des finiten Verbes im Aussagesatz, die für die ukrainische Dichtung charakteristisch sind, sind auch für die deutsche Volksdichtung typisch. Die Darstellungsweise und die lexikalischen Elemente bereiten aber Probleme, die auf kulturelle Differenzen hinweisen. Mehrere ukrainische Volkslieder sind in Parallelismen aufgebaut, wo personifizierte Naturphänomene mit dem Schicksal der Menschen in Zusammenhang gebracht werden. Diese kulturell geprägte Darstellungswiese stützt sich auf das Symbolhafte, das diesen Naturphänomenen zugeschrieben wird und das ein fester Bestandteil des ukrainisch-nationalen Weltbildes ist. Dies sieht man schon in der ersten Zeile: Im Original kommt der für ukrainische

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Landschaften typische Baum »явір« (Berg-Ahorn) vor, in der Übersetzung die Platane. Der Berg-Ahorn gehört zu den zahlreichen Natursymbolen, die in die ukrainische Volksdichtung, in Lieder und später auch in die Literatur Eingang gefunden haben. Der grüne Berg-Ahorn symbolisiert einen jungen Mann. Wenn der Berg-Ahorn über dem Wasser steht, bzw. seine Zweige sinken lässt, wird das als eine Andeutung des Kummers oder der Trauer verstanden. Obwohl Platanen dem Berg-Ahorn ähnlich sehen, gehören sie nicht zur ukrainischen Flora, auch in Deutschland wurden sie erst seit dem Ende des 18. Jh. eingebürgert. Man könnte vermuten, dass der Gebrauch dieses Substantivs für einen deutschsprachigen Leser des 19. Jh. ein fernes Land markieren sollte. In jedem Fall, sei es Berg-Ahorn oder Platane, gehen Konnotationen und implizite Kontexte, die im Original fungieren, in der Übersetzung verloren. Aus der Perspektive der Zielliteratur spielt die Baumart daher keine Rolle, aus der Perspektive der Ausgangsliteratur erscheint der Gebrauch eines solchen Baumnamens als ein Fremdelement. Intertextuelle Bezüge und ein breiter Assoziationskomplex, die für die Ausgangskultur wichtig sind und in der Übersetzung nicht mehr funktionieren, kann man in den weiteren Strophen des Liedes noch markanter sehen: Der Kosake bittet, ihm auf das Grab »einen Schneeball zu pflanzen« (»посадити червону калину«). Diese Pflanze mit weißen Blüten und roten, bitteren Früchten ist eines der wichtigsten Symbole der ukrainischen Kultur, sie versinnbildlicht die Ukraine selbst, die Liebe zur Heimat oder ein junges schönes Mädchen.3 Im Ausgangstext impliziert der Wunsch des Kosaken, einen Schneeballstrauch am Grab zu haben, seine tiefe Verbundenheit mit der Heimat auch nach seinem Tode. In der Übersetzung von Bodenstedt erscheint nur ein »Sträuchlein« voll von »süßen Früchten« (ebd., S. 24). Diese »süßen Früchte«, die es im Ausgangstext nicht gibt, zeugen davon, dass das Symbolische in dieser Dichtung vom Übersetzer nicht erfasst worden ist, was auf seine mangelnden Kenntnisse der Ausgangskultur zurückzuführen ist.4

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Eines der hymnenartigen ukrainischen Lieder hat als Refrain die Zeilen »А ми тую червону калину піднімемо, / а ми нашу славну Україну / гей, гей, розвеселимо« (»Diesen roten Schneeball heben wir herauf, / unsere ruhmreiche Ukraine heitern wir auf«).

4

In anderen Übersetzungen äußert der Übersetzer tieferes Wissen über symbolhafte Bedeutungen von Gegenständen oder Naturphänomenen und demonstriert das in den Paratexten, z.B. steht in der Übersetzung: »Hat die junge Schwester

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Das Symbolische, das von Vertretern einer Kultur einigen Gegenständen oder Naturphänomenen zugeschrieben wird und das sich in ihrer Sprache und Literatur manifestiert, rechne ich zu den Kulturalien.5 Es ist offensichtlich, dass einen solchen Assoziationskreis, den die zwei genannten Kulturalienbezeichnungen haben, keine Übersetzung zu übertragen vermag, ohne sich der Interpretamente zu bedienen. Verliert dadurch die Übersetzung selbst an Wert? Kann man diese Übersetzung als »Repräsentation einer fremden Kultur« (im Sinne von Bachman-Medick 1997) sehen? Mir scheint, der Leser entdeckt genug Anderes, aber nicht viel Fremdes darin, die fremde Kultur lässt nur ihre Oberfläche erblicken. Aber wenn man die Mehrzahl der vorliegenden Lieder liest, eröffnen sich dem Rezipienten die bildhafte Natur der ukrainischen Darstellungsweise und gewisse mentale Besonderheiten der Ausgangskultur. Die rein sprachliche Andersheit, z.B. zahlreiche Diminutiva fast aller Wortarten, die für die ukrainische Sprache ein unentbehrliches Attribut sind, gibt der Übersetzer nur selten wieder.6 Da aber ukrainische Diminutiva die Zeilen verlängern, war der Übersetzer gezwungen, poetische Bilder zu erweitern, um dem Versmaß treu zu bleiben. So steht im Original nur »der junge Kosak fuhr von der Ukraine, / der Sattel aus Nussbaum, und das Pferd schwarz«, wobei die Wörter »jung«, »Sattel«, »schwarz« Verkleinerungssuffixe besitzen. Bei Bodenstedt, der seiner Phantasie freien Lauf gibt, sehen wir die ganze Ausrüstung des Kosaken: Lanze, Geschosse, Kriegsgewand. Ukrainische Kosaken hatten allerdings – anders etwa als europäische Ritter – keine besondere Kriegskleidung. So schafft Bodenstedt das Bild eines

Windröschen gepflückt« und in der Fußnote »Windröschen − im Kleinrussischen ßon trawa – Anemone patens; die Völker der Ukraine schreiben dieser Blume prophetische Eigenschaften zu, und eben deswegen scheint das obige Lied der Beachtung wert […]« (Bodenstedt 1845: 48). 5

Ukrainische Übersetzungswissenschaft benutzt in diesem Falle den Terminus »лінгвокультурма« (Linguokulturem), der vom russischen Sprachwissenschaftler Vladimir Vorob’ev (Воробьев 1997) vorgeschlagen wurde.

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Von zehn Wörtern mit Verkleinerungssuffixen im o.a. Lied werden von Bodenstedt nur zwei wiedergegeben: »Bäumchen« und »Sträuchlein«. Die Bedeutung von Verniedlichung gibt er durch andere Sprachmittel, z.B. durch Adjektive, kaum wieder.

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Kriegers, das seinem Leser vertraut erscheint, aber nicht viel mit einem ukrainischen Kosaken zu tun hat. Die metrische Treue wird durch freiere Übersetzung erreicht, die in der ›weiterführend-einbürgernden‹ Gestaltenentwicklung zum Ausdruck kommt. Vom Blickwinkel der Ausgangskultur erscheint aber ein solches Bild als original-fremd, genauso wie der Stil: Anstatt des ukrainischen, volkstümlich-niedlichen und ziemlich einfachen Stils sorgen Elemente von gehobenem Stil (im Kriegsgewande, auf [dem] Rosse, zum Russenlande) für eine Archaisierung, die die historische Entfernung kennzeichnen soll. Anhand des ganzen Bandes lässt sich feststellen: Fremde Elemente, die vom Übersetzer in den Text oder Paratext eingefügt wurden, sind Merkmale der Alterität, sie werden aber meistens von Elementen deskriptiver Natur begleitet, die die Fremdheit für den Rezipienten mindern, indem sie diese erklären. Das Ersetzen oder Weglassen betrifft die Kulturalien, die als solche vom Übersetzer nicht identifiziert oder als nicht interpretierbar eingeschätzt und durch Hyperonyme wiedergegeben werden. Daher produziert das Buch in Paratexten mehr Fremdheit als die übersetzten Texte selbst aufweisen. Die Alterität des Zieltextes aus der Perspektive des Ausgangstextes ist aber viel auffallender, wenn man die Mikroebenen betrachtet und nicht den Band als Ganzes.

H ERAUSBILDUNG DES ÜBERSETZERISCHEN K ANONS : FREMD GENUG , UM I NTERESSE ZU WECKEN , VERTRAUT GENUG , UM LESBAR ZU SEIN Im weiteren Verlauf der ukrainisch-deutschen Übersetzungsgeschichte hat sich eine Übersetzungsmethode herausgebildet, die ungefähr gleichen Abstand (oder gleiche Nähe) zur Ausgangs- und Zielkultur hält. Für die Übersezter im 20. Jahrhundert konnte man das auf ihre Herkunft zurückführen. Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine rege Übersetzungstätigkeit in Galizien und der Bukowina – also in multikulturellen Gebieten, wo slavische und germanische Welten aufeinandertrafen. Viele Ukrainer dieser Region beherrschten das Deutsche als Bildungs- und Kultursprache und übersetzten als transkulturelle Persönlichkeiten oft in beide Richtungen. Häufig waren es Schriftsteller, Journalisten und Literaturwissenschaftler in einer Person, die ihre Ausbildung in Lemberg, Czernowitz

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oder Wien erhielten und zu epocheprägenden Kulturvermittlern wurden. Der Widerhall dieses Phänomens kann bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in der Tätigkeit von Diaspora-Ukrainern beobachtet werden, die in Deutschland aus dem Ukrainischen übersetzten. Im Falle der Übersetzung aus der Muttersprache in die Zweitsprache besteht für einen Übersetzer die Fremdheit des Originals nicht. Im Gegenteil: Der Übersetzer, der sich in allen Nuancen der Ausgangskultur auskennt und eine breite Kenntnis anderer Kulturen hat, reflektiert die Differenzen und neigt eher dazu, besonders viele sprachliche und kulturelle Besonderheiten des Originals in die Zielsprache zu übertragen. Insbesondere wenn es um eine kleinere Literatur geht, die ihre Eigenart ausdrücken möchte. Einen ganz besonderen Fall stellen in diesem Zusammenhang die Übersetzungen von Olha Kobyljans’ka (1863-1942) dar, die mit der Muttersprache Polnisch und der Vatersprache Ukrainisch in der Bukowina aufwuchs, sich sehr früh Deutsch als Bildungssprache aneignete, sich für die deutsche Literatur und Philosophie begeisterte und ihre ersten Werke auf Deutsch schrieb. Das Eigene und das Fremde wechselten sich lange in ihrer Identität ab, bis sich die Schriftstellerin für die ukrainische Kultur entschied. In ihren deutschen Übersetzungen aus dem Ukrainischen, die in Österreich und Deutschland publiziert wurden, finden wir sowohl Züge verfremdender als auch einbürgernder Verfahren. So transkribiert sie mehrere ukrainische Eigennamen7, darunter Diminutiva8 und Andronyme9, was es einem deutschsprachigen Leser erschwert, die Person eindeutig zu identifizieren. Manchmal aber verdeutscht sie ukrainische Eigennamen: Митер − Demeter, Калина − Katharine, Мотря − Martha oder verbindet die Transkription im Text der Übersetzung mit der deutschen Entsprechung in der Fußnote: Katrussja (Käthchen), Hrytz (Georg), Nikola (Nikolaus). Schließlich benutzt sie in der Übersetzung Eigennamen, die in der deutschen Kultur aus der russischen bekannt sind (Nikolaj), oder ersetzt ukrainische Namen, die im deutschen Kulturraum ungewöhnlich klingen, durch einen Gattungsnamen (z.B.

7

Eigennamen sind neben den geographischen Namen wichtige Kennzeichen einer

8

Z.B. Katrussja (der volle Name ist Kateryna) oder Marijka (von Maria)

9

Andronyme − eine für die Ukraine voriger Jahrhunderte typische Nennung der

fremden Kultur.

Frau nach dem Vornamen ihres Mannes, z.B. Ivan – Ivanycha.

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»ihr Bruder«). Ähnlich verfährt sie mit Realien- und Kulturalienbezeichnungen: Ungefähr die Hälfte lässt sie im Text unverändert in transkribierter Form, manchmal kommentiert sie sie in ausführlichen Fußnoten oder führt diese Erklärungen in den Text ein, z.B.: »Es hielt um sie ein prächtiger Mann an, ein junger Sotnik (Anführer einer Abteilung von hundert Mann im Kosakenheere)« (Vovčok 1903: 101). Den verbleibenden Teil der Kulturalien gibt sie durch Hyperonyme oder deskriptive Paraphrasen wieder, tilgt somit die Fremdheit und macht den Text für den Zielleser zugänglicher. Im Großen und Ganzen bedienen sich auch andere Übersetzer bis heute dieser Mischung von Methoden, wobei die Darstellungsweise zur Einbürgerung tendiert und das Fremde durch das Thema selbst und durch lexikalische Einsprengsel spürbar bleibt. Besonders auffällig kann man das am Beispiel des Romans Darina, die Süße der modernen ukrainischen Autorin Maria Matios demonstrieren, der von Claudia Dathe ins Deutsche übersetzt wurde. Er entwirft die Geschichte eines Dorfes in der Bukowina in den Wirren des 20. Jahrhunderts. Der Stil der Autorin zeichnet sich durch die Verwendung vieler Regionalismen aus. Die Mentalität der Dorfbewohner kommt sehr stark zu Tage; historische, politische und soziale Begebenheiten werden durch eine zeitliche Entfernung verstärkt. Das alles kann schon auf einen ukrainischen Leser befremdend wirken. In den Leserreaktionen zur deutschen Übersetzung wird diese Fremdheit immer wieder thematisiert: »Fremd, aber dennoch so nahe!«, »Eine ganz andere Welt«, »In ukrainischen Dörfern ist das alles ganz anders«, »vom Rande der Zeit und der Welt« (Amazon 2013). Dieses Fremde kommt nicht nur durch die Darstellung der ungewöhnlichen Hauptfiguren (die stumme Protagonistin, der Maultrommelspieler, abergläubische Bäuerinnen) zum Ausdruck, sondern auch dadurch, dass historische Ereignisse aus der Sicht der einheimischen ukrainischen Bevölkerung beleuchtet werden − eine neue Perspektive für das deutsche Lesepublikum. Besonders auffällig ist die mythisierende Betrachtung des Lebens in den Stimmen der Dorfbewohnerinnen.10

10 Hier ein Beispiel einer solchen Äußerung: »Das tut einem in der Seele weh, Wasjuta, das kann ich Euch sagen, da hab ich gleich aufgehört, zu zanken mit meinem Slawko, der ist ja wenigstens nicht behindert … hätte ihn doch der Schlag getrof-

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Es kann ein Vergleich in Bezug auf die Fremdheitsbewältigung mit Olha Kobyljans’ka gezogen werden: Kobyljans’ka hatte keine eindeutige Strategie und behandelte das Fremde jedes Mal anders. Die Übersetzerin Claudia Dathe geht mit dem Fremden ziemlich systematisch um und findet dabei die goldene Mitte, um fremde Kultur darzustellen: Sie neutralisiert mehrere Regionalismen durch Hyperonyme11, greift aber bei markanten Realien und wichtigen Kulturalien zur kombinierten deskriptiven Nominierung12; in der transkribierten Form erscheinen bei ihr nur Bekleidungsstücke, Speisenamen, lokale Musikinstrumente oder Tänze13 u.ä., die das Herkunftsland kennzeichnen, ohne den Leser verwirren zu können. Zu einigen wichtigen bzw. interessanten Realien, Kulturalien und historisch-politischen Phänomenen findet man Kommentare im Glossar14. Eine Übersetzungspassage kann das Zusammenwirken der einbürgernden und verfremdenden Methoden anschaulich demonstrieren: »[…] auf ihrem Heimweg vom Weihnachtsliedersingen […] schauten zum anderen Ufer des geteilten Tscheremosch hinüber […], wie geflochtene Hirtenpeitschen hoben sich die dünnen Streifen der Sternsinger und Malankary schwarz zwischen den

fen in meinem Bauch, wie der mir die Tage verhunzt mit seinem Selbstgebrannten. Wär er doch verbrannt damals, Herrgott noch mal … Dass ich Eiterpickel auf der Zunge kriege, was für dummes Zeug ich da rede!« (Matios 2013: 5f.). 11 Z.B. коцик – Decke, криївка – Versteck, запаска – Rock, рушники – Tücher. 12 Троїста музика –Trios mit Geige, Zymbal und Trommel; вишиванка – Hemd mit Stickerei. 13 Сaрдaк – Sardak, писaнки – Pysanky, кулеш – Kulescha, горілка – Horilka, трембіта – Trembita, борщ – Borschtsch, кептaр – Keptar, мазепинка – MasepaMütze. 14 Z.B.: »Kalyna (ukr.) Schneeballstrauch, steht für ein schönes Mädchen und wird in unzähligen Liedern und Gedichten besungen. Die Textpassage hier nimmt Bezug auf das Lied ›Oj, u luzi tschervona kalynka (sic)‹ (Dt. Oh, auf der Wiese steht ein roter Schneeballstrauch), das zur Zeit der ukrainischen Nationalbewegung im Ersten Weltkrieg gesungen wurde und in dem der Schneeballstrauch für die Ukraine steht, der man einen eigenen Staat zu geben hoffte. In der Sowjetzeit wurden das Singen des Liedes wie auch alle anderen Unabhängigkeitsbekundungen mit Lagerhaft bestraft« (Matios 2013: 228f.).

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Hütten ab […] und plötzlich erzitterten die umliegenden Berge unter dem Lied ͣHoj, daj Bozhe͢.« (Matios 2013: 126, Hervorh. v. mir, M.I.).

Aus dieser Passage werden zwei Elemente »Malankary« und »Hoj, daj Bozhe« im Glossar erklärt, sodass der Text selbst eine bestimmte Dosis des Fremden beibehält, welche den Lesefluss nicht stört. Bei Interesse kann aber über die Traditionen oder historischen Hintergründe der anderen Kultur nachgelesen werden. Systematisch transkribiert Dathe auch alle Eigenamen. Dabei entsteht jedoch auch bei ihr ein Problem, wenn dieselbe Person durch ein Andronym bzw. ein Deminutivum benannt wird: Пaрaскa Дaнилюковa / Пaрaсочка / Дaнилючкa – »Paraska Danyljukowa / Parasotschka / Danyljutschka«. Um dieses Problem bei wichtigen Romanfiguren zu umgehen, vereinheitlicht Dathe den Namen des Haupthelden: Іван, Йван, Йванко – Iwan. Der interessanteste Fall scheint der Umgang mit dem Namen der Hauptperson des Romans zu sein: Im Original heißt die Protagonistin »Даруся« (»Darusja«), was eine Verkleinerungsform von »Daria« oder »Daryna« ist und andere Konnotationen als »Daria« trägt, da ein Diminutivum immer ein Marker einer informellen kommunikativen Situation ist und eine subjektive Stellungnahme des Sprechers andeutet. Nach den Worten der Autorin hat der Verlag, in dem die deutsche Übersetzung erscheinen sollte, den Namen »Dascha« vorgeschlagen, dem weder die Autorin noch die Übersetzerin zustimmen konnten. Dascha wie auch Mascha (von Maria) oder Natascha (von Natalia) sind die typischsten Verkleinerungsformen von Eigennamen im Russischen, die sich weit über die Grenzen Russlands verbreitet haben. Aber das Ukrainische hat eigene Formen von Kosenamen entwickelt, mit anderen Suffixen.15 Der vorgeschlagene Name Dascha hätte für deutsche Leser vielleicht vertrauter geklungen, aber solch ein russisch klingender Name der Protagonistin hätte eine andere Ausgangskultur suggeriert. Mir scheint, der Vorschlag des Verlages hat seine Ursache in der Geschichte der Rezeption der ukrainischen Literatur im deutschen Sprachraum, die in früheren Epochen wurzelt. Darauf soll im Weiteren genauer eingegangen werden. »Daryna« als

15 Wikipedia gibt folgende Formen zu »Дарина« an: Дари́нка, Дарі́йка, Да́ра, Да́ронька, Да́рочка, Да́рка, Да́рця, Дару́ся, Дару́сенька, Дару́сечка, Дару́ня, Дару́ненька, Дару́нечка, Ода́ря, Ода́ронька, Ода́рочка; До́ра (Siehe: http://uk.wikipedia.org/wiki/Дарина; Zugriff 15.9.2015).

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eine Kompromisslösung mildert wohl die Fremdheit des antroponymischen Systems der fremden Kultur, aber der offizielle Name statt des Kosenamens ändert (aus der Sicht der Ausgangskultur) die Expressivität und die Atmosphäre der Darstellung. Die Frage, wie das Fremde in der Übersetzung wahrgenommen wird und welchen Eindruck es auf die Zielleser macht, habe ich an zehn Deutsche gestellt, die den Roman gelesen haben. Die Antworten bezeugen, dass das Fremde genau der Anziehungspunkt für einen Leser sein kann und dass es das Werk lesenswert macht. Hier möchte ich die markantesten Aussagen der Befragten anführen: »Was mir fremd war, fand ich gerade interessant« (Manfried Hammer); »[…] das ›zurück-Versetzen‹ in die Zeit von vor ca. 70 Jahren, fremde Atmosphäre, lokales Kolorit […] − das Textverständnis wird dadurch sicher nicht einfacher, aber der Leser wird letztlich gerade dadurch gefangen genommen und emotional berührt – zumindest mir ging es so« (Eugen Nowak); »Natürlich spürt man die fremdländische Atmosphäre, vor allem durch die verwendeten regionaltypischen Begriffe und Anreden oder die Beschreibung der Landschaft. Das hat auch einen wichtigen Teil der Wirkung ausgemacht, darauf hätte man meiner Ansicht nach nicht verzichten können« (Anne Röver). Einige Leser, die mit anderen slavischen Literaturen vertraut sind, haben auch stärkere Differenzen betont, die die ukrainische Literatur von der deutschen unterscheiden: »mir scheint, es ist ein bisschen charakteristisch für die ukrainische Literatur (oder Teile davon), dass man sich (noch) nicht vor großen Emotionen scheut, und sich nicht dafür schämt (wie in den westeuropäischen Literaturen). Ich schlage auf gut Glück eine Seite auf: ›diese großartige Musik der tiefsten seelischen Berührung‹« (Harald Fleischmann). Dieses Pathos ist auch ein Element der fremden Darstellungsweise, das einige deutsche Leser als »altmodisch«, andere als »berührend«, noch andere als »beinahe kitschig« empfinden, aber mehrere äußerten sich dahingehend, dass es den sprachlichen Reiz für viele Leser ausmacht. Das Fremde lässt sich also in der Übersetzung auf verschiedenen Ebenen übermitteln, auch wenn die Übersetzerin einen Ton im Deutschen gefunden hat, der nahe am Duktus des mündlichen Erzählens liegt, der wiederum für den Ausgangstext prägend ist. Alle Befragten betonen, dass das Nachwort mit einer historischen Übersicht und das Glossar genügend Informationen geben, um das Fremde verstehen zu können. Die Befragung kann man als eine Bestätigung dafür nehmen, dass jede Übersetzung von einem kritischen Leser als eine hermeneutische Herausforderung wahrgenommen werden

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kann, als ein Anlass, eine fremde Kultur kennenzulernen, ohne sich zu wünschen, dass sie sofort ihr Wesen und die Mentalität ihrer Vertreter im vollen Umfang offenbart (vgl. Pöckl 2005: 178).

E INE

ANDERE

ANDERSHEIT

Eine besondere Stellung kommt der Frage der Andersheit bei der Übersetzung ukrainischer Texte ins Deutsche während der Sowjetzeit zu. Die Kulturpolitik der Sowjetunion zielte darauf ab, die ›Errungenschaften des Sozialismus‹ und die Sowjetideologie in andere Länder des Sowjetblocks zu exportieren und in diesem Zusammenhang legte man großen Wert auf Übersetzungen. 1950-1980 wurden hunderte Werke der multinationalen Sowjetliteratur ins Deutsche übersetzt, allerdings zu 90% durch die Zwischenschaltung der russischen Sprache. Dies hatte zur Folge, dass die Ausgangskultur sich auflöste, ihre einzigartigen Merkmale verloren gingen und die übersetzten Werke in der rezipierenden Kultur als zur russischen Kultur gehörende aufgenommen wurden. Die Übersetzungen von Werken nicht russischer Autoren wurden nicht nur mit der Anmerkung versehen »aus dem Russischen übersetzt«, sondern auch »Aus dem Russischen übersetzt. Titel des russischen Originals […]«16. Einige Beispiele können demonstrieren, wie durch kleine Eingriffe in den Text eine andere Andersheit geschaffen wurde, die nicht mehr die des Originals war. In den 1950er Jahren wurden viele Werke von Vadym Sobko, der nach dem Krieg in der sowjetischen Militäradministration in Berlin arbeitete und Werke über die Nachkriegsveränderungen in Deutschland schrieb, ins Deutsche übersetzt. Das Werk Запорука миру (Des Friedens Gewähr) wurde nach der Publikation sofort aus dem Ukrainischen ins Russische und im selben Jahr ins Deutsche übersetzt. Schon die russischen Übersetzerinnen C. Dmitrieva und N. Treneva ›verfeinerten‹ einiges. Das ukrainische Original lautet: »Так, − сказав Макс Дальгов, − добра штука« (Sobko 1951: 289, hier und weiter: Hervorh. v. mir − M.I.). Die russische Übersetzung sieht so aus: »Да, как говорят русские, хорош гусь! - проговорил Дальгов« (Sobko 1952: 306). Aus dem ukrainischen »Ja, sagte Max Dalgov,

16 Das steht z.B. auf der inneren Titelseite des Romans Morgenröte des ukrainischen Schriftstellers Oles Hontschar (Hontschar 1985).

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gutes Ding« wird in der deutschen Übersetzung: »Ja, ein schöner Gänserich, sagt der Russe in solchen Fällen« (Sobko 1951: 542). Die russische Zwischenübersetzung expliziert die Ironie des Autors und führt zu diesem Zweck einen Phraseologismus ein, der einen russischen Kulturkontext widerspiegelt. Der Übersetzer ins Deutsche, Harry Schnittke, wiederholt diese Erweiterung und mit solchen Mitbringseln rutscht der übersetzte Text in die russische Kultursphäre und markiert somit nicht mehr die Alterität des Originals, sondern die Alterität der russischen Kultur im Vergleich zur rezipierenden deutschen. Solche Verschiebungen summieren sich letztendlich in der Stereotypenbildung, nach der auch andere Werke der ukrainischen Literatur als Repräsentanten der russischen Kultur empfunden werden. Noch ein Beleg solcher Verschiebung der Alterität lässt sich in den Übersetzungen der Novelle Що записано в книгу життя (Aus dem Buch des Lebens) von Mychajlo Kocjubyns’kyj beobachten. Die Novelle erschien in der DDR dreimal: 1951 im Band Ukrainische und Estnische Novellen, 1963 in der Anthologie Ukrainische Erzähler und 1980 im Buch Eine beispiellose Hochzeit: ukrainische Erzählungen aus neun Jahrzehnten. Der Übersetzer der ersten Fassung, Alexander Böltz, übersetzte sehr aktiv aus dem Russischen. Von ukrainischen Autoren hat er einen Roman von Oles Hončar aus dem Russischen übersetzt. Der Übersetzer der zweiten Fassung, Wilhelm Plackmeyer, übersetzte aus dem Spanischen und in Zusammenarbeit mit anderen Übersetzern auch aus dem Russischen. Als Verfasser der dritten Übersetzung ist auch er angegeben, obwohl sich die dritte Fassung erheblich von der zweiten unterscheidet, was einen anderen Übersetzer oder gründliches Redigieren vermuten lässt. Der Umgang der Übersetzer mit der Fremdheit des Originals kann anhand eines Beispiels gezeigt werden, in dem es um die Märchen geht, die die Großmutter ihren Enkelkindern erzählte: Ausgangstext: »Рот розкривався […] і в ньому шипіли слова – щось про царенка, злото, дорогі страви […] і баба кінчала про інше – про кобилячу голову або рись-мати« (Коцюбинський 1979: 102). 1951: »Der Mund öffnete sich […] und Worte, die irgendein Königssohn von Gold und kostbaren Speisen gesprochen, fielen heraus […] und es kam etwas anderes: die Geschichte vom Stutenkopf oder von der Königstochter, die in einen Frosch verzaubert worden war« (Müller 1951: 14).

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1963: »Ihr Mund öffnete sich […], und Worte von irgendeinem Königssohn, von Gold und teuren Speisen zischten darin. […] und die Alte endete mit ganz etwas anderem − erzählte vom Pferdekopf oder vom Froschkönig« (Runge 1963: 141). 1980: »Der Mund tat sich auf […] und zischende Worte kamen heraus von einem Zarewitsch, von Gold und von herrlichen Speisen. […] und die Großmutter schloß mit etwas ganz anderem – einem Pferdekopf oder einer bösen Stiefmutter« (Göbner 1980: 7).

Unter den Märchengestalten kommen, neben den für deutsche Leser bekannten, absolut fremde Gestalten vor. Das ist in erster Linie »Mutter-Luchs«, eine der ältesten Gestalten der slavischen Mythologie, die in germanischen Mythen und Märchen fehlt. Alle Übersetzer entscheiden sich für die Tilgung dieser Fremdheit. Während in den Übersetzungen von 1963 und 1980 eine volle Einbürgerung zu registrieren ist, indem der für deutsche Märchen ungewöhnliche Luchs durch andere Figuren der Grimmschen Märchen − Froschkönig und böse Stiefmutter − ersetzt wird, so ersetzt Alexander Böltz diese Gestalt durch die Figur eines bekannten russischen Märchens − die Königstochter, die in einen Frosch verwandelt wurde. Diese Veränderung der Alteritätsreferenz kann man entweder dadurch erklären, dass der Übersetzer aus dem Russischen übersetzte (obwohl das im Buch nicht angemerkt wurde und mir keine russischen Übersetzungen bekannt sind, die eine solche Veränderung vornahmen) oder dass der Übersetzer Themen und Gestalten der russischen Literatur als verhältnismäßig bekannter eingeschätzt hat. In jedem Fall kann man diese Alteritätsverschiebung als Russifizierung verstehen. Sie kommt auch im russisch klingenden Lexem »Zarewistch« in der o.a. dritten Übersetzungsfassung an den Tag oder auch in den Namen, die in den Zieltexten einen russischen Wortklang haben: »Mikita« in zwei ersten Übersetzungen, aber »Mykyta« in der dritten. Die andere Strategie bei einer Übersetzung über das Russische als Mittlersprache ist das Vertuschen oder Weglassen von Konzepten, die mit der Nationalgeschichte der Ukraine verbunden sind. Es ist allgemein bekannt, dass Werke mit einer nationalen Prägung in der Sowjetunion nicht zugelassen wurden. Aber selbst kleinere Hinweise auf nationale Besonderheiten, die verschieden gedeutet werden konnten, wurden durch Zensur oder Übersetzungen, die − wie man sehen kann − auch eine Funktion der Zensur erfüllten, eliminiert. Ein Beispiel dazu: Im unten angeführten Auszug aus dem Roman

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von Mychajlo Stelmach Menschenblut ist kein Wasser wird das Konzept »Ruhm der Ukraine« erwähnt: І коли його душа тужила, то тужила за справжніми полководцями, які можуть захистити і відродити козацьку славу України. (Стельмах 1962: 51) Und wenn er sich in seinem Innern nach etwas sehnte, so nur nach echten Feldherren, denen es beschieden wäre, den Ruhm seiner Ukraine zu schützen und wiederaufleben zu lassen. (Stelmach 1960: 69)

Im Original sollten die Feldherren »Kosakenruhm der Ukraine verteidigen und wiederbeleben«. Das Kosakenthema gehört, wie schon früher erwähnt, zu den wichtigsten Bestandteilen der ukrainischen Geschichte. Dabei assoziieren die Ukrainer mit dem Begriff ›Kosakenruhm‹ in erster Linie den heldenhaften Kampf von ukrainischen Kosaken für die Freiheit ihrer Heimat. Die ukrainische Überlieferung, die Mythen und Symbole für die Herausbildung der ukrainischen Identität geliefert hat, basiert zum größten Teil auf den Vorstellungen von ruhmreichen Kosakenkämpfen gegen die Türken im 15.-18. Jahrhundert, teilweise auch gegen Polen und Russen. Kosaken als Träger der Demokratie,17 als Schützer des orthodoxen Glaubens, Verteidiger von Witwen und Waisen und schließlich als Unterstützer von Kirchen und Schulen gehören zu den wichtigsten Elementen der ukrainischen Ethnogenese. Nachdem die russische Zarin Katarina II. die letzten Kosakensiedlungen am Dnipro hatte zerstören lassen und der letzte Kosakenataman Petro Kalnyševs’kyj für 25 Jahre nach Solovki verbannt worden war, blieb ›der Ruhm der Ukraine‹ als Mythos von den großen Taten der Ahnen und als Motiv für das Bestreben, ihren Ruhm wiederzubeleben und die Ukraine zu befreien, erhalten. Das Weglassen dieses Wortes in der Übersetzung gehört zu den Verfälschungen, deren Häufung dem Werk andere Akzente gibt: In diesem Auszug geht es um die Zweifel eines der Protagonisten des Romans während des Bürgerkrieges in der Ukraine, der Gedanken an die Freiheit seiner Heimat mit den Kosakenidealen verbindet. Die Idee der ukrainischen Selbständigkeit (самостійність) wurde in der Sowjetzeit allerdings negativ konnotiert und

17 Die Leiter der Kosaken (Atamane, Hetmanen, Richter usw.) wurden jährlich durch den allgemeinen Kosakenrat (die Kosakenversammlug) gewählt, wichtige Entscheidungen wurden im Kollektiv getroffen.

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als konterrevolutionär und nationalistisch dargestellt. Die sogenannten ›самостійники‹ (›Selbständler‹) wurden hart gebrandmarkt bzw. bestraft und später lächerlich gemacht. An den Ruhm der Ukraine zu denken war ein Zeichen des Nationalismus und der antirevolutionären Kräfte. Da die Kosaken in der Sowjetzeit für den Zusammenschluss mit dem russischen Zaren18 positiv bewertet wurden, kam es zu heiklen Unstimmigkeiten in der Deutung der Geschichte und entsprechend des literarischen Originals. Solche Unstimmigkeiten sollten in der Übersetzung wohl nicht vorkommen. Deswegen deute ich das Weglassen dieses Konzeptes als Vereinfachung und Vertuschung von historisch-kultureller Alterität und als Instrument der ideologischen Manipulation.

ÄSTHETISCHE ALTERITÄT Die Frage des Umgangs mit dem ästhetisch Anderem ist für die moderne ukrainisch-deutsche Übersetzung besonders wichtig, weil ukrainische und deutsche Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise unterschiedliche Wege gegangen sind. Während in der deutschen Lyrik auf gereimte Verse verzichtet wurde, entwickelte die ukrainische Literatur eine Vielfalt von Varianten in der Lyrik. Insbesondere die Dichtergeneration der 1960er Jahre brachte neue und radikale Formen in die Literatur ein. Mehrere Autoren sind der Tradition der ukrainischen Lyrik treu geblieben und, obwohl in ihren Versen neue Themen und Motive anklangen, bedienten sie sich des traditionellen Reims und Metrums. Auch ein Teil der jüngeren Lyriker verzichtet bis heute nicht auf die traditionellen Formen. Für ukrainisch-deutsche Übersetzer der Gegenwart ergibt sich daraus die Notwendigkeit der Entscheidung, metrisch oder mit freien Versen zu übersetzen. Ein Übersetzer ukrainischer Lyrik, Alois Woldan, nahm im Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Band Der zweite Anlauf. Ukrainische Literatur heute zu diesem Problem explizit Stellung:

18 Gemeint ist der Vertrag von Perejaslav (1654), der in der Sowjetzeit als Wiedervereinigung zwischen Russland und der Ukraine gedeutet wurde.

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»So wie die ukrainische Dichtung wesentlich lyrische Dichtung ist, so ist die ukrainische Lyrik bis in die Gegenwart primär in gebundener, syllabotonischer Form verfasst, was für eine Übersetzung Probleme mit sich bringt − kennt doch die deutsche zeitgenössische Lyrik seit Jahrzehnten so gut wie keine gebundene Form mehr. Der Übersetzer ist also in diesem Fall zwischen den Prinzipien der Adäquatheit, die für eine gebundene Form in der Ausgangssprache eine ebensolche in der Zielsprache sucht, und der Äquivalenz, welche die Konvention der freien Verse in der Lyrik der Zielsprache als gleichwertig erachtet, hin und her gerissen. Im Falle dieser Auswahl fiel die Entscheidung zugunsten des ersten Prinzips, der Verzicht auf Reim und Rhythmus schien unzulässig, will man den vollen stilistischen Effekt des Originals wiedergeben […].« (Warter/Woldan 2004: 187).

Ungeachtet der so eindeutig erklärten Strategie gelingt es dem Übersetzer nicht immer, sich an sie zu halten: Des Öfteren sind das Versmaß und entsprechend der Rhythmus anders, die Reime des Originals werden nur teilweise wiedergegeben: »Як ми ходимо обоє

»Wie wir beide so gehen

нетрями старого дому!...

herum in dem alten Haus!...

Гобелени і гобої

Gobelins und fremde Tapeten

славлять пару невідому,

Spenden uns stillen Applaus,

ніби бачать

als ob sie unsere

нашу змову:

Verschwörung ahnten:

кожен дотик −

jedes Hingreifen hat

теплий спалах.

ein Feuer entflammt.

І тоді ми знову (й знову)

Wir aber gingen wieder (und wieder)

переходимо

aufeinander vorbei

в дзеркалах.«

im Spiegel an der Wand.« (Ebd. 2004: 18f)

In diesen Zeilen wird sichtbar, dass der Preis des schönen, genauen Reims, z.B. »Haus – Applaus«, eine metrische und lexikalische Untreue ist. Insbesondere fällt ins Auge, dass der Übersetzer präsente Verbformen durch Vergangenheitsformen ersetzt, was dem Gedicht einen ganz anderen Klang verleiht: Während der Leser des Originals mit den Protagonisten des Gedichts quasi durchs Haus geht und alles unmittelbar mitfühlt, erzählt der Übersetzer eine Erinnerung an das durch das Haus Gehen. Frische Reime, mit denen

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Woldan die fremde lyrische Ästhetik markiert (»Nacht − aufgemacht«, »zwinkert er – hinterher«, »ahnen − Schwanen«, »Holunderstrauch − Skorpionenbauch«) scheinen ihm ein ausreichendes Mittel zu sein, um dem Leser klar zu machen, dass die Verse in einer anderen Tradition geschrieben wurden. Andere Übersetzer, die mit der modernen ukrainischen Poesie arbeiten, verzichten auf den Reim und das Metrum. Man könnte annehmen, dieses Vorgehen sei im Zuge der Annäherung an die Bilder und den ›Geist‹ des Ausgangstextes gewählt worden. Aber wie die nächste Übersetzung belegt, wird es ausschließlich zum Zweck der Annäherung an die Zielkultur und eigene Poetik unternommen: »Ти поїзд, що палаюче вино Проллєш на тіло, Аби несамовитіше воно Палахкотіло.« »du selber bist die garnitur die ruckt und heißen wein dir übern körper schwappt so dass noch mehr außer sich gerät der arme und hell zu lodern anfängt« (Thill 2006: 102f.)

Das oben angeführte Gedicht der ukrainischen Lyrikerin Natalka Bilocerkivec’ kann man eher als eine Inspiration für die daneben stehende Nachdichtung von Oskar Pastior sehen: Expressive, formale, stilistische, graphische und akustische Seiten des Ausgangs- und Zieltextes unterscheiden sich. Das führt zu der Überzeugung, dass eine fremde Literatur noch weitere Wege zum Leser findet: Mit dem Namen bekannter Dichter, die zwar das Werk der Ausgangliteratur annektieren und dem eigenen Stil unterordnen, es aber auch propagieren und gewissermaßen kanonisieren.

F AZIT Ukrainisch-deutsche Übersetzungen haben mit kultureller, sprachlicher und ästhetischer Alterität zu tun. Unkenntnis, Nichtbeachtung oder falsche Interpretation historisch-kultureller Bezüge sowie bewusste Verfälschung oder

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Unterlassung von Markern der anderen Kultur können das Bild der Ausgangskultur verzerren oder ›unterschieben‹, was auf den ersten Blick aus Sicht der Zielkultur nicht immer bemerkbar ist. Das angemessene Bewahren fremder Elemente in der Übersetzung sichert das Interesse des Lesepublikums und wird als Anregung zum Kennenlernen anderer Kulturen genommen.

L ITERATUR Amazon (2013) = Kundenrezensionen zu Darina, die Süße. Roman. Mit einem Nachwort von Andrej Kurkow (Gebundene Ausgabe). URL: http://www.amazon.de/product-reviews/3709970067 [5.10.2015]. Bachmann-Medick, Doris (1997): Einleitung: Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. In: dies. (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: E. Schmidt, S. 1-18. Dies. (2004): Von der Poetik und Rhetorik des Fremden. Zur Kulturgeschichte und Kulturtheorie des Übersetzens. In: Frank, Armin Paul & Horst Turk (Hg.): Die literarische Übersetzung in Deutschland. Studien zu ihrer Kulturgeschichte in der Neuzeit. Berlin: E. Schmidt, S. 153-192. Bodenstedt, Friedrich (1845): Die poetische Ukraine. Eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder. Ins Deutsche übertragen von Friedrich Bodenstadt. Stuttgart, Tübingen: Cotta’scher Verlag. Göbner, Rolf (1980): Eine beispiellose Hochzeit. Ukrainische Erzählungen aus neun Jahrzehnten. Berlin: Volk und Welt. Holdenried, Michaela (2004): Künstliche Horizonte: Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas. Berlin: Erich Schmidt. Hončar, Oles (1985): Morgenröte. Berlin, Weimar: Aufbau. Jauss, Hans Robert (1977): Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. In: ders.: Gesammelte Aufsätze. 1956-1976. München: Fink, S. 9-47. Kroeber, Burkhart (2008): Soll die literarische Übersetzung verfremden oder einbürgern? Ein Plädoyer für wohltemperierte Modulation. In: Hertel, Dietmar & Felix Mayer (Hg.): Diesseits von Babel. Vom Metier des Übersetzens. Köln: SH-Verlag, S. 99-102.

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Übersetzungen in der geschrumpften literarischen Welt der Sowjetukraine C HRYSTYNA N AZARKEVYČ Die Haltung der sowjetischen Literaturwissenschaftler gegenüber dem Schaffen dieses Autors ist im Heft 13 der Zeitschrift Kommunist

des

Zentralkomitees

der

KPdSU formuliert.1

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, welchen Prozess ein Text wie Kafkas Vor dem Gesetz (Pered bramoju zakonu) durchlaufen musste, um von »Glavlit«, der sowjetischen Hauptverwaltung in Sachen Literatur und Verlagswesen, genehmigt zu werden. Geschulte Parteifunktionäre reagierten auf jedes kritische Wort: Keine Textstelle war möglich, in der man auch nur einen Hauch von Kritik an den sowjetischen Lebensverhältnissen, an der kommunistischen Ideologie oder an der sozialistischen Ästhetik hätte erraten können. Dass Sex und Religion stillschweigend zu den herauszensierten Themen gehörten, überrascht nicht. Was geschah aber mit Werken, die in der literarischen Welt zu bekannt waren und daher im literarischen Kontext der UdSSR nicht einfach fehlen konnten? Wenn die Übersetzung eines nicht sozialistisch-realistischen Werks, trotz aller Hindernisse, gedruckt wurde,

1

Vermerk zu den Kafka-Übersetzungen in der Zeitschrift Vsesvit (1963b: 2). [Alle Übersetzungen aus dem Ukrainischen sind, wenn nicht anders vermerkt, von der Autorin angefertigt worden.]

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musste sie mit entsprechenden rezeptionssteuernden Kommentaren versehen werden. Ein Paradebeispiel dafür ist die ukrainische Kafka-Übersetzung in der Zeitschrift Vsesvit, die vor begleitenden Paratexten nur so strotzt. Die Entstehungsgeschichte dieser Publikation wird im vorliegenden Beitrag eingehend dargestellt. Die Verlagszensur in den Ostblock-Ländern war Teil des politisch-ideologischen Systems (dazu z.B. Burkhart 1996: 173ff.). Allerdings gab es zwischen den einzelnen sozialistischen Ländern und sowjetischen Republiken Unterschiede in der Strenge und Konsequenz der Zensur. Die Ukraine war schon immer ein ›Sorgenkind‹ des Russischen Imperiums und später der Sowjetunion, deshalb waren hier die Zensurbehörden besonders ›wachsam‹. »Es herrschte in der Ukraine eine größere Beklemmung als in Moskau bzw. Leningrad […] die Ukraine konnte ihre Selbständigkeit inmitten von diesem Imperium, sei es das Russische oder das Sowjetische, nicht finden. […] Außerdem wurde die Beklemmung natürlich durch die Nähe des Ukrainischen zum Russischen gesteigert.« (Zatons’kyj 2002)

Zwar waren Übersetzungen ins Ukrainische unter Stalin nicht verboten, wie es bis Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Emser Erlass von Zar Aleksander II. (1876) noch der Fall gewesen war, jedoch wurden sie auch nicht gefördert. In der berüchtigten Zeitspanne 1937-1957 musste die Redaktion der Kultur- und Übersetzungszeitschrift Vsesvit ihre Tätigkeit einstellen. In diesen Jahren entstand die Institution der Sondermagazine (ukrainisch »Spezfond«) in den staatlichen Bibliotheken: In den Spezfonds landeten nach der Eingliederung der westukrainischen Gebiete zur Sowjetukraine beinahe alle originalen und übersetzten Werke, die nicht in der Sowjetzeit oder nicht auf sowjetischem Boden entstanden waren. Die Situation der übersetzten Literatur in den Nachkriegsjahren, die ausschließlich nach einer besonderen Genehmigung der sogenannten »Ersten Ideologieabteilung« im Lesesaal des Sondermagazins gelesen werden durfte, war absurd, wenn man bedenkt, dass unter die verbotenen Werke auch etwa jene von Karl May fielen, weil sie in den 1920er Jahren in Galizien übersetzt worden waren. Auch Werke Erich Maria Remarques – der allerdings später zu einem in der Sowjetunion besonders gefeierten nicht sozialistischen Autor wurde – waren von der Zensur betroffen, weil seine Frühwerke in der Sowjetukraine der 1920er Jahren erschienen waren:

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»Nach dem Krieg, als ich an meiner Dissertation zur europäischen Literatur des 1. Weltkrieges schrieb, konnte ich in der großen Korolenko-Bibliothek in Charkiv weder Hemingway noch Remarque im Katalog finden. So musste ich den Bibliotheksmitarbeiter danach fragen. Seine Gegenfrage war: ›Wozu brauchen Sie denn die Bücher?‹ Ich gab ihm zur Antwort, ich arbeite an einer Dissertation. ›Dann müssen Sie uns eine Bestätigung und Erlaubnis bringen‹. Erst danach wurde ich zum Dienstkatalog zugelassen, wo beide Autoren natürlich in der Kartei sofort zu finden waren.« (Zatons’kyj 2002)

Als nach Stalins Tod die kurze Tauwetter-Periode begann, besserte sich die Situation in gewisser Hinsicht. Es wurde mehr publiziert, mit Ausnahme der ideologisch angeblich ›gefährlichen Werke‹, was auch immer die Zensoren darunter verstanden. Jedenfalls wurde vielen deutschsprachigen Texten zum Verhängnis, dass sie aus ›kapitalistischen‹ Ländern stammten. So fehlte in den sowjetischen Editionen jener Zeit die Literatur aus Österreich und aus der Schweiz fast vollständig (vgl. Vsesvit 1963a). Ab 1958 spielte in der Sowjetukraine die neu aufgelegte Zeitschrift Vsesvit gerade auf dem Gebiet der literarischen Übersetzungen eine bedeutende Rolle. Die neue Redaktion stellte sich das ehrgeizige Ziel, jene Werke ins Ukrainische zu übersetzen, die es noch nicht auf Russisch gab (was angesichts der Dominanz der russischen Verlage und Übersetzer sowie einer ständigen Zensur kein leichtes Unterfangen war). Einer der Vsesvit-Redakteure war der Literaturwissenschaftler Dmytro Zatons’kyj2 (1922-2009), der de facto eine Doppelrolle im damaligen Literaturbetrieb spielte. Einerseits verhalf er mit seiner Parteiautorität etlichen deutschsprachigen Werken zur Publikation, andererseits aber gehörte es zu seinen Parteipflichten, für die ›richtige‹ Rezeption zu sorgen. Das kann am Beispiel der ersten sowjetischen Kafka-Publikation veranschaulicht werden. Bevor im Dezember 1963 die ersten in der Sowjetunion zu Papier gebrachten Kafka-Zeilen ihre Leser erreichten, verstrich eine lange Vorbereitungszeit. 1959 publizierte Zatons’kyj in der zentralen Moskauer Zeitschrift für übersetzte Literatur Inostrannaja literatura (Ausländische Literatur) seinen Artikel Smert’ i roždenie Franca Kafki (Tod und Geburt von Franz Kafka; Zatonskij 1959), der allerdings, wie alle ›analytischen‹ Texte jener

2

Die Schreibweise des Namens variiert hier je nachdem, ob es um seine ukrainische (Zatons’kyj) oder russische (Zatonskij) Publikation geht.

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Zeit, einen doppelten Boden hatte. Er war zwar mit den üblichen Formulierungen gespickt (»Kafkas Angst vor der Lebenswahrheit«, »der hirnverbrannte fieberhafte Roman Das Schloss«, »im Lager der Erzreaktion«, »gerichtet gegen die große Lehre des Marxismus-Leninismus«, »Kafkas Schaffen ist eine Sackgasse, oder genauer ein Labyrinth ohne jeglichen Ausgang«), gleichzeitig aber informierte er über Kafkas wichtigste Werke und zitierte aus ihnen, lange bevor man diese erhalten konnte. Für die meisten Sowjetleser war dies der einzige Berührungspunkt mit Kafkas Literatur. Als dann im August 1963 in Leningrad das Treffen der europäischen Autoren und Autorinnen stattfand, bei dem u.a. Hans Magnus Enzensberger, Nathalie Sarraute oder Jean-Paul Sartre die Verschlossenheit der sozialistisch-realistischen Sowjetliteratur kritisierten und dabei der Name Kafkas laut wurde, war der Boden für die ersten Übersetzungen vorbereitet (vgl. Iz vstreči 1963). Man darf hierbei nicht vergessen, dass 1963 Kafkas 80. Geburtstag war und dass im Mai desselben Jahres sein Werk zum ersten Mal im (sozialistischen) Prag groß gefeiert wurde. Im Dezember 1963, zum Abschluss der Tauwetterperiode, erschienen in der ukrainischen Zeitschrift Vsesvit schließlich die besagten Übersetzungen, die den Literaturprozess in der Sowjetunion revolutionierten. Natürlich wurden sie mit Begleitkommentaren versehen: einer Anmerkung gleich auf der ersten Seite im Inhaltsverzeichnis (s. Motto des Beitrags), einem redaktionellen Vorwort von Dmytro Zatons’kyj mit dem Titel Franz Kafka, jakym vin buv u dijsnosti (Franz Kafka, wie er in Wirklichkeit war) sowie mit weiteren redaktionellen Kommentaren zu jedem einzelnen der insgesamt fünf Texte dieses angeblich »bourgeoisen«, der sowjetischen Wirklichkeit »absolut fremden« Autors. In seinem Vorwort machte Zatons’kyj mit merklichem Stolz auf die Pionierleistung seiner Zeitschrift aufmerksam: »In der Sowjetunion ist Kafkas Schaffen unbekannt, bisher ist keine einzige Zeile von ihm erschienen, weder auf Russisch noch auf Ukrainisch noch in sonst einer Sprache (mit Ausnahme jener kurzen Zitate in den Beiträgen über ihn). Natürlich geht es nicht um ein Verbot seitens des Kreml, wie von manchen Kritikern behauptet wird […] wir machen den sowjetischen Leser mit Kafka bekannt.« (Zatons’kyj 1963: 67)

Hiernach besinnt sich Zatons’kyj jedoch wieder auf die Meinung des Zentralkomitees der KPdSU (Vsesvit 1963b: 2), wonach Kafka in der Darstellung des Menschen über hundert Jahre hinter der Sowjetliteratur zurückliegt:

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»Kafkas Schreibweise ist uns dermaßen fremd, sie ist dermaßen fern der realistischen Tradition unserer Literatur, dass seine Texte bei uns, auch nachdem der ›KafkaBoom‹ angefangen hat, nicht einmal bemerkt wurden« (Zatons’kyj 1963: 67).

Erst nach dieser Erklärung folgt die Auswahl von Kafkas Texten: Abgedruckt war das erste Kapitel des Amerika-Romans Der Heizer, dazu noch Die Verwandlung, Der Kübelreiter, Vor dem Gesetz mit einem anschließenden Auszug aus dem Roman Prozeß bis hin zu der Romanstelle »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht« sowie ein kurzer Auszug aus dem Werk Beim Bau der Chinesischen Mauer (Vsesvit 1963b: 69-85). Was an der visuellen Gestaltung der Texte sofort auffällt, ist der Versuch, bereits mit der Schriftgröße die Haltung des Lesers zu lenken: Während die Texte in Vsesvit gewöhnlich in Schriftgröße 12 gesetzt sind, ist die Einleitung in Schriftgröße 14 und mit viel breiterem Zeilenabstand gehalten. Die Übersetzung von Jevhen Popovyč (1930-2007) steht hingegen in Schriftgröße 10 und mit minimalem Zeilenabstand, wie es sonst nur für Fußnoten üblich ist. Die Teilung der Seiten mit Kafka-Texten in zwei schmale Spalten erschwert die Lektüre weiter. Jeder der abgedruckten Texte wird zusätzlich von einem Extrakommentar begleitet, in dem fast leitmotivisch die verrenkte Welt Kafkas beschworen wird (z.B. Vsesvit 1963b: 87). Ähnlich gestaltet, allerdings in normaler Schriftgröße, erschien einen Monat später, im Januar 1964, die erste Kafka-Publikation auf Russisch in der Zeitschrift Inostrannaja literatura in der Übersetzung von Solomon Apt und mit einem Nachwort von Evgenija Knipovič, in dem sie feststellt, dass Kafka, der »Zeitgenosse der Oktoberrevolution«, nicht bemerkt habe, dass sich »aus den Gräben des Ersten Weltkrieges Leute erhoben, die den Beschluss fassten, die Vergangenheit loszuwerden« (Knipovič 1964: 197). Die Oktoberrevolution wurde in der sowjetischen Rezeption zu einer Achse, um die sich die Literatur im 20. Jahrhundert drehte. Beachtung fanden nur jene Autoren und Autorinnen, die »die Große Sozialistische Oktoberrevolution« »verstanden« und »begrüßt« haben (vgl. Istorija 1984: 4). Beinahe in jeder ›literaturkritischen‹ Publikation wurde der Einfluss der Oktoberrevolution »auf den Literaturprozess in der ganzen Welt, auf die Nationalliteraturen in Frankreich, Deutschland, England und Irland, Südamerika, den USA, Bulgarien, Polen und der Tschechoslowakei« (ebd.) hervorgehoben. Die Autoren, die die Oktoberrevolution nur wenig zur Kenntnis genommen haben (z.B. Paul Eluard, James Joyce, Franz Kafka, Marcel Proust, T. S.

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Eliot und einige andere), werden nur beiläufig erwähnt. Der ›Objektivität‹ halber wurde zumindest eingeräumt, dass sie manchmal auch nicht ganz so ›schädliche‹ Werke verfasst haben: »Es ist offensichtlich, dass aufgrund der Kompliziertheit der Moderne eine differenzierte Annäherung an deren Vertreter wie auch an deren einzelnen Bücher erforderlich ist, denn in der Praxis wies das Schaffen der Modernisten ein widersprüchliches Bild auf: ein und derselbe Künstler schuf sowohl verkrüppelte, antihumane Werke als auch humanistische und realistische (Proust, Joyce). Eine Differenzierung wird bei der richtigen Einschätzung des jeweiligen Autors sowohl in der jeweiligen Nationalliteratur als auch im Literaturprozess weltweit von Nutzen sein.« (Istorija 1984: 10)

Gerade der Mangel an Differenzierung wird in einer Rezension dem einflussreichen Buch Zatons’kyjs über die Weltliteratur im 20. Jahrhundert angelastet, das 1979 im Moskauer Verlag Sovjetskij pisatel’ erschien: »Der gleiche Ton in der Bewertung von Werken und Autoren unterschiedlicher Gruppen ruft inneren Protest hervor. […] Der unvorbereitete Leser muss erklärt bekommen, dass zum Beispiel Hermann Hesse, Thomas Mann und William Faulkner einerseits und etwa Ingeborg Bachmann, Martin Walser und Max Frisch andererseits Erscheinungen unterschiedlicher Künstlermaßstäbe sind.« (Archypov 1979: 186)

Schaut man sich die Auflagenzahlen unterschiedlicher Texte an, so wird die geforderte »Differenzierung« zwischen den verschiedenen Richtungen besonders deutlich. Für erfahrene Leser bestand schon in der unterschiedlichen Auflagenzahl von 30 000 und 150 000 Exemplaren der erste Hinweis auf die Differenzierung der »Künstlermaßstäbe«, wenngleich sie ganz anders aufgefasst wurde, als von den Mächtigen im Literaturbetrieb beabsichtigt. Auch weitere Informationen über den Wert der Werke konnte man zwischen den Zeilen lesen: Je flüchtiger ein Autor erwähnt wurde, je deutlicher sein ›fehlerhaftes Erfassen der historischen Prozesse weltweit‹ im Begleitwort betont wurde, je kleiner die Auflage, desto wertvoller waren der Text und der Autor. Im Folgenden werde ich die Brežnev-Epoche nach Chruščovs Tauwetterperiode, die als Stagnation bezeichnet wird, anhand der im Vsesvit aufgezählten Übersetzungspublikationen in der Sowjetukraine charakterisieren. Im Blickpunkt steht dabei der Zeitraum von 1972 bis 1982, dem Jahr von Brežnevs Tod. 1972 begann Vsesvit mit einem alljährlichen Überblick über

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literarische Übersetzungen ins Ukrainische. Das Merkwürdige beim Vergleich der Publikationsaktivität in diesem Jahrzehnt ist, dass die österreichische und Schweizer Literatur fast komplett fehlt: Von den österreichischen Autoren erschienen nur Karl Emil Franzos, Rainer Maria Rilke und Stefan Zweig. Um die Literatur aus der Schweiz war es noch spärlicher bestellt: 1978 wurde Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse, mit dem obligatorischen Vorwort und Kommentaren versehen, in einer Auflage von 30.000 Exemplaren publiziert und wurde in der Sowjetunion sofort zu einer bibliographischen Rarität.3 Die Bücher aus Deutschland wurden immer streng nach ›progressiver‹ DDR-Literatur und einer ›objektiven‹ Auswahl von BRD-Autoren unterschieden. Den Kern der Übersetzungen aus dem Deutschen bildet die DDRLiteratur. Um die Dynamik der Übersetzungstätigkeit bezüglich der Literatur aus der DDR und der BRD zu verdeutlichen, wird hier die Titelzahl auf die Jahre verteilt dargestellt, wobei die erste Zahl nach der Jahreszahl die ›progressive‹ DDR-Literatur markiert und die zweite für die Zahl der Büchertitel aus dem ›feindlichen‹ Westdeutschland steht: 1972

5 : 0 (Vsesvit 1973: 181)

1977

1973

6 : 1 (Vsesvit 1974: 182)

1978

5 : 0 (Vsesvit 1978: 206) 3 : 2 (Vsesvit 1979: 209f.)

1974

3 : 0 (Vsesvit 1975: 214)

1979

7 : 2 (Vsesvit 1980: 235f.)

1975

4 : 1 (Vsesvit 1976: 203)

1980

2 : 2 (Vsesvit 1981: 193)

1976

5 : 2 (Vsesvit 1977: 192f.)

1981

4 : 1 (Vsesvit 1982: 190f.)

Durchschnittlich kann man von einer Zahlenverteilung von 4 zu 1 sprechen. Hinsichtlich der literarischen Qualität lassen sich deutliche Unterschiede feststellen: Unter den Büchern aus der DDR stehen neben den Theaterstücken von Bertolt Brecht, den Erzählungen von Anna Seghers und Erwin Strittmatter auch zwei biographische Romane von Gerhard Hardel über Karl Marx’ Ehefrau (Jenny) und über Friedrich Engels (Marie und ihr großer Bruder) – mit einer Auflagenhöhe von 115.000 und 100.000 Exemplaren. Bei der Auswahl der westdeutschen Werke für die Publikation spielte die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft eine nicht geringe Rolle. Unter den ohnehin wenigen BRD-Titeln fällt die dreifache Präsenz des Autors James

3

Diese und weiter angeführten Angaben betreffen nur den ukrainischen Büchermarkt, nicht die Zeitschriftenpublikationen.

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Krüss auf, zuerst mit dem Werk Die sprechende Maschine, das 1973 in einer Auflage von 115.000 Exemplaren erschien (und 1976 in derselben Auflagenhöhe neu verlegt wurde), und 1979 mit dem Roman Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen (das Buch wurde übrigens in der Sowjetunion sogar zweimal verfilmt). Unter den restlichen sechs Titeln findet sich Siegfried Lenz mit dem Roman Deutschstunde (in einer Auflagenhöhe von 115.000). Ein kleiner Rest der publizierten deutschsprachigen Literatur bestand aus den Werken von Autoren, deren nichtsozialistische Weltanschauung dadurch entschuldigt werden konnte, dass sie ihre Werke hauptsächlich vor der Oktoberrevolution verfasst haben oder nicht in der BRD lebten. Das waren in den Jahren 19721982 Heinrich Heines Lyrik, Goethes Faust (in der hervorragenden Übersetzung von Mykola Lukaš (1919-1988), die bis heute als unübertroffen gilt), Schillers Ästhetik (Auflagenhöhe 6.000), Thomas Manns Buddenbrooks (mit einer stolzen Auflagenhöhe von 150.000 Exemplaren) und Novellen (in der bescheideneren Auflage von 65.000). E.T.A. Hoffmanns Novellen wurden mit einer Auflage von 30.000 Exemplaren noch weniger geschätzt. Allerdings konnte weder Thomas Mann noch einer der DDR-Autoren die atemberaubende Auflagenhöhe Remarques übertreffen: Dessen Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben wurde 1974 in 165.000 Exemplaren gedruckt (Vsesvit 1975: 214). Auch im Jahrzehnt der härtesten ideologischen und ästhetischen Kontrolle finden sich unter den Übersetzungen aus dem Deutschen in der Zeitschrift Vsesvit wahre Juwelen wie Lyrik von Georg Trakl (H. 10/1975) und Paul Celan (H. 6/1978). Im Text der Literaturwissenschaftlerin Maryna Novikova, der Celans Publikation begleitet, begegnet man dem Wort ›jüdisch‹ kein einziges Mal, was natürlich auch als eine Art Zensur bzw. Selbstzensur verstanden werden muss. Die 1970er Jahre waren durch die Unterbrechung der sowjetisch-israelischen diplomatischen Beziehungen gekennzeichnet. Die sowjetische Staatspolitik war antisemitisch gefärbt und einen Autor mit dem Judentum in Verbindung zu bringen, konnte zu einem Publikationsverbot führen. Außerdem ist es nicht verwunderlich, dass bei der Erwähnung der Übersetzungstätigkeit von Paul Celan Osip Mandel’štam nicht genannt wird, dessen Name aus der damaligen sowjetischen Literaturgeschichte gänzlich getilgt wurde (vgl. Novikova 1978, 175-180).

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Zwei überaus wichtige Prosapublikationen in der Zeitschrift Vsesvit während dieser Periode müssen unbedingt erwähnt werden, da sie zu den bedeutenden zeitgenössischen Meilensteinen ukrainischer Übersetzungen aus dem Deutschen wurden: 1972 erschien in den Heften 5-7 eine gekürzte Version des Romans Gruppenbild mit Dame von Heinrich Böll.4 Das war der zweite unionsweite Vsesvit-Erfolg nach der Kafka-Publikation, denn die ukrainische Übersetzung von Gruppenbild erschien vor der russischen Übersetzung, die sich, ähnlich wie vorher die Kafka-Übersetzung, um einige Monate verspätete. Böll erhielt in diesem Jahr den Nobelpreis für Literatur. Nur einige Jahre später wurden die Publikationen von Bölls Werken in der Sowjetunion wegen seines Engagements für die sowjetischen Dissidenten Aleksandr Sol’ženicyn, Lev Kopelev und Vasyl’ Stus bis in die Zeit der Perestrojka verboten. 1981 erschien im Vsesvit der Roman Zipper und sein Vater von Joseph Roth; das war die erste Bekanntschaft der Ukrainer mit diesem in Galizien geborenen Autor. Dabei wurde sein Hotel Savoy noch 1927 von Marija Iltyčna übersetzt, einer Übersetzerin aus dem Deutschen und dem Englischen (sie war u.a. auch Vsesvit-Mitarbeiterin), wurde aber in die Spezfond-Regale verbannt und blieb den meisten Lesern daher völlig unbekannt. Die Geschichte dieser Publikation ähnelt derjenigen von Kafka: Fünf Jahre vor der Publikation selbst erschien auf den Seiten der Zeitschrift ein ›vorbereitender‹ Artikel zu Roths Schaffen (vgl. Zatons’kyj 1977). Der Name Zatons’kyj begleitete die ukrainischen Leser jahrzehntelang, er segnete beinahe alle ins Ukrainische übersetzten Publikationen deutschsprachiger Autoren mit seinen erklärenden Vor- oder Nachworten ab. Die ethische Frage nach der Verantwortung des Zensors, der er eigentlich war, relativiert sich, wenn man bedenkt, dass er die Veröffentlichungen überhaupt erst ermöglichte (vgl. Vološčuk 2009). Man kann die Rolle von solchen quasi mit dem System zusammenarbeitenden Wissenschaftlern hinterfragen (vgl. Wiesner 1991), aber ohne das Engagement solcher ›Diener zweier Herren‹ – der Partei und der Weltliteratur – wären viele Publikationen schlechthin unvorstellbar gewesen. Über die Situation in der Sowjetunion äußerte sich Zatons’kyj später verbittert in einem Interview: »Kultur und Ideologie sind keinesfalls das Gleiche; aber bei uns gab es natürlich eine solche Tendenz: Man sollte die Kultur nicht liquidieren, sondern hundertprozentig der

4

Anschließend wurde ein Artikel von Dmytro Zatons’kyj (1972) abgedruckt.

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Ideologie unterordnen. [...] Die Ideologie ist immer aggressiv (und war es in der UdSSR in einem besonderen Ausmaß), indem sie versuchte, die Kultur absolut unterzuordnen und zu ihrer eigenen Dienerin zu machen.« (Zatons’kyj 2002)

Diese der Ideologie verschriebene Epoche fand in den 1980er Jahren ihr Ende: »Glasnost’ machte das möglich, was Chruščovs Tauwetterperiode – die Zeit, in der man ›Doktor Živago‹ heimlich aus Russland in den Westen brachte – lediglich versprochen hat. Russische Leser konnten das Buch von Pasternak erst 1988 lesen, als Romanauszüge in der Literaturzeitschrift Novyj Mir veröffentlicht wurden«. (Robson 2014)

Am Ende der Sowjetzeit vollzog sich auch im Lektürehorizont der Sowjetukrainer eine Revolution. So erschien 1990, »zum ersten Mal in der Sowjetunion«, wie es auf dem Zeitschriftumschlag hieß, Ian Flemings Roman From Russia with Love über den Superagenten 007 aus dem fernen Jahr 1957 in ukrainischer Übersetzung. Auch diese Publikation wurde von einem Nachwort begleitet – von dem Übersetzer Valerij Hryzun unter dem Titel Čy potrebuje reabilitaciji James Bond? (Muss James Bond rehabilitiert werden?): »Diese wie auch etliche andere Fragen wurden früher auf dem Parteiolymp ohne jegliche Teilnahme der Leser beantwortet. Gerade dort oben meinte man zu wissen, welche Bücher die Volksmassen lesen dürfen und welche eben nicht, welche Filme sie sich anschauen dürfen und welche nicht etc. Eine der wesentlichsten Errungenschaften der Perestrojka besteht gerade darin, dass diese deformierte Logik sich endlich zu ändern beginnt und das Recht, solche Fragen zu beantworten, allmählich nach unten verschoben wird. In einem solchen Kontext ist die Veröffentlichung eines früher verbotenen Autors nicht nur das Füllen des nächsten weißen Flecks auf der literarischen Karte, sondern es ist das Zurückerobern eines neuen Territoriums von der Unfreiheit.« (Hryzun 1990: 78)

Rund 30 Jahre nach der ersten Kafka-Publikation war es wiederum Kafka, dessen Texte einen Wendepunkt in der Entwicklung des ukrainischen Literaturbetriebs markierten. 1993 wurden im Vsesvit Kafkas Erzählungen in der Übersetzung von Ivan Košelivec’ (1907-1999) publiziert. Er war langjähri-

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ger Redakteur der Exilzeitschrift für Literatur und Kultur Sučasnist’ (Gegenwart), die in München über Jahrzehnte hinweg für das Aufrechterhalten eines Literaturprozesses sorgte, der als Parallele zum offiziellen sowjetischen verstanden werden kann. Der Besitz von Košelivec’ Übersetzungen sowie der Hefte der Sučasnist’ hatte in der UdSSR als schwerwiegendes Delikt gegolten.5 Ein weiteres Beispiel für eine Wende in der Übersetzungslandschaft ist der Fall Rilke. Er gehörte zu den wenigen österreichischen Autoren, denen in der Sowjetukraine mit einer Publikation eine Ehre erwiesen wurde. Eine Auswahl aus Rilkes Lyrik (Rilke 1974) in der ukrainischen Übersetzung des Dichters Mykola Bažan (1904-1983), der in den 1940er Jahren mit zwei Stalin-Preisen für Literatur gegen jegliche Verdächtigungen, der Parteiideologie gegenüber nicht loyal zu sein, immun geworden war, war 1977 eine Herausforderung für die offizielle Lyrik und prägte mehrere Dichtergenerationen. Vervollständigt und erweitert wurde Rilkes Werk jedoch erst 1993, als Vsesvit Übersetzungen eines der wichtigsten Exilübersetzer aus dem Deutschen, Mychajlo Orest (1901-1963) veröffentlichte, dessen Name in der Sowjetzeit Tabu gewesen war. Der andere Rilke-Übersetzer war der Dissident Vasyl’ Stus (1938-1985), der Ende der Sowjetzeit in einem sibirischen Lager ums Leben gekommen war. Auch sein Name wurde den Ukrainern erst mit der Wende bekannt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und nachdem die Ukraine die Unabhängigkeit erlangt hatte, erlebte die Bücherbranche eine kurze, aber produktive Intensivierungsperiode: »Der Höhepunkt für den ukrainischen Buchmarkt war hinsichtlich der früher fehlenden europäischen und amerikanikanischen Autoren das Jahr 1992« (Rodyk 2013: 243). In jenem Jahr erschienen, so Rodyk, dreimal mehr Übersetzungen aus der Weltliteratur als original ukrainische Werke. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit erschienen dann

5

Für den Besitz der Werke der als ›Volksfeinde›‹ vernichteten bzw. emigrierten Autoren und Übersetzer (neben Ivan Košelivec’ sind Jurij Klen alias Oswald Burghardt, Mychajlo Orest, Jurij Luc’kyj u.a. zu nennen) drohte den Menschen eine langjährige Gefängnisstrafe. Die Ausgaben selbst landeten in den Spezfonds der Bibliotheken. Heutzutage haben die ehemaligen Spezialfonds-Bände eine neue Signatur mit der Abbreviatur RL: »rehabilitierte Literatur«.

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vor allem philosophische und psychologische Werke, die im marxistisch-leninistischen ideologischen Raum nicht einmal erwähnt werden durften: Nietzsche, Freud, Gadamer u.a. Die bisher unbekannten oder kaum bekannten Namen von Exilautoren wurden in Umlauf gebracht. Es gab viele Autoren zu entdecken. Das lückenhafte Übersetzen internationaler Literatur in der Sowjetukraine hatte nicht ohne weiteres zu schließende Wissensdefizite hervorgebracht, die zum großen Teil bis heute noch nicht vollständig gefüllt werden konnten.

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92 | C HRYSTYNA N AZARKEVYČ

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Kulturspezifische Elemente in Jo Nesbøs Roman Rotkehlchen Aus dem Norwegischen ins Slowenische, Englische und Deutsche T ANJA Ž IGON , M ARIJA Z LATNAR M OE

Im Mittelpunkt des Projektes »TransStar Europa« steht unter anderen auch das Ziel »ein allgemeines Publikum für Sprachen und Kulturen der beteiligten [ostmittel- und südosteuropäischen] Länder zu sensibilisieren« (TransStar 2014); es handelt sich dabei um die kulturellen Differenzen, von denen man profitieren kann, während man versucht »gemeinsame Überlappungsräume europäischer Kulturen zu schaffen« (ebd.). So wird auch im vorliegenden Beitrag der Frage nachgegangen, wie kulturspezifische Elemente aus der Ausgangssprache, und zwar aus einer »kleinen« bzw. »peripheren«, aus dem Norwegischen, in verschiedene Zielsprachen übersetzt werden. Von Interesse ist dabei einerseits die Übertragung von Realia aus einer Ausgangskultur mit wenigen Muttersprachlern in eine »größere« bzw. »zentrale« Sprache (Bachleitner/Wolf 2010: 16-17),1 im vorliegenden Fall in die englische

1

Norbert Bachleitner und Michaela Wolf stellen fest, dass die Übersetzungsströme die hierarchischen Verhältnisse auf dem literarischen Weltmarkt reflektieren. In ihrem Beitrag beziehen sich die Autoren auf die statistischen Berichte der UNESCO, aufgrund deren sich nach Heilbron (2000: 12) drei Gruppen von Sprachen unterscheiden lassen: zentrale, semi-periphere und periphere. Englisch und Deutsch, wie in unserem Fall, sowie Russisch und Französisch gehören zu den

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und deutsche, und andererseits, wie diese kulturellen Spezifika in eine weniger verbreite Sprache wie die slowenische2 transportiert werden. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Frage, ob und inwiefern die sprachliche und kulturelle Umgebung des Zieltextes die eventuellen Veränderungen des Ausgangstextes beeinflusst und zu welchen Anpassungen es in den Übersetzungen kommt, wenn diese vorhanden sind. Ferner werden die unterschiedlichen Übersetzungsstrategien und ihre Wirkung auf das Zielpublikum analysiert. Darüber hinaus werden auch die dialektalen Einschübe, die fremdsprachigen Passagen und deren Realisierung in der jeweiligen Zielsprache besprochen.

D ER R OMAN ,

SEIN

AUTOR

UND SEINE

Ü BERSETZER

Als Grundlage für die Analyse wurde der Roman Rotkehlchen (norw. Rødstrupe, engl. The Redbreast, slow. Taščica) von Jo Nesbø gewählt. Es handelt sich um den dritten Roman aus der erfolgreichen Krimireihe, deren Verbindungspunkt der depressive, alkoholkranke, aber doch knallharte und äußerst charmante Kommissar Harry Hole ist. Der Plot der Romane aus der Harry-Hole-Reihe ist der Nesbø-Leserschaft mittlerweile bekannt: Die genretypisch spannende Story dreht sich um einen Mörder, der die Bevölkerung

zentralen Sprachen, der größte Teil der seit 1980 angefertigten Übersetzungen weltweit stammt aus diesen Sprachen. Zu den semi-peripheren Sprachen gehören z. B. Spanisch, Italienisch, Dänisch, Polnisch und Tschechisch mit jeweils 1-3% der Übersetzungen, während Norwegisch und Slowenisch zweifelsohne zu den peripheren Sprachen zählen. 2

Slowenisch wird von ungefähr zwei Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen und Norwegisch bzw. die norwegischen Sprachen – es gibt zwei amtlich anerkannte sprachliche Standardvarianten, die die norwegische Sprache offiziell umfasst: Bokmål und Nynorsk (Braunmüller 1991: 146-169) – von etwa fünf Millionen Muttersprachlern. Die meisten Slowenen sprechen kein Norwegisch, die Sprache wird nicht gelehrt, es gibt auch kein Lektorat oder gar eine eigene Studienrichtung an der Universität. Das Gleiche gilt umgekehrt auch für das Slowenische in Norwegen.

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in Angst und Schrecken versetzt, beschreibt Katz- und Maus-Spiele, mit denen er die Polizei in Atem hält, und mündet letztendlich in einen atemberaubenden Countdown mit überraschendem Finale. Nesbø wurde mit seinem ersten Roman Flaggermusmannen (1997; slow. Netopir, engl. The Bat, dt. Fledermausmann) schlagartig berühmt und geriet über Nacht in die Ränge der beliebtesten skandinavischen Krimiautor_innen wie Lisa Marklund, Henning Mankell oder Anne Holt. Der Debütroman wurde im Erscheinungsjahr mit dem Riverton-Preis in der Kategorie Bester Krimi des Jahres (Stöcker 2011) und sein Autor ein Jahr darauf mit dem skandinavischen Krimipreis ausgezeichnet. Der internationale Durchbruch gelang Nesbø 2000 mit Rotkehlchen. Der Roman wurde im gleichen Jahr mit dem norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichnet, drei Jahre später (2004) vom Lesepublikum zum besten norwegischen Krimi aller Zeiten erklärt und 2007 für die Liste der ins Englische übersetzten Krimiautoren »Duncan Lawrie International Dagger« nominiert (Nesbø 2015). Heute ist Nesbø der erfolgreichste Autor Norwegens und in 17 Ländern mit seinen Büchern vertreten (Stöcker 2011). Alle neun bisher erschienen Bücher aus der HarryHole-Reihe wurden sowohl ins Englische als auch ins Deutsche übersetzt, ins Slowenische wurden bis dato vier Romane wie auch eines seiner Kinderbücher3 übertragen. Der Titel Rotkehlchen ist der Geheimsprache der Frontkämpfer im Zweiten Weltkrieg entlehnt, wo es einen ›Feind‹ bezeichnete, dem man mit dem Bajonett die Brust durchstochen hat. Die Geschichte des dritten Falls von Harry Hole ist auf den ersten Blick trügerisch einfach und unkompliziert, so lässt zumindest der Klappentext der deutschen Übersetzung vermuten. Der Osloer Kriminalbeamte Harry Hole wird auf einen Posten beim Staatsschutz versetzt. Eines Tages erhält seine neue Dienststelle Informationen über eine südafrikanische Spezialwaffe, die nach Norwegen importiert wurde. Harry Hole nimmt sich der Sache an und findet bald heraus, dass der Käufer ein alter Mann sein muss. Alle Spuren weisen in die Vergangenheit, auf eine Gruppe von Kollaborateuren, die während des Zweiten Weltkriegs an der Seite der Nationalsozialisten gekämpft haben. Offenbar haben diese Kräfte

3

In der Übersetzung von Marija Zlatnar Moe erschien 2012 im Verlag Didakta Nesbøs Doktor Proktors prompepulver (slow. Prdoprašek doktorja Proktorja; dt. Doktor Proktors Pupspulver).

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ein Attentat auf den norwegischen Thronfolger geplant. Es gibt viele potentielle Täter, alte und neue Nazis, und Harry Hole muss sich in einen tiefen und beängstigend brodelnden Sumpf begeben, um diesen Fall zu lösen. Die Handlung spielt sich zwischen zwei Zeitperioden ab, in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Vergangenheit und Gegenwart werden hier ineinander gelagert: Solange die Zeitzeugen unter uns leben, so die Kurzform des hier transportierten Gedankens, ist das Vergangene lebendig, nicht vergessen und nicht immer vergeben. So wird der Leser in Rotkehlchen mit der halbvergangenen norwegischen Geschichte konfrontiert, und zwar sowohl mit den Tätern als auch den Opfern des NSRegimes. Alte norwegische Veteranen werden einer nach dem anderen brutal ermordet und der überarbeiteten und überforderten Polizei rennt die Zeit im Wettlauf mit dem rachsüchtigen Attentäter davon. Wie schon auf der zeitlichen Ebene werden auch auf der räumlichen mehrere Orte miteinander konfrontiert: Norwegen, Österreich, die russische Front und Südafrika, darüber hinaus stehen aber auch noch die pakistanische Immigrantengemeinschaft und das norwegische Neonazi-Milieu im Vordergrund. So stellt der Roman den/die Übersetzer_in vor eine große Herausforderung, denn die Thematik ist nicht nur eng mit der norwegischen Geschichte verbunden, sondern involviert auch verschiedene (Sub-)Kulturen. Das Rotkehlchen war das erste ins Slowenische übersetzte Werk des norwegischen Autors: 2009 ist die Übertragung von Darko Čuden beim Didakta Verlag erschienen. Die deutsche Ausgabe erschien 2004 im Ullstein Taschenbuch Verlag in der Übersetzung von Günther Frauenlob, die englische Übertragung wurde 2006 vom Harvill Secker Verlag in der Übersetzung von Don Bartlett herausgegeben. Die Hauptsprache des slowenischen Übersetzers ist Deutsch. Darko Čuden arbeitet an der Abteilung für Germanistik, Niederlandistik und Skandinavistik der Philosophischen Fakultät in Ljubljana. Seine stärkste skandinavische Sprache ist Dänisch, Norwegisch lernte er während eines längeren Studienaufenthalts (Sommerschule) in Norwegen. Auch der englische und der deutsche Übersetzer haben Norwegisch eher en passant gelernt. Don Bartlett hat Deutsch, Französisch und Englisch studiert und besitzt einen Diplomabschluss im Bereich Übersetzung aus dem Deutschen ins Englische. Er hat als Lehrer in Deutschland und Dänemark gearbeitet und sein Dänisch nicht in Sprachkursen, sondern in der Alltagskommunikation gelernt. In einem Interview erklärte er, es wäre ein »real-life learning« gewesen und er

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habe es sehr genossen. Zu der gleichen Zeit hat er begonnen, Norwegisch und Schwedisch zu lernen; er bereiste jedes Jahr die skandinavischen Länder und studierte die norwegische Literatur (Smith 2014). Der deutsche Übersetzer, Günther Frauenlob, studierte Geographie in Freiburg, wo er auch seine Begeisterung für Norwegen entdeckte. Er hat Norwegisch ursprünglich nur gelernt, um mit den Menschen während seiner Norwegen-Urlaube besser kommunizieren zu können. Aus Neugierde las er auch viel norwegische Literatur, was ihn später dazu inspirierte, ein Werk aus dem Norwegischen ins Deutsche zu übersetzen (Bargon 2012).

D IE U NTERSUCHUNGSMETHODE UND DIE M AKROEBENE DER Ü BERSETZUNGEN In der vorliegenden Untersuchung liegt das Augenmerk vor allem auf jenen Kapiteln des Romans,4 in denen verschiedene Kulturen aufeinanderprallen. Es wurden Passagen ausgesucht, in welchen eine hohe Dichte von kulturellen Referenzen auf Norwegen herrscht und wo kulturspezifischen Bezeichnungen genannt werden, wie z.B. Namen von Produkten, Orten, Feiertagen, Medien usw. Die ausgewählten Kapitel wurden Satz für Satz in eine Tabelle übertragen und miteinander verglichen. Bereits auf den ersten Blick auf die Makroebene kann man feststellen, dass es in den Zieltexten (ZT) zu einer Reorganisation des Textes und zu etlichen Auslassungen kam. Während z. B. im norwegischen Ausgangstext (AT) ein Zitat aus den Christuslegenden (1904) der schwedischen Autorin Selma Lagerlöf dem Roman vorangestellt wird, ist dieses Motto in der slowenischen Übersetzung am Ende des Romans platziert.5 Das ist in der deutschen und in der englischen Übersetzung zwar nicht der Fall, doch sind hier andere Verschiebungen zu bemerken. Beispielsweise organisierte der englische Übersetzer den ZT in nur 107 (statt 118 im AT) Kapitel um.

4 5

Das sind die Kapitel 6, 7, 24, 26, 34, 38, 39 und 43. Dazu kam es wahrscheinlich aus pragmatischen Gründen, denn der Text wurde in den 1920er Jahren von der Übersetzerin Marija Kmet (1891–1974) ins Slowenische übertragen und wurde anscheinend erst nachträglich vor dem Druck hinzugefügt.

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Bevor wir zu der Analyse der Realia übergehen, sind hier noch einige allgemeine Bemerkungen zu den Übersetzungen zu machen. Die Sprache des AT ist das standardnorwegische Bokmål, daneben tauchen aber auch dialektale Varianten auf, der Oslo-Soziolekt und einige Elemente aus der Osloer Jugendsprache, die aber allesamt nicht in die jeweilige Zielsprache übertragen wurden. Als Besonderheit soll auch noch der Gebrauch der nichtnorwegischen Sprachen im AT und in den drei ZT hervorgehoben werden, vor allem im englischen und im deutschen. Wie erwartet, werden die deutschen Phrasen in der deutschen und in der englischen Übersetzung nicht mehr kursiv geschrieben, also könnte man davon ausgehen, dass die beiden Übersetzer alle von den Deutsch oder Englisch sprechenden Protagonisten stammenden Sätze im ZT verbessern, d.h. in die korrekte Hochsprache übertragen. Überraschenderweise werden aber im englischen Text nicht nur alle englischen Passagen verbessert (norw. Show me the way, kammerat.; engl. Show me the way to go, comrade.), sondern auch die deutschen korrigiert (norw. Fehl! Ich schiesse!; engl. Falsch! Ich schieße!), während der deutsche Übersetzer sowohl die deutschen (norw. So … Er ist hinüber zu den Russen geflohen?; dt. So … er hat sich also zu den Russen abgesetzt?) als auch die englischen Stellen aus dem norwegischen Original verbessert – was ihm allerdings nicht immer gut gelingt (norw. Say again?; engl. Say that again?; slow. Say again?; dt. Say it again!). Das passiert nicht nur, wenn es sich um die Mutterschprachler handelt, sondern auch, wenn die norwegischen Protagonisten Deutsch oder Englisch sprechen und die Fehler im Fremdsprachengebrauch eigentlich der Figurencharakterisierung dienen. Der slowenische Übersetzer dagegen entschied sich für eine ganz andere Strategie: Er bleibt dem AT treu und führt keine Verbesserungen ein, nicht einmal im Deutschen. Die englischen Konversationen mit Figuren aus Südafrika wurden dagegen weitestgehend (in allen ZT) nicht verbessert (norw. Spiking […], slow. Spikink […], engl. Spicking […]). Im untersuchten Korpus gibt es nur einen Fall, wo der englische Übersetzer den lokalen Ausdruck »Understand-izzit« (Nesbø 2000: 150) in das Standardenglische überträgt: »Is that right?« (Nesbø 2006: 211).

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Norwegisch

Slowenisch

Englisch

Passwort!

Harry Hole speaking.

Gluthaufen.

Haerri? Spiking?

Fehl! Ich schiesse!

Hello, may name is Constance Hochner.

Engelstimme! (S. 97)

How do you do Ms. Hochner? (S. 200)

Passwort!

Harry Hole speaking.

Gluthaufen.

Heri? Spikink?

Fehl! Ich schiesse!

Hello, may name is Constance Hochner.

Engelstimme! (S. 114)

How do you do Ms. Hochner? (S. 241)

Passwort!

‘Harry Hole speaking.’

Gluthaufen!

‘Herry? Spicking?’

Falsch! Ich schieße!

‘Harry.’ ‘Hello, my name is Constance

Engelstimme! (S. 132)

Hochner?’ ‘How do you do, Ms Hochner.’ (S. 283)

Deutsch

Passwort!

Harry Hole speaking.

Gluthaufen!

Härri? Spicking?

Falsch! Ich schieße!

Hello, my name is Constance Hochner.

Engelsstimme! (S. 105) How do you do Miss Hochner? (S. 215)

D AS F ALLBEISPIEL : R EALIA IN R OTKEHLCHEN Realia (Florin 1993: 122-128) oder Kulturausdrücke (Newmark 2000: 132150) sind Identitätsträger eines nationalen oder ethnischen Gebildes bzw. einer nationalen oder ethnischen Kultur (Markstein 2006: 288) – Vertreter verschiedener Kulturen stellen unterschiedliche Realitätsbezüge her und eignen sich unterschiedliches, kulturspezifisches Wissen von fremden Kulturen an. Um das Fremde und das Unbekannte verstehen zu können, muss man von den Interpretationsmustern der eigenen Kultur und Sprache Abstand nehmen und sich kritisch mit den kulturspezifischen Elementen einer anderen Kultur auseinandersetzen (vgl. Kadrić et al. 2010: 27-76). Wie bereits angedeutet, wimmelt es in Rotkehlchen von kulturspezifischen Elementen, die sich vor allem auf die Konsumgesellschaft, Massenmedien, Kunst (Musik und Film) oder Feiertage beziehen. Im Weiteren werden sie in vier Gruppen unterteilt:

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a) Elemente der globalen Kultur Die globalen und in Europa allgemein bekannten kulturspezifischen Benennungen wie der Markenname Nike, die Zigaretten Camel sowie Filmtitel wie Batman, The Bodyguard oder Fear and Loathing in Las Vegas werden nicht übersetzt, sondern in die jeweilige Übersetzung übernommen; die einzige Ausnahme stellt der Film The Godfather (Nesbø 2006: 156) dar: Im norwegischen AT wird der norwegische Titel Gudfaren genannt (Nesbø 2000: 114), in der slowenischen ZT wird er mit Boter (Nesbø 2009: 33) übersetzt, während der deutsche Übersetzer die Information scheinbar für unwichtig hält, sodass an der betreffenden Stelle lediglich ein altes Kinoplakat (Nesbø 2004: 33) erwähnt wird. Beim Getränk Coca-Cola schien es den Übersetzern dagegen wichtig, den Markennamen als Zitatwort mit der graphemischen Anpassung in die jeweilige Sprache zu übertragen (norw. en colaflaske, slow. steklenica kokakole, engl. a bottle of Coke, dt. Colaflasche). b) Elemente aus dem europäischen Kulturkreis Zu dieser Gruppe konnten nur wenige Beispiele gefunden werden, jedoch sind deren Realisierungen in den ZT äußerst interessant. Der Titel von Almodovars Film Todo sobre mi madre ist in allen ZT übersetzt, ausgenommen im englischen, was die Vermutung nahelegt, dass der englische Übersetzer Dan Barett Almodovar als einen Teil der internationalen Popkultur empfindet oder aber davon beeinflusst ist, dass er auch aus dem Spanischen (Smith 2014) übersetzt. Eine zweite Referenz im Text bezieht sich auf den deutschen Schauspieler Horst Tappert und seine Brille: Norwegisch

Meirik satte på seg Horst Tappert-brillene. (S. 122)

Slowenisch

Meirik si je nataknil očala Horsta Tapperta. (S. 146)

Englisch

Meirik put on his Oberinspektor Derrick glasses. (S. 169)

Deutsch

Meirik setzte seine Horst-Tappert-Brille auf. (S. 132)

Nur der englische Übersetzer war der Meinung, dass den meisten LeserInnen die Filmfigur des Oberinspektors Derrick in der gleichnamigen deutschen Krimiserie geläufiger ist als der Name des Schauspielers, der ihn verkörpert. Das gilt allerdings nicht für den norwegischen AT, denn die Serie wurde in der 1970er und frühen 1980er Jahren jeden Freitagabend im norwegischen

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öffentlichen Sender ausgestrahlt. Darüber hinaus verbrachte Tappert seine Ferien gerne in Norwegen, und wenn dort von einer Fernseh-Persönlichkeit aus dem Ausland die Rede war, kam Tapperts Name immer wieder ins Spiel. Alle älteren Elemente der europäischen Kultur, wie z.B. Csardas (der ungarische Nationaltanz) oder das Wiener Wahrzeichen Stephansdom bleiben in allen Texten unverändert, abgesehen von der Lehnübersetzung »Štefanova katedrala«6 im Slowenischen, was sich historisch begründet lässt, denn die Slowenen waren bis zum Zerfall des Habsburgerreiches im österreich-ungarischen Staates. c) Entertainment: TV-Serien, Reality-Shows und Pop-Musik Während sowohl im AT als auch in allen Übersetzungen bekannte Musikgruppen wie Queen als Zitatwort vorkommen und auch Titel von Sendungen wie The Oprah Winfrey Show nicht übersetzt werden, sucht man für die norwegische Reality-Show The Robinson Expedition (Robinson-ekspedisjonen) nach den möglichen Analogien in den Zielkulturen. Die populäre norwegische Reality-Show wurde zum ersten Mal 1999 ausgestrahlt und folgte dem Format, das zunächst in Schweden und Dänemark großen Erfolg hatte. Der Titel verweist sowohl auf Robinson Crusoe von Daniel Defoe als auch auf die Robinsonade Der Schweizerische Robinson (im englischen Sprachraum als The Swiss Family Robinson bekannt), eine Show, die von Defoes Roman inspiriert ist: 16 Teilnehmer_innen müssen in zwei Teams auf einer Insel überleben und werden dabei diversen Herausforderungen ausgesetzt. Am Ende jeder Episode wird ein Teilnehmer bzw. eine Teilnehmerin herausgewählt. Dieses Prinzip kennt man auch aus der Reality-Show Big Brother – was wahrscheinlich der Grund ist, warum sich der deutsche und (wohl unter seinem Einfluss) auch der slowenische Übersetzer für eine Analogieübersetzung entschieden haben, obwohl Harry Hole zur Zeit seiner RotkehlchenErmittlungen sich im »Scheißprogram von TV3« (Nesbø 2004: 38) gar nicht Big Brother hätte anschauen können, denn die erste norwegische Produktion der amerikanischen Show wurde erst 2001 ausgestrahlt. The Robinson Expedition hätten alle Übersetzer auch als Survivor übersetzen können, denn in unzähligen Ländern (auch in Deutschland, in den USA, in Großbritannien

6

Der slowenische Übersetzer ist teilweise inkonsequent, denn ab und zu kommt im slowenischen Text auch die Benennung »Stephansdom« vor.

102 | T ANJA ŽIGON , M ARIJA ZLATNAR M OE

und in Slowenien) wurde die norwegische Robinson-Show unter diesem Titel importiert. Norwe-

Harry tenkte at om han hadde vært deltager på Robinson-ekspe-

gisch

disjonen hadde det ikke tatt mer enn en dag før alle hadde merket hans dårlige karma og sendt ham hjem etter første rådsmøte. (S. 36)

Slowenisch

Harry je pomislil, da če bi sodeloval pri Big Brotherju, ne bi trajalo več kot en dan, preden bi vsi opazili njegovo slabo karmo in bi ga po prvem posvetovalnem sestanku poslali domov. (S. 38)

Englisch

If he had been a contestant on Swedish TV’s The Robinson Expedition, Harry thought, it would have taken them no more than a day to notice his bad karma and send him home. (S. 43)

Deutsch

Als Teilnehmer von Big Brother hätte er sicher schlechte Karten gehabt, schoss es Harry durch den Kopf. (S. 37)

d) Norwegen-spezifische Elemente Die Strategien beim Übersetzen der kulturgebundenen Elemente, die typisch für Norwegen sind, unterscheiden sich in allen drei ZT gewaltig. Der englische Übersetzer übersetzt die norwegischen Realia nur selten und erklärt oder kommentiert sie nur gelegentlich. So übernimmt er den Namen der Jogurt-Marke »Go’morn« ohne eine weitere Erklärung, während bei der Einkaufstasche aus der Supermarktkette KIWI, »KIWI-plastpose«, eine Erweiterung folgt: »a supermarket bag he had taken from Kiwi«. Im letzteren Fall kommt es im slowenischen ZT zu einer Verallgemeinerung (KIWI wird zum Supermarkt), während der deutsche Übersetzer diese Information unterschlägt und sogar die Bedeutung verändert: Im deutschen ZT ist lediglich von einer Plastiktasche, die von Zuhause mitgenommen wurde, die Rede. Im englischen Text bleiben die Straßennamen unverändert. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: »Majorstua« wird in allen drei Übersetzungen aus unklaren Gründen zu »Majorstuen«, was eigentlich nur eine elegantere Variante des gleichen Namens ist. Auch die meisten geographischen Namen werden im Englischen in der norwegischen Schreibweise belassen, nur bei Østlandet wird zusätzlich erklärt, dass es sich um eine Region handelt. Sogar die »Nasjonal Samling«, die norwegische faschistische Partei (1933-1945)

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unter der Führung des Kollaborateurs Vidukin Quisling, behält ihren norwegischen Namen. Das Gleiche gilt auch für alle Läden, Restaurants, Zeitungen wie auch Benennungen von Speisen und Getränken. Interessanterweise macht der englische Übersetzer diesbezüglich eine Ausnahme: Die Fitnesskette SATS wird zum FOCUS gym (Nesbø 2006: 276), eine Fitnesskette, die, insoweit wir das recherchieren konnten, sowohl in Großbritannien als auch in Australien ansässig und bekannt ist. Der deutsche Übersetzer neutralisiert, wie bereits oben gezeigt, des öfteren kulturspezifische Elemente. Im deutschen Text wird der »Go’morn yoghurt« zum »Joghurtbecher«, die Tageszeitung »Dagsavisen« zu »einer Zeitung«, aus der Frauenzeitschrift »Kvinner&Klær« wird im deutschen ZT »die neueste Frauenzeitschrift«. Die geographischen Namen bleiben auf Norwegisch, allerdings wird die »Nasjonal Samling« zur »Nationalen Sammlung« (Nesbø 2006: 124), so auch in der slowenischen Übersetzung (Narodni zbor; Nesbø 2009: 136). Auch die Laden- und die Restaurantnamen bleiben im deutschen ZT entweder auf Norwegisch stehen oder werden neutral, z.B. »ein Restaurant«, übersetzt. Der slowenische Übersetzer schlägt hier seinen eigenen Weg ein: Vieles, was im Deutschen und Englischen unübersetzt oder neutral bleibt, wird ins Slowenische übertragen. So wird mit dem »Go’morn«-Joghurt experimentiert und es entsteht die Lehnübersetzung »zelen jogurtov lonček Br jutr«, die Zeitschrift »Kvinner&Klær« wird zu »Ženske in Moda« (dt. Frauen und Mode) und auch etliche Restaurantnamen werden übersetzt, z.B. »Tørst« wird zu »Žeja« (dt. Durst). Allerdings wirken solche Lösungen auf die Zielleser_innen sehr oft noch verwirrender, als es norwegische Benennungen (eventuell mit einer kurzen Erweiterung oder Erklärung) getan hätten. Die Straßennamen werden im Slowenischen teilweise übersetzt, teilweise werden die norwegischen Namen erhalten, die Namen der Restaurants werden meistens übersetzt, doch entspricht die Übertragung nicht immer der slowenischen Norm – z.B. »Dennisov kebab« (Nesbø 2009: 34) für »Dennis kebab« (Nesbø 2000: 17). Das letzte Beispiel betrifft die Erwähnung des norwegischen Nationalfeiertags am 17. Mai. An diesem Tag wird jährlich der Verabschiedung des Grundgesetzes des Königreichs Norwegen im Jahr 1814 in Eidsvoll gedacht. Der 17. Mai ist somit nicht nur der bedeutendste norwegische Feiertag, sondern auch ein wichtiges Plot-Element – und er liegt ferner auch Jo Nesbø

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sehr am Herzen, denn eines seiner Jugendbücher (Doktor Proktors prompepulver) handelt vom 17. Mai. Nur der deutsche Übersetzer hat hier genügend recherchiert und übersetzt den 17. Mai als »Nationalfeiertag«, der englische Übersetzer benennt den Feiertag »Independence Day«, wobei die Norweger ihn nie so nennen würden, und dem slowenischen Übersetzer, der den Feiertag zwar richtig bezeichnet, unterläuft ein Schnitzer – das Datum des Nationalfeiertags im slowenischen ZT ist der 7. Mai (Nesbø 2009: 145). Norwegisch

De skriver at det er en hån mot vertslandet å feire noe annet enn nasjonaldagen på den syttende. (S. 122)

Slowenisch

Pišejo, da se sedmega praznuje samo državni praznik. (S. 145)

Englisch

They write that it is an insult to your host country to celebrate anything other than Norwegian Independence Day on 17 May. (S. 169)

Deutsch

Sie schreiben, es sei ein Hohn für das Gastland, am 17. Mai etwas anderes als den Nationalfeiertag zu feiern. (S. 131)

F AZIT Die Analyse hat gezeigt, dass sich die englische und deutsche Übersetzung (zentrale Sprachen) in Bezug auf kulturspezifische Elemente im AT sehr oft an dem Zielpublikum orientieren. Doch hängt das nicht nur mit der Korrelation zwischen den zentralen und peripheren Sprachen zusammen, sondern auch von dem Genre des Romans ab. Die Erwartungen der Leser von Unterhaltungsliteratur unterscheiden sich von den Erwartungen der anspruchsvollen Leserschaft anderer Gattungen (z. B. avantgardistischer oder postmoderner Texte aus der Hochkultur). Liest man einen Kriminalroman, so verspricht man sich eine spannende und fesselnde Geschichte und interessiert sich weniger für die kulturellen Besonderheiten der Ausgangskultur, das spricht aber auch für eine zugänglichere und verständlichere Übersetzung (vgl. Gelder 2004; Zlatnar Moe, Žigon 2015). Trotz einiger ungewöhnlicher Lösungen in der slowenischen Übersetzung (z.B. bei Namen diverser Produkte, Zeitungen usw.) bezieht sich die slowenische Übersetzung (periphere Sprache) beim Übertragen der norwegischen kulturspezifischen Elemente mehr auf die Ausgangskultur als die anderen zwei. Noch deutlicher kommt das bei Übersetzungen der deutschen und englischen (und hier beispielsweise der

K ULTURSPEZIFISCHE E LEMENTE IN N ESBØS R OTKEHLCHEN | 105

südafrikanischen Varietät) Elemente zum Ausdruck. Diese sind überwiegend als Zitatworte in die ZS übernommen, auch wenn dafür etablierte und oft benutzte slowenische Bezeichnungen bestehen. Bei allen drei Übersetzern ist die mangelhafte Kenntnis der Ausgangskultur zu bemerken, z.B. haben alle Schwierigkeiten bei der Benennung des norwegischen Nationalfeiertages als »Verfassungstag« (dt.) oder »Dan ustave« (slow.) oder erläutern nicht die nazistische Organisation in Norwegen während des Zweiten Weltkriegs (z.B. »Nasjonal Samling«). Das lässt sich dadurch erklären, dass Norwegisch nicht die erste (oder die zweite) Fremdsprache des jeweiligen Übersetzers ist, was mit der relativ kleinen Verbreitung der norwegischen Sprache und mit der peripheren Lage der norwegischen Kultur zusammenhängt. Daraus kann man schlussfolgern, dass, wie auch auf den Ebenen der Syntax und Lexik, im Fall der kulturspezifischen Elemente die slowenische Übersetzung ausgangssprachig orientiert ist, während in den beiden zentralen Sprachen (Englisch und Deutsch) diese Elemente der norwegischen Kultur entweder neutralisiert oder domestiziert werden. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang aber auch noch die Tatsache, dass etliche Lösungen im slowenischen Zieltext mit den Lösungen in der deutschen Übersetzung identisch sind, aber vom Ausgangstext abweichen. Das weist darauf hin, dass wenigstens in einem gewissen Maße in einer peripheren Kultur die indirekte Übersetzungspraxis vorhanden ist, in unserem Fall erfolgt sie über die deutsche Übersetzung.

L ITERATUR Avsenik Nabergoj, Irena & Marija Zlatnar Moe (2013): Esej na maturi 2014: Pomladni dan, Konje krast. Ljubljana: Intelego. Bachleitnner, Norbert & Michaela Wolf (2010): Einleitung: Zur soziologischen Erforschung der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum. In: dies. (Hg.): Streifzüge im translatorischen Feld. Zur Soziologie der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum. Münster, Wien, Berlin: LIT Verlag, S. 7-32. Bargon, Sebastian (2012): Leiden & Hoffen mit Harry Hole – Der WahlWaldkircher Günther Frauenlob ist Nesbø-Übersetzer. In: Freiburger Stadtmagazin »Chilli«. URL: http://chilli-freiburg.de/kultur-chilli/leiden

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Translationskultur im Wandel: Hugo von Hofmannsthals Jedermann in der slowenischen Übersetzung und Neuübersetzung J ANKO T RUPEJ

E INLEITUNG Zahlreiche literarische Werke werden immer wieder neu übersetzt, deshalb stellt sich die Frage, wieso Neuübersetzungen entstehen bzw. in Auftrag gegeben werden. Antoine Berman vertritt die These, dass eine Übersetzung immer nur ein »unvollendeter Akt« ist, der mittels Neuübersetzungen nach Vollendung strebt (1990; zit. nach Tahir Gürçağlar 2009: 233).1 Der Hauptgrund dafür ist im ständigen Wandel der Sprache zu suchen, was zur Folge hat, dass Übersetzungen mit der Zeit veralten (vgl. Klopčič 1980: 87; Moder 1998: 529; Tahir Gürçağlar 2009: 233). Darüber hinaus werden viele Werke neu übersetzt, weil sich die Normen in der Zielkultur verändert haben (vgl.

1

In diesem Beitrag wird unter dem Begriff Übersetzung jeder Text verstanden, der in der Zielkultur als Übersetzung akzeptiert wurde, dazu gehören auch diverse Adaptionen (vgl. Toury 1980: 45). Der Begriff Neuübersetzung bezeichnet die »Übersetzung eines Werkes, das schon zuvor in die gleiche Sprache übersetzt wurde« (Tahir Gürçağlar 2009: 233). Alle englischen und slowenischen Zitate wurden vom Autor des Beitrags ins Deutsche übersetzt.

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Kujamäki 2001: 65). Eine Übersetzung kann dem Prozess des Veraltens ausweichen, indem sie in den Kanon einer Nationalliteratur aufgenommen wird, was jedoch nur im Ausnahmefall passiert; kanonisierte Übersetzungen sind oft von Schriftstellern angefertigt worden,2 die in der jeweiligen Nationalliteratur auch als Autoren einen besonderen Stellenwert haben und zum Kanon gehören (vgl. Even-Zohar 1990: 46-47). Auch die slowenischen Übersetzungen der Tragödie Jedermann (1911) von Hugo von Hofmannsthal, mit denen sich die vorliegende Studie befasst, 3 stammen von kanonisierten slowenischen Autoren. Die erste Übersetzung (1934) dieses Werkes, dessen Protagonist angesichts des Todes mit den Konsequenzen seines unmoralischen Lebens konfrontiert wird, stammt von Oton Župančič4 (1878-1949). Er ist der wahrscheinlich einflussreichste slowenische Dichter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und hat auch als Übersetzer die slowenische Sprache und Literatur bedeutend beeinflusst und geprägt (vgl. Bajec 1967: 5; Klopčič 1980: 81; Stanovnik 1998); er wurde sogar als »Begründer des modernen und hochwertigen slowenischen Übersetzens« (Mahnič 1981: 177) bezeichnet. Der Autor der Neuübersetzung (1993) des Dramas ist Niko Grafenauer5 (geb. 1940), einer der prominentesten slowenischen Lyriker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anhand der Rezeptionsanalyse6 beider Übersetzungen werden die Machtverhältnisse zwischen

2

Die männliche Form wird hier und im Weiteren generisch gebraucht.

3

An dieser Stelle bedanke ich mich bei Prof. Dr. Matjaž Birk für die wertvollen Anregungen zum Thema Hofmannsthal im Rahmen seiner Vorlesungen von 2007 und seine Unterstützung bei meinen ersten Recherchen zu den Übersetzungen von Jedermann ins Slowenische.

4

Die Biografie von Župančič ist auf Deutsch unter http://transstar-europa.com/ oton-zupancic-5/ zugänglich.

5

Die Biografie von Grafenauer ist auf Deutsch unter http://transstar-eu ropa.com/niko-grafenauer/ zugänglich.

6

Um die Analyse durchzuführen, wurde ein Korpus aller veröffentlichten Texte, die sich auf Hofmannsthals Jedermann beziehen erstellt. Zu diesem Zweck wurden Daten aus der Bibliografie des Forschungszentrums der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste (ZRC SAZU) hinzugezogen und ausgewertet, ferner wurde in der slowenischen bibliografischen Datenbank COBISS und in der Digitalen Bibliothek Sloweniens (dLib) nach den relevanten Texten

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der Ausgangs- und Zielkultur behandelt, die sich in der Übersetzung widerspiegeln, wie auch der Einfluss der politischen Konstellationen in Slowenien auf die Translationskultur untersucht, d.h. die aus ihnen hervorgehenden Normen und Konventionen, die den Übersetzungsprozess bestimmen (vgl. Prunč 2007: 331).

D ER S TATUS

DER

Ü BERSETZUNG IN S LOWENIEN

Übersetzungen spielten eine bedeutende Rolle in der Entwicklung des Slowenischen, denn die slowenische Schriftsprache begann sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, durch Übersetzungen von religiösen Texten, zu konstituieren. Auch in den darauffolgenden Jahrhunderten wurde das Übersetzen überwiegend positiv bewertet und viele slowenische Autoren veröffentlichten in ihren Publikationen Originalwerke samt Übersetzungen bzw. Adaptionen, wobei der Autor des Originals oft nicht angeführt wurde – man hat sich also fremde Werke angeeignet (vgl. Stanovnik 2005: 13-51). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es in den slowenischen Gebieten, die zur Habsburgermonarchie gehören, zu grundlegenden Veränderungen. Die bis dato symbiotische Koexistenz der Deutschen und Slowenen (vgl. Prunč 2005: 23; vgl. dazu auch Žigon 2014: 48) wandelte sich zum slowenisch-deutschen ›nationalen‹ Konflikt, was sich auch im Bereich der Sprache und Kultur wiederspiegelte (vgl. Hladnik 1993; Prunč 2005: 22). Während man die deutsche Kultur zu der Zeit als eine Leitkultur verstand, galt die slowenische als eine untergeordnete, noch nicht ›überlebensfähige‹ Kultur; die slowenische Sprache wurde überwiegend in informellen Texten und in der alltäglichen Konversation gebraucht, ansonsten bediente man sich der deutschen (vgl. Žigon 2014: 46). 7 In dieser diglossischen Situation vertrat

gesucht. Dadurch wurde die gesamte slowenische Rezeption erfasst; im vorliegenden Beitrag werden allerdings nur diejenigen Texte in Betracht gezogen, in denen die Übersetzungen besprochen und kommentiert wurden; das betrifft knapp zwei Drittel der ungefähr 60 Texte. 7

Lange ging man davon aus, dass die deutsche Literatur nicht angemessen ins Slowenische übersetzt werden konnte, da die Sprache als zu wenig literarisch galt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts bemängelte Žiga Zois, bei seinem Versuch Bürgers Lenore (1774) zu übersetzen, die angebliche »Armut« der slowenischen

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ein großer Teil der slowenischen Intellektuellen die Meinung, dass in der Literatur nur slowenische Originale von Bedeutung sind, während Übersetzungen eine Bedrohung für die slowenische Sprache, Literatur und Kultur darstellen (vgl. Stanovnik 2005: 51-67; Hladnik 1993; Prunč 2006: 298-299). Aus den oben erwähnten historisch-politischen Gründen war diese negative Einstellung in erster Linie für Übersetzungen deutschsprachiger Werke charakteristisch (vgl. Šolar [1855] 2013: 93-94; Bleiweis [1855] 2013: 95; Glaser [1906] 2013: 212; Župančič [1917/18] 2013a: 227), während z.B. Übersetzungen aus den slavischen Sprachen weiterhin begrüßt wurden (vgl. Hladnik 1993; Prunč 2006: 299). Aus dem Deutschen wurde größtenteils nur die Trivialliteratur für breite Massen übersetzt, während anspruchsvolle Literatur von slowenischen Intellektuellen – die gewöhnlich in Wien studierten8 und Deutsch beherrschten – im Original gelesen wurde (vgl. Prunč 2005: 28-29). Die wenigen Übersetzungen anspruchsvoller deutschsprachiger Werke hatten deshalb die »Aufgabe, die Ausdruckmöglichkeiten der slowenischen Sprache zu zeigen« (Hladnik 1993), damit sich diese mit der deutschen ›Kultursprache‹ messen und vergleichen konnte.9 Erst um die Jahrhundertwende fing man wieder an, Übersetzungen als eine Bereicherung der slowenischen Kultur anzusehen, und diese positive Einstellung gegenüber dem Übersetzen hat sich bis heute bewahrt (vgl. Stanovnik 2005: 67-89).10

Sprache, während France Prešeren mit seiner im Jahre 1830 veröffentlichten Übersetzung bewies, dass es durchaus möglich war, dieses Werk angemessen ins Slowenische zu übertragen (vgl. Stanovnik 2005: 83, 176–180). 8

Die erste slowenische Universität wurde erst 1919 in Ljubljana gegründet.

9

Eine ähnliche Situation ist bereits aus der Antike bekannt: Die Elite in der Römischen Republik las griechische Literatur im Original und beim Übergetragen dieser Texte ins Lateinische kann man nicht vom Übersetzen im heutigen Sinne sprechen, sondern von Aemulatio – einer »wetteifernder Nachahmung« (Movrin 2010: 25). Ähnliche Übersetzungsstrategien findet man auch bei »anderen Nationen, die weiter entwickelte literarische Nachbarn einzuholen versuchten« (ebd., S. 53) – im 19. Jahrhundert ist das auch bei den Slowenen festzustellen (vgl. ebd., S. 53-54).

10 Einen erheblichen Anteil der Buchproduktion in Slowenien machen Übersetzungen aus (vgl. Stanovnik 2005: 97-98). Weil der slowenische Buchmarkt klein ist (Auflagen von Belletristik erreichen selten mehr als 1000 Exemplare), machen Autoren- bzw. Übersetzerhonorare einen großen Teil der Produktionskosten einer

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D IE R EZEPTION DER SLOWENISCHEN Ü BERSETZUNGEN VON J EDERMANN Schon vor der ersten slowenischen Jedermann-Übersetzung wurde in der slowenischen Presse über dieses Drama berichtet (z.B. Branko 1913: 47; N. N. 1926: 12; N. N. 1927: 7) und in einem Nachruf auf Hofmannsthal wurde es als eines seiner besten Werke genannt (vgl. F. K. 1929: 224). Die slowenische Übersetzung von Oton Župančič mit dem Titel Slehernik wurde im Jahre 1931 – zu der Zeit, als das Gebiet der heutigen Republik Slowenien Teil des Königreichs Jugoslawien war – uraufgeführt und erschien drei Jahre später auch in Buchform. 1989, zwei Jahre vor dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, wurde das Drama das erste Mal in der Übersetzung Niko Grafenauers aufgeführt und vier Jahre später erschien auch dieser Text in Buchform. Beide Übersetzungen erfreuten sich einer lebhaften Rezeption. Die Rezeptionsanalyse der ersten Übersetzungen geht der Frage nach, ob die slowenische Sprache auch nach dem Zerfall des Habsburgerreichs, als sie nicht mehr vom Deutschen dominiert wurde und schon als Literatursprache etabliert war, an der deutschen Sprache gemessen wurde bzw. inwiefern diese Übersetzung noch anhand der Kriterien des 19. Jahrhunderts bewertet wurde. Der Vergleich mit der Rezeption der Neuübersetzung soll zeigen, ob in Zeiten des politischen Umbruchs in Slowenien andere Faktoren für die Rezeption eine wichtigere Rolle spielten. Die Übersetzung von Oton Župančič: Slehernik Župančičs Übersetzung dieses religiösen Dramas wurde von Anfang an in der konservativen sowie liberalen Presse in den höchsten Tönen gelobt. Noch

Publikation aus (vgl. Bajt 2003: 127-128). Weil die Kosten für die Neuauflage einer Übersetzung erheblich niedriger sind als die Kosten für eine Neuübersetzung, werden Werke oft lange nicht neu übersetzt und stattdessen Jahrzehnte lang nachgedruckt; ältere Übersetzungen werden häufig nur einigermaßen sprachlich modernisiert – z.B. Župančičs 16 Shakespeare Übersetzungen (vgl. Moder 1998: 530-534; vgl. dazu auch Zlatnar Moe 2014).

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vor der Premiere am 26. April 1931 wurde die Übersetzung im Programmheft des Nationaltheaters in Ljubljana mit folgenden Worten gepriesen: »Das ist nicht bloß eine Übersetzung, sondern eine dramaturgische Überarbeitung, eine ganz hervorragende« (Ost 1931: 1). In der Schülerzeitschrift Žar wird die Übersetzung wie folgt kommentiert: »Soweit man nach der Vorstellung urteilen kann, ist Župančičs Übersetzung sehr gut. Der Text ist fließend, ununterbrochen, die Verse reimen sich richtig schön und skandieren schallend« (Lenček 1931: 215). In der konservativen Tageszeitung Slovenec bezeichnet der bekannte Theaterkritiker France Koblar (1889-1975) die Übersetzung als ein »erstklassiges Kunstwerk« und lobt sowohl ihre Form als auch die im Stück gesprochene slowenische Volkssprache (vgl. F. K. 1931: 4). Die von den alten slowenischen Kirchenliedern inspirierte Sprache der Übersetzung wird auch in einer Kritik, in der damals meistgelesenen slowenischen politischen Tageszeitung Jutro, gepriesen (vgl. J. K. 1931a: 6). In einem weiteren Artikel dieser liberalen Zeitung lobt derselbe Kritiker die Entscheidung, den Originaltext zu kürzen, bedauert aber, dass die Übersetzung noch nicht in Buchform erhältlich ist, und bewundert den Stil der Übersetzung, nämlich ihre »meisterhafte sprachliche Eleganz« (J. K. 1931b: 3). Laut dem Literaturkritiker France Vodnik (1903-1986) handelt es sich um eine »wunderschöne« Übersetzung, was er in seiner – in der katholischen Literaturzeitschrift Dom in svet veröffentlichten – Besprechung der Uraufführung besonders hervorhebt (vgl. 1932: 86). Die einzige bekannte negative Kritik der Aufführung stammt von dem Literaturtheoretiker Anton Ocvirk (19071980). In seiner in der liberalen Literaturzeitschrift Ljubljanski zvon veröffentlichten Rezension geht der Verfasser allerdings nur auf den Eingangstext ein, bezeichnet das Stück als zu geziert, zu tendenziös und konstatiert, dass es dem modernen Menschen fremd erscheinen müsse; die Übersetzung wird jedoch nicht angesprochen (vgl. Ocvirk 1931: 693). Sogar der bedeutende Kritiker Josip Vidmar (1895-1992), der einige Jahre zuvor Župančič scharf kritisierte (vgl. Kozak 1998: 43, 51-53), hatte in der besagten Zeitschrift Folgendes zu sagen: »Oton Župančič hat die Moralität im Stil und der Diktion der slowenischen Volkslegende wunderbar harmonisch ins Slowenische übersetzt. Er hat Hofmannsthals Teufel ausgelassen, was der Sache zugutekommt, und nahm einige andere kleine Korrekturen vor. Es ist bedauerlich, dass er ›Jedermann‹ nicht völlig neu gestaltet hat, gemäß dem modernen Geist und seinen eigenen Einsichten, was er einige Zeit vorhatte. Aufgrund

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seines Wesenskerns ist das Mysterium jedoch auch in seiner jetzigen Gestalt ein bedeutendes Kunstwerk und eine große sprachliche Schöpfung in slowenischer Sprache, die möglichst bald in Buchform erscheinen sollte.« (Vidmar 1931: 559)

Die Buchausgabe11 der Übersetzung kam 1934 heraus, führte zu einem regen Meinungsaustausch und einer Flut an Buchbesprechungen. In dem liberalen Wochenblatt Nova doba wurde die Übersetzung in den höchsten Tönen gepriesen: »Unser Sprachkünstler Oton Župančič hat dieses herrliche mittelalterliche Mysterium so meisterhaft nachgedichtet, dass die Übersetzung in Bezug auf Melodik, Klangfülle, Klarheit und Einfachheit der Sprache das Original sogar übertrifft.« (N. N. 1934a: 4)

Ähnlich wurde die Veröffentlichung auch in der katholischen Monatszeitschrift Mladika gelobt (vgl. N. N. 1934b: 402). In der nachfolgenden Nummer dieser Zeitschrift wird Slehernik als »ein Gedicht, voll von wörtlicher und stilistischer Schönheit« (V. S. 1934: 465) bezeichnet, während in der kirchlichen Monatszeitschrift Bogoljub mit ähnlichen Worten die »reine und klangliche Sprache« der Übersetzung gewürdigt wird (vgl. N. N. 1934c: 287). In der Zeitung Jutro wird Župančič als großer Künstler gefeiert, während seine Jedermann-Übersetzung als »unübertrefflich« und noch tiefgreifender als Hofmannsthals Version bezeichnet wird (vgl. o. 1934: 3). Ein anonymer Rezensent in der Schülerzeitschrift Mentor meint, dass die slowenische Version das Original übertrifft (vgl. N. N. 1934/35: 94) und auch in der Zeitung Slovenec ist eine sehr positive Kritik der Übertragung von Župančič zu lesen: »[T]rotz einer meisterhaften Bewahrung aller wesentlichen Bestandteile des mittelalterlichen Mysteriums handelt es sich jedoch um ein eigenständiges dichterisches Werk, das in unserer Literatur unvergleichlich ist. […] Wir können an dieser Stelle nur feststellen, dass Župančič mit all der Mächtigkeit des souveränen Beherrschens

11 Im Nachwort behauptet Jakob Šolar, dass Župančič den Teufel »weggelassen hat, weil dieser die Ernsthaftigkeit und die Würde der ganzen Szene stört« ([1934] 2012: 86). Während den meisten slowenischen Lesern nicht bewusst ist, dass in manchen Übersetzungen gewisse Elemente ausgelassen wurden (vgl. Kocijančič Pokorn 2012: 59-60), war dies bei Slehernik also von Anfang an bekannt.

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der slowenischen Sprache die Ausdrucksformen unserer ältester, ausschließlich religiöser Texte im Grunde genommen noch veredelte und dem ganzen Werk seine völlig ausgereifte poetische Persönlichkeit einprägte. Die Homogenität aller Bestandteile – des fremden Originals, der moderneren deutschen Bearbeitung dieses Originals, des sprachlichen Problems als solchen – in einer Verschmelzung, wie sie uns Župančič in Slehernik liefert, zeugt von der Größe der Persönlichkeit, die in diesem Werk zum Ausdruck kommt.« (s. š. 1934: 10)

In der liberalen Tageszeitung Slovenski narod wird die slowenische Version als »meisterhaft« (N. N. 1935: 2) bezeichnet, darüber hinaus schrieb auch France Koblar wieder eine ausgesprochen positive Kritik, veröffentlicht in Dom in svet: »Župančič hat Jedermann nicht nur nachgedichtet, sondern auch dramaturgisch so verändert, dass der Kampf zwischen Gut und Böse eine größere und zeitgemäßere Tiefe erhielt und dass die ausgesprochen mittelalterliche Gestalt des Teufels mit seiner Dialektik und Groteske ganz ausgelassen wurde. Damit erreichte Jedermann eine noch reinere lineare Einfachheit und innere Größe. Im Rahmen der Festlichkeiten in Ljubljana kam das Drama auch schon unter das einfache Volk. […] Župančičs Text unterscheidet sich von Hofmannsthals Text, welcher manchmal deutsch hart, rau, bisweilen beinahe kitschig ist, […] [insofern als] die slowenische Übersetzung größtenteils kompakter, einfacher, poetisch reiner und üblicherweise auch gedanklich voller ist.« (F. K. 1935: 217)

In einer Kritik anlässlich der 1938 in Maribor auf die Bühne gebrachten Neuinszenierung bezeichnet ein anonymer Autor, in Slovenski narod, die Übersetzung als »meisterhaft« (N. N. 1938: 2), während der Theatertheoretiker Vladimir Kralj (1901-1969) in der Zeitschrift Obzorja den Inhalt scharf kritisiert und meint, dass »man das Aufführen dieser Moralität nur in formeller Hinsicht befürworten kann – wegen Župančičs glänzender Übersetzung« (1938: 242), aber nicht näher darauf eingeht, ob er damit die sprachliche Ebene oder auch die inhaltlichen Veränderungen, z.B. das Auslassen der Figur des Teufels, meint. Auch die späteren Erwähnungen von Slehernik in der Presse sind positiv. Jože Zaletel spricht von einer »richtig klassisch, wundervoll schönen« Übersetzung (1973: 59), der prominente Übersetzer Mile Klopčič (1905-1984)

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zählt Slehernik zu den »größten Leistungen der slowenischen Übersetzerkunst« (1980: 82) und meint, dass die Übersetzung an vielen Stellen das Original übertreffe (vgl. ebd., S. 86). Barbara Lemež stellt fest, dass die Archaismen in Župančičs Übersetzung nicht stören, weil es sich um eine mittelalterliche Moralität handele (vgl. 1992: 12) und Zvonka Zupanič Slavec bezeichnet die Übersetzung als »glanzvoll« (2000: 91). Slehernik zählt zu den beliebtesten geistlichen Spielen im slowenischen Raum (vgl. Ložar 1987: 193) und wurde sowohl professionell inszeniert als auch häufig von Laiendarstellern aufgeführt (vgl. Kocijančič 2012: 88-92).12 Vom Prestige der ersten Übersetzung zeugt auch, dass sie auch nach der Veröffentlichung der Neuübersetzung aufgeführt wird (vgl. Zadravec 1989: 6; Lemež 1992: 12; Hočevar 2011: 1; Brst 2012: 11) und dass sie 2012 nachgedruckt wurde. Die Übersetzung von Niko Grafenauer: Slehernik Die Neuübersetzung wurde am 31. März 1989 im Slowenischen Theater in Triest erstaufgeführt; in der slowenischen Presse13 wurde lebhaft über die Premiere berichtet. Jože Faganel, der bei der Neuübersetzung als Lektor tätig war, äußert in der Tageszeitung Primorski dnevnik die Meinung, dass die ältere Übersetzung an einigen Stellen stilistische Mängel aufzeigt, und weist darauf hin, dass Župančič die Figur des Teufels ausgelassen hat, während diese bei Grafenauer erhalten bleibt (vgl. 1989: 9). Auch Mario Uršič, der bei der Neuaufführung Regie führte, bemängelt in einem Interview in der besagten Zeitung die Abwesenheit des Teufels in der ersten Übersetzung (vgl. Čuk 1989: 9). Zdenka Lovec weist jedoch in der Tageszeitung Primorske novice darauf hin, dass auch in der Neuübersetzung etliche Anpassungen zu finden sind; Grafenauer habe »mit einer veränderten Rolle des

12 Während des sozialistischen Systems in Slowenien (1945-1991) gab es keine professionellen Inszenierungen von Slehernik. 13 Die Massenmedien in der ehemaligen jugoslawischen Republik Slowenien waren vom Staat beeinflusst und daher sozialistisch orientiert.

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Bettlers eine soziale Komponente hinzugefügt [und] […] den Passus über das lustbetonte und zügellose Leben von Jedermann gekürzt« (1989: 5). 14 Weitere Kritiker konzentrieren sich auf den Stil – France Vurnik schreibt in der meistgelesenen slowenischen Tageszeitung Delo Folgendes: »Während Župančičs Übersetzung, die aus der Diktion der Volksdichtung schöpfte, recht archaisch wirkt, ist Grafenauers Übersetzung der modernen Lexik näher, aber zugleich ist sie genauso in betonte jambische Verse eingespannt, hat Reime und gewandte Enjambements und einen klaren Aussagewert.« (Vurnik 1989: 3)

Laut Jernej Novak, der seine Kritik in der Tageszeitung Dnevnik veröffentlichte, handle es sich um eine »melodische […] Übersetzung, die geschickt genug archaische Ausdrücke und die moderne Lexik balanciert« (1989: 10), und Helena Grandovec fügt in der Tageszeitung Večer hinzu, dass Grafenauer eine »glatt fließende Nachdichtung« (1989: 14) geliefert hat. Vasja Predan vertritt in der Halbmonatsschrift Naši razgledi dagegen die Meinung, dass Hofmannsthals »intensive, originelle poetische Potenz, die nach der ersten – poetologisch, stilistisch und in der Form an die alten slowenischen Lieder angelehnten – Nachdichtung bzw. Adaption von Župančič, auch in der neuen, fließenden, wohlklingenden Übersetzung von Niko Grafenauer den ›erhabenen Tonus‹ des Originals beibehielt. Insbesondere durch die Wahl der heutigen lebendigen, gebildeten, sog. Hochsprache wurde dieser Tonus auch für die moderne Wahrnehmung vernünftig instrumentalisiert.« (Predan 1989: 234)

Die Neuübersetzung wurde 1993 auch in Buchform veröffentlicht, blieb jedoch in der Presse unbeachtet.

14 Mit »Bettler« können entweder der Arme Nachbar oder der Schuldknecht gemeint sein. Der Vergleich zwischen dem Original und der Buchausgabe der Übersetzung (Hofmannsthal 1993: 9-17) zeigt zwar keine Abweichungen vom Original, es ist jedoch möglich, dass diese in der Vorstellung vorkamen.

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D IE R EZEPTION

IM

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K ONTEXT

Wegen der auffällig positiven zeitgenössischen Kritiken der ersten Jedermann-Übersetzung stellt sich die Frage, ob eine vergleichbare Rezeption auch für andere Übersetzungen von Župančič charakteristisch war. Die Kritiken, die von Joža Mahnič (vgl. 1998: 249-260) und Majda Stanovnik (vgl. 1998: 536-537) in ihren Darstellungen von Župančičs Werk als Übersetzer erwähnt werden, sind zwar überwiegend positiv, aber nicht in dem Maße wie jene von Slehernik. Eine Übersicht von zwei Dutzend weiteren veröffentlichten Kritiken,15 in denen leitende zeitgenössische Intellektuelle Župančičs Übertragungen besprechen, hat gezeigt, dass seine übersetzerische Leistung zwar positiv bewertet, in etlichen Besprechungen aber auch auf Mängel in den Übersetzungen hingewiesen wurde, was bei den Kritiken von Slehernik nie der Fall war. Fast ein halbes Jahrhundert, nachdem die Übersetzung entstand, verfasste der renommierte Übersetzer Janko Moder (1914-2006) einen Beitrag, in dem er detailliert Župančičs Übersetzung mit dem Original verglich. Er bezeichnet Slehernik als »eine wichtige Tat der slowenischen Kultur und besonders des Übersetzens« (Moder 1980: 107) und hebt einige Stellen hervor, die seiner Meinung nach dem Original gleichwertig sind oder es sogar übertreffen (vgl. ebd., S. 111-113). Er stellt fest, dass die Übersetzung um 788 Verse kürzer als das Original ist und dass vor allem die Dialoge, die vom Kampf um die Seele handeln, gekürzt bzw. ausgelassen wurden (vgl. ebd., S. 108). Er meint, dass sich Župančič »einige zu leichtfertige, zu oberflächliche Lösungen erlaubte« (ebd., S. 111) und schreibt bezüglich der Form Folgendes: »Gewiss zeigte Hofmannsthal ein größeres Repertoire, Vielfältigkeit und Findigkeit bei der Auswahl der Reime; in dieser Hinsicht war Župančič zu ›volkstümlich‹, nicht wählerisch, stereotypisch, eintönig« (ebd., S. 114). Es stellt sich die Frage, wieso diese Übersetzung zunächst tendenziell positiv bewertet wurde, obwohl sie Mängel aufweist. Die Gründe sind höchstwahrscheinlich ideologischer Natur, denn Jedermann ist der einzige

15 Es handelt sich um Kritiken der Übersetzungen der Werke von William Shakespeare, Guy de Maupassant, Alphonse Daudet, Edmond Rostand, Friedrich Schiller, Pedro Calderón de la Barca, Voltaire, Joseph Conrad, Prosper Mérimée, John Galsworthy, Molière, Honoré de Balzac und Aleksandr Sergejevič Puškin.

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längere deutsche Text, den Župančič alleine übersetzte.16 Laut Miran Hladnik (1993) soll sich die slowenische Literatur in den 1930er Jahren nicht mehr in dem gleichen Maße wie früher von der deutschen Literatur bedroht gefühlt haben, was aus der Rezeption von Slehernik und Župančičs Übersetzungsstrategie jedoch nicht ersichtlich ist. Župančič erlaubte sich erheblich mehr »künstlerische Freiheiten« als z.B. bei seinen Shakespeare-Übersetzungen17 und auch aus vielen Kritiken (in denen behauptet wird, dass die slowenische Version von Jedermann das Original übertrifft) ist ersichtlich, dass man noch immer von einer »wetteifernden Nachahmung« sprechen kann. Auch der folgende Vergleich zwischen Župančič und einigen prominenten deutschen Übersetzern ist vielsagend: »Wenn man seine Shakespeare-Übersetzungen mit den deutschen Übersetzungen von Schlegel vergleicht, wird die Meisterhaftigkeit von Župančič deutlich. [...] Mir sind die Übersetzungen vieler deutscher – älterer und jüngerer – Übersetzer bekannt: Schlegel, Zoozmann, Rilke, Fulda und anderer; ich behaupte, dass Župančičs Übersetzungen ihren Übersetzungen nicht nur in nichts nachstehen, sondern meistens sogar vollendeter sind.« (Vidmar 1930: 154)

Josip Vidmar, einer der einflussreichsten slowenischen Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts, ist also der Meinung, dass die von Župančič angefertigten Übersetzungen ins Slowenische besser seien als die Übersetzungen der prominentesten Übersetzer ins Deutsche. Sowohl eine derartige Kanonisierung von Župančič als auch die ausgesprochen positive Rezeption seiner Jedermann-Übersetzung seitens der prominenten slowenischen Intellektuellen in der konservativen sowie liberalen Presse suggerieren, dass sich die slowenische Literatur bzw. Sprache auch 15 oder 20 Jahre nach dem Zerfall der Donaumonarchie noch nicht ganz von einem ›Minderwertigkeitskomplex‹ gegenüber der deutschen befreit hat. Auch bezüglich der Entstehung und der Rezeption der Neuübersetzung kann man ideologische Einflüsse entdecken. Die Übersetzung entstand gegen Ende des Sozialismus in Slowenien, als Prozesse der Demokratisierung

16 In Anlehnung an die Übersetzung von France Cegnar übersetzte er auch Schillers Maria Stuart (1923). 17 In einem Vortrag behauptete Župančič, dass ihm »jedes Wort Shakespeares heilig« sei ([1928] 2013b: 233).

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im Gange waren und auch die Rolle der katholischen Kirche im öffentlichen Leben immer deutlicher wurde. Das religiöse Drama wurde 1989 zwar noch immer nicht innerhalb der Staatsgrenzen aufgeführt, in der slowenischen Presse wurde aber lebhaft darüber berichtet. Zur Veröffentlichung der Buchversion 1993 gab es hingegen keine einzige Kritik, woraus man schließen kann, dass dieses Werk im post-sozialistischen Slowenien weniger relevant war, da es nicht mehr eine Art des Aufstandes gegen das System repräsentierte.

S CHLUSSFOLGERUNG Anhand der Analyse der Kritiken der slowenischen Jedermann-Übersetzungen wurde festgestellt, dass sowohl die Entstehung als auch die Rezeption beider Übersetzungen ideologisch beeinflusst wurden. Die zielsprachlich orientierte Strategie, die Oton Župančič bei seiner Übersetzung anwandte, sowie deren ausgesprochen positive Rezeption seitens sowohl der konservativen als auch der liberalen Presse lassen darauf schließen, dass die slowenische Literatur noch in den 1930ern das Bedürfnis verspürte, sich gegenüber der deutschsprachigen Literatur zu behaupten. Grafenauers integrale Neuübersetzung entstand in Zeiten des politischen Umbruchs, als sich die gesellschaftlichen Normen veränderten und auch die Rolle der katholischen Kirche im öffentlichen Leben wieder größer wurde. Deshalb intensivierte sich wahrscheinlich auch das kritische Interesse an der Inszenierung des religiösen Dramas von 1989 – im Unterschied zu der Buchform von 1993. Die Resultate dieser Fallstudie können als Anregung dienen, den slowenisch-deutschen Übersetzungsbeziehungen zwischen den beiden Weltkriegen und der Rolle von Übersetzungen im slowenischen Demokratisierungsprozess in den 1980er Jahren mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

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Bolesław Leśmian und Bruno Schulz in deutschen Übersetzungen Übersetzer im Spannungsfeld von Kultur, Individualästhetik und (Sprach-)Philosophie K ATARZYNA L UKAS

V ORBEMERKUNG Der Lyriker Bolesław Leśmian (1878-1937) und der Prosaiker Bruno Schulz (1892-1942) sind als die bedeutendsten Vertreter der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts gleichermaßen anerkannt und werden heute der »kritischen Moderne« der Zwischenkriegszeit zugeordnet (vgl. Markowski 2007). Die Rezeption ihrer Werke außerhalb Polens weist deutliche Asymmetrien auf. Schulz wurde seit seiner ›Entdeckung‹ in den 1960er Jahren zum »international literary star who is worshipped by readers and critics alike« (de Bruyn/van Heuckelom 2009: 9). Seine Lebensgeschichte, verwoben mit autobiografischen Motiven seiner Prosa, inspiriert gegenwärtige Schriftsteller, Filmschaffende und Graphiker diverser Nationalitäten zu ihren eigenen (Kultur-)Texten.1 Seine Popularität verdankt Schulz in hohem Maße den deutschen Übersetzungen: Seine Erzählbände Sklepy cynamonowe (1934) und

1

Allein unter Autor_innen, die an Schulz anknüpfen, wären die Amerikanerin Cynthia Ozick, der israelische Autor David Grossman, der Italiener Ugo Riccarelli und Maxim Biller mit der Novelle Im Kopf von Bruno Schulz (2013) zu nennen.

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Sanatorium pod Klepsydrą (1937) lagen schon in den 1960er Jahren von Josef Hahn als Zimtläden und Das Sanatorium zur Todesanzeige in deutscher Übersetzung vor. Vor kurzem erschien die Neuübersetzung von Doreen Daume: Die Zimtläden (2008) und Das Sanatorium zur Sanduhr (2011). Dagegen sind Leśmians Gedichtbände (Sad rozstajny [Der Scheidegarten], 1912; Łąka [Die Wiese], 1920; Napój cienisty [Schattengetränk], 1936; Dziejba leśna [Waldgeschehen], 1938) im Ausland wohl nur unter Slavisten bekannt – trotz zahlreicher Übersetzungsserien, v.a. im Russischen und Englischen (vgl. Kaźmierczak 2012: 8-17). Im Deutschen ist Leśmians Œuvre lediglich durch sechs Gedichte vertreten, die Karl Dedecius als Übersetzer und Herausgeber polnischer Lyrik-Anthologien seit den 1960er Jahren mehrmals publizierte. Die deutschen Leśmian- und Schulz-Übersetzungen, auf die hier eingegangen wird, lassen die Gründe für eine derart unterschiedliche Resonanz nachvollziehen, die den beiden Autoren im deutschen Sprachraum zuteilwurde. Das Schaffen von Leśmian und Schulz ist geprägt von Wechselwirkungen zwischen ihrer jeweiligen kulturellen Verankerung, ihrem Personalstil und der (Sprach-)Philosophie, zu der sich beide bekennen. Diese drei Komponenten ergeben bei jedem Dichter eine andere Konstellation. Leśmian schöpft häufig aus der slavischen bzw. polnischen Volksdichtung. Schulz dagegen orientiert sich weder an einer bestimmten Ethnokultur noch an irgendeiner literarischen Tradition (vgl. Markowski 2006: 264). Als Polnisch schreibender Autor jüdischer Herkunft verkörpert er vielmehr die multikulturelle Identität Mitteleuropas bzw. den galizischen Kultur-Code, der sich eher in den »den Narrationen eingeschriebenen Themen, Zeichen und Symbolen« (Kaszyński 2012: 18) denn auf rein sprachlicher Ebene manifestiert. Beiden Dichtern ist allerdings ein (explizit formuliertes) (sprach-)philosophisches Programm gemeinsam: ein eklektisches, durchaus nicht kohärentes und jeweils auf andere Quellen zurückgehendes Konzept der »mythopoetischen Sprachauffassung« (Schmid 1998: 44). Leśmian und Schulz verbindet das Bewusstsein um die Dichotomie zwischen dem ›poetischen‹ und ›prosaischen‹ Wort, um die Medialität der Sprache und deren Kraft, die Wirklichkeit zu kreieren. Daraus leitet sich ein für beide Autoren ähnliches sprachphilosophisches Programm ab, das auf der Überzeugung gründet, dass die menschliche Sprache ursprünglich eine ›magische‹, ›natürliche‹ war, dem Mythos und nicht dem Logos bzw. dem Intellekt verpflichtet; die Entwicklung der Zivilisation gehe mit Sprachverfall einher. Nur ein Dichter könne

L EŚMIAN UND S CHULZ

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und solle das ›Wort‹ erneuern, d.h. es von seiner mimetischen Aufgabe entpflichten und aus logisch-rationalen Zwängen der Alltagskommunikation befreien. Diese Auffassung der Sprache resultiert zum einen in der Leśmian und Schulz gemeinsamen Vorliebe für das Groteske, im Antirealismus und Antimimetismus (vgl. Markowski 2006: 397-402). Zum anderen kommt das philosophische Programm im Personalstil der beiden Autoren – darunter in ihrer Lexik – mit sehr unterschiedlichen sprachlichen Ergebnissen zum Ausdruck. Die Rolle von Schulz’ und Leśmians Übersetzern besteht also darin, das kulturell-philosophisch-idiolektale Gefüge oder – um die Termini von Krysztofiak (2013: 39) aufzugreifen – den Kultur-Code, den Lexik- bzw. Semantik-Code und den Ästhetik-Code der Vorlage zu entschlüsseln und im Translat nachzubilden. Hier wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Wechselwirkungen dieser Codes in den Übersetzungen nachvollziehbar sind, oder: Inwiefern ist das in den Zieltexten implizierte ästhetisch-philosophische Programm mit Leśmians bzw. Schulz’ Vision identisch?

S CHULZ ’ UND L EŚMIANS K ULTUR -C ODES : NARRATIV VERMITTELT , SPRACHLICH VERSCHLÜSSELT Der galizische Kultur-Code ist in Schulz’ Prosa oft in materiellen Objekten verschlüsselt, die ins kulturelle Gedächtnis der ehemaligen Donaumonarchie eingingen. Gegenstände wie das allgegenwärtige Porträt Franz Josephs I., Briefmarken aus fernen Ländern, Werbeblätter mit Frauengestalten à la Alfons Mucha tragen, als ›Protagonisten‹ der Erzählungen, dazu bei, die Atmosphäre des galizischen Provinzstädtchens Drohobycz um die Jahrhundertwende zu evozieren. Jedes dieser Objekte wird von Schulz mit einer ›privaten‹ Metaphorik ausgestattet, gehört aber zugleich zum Inventar der ›universellen‹ mitteleuropäischen Chiffren, die aus der deutschsprachigen Literatur und den bildenden Künsten hinreichend bekannt sind. Dass diese materiellen Träger des Kultur-Codes auf der narrativen Textoberfläche greifbar sind, erleichtert wohl die Übersetzung und deren Rezeption beim deutschen Lesepublikum. In Leśmians Lyrik weist der Kultur-Code v.a. eine literarische Dimension auf und ist der polnischen bzw. slavischen Folklore verpflichtet. Signale dieses Codes sind für Sprecher nichtslavischer Sprachen nicht ohne weiteres

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erkennbar. Dass Volkslieder und -balladen Leśmians wichtige Inspirationsquellen ausmachen, erklärt sich durch seine Überzeugung, im ethnischen Liedgut Spuren ursprünglichen, magischen Denkens entdecken zu können (vgl. Miązek 1984: 177), die ein Dichter wiederzubeleben hat. Zu den Signalen der Folklore gehören bei Leśmian Stoffe, Motive und Figuren aus Volkslegenden (volkstümliche Eigennamen: »Świdryga«, »Midryga«, »Bajdała«; phantastische Lebewesen: Wassernixen, Feen und Gespenster mit Gattungsnamen wie z.B. »dusiołek«, »boginiak«, »płanetnik«); sprachliche Stilisierung durch Dialektismen, Tautologien, Wiederholungen, volkstümliche Versmaße (vgl. Trznadel 1991: XVIII-XXIII). In Leśmians Werk lassen sich zwei Textgruppen ausmachen: einerseits narrative Gedichte (v.a. Balladen), andererseits die beschreibend-reflexive Lyrik (vgl. Nycz 2001: 128). Schließt man sich der Meinung an, dass jedes Einzelgedicht das gesamte ästhetisch-philosophische ›Programm‹ des Autors reflektiert und metonymisch für Leśmians Gesamtœuvre steht (vgl. Sławiński 1971: 97), so muss man doch einwenden, dass Träger des KulturCodes in diesem Makrotext nicht gleichmäßig verteilt sind. Elemente der Folklore sind in den erzählenden Gedichten viel häufiger anzutreffen als etwa in Leśmians erotischer Lyrik, die ohne volkstümliche Stilisierung auskommt. Die Auswahl der Texte, die der Übersetzer Karl Dedecius in seine Anthologien aufnimmt,2 resultiert in weitgehender Ausblendung des kulturellen Hintergrunds. Sein Übersetzungskorpus umfasst zwei Liebesgedichte ([Ty pierwej mgły dosięgasz…]/[Du nahst dem ersten Nebel…], Pieszczota/Liebkosung), drei ›metaphysische‹ Quasi-Balladen3 (Topielec/Ertrunkener, Dziewczyna/Mädchen und Dwoje ludzieńków/Zwei Menschlein) sowie das

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In der Panoramasammlung Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts (1964) und der zweisprachigen Ausgabe 100 wierszy polskich / 100 polnische Gedichte (1982). Aus Platzgründen werden hier die insgesamt sechs Gedichte, die Leśmians verschiedenen Lyrik-Bänden entstammen, als einheitliches Korpus betrachtet und ihre Komposition in den beiden Sammlungen außer Acht gelassen. Näheres zu Dedecius’ Anthologie-Verfahren siehe Chojnowski 2005: 213-242.

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Die Zuordnung von Topielec zu Balladen ist umstritten (vgl. Trznadel 1999: 35). Für Dziewczyna hat sich in der Sekundärliteratur die von der Volkskunst weit entfernte Formel »philosophische Ballade« eingebürgert.

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reflexive Gedicht Samotność/Einsamkeit. Die Auswahl präsentiert die wichtigsten Motive und Erscheinungsformen von Leśmians Lyrik, allerdings kommen seine folkloristischen Inspirationen nicht zur Geltung: Die balladesken Gedichte Dziewczyna und Topielec enthalten kaum volkstümliche Merkmale, in Dwoje ludzieńków besteht die Stilisierung lediglich in einer Anspielung auf zwei polnische Volkslieder (vgl. Trznadel 1999: 81f.). Balladen mit den deutlichsten Bezügen zur Folklore lässt Dedecius aus. Auch in den im Korpus enthaltenen Texten tilgt er die Träger des Kultur-Codes, wie es die Anfangszeilen des Gedichts Dwoje ludzieńków/Zwei Menschlein belegen: Często w duszy mi dzwoni pieśń, wyłkana w żałobie, O tych dwojgu ludzieńkach, co kochali się w sobie. […] Nie widzieli się długo z czyjejś woli i winy, A czas ciągle upływał – bezpowrotny, jedyny. A gdy zeszli się, dłonie wyciągając po kwiecie, Zachorzeli tak bardzo, jak nikt dotąd na świecie! Pod jaworem – dwa łóżka, pod jaworem – dwa cienie, Pod jaworem ostatnie, beznadziejne spojrzenie. […] (BL 240) Eine Klage durchwimmert meine Seele seit Jahren Von den zwei armen Menschlein, die verliebt in sich waren. […] Sie verloren sich lange, jemand trieb sie von dannen, Und die unwiederbringlichen Tage – verrannen. Als sie endlich sich fanden, ihren Augen erschienen, Da erkrankten sie völlig, wie noch niemand vor ihnen. Unterm Ahorn – zwei Betten, unterm Ahorn – zwei Schatten, Und zwei Blicke, die letzten, die kein Hoffen mehr hatten. […] (D 1964: 20)

In die Geschichte von zwei Verliebten, die nach langer Trennung wieder zueinander finden, gemeinsam erkranken und sterben, führt Leśmian mit Wiederholungen und Parallelen sowie dem elliptischen Satzbau (»Pod jaworem – dwa łóżka, pod jaworem – dwa cienie«) volkstümliche Stilelemente ein. Im Zieltext ließen sie sich nachbilden, sind doch Wiederholungen und die sprunghafte, verkürzende Erzählweise auch für die deutsche Volksdichtung typisch (vgl. Wilpert 2001: 884). Die anderen spärlichen Signale des Volkstümlichen erwiesen sich allerdings als unübersetzbar. Der Dialektismus »zachorzeli« (zachorzeć = krank werden, vs. das normative zachorować) wird

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durch das stilistisch unmarkierte »erkranken« wiedergegeben. Leśmians diminutive Neuschöpfung »dwoje ludzieńków« ist nach einem mundartlichen Wortbildungsmuster geprägt (vgl. Papierkowski 1964: 79) und weist einen starken affektiven Wert auf: Der Erzähler drückt damit sein Mitleid mit den beiden Liebenden aus, deren Träume, Sehnsüchte und Vorhaben nach und nach scheitern (vgl. Trznadel 1999: 81f.). Das standardsprachliche deutsche Diminutivum »Menschlein« enthält keine vergleichbare dialektal-hypokoristische Komponente.4 Der im Original erwähnte Baum (»jawor«, BergAhorn) findet sich in vielen polnischen Volksliedern. Er ist auch ein beliebtes Requisit in Idyllen der polnischen Empfindsamkeit – etwa im (für polnische Leser) bekannten Gedicht von Franciszek Karpiński Laura i Filon, wo sich die Liebenden unter einem Ahorn zum Stelldichein verabreden. Die volkstümlich-literarischen Konnotationen der Baumbezeichnung gehen in der Übersetzung verloren, da ein Ahorn im Deutschen kein typischer ›volkstümlicher‹ Baum ist und eher an die kanadische Flagge denken lässt.

L EŚMIANS ›D ICHTUNG DER N EGATION ‹: UND IHRE IDIOLEKTALEN T RÄGER

P HILOSOPHIE

Leśmians Œuvre illustriert kein zusammenhängendes weltanschauliches System (vgl. Rowiński 1982: 116). Seine aus diversen Quellen schöpfenden theoretischen Ansichten, in mehreren Essays dargestellt, bilden dennoch einen wichtigen Kontext seiner Dichtung. Aufgrund einer fehlenden Übersetzung sind sie jedoch den deutschen Leserkreisen nicht zugänglich. Unter Leśmians Inspirationen finden diejenigen von Henri Bergson die deutlichste Resonanz, und zwar sowohl in seinem Aufsatz Z rozmyślań o Bergsonie (Überlegungen zu Bergson) als auch im ästhetischen Bereich: als schöpferische Umgestaltung der Sprache, die in Lexik, Grammatik und Wortbildung Parallelen mit Bergsons Ideen aufweist. Von dem französischen Philosophen übernimmt Leśmian die Vorstellung des ›élan vital‹: der allumfassenden Schaffenskraft, des kreativen ›Geistes‹. Diese Kraft, die nach Bergson allen Lebewesen zukommt, schreibt

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Zu anderen Bedeutungsverlusten in der Übersetzung des Gedichttitels, die sich aus den Asymmetrien in den Wortbildungsmöglichkeiten zwischen dem Deutschen und Polnischen ergeben, vgl. Krzysztoforska-Doschek 1995: 543f.

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Leśmian der Poesie zu (vgl. Jurkowska 2000: 366). Die poetische Sprache sei das Mittel intuitiver Erkenntnis und wird der leblosen, da bloß kommunikativen Prosasprache als dem Werkzeug des Intellekts gegenübergestellt. Leśmian zufolge soll der Dichter die »zum farb- und klanglosen Ding« (Schmid 1998: 44) verkümmerte Alltagssprache erneuern. Er selbst setzt dieses Postulat in seinem Idiolekt um, der gleichsam die dynamischen Schaffensprozesse im Universum nachahmt und bewirkt, dass sich die Welt in seiner Dichtung zu verflüssigen und andauernd zu verändern scheint (vgl. Miązek 1982: 177). Diesen mit Bergsons Ideen korrespondierenden Eindruck erreicht Leśmian, indem er die polnische Grammatik ausnutzt bzw. ihre Normen, insbesondere im Bereich der Phraseologie und Wortbildung, verletzt. Typisch für Leśmian sind seine Neuschöpfungen: u.a. Verben und Substantive (oft personifizierte Abstrakta) mit Negationspräfixen5 »bez-« (»ohne«, »-los«; z.B. »bezbyt«: »Ohnesein«, »bezcel«: »Ohneziel«) oder »nie-« (»nicht-«, z.B. »nietrwanie«: »Nichtdauer«, »nieżal«: »Nichtreue«) (vgl. Miązek 1982: 177), die den schlichten Gegensatz zwischen den ›vorhandenen‹ und ›nicht vorhandenen‹ Dingen aufheben und auf unendlich viele Zwischenformen des Daseins verweisen (vgl. Rowiński 1982: 46). Lexeme mit der Intensität markierenden Vorsilbe »niedo-« (z.B. »niedoumierać«: »nicht vollständig sterben«) deuten das ständige Werden, die bloße Potentialität der Dinge und die stets nur vorläufigen Zustände an (vgl. Olkuśnik 1971: 165). Dedecius erkennt sowohl die ontologische Relevanz von Leśmians Neuschöpfungen als auch die sprachsystembedingten Hindernisse bei ihrer Wiedergabe: Deutsche Komposita mit der Vorsilbe »Un-«, die dem polnischen »bez-« entspricht, seien sprachkonform und daher nicht geeignet, das Innovative an Leśmians Neologismen zu vermitteln (vgl. Dedecius 1974: 167). Im Übersetzungskorpus ist das Gedicht Topielec (Ertrunkener) wohl der einzige Text, der den Leser in der Zielsprache die wortschaffende Imagination des Originalautors ahnen lässt. Der Wanderer, der ›das Grün an sich‹ wie Kants ›Ding an sich‹ durchdringen will und darin ertrinkt, veranschaulicht, wie die Natur bei Leśmian ein Kontinuum von Daseinsformen bildet, in dem der Mensch aufgeht und seine Subjektivität verliert (vgl. Rymkiewicz 1971: 217-223):

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Daher bezeichnet Głowiński (1981: 102) Leśmians Werk als »Dichtung der Negation«.

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»Wówczas demon zieleni wszechleśnym powiewem Ogarnął go, gdy w drodze przystanął pod drzewem, I wabił nieustannych rozkwitów pośpiechem, I nęcił ust zdyszanych tajemnym bezśmiechem, I czarował zniszczotą wonnych niedowcieleń, I kusił coraz głębiej – w tę zieleń, w tę zieleń!« (BL 137) »Da nahm ihn, als er rastete, mit Waldeszangen Der Dämon allen Grüns in seinen Wind gefangen, Verhieß, er würde ewig von Erblühtem nippen Und sog mit der geheimen Unlach wirrer Lippen Und zauberte Vernichten, Unverkörperungen, Verführte ihn ins Grün mit seinen grünen Zungen!« (D 1964: 18/D 1982: 68)

Einige Neuschöpfungen mit Negationscharakter, die Dedecius nachbildet, kann man auch im Deutschen als innovativ werten: »Unlach«, »Unverkörperungen« oder – weiter im selben Gedicht – »Gräserunwelt« (für »bezświat zarośli«), »Ohnetürme« (für »bezbrzask«).6 Einigen dagegen entsprechen im Zieltext unauffällige Lexeme (»zniszczota« – »Vernichten«). Ansonsten lässt Dedecius die Zieltext-Leser Leśmians ›Dichtung der Negation‹ in Texten nachempfinden, in denen normative Lexeme mit der Bedeutung von »Leere, Nichtigkeit, Unendlichkeit« (vgl. Głowiński 1981: 106) oder verneinte Indefinitpronomina gehäuft vorkommen – wie im Gedicht Samotność (Einsamkeit): [...] w mrok wybiegam na drogę I nic nie widząc dokoła, Zrozumieć siebie nie mogę! W brzozie mgła sępi się wiotka. Sen pusty!... Wracam do domu… Nie! Nikt się z nikim nie spotka! Nikt nie pomoże nikomu! (BL 421)7

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»Ohnetürme« ist keine sinngemäße Entsprechung von »bezbrzask«, das so viel wie »Ohnemorgengrauen« bedeutet. Die ganze Phrase »bezbrzask głuchy« wurde in D 1982 durch die nichtmetaphorische Wendung »dumpfe, ohne Sonne« ersetzt.

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Hervorhebungen hier und in allen weiteren Zitaten von mir, K.L.

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[…] Ich laufe hinaus auf die Gasse Und finde dort nichts, was man hört und sieht, Und finde nichts, was ich fasse! Der Nebel dunkelt im Birkenlaub. Ich geh zurück in mein Zimmer. Ein Niemand ist für den Niemand taub! Es hilft einem Niemand nimmer! (D 1964: 5)

Treffend vermitteln die Übersetzungen ein weiteres philosophisch motiviertes Merkmal von Leśmians Individualpoetik, nämlich sein rigoroses Festhalten an reinen Reimen und am traditionellen syllabotonischen Versbau mit ausgeprägten Rhythmen. In seinem Essay Rytm jako światopogląd (Rhythmus als Weltanschauung) erblickt Leśmian im Rhythmus das sprachliche Urelement aus der Zeit, als das Wort noch von rational-logischen Verstrickungen frei war. Der Rhythmus, dem Tanz und Gesang verwandt, führt – gemeinsam mit dem Reim – Worte zusammen, die der Intellekt auseinander getrieben hat (vgl. Markowski 2007: 95f.). In diesem Punkt trifft Leśmians auf dem Rhythmus aufbauender Personalstil auf die Übersetzungspoetik von Dedecius, für den »Rhythmus und Reim als Übersetzungsprioritäten« gelten (Chojnowski 2005: 247). Diese Affinität zweier Individualästhetiken bewirkt, dass Dedecius trotz einiger metrischer Abweichungen die melischen Qualitäten seiner Vorlagen erfolgreich nachbildet (vgl. Maliszewski 2004: 57).8 Allerdings kann auch die sorgfältigste Beachtung von Klangmustern, Rhythmen und Reimwirkungen, die man dem Übersetzer attestiert (vgl. Schultze 2008: 31), die sprachphilosophische Begründung des Rhythmus in Leśmians Gedichten kaum vermitteln – aus dem einfachen Grund: Dem deutschen Rezipienten fehlt der Einblick in die theoretischen Schriften des Autors, die manches von seinen ästhetischen Verfahren erhellen.

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Am besten gelang es wohl in der Übersetzung der Ballade Dziewczyna (Das Mädchen), die mit ihrem für polnische Literatur ungewöhnlichen, 17-silbigen Jambus und dem geradezu »hypnotischen« Rhythmus (vgl. Markowski 2007: 148) für Dedecius besonders ansprechend gewesen sein dürfte.

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›M YTHOS ‹ UND ›G ESCHICHTEN ‹: B RUNO S CHULZ ’ SPRACHPHILOSOPHISCHE G RUNDBEGRIFFE Bei Schulz sind die sprachphilosophischen Grundlagen seines Schaffens, die er v.a. im Essay Mityzacja rzeczywistości (Mythisierung bzw. Mythisieren der Wirklichkeit) erläutert, dank der vollständigen Übersetzung den deutschen Lesern zugänglich. Im Zentrum seiner Sprachauffassung steht der schillernde, facettenreiche Begriff des Mythos. Zum einen umfasst er den Fundus an universalen Bausteinen aller Weltkulturen: Stoffen, Motiven, Figuren, Erzählmustern, die dem kollektiven Unbewussten der Menschheit entspringen. Diese Auffassung des Mythos weist Ähnlichkeiten mit Thomas Manns Mythos-Begriff und mit C. G. Jungs ›Archetypen‹ auf (vgl. Bolecki 2006: 146; dazu auch Lukas 2010). Diese überzeitlichen Bausteine werden von Dichtern in narrative Formen überführt – »Geschichten«, die bei Schulz ebenfalls einen Bedeutungsaspekt des Mythos abdecken (vgl. ebd., S. 145). Zum anderen versteht er den Mythos als ursprünglichen Sinn der Sprache. Nach Schulz sei das Wort am Anfang der Menschheitsgeschichte ein mehrdeutiges, metaphorisches Gebilde gewesen, dessen Sinn den kommunikativen Bedürfnissen angepasst und allmählich verflacht wurde. Die Mythisierung der Wirklichkeit wäre demnach die sinnstiftende Tätigkeit des Menschen (des Dichters insbesondere) mit dem Ziel, das Wort auf seinen ursprünglichen, authentischen Sinn zurückzuführen – eine Aufgabe, die mit Mitteln der Poesie erfüllt werden kann. An den Schlüsselstellen des Mythisierung-Aufsatzes heißt es: »Poezja odpoznaje te sensy stracone, przywraca słowom ich miejsce, łączy je według dawnych znaczeń. U poety słowo opamiętuje się niejako na swój sens istotny […]. Dlatego wszelka poezja jest mitologizowaniem, dąży do odtworzenia mitów o świecie. […] Duch ludzki niestrudzony jest w glosowaniu życia przy pomocy mitów, w ›usensowianiu‹ rzeczywistości. […] Proces usensowiania świata jest ściśle związany ze słowem.« (BS 1989: 366f.) »Die Poesie erkennt diesen verlorenen Sinn, gibt den Wörtern ihren Platz wieder, verbindet sie gemäß ihren alten Bedeutungen. Beim Dichter erinnert sich das Wort gewissermaßen an seinen wirklichen Sinn […]. Deshalb ist jegliche Poesie Mythologisieren und sehnt sich nach der Wiedergabe der Mythen der Welt. […] Der unermüdliche menschliche Geist besteht im Glossieren des Lebens unter Zuhilfenahme

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der Mythen und in der ›Versinnlichung‹ der Wirklichkeit. […] Der Prozeß der Versinnlichung der Welt ist aufs engste mit dem Wort verbunden.« (BS 1992: 241f., Übers. J. Hahn) »Die Poesie erkennt diesen verlorenen Sinn wieder, sie gibt den Worten ihren Ort zurück und fügt sie gemäß ihren früheren Bedeutungen wieder zusammen. Bei einem Dichter besinnt sich das Wort gleichsam auf seinen wesentlichen Sinn […]. Deshalb ist jede Poesie Mythologisierung, sie trachtet danach, die Welt-Mythen wiederherzustellen. […] Der menschliche Geist ist unermüdlich, das Leben durch Mythen zu glossieren, die Wirklichkeit mit Sinn zu versehen. […] Die Welt mit Sinn zu versehen ist ein Prozeß, der eng mit dem Wort verbunden ist.« (BS 2008: 195f., Übers. D. Daume)

Die Rekonstruktion (»odtworzenie«) der Mythen der Welt heißt bei Schulz die Vermittlung von Archetypen, die – selbst unaussprechbar – der Überführung in einen Mythos (im Sinne eines Erzählmusters) bedürfen. Der Dichter leistet hier eine kreative Arbeit, indem er für den Archetyp – eine »noch unmittelbare seelische Gegebenheit« (Jung 1992: 9) – nach dessen Bewusstwerdung und Wahrnehmung eine narrative Form findet. Diese aktive Tätigkeit des Dichters geht aus der Übersetzung Daumes hervor: Das »Wiederherstellen« der »Welt-Mythen« legt einen mühsamen Aufbauprozess nahe, bei dem der Dichter eine neue poetische Qualität erschafft. Die Fassung von Hahn dagegen mit ihrer »Wiedergabe der Mythen der Welt« vermittelt das Bild eines passiven Nacherzählers, der bereits vorhandene Mythen lediglich reproduziert. Der Mythos-Begriff verliert in Hahns Übersetzung seinen psychoanalytischen Anklang und verweist eher auf die Mythologie als Sammlung von Geschichten über Götter und Helden. Aus der deutschen Version von Hahn ergibt sich somit ein imitativer Charakter der Poesie, während Daume deren schöpferischen Sinn unterstreicht. Auch dort, wo Schulz vom Prozess der Sinngebung durch das poetische Wort spricht (»usensowianie rzeczywistości«), infolge dessen eine für den Menschen wahrnehmbare, begreifliche Wirklichkeit entsteht, steht die Übertragung von Daume (»die Wirklichkeit mit Sinn versehen«) dem polnischen Original näher als diejenige von Hahn, die einen sensualistischen Duktus hat: Die »Versinnlichung« der Wirklichkeit legt nahe, dass das Wort des Dichters die Welt sinnlich wahrnehmbar macht, also die Mythen in anschaulichen, womöglich visuel-

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len Formen festhält. Hahns Interpretation impliziert eine andere Sprachphilosophie als diejenige von Schulz, indem sie die auf Jung zurückgehenden Konzepte (der Dichter als Medium des kollektiven Unbewussten) ausblendet oder diesen widerspricht.9 Schulz’ metapoetische Reflexion mit ihrer Affinität zum psychoanalytischen Diskurs findet in seiner Erzählung Wiosna ihr poetisches Gegenstück. Der titelgebende ›Frühling‹ lässt sich mit Poesie identifizieren, und die im Text dargestellte imaginäre Wanderung in die »Unterwelt« deutet man als Abstieg ins kollektive Unbewusste (vgl. Chwin 1994: 112). Die Schlüsselbegriffe sind hier der Plural »historie« (Geschichten) und das Kollektivum »dzieje«, die Schulz synonym gebraucht und mit dem Mythos gleichsetzt (vgl. Bolecki 2006: 223): dem in Archetypen des kollektiven Unbewussten schlummernden ›Stoff‹ der Dichtung: »Teraz wreszcie rozumie się ten wielki i smutny mechanizm wiosny. Ach, ona rośnie na historiach. Ile zdarzeń, ile dziejów, ile losów! […] Bo czymże jest wiosna, jeśli nie zmartwychwstaniem historyj.« (BS 1989: 160f.) »Jetzt endlich wird der große und traurige Mechanismus des Frühlings verständlich. Ach, er wächst auf Geschichte. So viele Erfolge, so viele Handlungen, so viele Schicksale! […] Worin soll der Frühling sonst bestehen, wenn nicht in der Auferstehung der Geschichte von den Toten!« (BS 1981: 160, Übers. J. Hahn) »Jetzt endlich wird der große und traurige Mechanismus des Frühlings verständlich. Ach, er wächst auf den Geschichten. Wie viele Ereignisse, wie viele Geschehnisse, wie viele Schicksale! […] Denn was ist der Frühling, wenn nicht die Auferstehung der Geschichten?« (BS 2013: 77, Übers. D. Daume)

Hahn erkennt die Bedeutung der Mehrzahl »historie« offensichtlich nicht: Die »Geschichte«, auf welcher der Frühling wächst bzw. die von den Toten aufersteht, ließe sich als eine Folge historischer Ereignisse interpretieren, was zur Missdeutung führt, Poesie solle den politischen und gesellschaftlichen Werdegang der Menschheit zum Inhalt haben. Dieselbe Interpretation ergibt sich aus der Wiedergabe von »dzieje« als »Handlungen«, womit man

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Archetypen sind nach Jung (1992: 9, Fußnote 8) visuell nicht darstellbar, sondern stellen »eine hypothetische, unanschauliche Vorlage« dar.

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eine feste Verankerung des Erzählten in der Realität assoziiert. Dabei widerspricht der Gebrauch von Schulz’ Schlüsselwörtern »dzieje« bzw. »historie« gerade der üblichen Semantik dieser Begriffe, für die solche Merkmale wie Konkretheit, Temporalität und Ereignishaftigkeit konstitutiv sind (vgl. Bolecki 2006: 145). Die Gleichsetzung von Schulz’ »Geschichten« und »Mythos« scheint Daume mit ihrem konsequent gebrauchten Plural »Geschichten« nachzuvollziehen. Die Übersetzerin ist sich der Bedeutsamkeit von Schulz’ Sprachphilosophie und des Essays Mityzacja rzeczywistości als deren Herzstück bewusst. Treffend fasst sie auch die Eigenschaften des Schulz’schen Idioms zusammen: dessen »komplexe Syntax, das ausgefallene Vokabular, das Pathos, die Ironie und andere Untertöne, verschiedene Fachsprachen und Regionalismen, Wortschöpfungen und nicht zuletzt die lautmalerischen Komponenten« (Daume 2008: 218). Sie versucht, dem deutschen Rezipienten zumindest eine Ahnung von diesem Stilreichtum zu vermitteln – anders als Hahn, der manches übersehen bzw. überhört hat, z.B. die Lautwiederholungen. Dies illustriert etwa folgende Stelle aus der Erzählung Wichura (Der Sturmwind bzw. Der Sturm): »Strychy, wystrychnięte ze strychów, rozprzestrzeniały się jedne z drugich i wystrzelały czarnymi szpalerami […].« (BS 1989: 85) »Die aus den Dachböden emporgewachsenen Dachböden erweiterten sich einer aus dem anderen und schossen (sic) als schwarze Spaliere in die Höhe […].« (BS 1981: 90, Übers. J. Hahn) »Die aus den Speichern ausgespeicherten Speicher stülpten sich aus, die einen aus den anderen, sie trieben schwarze Spaliere […].« (BS 2008: 157, Übers. D. Daume)

Während Hahn sich hier eher am Designat (»Dachböden« als wörtliches Äquivalent von »strychy«) orientiert, bemüht sich Daume mit den angehäuften Zischlauten um dem Original ähnliche lautmalerische Effekte. Dabei sind gerade Schulz’ Onomatopoetika sprachphilosophisch motiviert: Sie verweisen auf die substantielle Verbundenheit zwischen Begriffen und Klangformen (vgl. Markowski 2007: 237f.), auf die Kontinuität von Zeichen und Dingen, in der Schulz den »Sinn« der Realität erblickt (vgl. ebd.: 243f.).

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F AZIT Aus deutscher Sicht scheint das komplexe Gefüge, das die Signale kultureller Prägung sowie der (sprach-)philosophischen Reflexion und der IdiolektMerkmale in Leśmians und Schulz’ Werk ausmachen, bei dem Letzteren leichter erkennbar und sprachlich rekonstruierbar zu sein. Schulz’ kulturelle Chiffren sind diskursiviert, verweisen auf den mitteleuropäischen und nicht typisch polnischen Kultur-Code. Leśmians ethnokulturelle Stilelemente dringen in seine Sprache auf eine Weise ein, in der sie die weltliterarischen, universellen Bezüge seines Œuvres zurückdrängen.10 Schulz’ philosophisches Sprachkonzept ist für deutsche Leser auch deswegen nachvollziehbarer, weil es in den Leitvorstellungen von ›Mythos‹ und ›Geschichten‹ verschlüsselt ist und, im Aufsatz von der ›Mythisierung der Wirklichkeit‹ expliziert, gleichsam ›neben‹ seinem poetischen Werk besteht. Leśmians Idiolekt dagegen erwächst direkt seinen philosophischen Ideen, die er gerade in diejenigen grammatischen bzw. morphologischen Strukturen der polnischen Sprache einschreibt, die sich im Deutschen kaum wiedergeben lassen. Seine Individualästhetik erschließt sich nur den Rezipienten vollkommen, die des Polnischen mächtig sind (vgl. Trznadel 1999: 23f.). Die stichprobenartig angeführten Translate erlauben Rückschlüsse auf das Konzept des jeweiligen Übersetzers, den zu übertragenden Dichter in den zielsprachigen Literaturbetrieb einzuführen. Josef Hahn bahnte dem Schulz’schen Gesamtœuvre (den Erzählungen und den Metatexten) den Weg in die deutsche literarische Öffentlichkeit. Bei all seinen Bemühungen um die Vollständigkeit der Übersetzung hat er die Relevanz vieler semantischer Code-Elemente verkannt, die Schulz’ interdiskursive Bezüge etwa zu Jungs Archetypen-Lehre signalisieren. Hahns Übersetzung legt zuweilen philosophisch-ästhetische Ansichten nahe, die von denen des Originalautors wegführen – vielleicht deswegen, weil die polonistische Schulz-Forschung in den 1960er Jahren noch in den Anfängen steckte und dem Übersetzer keinen Rückhalt bieten konnte. Nach den inzwischen fünfzig Jahren, die seit Hahns Pionierleistung vergangen sind, ist die polnische und ausländische ›Schulzologie‹ kaum überschaubar. Hahns Nachfolgerin, die – wie ihre Nachworte

10 Die Intertexte, die Leśmian aufruft, reichen von der Bibel über die antike Mythologie bis hin zum weltliterarischen Kanon (vgl. Kaźmierczak 2012: 239).

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belegen – mit Fachwissen bestens gerüstet ist, kommt es darauf an, die Unzulänglichkeiten der Vorübersetzung zu bereinigen. Daume bemüht sich darum, die bei ihrem Vorgänger nicht erkennbaren interdiskursiven (v.a. sprachphilosophischen) Bezüge, aber auch die »lexikalischen und satzbaulichen Finessen« und die »musikalischen Qualitäten« von Schulz’ Individualästhetik zumindest ansatzweise nachzubilden (vgl. Daume 2008: 221). Ihre translatorische Leistung will mit dem aktuellen philologischen Forschungsstand Schritt halten und eröffnet ein neues Kapitel in der deutschen SchulzRezeption. Karl Dedecius gesteht, »kein großer Kenner« von Leśmians Poesie zu sein (Dedecius 1974: 168). An seine Vorlagen geht er nicht als Literaturtheoretiker, sondern als Künstler heran. Indem er vielmehr seiner Intuition, Musikalität und dem Sprachgefühl vertraut als den philologischen Fachkenntnissen, die man sich kraft des Intellekts aneignet, 11 handelt er gewissermaßen ganz im Sinne von Leśmians Poesie-Auffassung. Die sprachsystemischen Unterschiede zwischen dem Deutschen und Polnischen bedingten wohl Dedecius’ Entscheidung, in seinen Anthologien ein ›zugeschnittenes‹ Bild von Leśmian zu vermitteln: Das Slavisch-Volkstümliche rückt der Übersetzer in den Hintergrund und präsentiert Leśmian als metaphysischen Dichter der Einsamkeit und des existentiellen Zweifels, aber auch als Autor von Liebeslyrik. Diesen Eindruck verstärkt noch Leśmians Verortung inmitten polnischer Symbolisten. In den Anthologien war naturgemäß kein Platz für die programmatischen Texte. Die Folge ist, dass weder Leśmians (sprach-) philosophische Inspirationsquellen noch seine ›mythopoetischen‹ Parallelen zu Schulz sich in den vorhandenen Übersetzungen erkennen lassen. Dennoch erfüllten Dedecius’ Übertragungen eine Pionierrolle bei der Einführung des polnischen Dichters in deutsche Leserkreise. Es ist wohl kein Zufall, dass die deutschen Erstfassungen von Schulz und Leśmian rund fünf Jahrzehnte zurückliegen; bedarf doch jedes Meisterwerk der Weltliteratur angeblich alle fünfzig Jahre einer Neuübersetzung. Was Schulz betrifft, so hat Daume dieses Postulat verwirklicht. Die Übertragung von Dedecius

11 Es ist jedoch zu betonen, dass Dedecius beim Zusammenstellen seiner Anthologien namhafte polnische Literaturhistoriker zu Rate zieht (vgl. Chojnowski 2005: 214-215) und selbst, auch ohne akademische Polonistik-Ausbildung, zu den hervorragendsten Kennern der polnischen Literatur gehört.

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könnte ein Ansatz für ein umfangreicheres translatorisches Vorhaben in Bezug auf Leśmian sein. Nach Markowski liegen die Probleme mit allen Leśmian-Übersetzungen in dessen Überzeugung von schöpferischen Kräften des Wortes begründet: Da jeder Dichter mithilfe des nur ihm eigenen Idioms eine singuläre Wirklichkeit erschafft, sind seine Worte und seine Wirklichkeit unersetzbar und folglich unübersetzbar (Markowski 2007: 99f.). Diese ontologische Argumentation könnte man noch weiter ausführen. In Leśmians (und Bergsons) Idee, dass jedes Dasein im Wandel begriffen ist und eine vollkommene Form nur anstreben, aber nie erreichen kann, erblickt man unschwer Analogien zum Wesen der translatorischen Serie: Die Offenheit, das Vorwärtsstreben, die ständige Vorläufigkeit der einzelnen übersetzerischen Lösungen und die Nur-Potentialität der ›idealen‹ Übersetzung machen nach Balcerzan (1980: 156) die ontologische Eigenart jeder künstlerischen Übertragung aus. Erinnert diese Auffassung nicht etwa an Leśmians »Unverkörperungen«, die stets nur vorläufigen ›Zwischenformen‹ der Existenz? Im Grunde genommen ist diese ontologische Vision optimistisch: Sie regt dazu an, für Leśmian in deutscher Sprache doch nach einer neuen ›Verkörperung‹ zu suchen.

L ITERATUR Balcerzan, Edward (1980): Die Poetik der künstlerischen Übersetzung. In: Kaiser, Gerhard R. (Hg.): Vergleichende Literaturforschung in den sozialistischen Ländern. 1963-1979. Stuttgart: Metzler, S. 155-167. BL = Leśmian, Bolesław (2010): Dzieła wszystkie. Poezje zebrane. Hg. von Jacek Trznadel. Warszawa: PIW. Bolecki, Włodzimierz (2006): Historia, Mit. In: Bolecki, Włodzimierz & Jerzy Jarzębski, Stanisław Rosiek (Hg.): Słownik schulzowski. Gdańsk: słowo/obraz terytoria. S. 145-147, 222-223. BS 1981 = Schulz, Bruno (1981): Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. Aus dem Polnischen übersetzt von Josef Hahn. Frankfurt a.M.: Fischer. BS 1989 = Ders. (1989): Opowiadania, wybór esejów i listów. Wrocław etc.: Ossolineum. BS 1992 = Ders. (1992): Das Mythisieren der Wirklichkeit. In: Ders.: Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes. Aufsätze und Briefe. Hg. von Jerzy

L EŚMIAN UND S CHULZ

IN DEUTSCHEN

ÜBERSETZUNGEN | 143

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Gesellschaftskritik übersetzen Auseinandersetzungen mit der polnischen Gesellschaft in Sylwia Chutniks Roman Dzidzia und dessen Übertragung ins Deutsche1 M AGDA W LOSTOWSKA

E INLEITUNG Bei einem Übersetzungsvorhaben steht jeder Übersetzer und jede Übersetzerin vor einer sprachlichen Herausforderung und meist auch vor der Aufgabe, das Original in einen anderen kulturellen Kontext zu übertragen. Zusätzlich problematisch wird es jedoch, wenn die im Original geäußerten Positionen den hegemonialen Diskursen ihres Entstehungskontextes entgegenstehen. Der 2009 erschiene Roman Dzidzia der Autorin Sylwia Chutnik ist ein gutes Beispiel dafür, denn er enthält eine wütende und drastische Kritik an der polnischen Gesellschaft, an den offiziellen polnischen Erinnerungsnarrativen, an nationalen Weiblichkeits- und Mutterschaftsmythen. Die Übersetzung dieser Gesellschaftskritik ins Deutsche gestaltet sich jedoch nicht nur aufgrund einer mutmaßlich konterkarierten Erwartung an ein traditionelles und

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Der Beitrag basiert auf dem Manuskript zu einer am 18.1.2014 im Bunkier Sztuki in Krakau stattgefundenen Lesung und Diskussion mit der polnischen Autorin Sylwia Chutnik, dem Übersetzer Olaf Kühl sowie den beiden TransStar EuropaTeilnehmerinnen Zosia Sucharska und Magda Wlostowska.

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patriotisches Polen schwierig, auch die Formulierung einer Kritik an polnischen nationalen Denkmustern und an polnischer Erinnerungskultur erscheint vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Geschichte, insbesondere der Gräuel des Zweiten Weltkrieges und der Shoah, als fragwürdig. Nach einem kurzen Abriss der in Dzidzia erzählten Geschichte(n) und ihrer formalen Umsetzung folgen einige Bemerkungen zum Entstehungskontext und der Rezeption des Werkes in Polen. Dabei wird insbesondere Chutniks implizite Gesellschaftskritik im Vordergrund stehen, denn diese birgt, wie anschließend an zwei ausgewählten Themenkomplexen gezeigt und diskutiert wird, Schwierigkeiten bei der Übertragung ins Deutsche. Es wird argumentiert, dass universelle Anteile dieser Kritik trotz der kulturellen Spezifik und trotz des Bezugs auf einen polnischen nationalen Rahmen ins Deutsche übersetzbar sind.

S IMULTANITÄT VON V ERGANGENHEIT UND G EGENWART : D IE G ESCHICHTE ( N ) IN D ZIDZIA Im Mittelpunkt des im heutigen Polen spielenden Romans Dzidzia stehen die mit zahlreichen Behinderungen und ohne Gliedmaßen auf die Welt gekommene Karolinka, genannt Dzidzia [Babylein], sowie ihre alleinerziehende Mutter, Danuta Mutter2, deren beschwerliches, um die pflegebedürftigen Tochter herumarrangiertes Leben im Warschauer Vorort Gołąbki dargestellt wird. Doch die Geschichte Dzidzias nimmt ihren Anfang bereits im Zweiten Weltkrieg, als Danutas Großmutter, Stefania Mutter, nach dem Warschauer Aufstand 1944 Flüchtlinge bei sich in dem kleinen Dorf unweit der Hauptstadt aufnimmt. Nur wenige Tage später gibt Stefania die mutmaßlich betuchten Frauen an deutsche Soldaten preis und nimmt ihren Tod aus Gier in Kauf. Gegenwart und Vergangenheit, Opfer und Täter_innen, Dzidzias Existenz und die Tat der Großmutter scheinen in Verbindung zu stehen – Dzidzia gleichsam die »Strafe« für das Geschehene zu sein, wie eine der Kapitelüberschriften des Romans nahelegt. Diese Art der Verwebung von Zeitstufen ist charakteristisch für Chutniks Roman. Sie verweist auf eine romantisch-messianische Geschichtsauffas-

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Deutscher Nachname im polnischen Original.

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sung und die stets präsente Erinnerung an Leid und Märtyrertum in vorherrschenden Diskursen der polnischen Gesellschaft. Diese von Chutnik parodierten Denkmuster haben ihren Ursprung in den Teilungen und der staatlichen nicht-Existenz Polens im 18./19. Jahrhundert sowie den erfolglosen Aufständen zur Wiedererlangung der staatlichen Souveränität. Eine kulturelle Verarbeitung erfuhren sie in der polnischen Romantik. So entstammt etwa das prägnante Topos von Polen als ›Messias der Völker‹ aus dem im Exil entstandenem Stück Dziady [Die Ahnenfeier] von Adam Mickiewicz. Auch in der täglichen Konfrontation Danuta Mutters mit böswilligen Nachbarn, engstirnigen Behörden oder der katholischen Kirche wird der romantische Nachhall in der polnischen Gesellschaft von seiner Kehrseite, der Opferhaltung, den Verschwörungstheorien, Neid, Gier und Missgunst gezeigt. Gleichzeitig wird jedoch Danutas Verflochtenheit mit eben diesen Vorstellungen und Diskursen immer wieder evident. So z.B. in einer der Schlussszenen (Chutnik 2009: 143-161) des Romans, als Danuta in Heilserwartung zum Gericht in die Hauptstadt fährt, um Gerechtigkeit für sich und ihr Kind einzufordern. Als sie schließlich feststellt, dass das Gericht an diesem Tage geschlossen ist, setzt Danuta zu einem klagenden Monolog gegen das Schicksal, das ihr wiederfahren ist, an – hier diente ein Monolog, die Wielka improwizacja [Große Improvisation], der Hauptfigur Konrad aus Adam Mickiewiczs Stück Dziady als Vorlage. In diesem Auftritt lehnt sich der Protagonist gegen Gott auf und beklagt die Leiden der polnischen Nation. Nicht nur an dieser Stelle strotzt Chutniks Erzählung vor Ironie. Sprachlich bedient sich die Autorin darüber hinaus grotesker Überzeichnungen, drastischer Beschreibungen und eines saloppen, manchmal zynischen Tons, etwa in den Passagen, in denen der Mord an polnischen Zivilistinnen durch deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg beschrieben wird: - »Verzeihung, sind Sie die Damen Markiewicz?« - »Ja, wir sind’s.« - »Angenehm, ich bin das Übermenschenkommando SS, Befehlshaber der siegenden Truppen, Herr Dummkopf mein Name. Ich muss mich leider ganz herzlich dafür entschuldigen, dass Sie nun umkommen müssen. Und das sofort, weil ich’s etwas eilig hab’. Gleich gibt’s Mittagessen in zwei Näpfen, damit ich ein bisschen esse und zu Kräften komme. Schmatz, schmatz. Vieles Kraft, verstehen? Soldat vieles Kraft und vieles Rechthaben.« (Ebd., S. 21; Übersetzung M.W., deutsche Ausdrücke im polnischen Original sind hier kursiv markiert)

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Auch ist eine makabre Komik von der Autorin intendiert, wenn etwa die Aufzählung der Gebrechen und Krankheiten Dzidzias unerwartet noch von »Schuppen« gekrönt wird (ebd., S. 29) oder Dzidzias Behinderung thematisiert wird: »[Dzidzia] versucht ihren leeren Blick an die putzende Mutter zu heften. Das Gesicht wird zur Grimasse, sie versucht einen Laut von sich zu geben. Ein Räuspern: Schüttle mir das Kissen auf! Zwei Räusper: Durst, ich hab’ Durst. Und drei sind: Gib’ mich endlich bei der Sterbehilfe ab, weil ich’s, Scheiße nochmal, nich’ mehr aushalten kann.« (Chutnik 2014: 122)

Darüber hinaus ist ein zum Teil collagenhafter Stil auffällig, in welchem Zitate aus Radiosendungen oder Kriegsliedern, ebenso wie die zahlreichen Gespräche von gewöhnlichen Leuten auf dem Markt (Chutnik 2009: 33f.) oder auf der Post (ebd., S. 101-104) miteinander verstrickt werden, oftmals mit changierenden Erzählperspektiven. Umgangssprache, Neologismen, Fehler und Versprecher der Figuren lassen immer wieder Ironie und Komik entstehen. Zudem korrespondiert diese Kakophonie mit der permanenten Verwebung von Vergangenheit und Gegenwart. Insgesamt lässt die so hervorgerufene Dichte der Erzählung den Eindruck entstehen, den man auch beim Betrachten eines kubistischen Gemäldes erfährt: Das gleichzeitige Nebeneinander unterschiedlicher Perspektiven auf einen Gegenstand, durch das die unterschiedlichen Facetten zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ist dieser Gegenstand, wie im Falle des Romans Dzidzia, die polnische Gesellschaft, legt die Simultanperspektive einen einzigartigen Blick auf das Spannungsverhältnis von nationalen Mythen und gesellschaftlicher Realität, von offizieller Geschichtsschreibung und alltäglichen Erfahrungen offen.

D ER F INGER IN DER W UNDE : E NTSTEHUNGSKONTEXT UND R EZEPTION VON D ZIDZIA Der scharfzüngige Roman Dzidzia wurde ambivalent aufgenommen. Die formulierten Vorwürfe reichten von literarischem Dilettantismus bis hin zu Ba-

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nalität (Nowacki 2010), stets war aber auch Sylwia Chutniks nicht den gängigen patriotischen Lesarten entsprechende Sicht auf die polnische Gesellschaft Gegenstand der Kritik: »Wir sind eine Nation von Heuchlern, die für das menschliche Leid unempfänglich sind, voller Chauvinismus und Verlogenheit. Wir sind streitsüchtig, zurückgeblieben und entbehren jedweder Moral. Solche Wahrheiten über die Polen verkündet Sylwia Chutnik, die davon überzeugt ist, dass sie damit unseren nationalen Charakter entdeckt hätte. Gelinde ausgedrückt, ist das Buch der jungen Schriftstellerin unklug.« (Fuzowski 2010; Übersetzung: M.W.) 3

Wut sei das treibende Motiv der Arbeit an ihrem zweiten Roman gewesen, gab die Autorin in einer Radiosendung an (Zostaw wiadomość 2010). Und tatsächlich formuliert Chutnik in ihrem Roman eine feministische Kritik an der polnischen Gesellschaft, eine scharfe Kritik an den offiziellen Erinnerungsnarrativen in Polen – vor allem in Chutniks Heimatstadt Warschau – sowie die Kritik an polnischen Denkmustern im Allgemeinen. Diese thematischen Koordinaten waren bereits in dem 2008 erschienenen Debüt der Kulturwissenschaften- und Gender-Studies-Absolventin, die sich als Publizistin, feministische Aktivistin, Stadtführerin sowie Dozentin in der polnischen Öffentlichkeit engagiert, auszumachen. In dem Roman Kieszonkowy atlas kobiet (Taschenführer Frauen, dt. als Weibskram, 2012), für den sie mit dem renommierten Preis Paszport Polityki ausgezeichnet wurde und für die Nike, den wichtigsten polnischen Literaturpreis, nominiert war, hinterfragte sie etwa die Konstruktion von nationalen Erinnerungsnarrativen und erzählte in vier Episoden eine Geschichte der Stadt Warschau vom Zweiten Weltkrieg bis heute aus der Perspektive von Frauen, ohne diese Gruppe jedoch zu homogenisieren. Gerade dieses Werk ist in einer Zeit entstanden, in der das gesellschaftliche Klima in Polen angespannt war. In der Öffentlichkeit hallte noch die sogenannte »Jedwabne-Debatte« um den polnischen Antisemitismus und die fragwürde Konstruktion von Polen als passive Opfer nach. Seit 2005 regierte eine aus den konservativen und nationalistischen

3

»Jesteśmy narodem nieczułych na ludzką krzywdę dewotów, pełnych szowinizmu, hipokryzji, jesteśmy kłótliwi, zacofani i pozbawieni moralności. Takie prawdy o Polakach wygłasza Sylwia Chutnik i jest przekonana, że odkrywa nasz narodowy charakter. Mówiąc delikatnie, książka młodej pisarki jest niemądra.«

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Parteien PiS, LPR und Samoobrona4 bestehende Koalition, deren Programm auch sogleich in eine entsprechende Politik umgesetzt wurde, etwa als der Vorsitzende der LPR und polnische Bildungsminister, Roman Giertych, ein »patriotisches Bildungsprogramm« erarbeitete und Literaturklassiker wie Witold Gombrowicz aus dem schulischen Literaturkanon streichen ließ. Auch weithin waren EU-Skeptizismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie, so etwa in den gewaltsamen Auseinandersetzungen um die jährlich in Warschau stattfindende Parada Równości [Gleichheitsparade], in der für Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen demonstriert wird, in der Öffentlichkeit stets präsent. Chutniks Schaffen kann als Intervention gegen diese chauvinistischen Erscheinungen und Entwicklungen gelesen werden. Chutniks Roman gegen den in der Romantik begründeten Opfer- und Leidenskult der polnischen Gesellschaft wurde daher auch positiv rezipiert 5: »Dzidzia ist ein verzweifelter Appell an Polen, das endlich die Leichen, die Schuld und die Strafen abschütteln soll. Möge endlich Normalität einkehren«6 (Wolny-Hamkało 2010; Übersetzung M.W.). Chutnik selbst betont, ihr Ansinnen sei es gewesen, aktiv auf Debatten in der polnischen Öffentlichkeit einzuwirken und so gegen die von ihr kritisierten hegemonialen Diskurse, in denen Antisemitismus, Verschwörungstheorien, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Xenophobie ihren Platz haben, anzugehen. Sie selbst betrachte ihre Gesellschaftskritik jedoch nicht als destruktive Negation, nicht als unpatriotisch (so in Zostaw wiadomość 2010). Ganz im Gegenteil möchte sie Alternativen zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen aufzeigen, ohne dabei jedoch die gesellschaftliche Realität außer Acht zu lassen.

4

PiS: Prawo i Sprawiedliwość [Recht und Gerechtigkeit] – rechtskonservativ; Liga Polskich Rodzin [Liga Polnischer Familien] – nationalistisch; Samoobrona [Selbstverteidigung] – rechtspopulistisch.

5

Marcin Liber diente Dzidzia als Vorlage für sein Theaterstück III Furie [Drei Furien], das 2011 am Helena-Modrzejewska-Theater in Legnica seine Premiere feierte und polenweit Beachtung fand.

6

»Dzidzia to rozpaczliwy apel o Polskę, która wreszcie otrząsnęłaby się z trupów, win i kar. Niechże będzie normalnie.«

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G ESELLSCHAFTSKRITIK ÜBERSETZEN : D ZIDZIA AUF D EUTSCH Auch wenn eine deutsche Übersetzung von Dzidzia zu einem besseren Verständnis der polnischen Gesellschaft beitragen und eine andere Facette im gängigen Bild von Polen zum Vorschein bringen könnte, die so gar nicht dem Stereotyp eines katholischen, traditionellen und patriotischen Polen entsprechen will, soll die Problematik des Übersetzens solcher Gesellschaftskritik aus dem Polnischen gerade ins Deutsche nicht unterschätzt werden. Wie lässt sich mutmaßlich berechtigte Kritik an der polnischen Gesellschaft und der politischen Kultur im Deutschen formulieren? Die Frage zielt nicht nur darauf ab, wie den unterschiedlichen kulturellen Kontexten entsprechend Rechnung getragen werden kann, sondern auch darauf, wie eine Kritik an polnischer Erinnerungskultur auf Deutsch klingt, insbesondere vor dem Hintergrund der Gräuel des Zweiten Weltkriegs und der Shoah. Wie lässt sich eine angemessene Übertragung der Form finden? Im Folgenden möchte ich das an zwei Themenkomplexen, der Kritik an polnischen Weiblichkeits- und Mutterschaftsmythen sowie der Kritik an polnischen Erinnerungsnarrativen, skizzieren. Weiblichkeits- und Mutterschaftsmythen: Mit feministischer Kritik gegen die ›Matka Polka‹ Chutniks Hauptfiguren sind stets weibliche Figuren. Bei Dzidzia rücken speziell die Figur der Mutter und die Vorstellungen von Mutterschaft in den Fokus der Betrachtung, schließlich trägt die Hauptfigur nicht ohne Grund den Nachnamen »Mutter«. Durchgehend ist die Autorin um eine Sichtbarmachung von weiblicher Reproduktions- und Fürsorgearbeit bemüht, indem sie beispielsweise ohne Tabu die Bürden und Mühen schildert, die mit der Pflege eines kranken Kindes verbunden sind und die keinen Eingang in die offiziellen Bilder von Mutterschaft finden: »Das vierte Töchterchen Danuta Mutters wurde mit einem Wasserkopf und ohne Gliedmaßen geboren. Es leidet an Epilepsie, einer Rundum-Lähmung und zu all dem hat es auch noch Schuppen. Zur Zeit zählt es 16 Jahre, und heißt Babylein-Kümmerling, weil es wirklich gar nichts alleine auf die Reihe kriegt. Es liegt den ganzen Tag

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nur da und macht in die Hose. Die Mutter muss das dann wegmachen, die Mutter muss es umziehen und abwischen. Sie nimmt so einen weichen Schwamm und wischt die verkrusteten Essensreste aus den Mundwinkeln.« (Chutnik 2014: 121)

Schwangersein, Kindergebären, Kinder- und Krankenpflege gilt als »Frauensache« und stößt seitens des Ehemannes oder des polnischen Staates auf wenig Interesse: »Sozialhilfe, Krankenbeihilfe und die Krankenrente der Mutter. Kein Unterhalt, da es dem Mann in den Sinn gekommen ist zu sterben und nun zahlt er nicht, außerdem hat er von Anfang an gesagt, dass sie’s abtreiben soll, wozu Bälger säen, abtreiben, aber die Alte wollte ja nich’ hören und jetzt hat sie den Salat. Soll sie sich doch abmühen, soll sie doch im stickigen Zimmer jauchzen, in ihren erstickenden, alten Klamotten.« (Ebd., S. 122)

Auch von ihren Nachbarn oder ihrer Familie erfährt Danuta keine Unterstützung; sie ist dennoch einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt, ihre schwierige soziale Lage und die Pflege des Kindes nicht nur zu meistern, sondern auch widerstandslos und unter Aufgabe eigener Wünsche und Bedürfnisse zu akzeptieren (Chutnik 2009: 33f.). Diese Kritik an den gesellschaftlichen Zuschreibungen an Weiblichkeit und Mutterschaft sind ohne weiteres aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzbar, weil die patriarchalen Strukturen, von denen sie hervorgebracht werden, nicht an Staats-, Sprach- oder Kulturgrenzen halt machen. Eine entscheidende Nuance der Kritik könnte jedoch bei der Übersetzung ins Deutsche verloren gehen: In einem Radiointerview bestätigt Chutnik, dass Danuta Mutter eine aktuelle Version der ›Matka Polka‹ [Mutter Polin] darstellt. Dabei handelt es sich um eine spezifische polnische Mutterschaftskonzeption, in der eine Verschränkung von Familie und Nation vorgenommen wird und die Frau in der Rolle der Mutter nicht nur zum Wohle ihres Kindes, sondern auch zum Wohle der gesamten Nation handelt. Dieser in der polnischen Romantik begründete messianische Mutterschaftsmythos hat durch alle politischen Systeme und Konjunkturen hinweg bis heute einen nicht unbedeutenden Einfluss auf polnische Weiblichkeits- und Mutterschaftskonstruktionen:

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»Entwicklungen, die diesem Bild entgegen stehen, sind umkämpft – man erinnere sich an die Angriffe auf die in Polen jährlich stattfindenden Gleichheitsmärsche oder die nicht enden wollende Diskussion um die Gesetzgebung zur Abtreibung –, veranschaulichen aber eine nicht mehr aufzuhaltende Pluralisierungen der Meinungen, bspw. auch durch queere Positionen, die mehr und mehr Aufmerksamkeit ein- und die von Politik und Gesellschaft propagierte Idee einer homogenen polnischen Nation herausfordern.« (Schnalzger 2011: 103)

Dem breiten deutschsprachigen Lesepublikum mag die Figur der ›Matka Polka‹ nicht bekannt und somit diese Interpretation unzugänglich sein, dennoch würde die Übersetzung von Dzidzia universelle feministische Kritik an der Verteilung von Reproduktions- und Fürsorgearbeit oder die Kritik an tradierten Vorstellungen von Weiblichkeit bieten. Polnische Erinnerungskonstruktionen: Mit ›Herstory‹ gegen den ›Messias der Völker‹ Untrennbar von einer feministischen Gesellschaftskritik ist in Chutniks Roman auch die Kritik an den polnischen Erinnerungsnarrativen und ihren Konstruktionen. In Dzidzia wird schließlich auch die Geschichte von vielen leidenden Frauen erzählt, für die es gemeinhin nicht viel Platz in den hegemonialen nationalen Narrativen gibt. Diese Narrative, die von offizieller Politik, Diplomatie, Kriegen, Siegen und Niederlagen handeln, sind meist dem männlichen, heldenhaften Leiden vorbehalten, ihnen wird in Form von Denkmälern gedacht. Was Sylwia Chutnik unter »weiblicher Erinnerung« versteht, ist hingegen die Alltagsgeschichte (Zostaw wiadomość 2010). Dazu zählen zum Beispiel auch die Sorgen von Müttern um ihre Kinder oder Dinge des Alltäglichen in Zeiten des Krieges, so Chutnik weiter. Ihr Anliegen sei es, abseits vom Zentrum und der offiziellen Narration einen Blick auf die scheinbaren Ränder der Geschichte und der Erinnerung zu werfen. Auch Sylwia Chutniks Debütroman Kieszonkowy atlas kobiet, ihr alternativer Stadtführer Warszawa Kobiet (Warschau der Frauen, 2011) oder die Mitarbeit an der Dokumentation Powstanie w bluzce w kwiatki. Życie codzienne kobiet w czasie Powstania Warszawskiego (Der Aufstand in geblümter Bluse. Alltagsleben von Frauen während des Warschauer Aufstands, 2009) sind Projekte, die auf diese Fokusverschiebung in der Historiografie abzielen und sich statt mit der herkömmlichen, auf Männer konzentrierten

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›History‹ mit der Geschichte von Frauen, der ›Herstory‹, beschäftigen. Wie Bożena Chołuj feststellt, ist diese Tendenz seit den 1990er Jahren nicht nur in Polen zu beobachten, sondern spiegelt transnational eine Entwicklung in der Arbeit zahlreicher Wissenschaftler_innen und Schriftsteller_innen wieder, die den Alltag und politisch vermeintlich unwichtige Ereignisse vor allem in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt rücken (Chołuj 2012: 265). Chołuj essentialisiert nicht, wenn sie von einem anderen, ›weiblichen‹ Erinnern spricht, sondern weist nur darauf hin, dass die Erinnerung von Frauen aus sozialen Gründen auf anderen (alltäglichen) Erlebnissen basiert als die von Männern und der gesellschaftliche Stellenwert dieses Erlebten zudem ein anderer ist: »Eines wiederholt sich aber: der Krieg, der in ihren [der Frauen, Anm. M.W.] literarischen Texten und Memoiren beschrieben wird, wird nicht mit Heroismus verbunden. Wenn es dort um besondere Leistungen geht, dann ergeben sie sich meist aus der Konfrontation der traditionellen Weiblichkeit mit den extrem schwierigen Überlebensbedingungen. Daher haben wir es nicht nur mit einer unterschiedlichen Situierung von Wissen vom Krieg zu tun, sondern auch mit einer divergierenden Art, sich an ihn zu erinnern. Es ist eine zweifache Situierung: durch individuelle Erlebnisse einerseits und durch die historiographische Wertung dieser Erlebnisse andererseits.« (Ebd., S. 274)

In diesem Sinne hält also auch Chutnik dem offiziellen polnischen Narrativ ein ›weibliches‹ entgegen. Eine Übersetzung dieses politischen Ansinnens ins Deutsche ist auch hier ohne weiteres möglich. Doch die Pluralisierung der Erinnerung ist nur eine Schlagrichtung ihrer Kritik. Vor allem ist auch die Persistenz der messianischen Romantik in der polnischen Erinnerungskultur Gegenstand von Chutniks Kritik und ist hier wiederum spezifisch polnisch, wodurch das Verständnis außerhalb des polnischen Kontextes erschwert ist. Denn das polnische Geschichtsnarrativ, in dem die traumatisierenden Geschehnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in einem nationalen Mythos, der sich um die Opferrolle drehe, verarbeitet werden, stehe – so Aleida Assmann – den Tendenzen im westlichen Europa, wo ein Brüchigwerden nationaler Mythen zu beobachten sei, entgegen:

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»Das Schlagwort von Polen als ›Messias der Völker‹ betont diesen geradezu sakrosankten Status polnischer Martyrologie. Im Lichte dieses tief eingeschliffenen Musters kultureller Erfahrungsverarbeitung ist es nahezu unmöglich den Status anderer – der jüdischen – Opfer anzuerkennen und sich auch mit eigener Schuld – etwa der Geschichte des katholischen Antisemitismus – auseinanderzusetzen. Auch hier bewirkt die Verallgemeinerung eines Erfahrungsmusters die Ausblendung und Abweisung anderer, damit nicht vereinbarer Erinnerungen.« (Assmann 2006: 262)

Am greifbarsten wird Chutniks in Ironie gekleidete Kritik in der grotesken Szene, in der die Figur der Danuta vor den verschlossenen Türen des Gerichts zum Monolog ansetzt und eine Klage an der polnischen Gesellschaft und an einem Polen formuliert, »[w]o kein Platz für das Vergessen ist, sondern immerzu der Finger in der Wunde rührt, die durch die Lanze in die Seite gestochen wurde. Die Erinnerungen wechseln, aber ewig bleibt das Gefühl des erlittenen Leids. Dass sie’s uns angetan haben, dass wir es den anderen angetan haben. Dass der Mensch dem Menschen was getan hat, und die Geschichte uns allen.« (Chutnik 2009: 145; Übersetzung M.W.)

Hierbei sollte betont werden, dass sich Chutnik nicht für das Vergessen oder gegen das Erinnern ausspricht. Bei der Übersetzung von Kritik, die auf spezifisch polnische Erinnerungsnarrative abzielt, sollte jedoch die ungewollt hervorgerufene mögliche Bedeutungsverschiebung berücksichtigt werden. Kein Schlussstrich soll unter Tod und Leid im Warschauer Aufstand oder im Zweiten Weltkrieg gezogen werden. Vielmehr klagt Sylwia Chutnik die Art dieser Erinnerung an, etwa die Homogenisierung und Tilgung von Ambivalenzen sowie eine Fokussierung auf die ›Opferrolle‹, aus der allein schon Stefania Mutter, die aus Gier Menschenleben preisgab, herausfällt. Schließlich bedeutet das: »Was jenseits dieser Positionen [des Opfers, Anm. M.W.] und ihrer Perspektive liegt, kann gar nicht oder nur sehr schwer zum Gegenstand eines akzeptierten Narratives werden und wird deshalb auf der offiziellen Ebene ›vergessen‹.« (Assmann 2013: 196)

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In dem zitierten Interview mahnt Chutnik daher zu mehr Selbstreflexion der polnischen Gesellschaft, sowie zu Dialogbereitschaft und zu einem Perspektivwechsel (Zostaw wiadomość 2010).

Z USAMMENFASSUNG Wie gezeigt wurde, kann die Übersetzung von Gesellschaftskritik aus einer Sprache in eine andere Schwierigkeiten bereiten. Zum einen, weil sie ohne die Kenntnis des Gegenstandes, auf den sie rekurriert, also etwa eine zu kritisierende nationale Kultur, in der Übersetzung ungelesen bleibt, zum anderen kann ihre Übersetzung in eine andere Sprache zu einer Bedeutungsverschiebung führen. Die in Sylwia Chutniks Roman Dzidzia geäußerte Kritik an Weiblichkeits- und Mutterschaftsmythen oder an offiziellen Mustern des Erinnerns und Gedenkens funktionieren mit Sicherheit auch in der deutschen Übersetzung und Rezeption. Die spezifisch polnischen Aspekte dieser Kritik, also die Diskurse um die ›Matka Polka‹ oder den Messianismus, womöglich nicht – oder sie laufen Gefahr, in der Übersetzung gar missverstanden zu werden. Diese Aspekte der Kritik sind nicht unübersetzbar, sie bedürfen jedoch einer komplexeren Vermittlung. Letztendlich bietet sich in der Übersetzung eines Werkes wie Dzidzia die Chance, dem deutschsprachigen Lesepublikum einen originellen Zugang zum Verständnis einer modernen, pluralen polnischen Gesellschaft zu ermöglichen.

L ITERATUR Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck. Dies. (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: C. H. Beck. Chołuj, Bożena (2012): Ein anderes Gedächtnis? Kriegserinnerungen der Frauen im Wandel. In: Jürgen Egyptien (Hg.): Erinnerung in Text und Bild. Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen. Berlin: Akademie Verlag, S. 265-275. Chutnik, Sylwia (2009): Dzidzia. Warszawa: Świat Książki.

G ESELLSCHAFTSKRITIK ÜBERSETZEN | 157

Dies. (2011): Warszawa kobiet. Warszawa: Polityka SP. Dies. (2012): Weibskram. Übersetzung aus dem Polnischen von Antje RitterJasińska. Berlin: Vliegen Verlag. Dies. (2014): Dzidzia (Romanauszug). Übersetzung aus dem Polnischen von Magda Wlostowska. In: LICHTUNGEN. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik Nr. 139/2014, S. 121-122. Fuzowski, Max (2010): Dzidzia. (Rezension zu Chutnik 2009). In: Newsweek Polska online. URL: http://ksiazki.newsweek.pl/dzidzia,54360,1, 1.html [22.3.2015]. Nowacki, Dariusz (2010): Dzidzia, Chutnik, Sylwia. (Rezension zu Chutnik 2009). In: Gazeta Wyborcza online. URL: http://wyborcza.pl/1,75475,75 63996,Dzidzia__Chutnik__Sylwia.html [22.3.2015]. Powstanie w bluzce w kwiatki. Życie codzienne kobiet w czasie Powstania Warszawskiego, Dokumentarfilm, Regie: Anna Grzelewska, PL 2009, 20 Min. Schnalzger, Barbara (2011): Erst rette ich Polen, dann mach’ ich die Wäsche. Ein zäher Mythos: die Figur der polnischen Matka Polka. In: Outside the Box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik 3, S. 98-103. Wolny-Hamkało, Agnieszka (2010): Dzidzia jako kara. Natężenie brutalności, bólu, głupoty i bezwzględności. (Rezension zu Chutnik 2009). In: Polityka online. URL: http://www.polityka.pl/tygodnikpolityka/kul tura/ksiazki/1503197,1,recenzja-ksiazki-sylwia-chutnik-dzidzia.read [22.3.2015]. Zostaw wiadomość (2010) = Radiosendung Zostaw wiadomość mit Sylwia Chutnik im Polskie Radio am 24.2.2010. URL: http://www2.polskierad io.pl_files/20080907155927/2010022511003513.mp3 [22.3.2015].

Panoramen der Literatur- und Übersetzungslandschaften

Polen J OANNA J ABŁKOWSKA , A RTUR P EŁKA , K AROLINA S IDOWSKA

E IN KURZER Ü BERBLICK ZUR POLNISCHEN L ITERATUR IM DEUTSCHSPRACHIGEN R AUM »Bevor er [Castorp] diese Reise angetreten ist […] führte er ein langes Gespräch mit Konsul Tienapell. Der gute, rüstige alte Mann zeichnete in einigen Sätzen – ungewöhnlich expressiv für seine phlegmatische Natur – die Geschichte der Welt, Europas und schließlich Deutschlands. […] Die Zeiten, da unsere Vorfahren nach Reval, Riga, Königsberg oder Danzig aufbrachen, sind unwiederbringlich vorbei. Sicher – du willst kein Kontor gründen und keine Ritterrüstung anlegen, du willst Schiffe bauen. Aber was können sie dort für eine technische Hochschule haben? [...] Und außerdem [...] sollte man Situationen meiden, in denen die mühsam erarbeiteten Formen im Chaos versinken könnten.« (Huelle 2005: 8)

Diese Warnung Onkel Tienapells vor dem östlichen Chaos finden wir nicht in Zauberberg von Thomas Mann. Verfasst hat sie ein polnischer Autor, der 1957 geborene Pawel Huelle. Er griff einen Satz aus dem Zauberberg auf, der erwähnt, dass Hans Castorp einige Semester in Danzig studierte und erweiterte diesen Satz zu einer selbständigen Geschichte. Dass der Roman von Huelle den Stil des Zauberbergs im Deutschen so exzellent übernehmen konnte und sich wie eine geschickte Hommage an Mann lesen lässt, ist nicht nur ein Verdienst des polnischen Autors, sondern auch seiner Übersetzerin, Renate Schmidgall. Sie übertrug auch andere Werke Huelles, z.B. Weiser Dawidek, ins Deutsche, aber auch Stefan Chwin, Jacek Dehnel, Wojciech Kuczok, Andrzej Stasiuk u.a. Dies sind bekannte

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und vielgelesene polnische Schriftsteller, die dank hervorragender Übersetzungsleistungen im deutschsprachigen Raum bekannt sind und geschätzt werden. Dem Übersetzer und Publizisten Karl Dedecius ist zu verdanken, dass viele polnische Werke in Deutschland einen Verleger und zahlreiche Leser fanden. Auch nach Dedecius’ Emeritierung ist das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt die bekannteste Institution, die sowohl Kulturvermittlung als auch speziell Übersetzungsprogramme fördert (vgl. u.a. Gasse 2008: 63-66). Zwei große Bucheditionen sorgen für die Popularisierung der polnischen Literatur: Die »Polnische Bibliothek«1 sowie das »Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts«.2 Ein breites Bild der Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum gab Mirosława Zielińska auf dem im Juli 2014 gegründeten Internet-Portal Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego (vgl. Zielińska 2014). Sie beruft sich u.a. auf eine Reihe älterer Studien zu den deutsch-polnischen Kulturbeziehungen (u.a. Kneip 1988; Nosbers 1999; Fieguth 2000; Gasse 2008; Olschowsky 2009). Zielińska betont richtig, dass sich der Kulturtransfer3 in der DDR und in der Bundesrepublik unterschiedlich entwickelte. Oft verlief die Wahrnehmung eines Autors in Ost- und Westdeutschland konträr zueinander, was insbesondere die Emigranten Czesław Miłosz, Witold Gombrowicz und Sławomir Mrożek betraf, doch auch nonkonforme polnische Schriftsteller wie Jerzy Andrzejewski oder Tadeusz Różewicz. Eine synthetische Erfassung der Rezeption ist schon aus

1

Das Gesamtverzeichnis der Polnischen Bibliothek, hrsg. von Karl Dedecius, sowie die wichtigsten Publikationen aus dieser Reihe finden sich auf der homepage des Deutschen Polen Instituts in Darmstadt: http://www.deutsches-polen-institut.de/publikationen/polnische-bibliothek.

2

Das Panorama in 5 Abteilungen u. 7 Bänden wurde ebenfalls von Karl Dedecius herausgegeben. Informationen des Deutschen Polen Instituts: http://www.deutsches-polen-institut.de/publikationen/panorama-der-polnischen-literatur-des-20jahrhunderts.

3

Es fragt sich, ob Zielińska den Begriff des Kulturtransfers nicht überstrapaziert: der Terminus Kulturtransfer ist komplexer als der der Rezeption. Er bezieht sich eher auf tiefere kulturelle Wechselbeziehungen und Internalisierung bestimmter Kulturphänomene eines sozialen Raumes in einen anderen. Zum deutsch-polnischen Kulturtransfer vgl. z.B. Jabłkowska (2013).

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diesem Grund sehr schwierig. Für die Zeit nach 1990 scheint es hingegen einfacher: Die Übersetzung polnischer Bücher ins Deutsche und der deutschen ins Polnische verläuft frei vom politischen Druck und die Lizenzen und Auflagenzahlen zeugen vom tatsächlichen Lese- bzw. Marktinteresse. Es ist selbstverständlich, dass neue Autoren, die in Polen debütieren und mit Preisen ausgezeichnet, auch im Ausland allmählich entdeckt werden. Dies bestätigt die Erfahrung von Natasza Stelmaszyk, die eine Ausstellung polnischer Literatur in deutscher Übersetzung organisiert hat (vgl. Stelmaszyk 2015). Ihr zufolge seien die deutschen Verlage vor allem an polnische Autoren junger und mittlerer Generation interessiert. Der politische Kontext der Werke, die in der Nachkriegszeit bis 1990 erschienen, sei den Lesern in der alten Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz zu fremd. Gelesen werden vor allem Werke der erzählenden Prosa (vgl. Stelmaszyk 2015). Die im deutschsprachigen Raum populärsten polnischen Autoren gehören auch zu den in ihrer Heimat geschätzten; es sind neben den oben erwähnten Chwin, Dehnel, Huelle, Kuczok und Stasiuk auch Joanna Bator, Anna Bolecka, Manuela Gretkowska, Henryk Grynberg, Marek Krajewski, Antoni Libera, Dorota Masłowska, Jerzy Pilch, Andrzej Sapkowski, Olga Tokarczuk, Magdalena Tulli, Michał Witkowski und weitere Vertreter einer Dichtergeneration, die um 1990 debütierte (vgl. Stelmaszyk 2008). Präsent im deutschsprachigen Raum sind selbstverständlich auch die Nobelpreisträger Czesław Miłosz und Wisława Szymborska sowie ›Klassiker‹ der Gegenwartsliteratur wie Jerzy Andrzejewski, Witold Gombrowicz, Zbigniew Herbert, Ryszard Kapuściński, Hanna Krall, Stanisław Lem, Sławomir Mrożek, Tadeusz Różewicz oder Andrzej Szczypiorski. Eine wichtige Rolle in der Popularisierung der polnischen Literatur spielen die Anthologien, allen voran Lektion der Stille – ein 1959 von Karl Dedecius herausgegebener Band polnischer Lyrik, der eine neue Phase der deutsch-polnischen literarischen Beziehungen eingeleitet hat (vgl. Zybura 2009). Darüber hinaus Zwischen den Linien. Eine polnische Anthologie (1996), Grenzen überschreiten. Polens junge Generation erzählt (1996), Landschaften und Luftinseln (2000). Stelmaszyk nennt auch andere Anthologien, die allerdings meist nur von Slavisten wahrgenommen werden (vgl. Stelmaszyk 2015). Zu den wichtigsten Übersetzern gehören – neben der bereits genannten Renate Schmidgall – Henryk Bereska (gest. 2005), Doreen Daume (gest. 2013), Bernhard Hartmann, Ursula Kiermeyer, Esther Kinsky, Olaf Kühl, Marlis Lami, Albrecht

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Lempp (gest. 2012), Roswitha Matwin-Buschmann, Martin Pollack, Paulina Schulz, Andreas Volk und einige andere. Eine ganze Reihe polnischer Nationaldichter aus der zweiten Hälfte des 19. und den Anfängen des 20. Jahrhunderts, die für die Entwicklung der polnischen Identität relevant waren – wie Maria Dąbrowska, Zofia Nałkowska, Jarosław Iwaszkiewicz, Eliza Orzeszkowa, Bolesław Prus, Leopold Staff, Stefan Żeromski u.a. – werden (oder wurden) zwar ins Deutsche übersetzt, sind aber dem breiteren Publikum kaum bekannt. Nur der Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz erlangt in einem immer weiteren Kreis von Lesern Bekanntheit, nicht zuletzt dank der Verfilmung von Quo Vadis. Ein Zyniker würde vielleicht nicht zu Unrecht sagen, dass die oben genannten Dichterinnen und Dichter auch den polnischen Jugendlichen nicht mehr viel sagen; sie stehen zwar im Schulkanon, werden aber oft nur ausschnittsweise gelesen. Die Fokussierung auf polnische Nationalprobleme, die diese Werke auszeichnet, ist für Historiker oder Slavisten attraktiv, auf dem Buchmarkt können sich die Bücher polnischer Positivisten (Realisten) oder der Schriftsteller der Zwischenkriegszeit nicht mehr durchsetzen. Damit werden aber wichtige historische Kontexte ausgeblendet, die kausale Ketten entwickeln und die ›polnische Wirtschaft‹, das ›Chaos‹, von dem Onkel Tienapell bei Huelle spricht, hinterfragen lassen. Es wird in Deutschland akzeptiert, wenn die polnische Literatur sich hin zur europäischen Kultur öffnet – ohne dass ihre subversive Tendenz zur Kenntnis genommen oder verstanden wird. Die größte Popularität genoss vor kurzem ein Buch, das neue Stereotype vermittelt: Unter deutschen Betten (2011). Was typisch polnische interne Probleme betrifft, wird als unverständlich, hermetisch, nationalistisch abgelehnt: da scheint die kulturelle Osmose gar nicht zu funktionieren. Hier öffnet sich doch eine Durchbruchmöglichkeit. Ein interessantes Phänomen der deutsch-polnischen ›Beziehungsgeschichte‹ – um den Begriff von Klaus Zernack zu benutzen – sind Werke von Autoren und Autorinnen polnischer Abstammung, die als junge Menschen (die meisten sind in den 1960er Jahren geboren) in die Bundesrepublik ausgewandert sind und heute dort oder in beiden Ländern als Schriftsteller leben: Artur Becker, Natasza Goerke, Brygida Helbig, Radek Knapp, Dariusz Muszer, Magdalena Parys,

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Leszek Oświęcimski, Janusz Rudnicki, Krzysztof Maria Załuski u.a.4 Es wird sich erst zeigen, ob sie sich als Kulturvermittler bewähren.

D IE

WICHTIGSTEN I NSTITUTIONEN UND

P ROJEKTE

Wertvolle Initiativen und Institutionen sorgen für die gegenseitige Wahrnehmung der polnischen und deutschen Kultur. Es ist kaum möglich, in diesem Rahmen alle zu nennen. Sicherlich gehören Übersetzerpreise zu den relevantesten Maßnahmen, die deutsch-polnischen Literaturkontakte zu beleben. Seit 2003 wird, gestiftet von der Robert Bosch Stiftung und dem Deutschen Polen-Institut, der Karl-Dedecius-Preis für polnische Übersetzer deutschsprachiger Literatur und deutsche Übersetzer polnischer Literatur verliehen. Mit diesem Preis werden die Ausgezeichneten alle zwei Jahre mit je 10 000 Euro honoriert. Bemerkenswert ist der Parallelcharakter des Dedecius-Preises, der die Literaturübertragung in beide Sprachen gleichzeitig würdigt. Die bisherigen Preisträger sind zum Beispiel Maria Przybyłowska und Olaf Kühl (2005), Ryszard Wojnakowski und Renate Schmidgall (2009) oder Ryszard Turczyn und Esther Kinsky (2011).5 Das polnische Instytut Książki (Buchinstitut) stiftet seit 2005 jedes Jahr – ebenfalls in der Höhe von 10 000 Euro – den Preis Transatlantyk für Popularisierung polnischer Literatur im Ausland. Preisträger können Kritiker, Verleger und nicht zuletzt Übersetzer sein. Unter den zehn bisher Ausgezeichneten außerhalb Polens finden sich zwei deutsche Übersetzer: Henryk Bereska (2005) und Albrecht Lempp (2007).6 Seit 2015 stiftet das Buchinstitut den Tadeusz-Boy-Żeleński-Preis für Übersetzer ins Polnische. Unter sieben Nominierten befand sich auch Małgorzata Łukasiewicz, eine sehr verdiente Übersetzerin aus dem Deutschen. Der

4

Zur polnischen Migrationsliteratur in Deutschland vgl. u.a. Trepte 2002, Kalczyńska 2002.

5

http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/1096.asp [28.03.2015].

6

http://www.instytutksiazki.pl/w-instytucie,o-nas,30679,transatlantyk-2014.html [28.03.2015].

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Laureatin Maryna Ochab (Übersetzerin aus dem Französischen) wurde der Preis 2015 erstmalig während des Danziger Übersetzertreffens verliehen.7 Ein nicht zu unterschätzendes, sehr bekanntes deutsch-polnisches Projekt ist »Kroki/Schritte«. Es fördert seit 2005/2006 die Herausgabe einer Reihe von Übersetzungen aus der deutschsprachigen Literatur. Die S. Fischer Stiftung unterstützt diese Initiative zusammen mit der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit sowie der Pro Helvetia und dem Österreichischen Kulturforum. Die Herausgeber sind Jacek Stanisław Buras und Dietrich Simon (gest. 2014). Die Reihe erscheint in verschiedenen polnischen Verlagen, was eine größere Vielfalt und Flexibilität ermöglicht. Übersetzt wurden bisher 49 Titel von Schriftstellern, Philosophen, Soziologen und Historikern, u.a. von Ilse Aichinger, Walter Benjamin, Uwe Johnson, Emine Sevgi Özdamar, Christoph Ransmayr, Robert Schindel, Arno Schmidt, Uwe Tellkamp und vielen anderen.8 Auch das Goethe-Institut und das Österreichische Kulturforum in Warschau schließen sich den Übersetzungsinitiativen an. »BÜCHER ÜBERSETZEN – BRÜCKEN SCHLAGEN« ist ein europäisches Übersetzer-Programm des Goethe-Instituts, der Alfred Toepfer Stiftung und der Kulturstifstiftung des Freistaates Sachsen, das den Übersetzern Arbeitsstipendien in Deutschland anbietet.9 Das Österreichische Kulturforum veranstaltet Workshops für Übersetzer und fördert – gemeinsam mit dem Goethe-Institut – den Übersetzungspreis Diamantenschliff für junge Übersetzer. Eine der wichtigen deutschen Institutionen, die Übersetzungen fördern, ist das Literarische Colloquium Berlin (LCB). Zwischen 1993 und 2003 sind 27 polnische Titel dank der Unterstützung vom LCB in der deutschen Sprache erschienen.10 Auch die weltweit größte Übersetzungsinstitution, Europäisches Übersetzer-Kollegium in Straelen, fördert u.a. auch polnische Übersetzer.

7

http://www.instytutksiazki.pl/wydarzenia,aktualnosci,32474,nominacje-donagrody-im--boya-zelenskiego.html [28.03.2015].

8

http://www.kroki.pl/projekt-niem.html [28.03.2015].

9

http://www.goethe.de/kue/lit/prj/ust/deindex.htm [28.03.2015].

10 Mehr zum LCB und zu anderen Institutionen wie DPI, Robert Bosch Stiftung, Buchinformationszentrum Warschau, Villa Decius, Deutscher Übersetzerfonds, Adam-Mickiewicz-Institut, Buchinstitut vgl. Gasse (2008: 60-79).

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Eine entscheidende Rolle für die Verbreitung der Literatur spielen die Buchmessen: in Polen wird die Messe in Warschau organisiert, in Deutschland finden die Buchmessen in Frankfurt am Main und Leipzig statt. Hier wird Polen jeweils durch das Instytut Książki repräsentiert. 1996 war Polen Gastland auf der Leipziger Buchmesse und im Jahr 2000 auf der Frankfurter Buchmesse. War die Präsentation polnischer Bücher auf der Leipziger Buchmesse noch bescheiden (vgl. Gasse 2008: 74), so war hingegen die Frankfurter Messe sehr erfolgreich. Aus diesem Anlass wurde 1999 ein neues Übersetzungsprogramm ins Leben gerufen: »Program Translatorski ©Poland«. Bis März 2015 erschienen mehr als 150 polnische Werke, die durch dieses Programm gefördert wurden, davon 130 in deutschen, 18 in österreichischen und drei in Schweizer Verlagen. Außer den oben bereits genannten Autoren sind einige andere mit mehr als einem Titel in diesem Programm vertreten (u.a. Daniel Odija, Andrzej Bart, Marek Ławrynowicz, Włodzimierz Odojewski). Die Frankfurter Buchmesse 2000 hat die polnische Literatur und den polnischen Buchmarkt in Deutschland sehr präsent gemacht. Im Bericht von Karl Forster lesen wir, dass sowohl die Präsenz der Autoren und Bücher als auch die des interessierten Publikums beeindruckend war: »Die Schlagzeilen hießen […] z.B.: ›Aus Polen. Nicht nur für Frankfurt.‹ oder: ›Auf der Suche nach der neuen polnischen Identität‹, aber auch: ›An der Geschichtsbiegung. Polen präsentiert seine Jungen – und vergisst die Alten nicht.‹ […] Noch nie waren so viele Autoren aus dem Land auf der Buchmesse um zu lesen, gesehen zu werden oder sich selbst zu informieren. […] Ausstellungen und Lesungen, Präsentationen und Diskussionen. Allein 150 Seiten umfaßte der Veranstaltungskatalog für das Gastland Polen.« (Forster 2000)

Zum Begleitprogramm der Messe gehörte das Kulturprojekt »Polen erlesen« (Autorenlesungen, Ausstellungen, Theateraufführungen, Filmvorführungen, Vorträge, Konzerte und andere Initiativen), organisiert von Kultusministerien Polens und Nordrhein-Westfalens (vgl. Stelmaszyk 2015). Eine wichtige Quelle für Informationen über fremde Literaturen sind selbstverständlich Literaturzeitschriften. Eine polnische Zeitschrift hat hier besondere Verdienste: Literatura na Świecie, die seit 1971 erscheint und viele Hefte deutschsprachigen Texten widmete. Schon vor der Wende waren hier wertvolle Übersetzungen zu finden, die manchmal lange auf die Buchfassung warten mussten, sei es aus finanziellen oder aus politischen Gründen.

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Schließlich sind auch die Verlage zu nennen, die Übersetzungen aus fremden Literaturen publizieren. Sehr produktiv ist nach wie vor der 1944 gegründete Verlag Czytelnik und seine Nike-Reihe. Die Verlage Wydawnictwo Literackie sowie Wydawnictwo Poznańskie tragen auch zur Verbreitung der deutschen Literatur bei. Bei Wydawnictwo Poznańskie erschienen 35 Bände der Reihe »Poznańska Biblioteka Niemiecka«,11 deren Initiator und Herausgeber Hubert Orłowski ist. Sie bringt historiographische, soziologische oder philosophische Studien deutscher Forscher sowie ausführlich kommentierte Essays und publizistische Texte zu wichtigen Problemen der deutschen Zeitgeschichte heraus. Nach 1990 begannen auch die Verlage Czarne sowie ATUT sich auf den deutschsprachigen Kulturraum zu spezialisieren. In den deutschsprachigen Ländern gibt es viele Verlage, in denen auch polnische Werke gedruckt werden, z.B. erschien die oben genannte Reihe »Die polnische Bibliothek« bei Suhrkamp, gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

D IE BEKANNTE › UNBEKANNTE ‹ IN P OLEN

DEUTSCHE

L ITERATUR

In Polen tritt die Rezeption der deutschen Literatur hinter die der englischen, amerikanischen, französischen, und auch der iberoamerikanischen zurück. Die Posener Germanistin Izabella Sellmer bemerkt richtig, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die französische Kultur in Polen dominierte, deutsche Werke ergänzten allenfalls den Kanon, dessen Kenntnis für Gebildete obligatorisch war (vgl. Sellmer 2015). Dies änderte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur langsam. Nach 1945 kam es zur grundsätzlichen Umgestaltung des Kanons, der sich dem politischen Wandel anpassen musste. Sellmer unterscheidet in der Rezeption der deutschsprachigen Literatur in der Volksrepublik Polen vier Entwicklungsphasen. Bis 1948/1949 wurde sehr wenig übersetzt, 1949-1956 erhielt die Verlagspolitik des Staates ein einheitliches, parteipolitisches Profil und besonders die Autoren der DDR, auch ehemalige (v.a. linke) Exilautoren konnten als Vertreter des ›anderen Deutschland‹ in Polen erscheinen. Dazu gehörten unter anderen Willi Bredel,

11 Nun erscheint die Reihe im Posener Verlag Nauka i Innowacje.

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Eduard Claudius, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Anna Seghers, Hans Marchwitza, Erwin Strittmatter, Friedrich Wolf und Arnold Zweig. Nach einer Phase des ideologischen Misstrauens in der ersten Hälfte der 1950er Jahre wurde Bertolt Brecht zum meistgespielten Dramatiker in Polen. Die dritte Phase – so Sellmer – umfasst die Jahre 1956-1979. Nicht zuletzt dank der Gründung des Österreichischen Kulturinstituts in Warschau wurde begonnen, die österreichische Literatur ins Polnische zu übersetzen und als eigenständige Nationalliteratur anzuerkennen. Sowohl Dichter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor allem Franz Kafka –, aber auch Hermann Broch, Ödon von Horváth, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Georg Trakl, Stefan Zweig, die etwas jüngeren Elias Canetti, Heimito von Doderer, Fritz Hochwälder als auch die Nachkriegsgeneration: Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Peter Handke 12 und in erster Linie Thomas Bernhard wurden der polnischen Leserschaft zugänglich gemacht und bis heute gehören sie in Polen zu den beliebtesten Autoren der deutschsprachigen Literatur. Bernhard konkurriert in dieser Hinsicht erfolgreich mit Günter Grass. Auch die Schweizer Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch fanden in Polen ein begeistertes Publikum. Der Höhepunkt ihrer Rezeption fiel allerdings auf die 1960er und 1970er Jahre. Eine bedeutende Rolle spielte bei der Vermittlung deutschsprachiger Literatur das sogenannte Fernsehtheater, das über drei Jahrzehnte eine wichtige kulturbildende Funktion in Polen hatte. Doch – so Sellmer – waren die DDRAutoren nach wie vor diejenigen, die vor allem ins Polnische übersetzt wurden, was oft nicht ihrer Popularität entsprach. Anfang der 1970er Jahre wurde Johannes Bobrowski entdeckt, eines gewissen Ansehens erfreuten sich Erzählungen von Franz Fühmann, Günther Kunert, die Romane von Hermann Kant und die Prosa von Christa Wolf, deren Werke besonders in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geschätzt wurden. Allerdings muss hier auch auf gravierende Lücken hingewiesen werden. Ein auffallendes Beispiel ist die relativ schwache Rezeption von Heiner Müller, der erst seit Kurzem auf Initiative von Małgorzata Sugiera systematisch übersetzt wird. Einige Stücke

12 Aus Platzgründen nenne ich nur Übersetzungen der jüngeren Generation von Autorinnen u. Autoren ins Polnische. Die vollständigen Übersetzungsbibliographien vom Deutschen ins Polnische bis ca. Mitte der 1990er Jahre sind in zwei umfangreichen Publikationen zu finden: Buras 1994 u. Połczyńska/Załubska 1999.

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erschienen zwar vor 1990 in den Zeitschriften Dialog, Literatura na świecie und Odra, doch sie waren auf polnischen Bühnen so gut wie nicht präsent. Nach der politischen Entspannung von 1956 begann man auch westdeutsche Literatur zu übersetzen, zuerst Heinrich Böll, u.a. Und sagte kein einziges Wort, Wo warst Du Adam, Billard um halbzehn. 1968 erschien Die Ansichten eines Clowns in der Übersetzung von Teresa Jętkiewicz, ein Kultroman in Polen. Zu anderen Schriftstellern der Bundesrepublik, die in Polen ›zugelassen‹ wurden, gehörten u.a. Siegfried Lenz, Martin Walser, Peter Weiss, Rolf Hochhuth, Wolfgang Koeppen, Hans Erich Nossak, Paul Schallück und Horst Bienek. Heute ist zweifellos Günter Grass der in Polen bekannteste deutsche Schriftsteller. Sein Übersetzer war der vor kurzem verstorbene Sławomir Błaut. Zwischen Grass und polnischen Schriftstellern – wie den bereits genannten Huelle oder Chwin – entwickelte sich ein intensiver intertextueller Dialog. Huelles Weiser Dawidek, seine Erzählungen oder Chwins Der Tod in Danzig sowie Freudental enthalten deutliche Anspielungen auf Grass’ Werke, worauf in der Forschung mehrmals hingewiesen wurde (vgl. u.a. Schmidgall 1996, Quinkenstein 1998; Jaroszewski 2002; Rothkoegel 2008). Obwohl sich einige deutsche Autoren ohne revanchistische Intentionen und mit Nostalgie an ihre verlorene Heimat – heute in Polen – literarisch erinnern, wurde Grass’ Ruf von niemandem übertroffen. Siegfried Lenz’ Heimatmuseum (1978) ist erst 1991 in polnischer Übersetzung von Eliza Borg und Maria Przybyłowska erschienen, Horst Bienek ist Lesern außerhalb der Literaturwissenschaft eher unbekannt, allenfalls wird er als ›schlesischer‹ Dichter wahrgenommen. Davon zeugen vor allem die schlesischen Verlage und das Repertoire der Übersetzungen seiner Werke. Christa Wolfs Kindheitsmuster hat in Polen nur in einem kleinen, germanistischen Leserkreis Beachtung gefunden. In den letzten zwei Jahrzehnten sind Übersetzungen deutschsprachiger Literatur deutlich zahlreicher auf dem polnischen Buchmarkt präsent als zuvor. Zuweilen wird ihre Attraktivität durch Verfilmungen gesteigert oder ausgelöst – prominente Beispiele wären Patrick Süskinds Das Parfum (übs. Małgorzata Łukasiewicz, 1990) oder Bernhard Schlinks Der Vorleser (übs. Karolina Niedenthal, 2009). Eine ähnliche Wirkung haben natürlich Nobelpreisverleihungen. Waren Böll, Grass und im kleineren Leserkreis Canetti

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auch vor dem Nobelpreis bekannt,13 wurden sowohl Elfriede Jelinek als auch Herta Müller zwar übersetzt, doch vom polnischen Publikum erst nach der Auszeichnung entdeckt.14 Obwohl junge und begabte Übersetzer für regelmäßige und repräsentative Vermittlung deutscher Dichtung in Polen sorgten, lassen sich bis heute gravierende Lücken feststellen; z.B. wurden nur wenige Essays von Thomas Mann ins Polnische übersetzt. Zwei Essaybände (2000 und 2002) präsentieren die bekanntesten, doch nicht annähernd alle Essays. Auch hat man Günter Grass’ Aufsätze und Reden selbst nach der Nobelpreisverleihung nicht ins Polnische übertragen; eine Ausnahme bilden der schmale Band Niemieckie rozliczenia (Deutscher Lastenausgleich, 1990) und wenige vereinzelte Texte. Auch über das publizistische und essayistische Schaffen prominenter Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Heinrich Mann, Siegfried Lenz oder Heinrich Böll kann man in Polen wenig erfahren. Einige in Deutschland viel diskutierte und wichtige Dichter werden beinahe völlig ignoriert: beispielsweise Botho Strauß.15 Die Gründe für diese mangelhafte Rezeption sind verschieden. Die Werke von Strauß oder auch von Heiner Müller können für das polnische Publikum zu sehr auf Deutschland bezogen sein; aus diesem Grund setzen

13 Von Nelly Sachs, die dem polnischen Publikum so gut wie unbekannt ist, erschienen nur das Drama Eli: Ein Legendenspiel vom Leiden Israels (Eli: misterium męki Izraela), 2002 übersetzt von Maria Borzęcka und Olga Karolczyk, sowie 2006 ein Lyrikband. 14 Von Alicja Buras wurde Herztier (Sercątko) bereits 2003 übersetzt, von Katarzyna Leszczyńska Atemschaukel (Huśtawka oddechu, 2010) und weitere sechs Bücher. Vor 2004 war Jelinek vor allem wegen der Verfilmung von Die Klavierspielerin bekannt. Die meisten Werke von Jelinek erschienen erst nach der Nobelpreisverleihung und wurden von Marek Zeller, Ryszard Turczyn, Elżbieta Kalinowska, Karolina Bikont u.a. ins Polnische übertragen. 15 Bis auf die Aufführung von vier Theaterstücken. Z.B. 1998 spielte das Fernsehtheater Gross und klein (Duże i Małe, übs. Zbigniew Krawczykowski); zweimal wurde Die Zeit und das Zimmer (Czas i pokój, übs. Michał Ratyński) aufgeführt, 1990 in Łódź und 1993 in Warschau. Ausschnitte von Anschwellender Bocksgesang erschienen 2000 als Wzbierająca pieśń kozła (fragmenty) in der Übersetzung von Krzysztof Polechoński.

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sich von Müller allenfalls Adaptionen durch, in denen nach universellen Themen gesucht wird. Viel hängt von Übersetzungen ab – die schwierige bis hermetische Sprache mancher deutscher Dichter, die unübertragbaren Neologismen, Katachresen und Anspielungen, die für einen Sprachfremden keine Assoziationen hervorrufen, komplizierte syntaktische Strukturen und andere sprachliche Fallen können der Grund dafür sein, warum ein Meisterwerk in einem anderen Sprachraum kaum wirkt. Es fallen jedoch die Rezeptionslücken auf dem Gebiet der Essayistik und das fehlende Interesse am politischen Engagement deutschsprachiger Autoren auf. Man hat den Eindruck, dass polnische Leser gerade die Texte ablehnen, die im 20. Jahrhundert Träger des kritischen Diskurses waren. Aufgegriffen wird das Populäre, Sensationelle, Stereotype. Polnische Medien berichten beispielsweise über das Vertriebenenzentrum oder sind empört über den Film Unsere Väter unsere Mütter. Ausführlicher wurde auch über die Luftkriegsdebatte berichtet. Allerdings interessierte sich die Presse vor allem für Jörg Friedrichs Der Brand und für ›revanchistische‹ Tendenzen im deutschen Diskurs.16 Diskutiert wurde Grass’ Beim Häuten der Zwiebel, das 2007 in polnischer Übersetzung von Sławomir Błaut erschien.17 Gegen die Angriffe, Anschuldigungen und Versuche, ihm die Ehrenbürgerschaft von Gdansk zu entziehen, verteidigten polnische Intellektuelle Grass mit Erfolg. Es zeichnen sich in Polen also zwei verschiedene Deutschland-Diskurse ab: der traditionelle, der vor der Wende dominierte und heutzutage die Feindstereotype bestätigt sowie den Mainstream vertritt, und der intellektuelle, der die jüngste deutschsprachige Kultur mit Interesse verfolgt. Doch auch der letzte nimmt die Unterschiede zwischen der deutschen, österreichischen und Schweizer Kultur nicht ausreichend wahr und neigt dazu, sich Kenntnissen über die DDR-Kultur zu verschließen, – was aus der fehlenden Rezeption ostdeutscher Literatur seit 1990 zu schließen ist. So gilt der oben erwähnte Heiner Müller, der inzwischen immerhin von polnischen Theatern entdeckt wird, als ›postmoderner‹ Dramatiker, nicht als DDR-Autor. Über Debatten

16 Erst jüngst wurde W. G. Sebalds Luftkrieg und Literatur übersetzt (Wojna powietrzna i literatura, 2012, übs. Małgorzata Łukasiewicz), doch nicht im Kontext der Debatte, sondern weil Sebald von polnischen Intellektuellen entdeckt wurde. Von Łukasiewicz übersetzt erschienen außerdem Sebalds Hauptwerke von Austerlitz (2007) bis zu Campo santo (2014). 17 Przy obieraniu cebuli. Übers. v. Sławomir Błaut. Gdańsk: Oskar, 2007.

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oder Statements, die sich in den 1930er und 1940er Jahren gegen den Nationalsozialismus richteten und die seit 1945 bemüht sind, sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen (vgl. Rduch 2001), ist aus Mangel an Übersetzungen wenig bekannt. Vor 1990 war dafür nicht zuletzt die gesteuerte Feindpolitik verantwortlich, nach 1990 ist der Grund banaler: Stereotype sind langlebiger als politische Systeme. Allerdings druckte Gazeta Wyborcza immerhin einige BBC-Vorlesungen von Thomas Mann oder große Passagen aus der Schuldfrage von Karl Jaspers. Einige Zeitungen – u.a. Tygodnik Powszechny – berichteten ausführlicher über die Walser-Bubis-Debatte, einige Texte wurden auch ins Polnische übersetzt. Zwei Buchpublikationen, die allerdings keinen großen Rezipientenkreis haben, befassten sich ausführlich mit deutschen Kontroversen (Pięciak 2002; Jabłkowska/Żyliński 2008). Im wissenschaftlichen Diskurs sind die Stereotype längst überwunden, doch die Wissenschaft beeinflusst den Mainstream kaum; dieser lässt sich von eigenen Gesetzen leiten. Erfreulich ist, dass die Aufmerksamkeit für das politische Engagement der Intellektuellen in deutschsprachigen Ländern zu wachsen scheint. Davon zeugen beispielsweise sehr gute Rezensionen der Auswahl aus Elfriede Jelineks Essays Moja sztuka protestu. Eseje i przemówienia (2012), die Übersetzung von Max Frischs Tagebüchern oder das wachsende Interesse an W. G. Sebalds Schaffen. Es überrascht nicht, dass deutschsprachige Unterhaltungsliteratur wie Kriminalromane, Thriller, Liebesromane etc. ins Polnische übersetzt werden. Wenn man das Portal lubimyczytac.pl analysiert, überwiegen unter der Rubrik ›deutschsprachige Literatur‹ Charlotte Link, Leonie Swann, Nele Neuhaus, Sebastian Fitzek, Ferdinand von Schirach, Andreas Franz, Jan Seghers, Hedwig Courts-Mahler und Hans Hellmut Kirst, was von merkwürdigen Mäandern der literarischen Vorlieben in Polen zeugt. Außerdem wird die Kinder- und Jugendliteratur relativ viel übersetzt: von den Brüdern Grimm über Erich Kästner bis hin zu Gudrun Pausewang. In den Übersetzungen der älteren ›hohen‹ Literatur überwiegen Goethe und Schiller, die Romantik ist mit einigen Werken von Tieck, Eichendorff und E. T. A. Hoffmann vertreten, eines hohen Ansehens erfreuen sich Hölderlin und Kleist. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wird entschieden von Erich Maria Remarque dominiert, der so gut wie komplett ins Polnische übersetzt wurde. Hesse, Thomas Mann, Kafka und Fallada sind mit vielen Titeln vertreten, Heinrich Mann oder Döblin tauchen hingegen nur gelegentlich auf.

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T HEATER :

EIN ERFOLGREICHES

P ROJEKT

In ihrem Beitrag, der den Sammelband Polnisch-deutsche Theaterbeziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg eröffnet, konstatieren die Herausgeberinnen Małgorzata Leyko und Małgorzata Sugiera eine »auffallende […] Kluft zwischen der Zahl und Vielfalt der veröffentlichten [deutschen] Dramen und der Armut des Spielkanons« (Leyko/Sugiera 1998: 12) in Polen. Diesen Umstand erklären sie mit den verschiedenartigen Rezeptionsblockaden gegenüber der deutschsprachigen Literatur sowie mit »dem Widerstand der [polnischen] Regisseure gegen alle Neuheiten« (ebd.). Wenn auch die Bilanz nicht gerade zufriedenstellend ausfällt, wurden in den Jahren 1960 bis 1990 immerhin ca. 180 deutschsprachige Theatertexte und Prosabearbeitungen auf den polnischen Bühnen aufgeführt (vgl. ebd.: 10). Eine nicht zu überschätzende Rolle bei der Popularisierung der dramatischen Literatur spielt die seit 1956 monatlich erscheinende Theaterzeitschrift Dialog, die regelmäßig Theatertexte deutschsprachiger Autoren zusammen mit begleitenden informativen Aufsätzen publiziert. Als Übersetzer betätigten sich regelmäßig sowohl etablierte Theaterwissenschaftler bzw. Theaterleute (u.a. Andrzej Wirth, Grzegorz Sinko, Helmut Kajzar) als auch renommierte Schriftsteller (z.B. Zbigniew Herbert). Darüber hinaus verfügt Dialog über hervorragende ›Hausübersetzer‹, zu denen v.a. Danuta Żmij-Zielińska und Jacek Stanisław Buras zählen. Die 1990er Jahre leiteten einen neuen Abschnitt in der Rezeption des deutschsprachigen Dramas in Polen ein. Die politische Wende 1989/1990 verursachte auch im Theater einen großen Umbruch nicht nur in institutionell-ökonomischer, sondern auch in ästhetisch-inhaltlicher Hinsicht. Das Theater kehrte sich von traditionellen, großen politischen Themen ab und begab sich auf die Suche nach mehr zeitgemäßen Inhalten. Da die sich in der Krise befindende polnische Dramatik diese nicht in ausreichendem Maß bieten konnte,18 wandten sich polnische Theaterschaffende zunehmend der aus-

18 Dem polnischen Theater stand nach der Wende lange Zeit so gut wie kein einheimisches Gegenwartsdrama zu Verfügung. Der Kritiker Roman Pawłowski schrieb dazu in der deutschen Zeitschrift Theater der Zeit: »Die Jahre nach 1989 brachten den etablierten [polnischen] Klassikern keine Konkurrenz. Mögliche Kandidaten schrieben, was einträglicher war, für das Fernsehen oder die Werbung, so dass die

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ländischen Gegenwartsdramatik zu. Zu einer der stärksten Inspirationsquellen für das polnische Theater, das notwendigerweise neue Ausdrucksformen und Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit dem Publikum suchte, wurde das deutschsprachige Theater. Nie zuvor war die deutschsprachige Dramatik im polnischen Theaterleben so stark präsent wie in den letzten Jahrzehnten, nie zuvor gab es so viele Gastspiele, Koproduktionen, Workshops und andere gemeinsame Projekte und nie zuvor hatte deutsche Theaterästhetik so viele Verehrer und Nachahmer an der Weichsel. Die Gründe für diesen plötzlichen und massiven Theatertransfer sind vielfältig. Zum einen wurde er durch die Originalität des deutschsprachigen Gegenwartstheaters, zum anderen durch die kulturell-sozialen sowie ökonomischen Veränderungen, die die gegenseitigen Kontakte erleichterten, angeregt. Die ersten polnischen Dramenagenturen, die nach der Wende entstanden, begannen ihre Tätigkeit in erster Linie mit regen Kontakten zu deutschsprachigen Agenturen und Verlagen. Diese Zusammenarbeit begünstigte das Wohlwollen der Verleger sowie die Unkompliziertheit beim Erwerb der Autorenrechte. Hervorzuheben ist auch das wachsende wissenschaftliche Interesse an gegenwärtigen Theaterkonzeptionen sowie theaterwissenschaftlichen Forschungen aus Deutschland, die den Transfer offensichtlich vorangetrieben haben.19 Die neue Situation entwickelte sich zu einem bis dahin im polnischen Theaterleben nahezu unbekannten Phänomen.20 Auch wenn in Polen Neuheiten der englischen, französischen, russischen oder tschechischen Dramatik nicht übergangen werden, ist die enorme Popularität von Theaterstücken aus dem deutschsprachigen Raum zurzeit unbestreitbar. Berühmte Inszenierungen, seit Anfang der 90er Jahre v.a. die Bernhard-Inszenierungen von Christian Lupa, gehören zum erlesensten Kulttheater. Es wäre die These zu

Bedeutung der Worte ›Polnische Uraufführung‹ in Vergessenheit geriet. […] Ersatz für die ausbleibenden einheimischen Stücke lieferten in den 90er Jahren neue Texte aus Paris, Berlin und London.« (Pawłowski 2005: 20). 19 Vgl. bahnbrechende Publikationen von Małgorzata Sugiera (1999 u. 2005). 20 Von der geringen Präsenz des deutschsprachigen Dramas vor 1990 gab es allerdings Ausnahmen: Auf polnischen Bühnen war seit dem politischen Tauwetter von 1956 Bertolt Brecht immer präsent, später auch Dürrenmatt. In Deutschland waren einige polnische Theaterschaffende bekannt: Tadeusz Kantor, Jerzy Grotowski; von den Dramatikern Mrożek, Gombrowicz, Różewicz (Zielińska 2014).

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wagen, dass manche deutsche Autoren in Polen bekannter sind als in ihrer Heimat. Ins Polnische werden v.a. Stücke derjenigen Theatermacher übersetzt, die in ihren Ländern erfolgreich waren oder mit renommierten Preisen (Mülheimer Dramatikerpreis, Kleist-Preis, Nestroy-Preis, Nennung in Theater heute) ausgezeichnet wurden. Argumente dieser Art sprachen für Übersetzungen von Peter Turrini, Elfriede Jelinek, Werner Schwab oder Tankred Dorst, die vor 1990 in Polen kaum bekannt waren, aber auch für Dramatiker, die erst um die Jahrhundertwende debütierten.21 Eine relevante Popularisierungsrolle spielt in dieser Hinsicht nach wie vor die Monatszeitschrift Dialog mit einem ständigen Angebot neuer Übersetzungen. Die Krakauer Theaterwissenschaftler Małgorzata Sugiera und Mateusz Borowski gründeten 1999 die Buchreihe »Dramat Współczesny«, die als Darstellungsplattform der zeitgenössischen Dramatik aus dem In- und Ausland konzipiert wurde. Es ist bezeichnend, dass die zwei ersten Bände dieser Reihe ausgerechnet deutschsprachigen Autoren – Werner Schwab und Tankred Dorst – gewidmet wurden. In den folgenden Jahren erschienen weitere Einzelbände aus dem Bereich deutschsprachiger Dramatik, die vorwiegend Texte von Lukas Bärfuss, Rainald Goetz, Klaus Händl, Thomas Hürlimann, Fritz Kater, René Pollesch, Tim Staffel und Falk Richter sowie Theresia Walser präsentierten. Im Rahmen der Reihe erschienen außerdem drei umfangreiche Anthologien neuster Stücke: Wielość teatrów (Vielzahl an Theatern; 2005), Na Manhattanie i gdzie in-dziej (In Manhattan und anderswo; 2007) sowie Niemcy 3.0 (Deutschland 3.0; 2011). Eine unschätzbare Rolle für die Popularisierung der deutschsprachigen Dramatik spielt die 1993 von der Kulturwissenschaftlerin Elżbieta Manthey in Warschau gegründete Theateragentur ADiT,22 die über hunderte von Theatertexten in polnischer Übersetzung verfügt. Die Agentur betreibt einen Verlag, in dem bereits 5 Bände österreichischer Dramen von Peter Turrini (2000), George Tabori (2001), Felix Mitterer (2002), Wolfgang Bauer (2005) sowie eine Anthologie neuster Stücke aus Österreich (Antologia nowych sztuk austriackich autorów, Anthologie neuer Dramen österreichischer Au-

21 Zu nennen wären hier u.a. Thomas Freyer, Thomas Jonigk, Dirk Laucke, Dea Loher, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier, Roland Schimmelpfennig, u.a. 22 URL: http://www.adit.art.pl/attachments/article/1340/adit.Katalog.2012-2014%2 0(1).pdf [19.03.2015].

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toren, 2012) publiziert wurden. 2010 erschien hier die zweibändige Anthologie Współczesne sztuki młodych autorów niemieckich (Zeitgenössische Dramen junger deutscher Autoren). Die ununterbrochene Flut von Übersetzungen zeugt von anhaltendem und außergewöhnlich regem Interesse am deutschsprachigen Theater in Polen. Bei den translatorischen Bemühungen zeichnen sich deutlich neue Tendenzen ab: Zum einen ergreift eine junge Generation von Übersetzern das Wort, zum anderen sind sie oft durch eine enge Zusammenarbeit mit Regisseuren in die Vorbereitung der Inszenierungen involviert. Die Kluft, die Leyko und Sugiera 1998 feststellten, scheint überbrückt zu sein, wovon ein imponierender Anstieg von Aufführungen deutschsprachiger Theatertexte zeugt. Umgekehrt gerät der Theatertransfer allerdings ins Stocken. Obwohl viele polnische Theaterschaffende auf deutschsprachigen Bühnen tätig sind, werden polnische Dramen in Deutschland, Österreich und der Schweiz äußerst selten publiziert und kaum gespielt (dazu vgl. Prykowska-Michalak 2014).

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Kroatien M ONIKA B LAGUS , M ILKA C AR

E INFÜHRUNG Es ist keine einfache Aufgabe, die zeitgenössische kroatische Literaturlandschaft darzustellen, denn einerseits haben wir es mit einem Pluralismus der Texte und Poetiken zu tun, andererseits sind sowohl die Autoren als auch das Lesepublikum mit der Realität eines kleinen Literaturbetriebs konfrontiert. Nichtsdestoweniger versucht man aber, sich auf dem europäischen Literaturmarkt zu positionieren, um an »dem geistigen Gespräch der Völker« (Roos 1962: 374, zit. nach Koller 2011: 23) teilzunehmen. Einen Durchbruch stellt die Leipziger Buchmesse 2008 dar, an der Kroatien als Gastland mitwirkte und diese Gelegenheit nutzte, um die neuesten literarischen Produktionen zu präsentieren. Obwohl Kroatien vielleicht nicht mit anderen großen Literaturlandschaften wie der deutschen, russischen, englischen oder amerikanischen vergleichbar ist, so kann es doch als ein erfolgreiches und reges Übersetzerland betrachtet werden.

K ROATISCHE AUTORINNEN UND AUTOREN UND T HEMEN DER LETZTEN J AHRE Die kroatische Literatur der letzten Jahre wird oft mit ihren Prosawerken gleichgesetzt. Einerseits erscheint in den Prosagenres die gesamte Bandbreite von behandelten Themen und andererseits haben die Medien, u.a. mit der Einführung neuer, auf Prosa orientierten Literaturpreise, Lyrik und

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Dramatik weitgehend in den Hintergrund gedrängt. In dieser Darstellung sollen dennoch neben den Prosawerken auch einige bekannte kroatische Dramatiker und Dichter erwähnt werden. Obwohl sehr facettenreich, wird die kroatische Prosa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Literaturkritikern und Journalisten gerne auf einen gemeinsamen Nenner gebracht und dementsprechend auch mit einem einzigen Begriff bezeichnet – dem Begriff der »Wirklichkeitsprosa«. Mit diesem Terminus wird eine Generation von Prosaautoren bezeichnet, die sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre etablierte und sich vor allem für die Realität interessierte und diese in ihrer Literatur reflektierte. Diese Strategie machte es möglich, auf die Situation eines Landes im Übergang zu reagieren und eine kritische Haltung gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Realität zu zeigen. Demnach werden in diesen Texten viele historische und politische Ereignisse aufgearbeitet, wie beispielsweise die Folgen der postjugoslawischen Kriege, der Übergang vom Sozialismus zur freien Marktwirtschaft, das Aufkommen von Korruption usw. Die Auseinandersetzungen mit der Kriegsthematik, die oft mit autobiographischen Elementen versehen sind, kulminierten im Jahre 1997, als zwei bedeutsame Romane veröffentlicht wurden: Kratki izlet (dt. Ein kurzer Ausflug – Aufzeichnungen aus dem Krieg in Kroatien, 1999) von Ratko Cvetnić, sowie Ovce od gipsa (dt. Nachtbus nach Triest, 2001) von Jurica Pavičić. Ein weiterer Autor, der sich hauptsächlich mit der Kriegsthematik befasst, ist Josip Mlakić, der für seinen Roman Kad magle stanu (2000; Wenn sich die Nebel lichten, 2006) mit dem Faust-Vrančić-Preis ausgezeichnet wurde. Mit der wachsenden zeitlichen Distanz zum postjugoslawischen Krieg werden die Texte verspielter und ironischer, wie dies etwa im Roman Jebo sad hiljadu dinara (2005, Scheiß doch auf die tausend Dinar) von Boris Dežulović der Fall ist. Einer der ungewöhnlichsten Romane, die den Krieg behandeln, hat Ivana Sajko geschrieben, die als »eine der besten, subtilsten und originellsten Dramatikerinnen bekannt ist, deren Dramen in Theatern und Radiosendungen weltweit aufgeführt werden« (Pogačnik 2012: 157). In ihrem Romandebüt Rio bar (2006) behandelt Ivana Sajko in Form von sich wild abwechselnder und ineinander verschlungener weiblicher Stimmen, Erzählperspektiven und Zeitebenen Themen, die bei den jüngeren Prosaautoren dominieren: Krieg, Nachkriegszeit, Schicksal der Verbannten und Verschwundenen, Kriegsverbrechen, Erfahrungen von Gewalt und Ohnmacht usw. (vgl. Pogačnik 2008: 11ff).

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Allmählich geriet die Wirklichkeitsprosa in eine gewisse Krise, da die zentralen Themen nur aufs Neue variiert wurden und es den Anschein erweckte, als ob die Kriegstopoi bereits zu Genüge erzählt und nur auf der testimonial-faktographischen Ebene wiederaufgegriffen wurden. Dann meldete sich eine neue Generation von Autorinnen und Autoren zu Wort, die Anfang der 1990er Jahre noch im Kindesalter waren und darum auch dieselben Geschehnisse aus einer anderen Perspektive betrachteten. Der Krieg war noch immer das beherrschende Thema, der aber von nun an als eine Naturkatastrophe dargestellt wurde, die alle unvorbereitet trifft und die nicht mehr vom Heroismus und einer geschichtlichen Dimension geprägt ist, sondern auf intime Erlebnisse und die Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem Leben danach gründet. Davon zeugen u.a. der Debütroman von Maša Kolanović Sloboština Barbie (2008; Underground Barbie, 2012) und Korov je samo biljka na krivom mjestu (2008; Unkraut ist nur eine Pflanze am falschen Ort) von Stela Jelinčić (vgl. Pogačnik 2012: 274ff.). Obwohl der Krieg ein dominierendes Sujet der letzten zwanzig Jahre darstellt und bis heute als Motiv sowie als Grundlage für Geschichten über individuelle Menschenschicksale, aber auch über die Schicksale ganzer Städte dient, bleiben die kroatischen Autoren nicht nur bei lokalen Themen – am erfolgreichsten zeigt das Robert Perišić in Naš čovjek na terenu (2007; Unser Mann vor Ort, 2011), einem satirischen Roman über den Irak- und den Jugoslawienkrieg. Manche Autoren wehren sich gegen die undifferenzierte Sichtweise, dass kroatische Schriftsteller nur durch eine ›Kriegsbrille‹ schreiben. Edo Popović äußerte sich darüber in einem Interview: »Literatur kommt aus dem Leben – aus Orten, in denen man gelebt hat, Jobs, die man gemacht hat, Büchern, die man gelesen hat. Filme, Musik, Freunde, Krankheiten.« (Böck 2013: 2) Zu den wichtigsten zeitgenössischen kroatischen Prosaautor_innen zählen Miljenko Jergović, Zoran Ferić, Predrag Matvejević, Slavenka Drakulić, Dubravka Ugrešić, Mirko Kovač und Edo Popović. Miljenko Jergović, gebürtig aus Bosnien und Herzegowina, zog die Aufmerksamkeit der kroatischen Literaturkritik in den 1990er Jahren zunächst mit seinen Gedichten auf sich. Er etablierte sich danach jedoch sowohl in der kroatischen als auch in der internationalen Literaturszene als Prosaautor. Seine erste Kurzgeschichtensammlung unter dem Titel Sarajevski Marlboro (1994; Sarajevo Marlboro, 2009) ist von autobiographischen Kriegserlebnissen geprägt. Daran anschließend entwickelt er kompli-

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zierte Sujets in seinen umfassenden historischen Romanen, wie etwa in Buick Riviera (2002; dt. 2006), Freelander (2007; dt. 2010), Dvori od oraha (2003; Das Walnusshaus, 2008) und Volga, Volga (2009; Wolga, Wolga, 2011), die als ein Panorama der Epoche zu lesen sind. Seine Werke wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Eine positive Rezeption im deutschsprachigen Raum erleben auch die Romane von Zoran Ferić, in denen er oft mit viel Humor den paradoxen und grotesk gewordenen Alltag einer Transitionsgesellschaft schildert. So sind bislang auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt seine von Klaus Detlef Olof übersetzten Romane Kalendar Maja (2011; Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr, 2012) oder Djeca Patrasa (2005; Die Kinder von Patras, 2006) sowie Erzählbände Anđeo u ofsajdu (2000; Engel im Abseits. Neun Erzählungen, 2000) und Mišolovka Walta Disneya (1996; Walt Disneys Mausefalle. Zehn Erzählungen, 1999) erschienen. Als einer der meistgelesenen und meistübersetzten Prosaautoren ist auch Predrag Matvejević zu erwähnen. Sein bekanntestes Werk Mediteranski brevijar (1987; Der Mediterran, 1993), mit dem er eine Hymne an das Mittelmeer geschaffen hat, wurde in 23 Sprachen übersetzt (im Italienischen in vier Ausgaben in einer Auflage von über 300 000 Exemplaren und im Französischen von über 60 000 gedruckt). Dazu verhalfen ihm unter anderem sein Leben in Frankreich, wohin er 1991 nach seiner Kritik an den politisch Rechten emigrierte, seine Arbeit an der Sorbonne und an der Universität La Sapienza in Rom sowie die Funktion des Vizepräsidenten im Internationalen P.E.N. in London. Darüber hinaus sind zwei angesehene Autorinnen zu nennen: Slavenka Drakulić und Dubravka Ugrešić. Drakulić, Journalistin (u.a. auch für die Süddeutsche Zeitung), Prosa- und Sachbuchautorin, schreibt über ein sehr breites Spektrum an universellen Themen wie über die Auseinandersetzung mit Krankheit und Todesangst in Hologrami straha (1987; Das Prinzip Sehnsucht, 1989), über die destruktive Macht des Sexualtriebs in Mramorna koža (1995; Marmorhaut, 1998) bis hin zu den Themen, die sie mit ihrer Heimat verbindet, wie die Grausamkeiten des Krieges und das Schicksal von Vergewaltigungsopfern in Bosnien und Herzegowina in dem Roman Kao da me nema (1999; Als gäbe es mich nicht, 2002), der im Jahre 2010 unter dem Titel As If I Am Not There auch verfilmt wurde. Die Übersetzungen ihrer Werke in über 20 Sprachen werden von den bekanntesten Verlagen wie Penguin, Hutchinson, Harper Perennial usw. veröffentlicht.

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Ihr meistübersetztes Buch, das Erlebnisgeschichten beinhaltet, Kako smo preživjeli komunizam i čak se smijali (1991; Wie wir den Kommunismus überstanden – und dennoch lachten, 1991), erschien in mehr als 20 Sprachen. Darüber hinaus wurde sie 2005 für ihr Buch They would never harm a fly. War criminals on trial in The Hague (Keiner war dabei – Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht, 2004) mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Dubravka Ugrešić hat über 20 Jahre lang an der Abteilung für Russistik an der Philosophischen Fakultät der Universität in Zagreb gearbeitet und sich auf die russische Avantgarde spezialisiert (Gogol‘, Charms). Die Aufmerksamkeit der Literaturkritik zog sie mit ihrer Kurzgeschichtensammlung Poza za prozu (1978; Eine Pose für die Prosa) auf sich. Im Jahre 1993 verließ Ugrešić Kroatien und ging ins Exil nach Amsterdam und in die USA. Auf Deutsch erschienen zuletzt ihre Romane Muzej bezuvjetne predaje (1998; Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, 2008), Zabranjeno čitanje (2001; Lesen verboten, 2002), Ministarstvo boli (2004; Das Ministerium der Schmerzen, 2005) und Baba Jaga je snijela jaje (2008; Baba Jaga legt ein Ei, 2008). Ugrešić wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 1999 und dem Premio Feronio-Citta di Fiano in Italien 2004. Mirko Kovač beschreibt in seinen Romanen, Erzählungen und Essays sowie Drehbüchern für Film und Fernsehen hauptsächlich Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, behandelt aber auch die individuellen Existenzkrisen seiner Protagonisten. Seine wichtigsten Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sein Roman Grad u zrcalu (2007; Die Stadt im Spiegel, 2011), für den er den Vladimir-Nazor-Preis erhalten hat, wurde ins Deutsche übertragen. Als Kultautor einer ganzen kroatischen Generation gilt Edo Popović. Er gibt insbesondere den Verlierern der Gesellschaft im urbanen Kroatien eine Stimme. Dies erreicht er ganz ohne Sarkasmus, jedoch humorvoll. Urbane Sensibilität, Misstrauen den Autoritäten gegenüber, ein freies Verhältnis zur Sprache, ein gepflegter Stil, Prägnanz, Humor und ein schneller Rhythmus sind die Grundeigenschaften seiner Prosa. Popović ist als Vertreter der kroatischen Literatur ein häufig gesehener Gast bei literarischen Veranstaltungen in Deutschland. Von seiner Beliebtheit im deutschsprachigen Raum zeugen auch die vielen Übersetzungen ins Deutsche, wie etwa Ponoćni boogie (1987; Mitternachtsboogie, 2010), Tetovirane priče (2006;

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Tattoogeschichten, 2011), Oči (2007; Kalda, 2008) und Lomljenje vjetra (2011; Der Aufstand der Ungenießbaren, 2012), die alle von Alida Bremer übersetzt wurden. Hiermit hört die Liste bekannter und einflussreicher kroatischer Prosaautoren aber nicht auf. Unerwähnt dürfen auf keinen Fall bleiben: Ludwig Bauer, Ivana Simić Bodrožić, Jurica Pavičić, Kristian Novak, Branko Čegec, Julijana Matanović, Roman Simić, Igor Štiks, Sibila Petlevski, Daša Drndić und Damir Karakaš. Trotz der Dominanz der Prosagenres sind in der kroatischen Literaturszene auch einige interessante Dichterstimmen zu finden. Dabei ist bei den Lyrikern eine Rückkehr zur klassischen Form des Sonetts zu verzeichnen, insbesondere in den Krisenjahren von 1991 bis 1993. Dementsprechend kann das Sonett sogar als der Vers des Krieges bezeichnet werden. Eine potentielle Erklärung dafür ist, dass diese komplizierte und formal streng geregelte Gedichtform als eine Antwort auf Chaos und Krise zu verstehen ist. Zu den wichtigsten kroatischen Lyrikern der älteren Generation zählen Luko Paljetak, Slavko Mihalić und Ante Stamać, während unter den jüngeren Autorinnen und Autoren Marko Pogačar, Tomica Bajsić, Tatjana Gromača, Lana Derkač und Dorta Jagić zu erwähnen sind. Dabei ist der meistübersetzte Lyriker noch immer Slavko Mihalić; mehr als tausend seiner Gedichte wurden für unterschiedliche Zeitschriften und Anthologien in über 30 Sprachen übersetzt. Luko Paljetak, ein angesehener Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Slowenischen und ein engagierter Intellektueller – er ist ordentliches Mitglied der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste – schreibt eine thematisch und stilistisch sehr vielfältige Poesie, in der er Aspekte der Tradition ludistisch mit denen der Gegenwart verschränkt. Ein weiterer Lyriker, Übersetzer und Intellektueller ist Ante Stamać, von dessen wichtigsten Gedichtbänden folgende zu nennen sind: Rasap (1962; Zerfall), Sa svijetom jedno (1965; Eins mit der Welt), Smjer (1968; Richtung), Doba prisjećanja (1968; Die Zeit der Erinnerung), Vrijeme, vrijeme (2006; Zeit, Zeit). Die junge und interessante Stimme von Marko Pogačar ist in mehreren Gedichtbände zu lesen. Anzuführen sind beispielsweise Pijavice nad Santa Cruzom (2006; Tornados über Santa Cruz), Predmeti (2009; Gegenstände) und die ausgewählten Gedichte auf Deutsch An die verlorenen Hälften (2010), Crna pokrajina (2013; Schwarzes Land, 2015) sowie der Essayband Atlas glasova (2011; Atlas der Stimmen).

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Tomica Bajsić, ein preisgekrönter Lyriker, schreibt in seinen ersten Gedichtbänden Južni križ (1998; Kreuz des Südens) und Pjesme svjetlosti i sjene (2004; Die Gedichte des Lichtes und des Schattens) über Südamerika, insbesondere Brasilien, und über Themen wie Familie und Geburt, wogegen er in seinen neueren Gedichten, die in den Gedichtbänden Pobuna obješenih (2008; Der Aufstand der Gehängten) und Zrak ispod mora (2009; Die Luft unter dem Meer) erschienen sind, mit einer gewissen Distanz die Kriegsthematik bearbeitet. Die Lyrik von Tatjana Gromača wurde sofort positiv aufgenommen. Ihre Gedichte, die im Sammelband Nešto nije u redu? (2000; Stimmt was nicht?, 2003) erschienen sind, zeichnen sich durch Direktheit und eine konstruiert umgangssprachliche und lapidare Sprache aus. Als ihre Gegenspielerin kann vielleicht Dorta Jagić betrachtet werden, da in ihren Gedichten das Geistige und Metaphorische besonders betont werden. Jagić hat mehrere Gedichtbände herausgegeben, ist in einer Reihe von Anthologien vertreten und hat im Jahre 2007 The Balkan Grand Prize for Poetry und für ihren Gedichtband Kauč na trgu (2011; Das Sofa auf dem Platz) 2014 in Danzig den Preis Europäischer Dichter der Freiheit erhalten. In der jüngeren Generation ist auch Lana Derkač zu nennen, die mit dem indischen Dichter Thacho Poyil Rajeevan eine wichtige Anthologie unter dem Titel Third Word, Post-Socialist Poetry (2007) herausgegeben und mehrere Gedichtbände veröffentlicht hat, wie z. B. Atlas ljubavi (2005; Atlas der Liebe), und Doručak za moljce (2012; Frühstück für Motten). Einen besonderen Platz in der kroatischen Dramatik der letzten Jahre nimmt Ivana Sajko ein. Ivana Sajko, die bereits als Romanautorin erwähnt wurde, hat Dramaturgie an der Zagreber Akademie für dramatische Künste studiert. Heute arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Regisseurin und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift für performative Künste Frakcija und der Literaturzeitschrift Tema. Für ihre Dramen Naranča u oblacima (1998; Eine Orange in Wolken) oder Krajolik s padom (2011; Die Landschaft mit dem Fall) erhielt sie den renommierten kroatischen Marin-Držić-Preis. Auch ihre Dramen wurden bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt und in vielen Ländern aufgeführt. In deutscher Sprache sind bislang zwei Dramentrilogien erschienen: Archetyp: Medea / Bombenfrau / Europa: Trilogie (2008) und Trilogie des Ungehorsams: Drei Einakter (2012). Sajkos Dramatik erfährt besonders im deutschsprachigen Raum rege Beachtung. Davon zeugen zahlreiche Aufführungen auf deutschen Theaterbühnen, darun-

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ter von Žena-bomba (2004; Bombenfrau, 2003 im Theaterlabor Darmstadt), Europa – monolog za majku Courage i njezinu djecu (Europa, 2004 im Zimmertheater Tübingen) oder To nismo mi, to je samo staklo (Das sind nicht wir, das ist nur Glas, 2011 im Schauspielhaus Frankfurt). Ein kommerzieller Erfolg sind die Dramen des in Zagreb lebenden Dramatikers Miro Gavran. Für seine Werke, die bislang in über 30 Sprachen übersetzt wurden, erhielt er nationale und internationale Literatur- und Theaterpreise, darunter den Preis des besten mitteleuropäischen Schriftstellers des Jahres 1999 (Budapest). Zu seinen wichtigsten Dramen gehören u.a. Kreontova Antigona (1983; Kreonts Antigone) und Nora danas (2007; Nora heute). Gavran ist der einzige lebende Dramatiker, dessen Stücken ein eigenes Theaterfestival außerhalb seines Heimatlandes gewidmet ist. Seit 2003 findet im slowakischen Trnava und im polnischen Krakau bereits zum fünften Male das internationale Theaterfestival »Gavranfest« statt, an dem ausschließlich seine Werke gespielt werden.

W ICHTIGE KROATISCHE V ERLAGE Z EITSCHRIFTEN

UND

Nach einer tiefgreifenden Krise und der damit einhergehenden völligen Zerstörung der nötigen Infrastruktur für eine erfolgreiche Literaturproduktion am Ende des 20. Jahrhunderts, die durch eine immer geringere Förderung von Verlagshäusern, durch die Abschaffung von Literaturzeitschriften, aber auch durch den Verlust eines großen Kulturraumes verursacht wurden, kommt die kroatische Literaturlandschaft langsam wieder auf die Beine. So gibt es inzwischen zahlreiche Verlage, die grob in kleine, spezialisierte Verlage und große Verlagshäuser eingeteilt werden können. Dominiert wird der Markt von drei Verlagsriesen: Profil, Školska knjiga und Algoritam, die zwecks finanzieller Absicherung nicht nur Belletristik, sondern auch Lehrbücher veröffentlichen. Der älteste kroatische Verlag, Matica Hrvatska, wurde 1842 gegründet und veröffentlicht jährlich über 100 Titel. In seinem Programm publiziert auch der renommierte Germanist Viktor Žmegač seine umfassenden Kulturstudien in kroatischer Sprache. Als einflussreiche Verlage sind darüber hinaus V. B. Z. – der ein breites Spektrum an literarischer Übersetzung bie-

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tet – und Naklada Ljevak – der aktuelle Titel veröffentlicht, beispielsweise von Alina Bronsky – zu nennen. Ein einzigartiges Phänomen stellt der Verlag Fraktura dar, der wegen seines ehrgeizigen und enthusiastischen Redakteurteams von einem kleinen zu einem einflussreichen Verlag herangewachsen ist. Gerade in Fraktura werden die meisten Übersetzungen aus dem deutschsprachigen Raum veröffentlicht und die wichtigsten zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren und Autorinnen dem kroatischen Publikum präsentiert (u.a. Zsuzsa Bánk, Marcel Beyer, Oliver Bottini, Zoran Drvenkar, Josef Haslinger, Daniel Kehlmann, Norbert Gstrein, Terézia Mora, Ilma Rakusa, Juli Zeh usw.). Anzuführen sind noch die kleineren Verlage, wie z.B. Naklada Božićević, der u.a. die neuesten Titel der Kriminalliteratur verlegt, oder Leykam International, der die österreichischen Klassiker veröffentlicht, wie z.B. Heimito von Doderers große Romane Die Wasserfälle von Slunj und Strudlhofstiege. Der Kleinverlag Jesenski i Turk hat sich auf philosophische und soziologische Fachbücher spezialisiert. Die Neuausgaben der Klassiker werden vom Verlag Šareni dućan aus Koprivnica herausgegeben, unter anderem die Romane und Erzählungen von Franz Kafka. Der Verlag Disput konnte sich als ein Verlag für Literaturkenner profilieren, der auch deutschsprachige Autoren, wie beispielsweise Hans Magnus Enzensberger, publiziert. Weitere wichtige deutschsprachige Autoren und Autorinnen, etwa W. G. Sebald, werden von dem Kleinverlag Vuković i Runjić veröffentlicht. Das Verlagshaus Durieux, das den Namen der deutschen Schauspielerin Tilla Durieux übernommen und auch ihre Biographie publiziert hat, wurde im Jahre 1991 als eines der ersten unabhängigen Verlagshäuser in Kroatien gegründet und spezialisiert sich auf die zeitgenössische Literatur aus Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Slowenien, Serbien und Montenegro. Seit 2003 ist die Literaturzeitschrift Fantom slobode im Verlagsprogramm von Durieux zu finden. Schließlich ist noch Oceanmore zu nennen, ein Verlag, in dem die Werke der Nobelpreisträgerinnen Elfriede Jelinek und Herta Müller in kroatischer Sprache veröffentlicht wurden. Von den Verlagen wird auch die ansonsten nicht sehr ausdifferenzierte Rolle der Agenten übernommen. Die meisten literarischen Zeitschriften sind vor allem literaturwissenschaftlich orientiert, wobei auch die Wochenschriften Vijenac von Matica Hrvatska und die unabhängige Zeitschrift Zarez regelmäßig Literaturbeilagen herausgeben.

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Die wichtigen literaturwissenschaftlichen Zeitschriften sind Dubrovnik – eine weitere Zeitschrift von Matica Hrvatska –, Forum, das die neuesten Werke von kroatischen Autoren und Autorinnen, aber auch Essays und Literaturkritik veröffentlicht, sowie die Monatsschrift des Schriftstellerverbandes Društvo hrvatskih književnika (Gesellschaft der kroatischen Schriftsteller), Republika. Weitere literaturwissenschaftliche Zeitschriften sind Umjetnost riječi, in der außer der literaturwissenschaftlichen auch theoretisch und methodologisch profilierte Studien herausgegeben werden. Seit kurzem erscheint darüber hinaus in Zadar eine Zeitschrift für Literatur und Literaturübersetzung sowie für Kultur im Allgemeinen, SIC – časopis za književnost, kulturu i književno prevođenje. Kroatische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen veröffentlichen ihre Studien in Zeitschriften wie Croatica: časopis za hrvatski jezik, književnost i kulturu, die von der Philosophischen Fakultät in Zagreb herausgegeben wird, in Libri & Liberi, die Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur publiziert, und in Slovo, das vom Altslavischen Institut in Zagreb verlegt wird. Darüber hinaus ist noch zu erwähnen, dass die Zeitschrift Poezija – časopis pjesničke prakse vom Schriftstellerverband »Hrvatsko društvo pisaca«, dem kroatischen P. E. N.-Zentrum und dem Verlag »V. B. Z.« ausschließlich der Lyrik gewidmet ist. Eine Zeitschrift, in der die tschakawische Mundart gepflegt und untersucht wird, ist Čakavska rič, während sich die 1968 gegründete Zeitschrift Kaj der Pflege der kajkawischen Mundart widmet.

V ERANSTALTER Wichtige Veranstalter von Lesungen und anderen Formaten, in denen nicht nur die kroatische Literatur, sondern auch die Literatur anderer Länder dem kroatischen Publikum präsentiert wird, sind vor allem Kulturinstitute einzelner Länder, die weltweit tätig sind und die die internationale kulturelle Zusammenarbeit zwischen ihrem und dem Gastland pflegen. Dazu gehören u.a. das Goethe-Institut Kroatien, das Österreichische Kulturforum, l’Institut Français de Croatie sowie Istituto Italiano di Cultura a Zagabria. Ein weiterer beliebter Ort, an dem sich Liebhaber und Kenner der Weltliteratur treffen und sich austauschen, ist der Literaturklub Booksa, es gibt aber auch

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viele Bibliotheken, die jede Woche mindestens eine Kulturveranstaltung organisieren.

F ÖRDERINSTITUTIONEN Als die wichtigste kroatische Förderinstitution ist das Kultusministerium anzusehen. Dieses bietet zahlreiche Programme und Ausschreibungen an, die die Veröffentlichung der meisten Publikationen in kroatischer Sprache erst möglich machen. Weitere zentrale Förderinstitutionen sind das Goethe-Institut Kroatien und das Österreichische Kulturforum. Beide Institute leiten gemeinsam u. a. das Projekt »Der Autor und sein Übersetzer/Autor i njegov prevoditelj«, in dem die minutiöse Arbeit an der Übersetzung eines literarischen Werks in den Mittelpunkt gestellt wird. Diese sind ebenso für die Förderung der »TRADUKI«-Übersetzerprogramme mitverantwortlich. »TRADUKI« ist ein europäisches Netzwerk für Literatur und Bücher, das Schriftsteller des südöstlichen Europa durch verschiedene Programme (etwa das Residenzprogramm), aber auch Literaturübersetzer fördert, um letztendlich diese Literatur dem deutschsprachigen Publikum näherzubringen. An der Zagreber Germanistik wird ein Kooperationsprojekt von »UNI for LIFE« und dem Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz durchgeführt. In diesem Rahmen werden jährlich stattfindende Seminare für das literarische Übersetzen auf der kroatischen Insel Premuda, die von österreichischen und kroatischen Studierenden besucht werden, angeboten. Eine unersetzliche Rolle spielen Literaturpreise, deren Zahl von Jahr zu Jahr wächst. Zu den wichtigsten Literaturpreisen gehören Kiklop, der in 13 Kategorien vergeben wird, sowie der Tin-Ujević-Preis für Lyrik. Weitere Preise sind der Ksaver-Šandor-Gjalski-Preis für das beste Prosawerk, der Preis des Verlegers V.B.Z., für den besten unveröffentlichten Roman sowie der Ranko-Marinković-Preis für die beste Kurzgeschichte. Auch die Tageszeitung Jutarnji list sowie das Internetportal tportal verleihen jährlich einen Preis für Prosa und Publizistik. Auf eine bereits lange Tradition kann der Ivan-Goran-Kovačić-Preis zurückblicken. Während an die besten Dramatiker der Marin-Držić-Preis und an die Literaturübersetzer der Iso-Velikanović-Preis vergeben wird.

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W ICHTIGE Ü BERSETZER _ INNEN E INZELPERSONEN

UND

Die Besonderheiten der kleinen Sprachen hervorzuheben, ist eine der wichtigen Rollen der Übersetzerinnen und Übersetzer bei ihrer Tätigkeit als Kulturvermittler. Sie werden vom Dachverband literarischer Übersetzer, Društvo hrvatskih književnih prevodilaca, vertreten, der sich aktiv für die Rechte der Übersetzer mit dem Ziel der Verbesserung der rechtlichen und ökonomischen Bedingungen von Literaturübersetzern einsetzt. Darüber hinaus veranstaltet er zahlreiche Übersetzungsworkshops, aber auch literarische Tribünen unter dem Titel »Litterarum translatio«, um Übersetzungen ihrer Mitglieder in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es gibt etwa ein Dutzend Übersetzerinnen und Übersetzer, die literarische Texte aus dem Deutschen übersetzen. Obwohl sich Truda Stamać in ihrem Schaffen auf die Lyrikübersetzungen spezialisiert hat (Celan, Rilke, Bachmann, Brecht u.a.), hat sie auch kanonische Werke deutscher Autoren ins Kroatische übertragen, unter anderem von Lessing, Büchner, Hesse und Walter Benjamin, aber auch neuere deutsche Literatur (z.B. Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob). Andy Jelčić arbeitet seit 1988 als freischaffender Übersetzer, Schriftsteller und Publizist und hat zahlreiche Übersetzungen von Sachbüchern und literarischen Texten angefertigt sowie Beiträge in literarischen Fachzeitschriften und Tageszeitungen verfasst. Für seine Übersetzung von Erich Auerbachs Mimesis erhielt er den Preis der Gesellschaft der kroatischen Literaturübersetzer für die beste Fachübersetzung. Auch für seine Übersetzung des Hauptwerks Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften ist er mit dem bereits erwähnten Iso-Velikanović-Preis ausgezeichnet worden. Sead Muhamedagić ist ein populärer kroatischer Literaturübersetzer, der sich auf die österreichische Literatur spezialisiert hat. Davon zeugen zahlreiche kroatische und österreichische Preise, die er erhalten hat (KulturKontakt, Translatio im Jahre 2001 in Österreich, wie auch Iso Velikanović, 2011). Zu seinen letzten Übersetzungen gehören Emigranti (Die Ausgewanderten, 2008) von W. G. Sebald, Brisanje. Raspad (Auslöschung. Ein Zerfall, 2011) von Thomas Bernhard und Posljednji dani čovječanstva (Die letzten Tage der Menschheit, 2014) von Karl Kraus. Die mittlere Generation der Literaturübersetzer und -übersetzerinnen wird u.a. von Helen Sinković repräsentiert (sie hat Wolfgang Hilbigs Ich

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und Werke von Herta Müller, Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard, Friedrich Dürrenmatt, Günther Grass übersetzt), Boris Perić (Übersetzer von Norbert Gstreins Romane und Werke von Thomas Bernhard, Markus Jaroschka, Joseph Roth, Alina Bronsky) und Latica Bilopavlović Vuković (sie übersetzte Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt und Uwe Timms Rot). Zu der jüngeren Generation gehören schließlich Namen wie Romana Perečinec, Ana Pranjković und Nataša Medved.

D IE R OLLE DER H OCHSCHULEN IN DER L ITERATURVERMITTLUNG Kroatische Hochschulen, insbesondere die Philosophischen Fakultäten in Zagreb, Rijeka, Osijek und Zadar, spielen eine wichtige Rolle in der Literaturvermittlung. An diesen wird Literatur im Rahmen der neuphilologischen Studien in zahlreichen literaturgeschichtlichen und literaturtheoretischen Vorlesungen und Seminaren aktiv vermittelt. Dabei sind deren Hauptziele die Aneignung grundlegender Kenntnisse und Begriffe der Literaturwissenschaft und -geschichte, aber auch das Verständnis der Literatur als ein ästhetisches und kulturelles Phänomen sowie ihre Position in der Gesellschaft. Durch die praktische Arbeit an ausgewählten literarischen Werken soll die metrische, erzähl- und dramentheoretische Terminologie kennen gelernt und geübt werden, wobei die Studenten befähigt werden, lyrische, epische und dramatische Texte selbstständig und ausführlich im Kontext ihrer Entstehung und Wirkung (dies können zum Beispiel gesellschaftliche, ästhetische, kulturgeschichtliche, mediale, biografische Aspekte sein) zu analysieren und zu interpretieren, mündlich wie auch in schriftlicher Form.

P UBLIKUM , B ESUCHER , I NTERESSE

AN

L ITERATUR

Dass das kroatische Publikum an Literatur interessiert ist, belegen die hohen Besucherzahlen der Bibliotheken ebenso wie der große Andrang auf der jährlich im November stattfindenden literarischen Buchmesse »Interliber«. Auch andere Veranstaltungen wie das Festival der Europäischen Kurzgeschichte, das mit der Unterstützung von »TRADUKI« seit 13 Jahren stattfindet und den Besuchern ein umfangreiches Programm mit Autorinnen

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und Autoren aus zahlreichen Ländern bietet, sind ein Beispiel für das rege Interesse an Literatur. Der Verlag Fraktura organisiert darüber hinaus mit Unterstützung von zahlreichen Förderern das Festival der Weltliteratur, an dem jedes Jahr nicht nur Autoren aus vielen Ländern teilnehmen, sondern auch ihre Verleger und Übersetzer. Schließlich sollte ein weiteres Festival erwähnt werden, das leider nicht mehr stattfindet, jedoch als eine selbstständige Literaturbewegung betrachtet wurde. Hierbei handelt es sich um das »Festival alternativne književnosti« (FAK, Festival der alternativen Literatur), das zwischen 2000 und 2003 in unterschiedlichen Städten Kroatiens, aber auch in Novi Sad und Belgrad siebenmal organisiert wurde, hauptsächlich deshalb, weil die Autoren der 1990er keine eigene Zeitschrift hatten. Das Festival konnte diesen Mangel kompensieren und wurde als eine Art mündliche Zeitschrift für die Förderung der Schreib- und Lesekultur betrachtet. Im Rahmen des FAK-Festivals lasen sowohl kroatische als auch britische Autoren in zahlreichen Klubs aus ihren Texten. Die kroatischen Autoren, die an diesen Veranstaltungen teilnahmen, darunter Borivoj Radaković, Zoran Ferić, Miljenko Jergović, Ante Tomić, Jurica Pavičić, Robert Perišić, Edo Popović usw. betonten immer wieder ihre Heterogenität. Gemeinsam war ihnen allerdings die Tatsache, dass sie als die wichtigsten jungen Autoren angesehen wurden, die die kroatische Literaturszene derzeit dominierten und ihr eine neue Richtung gaben. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie sich von der Postmoderne distanzierten und, wie bereits erwähnt, über die Realität, von der sie umgeben waren, erzählten, wobei sie ihren Ausgangspunkt oft im Kriegserlebnis fanden (vgl. ŽagarŠoštarić 2013: 142).

S OCIAL M EDIA UND L ITERATURVERMITTLUNG Die neuen Medien werden auch in Kroatien als eine Form der neuen Kommunikation vielfach benutzt. Diesbezüglich wurde schon 2000 unter dem Namen »BEK« das erste Portal gegründet, das kostenlos E-Books anbietet und dementsprechend häufig besucht wird (www.elektronickeknjige.com). Die neueste Literatur wird außerdem in der virtuellen Zeitschrift Knjigomat besprochen. Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche Internetseiten, mit deren Hilfe die kroatische Literatur vermittelt wird. Zu nennen sind die Kritiken auf der Internetseite Moderna vremena oder die literarischen Blogs, die

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oft die neuesten Erscheinungen rezensieren (vgl. den Blog von Božidar Alajbegović: www.knjigoljub.blog.hr). Alle bedeutenden Autoren verfügen aber auch über eigene Webseiten, auf denen sie ihre Biographie und Bibliographie präsentieren. Viele von ihnen schreiben auch eigene Blogs und versuchen so, mit Literaturinteressierten auf der ganzen Welt zu kommunizieren.

L ITERATUR Alajbegović, Božidar: Knjiški moljac. URL: http://www.knjigoljub.blog.hr/ [18.3.2015]. BEK – Besplatne Elektroničke knjige. URL: http://www.elektronickeknjige.com [18.3.2015]. Böck, Christina (2013): Es gibt nichts, das nicht erzählt. In: Wiener Zeitung. URL: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/ autoren/?em_cnt=557292 [25.3.2015]. Dugandžija, Mirjana & Nina Ožegović (2002): Najuspješniji hrvatski pisci u inozemstvu. URL: http://arhiva.nacional.hr/clanak/13136/ najuspjesniji-hrvatski-pisci-u-inozemstvu [24.3.2015]. Koller, Werner (2011): Einführung in die Übersetzungswissenschaft. Tübingen, Basel: A. Francke. Moderna vremena. URL: http://www.mvinfo.hr/ [18.3.2015]. Pogačnik, Jasna (2008): Tko govori, tko piše. Antologija suvremene hrvatske proze. Zagreb: Zagrebačka slavistička škola. Pogačnik, Jasna (2012): Kombajn na književnom polju. Zagreb: Hrvatsko društvo pisaca. Proleksis enciklopedija. URL: http://proleksis.lzmk.hr/ [24.3.2015]. Središnji državni portal Ministarstva kulture Republike Hrvatske URL: http://www.min-kulture.hr/default.aspx?id=18 [18.3.2015]. Šodan, Damir (2011): Was ist in Wirklichkeit ›wirklichkeitsbezogene‹ Poesie? In: Relations 1-2, S. 215-283. Traduki URL: http://german.traduki.eu/ [18.3.2015]. Žagar-Šoštarić, Petra (2013): Begenungsraum Pop – Rujana Jegers Roman »Darkroom«. In: Gansel, Carsten & Elisabeth Herrmann (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress, S. 141-151.

Slowenien K ARMEN S CHÖDEL , I RENA S MODIŠ

E INFÜHRUNG Der vorliegende Beitrag gibt einen detaillierten Überblick über die aktuelle Situation auf dem deutsch-slowenischen Übersetzungsmarkt. Er teilt die bislang übersetzten Werke in Genres ein und stellt Übersetzer und Übersetzerinnen vor, die Literatur aus dem Deutschen ins Slowenische und aus dem Slowenischen ins Deutsche übertragen. Im Rahmen eines Überblicks über die beteiligten Verlage werden hier zudem die aktuelle übersetzerische und literarische Landschaft Sloweniens skizziert und die Literaturzeitschriften sowie relevante literarische Veranstaltungen vorgestellt. Eine abschließende Betrachtung untersucht die Rolle des Verbandes der slowenischen Literaturübersetzer und der slowenischen Buchagentur bei der Förderung von Literaturübersetzungen.

Ü BERSETZUNGEN IM Z EITRAUM

VON

2000

BIS

2014

Im Zeitraum von 2000 bis 2014 sind 3.386 Bücher erschienen, die aus der deutschen in die slowenische Sprache übersetzt wurden. Der Anteil der literarischen Werke daran beträgt 27 % (912 Titel). Es überwiegen Romane (317 Titel), gefolgt von Kurzprosa (303 Titel), Dramen (65 Titel), Dokumentarliteratur (60 Titel) und Lyrik (45 Titel). Etwa die Hälfte der übersetzten Titel im Genre ›Kurzprosa‹ ist Kinder- und Jugendliteratur. Im Übrigen wurden 533 Bilderbücher aus dem Deutschen ins Slowenische übersetzt.

198 | K ARMEN S CHÖDEL , I RENA S MODIŠ

Die Anzahl aller aus dem Slowenischen ins Deutsche übersetzten Bücher im beobachteten Zeitraum beläuft sich auf 728. Der Anteil der literarischen Werke beträgt 29 % (210 Titel), darunter Romane (57 Titel), Lyrik (48 Titel), Kurzprosa (32 Titel), Dokumentarliteratur (14 Titel) und Dramen (2 Titel). Diese Daten beziehen sich auf Bücher, die in der Datenbank COBIB.SI (Kooperative bibliographische Datenbank und Katalogdatenbank) bis Ende Januar 2015 erfasst wurden. Die Datenbank ist der zentrale Teil des Systems COBISS.SI (Kooperatives online-bibliographisches System und Services), in dem alle bibliographischen Informationen über die Verfügbarkeit von Titeln in slowenischen Bibliotheken katalogisiert werden.

W ICHTIGE Ü BERSETZER UND ÜBERSETZTE AUTOREN DER LETZTEN J AHRE Übersetzer und Übersetzerinnen aus dem Deutschen ins Slowenische Für slowenische Übersetzungen deutschsprachiger Klassiker war die Periode der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sehr produktiv und bereichernd. In dieser Zeit ist eine Vielzahl der deutschsprachigen kanonischen Autoren ins Slowenische übertragen worden. Zu den Übersetzern, die sich darum am meisten verdient gemacht haben, gehören u.a. Janko Moder (Goethe, Brecht, T. Mann, Grass), Janez Gradišnik (T. Mann, Musil, Hesse), Štefan Vevar (Goethe, Schiller, Kafka, W. G. Sebald) sowie einige bedeutende slowenische Autor_innen, wie zum Beispiel Kajetan Kovič (Rilke, Kafka, Trakl) und Niko Grafenauer (Hugo von Hofmannsthal, Hölderlin, Lasker-Schüler). Die zeitgenössische deutschsprachige Literatur ist bei slowenischen Lesern und Verlagen sehr beliebt und wird oft sehr schnell ins Slowenische übertragen, wenngleich aber viele preisgekrönte Titel, die weltweit großen Anklang finden, interessanterweise nicht übersetzt wurden (wie z.B. in den letzten Jahren Lutz Seilers Kruso, Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts und Katja Petrowskajas Vielleicht Esther). Den Übersetzern und Übersetzerinnen aus dem Deutschen stehen unterschiedliche Stipendien zur Verfügung, die zwei wichtigsten sind das Schritte-Stipendium der S. Fischer Stiftung, das an Übersetzer deutscher Literatur aus der Türkei und den Ländern Südosteuropas vergeben wird, und

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das Stipendium der Robert Bosch Stiftung für professionelle Literaturübersetzer. Beide Stipendien sind an Übersetzer_innen mit Berufserfahrung und bereits veröffentlichten Übersetzungen gerichtet. Die Übersetzungen aus dem Deutschen ins Slowenische und umgekehrt werden zudem von der Javna agencija za knjigo (Slowenische Buchagentur) und dem Netzwerk TRADUKI (Gründer: S. Fischer-Stiftung, KulturKontakt Austria, Pro Helvetia, Goethe Institut) maßgeblich finanziell unterstützt. In vielen Fällen würden die Übersetzungen ohne diese Förderungen nicht erscheinen. Eine wichtige Rolle in der deutsch-slowenischen Kulturvermittlung spielt auch das Literarische Colloquium Berlin (LCB) als Organisator der alljährlichen Sommerakademie für Übersetzer_innen, die diesen eine Begegnung mit den Berliner Autor_innen, Verlagen und Kritiker_innen ermöglicht und die Chance bietet, an eigenen Übersetzimgsprojekten weiterzuarbeiten. Viele slowenische Übersetzer und Übersetzerinnen nehmen auch an einer weiteren Veranstaltung des LCB Teil (organisiert zusammen mit dem Goethe Institut, der S. Fischer Stiftung und der Stiftung Pro Helvetia), dem »Internationalen Übersetzertreffen« in Berlin und Leipzig. Zu den bedeutenderen Übersetzern und Übersetzerinnen aus dem Deutschen ins Slowenische gehören: Štefan Vevar (außer den oben Erwähnten übersetzte er Texte von Novalis, Heine, Fontane, Stifter, Broch und Musil sowie zeitgenössische Literatur von Dürrenmatt, Grass, Sebald, Arno Geiger), Lučka Jenčič (übersetzt Bernhard, Winkler, Martin Walser, Christine Nöstlinger u.a.), Anja Uršič (übersetzte Bachmann, Jelinek, Gebrüder Grimm, Adolf Muschg u.a.), Amalija Maček (übersetzt Brecht, Kafka, Marlen Haushofer, Ilse Aichinger, Terézia Mora, Martin Pollack, Ilma Rakusa, Josef Winkler, Ulrich Peltzer u.a.), Anja Naglič (übersetzt Kafka, Adorno, Walter Benjamin, Fritz Lang, Michael Hanecke, Rainer Werner Fassbinder u.a.), Slavo Šerc (übersetzt Jelinek, Herta Müller, Robert Walser, Walter Benjamin, Peter Stamm, Peter Sloterdijk), Urška P. Černe (übersetzt Grass, Jelinek, Andreas Maier, Durs Grünbein u.a.), Mojca Krajnc (übersetzt Herta Müller, Ödön von Horvath, Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke u.a.), Brane Čop (übersetzt Peter Handke, Ilja Trojanow, Elke Erb, Wolfgang Herrndorf u.a.) und Maruša Mugerli Lavrenčič (übersetzt Bernhard Schlink, Georg Klein, Juli Zeh u.a.). Des Weiteren gibt es in der slowenischen Literaturszene auch eine junge, erfolgreiche Generation slowenischer Literaturübersetzer_innen, die in den

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letzten Jahren in der Branche Fuß fassen konnte und die im Folgenden näher vorgestellt wird. Stana Anželj (geb. 1984) ist seit 2007 als Übersetzerin tätig und überträgt Literatur sowie Sachbücher aus dem Deutschen und aus dem Niederländischen. Für ihre Übersetzungsprojekte erhielt sie verschiedene Aufenthaltsstipendien. Ihre Übersetzung des Romans Die Stadt der Träumenden Bücher (Mesto sanjajočih knjig, 2010) von Walter Moers wurde vom Verband slowenischer Literaturübersetzer mit dem Jungübersetzerpreis 2011 ausgezeichnet und ihre Übersetzung von Moers’ Roman Der Schrecksenmeister (Vreščji mojster, 2011) wurde 2014 in die Ehrenliste des IBBY (International Board on Books for Young People) aufgenommen. Ana Oseban (geb. 1978) studierte an der Universität Maribor mit einem längeren Auslandsaufenthalt an der Karl-Franzens Universität in Graz und ist seit 2008 als freie Literaturübersetzerin tätig. Für die Übersetzung des Romans Blumenberg (Blumenberg, 2013) von Sibylle Lewitscharoff erhielt sie im selben Jahr den Radojka-Vrančič-Preis (der ehemalige Jungübersetzerpreis des Verbandes der slowenischen Literaturübersetzer). Des Weiteren übersetzte sie u.a. Franz Grillparzer, Robert Musil und Christa Wolf. Tina Štrancar (geb. 1985) übersetzt deutschsprachige Prosa und Lyrik ins Slowenische, u.a. Texte von Christoph Ransmayr, Daniel Kehlmann, Jenny Erpenbeck, Monique Schwitter u.a. In Bezug auf die Schweizer Literatur in slowenischer Übersetzung spielt Vesna Kondrič Horvat von der Universität in Maribor eine große Rolle. Kondrič Horvat ist auch selbst Übersetzerin, vor allem aber Herausgeberin von vielen Anthologien und Mittlerin zwischen der schweizerischen und slowenischen Literaturszene. Für angehende slowenische Übersetzer und Übersetzerinnen wird Übersetzen als Studiengang an den zwei größten Universitäten Sloweniens angeboten – in Ljubljana und in Maribor. Es gibt keine eigenständige Studienrichtung speziell für das literarische Übersetzen; dieses spielt in der Ausbildung eine weniger wichtige Rolle. Den Studierenden stehen jedoch unterschiedliche Weiterbildungsangebote im Bereich des literarischen Übersetsetzens aus dem Deutschen ins Slowenische zur Verfügung, wie z.B. das Wochenendseminar für Literaturübersetzer in Izola, das einmal jährlich vom Javni sklad Republike Slovenije za kulturne dejavnosti (Öffentlicher Kulturfonds der Republik Slowenien; JSKD) organisiert wird (Werkstattleiterin:

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Irena Samide), oder das Sommerkolleg Premuda seitens des Instituts für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft der Karl-Franzens-Universität in Graz (Werkstattleiter sind Erich Prunč, Urška P. Černe, Daniela Kocmut, Kristina Jurkovič). Eine wichtige Rolle in der Entwicklung der jungen Übersetzer_innen spielt auch der Društvo slovenskih književnih prevajalcev (Verband der slowenischen Literaturübersetzer; DSKP), der mit diversen Veranstaltungen und Weiterbildungen zum wertvollen Austausch zwischen erfahrenen und jüngeren Generationen beiträgt. Viele erfahrene Übersetzer_innen setzen sich für ihre jüngeren Kolleg_innen ein und übernehmen somit eine Art Mentorenrolle. Übersetzer und Übersetzerinnen aus dem Slowenischen ins Deutsche Bei der Übersicht sowohl der Literaturübersetzer aus dem Slowenischen ins Deutsche als auch der Verlage, bei denen die Übersetzungen veröffentlicht werden, wird schnell erkennbar, dass die Situation deutlich durch die geographische Lage in der Nachbarschaft Österreichs und die gemeinsame Geschichte geprägt ist. Im Süden Österreichs, an der slowenischen Grenze, lebt in Kärnten eine slowenische Minderheit, zu der unter anderem viele (manchmal zweisprachige) Autor_innen (Maja Haderlap, Ingeborg Bachmann, Peter Handke u.a.) und Übersetzer_innen zählen. Die slowenische Sprache in diesem Umfeld unterscheidet sich jedoch von dem, was in Slowenien gesprochen wird. Sie hat sich mit der Zeit anders entwickelt, nahm gewisse Strukturen der deutschen Sprache an und blieb teilweise archaisch. Übersetzungen, die meistens bei Kärntner Verlagen (Hermagoras, Wieser, Drava) erscheinen, werden selten nach Deutschland distribuiert und bleiben der deutschen Leserschaft somit meistens vorenthalten. Ins Deutsche und in andere Fremdsprachen wurden bisher vor allem kanonisierte slowenische Autoren vom Anfang des 20. Jahrhunderts übersetzt, wie zum Beispiel Ivan Cankar, France Prešeren und France Bevk. In den letzten Jahren figurieren unter den häufigsten übersetzten Autoren Drago Jančar und Boris Pahor, zwei der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Sloweniens, und auch viele Autor_innen, wie z.B. Tomaž Šalamun, Srečko Kosovel und Aleš Debeljak. Eine auffallende Lücke besteht jedoch in den Übersetzungen der jüngeren Generationen zeitgenössischer slowenischer Autoren.

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Im Folgenden werden einige der wichtigsten Übersetzer und Kulturmittler genannt, die meistens in Kärnten, in Graz oder in Wien tätig sind: Fabian Hafner (übersetzte Dane Zajc, Florjan Lipuš, Maruša Krese, Tomaž Šalamun, Uroš Zupan u.a.) wurde mit dem Petrarca-Übersetzer-Preis (1990) und dem Preis der Stadt Münster für europäische Poesie (2007) ausgezeichnet. Der älteren slowenischen Literatur widmet sich vor allem Erwin Köstler (er hat die Werkausgabe von Ivan Cankar übersetzt). Ein weiterer etablierter Übersetzer aus dem Slowenischen ins Deutsche ist Klaus Detlef Olof (er hat Andrej Blatnik, Drago Jančar, Lojze Kovačič, Cvetka Lipuš und Kajetan Kovič übersetzt). Alle drei Übersetzer erhielten den österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzer und das Lavrin-Diplom des Verbandes slowenischer Literaturübersetzer. Weitere bedeutende Übersetzer sind noch Andrej Leben (übersetzte Suzana Tratnik, Brane Mozetič u.a.) und Johann Strutz (übersetzte Florjan Lipuš, Marjan Tomšič). Unter den jüngeren Kollegen sollte man noch Sebastian Walcher (übersetzte Berta Bojetu, Stanka Hrastelj, Andrej Skubic, Andrej Blatnik, Dušan Šarotar, Svetlana Makarovič u.a.) und Daniela Kocmut erwähnen (übersetzte Drago Jančar, Katarina Marinčič, Zofka Kveder, Stanka Hrastelj), die auch Lyrik in slowenischer und in deutscher Sprache schreibt. In den letzten Jahren ist es vielen weiteren jungen Übersetzern und Übersetzerinnen gelungen, sich mit der Qualität ihrer Übersetzungen auf dem Übersetzermarkt zu etablieren, wie etwa: Ann Catrin Bolton (übersetzte Evald Flisar, Davorin Lenko, Miha Mazzini, Tadej Golob u.a.) und Karin Almasy (übersetzte humanistische Werke von Rok Stergar, Zdenka Badovinac, Božidar Jezernik, Aleš Čar, Suzana Tratnik). Seit 2010 organisiert die Slowenische Buchagentur einmal im Jahr in Novo mesto ein Übersetzerseminar für Literaturübersetzer aus dem Slowenischen. Dabei haben die Übersetzer_innen mittels Lesungen, weiterbildenden Workshops und literarischen Veranstaltungen die Gelegenheit, sowohl die zeitgenössische slowenische Literatur und ihre Autor_innen als auch die slowenischen Verlage und den Literaturbetrieb kennenzulernen, woraus sich in den letzten Jahren ein Netzwerk von Literaturübersetzern aus dem Slowenischen gebildet hat. Im Jahr 2015 hat Slowenien mit aktiven Vorbereitungen für die Kandidatur als Gastland der Frankfurter Buchmesse beginnen. Es ist also anzunehmen, dass in den kommenden Jahren stark an der Präsentation und Verbreitung der slowenischen Literatur und Kultur sowohl im deutschsprachigen Raum als auch weltweit gearbeitet wird, wobei natürlich auch die Übersetzer

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und Übersetzerinnen eine entscheidende Rolle spielen dürften. Es gibt noch große Lücken in den deutschen Übersetzungen slowenischer Autor_innen, was in den nächsten Jahren behoben werden soll.

V ERLAGE

UND

Z EITSCHRIFTEN

Verlage in Slowenien Vor der Wende im Jahr 1989 wurde der slowenische Buchmarkt von drei großen Verlagen dominiert: Mladinska knjiga (Junges Buch), Cankarjeva založba (Cankars Verlag) und DZS (Državna založba Slovenije; Slowenischer Nationaler Verlag). Alle drei Verlage überlebten das Ende des Sozialismus, wobei Cankarjeva založba Mitte der 1990er von Mladinska knjiga übernommen wurde. Die Tätigkeit von DZS umfasst neben dem Verlagswesen auch den Handel mit Büro- und Schulmaterial. Mladinska knjiga expandierte in den letzten Jahren und ist mittlerweile auch auf weiteren osteuropäischen Märkten vertreten. In den 1990er Jahren wurden zahlreiche neue Verlage gegründet. Das Verzeichnis der slowenischen Verlage für die Präsentation Sloweniens auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2009 listete 148 Verlage, davon 93 Verlage, die auch literarische Werke im Programm führten. Die meisten deutsch-slowenischen literarischen Übersetzungen sind bei den oben genannten großen sowie bei folgenden kleineren Verlagen erschienen: Študentska založba, Ljubljana (gegründet 1996, 2014 umbenannt in Beletrina), Celjska Mohorjeva družba, Celje (gegründet 1927 von der Hermagoras, Klagenfurt); Didakta, Radovljica (gegründet 1989); Ebesede, Ljubljana (gegründet 2008): Kres, Ljubljana (gegründet 1990); Litera, Maribor (gegründet 2001); Modrijan, Ljubljana (gegründet 1996); Sanje, Ljubljana (gegründet 1997); Tržič Učila International (gegründet 1994).

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Verlage, die literarische Übersetzungen aus dem Slowenischen ins Deutsche publizieren Die meisten slowenisch-deutschen literarischen Übersetzungen aus den letzten Jahren sind bei den bereits genannten zweisprachigen Klagenfurter Verlagen erschienen: Hermagoras (gegründet 1851), Drava (gegründet 1953) und Wieser (gegründet 1987). Das Problem dieser Verlage ist der mangelnde Vertrieb in Deutschland und in der Schweiz. Wie Erwin Köstler im Vorwort zur Bibliographie der Buchübersetzungen slowenischer Literatur ins Deutsche feststellt, haben folgende Verlage in Österreich, Deutschland und Italien seit 1990 slowenische Literatur mit insgesamt mehr als einer Einzelpublikation in deutscher Sprache im Programm (Vavti 2006: 8): Styria (Graz), Zsolnay (Wien), Residenz (Salzburg), Suhrkamp (Frankfurt), Log (Wien), Edition Braitan (Cormons, Brazzanon), Pawlak (Herrsching), Droschl (Graz), Edition Atelier (Wien), Werkgruppe Lyrik (Graz), Slavica (München), Edition Thanhäuser (Ottensheim a.d. Donau), Klett-Cotta (Stuttgart), Edition Rapial / Edicija Rapial (Klagenfurt), Folio (Bozen, Wien), Edition Korrespondenzen (Wien), Milena (Wien), Kitab (Klagenfurt, Wien). Zusätzlich sind seit 1980 noch folgende Verlage mit zumindest einer Publikation aufgetreten: Trofenik (München), Grazer Druckerei (Graz), Sessler (Wien), Mühlerbergring Bovenden (Göttingen), Klub Prežihov Voranc (Klagenfurt), Pero (Wien), Zum halben Bogen (Bovenden), Österreichischer Bundesverlag (Wien), Reclam (Leipzig), Europa Verlag (Wien), Ritter (Klagenfurt), Robert-Musil-Archiv (Klagenfurt), Alekto (Klagenfurt), Lübbe (Bergisch-Gladbach), Edition Carinthia (Klagenfurt), Königshausen & Neumann (Würzburg), Eichborn (Frankfurt), Passagen (Wien), Berlin Verlag (Berlin), Schöffling & Co. (Frankfurt) sowie einige Verlage in Slowenien (Vgl. ebd., S. 8f.). Während die slowenische Literatur noch vor vierzig Jahren in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zum europäischen Randgruppenprogramm gehörte, ist ihre Präsenz heute langsam, aber stetig im Steigen und es ist zu erwarten, dass ihr eine gleichbleibende Aufmerksamkeit zuteilwird. Slowenische Literaturzeitschriften Slowenien verfügt über verhältnismäßig viele literarische Zeitschriften. Die meisten stammen noch aus Zeiten des Sozialismus, Jugoslawiens oder den

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ersten Jahren des selbstständigen Sloweniens, als das nationale Bewusstsein noch viel stärker war und die Literatur in der Gesellschaft eine sehr wichtige, weil identitätsstiftende Rolle spielte. Hier ist insbesondere Nova revija zu erwähnen, eine Zeitschrift der kritischen Intellektuellen, die von 1982 bis 2010 erschienen ist. Besondere Resonanz fand die Nr. 57 dieser Zeitschrift, die im Jahr 1987 erschienen ist und in der, als eine eigentümliche slowenische Antwort auf die unitaristisch-zentralistischen Anforderungen des Regimes, Beiträge für das slowenische Nationalprogramm veröffentlicht wurden. Heute verfügt die literarische Landschaft in Slowenien über Zeitschriften mit unterschiedlichen inhaltlichen, formellen und ideologischen Ausrichtungen. In diesem Beitrag soll nur eine Auswahl erwähnt werden. Sodobnost (in der Vergangenheit auch Naša sodobnost und Novi svet) ist die älteste slowenische Zeitschrift im Bereich der Literatur. Als Redakteure dieser Zeitschrift waren renommierte slowenische Persönlichkeiten tätig, wie z.B. Ciril Zlobec, Dušan Pirjevec, Josip Vidmar und Evald Flisar, der seit 1989 dabei ist. Der inhaltliche Schwerpunkt der Zeitschriften liegt auf der slowenischen Literatur (Fragmente, Lyrik, Prosa, Interviews, Neuerscheinungen). Dennoch werden regelmäßig auch ausgewählte internationale Autoren vorgestellt. Literatura, eine der zentralen Literaturzeitschriften, die sich mit zeitgenössischer slowenischer Literatur beschäftigt, wird vom literarisch-künstlerischen Verein LUD Literatura herausgegeben. In dem Magazin, das seit 1989 monatlich erscheint, werden neben Belletristik auch Kritiken und Interviews veröffentlicht. I.D.I.O.T ist eine »paraliterarische Organisation«, die seit 2009 zweimal jährlich eine gleichnamige Zeitschrift veröffentlicht. Mit der Idee, Studenten und junge Literaten zusammenzuführen, ist sie aus einer Studentenzeitschrift hervorgegangen. Veröffentlicht werden Prosa, Lyrik, Dramatik und theoretische Texte. Die Zeitschrift Mentor (seit 1979, erscheint fünfmal jährlich) bietet auch jüngeren oder noch nicht etablierten Autorinnen und Autoren die Möglichkeit zur Veröffentlichung. Außerdem werden auch Übersetzungen (von vorwiegend jungen Übersetzer_innen), Rezensionen und Berichte von Veranstaltungen veröffentlicht. Es gibt zudem auch eine Jugendrubrik. Mentor wird vom slowenischen Kulturministerium finanziert.

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Andere wichtige slowenische Literaturzeitschriften sind u.a. Dialogi (eine intellektuelle, auf den slowenischen sowie internationalen Raum ausgerichtete Zeitschrift mit Veröffentlichungen aus den Bereichen Kunst und Geisteswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der zivilen Gesellschaft, der unabhängigen Kultur und engagierter Intellektueller, Maribor, seit 1965); Odsevanja (Zeitschrift für Belletristik und Kultur, Slovenj Gradec, seit 1979); Apokalipsa (Revija za preboj v živo kulturo – Zeitschrift zum Durchbruch in die lebendige Kultur, Ljubljana, seit 1994); Locutio (die erste slowenische online Zeitschrift, Maribor, besteht seit 1995); Poetikon (die erste slowenische Zeitschrift, die nur der Lyrik gewidmet ist, Ljubljana, besteht seit 2005). Eine wichtige Rolle bei der Information der Leserschaft über Neuerscheinungen spielt die kostenlose Zeitschrift Bukla (Verlag UMco d.d., Ljubljana, seit 2005), in der u.a. auch Interviews mit Autoren sowie Einblicke in die Übersetzungen veröffentlicht werden. Ein besonderes Format hat das Internetportal AirBeletrina (im Rahmen des Verlags Beletrina, Ljubljana) mit einem Schwerpunkt auf literarischen Themen, die in einen breiteren kulturell-gesellschaftlichen Kontext eingebettet sind, und mit der Möglichkeit, die veröffentlichten Beiträge zu kommentieren.

L ITERATURVERANSTALTUNGEN

IN

S LOWENIEN

In Slowenien gibt es über 90 Kulturfestivals. Die meisten sind den verschiedenen Bereichen des Theaters und der Musik gewidmet; im Bereich der Literatur finden sieben Festivals sowie weitere Veranstaltungen statt. Das internationale »Literarturfestival Vilenica«, an dem europäische Schriftsteller_innen, Auor_innen, Dramatiker_innen und Essayist_innen teilnehmen, findet seit 1986 jährlich, gewöhnlich in der ersten Septemberhälfte, an verschiedenen Orten in Slowenien statt. Organisiert wird das Festival vom Slowenischen Schriftstellerverband und vom Kulturverein Vilenica. Slowenische und ausländische Autoren und Autorinnen, die von einer Jury ausgewählt und eingeladen werden, können ihre Werke im Rahmen des Festivals in Slowenien vorstellen. Zum vielfältigen Programm gehören Lesungen, Kolloquien, eine Buchmesse, Vorstellungen von neuen Publikationen u.v.m. Jedes Jahr wird der internationale Vilenica-Preis für mitteleuropäische Literatur vergeben. Die feierliche Preisverleihung findet in der gleichnamigen Grotte statt, nach der das Festival auch benannt wurde.

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Die Slowenischen Literaturtage haben 2015 schon zum 20. Mal stattgefunden. Autoren und Autorinnen, Verleger und Literaturliebhaber treffen bei diesem Literaturfest Mitte April zusammen. Das Zentrum des Geschehens ist der Kongressplatz in Ljubljana, wo eine Literaturmesse im Freien stattfindet. Zeitgleich finden literarische Veranstaltungen in anderen slowenischen Städten statt. Das Festival »Dnevi poezije in vina« (Tage der Poesie und des Weines) ist das größte internationale Poesiefestival Sloweniens. Seit 1996 waren mehr als 400 Autoren und Autorinnen aus der ganzen Welt zu Gast. Seit 2010 gastiert das Festival in Ptuj. Zum Ende des Sommers treffen sich dort Autor_innen, Übersetzer_innen, Musiker_innen, Schauspieler_innen und Performer. Jedes Jahr wird ein Land ausgewählt, dessen Lyrik und Sprache im Mittelpunkt stehen. Eine Woche vor Beginn des Festivals nehmen slowenische Autor_innen an einem Übersetzerworkshop teil, wo sie mit Übersetzer_innen im slowenischen Ort Jeruzalem an Übersetzungen der eigenen Lyrik in andere Sprachen arbeiten. Das Festival »Literature sveta – Fabula« (Weltliteraturen – Fabula) ist eines der bedeutendsten literarischen Ereignisse in Ljubljana. Seit mehr als zehn Jahren gastieren dort Anfang März zahlreiche slowenische und internationale Autoren und Autorinnen. In Workshops für Kinder und Jugendliche, dem »Prosathlon«, literarischen Abenden, Filmvorführungen, Vorlesungen, Diskussionen und anderen Veranstaltungen wird die Literatur der am Lesen interessierten Öffentlichkeit näher gebracht. Parallel zum Festival erscheinen jedes Jahr Übersetzungen der Werke der gastierenden AutorInnen. Am ersten Juliwochenende treffen sich Autor_innen, Kritiker_innen und Übersetzer_innen in Rogaška Slatina in der slowenischen Steiermark beim »Pranger Festival«. Im Mittelpunkt des Festivals stehen kritische Auseinandersetzungen mit den Werken der ausgewählten Autoren. Tagsüber wird über die jüngsten Werke der Autor_innen diskutiert (die Diskussionen werden aufgenommen und können auf der Website angeschaut werden) und abends finden Literaturveranstaltungen im Freien statt. Jedes Jahr wird außerdem eine Fremdsprache ausgewählt, die im Fokus steht (2014 war es die Schweiz mit der rätoromanischen Sprache). Autor_innen, Übersetzer_innen und Expert_innen werden aus diesem Sprachgebiet eingeladen und slowenische Lyrik wird in die gewählte Sprache übersetzt. Seit 2005 läuft die Veranstaltung Mlade rime (Junge Reime) unter dem Motto »Poezija je kul!« (Poesie ist cool!), die auf Metelkova in Menza pri

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koritu (Ljubljana) stattfindet. Hier können sich junge Autor_innen einem breiteren Publikum vorstellen, Kontakte knüpfen und Erfahrungen austauschen. Weitere Veranstaltungen sind das literarisch-musikalische Festival Živa književnost (Lebendige Literatur), das Festival der Fantasie und Kreativität Sanje (Träume) und die Veranstaltung Noč knjige (die Nacht des Buches).

F ÖRDERINSTITUTIONEN Im selbständigen Slowenien wurde ein System zur Förderung des Buches durch das Kultusministerium entwickelt. Dieses diente hauptsächlich der Kofinanzierung nicht-kommerzieller Buch- und Zeitschriftenproduktionen in den Bereichen Belletristik und Geisteswissenschaft sowie in diversen anderen Kunst- und Kulturbereichen. Seit der Gründung der slowenischen Buchagentur im Jahr 2009 ist diese unter anderem für die genannten Aufgaben zuständig. Die Förderung einzelner literarischer Übersetzer und Übersetzerinnen und die Würdigung der literarischen Übersetzungen sind die Hauptziele des Verbands der slowenischen Literaturübersetzer. Beide Institutionen werden im Folgenden dargestellt. Der »Verband slowenischer Literaturübersetzer«, der 1953 als »Verband der Übersetzer Sloweniens« gegründet wurde, sollte eine Parallele zum slowenischen Schriftstellerverband darstellen und war somit hauptsächlich als Verband der Übersetzer literarischer Werke tätig. Daher war es nach kurzer Zeit erforderlich, eine weitere Fachorganisation ins Leben zu rufen, nämlich den »Verband der Fachübersetzer« (gegründet 1960; später »Verband der wissenschaftlichen und technischen Übersetzer«). Der Verband sorgt für ein gleichbleibend hohes Qualitätsniveau und die Anerkennung der übersetzerischen Arbeit. Er kümmert sich um Kontakte zwischen den Übersetzer_innen und die Zusammenführung von theoretischen, historischen, sozialen und praktischen Aspekten des Übersetzens. Diese Ziele verfolgt der Verband u.a. mit Literatur- und Diskussionsveranstaltungen, Fachsymposien und Vorlesungen, sowie durch die Förderung des internationalen Studienaustauschs der Übersetzer. Zudem unterstützt er ihre Zusammenarbeit mit anderen Kultur-, Bildungs- und Fachorganisationen in Slowenien sowie im Ausland. Außerdem werden Publikationen über das Übersetzen unterstützt. Der Verband slowenischer Literaturübersetzer ist

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Mitglied des Rats der Europäischen Literaturübersetzerverbände – CEATL (Conseil Européen des Associations de Traducteurs Littéraires) und verleiht folgende Preise: den »Sovre-Preis« (seit 1969 für besondere Leistungen im Bereich der Übersetzungen von künstlerischen und wissenschaftlichen Texten aus dem Slowenischen oder ins Slowenische), das »Lavrin-Diplom« (seit 2003 für herausragenden Beiträge auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Vermittlung slowenischer Literatur), den »Radojka-Vrančič-Preis« (wird seit 2002 an Übersetzer ins Slowenische bis einschließlich 35 Jahren verliehen) und den »Jerman-Preis« (seit 2013 für herausragende Übersetzungen von Texten aus den Bereichen der Sozial- und Geisteswissenschaften). Der Verband verleiht zudem vier Arbeitsstipendien in den Kategorien »angehende Übersetzer« und »etablierte Übersetzer«, Residenzstipendien und Prämien für herausragende Leistungen. Der Verband der slowenischen Literaturübersetzer zählt heute 237 Mitglieder. Die Buchagentur Javna agencija za knjigo (JAK), die als Teil des slowenischen Kulturministeriums tätig ist, wurde mit dem Ziel der Förderung slowenischer Literatur gegründet. Sie soll u.a. für stabile Bedingungen in allen damit verbundenen Bereichen sorgen und hochwertige Werke in Literatur und Wissenschaft, vor allem in den Geisteswissenschaften fördern. Ein weiteres Ziel liegt darin, einen besseren Zugang zu Büchern zu ermöglichen, den Bekanntheitsgrad slowenischer Persönlichkeiten in den Bereichen Belletristik und Wissenschaftspublizistik weltweit zu erhöhen und die Verhältnisse bezüglich der Erscheinungen zu stabilisieren. Außerdem wird eine angemessene Anerkennung und Bezahlung von Autoren, beispielsweise durch Stipendien, angestrebt, wie auch die Förderung des Buchverkaufs durch verschiedene Anreize für Verkäufer und Käufer, die Leseförderung bei Kindern und Jugendlichen, die Unterstützung von Bibliotheken und die Förderung der Übersetzung slowenischer Literatur im Ausland durch Veranstaltungen, Präsenz auf Buchmessen und Ähnliches. Die slowenische Buchagentur veranstaltet seit 2010 regelmäßig ein internationales Übersetzerseminar. Außerdem ist sie mit dem europäisches Netzwerk für Literatur und Bücher TRADUKI vernetzt und verfolgt Ausschreibungen ausländischer Organisationen, die anschließend auf der Website der JAK veröffentlicht werden. Aufgrund des kleinen Marktes erscheinen in Slowenien viele Titel in relativ kleinen Auflagen, was folglich zu höheren Buchpreisen führt. Darüber hinaus besteht ein ausgeprägtes Netz an Bibliotheken und traditionell eine

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hohe Tendenz zum Ausleihen von Büchern. Unter diesen Aspekten übernimmt die staatliche Förderung eine bedeutende stabilisierende Rolle.

L ITERATUR Potočnik, Goran Č. & Sabina Autor (Hg.) (2008): Slovenian Publishers. Ljubljana: Chamber of Commerce and Industry of Slovenia. Vavti, Stojan (2006): Bibliographie der Büchübersetzungen slowenischer Literatur ins Deutsche = Bibliografija knjižnih prevodov slovenske literature v nemščino. Ljubljana : Center for Slovenian Literature = Center za slovensko književnost. Internetquellen AirBeletrina. URL: http://www.airbeletrina.si/kolofon Blatnik, Andrej: Bo še šlo brez Nobelove? URL: http://www.pogledi.si/ knjiga/bo-se-slo-brez-nobelove [06.10.2015] COBISS.si, Kooperativni online bibliografski sistem in servisi. URL: http:// cobiss.si [28.02.2015] Delo d.d., 20.06.2014: Beletrinina preživetvena strategija. URL: http:// www.delo.si/kultura/knjizevni-listi/beletrinina-prezivetvena-strategija. html [28.02.2015] Društvo slovenskih književnih prevajalcev. URL: http://www.dskpdrustvo.si/ [28.02.2015] Elektronisches Medium. URL: http://www.ludliteratura.si/revija/ [11.02. 2015] EU-Projekt TransStar Europa. URL: http://transstar-europa.com/akteure/ slowenien/werkstattleitung/ [28.02.2015] Festival Dnevi poezije in vina (Tage der Poesie und des Weines). URL: http://www.stihoteka.com/sl/8049-dnevi-poezije-in-vina- [16.02.2015] Festival Literature sveta – Fabula (Weltliteraturen – Fabula). URL: http:// www.festival-fabula.org/2015/ [16.02.2015] Festival Mlade Rime (Junge Reime). URL: https://www.facebook.com/ MladeRime [16.02.2015] Festival Pranger. URL: http://www.pranger.si/ [16.02.2015]

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Javna agencija za knjigo Republike Slovenije. URL: http://www.jakrs.si/ [28.02.2015] Literarisches Colloquium Berlin e.V. URL: http://www.lcb.de/gaeste/ 2013.htm [28.02.2015] Netzwerk TRADUKI. URL: http://german.traduki.eu/index.php?option=co m_content&view=article&id=172:erc-slavo&catid=56:s [28.02.2015] Paraliterarische Organisation I.D.I.O.T. URL: http://id.iot.si/?p=1631 [11.02.2015] Portal slovenskih pisateljev. URL: http://www.drustvopisateljev.si/si/ drustvo_slovenskih_pisateljev/programi/1702/detail.html [16.02.2015] Založba Morfem, Morfem založništvo d.o.o. URL: http://www.morfem.si/ Marusa-Mugerli-a153 [28.02.2015] Zeitschrift SODOBNOST INTERNATIONAL. URL: http://www.sodobnost.com [11.02.2015]

Tschechien Š TĚPÁN Z BYTOVSKÝ

E INFÜHRUNG Wenn Scott Spector in seinem Buch über die moderne deutschsprachige Literatur in Prag schreibt, dass Übersetzer und Autoren, die sich um und nach 1900 um die Vermittlung zwischen der deutsch- und tschechischsprachigen Moderne verdient gemacht haben, eben in der Vermittlungstätigkeit das Wesentliche ihrer Identität gefunden haben und damit eine Art »Middle Nation« (Spector 2000: 195) bildeten, wird trotz aller Fragwürdigkeit seiner These deutlich, wie tief die Vermittlungspraxis im kulturellen Profil der böhmischen Länder verankert ist. Noch deutlicher wird diese Situation, wenn wir bedenken, dass die neuere tschechische Kultur im Rahmen des sog. ›nationalen Wiedererwachens‹ im 19. Jahrhundert zwar in einem Prozess der Emanzipation von der deutschsprachigen, jedoch eng auf sie bezogen erwachsen ist. Die heutigen Übersetzer_innen und Vermittler_innen können somit auf Generationen namhafter Vorgänger zurückblicken, die zugleich eine kulturstiftende Rolle gespielt haben. Nennen wir diese breite Gruppe, der etwa Jaroslav Vrchlický, Otto Pick, Paul Eisner, Otokar Fischer, Václav Renč oder Erik Adolf Saudek angehörten, die erste Klassikergeneration der deutsch-tschechischen Literaturvermittlung, so können als die zweite Klassikergeneration diejenigen gelten, die sich in den 1950er und 1960er Jahren als Übersetzer etabliert haben und trotz der Zensureinschränkungen einen

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Großteil des modernen deutschen Literaturkanons dem tschechischen Publikum zugänglich gemacht haben. Diese Generation, der u.a. Josef Čermák, Vratislav Jiljí Slezák oder Jiří Stromšík angehören, prägte nachhaltig noch die Situation der literarischen Übersetzung nach der Wende 1989, so dass sie in folgenden Ausführungen mitberücksichtigt wird. Der Hauptfokus des Interesses liegt hier allerdings darin, die wichtigsten Tendenzen und Akteure in der tschechischen Literaturlandschaft im Kontext der deutsch-tschechischen Übersetzung während der letzten Dekade vorzustellen. Trotz aller gebotenen Vorsicht gegenüber rein quantitativen Angaben seien einige statistische Daten vorangestellt. Die tschechische Datenbank der Literaturübersetzung (Databáze literárního překladu, DLÜ 2015) registriert für die Zeit von 2001 bis 2015 insgesamt 189 aus dem Deutschen übersetzte Bücher, davon sind 74 in den letzten fünf Jahren erschienen. Diese Zahlen sind jedoch keineswegs vollständig, schließen nicht alle etablierten Übersetzer_innen und auch nicht manche ins Tschechische übersetzte Titel von renommierten Autor_innen wie Klaus Merz, Ilma Rakusa u.a. ein. Kaum aussagekräftiger sind für unsere Zwecke die Angaben der Tschechischen Nationalbibliographie der Nationalbibliothek (der von jeder Buchpublikation im Lande Pflichtexemplare geliefert werden) und die Statistiken des Verbandes tschechischer Buchhändler und Verleger (Svaz českých knihkupců a nakladatelů). Die Bibliographie der Nationalbibliothek (CNB 2015) registriert für die letzten zehn Jahre (2005-2014) insgesamt 11301 Übersetzungen aus dem Deutschen mit einer leicht fallenden Tendenz von ca. 1200 auf ca. 1000 Titel pro Jahr. Die Übersichten des Buchhändlerverbandes (siehe Zpráva 2012-2014; Fakta 2005-2010) berücksichtigen auch weitere Parameter: 2005 wurden insgesamt über 15.000 Bücher publiziert, 2014 waren es ca. 16.500 Titel, davon sind relativ stabil ein Drittel Übersetzungen, von denen wiederum etwa eine Hälfte die Übersetzungen aus dem Englischen ausmachen und (auf Platz zwei) etwa 15-20 Prozent die Übersetzungen aus dem Deutschen. Die Zahl der aktiven Verlage schwankt in den letzten Jahren um die 2.600. Der Anteil der belletristischen Publikationen im Gesamtvolumen beträgt in der Regel ca. 30 Prozent, der spezifische Anteil der Literaturübersetzungen lässt sich anhand dieser Statistiken nicht ermitteln. Jedoch lässt sich festhalten, dass sowohl in der Gesamtstruktur als auch hinsichtlich des Anteils der Übersetzungen der tschechische Markt der letzten Dekade relativ stabile Struktur aufweist.

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T HEMEN , AUTOREN UND AUTORINNEN DER LETZTEN J AHRE Die 1990er Jahre standen in der tschechischen Kultur (sehr vereinfachend betrachtet) im Zeichen des Nachholbedarfs auf verschiedenen Ebenen des Literatursystems. Eine unüberschaubare Menge von Zeitschriften, Verlagen und Buchhandlungen wurden in den ersten Jahren nach der Wende gegründet, ihre Kurzlebigkeit signalisiert freilich sehr oft, dass sie mehr durch Begeisterung von der Publikationsfreiheit getragen wurden als durch eine professionell geführte Marktpräsenz. In Zehntausenden wurden Bücher der tschechischen Literatur und Übersetzungen herausgegeben, die vor 1989 überhaupt nicht, sehr eingeschränkt oder nur in Exilverlagen erscheinen konnten – neben Václav Havel Autoren wie Josef Škvorecký, Milan Kundera oder Bohumil Hrabal. Die 1990er standen dann im Zeichen einer Suche nach Möglichkeiten der Finanzierung für die Literatur, aus der das gegenwärtige relativ stabile(re), doch im europäischen Vergleich dünne Komplex von Fördermöglichkeiten seitens privater oder staatlicher Marktakteure. Der Verlust der prestigevollen Rolle der Autoren als ›Gewissen der Öffentlichkeit‹ ging nach 1989 mit dem Verlust des ›Gemeinsamen Feindes‹ einher. Das gesellschaftliche Prestige der Literaten sollte die 1989 gegründete Schriftstellergemeinde (Obec spisovatelů) unterstützen, deren Autorität aber in den letzten Jahren verspielt wurde; 2014 gründeten v.a. junge Autor_innen eine neue Schriftstellerassoziation (Asociace spisovatelů). Die Situation des literarischen Marktes bedingen auch manche weltweit spürbare Tendenzen; vielleicht noch fühlbarer als in Westeuropa war in Tschechien in den letzten 25 Jahren die rasche Entfaltung der visuellen Popkultur und der damit einher gehende Rückgang des Interesses fürs Lesen. Bei der Betrachtung der Tendenzen in der tschechischen Literatur wird primär die dominante Sparte der Prosa berücksichtigt, die v.a. im Vergleich mit dem heterogenen Feld der Lyrik klarere Strukturierung erlaubt. Auf die in den 1990er Jahren starke Linie der Authentizitätsprosa, die die autobiographischen Erinnerungen auf das Regime vor 1989 (oder das Exil) darstellte, knüpft der Memoirroman an. Dieser Gattung zwischen faktualer Prosa, Fiktion und essayistischer Reflexion widmen sich vorwiegend ältere Autor_innen – neben Pavel Kohout (To byl můj život??, Das war mein Leben??, 2 Bde., 2005/06) oder Ota Filip (Osmý čili nedokončený životopis; Der achte, also unabgeschlossene Lebenslauf, 2007) auch Jindřich Mann (dt.

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Prag, poste restante, 2007; tsch. Poste restante, 2012). Thematisch handelt es sich noch primär um Auseinandersetzungen mit dem kommunistischen Regime und dem Exil. In der letzten Dekade erlebte ein anderes thematisches Feld der historischen Prosa einen Boom: Die Traumata des tschechisch-deutschen Zusammenlebens, des Holocausts und der Vertreibung der deutschen Bürger aus der Tschechoslowakei nach dem zweiten Weltkrieg. Die Schicksale jüdischer Landsleute stehen im Zentrum von Hana Andronikovas Roman Zvuk slunečních hodin (Der Klang der Sonnenuhr, 2001) sowie der psychologischen Geschichte der Frauen dreier Generationen Aaronův skok (2006, dt. Aarons Sprung, 2009) von Magdalena Platzová. Unter den Autoren, die als Zeitzeugen die Zeit des zweiten Weltkriegs erlebt haben, ragt neben Arnošt Lustig noch Květa Legátová, die mit dem Erzählband Želary (2001, dt. Die Leute von Želary, 2005) eine relativ neue Perspektivierung der Geschichtsereignisse von der Peripherie her (mährisch-slowakisches Grenzland) einleitete. Die jüngste Autorengeneration greift das Vertreibungssujet häufiger durch das Prisma der an deutschen Mitbürgern begangenen Gewalttaten auf und setzt sich mit den Stereotypen der tschechischen Geschichtsdeutung auseinander. Geschichten der ungerecht vertriebenen Frauen stehen im Mittelpunkt der Romane Peníze od Hitlera (2006, dt. Ein herrlicher Flecken Erde, 2009) der Autorin und Übersetzerin Radka Denemarková oder Vyhnání Gerty Schnirch (Vertreibung von Gerta Schnirch, 2009) von Kateřina Tučková. Das Thema der dezimierten Sudetenregionen nach der Vertreibung wird nicht selten in einer verzerrenden Optik aufgenommen – etwa in Martin Fibigers Roman Aussiger (2004), oder in der Comic-Trilogie Alois Nebel (2003-2005, dt. 2012; verfilmt 2012) von Jaroslav Rudiš. Kontroversen riefen v.a. diesbezügliche dramatische Arbeiten von Miroslav Bambušek (Porta Apostolorum, 2004) bis zu Ivan Buraj (Odsun!!!, Abschub!!!, 2015) hervor. Nachdem um 2000 das erste Interesse für das stalinistische Regime in der Tschechoslowakei der 1950er Jahre abgeebbt ist, wendet sich die historische Prosa wieder diesem Themenfeld zu. Nach dem breit diskutierten Roman Jan Nováks über die kontroverse Widerstandsgruppe der Brüder Mašín Zatím dobrý (Bislang gut, 2004) und seinem Děda (Opa, 2007) über die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft rief Jiří Hájíčeks Roman Selský baroko (Bäuerliches Barock, 2005) ein nachhaltiges Echo hervor. Ähnlich wie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wird die Thematik der sozialen, po-

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litischen und moralischen Schuld häufig mit einer Familien- bzw. Generationenkonstellation verbunden – so etwa im Roman Milostný dopis klínovým písmem (Liebesbrief in Keilschrift, 2008) von Tomáš Zmeškal. Einen tragikomischen Ton nehmen stellenweise die Schicksale einer Bürgerfamilie und der Industriestadt Zlín in Na krásné modré Dřevnici (An der schönen blauen Dřevnice, 2009) von Antonín Bajaja an. Eine spezifische Periode der kommunistischen Herrschaft stellen die 1970er und 1980er Jahre dar – die Zeit der sog. politischen ›Normalisierung‹ (so die offizielle Bezeichnung für die Phase nach der ›Konterrevolution‹ des Prager Frühlings und der Okkupation 1968). Eine positive Aufnahme bei der Kritik sowie bei der Leserschaft feierte Věra Noskovás Romantrilogie Bereme, co je (Wir nehmen, was es gibt, 2006), Obsazeno (Besetzt, 2007) und Víme svý (Wir wissen schon, 2008), die ein Kleinstadtpanorama vor dem Hintergrund der devianten ›Normalisierung‹ zeichnet. Eine ökologische Perspektivierung dieser historischer Erfahrung bietet der umfangreiche Roman Jiří Hájíčeks Rybí krev (Fischblut, 2012). Es tauchen auch Darstellungen auf, in denen das Historische mystifikatorisch überhöht wird: In ihrem sechsten Roman Strážci občanského dobra (Hüter des Bürgerwohls, 2010) verlegt Petra Hůlová eine satirische Darstellung der Zeit vor und nach 1989 mit phantastischen Elementen in die fiktive »experimentelle Neustadt« Krakau. Am Rande der historischen Prosa können Künstlerromane erwähnt werden, die die Geschichtsdarstellung mit ästhetischer Reflexion und Biographik verbinden, so Martin Reiners suggestive Darstellung des Lebens und Schaffens von Ivan Blatný Básník (Dichter, 2014). Neben der Literatur, die mehr oder weniger auf historische Authentizität setzt, lässt sich die zweite Haupttendenz der tschechischen Gegenwartsliteratur mit der Marke ›postmoderne Inspiration‹ (so etwa Fialová 2014) versehen: entfesselte Verspieltheit, Offenheit und Eklektizität zeichnen diese Texte aus. Programmatisch verortete sich in dieses Feld (neben Jan Křesadlo) Jiří Kratochvil mit dem Erzählband Má lásko, postmodeno (Postmoderne, meine Geliebte, 1994) und einer Reihe weiterer Romane bis zu dem auf Dürrenmatt anspielenden Slib (Versprechen, 2009) oder Alfa Centauri (2013), wo neben dem Erzählvorgang selbst immer wieder auch der typisch Kratochvil’sche Stadtraum des ›magischen Brünn‹ zum Thema wird. Postmoderne Züge tragen die Prosatexte des Philosophen, Übersetzers und Autors Michal Ajvaz: Phantastische Labyrinthe, Geheimsprachen, neue Welten mitten im Alltag und selbstreflexive Erzählverfahren prägen seine Bücher –

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etwa Cesta na jih (Reise in den Süden, 2008), ein Kaleidoskop realer und fiktiver Orte Südeuropas, durch den eine Detektivgeschichte durchschimmert, oder der preisgekrönte Lucemburská zahrada (Luxemburgischer Garten, 2011). An die Tradition des Prager Romans knüpft die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Daniela Hodrová an, so etwa in Roman bzw. Romanessay Vyvolávání (Wachrufung, 2010). Jáchym Topols Kloktat dehet (Teer gurgeln, 2005) stellt eine alternative Geschichte der Tschechoslowaken dar, die gegen den Kommunismus kämpfen – entschlossener als in der historischen Realität. Auch Patrik Ouředník oder Vladimír Macura können schließlich zu den Autoren im Zeichen der postmodernen Inspiration gerechnet werden. Eine nach 2000 deutlich spürbare Tendenz lässt sich als neue Welle der Subjektivität bezeichnen: Konzentration auf inneres Erleben, doch nicht ohne breitere soziale Kontextualisierung. Die dabei thematisierte Selbstsuche und -findung einer Frau klingt – auf sehr unterschiedliche Weisen – bei Svatava Antošová an, bei den jungen Autorinnen Petra Soukupová, Jana Šrámková, oder in den früheren Texten Petra Hůlovás, z.B. Umělohmotný třípokoj (2006, dt. Dreizimmerwohnung aus Plastik, 2013). Eine Gattung der tschechischen Gegenwartsprosa wird immer wieder Gegenstand emphatischer Mangeldiagnosen. Es handelt sich um den Gesellschaftsroman mit Gegenwartsbezug – und um die Debatten über den Tschechien-Roman nach 1989 und seinen erwünschten Charakter. Zuletzt ist eine derartige Kontroverse 2013/2014 entflammt im Zusammenhang mit der Frage einer direkten sozialen Engagiertheit (Puskely 2013) oder einer eher epistemischen und moralischen Funktion des Romans (Šrámková/Němec/ Myšková 2013). Es gibt aber nicht wenige von der Kritik geschätzte Texte mit Gegenwartsbezug – dies betrifft das Panorama der entleerten Industriestadt Ostrau, deren Bewohner immer noch nach Hoffnung suchen, in den Prosatexten von Jan Balabán (z.B. Zeptej se táty, Frage den Papa, 2010), die literarische Reflexion der Generationsproblematik in Emil Hakls O rodičích a dětech (Von Eltern und Kindern, 2002) oder Hakls Auseinandersetzung mit der Gefahr und Verlockungen des Terrorismus in Skutečná událost (2012, dt. als Acht Tage bis Montag, 2014). Eine Sonderstellung in der tschechischen Literaturlandschaft genießen Michal Viewegh und Miloš Urban, deren Bücher dank geschickten Marketings regelmäßig die höchsten Verkaufsraten erreichen. Die Entwicklung Vieweghs ist signifikant: nach dem bemerkenswerten Roman Báječná léta

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pod psa (1992, dt. Blendende Jahre für Hunde, 1998) über das Erwachsenwerden in der Zeit der ›Normalisierung‹ produzierte er kommerziell erfolgreiche (oft verfilmte) Texte aus dem Leben der tschechischen Mittelschicht mit starker Liebeskomponente. Mit Romanen über die Verbindung von Politik und Wirtschaft in Tschechien war Viewegh nicht derart erfolgreich. Urban gründete seinen Erfolg auf Mystifikationsspielen und einem leserfreundlichen, jedoch auch gesellschaftskritischen Umgang mit der tschechischen Historie – etwa in Lord Mord (2008, dt. Mord in der Josefstadt, 2010).

V ERLAGE

UND

Z EITSCHRIFTEN

Statistisch nicht erfasst, jedoch deutlich kleiner als die oben erwähnte Anzahl der aktiven Verlage ist die Zahl der Verlagshäuser, die Belletristik produzieren. Die Verlage, bzw. ihre Redakteure, spielen in Tschechien auch die Rolle der Literaturagenten – in den Fällen, wo sie nicht vom Autor selbst getragen wird. Hier sollen besonders jene Verlage erwähnt werden, in deren Editionsprogramm literarische Übersetzungen aus dem Deutschen nicht nur als Ausnahmeerscheinung vertreten sind. Übersetzungen aus den deutschsprachigen Literaturen zu verlegen gilt allgemein als eine das Renommee stärkende Strategie (so auch Nešporová 2011). Dank der immer noch relativ starken Stellung des Deutschen im tschechischen Bildungssystem gibt es genügend kompetente und erfahrene Übersetzer_innen; die Übersetzungsförderung im Bereich des Deutschen ist im Vergleich mit anderen Originalsprachen finanziell besser aufgestellt. Die Übersetzungen aus dem Deutschen werden regelmäßig in Literaturwettbewerben nominiert oder preisgekrönt (2002, 2011, 2013 wurden Übersetzungen aus dem Deutschen bei dem größten Literaturpreis im Land, Magnesia Litera, ausgezeichnet). Sehr selten sind selbständige Editionsreihen für Literaturübersetzungen aus dem Deutschen; bei dem Verlag Archa (Zlín) gibt es sogar drei solche Reihen – für deutsche, schweizerdeutsche und österreichische Literatur. In den letzten Jahren sind dank dessen Josef Winkler, Eva Menasse, Michael Stavarić, Klaus Merz, Urs Faes u.a. zum ersten Mal auf Tschechisch erschienen. Der Großverlag Mladá fronta (Junge Front, Prag) stellt Übersetzungen aus dem Deutschen in der umfassenden Reihe »Internationale Literatur« vor und setzt dabei zumeist auf ›große Namen‹ von Thomas Mann bis zu Herta

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Müller oder Feridun Zaimoglu. Der Verlag Host (Gast, Brünn) führt ebenfalls eine kumulative Reihe »Übersetzte Belletristik« – und konzentriert sich vorwiegend auf Gesellschaftsromane. Unter ›seinen‹ Autor_innen findet man Juli Zeh, Jan Seghers, Volker Weidermann, Kathrin Schmidt, Ilija Trojanow u.a. Die größte Tradition im Bereich der tschechischen Übersetzungen fremdsprachiger Literatur kann der Verlag Odeon (Prag) aufweisen. Seit Mitte der 1960er Jahre als Zentralverlag für Bücher aus fremdsprachigen Literaturen tätig, konnte Odeon ein teilweise freies Editionsprogramm verfolgen. Nach seinem Bankrott 1992 wurde 1999 unter der gleichen Marke ein neuer Verlag aufgebaut, der sich heute um namhafte Autor_innen kümmert: Franz Kafka, Elfriede Jelinek, Terézia Mora, Juli Zeh, Tanja Dückers etc. Andere Prominenten werden von kleinen Verlagen betreut – so gab der zuletzt 2013 aktive kleine Verlag Vakát (Brünn) die Bücher von Daniel Kehlmann oder Ingo Schultze heraus; der Verlag Mervart (Červený Kostelec) publizierte die Werke von Friederike Mayröcker oder Hans Magnus Enzensberger. Der v.a. auf Historiographik spezialisierte Verlag Paseka (Prag, Litomyšl) widmet sich Autor_innen mit besonderen geschichtlichen Bezügen: W. G. Sebald oder Robert Schneider. Bewährte literarische ›Außenseiter‹ (Robert Walser, Georg Heym oder Arno Schmidt) tauchen häufig beim Verlag Opus (Zblov) auf. Tschechische gedruckte kulturkritische Periodika reflektieren eher nur punktuell Ereignisse des literarischen Betriebs im Ausland. Dennoch nehmen Referenzen auf Verleihungen der wichtigen Literaturpreise, Highlights der Buchmessen oder literarische Kontroversen in den letzten Jahren zu. Die Übersetzungsliteratur deutschsprachiger Provenienz wird dagegen als selbstverständlicher Gegenstand der Kulturrubriken betrachtet. Unter den in dieser Hinsicht relevanten Zeitschriften sei zunächst die Prager progressive Zweiwochenschrift A2 erwähnt, die sich seit ihrer Gründung 2005 auf Zusammenhänge zwischen Literatur und anderen Medien konzentriert. Jede Nummer hat einen thematischen Schwerpunkt, so gab es z. B. im Januar 2015 einen Überblick über die Übersetzungen des Vorjahres. Ausschließlich literarisch ausgerichtet war seit ihrer Gründung 1927 Literární noviny (Literaturzeitzung, Brünn). Seit der Neugründung 1990 hat sie freilich einen deutlich politisch-engagierten Ton angeschlagen, seit einem Redaktionswechsel 2009 ist sie eher auf eine breite Popularisierung von Literatur ausgerichtet. Tvar (Gestalt), die primär bohemistische Zeitschrift des Instituts für tschechische Literatur der tschechischen Akademie der Wissenschaften, bietet jungen

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Übersetzer_innen immer wieder einen Publikationsraum. Genauso wie Literární noviny ist auch die Brünner Monatsschrift Host als ein Motor der Lockerung gesellschaftlicher Verhältnisse in den 1960ern bekannt geworden und wurde 1990 erneuert; ihre Publikationspolitik prägt die ständige Bemühung um Vielstimmigkeit und vermeidet Einseitigkeit. Unter den jüngsten Publikationsplattformen ist in erster Linie die tschechisch-deutschsprachige displej.eu zu nennen, eine durch die Lyrik-Zeitschriften Psí víno (Hundewein, Prag) und Randnummer (Berlin) gemeinsam gepflegte Web-Plattform für zeitgenössische tschechische und deutsche Lyrik und Lyrikübersetzung, wo z.B. die Gedichte von Charlotte Warsen, Mathias Traxler, Tom Breseman oder Simone Kornappel erschienen sind. Es lässt sich hierbei eher von ›Literatur im Internet‹ sprechen, als dass es sich um eine hypertextuell und dynamisch angelegte ›Internetliteratur‹ handeln würde. Das betrifft schließlich auch die übrigen tschechischen Literaturwebseiten, von denen das Portal czechlit.cz wohl am besten die Rollen der Literaturpropagation wie auch -kritik ausübt. Für eine kompetente Vermittlung des Geschehens im Ausland bemüht sich seit 2000 mit Interviews, Referaten sowie Übersetzungskritiken das Projekt iliteratura.cz.

W ICHTIGE Ü BERSETZER

UND

Ü BERSETZERINNEN

Der Nachholbedarf nach den Jahrzehnten der kommunistischen Herrschaft und Zensur ist immer noch spürbar, obwohl es immer weniger Texte des modernen Kanons deutschsprachiger Literatur gibt, die nicht auf Tschechisch erschienen sind (beispielsweise Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob). In Auswahl sollen hier nur die prominentesten Übersetzer_innen aus dem Deutschen und ihre Werke vorgestellt werden, geordnet annähernd nach dem Generationsprinzip. Dabei werden sehr knapp nur die lebenden Personen berücksichtigt, obwohl die heutige tschechische Literatur und Leserschaft sicherlich von Übersetzerlegenden geprägt ist, wie zum Beispiel von Ludvík Kundera, einer bleibenden Autorität nicht nur unter den Lyrik-Übesetzer_innen, oder sogar bis heute Otokar Fischer und Paul Eisner, Autoren von sprachlich zwar veraltenden, aber dennoch immer noch ›konstitutiven‹ Übersetzungen der Weimarer Klassiker. Zu der ältesten Generation der ›Doyens‹ gehört sicherlich Josef Čermák, der zwischen den 1960ern und 1980ern als leitender Redakteur des Verlags

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Odeon zahlreichen Texten den Weg ins Tschechische geebnet hat. Unter seinen eigenen Übersetzungen finden sich die Werke von Franz Kafka, Wolfgang Borchert oder Ingeborg Bachmann. Mit dem Verlag Odeon war auch die Laufbahn von Božena Koseková verbunden, Übersetzerin u.a. von Heinrich Böll, Stefan Zweig oder auch Konrad Lorenz. Für die Übertragungen des beinah gesamten Werks von Hermann Hesse und mancher Texte von Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Peter Handke oder Thomas Bernhard ist Vratilav Jiljí Slezák zu danken, der 2000 den Übersetzer-Förderpreis der Robert Bosch Stiftung und 2013 den tschechischen Staatspreis für Übersetzung erhielt. Einer Personalunion von Literaturwissenschaftler und Übersetzer begegnet man in Jiří Stromšík, dem Stammübersetzer von Elias Canetti und Günter Grass; seine Übersetzungsbibliographie beträgt Dutzende von Texten der deutschen klassischen Moderne. Als Lehrer vermittelte er vielen Germanistikstudierenden die Grundlagen des übersetzerischen Handwerks. Zwecks einer nur annähernden Vollständigkeit wären auch die unlängst verstorbenen, etwas älteren Altersgenossen dieser Generation wie Věra Saudková, Josef Balvín oder Jindřich Pokorný zu erwähnen, oder auch die weiterhin schaffenden Eva Pátková und Hanuš Karlach. Die heute sichtbarsten Übersetzer_innen gehören der Generation der ca. zwischen 1950 und 1975 Geborenen an. Eine der aktivsten unter ihnen ist Jana Zoubková. Nach 1989 hatte sie kurz eine leitende Stelle im Büro des Präsidenten Václav Havel inne, seit 1992 widmete sie sich als Verlagslektorin, seit 1997 als Freiberuflerin der Übersetzung, wobei sie neben literarischen Übersetzungen von Gegenwartsautoren (u.a. Thomas Brussig, Edgar Hilsenrath, Christoph Ransmayr, Juli Zeh) auch geisteswissenschaftliche Fachbücher ins Tschechische übertragen hat. Vom technischen Beruf her hat einer der meist respektierten Übersetzern, Radovan Charvát, seinen Weg zur Übersetzertätigkeit gefunden. Unter seinen Übertragungen figurieren stilistisch sowie formal eigentümliche Texte von Thomas Bernhard, W.G. Sebald, Robert Walser, Sten Nadolny oder Tilmann Ramstedt. Zu den formal anspruchsvollsten Übersetzungen, die Charvát teilweise in Zusammenarbeit mit Michaela Jacobsenová besorgte, gehört das Frühwerk von Arno Schmidt. Jacobsenová, Tochter der Lyrikerin und Übersetzerin Bohumila Grögerová, übersetzte in den letzten Jahren außerdem Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger oder Thomas Bernhard; insbesondere mit den Gedichten Günther Eichs ist sie als Lyrik-Übersetzerin hervorgetreten.

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War in Ludvík Kundera der Autor und Übersetzer glücklich vereint, begegnet man einer derartigen Verbindung heute in Radka Denemarková. Nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch mit ihren Übersetzungen erntet sie den Beifall der Kritik; in letzter Zeit widmet sie sich systematisch Michael Stavarič und Herta Müller. Für die Übersetzung der Atemschaukel wurde Denemarková 2011 der Preis Magnesia Litera in der Kategorie Beste Übersetzung des Jahres verliehen. Als der jüngste Vertreter dieser ›Generation‹ kann der Übersetzer Tomáš Dimter genannt werden. Nach seinen ersten Übersetzungen philosophischer Texte machte er mit einigen Bernhard-Übersetzungen auf sich aufmerksam; seine Übertragungen von Saša Stanišićs und Terézia Moras Werken wurden für den Magnesia-Litera-Preis nominiert. Gemeinsam mit Jaroslav Rudiš hat er ein tschechisches Lesebuch der deutschen Gegenwartsliteratur herausgebracht (Dimter/Rudiš 2005). Da wir uns hier nur mit einer Highlights-Auswahl begnügen müssen, können weitere bemerkenswerte Übersetzerpersönlichkeiten wie Věra Koubová, Hana Linhartová, Milan Tvrdík, Jitka Jílková, Alena Bláhová, Zuzana Augustová oder Magdalena Štulcová ungerechterweise nur namentlich kurz genannt werden. Sucht man in der Produktion der ›mittleren Generation‹ nach Entwicklungstendenzen in der literarischen Übersetzung aus dem Deutschen, so wird man zunächst feststellen müssen, dass das Gesamtfeld dafür allzu breit und heterogen ist. Andererseits lassen sich mindestens probeweise mehrere Züge feststellen, von denen manche möglicherweise eher zufällig sind: 1. Einer besonderen Beliebtheit erfreut sich das Werk Thomas Bernhards (so dass Dimter [2015: 7] kritisch vom ›Schleudergang‹ der Bernhardübersetzung spricht). 2. Eindeutig dominant ist die Prosaübersetzung. 3. In der letzten Dekade scheinen formal aufwendigere oder experimentelle Texte mehr Raum als früher bekommen zu haben; trotzdem bleiben Thema und Fabel die entscheidenden Kriterien für die Herausgabe einer Übersetzung. Die eben festgehaltene Zuwendung zu formal komplexeren Texten ist auch am Schaffen der jüngsten Generation (der ca. seit 1975 Geboren) ersichtlich. Der Dichter und Germanist Radek Malý befasst sich v.a. mit der Lyrik – seit 2005 veröffentlicht er Übertragungen von Georg Trakl, Rainer Maria Rilke und Erich Kästner, besonders wichtig ist seine Anthologie expressionistischer Lyrik Držíce v drzých držkách cigarety (In frechen Fressen Zigaretten haltend, 2007), die u.a. mit dem Förderpreis der Übersetzergemeinde ausgezeichnet wurde. Der Dichter und Literaturwissenschaftler Pavel Novotný hat die Texte der Wiener Gruppe, Hans Magnus Enzensbergers

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oder Volker Brauns übersetzt. Unter der Betreuung von Radovan Charvát bereitete eine Gruppe von Stipendiaten des EU-Projekts TransStar Europa (Petra Grycová, Anna Koubová, Miloslav Man, Michaela Otterová, Alžběta Peštová) ein neues Lesebuch aus der deutschen Gegenwartsliteratur unter dem Titel Anděl vzpomínek (Engel der Erinnerung, 2015) vor. In dem JiříLevý-Wettbewerb tauchen jedes Jahr neue Talente auf; in den letzten Jahren haben beispielsweise Marie Voslářová (sie hat Clemens Setz’ Prosa übersetzt), Aleš Misař (Rilkes Gedichte), Jakub Kostelník (Celans Lyrik) oder Jitka Kolářová (Gunther Geltingers Prosa) einen Preis oder eine Würdigung erhalten. Seit 2006 fehlte unter den Ausgezeichneten nie ein (oder mehrere) Übersetzer aus dem Deutschen – dies darf wohl als ein Versprechen für eine intensive und anregende deutsch-tschechische Literaturvermittlung wahrgenommen werden.

F ÖRDERER , V ERANSTALTER

UND WEITERE

AKTEURE

Erst allmählich hat sich nach 1990 ein zwar nicht sehr ergiebiges, aber dennoch einigermaßen funktionierendes System der Literaturförderung herausgebildet. Die oben erwähnten Kulturperiodika genießen direkt oder indirekt staatliche Subventionen – allerdings belaufen sich diese häufig auf eher symbolische Summen oder Förderungen bis zu wenigen Tausend Euro. Das tschechische Ministerium für Kultur verteilt jährlich ca. 150.000 Euro im Förderprogramm für Übersetzungen ins Tschechische; 2014 figurierten darunter jedoch nur 6 Übersetzungen aus dem Deutschen. Das Kulturministerium betreut auch die alljährliche Verleihung des Staatspreises für übersetzerisches Werk, eine der Rubriken des Kulturstaatspreises. Eine gemeinsame Fördereinrichtung der tschechischen und deutschen Regierung ist der Deutsch-tschechische Zukunftsfonds; jedes Jahr werden in seinem Förderprogramm »Publikationen« zwischen 10 und 20 Übersetzungen anteilig gefördert. Vom Staat gegründet wurde ebenfalls die Stiftung Český literární fond (Tschechischer Literaturfonds), in dessen Wettbewerben eine Förderung für die tschechische sowie für die Übersetzungsliteratur beantragt werden kann; 2013 wurden für Übersetzungen aus dem Deutschen etwa 4.000 Euro ausgegeben. Während die Schweizer Botschaft ad hoc einzelne literarische Vermittlungsprojekte unterstützt, widmet sich das Goethe-Institut in

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Prag systematisch der Übersetzungsliteratur; jährlich fördert es 10 bis 15 Publikationen. An der Übersetzungsförderung sowie Organisation verschiedener Veranstaltungen rund um die Literaturübersetzung beteiligt sich intensiv die Übersetzergemeinde der Tschechischen Republik (Obec překladatelů), Mitglied des European Council of Literary Translators´ Associations. In Kooperation mit dem Kulturministerium und dem Tschechischen Literaturfonds verleiht sie jährlich den Josef-Jungmann-Preis für die besten Buchübersetzungen, die Tomáš-Hrách-Förderprämie für Veröffentlichungen junger Übersetzer unter 35 Jahren und den Anti-Preis Skřipec (Folterbank) für misslungene Übersetzungen. Die Übersetzergemeinde organisiert weiterhin regelmäßige Seminare und beteiligt sich an übersetzungsbezogenen Tagungen und Popularisierungsveranstaltungen. Unter den wichtigen, regelmäßig verliehenen Preisen für Übersetzung ist Magnesia Litera zu nennen. Der seit 2002 verliehene Preis, der in vielen Kategorien alle wichtigen Genres und Tätigkeitsfelder des Literaturbetriebs abdeckt, etablierte sich als das maßgebliche Unternehmen dieser Art in Tschechien. Das Ergebnis wird durch die Wahl von ca. 300 Vertretern aller Professionen auf dem Literaturmarkt bestimmt. Seit dem ersten Jahrgang ist die Kategorie »Übersetzung« dabei. Vier große literarische Veranstaltungen prägen den hiesigen Literaturkalender. Das »Prager Theaterfestival deutscher Sprache« (2015 im 19. Jahrgang) gehört seit Ende der 1990er Jahre zu den größten Theaterveranstaltungen im Lande. Die Übersetzerin und Direktorin des Festivals, Jitka Jílková, bringt mit ihrem Team regelmäßig das Beste der deutschsprachigen Theaterproduktion auf die Prager Bühnen: das Wiener Schauspielhaus, das Burgtheater, das Deutsche Theater Berlin, die Münchner Kammerspiele oder das Thalia Theater Hamburg kommen immer wieder nach Prag. Das überhaupt größte regelmäßige Ereignis ist die Buchmesse »Svět knihy« (Die Welt des Buches), die alljährlich auf dem Prager Messegelände stattfindet und jeweils im Mai um die 400 Aussteller und 500 Einzelveranstaltungen zusammenbringt. Unter Mitarbeit des Goethe-Instituts, des Österreichischen Forums in Prag und der Schweizer Botschaft werden Lesungen und Buchpräsentationen unter dem lakonischen Titel »Das Buch« als Bestandteil der Buchmesse veranstaltet; in den letzten zwei Jahren waren u.a. Nellja Veremej, Michael Stavarič, Markus Köhle, Kristian Kracht, Jan Faktor und Norbert Gstrein Gäste dieser Reihe. Im Herbst findet seit 25 Jahren das Prager Schriftsteller-

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festival (»Prague Writers’ Festival«) statt, das jedoch nicht oft auf deutschsprachige Literatur blickt; zuletzt war 2010 mit Hans Magnus Enzensberger ein bedeutender deutschschreibender Autor dabei. An den Aktivitäten der Literaturvermittlung sind auch universitäre Einrichtungen beteiligt. Die Prager Karls-Universität verfügt traditionell über ein selbständiges Institut für Translatologie; unabhängig von den Instituten für moderne Philologien werden hier translatologisch ausgerichtete Studien angeboten. Deutsch für Übersetzungspraxis kann auch an den germanistischen Instituten der Universitäten in Olomouc, Brno und Ostrava studiert werden. Das Prager Translatologie-Institut präsentiert seine Arbeitsergebnisse in einigen Online-Plattformen: in der Bibliographie der tschechischen und slowakischen translatologischen Fachliteratur und in der Datenbank DAVID mit digitalisierten Texten und Reden und einem mehrsprachigen »Speech repository«. Die Translatologen sowie alle germanistischen Institute in Tschechien (in Prag, České Budějovice, Ústí nad Labem, Liberec, Olomouc, Brno, Ostrava, Opava) sind mehr oder weniger in die Organisation von Tagungen und Veranstaltungen involviert, die auch für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich sind und durch den Wissenstransfer auch zur Literaturvermittlung beitragen – so etwa die Prager internationale Konferenz »Otokar Fischer (1883-1938): In Grenzgebieten« vom Mai 2013 oder die Tagung »Max Brod. Die ›Erfindung‹ des Prager Kreises« vom Mai 2014. In Zusammenarbeit mit den Studierenden organisieren die tschechischen Germanisten auch ausgesprochen popularisierende Veranstaltungen – so etwa die regelmäßigen literarischen Abende, die vom Institut für germanische Studien der Karls-Universität im Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren (www.prager-literaturhaus.com) veranstaltet werden.

L ITERATUR CNB (2015) = Česká národní bibliografie. Prag: Nationalbibliothek in Prag. URL: http://aleph22.nkp.cz/F/?func=file&file_name=find-b&local_base=cnb [24.8.2015]. Dimter, Tomáš & Jaroslav Rudiš (2005): Německá čítanka. Gutenbergova čítanka současné německé prózy. Praha: Labyrint, Gutenberg. Dimter, Tomáš (2015): Klasici, šmíráci a překvapení. Německá literatura v překladech. In: A2 H.1, S. 7.

P ANORAMA TSCHECHIEN | 227

DLÜ (2015) = Databáze literárního překladu. URL: http://www.databazeprekladu.cz [24.8.2015]. Fakta (2005) = Základní fakta o produkci knih v ČR za rok 2005. Praha: SČKN. URL: http://www.sckn.cz/index.php?p=fakta2005 [24.8.2015]. Fakta (2006) = Základní fakta o produkci knih v ČR za rok 2006. Praha: SČKN. URL: http://www.sckn.cz/index.php?p=fakta2006 [24.8.2015]. Fakta (2007) = Základní fakta o produkci knih v ČR za rok 2007. Praha: SČKN. URL: http://www.sckn.cz/index.php?p=fakta2007 [24.8.2015]. Fakta (2008) = Základní fakta o produkci knih v ČR za rok 2008. Praha: SČKN. URL: http://www.sckn.cz/index.php?p=fakta2008 [24.8.2015]. Fakta (2009) = Základní fakta o produkci knih v ČR za rok 2009. Praha: SČKN. URL: http://www.sckn.cz/index.php?p=fakta2009 [24.8.2015]. Fakta (2010) = Základní fakta o produkci knih v ČR za rok 2010. Praha: SČKN. URL: http://www.sckn.cz/index.php?p=fakta2010 [24.8.2015]. Fialová, Alena (2014): Česká próza po roce 2000 [Tschechische Prosa nach 2000]. URL: http://www.czechlit.cz/cz/feature/ceska-proza-po-roce2000/ [24.8.2015]. Nešporová, Jitka (2011): Zeitgenössische deutsche Literatur auf dem tschechischen Buchmarkt. URL: http://www.goethe.de/ins/cz/prj/lit/buc/ver/ de8424934.htm [24.8.2015]. Puskely, Martin (2013): Čekání na autora. In: Host 39, 9, S. 16-27. Spector, Scott (2000): Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle. Berkeley: University of California Press. Šrámková, Jana & Jan Němec, Ivana Myšková (2013): Literární dílo nechápeme jako politickou tribunu. In: Respekt 24, S. 116-117. URL: http://www.respekt.cz/tydenik/2013/51/literarni-dilo-nechapeme-jakopolitickou-tribunu [9.11.2015]. Zpráva (2012) = Zpráva o českém knižním trhu 2011/2012. Ed. Vladimír Pistorius et al. Praha: SČKN. URL: http://sckn.cz/content/zpravy/file847.pdf [24.8.2015]. Zpráva (2013) = Zpráva o českém knižním trhu 2012/2013. Ed. Vladimír Pistorius et al. Praha: SČKN. URL: http://sckn.cz/content/zpravy/file936.pdf [24.8.2015]. Zpráva (2014) = Zpráva o českém knižním trhu 2013/2014. Ed. Vladimír Pistorius et al. Praha: SČKN. URL: http://sckn.cz/content/zpravy/zpra va_ckt_2014.pdf [24.8. 2015].

Ukraine O LHA H ONČAR , N ELJA V ACHOVS ’ KA , C LAUDIA D ATHE

E INFÜHRUNG Unter jüngster ukrainischer Literatur sind die Werke zu verstehen, die nach der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine 1991 entstanden sind. Seitdem funktioniert und entwickelt sich der Literaturbetrieb unter schwierigen Bedingungen, in denen kaum eine Förderung zu erwarten ist. Zu den störenden Faktoren gehören unter anderem die allgemeine wirtschaftliche und politische Lage, die fehlende Kulturpolitik des Staates, veraltete Gesetze, ein schwacher Buchmarkt, eine eher geringe Professionalisierung der Literaten, Literaturkritiker und Organisatoren von Literaturveranstaltungen, der Mangel an Orten, wo Literatur und Kultur präsentiert werden kann, sowie eine allgemein niedrige Kaufkraft. Trotzdem lässt sich von einem funktionierenden Literaturbetrieb sprechen. Es tauchen immer neue Akteure auf – Organisatoren, Autoren, Verleger, die in der letzten Zeit die traditionelle Fixierung des literarischen Lebens auf große Events in Kyjiv und L’viv zu durchbrechen versuchen und mit ihren Initiativen an neue Orte ziehen – nach Vinnycja, Char’kiv, Zaporižžja, Rivne, Odessa usw. Neue Formate von Literaturveranstaltungen werden ausprobiert, so bietet man neben den Schreibwerkstätten auch Literatur(sommer)schulen an; angehende Autoren werden gefördert, für bekannte Schriftsteller werden große Lesereisen organisiert. Ein immer größeres Publikumsinteresse genießen literarisch-musikalische und mediale Veranstaltungen.

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Übersetzungen aus anderen Sprachen spielen in der Ukraine traditionell eine wichtige Rolle, insbesondere in den Bereichen Philosophie und Sozialwissenschaften, aber auch für den Umgang mit schwierigen Themen, wie etwa mit dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch ist auch der Übersetzungsmarkt ein unterentwickelter Bereich des Literaturbetriebs. Im Folgenden wird ein Überblick über die gegenwärtige Literatur- und Übersetzungslandschaft gegeben. Es handelt sich um einen subjektiven Versuch, die Situation der letzten Jahre in der Ukraine zu schildern, der keineswegs lückenlos ist.

AUTOREN UND T HEMEN DER

LETZTEN

J AHRE

Die Zäsur von 1991 bedeutete einen rebellischen Bruch mit der ›sozialistisch-realistischen‹ Tradition der Sowjetukraine, der Beginn einer experimentellen Suche nach neuen Themen und Poetiken und letztendlich nach einem neuen Kanon. Fast 25 Jahre später beklagt die Dichterin Marianna Kijanovs’ka »die bescheidene Unauffälligkeit […] führender ukrainischer Dichter und Prosaautoren der älteren Generation« im heutigen Kontext, das Vergessen der wichtigen Autoren des 20. Jahrhunderts und den Verlust der ideengeschichtlichen Kontinuitäten in der jüngsten ukrainischen Literatur (Kijanovs’ka 2015). Die Debatte um den Beitrag der vierzigjährigen Dichterin hat gezeigt, dass, obwohl die Situation nicht so dramatisch ist, wie sie manche erscheinen lassen, dennoch einige Probleme offensichtlich sind. Unter anderem geht es um den viel beschworenen Mangel an professioneller Literaturkritik und um das Verschwinden des Lektorats, was dazu führt, dass die Verlage oft unreife, nichtlektorierte Texte der jungen Autorinnen und Autoren zu vermarkten versuchen. Zudem kann man vom Schreiben in der Ukraine kaum leben, die Autoren sind also an einen Brotberuf gebunden, manche von ihnen betrachten das Schreiben gar als ihr Hobby. Als Folge haben sich, so der common place in der Einschätzung der ukrainischen Gegenwartsliteratur, ziemlich niedrige Standards für Prosa durchgesetzt, die eher zur Unterhaltungs- oder moralisierenden historischen Literatur tendiert; langsam aber verändert sich die Situation hin zum Besseren. Dahingegen ist die ukrainische Lyrik der Gegenwart anspruchsvoll und wird breit wahrgenommen – die Lyrik-Szene ist wesentlich größer als die

P ANORAMA UKRAINE | 231

der Prosa, selbst wenn es wenig Veröffentlichungsmöglichkeiten gibt, und die Konkurrenz um die Preise ist viel härter als bei den Prosautoren. Thematisch sind die Prosatexte, die vor allem im Segment der Massenbzw. Unterhaltungsliteratur zu finden sind, sehr unterschiedlich angelegt – die Palette reicht von Reiseberichten und Technothrillern (Maksym Kidruk) bis hin zu ironischen Kriminalromanen (Jevhenija Kononenko) und zu futuristischen Antiutopien (Oleh Šynkarenko), wobei die Maidan-Proteste von 2013/2014 und der nachfolgende Krieg im Donezbecken neue und starke thematische Akzente gebracht haben. Wichtig für die letzten fünf Jahre waren nach wie vor die Autoren der ›rebellischen 1990er‹ – Oksana Zabužko, Taras Prochasko, Jurij Vynnyčuk, auch die etwas jüngere Maria Matios, deren Bücher immer mit großem Interesse wahrgenommen werden. Der seit der Orangen Revolution 2004 erwartete große, identitätsstiftende ukrainische Roman ist allerdings nie geschrieben worden, stattdessen haben sich manche ›Stars‹ auf Publizistik umgestellt und genießen ihre Rolle als opinion makers. So gehören die Schriftstellerblogs auf der Homepage der Nachrichtensendung TSN und der Online-Zeitung Zbruč zu den meist diskutierten im Land. Die Debatten verliefen bisher entlang der liberal-konservativen Achse, an der die Autoren Jurij Vynnyčuk, Taras Prochasko, Oksana Zabužko, der Historiker Volodymyr Vjatrovyč, der Essayist Oleksandr Bojčenko u.a. eher den radikal konservativen bis rechtspopulistischen Pol vertraten (die Debatte über den Status des Donbass, Binnenmigration der ostukrainischen Bürger, den Krieg, Haltung der EU usw.), einige, wie Jurij Andruchovyč und der Historiker Jeroslav Hrycak, haben von konservativen zu liberalen Positionen gewechselt (was Themen betrifft wie das Engagement der EU und Deutschlands, Kritik an der ukrainischen Regierung und die tolerantere Haltung zum Donbass und zur Verständigung), Serhij Žadan vertrat bisher ziemlich nachhaltig den links-liberalen Flügel und trat zusammen mit dem Dichter Boris Chersons’kyj sehr aktiv gegen Ausgrenzung und Verfeindung zwischen Donbass und dem Rest des Landes auf. Generell drehten sich die Debatten letzter Zeit um Identitätsfragen und um das neue nationale Selbstbild der Ukraine im Vergleich zu Russland und Westeuropa, das nach wie vor ziemlich stark geprägt von den postkolonialen Konstrukten. Durch sein starkes Engagement auf dem Maidan und in den Debatten um Krieg, Versöhnung und Verantwortung ist der Dichter, Prosaiker und Musiker Serhij Žadan extrem wichtig geworden. Von dieser Generation der

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aktiven Vierzigjährigen sind auch die oben zitierte Dichterin Marianna Kijanovs’ka (ihre letzten beiden Bücher sind von 2014 – An Er und 373) und die Dichterin Kateryna Kalytko (Sezon štormiv, Saison der Stürme, 2013) zu nennen. Die soziale Thematik über die Folgen der Deindustrialisierung, über Reich und Arm und die daraus hervorgehenden subkulturellen Ausprägungen erzählt der Journalist und Autor Artem Čapaj in seinem Roman Červona zona (Rote Zone, 2014), um weibliche Arbeitsmigration geht es bei Natalka Snjadanko (Roman Frau Mjuller ne zalaštovana platyty bil’še, 2013, Frau Müller hat nicht vor, mehr zu zahlen, 2015). Der kulturpolitische Kontext des Krieges hat die proukrainischen Autor_innen aus dem Donezbecken auf die große Literaturbühne gerückt – so die vielversprechende jüngere Dichterin und Drehbuchautorin Ljubov Jakymčuk (Abrykosy Donbasu, Die Aprikosen des Donbass, 2015) und den Prosaiker Oleksij Čupa (10 sliv pro Vitčyznu, 10 Wörter über die Heimat, Bomži Donbasu, Die Penner des Donbass, beide 2014). Die Annexion der Krim und der angebliche Schutz der russischsprachigen Bevölkerung haben die Debatte von 2013 über den Status der in der Ukraine auf Russisch verfassten Literatur neu belebt. Damals bestanden Serhij Žadan und Marianna Kijanovs’ka auf maximaler Inklusion – anders als Taras Prochasko und der Literaturwissenschaftler Rostyslav Semkiv. 2014 hat sich die Lage deutlich geändert und ukrainische russischsprachige Autoren und Autorinnen sind in den Blickpunkt gerückt – der Dichter Boris Chersons’kyj, die Prosaiker Vladimir Rafejenko, Aleksej Nikitin, sowie die Charkiver Dichterin Anastasia Afanas’eva, der Kyjiver Dichter und Herausgeber Aleksandr Kabanov u.a. Früher hatten sie wegen der monolingualen Politik mancher Verlage in der Ukraine nur sehr bescheidene Veröffentlichungsmöglichkeiten und waren eher auf den russischen Buchmarkt angewiesen, auf dem sie auch erfolgreich waren. So wurden Ilja Rissenberg und Boris Chersons’kyj als Gründer der Charkiver und Odessaer poetischen Schulen preisgekrönt; die Texte einiger jüngerer russischsprachiger Autor_innen wurden in der russischen Zeitschriften abgedruckt, Aleksej Nikitin ist über den russischen Markt auf den englischsprachigen Buchmarkt gelangt usw. Die Ausrichtung der ukrainischen Autoren ist sehr unterschiedlich. Für die meisten ist es ein wichtiges Ziel, das Lesepublikum in westeuropäischen Ländern zu erreichen. Durch den russisch-ukrainischen Krieg im Donbass ist die Wahrnehmung russischsprachiger Autoren in der Ukraine gestiegen, der Austausch mit Russland ist starken Schwankungen

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unterworfen. So kam es 2014 zu einem Boykott russischer Verlage während des Lemberger Buchforums, die russische Autorin Ljudmila Ulizkaja jedoch war zu Gast. Der bereits erwähnte Serhij Žadan hat seine Publikationsprojekte in Russland vorübergehend auf Eis gelegt aber es werden auch weiterhin ukrainische Autor_innen in russischen Medien besprochen. Die Verflechtungen des russischen und ukrainischen Literaturmarkts nach 1991 sind nie ausführlich untersucht worden. Viele Aktivitäten basieren auf Einzelinitiativen und informellen Kontakten. Es fehlt fundamental an der Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten von Nationalliteratur. Viele ukrainische Autor_innen tun sich schwer, das koloniale Erbe des Russischen zu überwinden und die auf Russisch schreibenden Autor_innen der Ukraine in die Nationalliteratur einzubeziehen. Für sie bleibt die ukrainische Literatur an die Sprache gekoppelt. Einige Autor_innen verlangen von den auf Russisch schreibenden Autor_innen ein klares Bekenntnis zum ukrainischen Staat und machen ihre Zugehörigkeit zur Literatur des Landes von diesem Bekenntnis abhängig. So ist der auf Russisch schreibende Autor Andrej Kurkov seit vielen Jahren ausgezeichnet in den ukrainischen Literaturbetrieb integriert, nicht nur, weil er der Autor mit der größten Zahl verkaufter Bücher im Ausland ist, sondern weil er immer betont, ukrainischer Autor zu sein. Das multikulturelle Erbe der Ukraine, das neben dem Russischen auch Werke auf Deutsch, Jiddisch, Rumänisch und Polnisch umfasst, wird allerdings häufig ausgeblendet. Auch im kulturellen Austausch lässt sich die Zementierung dieses an der Sprache orientierten Konzepts von Nationalliteratur oft verfolgen. So werden zu literarischen Veranstaltungen häufig nur die Autor_innen aus der Ukraine eingeladen, die auf Ukrainisch schreiben. Durch den Maidan, den Krieg in der Ostukraine und die verstärkte mediale Wahrnehmung ändert sich diese Situation allerdings gerade, und auf Russisch schreibende Autor_innen wie der Odessaer Dichter Boris Chersons’kyj kommen verstärkt zu Wort. Umgekehrt hat es über Jahre hinweg eine Exklusion der ukrainischsprachigen Literatur in den Gebieten der Ostukraine gegeben. Die Kulturfunktionäre beispielsweise in Donezk, so gibt der russischsprachige Autor Wladimir Rafeenko in einem Interview zu Protokoll, waren nicht daran interessiert, Veranstaltungen mit ukrainischen Autor_innen aus der Zentral- oder Westukraine durchzuführen. Darüber hinaus fehlte es der Ukraine in den Jahren ihrer Unabhängigkeit an Binnenmobilität. Die Verkehrswege zwischen den unterschiedlichen Landes-

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teilen waren schlecht ausgebaut, und es gab für viele Autor_innen keinen Anlass und auch keine finanziellen Mittel, in den jeweils anderen Landesteil zu reisen. So zementierte sich die sprachliche Trennung auch in Stereotypen über unterschiedliche Wertvorstellungen. Im Moment ist die Debatte über die Zugehörigkeit russischsprachiger Autor_innen zur ukrainischen Literatur mit dem Statement von Boris Chersons’kyj eingestellt worden, die Heimat des Dichters sei seine Sprache, die mit den Grenzen der Nationalstaaten nicht zusammenfalle. Eine ideologische Trennlinie geht auch durch die kleine russischsprachige Autorengemeinschaft, einige russischschreibende Autor_innen haben sich zum russischen bzw. russländischen Kulturraum bekannt und äußern sich scharf gegen die Regierung in Kyjiv, andere haben eine proukrainische Haltung angenommen und versuchen sogar auf Ukrainisch zu schreiben bzw. mit beiden Sprachen zu arbeiten. Von Interesse sind die übersetzerischen Dichtertandems, die sich noch vor dem Krieg wechselseitig übersetzt haben – Afanas’eva und Žadan, Kijanovs’ka und Chersons’kyj –, oder Chersons’kyjs Selbstübersetzungen seiner früheren Werke ins Ukrainische. Auch die Politik mancher Verlage und Veranstalter hat sich geändert und für die russischschreibenden Autor_innen ergeben sich immer mehr Möglichkeiten.

V ERLAGE

UND

Z EITSCHRIFTEN

Die ›dicken Literaturzeitschriften‹ spielten in der Sowjetzeit eine Schlüsselrolle für die ukrainische Literatur. Mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Buchmarktes sind die meisten von ihnen untergegangen oder erscheinen unregelmäßig und sind für ihre Leser schwer zu erhalten. Viel mehr Potential zeigen heutzutage die online-Magazine und Literaturportale wie Umbrella (Projekt für übersetzte Dichtung), CYCLOP (Portal für Videopoesie) – beides Projekte der NGO »Ukrainisches Literaturzentrum« –, weiterhin das Magazin für Essayistik, Kunst, Literatur und Übersetzungen Prostory oder Radar, ein deutsch-polnisch-ukrainisches trilinguales Projekt mit Schwerpunkt auf Literaturübersetzung (beide letztgenannten erscheinen auch als gedruckte Zeitschriften). Die Internetportale chytomo.com und litakcent.com sind die einflussreichsten literaturkritischen Medien im Land.

P ANORAMA UKRAINE | 235

Das Verlagswesen der Ukraine zeichnet sich durch kleine Formate aus; es gibt praktisch nur zwei Verlage, die sich als groß bezeichnen können, Folio und Klub simejnoho dozvillja (Club für Familienfreizeit) aus Charkiv. Beide Verlage haben ziemlich breit gefächerte Programme und publizieren sowohl ukrainische angehende und bekannte Autor_innenen als auch Übersetzungen. Beiden Verlagen, häufiger jedoch Folio, werden Rechtsbrüche im Bereich der Autorenrechte, der Ausbeutung der ukrainischen Autor_innen und Übersetzer nachgewiesen; sie haben auch schon Übersetzungen über die Drittsprache (Russisch) ohne Lektorat und Angabe der Zwischenübersetzung erstellt und vermarktet. Eine Reihe von kleineren Verlagen weisen interessante Programme auf und pflegen einen besseren Umgang mit Autor_innen und Übersetzer_innen: Vydavnyctwo staroho Leva (Der Verlag des alten Löwen) aus L‘viv war bis vor kurzem auf Kinderbücher spezialisiert und hat in dieser Sparte etliche internationale Preise gewonnen. Jetzt entwickelt der Verlag ein Programm für Erwachsene mit zeitgenössischer ukrainischer Lyrik und Prosaübersetzungen. Der Kyjiver Verlag Tempora kann ein breites Programm an Übersetzungen vorweisen: intellektuelle ›Nischenliteratur‹ aus Serbien, Tschechien und Polen, Sachbücher, Reiseberichte und vieles andere. Books-XXI aus Černivci konzentriert sich auf Übersetzungen aus dem Deutschen, Polnischen und Jiddischen, hat u.a. schon fünf Bücher von Paul Celan herausgebracht und nimmt auch Bücher zu kontroversen Themen der Geschichtsinterpretation und Vergangenheitsbewältigung ins Programm (von Ernst Jünger bis zu Martin Pollack). Die Kyjiver Verlage Duh i litera (Geist und Buchstabe) und Krytyka haben sich einen Namen mit Philosophie, Publizistik und Essayistik gemacht – Genres, die in der Regel kommerziell kaum rentabel sind. Auch gegen die Praxis dieser Verlage werden jedoch Einwände erhoben: gegen Duh i litera wegen des fehlenden Lektorats und der unprofessionellen Übersetzungen, gegen Krytyka wegen der Verwendung der Rechtschreibung vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die dem Leser Schwierigkeiten bereitet. Das hängt damit zusammen, dass der Verlag eine umfangreiche Förderung aus Kanada und den USA erhält. Die dort lebenden DiasporaUkrainer favorisieren die Orthografie der 1920er Jahre und lehnen die reformierte Orthografie aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts als an das Russische angenähert ab. Als weiterer Kritikpunkt gegenüber dem Verlag Krytyka wird die ungenügende Vermarktung der Bücher und unzureichen-

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de Lizenzarbeit vorgebracht. Der von Ukrainern im Ausland inspirierte Kyjiver Verlag Smoloskyp (Fackel) ist bekannt für die Förderung junger Autor_innen und für die Herausgabe der Texte der halbvergessenen ukrainischen Avantgarde. Sehr kleine unabhängige Verlage – zum Beispiel Diskursus in Brustury, Meduza und Polityčna Krytyka in Kyjiv – sind eine relativ neue Erscheinung in der Ukraine. Sie geben nur wenige Bücher pro Jahr heraus, und halten sich mit anderen Kultur-Projekten über Wasser, wie etwa der Verlag Diskursus mit dem Betreiben der Autorenresidenz »Stanislauer Phänomen«. Neu ist auch die Initiative des Verlags Elektroknyha (Digitalbuch) aus Kyjiv, der junge Autoren digital veröffentlicht und print-on-demand anbietet.

V ERANSTALTUNGEN Die Organisation literarischer Veranstaltungen beruht in der Ukraine weitgehend auf Eigeninitiative. Es gibt keine staatliche Kulturförderung, auch private Förderer sind rar und fördern die meisten Projekte nur sporadisch. Damit kann keine Kontinuität entstehen. Das führt dazu, dass die Organisation von literarischen Veranstaltungen meist ehrenamtlich übernommen wird, so dass sich keine professionelle Arbeitsteilung herausbilden konnte. Die Verantwortlichen organisieren die Veranstaltungen im Alleingang, dabei bleibt die Qualität der Werbung und Vermarktung oft auf der Strecke. Auch lassen sich auf diese Weise keine kontinuierlichen Veranstaltungsreihen aufbauen und ein dauerhaftes Publikum gewinnen. Zu den wichtigsten Akteuren und Veranstaltern gehören die zwei landesweit größten Buchmessen in Kyjiv und L’viv. Die Buchmesse »Forum wydavciv u Lvovi« (Verlegerforum L’viv) findet Mitte September statt. Mit über 20 Jahren Erfahrung ist es die älteste Buchmesse der unabhängigen Ukraine. Die Buchmesse beherbergt fünf bis sechs Festivals und Spezialprogramme – Kinderbuch, Übersetzung, Theater, Förderung älterer Leser, Literaturperformances u.a., seit 2014 veranstaltet das L’viver Verlegerforum auch das Diskussionsprogramm »Kultur vs. Propaganda« in Kyjiv und anderen Städten. Die Kyjiver Buchmesse »Knyžkovyj Arsenal/Book Arsenal« findet im April oder Mai in den Räumlichkeiten des Nationalen Kunstzentrums Art Arsenal auf dem Terrain einer alten Militärfabrik statt. Die Buchmesse legt

P ANORAMA UKRAINE | 237

großen Wert auf die Einbettung der Literatur in den Kontext der anderen Künste und Medien, so stehen nicht nur traditionelle literarische Formate, sondern auch Film, Malerei, Bildhauerei und Musik auf dem Programm. Wichtig im Bereich der Dichtung sind kleinere Festivals – »Meridian Czernowitz« Anfang September in Černivci und »Kyjivski lavry« im Mai in Kyjiv. Das Poesiefestival in Černivci beeindruckt mit ausgiebiger internationaler Beteiligung. Das Festival organisiert auch große Lesetouren in der Ukraine und im Ausland, vergibt Aufenthaltsstipendien für Dichter und Übersetzer und veröffentlicht Bücher. »Kyjivski lavry«, betrieben von dem russischsprachigen Dichter Aleksandr Kabanov, konzentriert sich auf die Lyrik im postsowjetischen Raum und rückt die russisch-ukrainische Zweispachigkeit in den Mittelpunkt. Von Interesse sind auch neue Initiativen wie das »Kozjubynskyj-Festival für Kurzprosa« in Vinnycja, das Festival »Tage der Übersetzung« in Kyjiv und das »Bruno-Schulz-Festival« in Drohobyč, die bisher aber nur einige Male stattgefunden haben. Eine relativ neue Erscheinung sind eigenfinanzierte literarische und kulturhistorische Fortbildungsprojekte. So betreibt die NGO »Ukrainisches Literaturzentrum« in Kyjiv das Festival für Videopoesie »CYCLOP« (dieses zählt laut der US-Journalistin Bernadette Geyer zu den Top Ten weltweit; siehe Geyer 2014), organisiert Lesungen, realisiert Projekte wie »Dichtung per Post« und »Poetischer Garten« und funktioniert als eine der besten Informationsplattformen für literarische Events. Sehr nützlich ist auch ihre interaktive »Literaturna mapa« (Literaturkarte), wo man lokale Initiativen leicht finden kann. Die NGO Zentrum für literarische Bildung organisiert Schreibwerkstätten für angehende Autor_innen, Vorträge und Bildungsprojekte zur Literaturgeschichte, Bildungskurse mit erfahrenen ukrainischen Autor_innen. Im Projekt des literarischen Reiseführers durch die Ukraine »Jizdec’« bereisen junge Autor_innen das Land, führen in verschiedenen Orten Schreibwerkstätten durch und schreiben im Anschluss fiktionale Kurztexte, die online veröffentlicht und abschließend als Buch herausgegeben werden. Interessant ist auch die Kunstagentur »Artpole« mit ihren medialen Theaterspielen nach den Werken der führenden ukrainischen Autor_innen.

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F ÖRDERINSTITUTIONEN Die nationale Literatur- und Buchförderung obliegt per Gesetz dem Staatlichen Komitee für Fernsehen und Radio und der Buchkammer der Ukraine. Seit 1997 führt das Komitee das staatliche Programm »Ukrainisches Buch« durch. Es umfasst die Förderung der ukrainischen Buchproduktion, den Ankauf von Neuerscheinungen für öffentliche Bibliotheken, die Unterstützung des nationalen Verlagswesens und die Förderung von für die Ukraine maßgeblicher Bucherscheinungen. Für das letzte gibt es immer noch ein System der staatlichen Bestellung. In den letzten Jahren wurde das Komitee vom Fachpublikum mehrmals scharf kritisiert wegen der finanziellen Unterstützung fiktiver Verlage und anderer Korruptionsformen sowie wegen der sehr bescheidenen Vertretung der Ukraine auf den wichtigsten Buchmessen in der Welt. Die Buchkammer der Ukraine wird aufgrund ihrer schlechten Systematisierung der erschienen Bücher (vgl. Rodyk 2013) ebenso hart kritisiert. Formal betrachtet gibt es in der Ukraine viele Literaturpreise, die meisten sind aber Überbleibsel des alten sowjetischen Fördersystems und werden in der Gesellschaft kaum wahrgenommen. Die wenigsten sind von gesellschaftlicher Relevanz und werden vom Fachpublikum ernsthaft besprochen. Zunächst gibt es einige staatliche Preis: Der Nationale Kunstund Kulturpreis namens Taras Ševčenko ist die höchste literarische Auszeichnung des ukrainischen Staates, wurde aber in den letzten Jahren aus Korruptionsgründen stark kritisiert. Der Nationale Maksym-Rylskyj-Preis ist die höchste staatliche Auszeichnung für Literaturübersetzer_innen ins Ukrainische, wegen des intransparenten Auswahlverfahrens hat er aber ebenfalls stark an Gewicht verloren. Andere Preise werden von unabhängigen Institutionen verliehen: Der Jurij-Ševeljov-Preis für Essayistik wird erst seit 2013 vom Zusammenschuss einiger unabhängiger Institutionen, z.B. des ukrainischen PENClubs, verliehen. Das Buch des Jahres nach BBC wird seit 2007 für die beste ukrainische Prosa erteilt; seit 2012 gibt es auch einen Preis in der Sparte Kinderbuch. Die höchstplatzierten Titel im Literaturranking der Agentur Elit-profi werden seit 2000 in 14 Kategorien als Buch des Jahres gewürdigt. Der Preis wurde vom Literaturkritiker und Journalisten Kostjantyn Rodyk ins Leben gerufen. Koronacija slova (Die Krönung des Wortes) ist ein internationaler Wettbewerb für Romane, Drehbücher, Dramen, Lie-

P ANORAMA UKRAINE | 239

der und Kinderbücher und ist vor allem an junge Autor_innen gerichtet. Auf die Erstveröffentlichungen junger Autor_innen fokussiert sich der Literaturwettbewerb Smoloskyp des gleichnamigen Verlags, betrieben mit Beteiligung der ukrainischen Diaspora. An eine ähnliche Zielgruppe richtet sich der Preis Metaphora, der angehende Übersetzer_innen von Lyrik und Essayistik ehrt und von dem Dichter und Journalisten Igor’ Pomerancev gestiftet wird. Anlässlich der oben erwähnten L’viver Buchmesse wird seit 1995 das Beste Buch des Verlegerforums ausgezeichnet – unter mehreren Sparten findet sich auch eine für Übersetzungen. LitAkcent des Jahres heißt die Auszeichnung des Literaturmagazins Litakcent und sie wird für die beste Prosa und Literaturkritik verliehen. Ausländische Kulturinstitute in der Ukraine sind ebenfalls in einigen Preiswettbewerben engagiert – z.B. dem Josef-Konrad-Preis (Polnisches Institut, bester ukrainischer Autor unter 40) oder dem Hryhorij-SkovorodaPreis (Institut Français, beste Übersetzungen aus dem Französischen). Bis 2013 hat die private Stiftung Open Ukraine Übersetzungen aus dem Ukrainischen mit bis zu ca. 2 000 Euro pro Buch gefördert, das Programm ist aber eingestellt worden. Für Übersetzungen ins Ukrainische sind die ausländischen Kulturinstitutionen von großer Bedeutung – wie bspw. das Goethe-Institut, das Österreichische Kulturforum, der British Council und die jeweilige Botschaften.

Ü BERSETZERINNEN

UND

Ü BERSETZER

Bereits vor den Maidan-Protesten 2013/14 haben sich ukrainische Autoren im Ausland für eine verbesserte Wahrnehmung ihres Landes und ihrer Literatur eingesetzt. Während der dramatischen Ereignisse im Winter 2013/14 sind sie zu Vermittlern und Aufklärern über die Ukraine geworden, z.B. wie der russisch schreibende Schriftsteller Andrej Kurkov, die bereits erwähnten Autoren Jurij Adruchovyč und Serhij Žadan oder Natalka Snjadanko u.a. Manche von ihnen propagieren seit langem die ukrainische Literatur im Ausland – sie organisieren Lesereisen (mit), bringen neue Namen an die Verlage und berichten über die Ukraine. Sehr wichtige Ansprechpartner für die Unterstützung und Verbreitung der ukrainischen Literatur in Deutschland, die sich für ihre Präsentation und Vernetzung auf dem Markt

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engagieren, sind die Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe, Herausgeberin von einigen Anthologien jüngster ukrainischer Literatur und Betreuerin ukrainischer Autor_innen im Suhrkamp-Verlag, und Martin Pollack, Autor, Journalist und Übersetzer aus dem Polnischen. Nicht zu überschätzen ist die Tätigkeit von Claudia Dathe – Übersetzerin und Publizistin sowie Projektkoordinatorin an der Universität Tübingen –, die in Kooperation mit dem Verein Translit und zusammen mit dem Verlag edition.fotoTAPETA regelmäßig Anthologien zu aktuellen Ereignissen und wichtigen gesellschaftlichen Phänomenen in der Ukraine herausgibt, seien es die Fußballeuropameisterschaft, die Arbeitsmigration von Frauen oder die MaidanProteste. Die Berliner Kulturmanagerin Kateryna Stetsevych bemüht sich, ein Netzwerk der Ukraine-Interessenten und einen nachhaltigen Austausch zwischen den Ländern zu etablieren. Neben Claudia Dathe suchen auch die anderen Übersetzer_innen aus dem Ukrainischen Alexander Kratochvil, Sabine Stör, Jurij Durkot, Maria Weißenböck und Lydia Nagel als Scouts nach neuen literarischen Stimmen aus der Ukraine und versuchen sie bei Verlagen und Festivals zu platzieren. In der ukrainischen Literaturszene spielen, wie schon erwähnt, Übersetzungen eine sehr wichtige Rolle1 – wegen des Mangels an einheimischen Autor_innen bleiben sehr viele Nischen offen, sei es im Bereich der Oral History der Reportagen, der intellektuellen und experimentellen Prosa usw., die von den Übersetzungen ausgefüllt wird. Praktisch alle bedeutenden ukrainischen Autor_innen haben sich bereits als Übersetzer_innen versucht oder betreiben die Übersetzung als zweiten Beruf. Wichtig für die Ukraine ist der literarische Austausch mit Polen, den deutschsprachigen Ländern, Frankreich und in der letzten Zeit sind zudem zunehmend die Literaturen Serbiens und Kroatiens, Tschechiens und Schwedens präsent, was sicherlich auch mit der Förderpolitik der jeweiligen Länder zusammenhängt, aber mindestens im gleichen Maß durch engagierte Übersetzer vorangetrieben wird. Nicht zu übersehen ist aber auch der steigende literarische Austausch mit den kaukasischen Ländern, insbesondere mit Georgien. Zu den wichtigsten Vermittlern der deutschsprachigen Literaturen zählen die Übersetzer und Mitveranstalter von Meridian Czernowitz – Petro Rychlo, Professor für fremdsprachige Literatur aus Černivci, und Mark Belorusec aus Kyjiv, der ins Russische übersetzt. Beide sind als Paul-Celan-

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Vgl. die Texte von Maria Ivanyc’ka und Chrystyna Nazarkevyč in diesem Band.

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Experten bekannt und haben zahlreiche namhafte deutsche Autoren ins Ukrainische bzw. Russische übersetzt (Herta Müller, Georg Trakl, Manès Sperber, Gregor von Rezzori, Carl Emil Franzos u.a.). Sie sind sowohl in Deutschland als auch in der Ukraine und Russland gut in den Literaturbetrieb eingebunden. Der Kyjiver Übersetzer Oleksa Lohvynenko beteiligt sich weniger an der Organisation literarischer Veranstaltungen, ist aber sehr aktiv bei der Übersetzung deutscher Klassiker der Moderne wie Günther Grass, Hermann Broch, Hermann Hesse, Christoph Ransmayr. Die etwas jüngere Generation der Übersetzer vertreten neben Natalka Snjadanko beispielsweise auch Jurko Prochasko und Chrystyna Nazarkevyč. Diese drei L’viver beteiligen sich lebhaft an verschiedenen Projekten der deutsch-ukrainischen und ukrainisch-deutschen Literaturvermittlung – so übersetzt Nazarkevyč in beide Richtungen (Terézia Mora, Andreas Kappeler, Nazar Hončar, Ilma Rakusa), dank Snjadanko gibt es die Romane von Elfriede Jelinek, Herta Müller, Judith Hermann u.a. auf Ukrainisch. Prochasko ist die ukrainische Stimme von Joseph Roth, Ernst Jünger, Katja Petrowskaja u.a. Von den aktiven etwa 30-jährigen Übersetzer_innen machen sich Oleksandra Hryhorenko aus Poltava mit dem frischen Band der Dramen von Jelinek, Nelja Vachovs’ka mit Arno Schmidt, Martin Pollack und Josef Winkler, Roksolana Sviato mit Melinda Nadj Abonji u.a. bemerkbar. Die wichtigsten Ansprechpartner für Polnisch sind die Autoren und Übersetzer Ostap Slyvyns’kyj aus L’viv und Andrij Bondar aus Kyjiv, für Serbisch Kateryna Kalytko aus Vinnycja, für Französisch die Kyjiver Journalistin, Übersetzerin und Literaturkritikerin Iryna Slavins’ka und der Kulturwissenschaftler und Übersetzer Andrij Rjepa aus Čerkasy und für Schwedisch und Norwegisch Natalka Ivanyčuk aus L’viv. Zu den einflussreichsten und aktivsten Literaturmanagern zählen der Dichter, Musiker und ehemalige Programmdirektor des L’viver Verlegerforums Hryhorij Semenčuk, die Kuratorin des »Book Arsenal« Olha Žuk aus Kyjiv sowie die Dichterin Viktoria Dykobras aus Rivne. In Kyjiv sind weiterhin die Autorin und Chefredakteurin des Verlags Krytyka Oksana Forostyna, der Literaturkritiker Evhenij Stasinevyč, die Dichterin Halyna Tanaj sowie der Dichter und Literaturkritiker Oleh Kozarev tätig.

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AGENTEN Zwar ist bekannt, dass es den Tätigkeitsbereich des Literaturagenten gibt, jedoch ist er in der Praxis für die Ukraine nicht von Belang. Da die ukrainische Literaturszene sehr klein ist und die Autor_innen einerseits und die Verlage andererseits intensive informelle Beziehungen pflegen, bleibt für das Tätigkeitsfeld des Literaturagenten kein Raum, der ein profitables Wirtschaften gewährleisten würde. Daher gibt es diesen Akteur auf dem ukrainischen Literaturmarkt nicht. Interessant wären Agenten für die Vermittlung ausländischer Lizenzen, hier wiederum ist das Interesse der ausländischen Verlage an ukrainischer Literatur zu gering, als dass sich daraus ein profitables Geschäft ergeben könnte. Zugleich erscheinen neue Akteure, die die Promotion der Autor_innen organisieren und an die Rolle des Literaturagenten nahe kommen. So hat die Projektmanagerin und Kuratorin Anastasija Jevdokimova Lesereisen für Oleksandr Myched und Iryna Šuvalova in elf Städten organisiert. Sviatoslav Pomerancev, der Leiter des Festivals »Meridian Czernowitz«, hat die Lesereise für das neue Buch von Serhij Žadan in 33 Städten in der Ukraine und Westeuropa durchgeführt. Diese Tatsache beweist den bereits oben erwähnten Fakt, dass aus Mangel an Finanzierung, der ukrainische Literaturmarkt über eine schwach ausgeprägte Arbeitsteilung verfügt. Das Marketing steht dabei in dem Grad seiner Professionalisierung besonders weit hinten und wird nicht systematisch, sondern nur sporadisch betrieben, wie die genannten Beispiele zeigen.

D IE R OLLE DER H OCHSCHULEN IN DER L ITERATURVERMITTLUNG Traditionell sind die ukrainischen philologischen Studiengänge sehr stark auf das praktische Erlernen der jeweiligen Fremdsprache fixiert. Die Beschäftigung mit sprachwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen und übersetzungswissenschaftlichen Fragestellungen nimmt nur eine untergeordnete Position ein und wird von den meisten Lehrkräften und Studierenden wenig geschätzt. Das führt dazu, dass das Philologiestudium überwiegend auf das Erlernen einer Fremdsprache beschränkt bleibt. Zudem sehen sich viele Institute mit der Tatsache konfrontiert, dass die besten Spezia-

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list_innen die Hochschulen im Zuge der gesunkenen Gehälter zu Beginn der 1990er Jahre verlassen und mit ihren guten Fremdsprachenkenntnissen Tätigkeiten in der freien Wirtschaft übernommen haben. Dieser Verlust der besten Kräfte wirkt sich auch auf die Qualität der Ausbildung aus. Unterrichtet wird oft mit veralteten Materialien und nach einer nicht mehr zeitgemäßen Methodik, in der auch moderne Autor_innen und ihre Werke kaum einen Platz haben, da es für sie keine vorgefertigten Arbeitsmaterialien gibt. Bis heute ist das Philologiestudium in der Ukraine die Eintrittskarte für einen einträglichen Posten in der Wirtschaft, und die Anreize, an der Universität zu bleiben, sind sehr gering. Das hängt auch damit zusammen, dass sich traditionell die ukrainischen Hochschulen stärker als Ausbildungsstätten, weniger aber als Forschungsstätten verstehen. Wer sich also für die Forschung interessiert, ist an einer ukrainischen Universität meist fehl am Platze. Forschung findet in der Regel an den Forschungsinstituten der Akademie der Wissenschaften statt. Demnach führen die mangelnde Bezahlung der Lehrkräfte und die erstarrten Unterrichtsformen dazu, dass es von den Hochschulen kaum Impulse für die kreative Vermittlung von Literatur gibt. Da die Hochschullehrer_innen wegen ihrer schlechten Bezahlung häufig gezwungen sind, Zweit- und Drittjobs anzunehmen, fehlen ihnen die Zeit und die Kraft, um innovative Projekte umzusetzen. Ausnahmen bilden die Personen, die es geschafft haben, durch ihre herausragende Tätigkeit im Bereich der Forschung, Kulturvermittlung oder Übersetzung eine feste Vernetzung im deutschsprachigen Literatur- oder Forschungsbetrieb zu erreichen, dadurch in ständigem Austausch mit einem kreativen Umfeld stehen und darüber hinaus zusätzliche Einnahmen erzielen, die ihnen Freiräume für studentische und andere innovative Projekte bieten. Dazu zählen unter anderem Chrystyna Nazarkevyč aus L’viv und Petro Rychlo aus Černivci.

D AS P UBLIKUM

UND DAS I NTERESSE AN

L ITERATUR

Der Krieg und die inneren Konflikte im Land haben das Publikumsinteresse an der Literatur gesteigert. Zum einen hat der Konflikt mit Russland das Lesen auf Ukrainisch zu einer politischen Handlung werden lassen, zum anderen sind die Erwartungen an die Autoren als aktive Intellektuelle ge-

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stiegen. Die größten Buchmessen in L’viv und Kyjiv wurden 2014 und 2015 trotz der Wirtschaftskrise sehr gut besucht, das Verlegerforum berichtete 2014 von 50,000 Besuchern, »Book Arsenal« 2015 von 70 000 (zu vergleichen: 1994 hatte die L’viver Buchmesse nur 2000 Besucher). Bis vor kurzem waren die meisten Lesungen und literarischen Veranstaltungen kostenlos oder lockten die Besucher mit Bücherschenkungen. In den letzten Jahren ist ein stark gestiegenes Interesse an der Literatur und an literarischen Veranstaltungen zu beobachten – alle Festivals und Buchmessen verkaufen Festivalpässe, die kleineren Festivals arbeiten kostendeckend mit Ausnahme der Festivals in L’viv und Kyjiv. Ein anderes Beispiel ist das »Zentrum für literarische Bildung«, die das Publikum für eigene Sommerschulen, Kurse und Vorträge zur Literatur gegen Bezahlung regelmäßig sammelt. Die Studie des Projekts »Book Plattform 2014« zu den Lesegewohnheiten der Ukrainer hat gezeigt, dass das scheinbar steigende Interesse am Lesen generationsgebunden sein kann, insgesamt werden von Jahr zu Jahr weniger Bücher herausgegeben. die Ukraine braucht dringend Programme zur Motivation jüngerer Leser, die durch die repressiven Methoden der Schule eher vom Lesen abgeschreckt werden. Zudem ist eine Unterstützung für praktisch tote öffentliche Bibliotheken notwendig, die älteren und sozial schwachen Teilen des Lesepublikums Zugang zu Büchern verschaffen könnten.

S OCIAL M EDIA UND L ITERATURVERMITTLUNG Social Media (meistens Facebook) spielen eine wichtige Rolle bei der Literaturvermittlung – hier kommuniziert das Fachpublikum miteinander, werden die Events beworben; einige Autoren öffnen sogar zusätzliche Profile für ihre Werke. Außer Facebook sind auch VKontakte, Twitter, Instagram populär. Da es in der Ukraine an Medien mangelt, die regelmäßig und gut über die Ereignisse des Kultur- und Literaturlebens berichten, werden die sozialen Netzwerke zu den Instrumenten, die sie ersetzen und Kommunikation ermöglichen. So nutzen buchstäblich alle Autor_innen ihre Facebookseiten, um literarische Werke, Kommentare oder Essays an das Publikum zu bringen. Ein Beispiel ist der utopische Roman Karhalyk, den der ukrainische Autor Oleh Šynkarenko zuerst als fortlaufenden Blog auf seiner Fa-

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cebookseite veröffentlichte, ehe er in Buchform erschien. Insbesondere während der Maidan-Proteste nutzten die Autor_innen social media nicht nur für die Verbreitung literarischer Werke, sondern auch zur Unterstützung und Koordination des politischen Protests. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass sich der ukrainische Literaturmarkt im Umbruch befindet. Durch den Euromaidan und den russischukrainischen Krieg ist das Interesse an Literatur stark gestiegen – einerseits als Ausdruck der kulturellen Bedürfnisse in Kriegszeiten, andererseits besteht verstärkt der Wunsch, sich mit der eigenen Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen, mit Hilfe der Literatur. Die mangelnden materiellen Ressourcen und die fehlende konzeptionelle und finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite bringen einen stark informellen und auf die Nutzung digitaler Medien ausgerichteten Literaturmarkt hervor. Eine kontinuierliche Vermarktung von Literatur ist aufgrund fehlender Förderprogramme und mangelnder finanzieller Ressourcen der Verlage im Moment nicht möglich.

L ITERATUR Book Arsenal: antykrysowi strategiji, trendy rynku ta tscherhy (Book Arsenal: Antikrisenstrategien, Trends und Warteschlangen). URL: http:// www.chytomo.com/news/knizhkovij-arsenal-antikrizovi-strategiii-tren di-rinku-j-chergi-za-knizhkami [8.6.2015]. Geyer, Bernadette (2014): Poetry Film Competitions and Festivals. URL: http://bernadettegeyer.blogspot.com/2014/09/poetry-film-competitionsand-festivals.html [23.9.2015]. Ješkiljev, Volodymyr & Jurij Andruchovyč (1998): Mala ukrajins’ka encyklopedija aktualnoji literatury. In: Pleroma 3/1998. Iwano-Frankiws’k: Lileja NV. Kijanov’ska, Marianna (2015): Kil’ka notatok pro smert‘ ukrajins’koji literatury. URL: http://litakcent.com/2015/06/25/kilka-notatok-prosmert-ukrajinskoji-literatury/ [09.11.2015]. Reading (2014) = Reading in Ukraine. Results of the Study of Reading Habits and Attitudes towards Reading carried out in 2013-2014. URL: http://www.bookplatform.org/images/activities/44/brochurereadingengli sh12.pdf [23.9.2015].

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Rodyk, Kostjantyn (2013): Translations into Ukrainian 1992-2012. URL: http://www.bookplatform.org/images/activities/50/transintoeng.pdf [23.9.2015]. Translations (2013a) = Translations from Ukrainian after 1991. URL: www.bookplatform.org/en/activities/53-translations-from-ukr-en.html [23.9.2015]. Translations (2013b) = Translations into Ukrainian 1992-2012. URL: http:// www.bookplatform.org/en/activities/50-translations-into-ukr-en.html [23.9.2015].

Deutschsprachiger Raum C LAUDIA D ATHE

Der vorliegende Artikel möchte darstellen, welche Rahmenbedingungen es für das literarische Übersetzen im deutschsprachigen Raum gibt und wie das Arbeitsfeld literarischer Übersetzer aussieht, die aus (ost)mitteleuropäischen und südosteuropäischen Sprachen ins Deutsche übersetzen.

Ü BERSETZTE L ITERATUR IN D EUTSCHLAND Deutschland gilt spätestens seit der Romantik als ein Raum, in dem viel übersetzt wird. Im 20. Jahrhundert ist die absolute Zahl an Übersetzungen stetig gestiegen (1258 im Jahr 1953, 7342 im Jahr 2008; Bachleitner/Wolf 2010: 15). Dabei nehmen zwei Drittel Übersetzungen aus dem Englischen ein, wohingegen osteuropäische Sprachen wie das Russische mit 1,8% und das Polnische mit 0,5% quantitativ kaum ins Gewicht fallen (ebd.). Andere Sprachen aus (Ost)mittel- und Südosteuropa werden in der zitierten Statistik gar nicht aufgeführt. Das lässt den Schluss zu, dass übersetzter Literatur in Deutschland eine wichtige Rolle zukommt und das übersetzte Buch ein fester Bestandteil des deutschsprachigen Buchmarktes ist; die Autorinnen und Autoren der (ost)mitteleuropäischen Länder hingegen sind quantitativ sehr schwach vertreten. Die große Dominanz des Englischen ergibt sich zum einen daraus, dass der Buchmarkt in Großbritannien und den USA seit vielen Jahren zu den wichtigsten Geschäftsfeldern der deutschen Verlagsbranche gehört, die seit Jahrzehnten etabliert und hochprofessionalisiert ist. Zum an-

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deren hängt der hohe Anteil des Englischen damit zusammen, dass viele Autoren, vor allem aus dem afrikanischen und arabischen Raum, aus Gründen der besseren Vermarktung ihre Sprache gewechselt haben und auf Englisch schreiben. Diese Tendenz lässt sich bei den (ost)mitteleuropäischen Autoren nicht beobachten. Obwohl sie häufig aus Ländern kommen, die nur über eine kleine Anzahl an Sprechern verfügen, wie etwa Slowenien, schreiben die Autoren weiterhin in ihrer Muttersprache und nehmen damit eine eingeschränkte internationale Vermarktung in Kauf.

Ü BERSETZERINNEN UND Ü BERSETZER Im Gegensatz zu der von Lawrence Venuti postulierten These von der Unsichtbarkeit des Übersetzers1 beschränken sich Übersetzerinnen und Übersetzer, die aus (ost)mitteleuropäischen Sprachen ins Deutsche übersetzen, nicht auf die Übertragung von Texten, die den Erwartungen der Zielsprache angepasst sind, sondern sie nehmen im literarischen Feld darüber hinaus noch viele andere Aufgaben wahr. Das hängt zum einen damit zusammen, dass das alleinige Übersetzen aus den so genannten kleinen Sprachen (Ost)Mitteleuropas den Übersetzerinnen und Übersetzern ihren Lebensunterhalt nicht sichert, zum anderen aber auch mit der insgesamt komplexen Vermittlungssituation dieser Literaturen im deutschsprachigen Raum. Übersetzer_innen aus kleinen (in diesem Falle slavischen) Sprachen sondieren den Literaturmarkt der Länder, aus deren Sprachen sie übersetzen, und schlagen Werke, die sie aus verschiedenen Gründen für geeignet halten, auf dem deutschen Buchmarkt platziert zu werden, deutschsprachigen Verlagen vor. Sie betätigen sich demnach als Scouts und ersetzen Literaturagenturen, wie sie im angelsächsischen und skandinavischen Raum üblich sind (siehe Unterpunkt Agenturen). Die Verlage und Veranstalter von literarischen Festivals können aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und fehlender Personalressourcen häufig keine Recherchen auf kleinen Literaturmärkten vornehmen. Die Institutionen in den jeweiligen Ländern, die diese Marktsondierung unterstützen können, sind unterschiedlich gut entwickelt. Die slowenischen Verlage erhalten beispielsweise über die staatliche Buchagentur Jak eine

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Vgl. den Artikel Sichtbare Übersetzer: Literarische Übersetzer als Kulturvermittler von Schamma Schahadat in diesem Band.

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starke Unterstützung in ihren Auslandsaktivitäten, während in der Ukraine eine solche Agentur komplett fehlt und die Verlage über wenig Erfahrung im Umgang mit ausländischen Lizenzinteressenten verfügen. Darüber hinaus betreiben die Übersetzer_innen ein aktives Eigenmarketing: Sie bieten Verlagen und Veranstaltern Probeübersetzungen und Veranstaltungsempfehlungen an, sie übernehmen Moderationen und dolmetschen für die Autor_innen bei Auftritten und Lesungen. Sie verfassen publizistische Beiträge. Zunehmend betätigen sich literarische Übersetzer_innen auch als Kulturmanager: Um einen Autor oder eine bestimmte Literatur in Deutschland zu platzieren, entwickeln sie ein Projekt, werben selbständig Gelder ein, organisieren die Projektdurchführung und die mediale Begleitung des Projekts. Die sich daraus ergebende Fülle an Aufgaben und Kompetenzen lässt sich durch eine Einzelperson in der Regel nicht abdecken. Daher ist eine zunehmende Organisierung der literarischen Übersetzer zu beobachten (siehe Unterpunkt Verbände). Der Krieg in Jugoslawien, der Arabische Frühling und die Umbrüche in der Ukraine haben ein weiteres Tätigkeitsfeld des Übersetzers an den Tag gebracht: das des politischen Analysten und Aufklärers. Die Marginalisierung ›kleiner‹ Sprachen und Kulturen führt dazu, dass das Hintergrundwissen über die Kulturen und die Länder unter der Leserschaft im deutschsprachigen Raum sehr gering ist. Wenn es – wie im Fall Jugoslawiens, der arabischen Länder und der Ukraine – zu schweren politischen Verwerfungen kommt, treten die Wissensdefizite offen zutage. Häufig sind es dann die Übersetzer_innen, die aus ihrer intimen Kenntnis der politischen und kulturellen Landschaft der Länder Hintergrundwissen vermitteln und den Konflikt in größere Entwicklungszusammenhänge einordnen können. Ob sie damit Gehör finden, hängt im Wesentlichen davon ab, ob es ihnen bereits vor Ausbruch der Krise gelungen ist, sich eine Position im Literaturbetrieb zu verschaffen, die ihnen ausreichend Aufmerksamkeit garantiert.

V ERLAGE

UND

Z EITSCHRIFTEN

Anders als in vielen (ost)mitteleuropäischen Ländern ist die Politik der deutschsprachigen Verlage darauf ausgerichtet, einen Autor oder eine Autorin über viele Jahre hinweg als Marke aufzubauen, zu begleiten und dauerhaft

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zu vermarkten. Da die (ost)mitteleuropäischen Länder auf der mentalen Karte des deutschsprachigen Lesepublikums noch immer unterrepräsentiert sind, ist es für die Verlage nicht einfach, Anknüpfungspunkte und erfolgreiche Vermarktungsstrategien für neue Autor_innen zu entwickeln. Zudem bereiten sprachliche Hindernisse und institutionelle Hürden oft Schwierigkeiten bei ihrer Entdeckung. In Deutschland ist der Verlag mit dem breitesten Programm (ost)mitteleuropäischer Literatur der Suhrkamp Verlag. In der Sparte »Osteuropäische Literatur« werden namhafte Stimmen aus den osteuropäischen Ländern herausgegeben, so unter anderem Jurij Andruchovyč, Mircea Cartarescu, Andrzej Stasiuk, Joanna Bator, Svjatlana Aleksijevič, Bohumil Hrabal, Dževad Karahasan und Serhij Žadan. Als Reaktion auf die politischen Veränderungen in (Ost)Mitteleuropa 1989/90 wurde im Herbst 1990 der Rowohlt Berlin Verlag gegründet. Er wollte mit dem Fall des Eisernen Vorhangs die bis dahin fast unbekannte Literatur aus den (ost)mitteleuropäischen Ländern einem breiten deutschsprachigen Publikum zugänglich machen. Der Verlag änderte allerdings nach 2000 seine Verlagsstrategie und konzentriert sich nun auf deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Er verfügt nicht mehr über ein ausgeprägt osteuropäisches Programm, so dass osteuropäische Autoren nur vereinzelt erscheinen. Der Schöffling Verlag hat auch mehrere ostmitteleuropäische und südosteuropäische Autoren im Programm. Zu ihnen gehören Bora Ćosić, Nenad Popović, Olga Tokarczuk und Miljenko Jergović. 2004 wurde in Berlin der Verlag Matthes & Seitz Berlin gegründet. Dieser kleine Verlag macht es sich zur Aufgabe, besonders innovative und stilistisch anspruchsvolle Autoren zu veröffentlichen. Dort erscheinen unter anderem Ivana Sajko, Viktor Pelewin, Varlam Šarlamov und Adam Soboczyński. Ein besonderes Augenmerk verdient der Verlag edition.fotoTAPETA. Der Verlag wurde 2007 mit einem Sitz in Berlin und Warschau gegründet und gab zu Anfang Bücher in Polen und Deutschland heraus, die sich als Text-Foto-Kompositionen verstanden. Nach einigen Jahren der deutsch-polnischen Tandemarbeit ist jetzt nur noch der Berliner Verlagsteil tätig. Edition.fotoTAPETA möchte insbesondere die Literatur der Nachbarn mit historischen und gesellschaftlichen Bezügen der deutschsprachigen Leserschaft näherbringen. So erschienen 2014 u.a. von Artur Klinaŭ Partisanen. Kultur_Macht_Belarus, Miron Białoszewskis Das geheime Tagebuch und der Erzählband Von Hasen und anderen Europäern von Tanja Maljarčuk. Besonders schnell reagierte der Verlag in der Euromajdan-Revolution 2013,

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als er mit Majdan! Ukraine, Europa den ersten Band mit Essays zu den Hintergründen des politischen Umsturzes in der Ukraine veröffentlichte. (Ost)Mitteleuropäische und südosteuropäische Autorinnen und Autoren werden auch von vielen österreichischen Verlagen herausgegeben. Die Hinwendung österreichischer Verlage Richtung Osteuropa und Balkan resultiert aus den starken kulturellen Beziehungen, die Österreich als frühere Imperialmacht in diesem Raum bis heute pflegt und durch eine überaus aktive Kulturarbeit unterstützt. So ist etwa die einzige Buchveröffentlichung des renommierten kroatischen Autors Boris Dežulović, der Lyrikband Gedichte aus Lora, 2008 im Drava-Verlag Klagenfurt erschienen. Die ukrainische Autorin und Geisteswissenschaftlerin Oksana Zabužko, die mit ihrem 800-Seiten-Roman Museum der vergessenen Geheimnisse (dt. 2014) ein wichtiges Werk zur Interpretation der ukrainischen Geschichte vorgelegt hat, erscheint im Grazer Literaturverlag Droschl. Mit Andrej Kurkov, Michael Stavarić und Maria Matios verlegt auch der Haymon-Verlag wichtige (ost)mitteleuropäische Autoren. Trotz der zunehmenden Bedeutung des Internets verfügt der deutschsprachige Raum über einen differenzierten Markt an Literaturzeitschriften, in denen (ost)mitteleuropäische und südosteuropäische Autorinnen und Autoren regelmäßig zu Wort kommen. So gibt zum Beispiel Norbert Wehr die Zeitschrift Schreibheft heraus, die sich immer wieder in thematischen Dossiers Strömungen und Tendenzen in der (ost)mitteleuropäischen und südosteuropäischen Literatur widmet. Die Zeitschrift Ostragehege veröffentlicht regelmäßig Lyrik (ost)mitteleuropäischer Autoren. Was für den Buchmarkt in Österreich gilt, trifft ebenso für die dort erscheinenden Literaturzeitschriften zu. In vielen Ausgaben der Zeitschriften manuskripte, Lichtungen und Wespennest finden (ost)mitteleuropäische und südosteuropäische Autoren Platz.

V ERBÄNDE Bemerkenswert ist die mit der Professionalisierung des literarischen Übersetzens einhergehende Institutionalisierung. 1954 wurde in Hamburg der Verband der deutschsprachigen Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke (VdÜ) gegründet. Der VdÜ unterstützt die literarischen Überset-

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zer und Übersetzerinnen in Rechtsfragen. So war er maßgeblich an der Aushandlung des seit 2002 geltenden Urheberrechts beteiligt, das auch dem Übersetzer Urheberstatus gewährt. Darüber hinaus versteht sich der Verband als Organ zur weiteren Professionalisierung des Übersetzens. Einmal pro Jahr werden mit den Wolfenbütteler Gesprächen Weiterbildungs- und Netzwerktage organisiert. Die Übersetzer treffen sich, nehmen an Weiterbildungsveranstaltungen zu juristischen und übersetzungsspezifischen Fragen teil und tragen ihre neuesten Übersetzungen vor. Fortbildungsseminare werden auch neben den Wolfenbütteler Gesprächen regelmäßig angeboten. Der Verband verbreitet des Weiteren Informationen zu ausgeschriebenen Stipendien und Preisen. Einmal jährlich verleiht er die Übersetzerbarke und ehrt mit diesem Preis übersetzerfreundliche Verleger oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Neben dem VdÜ existiert der Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen, der die Sichtbarkeit von Übersetzern und die Anerkennung übersetzerischer Leistungen in der Öffentlichkeit fördert. Der Freundeskreis vergibt jährlich Arbeits- und Reisestipendien für Übersetzer und Übersetzerinnen in Baden-Württemberg sowie das PerewestStipendium für Übersetzer_innen aus slavischen Sprachen. Er verleiht in zweijährigem Rhythmus abwechselnd den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis. In den vergangenen Jahren lässt sich eine Zunahme der Vereinstätigkeit unter Übersetzern und Kulturvermittlern beobachten. So kam es zur Gründung mehrerer kleiner Vereine, die den Sprach- und Kulturaustausch mit besonderem Fokus auf einzelne Länder, ihre Literaturen und deren Übersetzung zum Gegenstand ihrer Tätigkeit machen. Dazu gehören u.a. der Verein Periskop, der die Vermittlung und Verbreitung slowenischer Literatur in Deutschland fördert, und der Verein translit, der sich um die Verbreitung ukrainischer Literatur bemüht. Der Verein literabel verbreitet belarussische Literatur und der Verein so-übersetzen präsentiert literarische Übersetzungen aus südslawischen Sprachen. Die Zunahme der Vereinstätigkeit lässt sich damit begründen, dass das Arbeitsfeld der Übersetzerinnen und Übersetzer sich heute erheblich erweitert hat. Um die Literaturen kleiner Länder und Sprachen zu präsentieren, genügt es nicht mehr, einen guten Autor zu finden und seine Texte für einen Verlag zu begutachten. Es ist zunehmend wichtig, die Präsentation der Au-

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toren und Texte komplex zu betreiben. Dazu gehört das Erstellen von Internetseiten, das dauerhafte Verbreiten von Informationen über die sozialen Medien, die Präsentation der Autoren auf Buchmessen und über eigenständige Projekte. Nicht selten müssen zur Umsetzung solcher Aktivitäten Förderanträge gestellt und Projekte koordiniert werden. Dieser Komplexität der Aufgaben kann der einzelne Übersetzer nicht gerecht werden, daher gibt es verstärkt kleine Arbeitsgruppen, die sich die Aufgaben untereinander aufteilen.

D IE L EIPZIGER B UCHMESSE Ein besonderer Ort für die Vermittlung (ost)mitteleuropäischer Literatur ist die Leipziger Buchmesse. Seit vielen Jahren liegen die Schwerpunkte ihrer jährlichen Präsentationen in der Literatur aus diesem Raum. So war etwa 2008 Kroatien Gastland der Leipziger Buchmesse, in den Jahren 2012 bis 2014 standen Polen, Belarus und die Ukraine mit dem Schwerpunkt »tranzyt« im Mittelpunkt. Im Gegensatz zur Frankfurter Buchmesse ist die Messe in Leipzig eine ausgesprochene Publikumsmesse. Die Interessierten besuchen die Stände der Verlage und die Veranstaltungen auf dem Messegelände; zudem präsentieren sich die Autorinnen und Autoren im Literaturfestival »Leipzig liest« an unzähligen Orten in der Leipziger Innenstadt mit Nachmittags- und Abendveranstaltungen. Mit diesen Veranstaltungen erreicht die Messe eine breite Öffentlichkeit. Die Leipziger Buchmesse vergibt darüber hinaus den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Er wird seit 1994 jährlich am Eröffnungsabend der Leipziger Buchmesse verliehen und zählt zu den wichtigsten deutschen Literaturpreisen. Mit diesem Preis werden Persönlichkeiten geehrt, die sich um die europäische Verständigung bemühen, insbesondere auch den Austausch zwischen ost-, mittel- und westeuropäischen Ländern aktivieren. Bora Ćosić (2002), Jurij Andruchovyč (2006), Karl Schlögel (2009) und Martin Pollack (2011) gehören zu den Preisträgern.

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F ESTIVALS

UND LITERARISCHE

V ERANSTALTUNGEN

In den letzten 20 Jahren lässt sich ein signifikanter Zuwachs an Literaturfestivals und literarischen Veranstaltungen beobachten. Dazu hat unter anderem die Gründung vieler Literaturhäuser beigetragen. Das Interesse an der Literatur verknüpft sich zwar nach wie vor mit dem Buch, immer stärker jedoch auch mit der öffentlichen Präsentation von Autoren und Literatur. So lässt sich erklären, dass Veranstaltungen wie das Lesefest »Leipzig liest«, das Poesiefestival Berlin oder das Tübinger »Bücherfest« zahlreiche Leser anziehen und zu einem festen Bestandteil der Kulturkalender geworden sind. Obwohl in den Veranstaltungen häufig auch ausländische Literatur präsentiert wird, steht die Tatsache, dass es sich dabei um Übersetzungen handelt, im Hintergrund. Vordergründig bei den Veranstaltungen ist die Präsentation des Autors und die Kontextualisierung der Literatur über seine Person. Dennoch gibt es seit einigen Jahren interessante Veranstaltungsformate, die versuchen, das Übersetzen als künstlerischen und kulturvermittelnden Prozess und die Übersetzer als interpretierende Künstler stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Dieses Ziel verfolgen zum Beispiel die Baden-Württembergischen Übersetzertage. Sie finden einmal in zwei Jahren an wechselnden Orten in Baden-Württemberg statt und präsentieren das literarische Übersetzen und die Übersetzer in öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen. Dabei geht es nicht nur darum, den Übersetzer neben dem Autor sichtbar zu machen, sondern auch darum, dem Publikum den Prozess des Übersetzens näher zu bringen. Während der Übersetzertage 2011 in Tübingen fand zum Beispiel unter dem Motto »Der gläserne Übersetzer« ein interaktiver Workshop in einer Tübinger Buchhandlung statt, bei dem sich alle Besucher_innen spontan an der Erstellung einer Übersetzung beteiligen und gemeinsam über den entstandenen Text diskutieren konnten. Die Öffentlichkeitswirksamkeit des literarischen Übersetzens zu erhöhen, hatte sich auch das Projekt »Textabdrücke – literarisches Übersetzen an der Universität Tübingen« zum Ziel gesetzt. In dem Projekt, das drei Jahre dauerte und von der Robert Bosch Stiftung gefördert wurde, führte das Slavische Seminar der Universität zum einen Seminare zum literarischen Übersetzen durch, die von professionellen literarischen Übersetzern und Übersetzerinnen geleitet wurden, und veranstaltete zum anderen einmal jährlich die Übersetzerwoche, ein mehrtägiges Festival, in dem das Übersetzen in all seinen Facetten im Mittelpunkt stand. Zu Gast waren hier unter anderem Ulrich

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Blumenbach mit seiner Übersetzung von Unendlicher Spaß (Infinite Jest) von David Foster Wallace und Gabriele Leupold mit ihren Übersetzungen von Varlam Šalamov. Der Sichtbarkeit des Übersetzens und der Übersetzer widmet sich auch der Verein Weltlesebühne, ein Zusammenschluss von literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern, der in verschiedenen deutschsprachigen Städten Veranstaltungen rund um das literarische Übersetzen durchführt. Das besondere Merkmal dieser Veranstaltung ist, dass sie nur von Übersetzer_innen bestritten werden. Autor_innen werden nicht präsentiert.2 Seit einigen Jahren wird der 30. September, der Hieronymus-Tag, als Tag des Übersetzers gefeiert. An diesem Tag finden viele Veranstaltungen zum literarischen Übersetzen statt, insbesondere auch interaktive Werkstätten wie der »Gläserne Übersetzer«, die dem Publikum die Gelegenheit geben, das literarische Übersetzen selbst auszuprobieren und auf diese Weise über die Übertragung von Sprachen und die Vermittlung von Kultur zu reflektieren.

Ü BERSETZUNGSFÖRDERUNG In Deutschland existiert ein gut ausgebautes Fördersystem für Übersetzungen. Gefördert werden zum einen Übersetzungen aus fremden Sprachen ins Deutsche, zum anderen auch Übersetzungen deutscher Werke in andere Sprachen. Die Förderung der Übersetzung ausländischer Werke ins Deutsche hat das kulturpolitische Ziel, dem deutschsprachigen Lesepublikum eine große Bandbreite an ausländischer Literatur zugänglich zu machen. Wenn man bedenkt, dass bei der Herausgabe eines fremdsprachigen Werkes die Übersetzungskosten häufig der größte Einzelposten sind, wird nachvollziehbar, warum die Förderpolitik genau an dieser Stelle ansetzt, obgleich damit eine Wettbewerbsverzerrung erfolgt, da diese Förderung nicht allein den Übersetzer_innen, sondern in erster Linie kommerziellen Verlagen zugutekommt. Da die Übersetzungsförderung zu den Aufgaben der Auswärtigen Kulturpolitik gehört, ist sie zu weiten Teilen beim Auswärtigen Amt angesiedelt. Pro Jahr werden mehr als eine Million Euro für Übersetzungsförderung ins Deutsche und aus dem Deutschen ausgegeben. Dabei vergibt das Auswärtige

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Ausführliche Informationen unter http://www.weltlesebuehne.de/index.php.

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Amt die Förderung nicht direkt, sondern indirekt über die Bezuschussung von Partnerinstitutionen, zu denen in erster Linie das Goethe-Institut, das Literarische Colloquium Berlin und der Deutsche Übersetzerfonds zählen (dazu Fischer 2010: 56). Auch die Kulturstiftung des Bundes fördert dauerhaft Übersetzungen über die Unterstützung des Deutschen Übersetzerfonds. Der Deutsche Übersetzerfonds vergibt zweimal jährlich Arbeits- und Reisestipendien, um die sich jeder Übersetzer bewerben kann, der über einen gültigen Verlagsvertrag für ein Buch verfügt. Darüber hinaus verleiht der Deutsche Übersetzerfonds auch das Bode-Stipendium, bei dem einem Übersetzer ein Mentor zugeteilt wird, der mit ihm an seiner Übersetzung arbeitet. Dank des föderalistischen Prinzips in Deutschland haben auch die meisten Bundesländer Förderprogramme für literarische Übersetzer und Übersetzerinnen. So vergeben zum Beispiel Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen regelmäßig Arbeitsstipendien an in dem Bundesland wohnhafte Übersetzer. Das Institut für die Wissenschaft des Menschen in Wien verleiht jährlich das Paul-Celan-Stipendium an Übersetzer aus osteuropäischen Sprachen und umgekehrt. Es ist zur Förderung der Übersetzung geistes- und sozialwissenschaftlicher Werke gedacht. Deutschsprachige Übersetzer profitieren auch von den Förderprogrammen anderer Länder. Der schwedische Kulturrat vergibt regelmäßig Arbeitsund Reisestipendien für Übersetzer schwedischer Literatur. Übersetzer polnischer Literatur können sich um Stipendien des Instytut książki (Buchinstitut) bewerben.3 Die Übersetzerförderung beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Förderung einzelner Buchprojekte, sondern umfasst auch die Weiterbildung literarischer Übersetzer_innen. Da man in Deutschland literarisches Übersetzen nur in Düsseldorf für die Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch sowie in München für Englisch studieren kann, ist die Frage der Professionalisierung der literarischen Übersetzer_innen ein wichtiges Thema, dessen sich weniger die Universitäten, umso mehr aber der Deutsche Übersetzerfonds, das Literarische Colloquium Berlin (LCB) und die Robert Bosch Stiftung annehmen. Das Literarische Colloquium veranstaltet einmal jährlich

3

Eine ausführliche Liste aller Stipendien, für die sich deutschsprachige Übersetzerinnen und Übersetzer bewerben können, findet sich unter: http://psdb.literaturuebersetzer.de/index.php?action=ueber&jahr=2015 (Zugriff 19.10.2015).

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eine sprachübergreifende Übersetzerwerkstatt, an der Übersetzerinnen und Übersetzer mit einem Übersetzungsprojekt teilnehmen können, das sie mit Kollegen diskutieren möchten. Der sprachübergreifende Austausch soll die Möglichkeit bieten, von den sprachpaarbezogenen Übersetzungsproblemen zu abstrahieren und die Gesamtgestaltung des Textes und seine Wirkung in den Blick zu nehmen. Die Werkstätten finden an vier aufeinanderfolgenden Wochenenden im Herbst statt, werden von einem Werkstattleiter geleitet, und jedem Teilnehmer steht ein Mentor zur Seite, der mit dem Übersetzer individuell an seinem Text arbeitet. Neben der sprachübergreifenden Übersetzerwerkstatt führt das Literarische Colloquium Berlin, finanziert vom Auswärtigen Amt und in Kooperation mit Partnern in den Ländern, zumeist dem Goethe-Institut, vice-versa-Werkstätten durch, in denen sich Übersetzerinnen und Übersetzer eines Sprachpaars in einer bilateral zusammengesetzten Gruppe treffen und ihre Übersetzungen besprechen. Diese vice-versaWerkstätten finden im jährlichen Rhythmus abwechselnd in Deutschland und im Ausland statt. Die Robert Bosch Stiftung kümmert sich mit ihrem Hieronymus-Programm vor allem um die Förderung des übersetzerischen Nachwuchses. Für das Hieronymus-Programm werden Kandidatinnen und Kandidaten ausgewählt, die noch am Anfang ihrer Laufbahn stehen. Neben der Arbeit an Übersetzungen umfasst das Workshop-Programm auch Seminare zur Berufskunde. Berufskundliche Seminare sowie Weiterbildungen im juristischen Bereich für etablierte Übersetzer bietet auch das LCB regelmäßig an. In den letzten Jahren lässt sich zumindest bei einigen Förderern eine sinkende Zahl an Bewerbungen für Arbeitsstipendien und ortsgebundene Stipendien beobachten. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Übersetzerinnen und Übersetzer, anders als früher, nicht mehr ausschließlich mit der Textarbeit beschäftigt sind, sondern häufig auch Lesungen organisieren, mit ihren Autoren auftreten und andere Aufgaben im Bereich der Kulturvermittlung übernehmen. Das führt dazu, dass sie seltener als früher für vier oder mehr Wochen ein Stipendium in einer Residenz aufnehmen können. Ein anderer Grund liegt darin, dass die Aufträge im Übersetzen nicht mehr ausschließlich von Verlagen kommen. Insbesondere Übersetzer aus kleinen Sprachen generieren einen Großteil ihrer Aufträge aus Übersetzungen für Festivals, Lesungen und einmalige Projekte, die nicht zwingend mit einer Buchpublikation verbunden sein müssen. Diese Übersetzungen werden im Rahmen der derzeitigen Stipendienarten nicht gefördert.

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E INZELPERSÖNLICHKEITEN Im Kapitel Übersetzerinnen und Übersetzer ist bereits beschrieben worden, dass sich literarisches Übersetzen weg von einer fast ausschließlich auf den Text bezogenen Tätigkeit hin zu einem komplexen kulturvermittelnden Prozess entwickelt, in dem nur diejenigen literarischen Übersetzer erfolgreich sein können, die neben Sprach- und Kulturkenntnissen auch eine transkulturelle Vermittlungskompetenz besitzen, zu der sowohl das Auffinden neuer Texte und die Arbeit mit den zu übersetzenden Autoren als auch Netzwerkund Marketingtätigkeiten gehören. Obwohl sich Übersetzer zunehmend organisieren, um der Komplexität dieser Anforderungen gerecht werden zu können, gibt es dennoch Einzelpersönlichkeiten, die auf dem literarischen Feld eine herausragende Position als kulturelle Vermittler einnehmen. Zwei von ihnen – Karl Dedecius und Ilma Rakusa – sind in dem Artikel Sichtbare Übersetzer in diesem Band bereits vorgestellt worden. Hier soll auf drei weitere Persönlichkeiten eingegangen werden, die als kulturelle Vermittler in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreich gewesen sind – Jurko Prochasko, Martin Pollack und Alida Bremer. Jurko Prochasko Der ukrainische Übersetzer und Autor Jurko Prochasko ist einer der wichtigsten kulturellen Vermittler zwischen Deutschland und der Ukraine. 1970 im ostgalizischen Iwano-Frankiwsk geboren, gehört er einer Generation an, die im westlichsten Teil der damaligen Sowjetunion aufwuchs und mit den Brüchen und Konflikten der Vergangenheit unmittelbar konfrontiert war. Prochasko studierte in Lemberg Germanistik und setzte sich früh mit dem multikulturellen Erbe der Stadt auseinander. »Von der österreichischen wie von der galizischen Vergangenheit wurde zu Hause gesprochen. Von der jüdischen nicht«, sagte er in einem Interview 2004 mit Doris Liebermann (Liebermann 2004). In den Jahren nach seinem Studium war er am Institut für Literaturforschung der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Lemberg tätig und übte eine umfangreiche Übersetzertätigkeit aus. Aus dem Deutschen hat er Autoren wie Heinrich von Kleist, Robert Musil und Franz Kafka übertragen, darüber hinaus liegen von ihm auch zahlreiche Übersetzungen aus dem Polnischen vor. Als in den 1990er Jahren die wissenschaft-

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lichen und gesellschaftlichen Kontakte zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zunahmen, wurde Jurko Prochasko zu einem der führenden Lemberger Intellektuellen, der in brillantem Deutsch die Vielgestaltigkeit des multikulturellen Erbes von Lemberg Touristen, Journalisten und Wissenschaftlern nahebringen konnte. Im Jahr 2004 unterstützte Jurko Prochasko die Orange Revolution und meldet sich seitdem auch regelmäßig zu politischen Themen zu Wort. In zahlreichen Interviews im Vorfeld der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine 2012 und während und nach der ukrainischen Euromajdan-Revolution erläuterte er innenpolitische Konstellationen und Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung. 2008 wurde er mit dem FriedrichGundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland und im gleichen Jahr mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet. An Jurko Prochasko lässt sich ablesen, wie biografische, historische und politische Konstellationen die Persönlichkeit eines kulturellen Vermittlers formen. Die ostgalizischen Städte Iwano-Frankiwsk und Lemberg sowie Prochaskos familiäres Umfeld – seine Großmutter hatte in Wien studiert – veranlassten ihn zur Auseinandersetzung mit der Verflechtung von Kulturen und den Folgen des Zweiten Weltkrieges. Seine Übersetzungen schulten nicht nur seine sprachliche Kompetenz, sondern vertieften seine Kenntnisse über Kulturen und historische Zusammenhänge. Seine Kompetenzen zu Galizien, Lemberg und die Verflechtung der Literaturen ebneten ihm schließlich den Weg in die deutsche Öffentlichkeit, wo er als ein maßgeblicher Intellektueller seines Landes auch zu politischen und gesellschaftlichen Aspekten befragt wird. Martin Pollack Martin Pollacks Profil als kultureller Vermittler zwischen Ostmitteleuropa und Mitteleuropa verfügt über viele Facetten. In den 1990er Jahren war er Korrespondent des Spiegel in Warschau, und in dieser Zeit berichtete er nicht nur über die für Polen und das restliche Europa maßgeblichen Ereignisse in der untergehenden Volksrepublik, sondern widmete sich auch der Entdeckung journalistischer Arbeiten in Polen. Zu seinen Errungenschaften gehört es, dass die Journalisten Ryszard Kapuściński, Wilhelm Dichter und Mariusz Wilk, die er ins Deutsche übersetzte, dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wurden. Das Genre der Reportage bestimmt auch seine

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Arbeiten als Autor. In zahlreichen Essaybänden setzt er sich mit der Vergangenheit der ostmitteleuropäischen Landschaften auseinander. Als einer der ersten rückte er mit seinem 1984 erschienen Buch Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina die multiethnischen Regionen Galiziens und der Bukowina in den Blickpunkt des deutschsprachigen Lesers. Vordergründig in seiner Auseinandersetzung mit den ostmitteleuropäischen Landschaften ist dabei immer die Aufdeckung von Verborgenem, Verstecktem, Verheimlichtem, mithin die Auseinandersetzung mit den wunden Punkten der ostmitteleuropäischen Geschichte, auch wenn die Bewohner, wie er bei seinen Recherchereisen feststellen musste, lieber am Verschweigen festhalten würden. »Meine Erfahrung zeigt – und das ist nicht nur meine Erfahrung –, dass Dinge, die man versucht zu verbergen, irgendwann zum Vorschein kommen. Da halte ich es für besser, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen«, sagt Pollack (Kaindlstorfer 2014). In dieser Auseinandersetzung macht er auch vor seiner eigenen Familiengeschichte nicht halt. In dem Reportageroman Der Tote im Bunker (2004) zeichnet er das Leben seines Vaters, des Gestapo-Führers von Linz, nach, das Leben eines Menschen, das gewaltsam endete und in dem »Gewalt eine wichtige Rolle spielte«, wie Pollack schreibt (Kaindlstorfer 2014). Seine Recherchen führen ihn dabei bis nach Slowenien, wo ein Teil seiner Familie bis heute lebt. Vertuschten Verbrechen ist Martin Pollack auch in seiner Reportagesammlung Kontaminierte Landschaften (2014) auf der Spur, die als eine Art Landkarte politischer Verbrechen des 20. Jahrhunderts gelesen werden kann. Anders als Jurko Prochasko, dessen Vermittlertätigkeit darauf ausgerichtet ist, die Ukraine in das Bewusstsein zu rücken, differenziertes Wissen über das Land und seine Literatur zu vermitteln und die ukrainische Gesellschaft erfahrbar zu machen, zeigt Pollack in seinen Reportagen und Übersetzungen die Verflechtungen der europäischen Geschichte und Gegenwart auf. Er macht deutlich, dass die geschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts sich nicht nationalstaatlich eingrenzen lassen, sondern im Gegenteil einen grenzüberschreitenden Raum von Verbrechen und Verschweigen bilden, dessen Teil der Einzelne unabhängig von seiner nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit ist.

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Alida Bremer Während Jurko Prochasko und Martin Pollack in der Ukraine bzw. in Österreich geboren sind und ihre Vermittlertätigkeit von ihrer Heimat aus betreiben, lebt Alida Bremer, nachdem sie ihre Kindheit und Jugend in Kroatien verbracht hat, seit über 25 Jahren in Deutschland und agiert von dort aus auf dem deutschsprachigen und kroatischen Literaturmarkt. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Romanistik und Slavistik in Belgrad, Rom, Münster und Saarbrücken widmete sie sich zunächst einige Jahre literaturwissenschaftlichen Forschungen, die sie Mitte der neunziger Jahre jedoch unterbrach, um in Münster Flüchtlinge aus Bosnien zu betreuen. Seit Ende der 1990er Jahre versucht sie als Übersetzerin, Kuratorin und Kulturmanagerin die Wahrnehmung kroatischer Literatur und kroatischer Autoren in Deutschland zu steigern. So übersetzte sie unter anderem Edo Popović und Ivana Sajko ins Deutsche und kuratierte die Programme »Kroatien als Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse« (2006) und »Fokus Südosteuropa« (2008-2014) in Leipzig. Ähnlich wie Jurko Prochasko kommt es auch Alida Bremer darauf an, mit der Präsentation von Literatur ein differenziertes Bild von Kroatien, den Menschen und ihren Lebenseinstellungen zu vermitteln und den bestehenden Stereotypen, die sich bereits in der klassischen deutschen Literatur finden (Kroaten als blutrünstige Obrigkeitsdiener), mit detaillierten Hintergrundinformationen entgegenzutreten. Dass Migration und Sprachwechsel – Alida Bremer verfasst ihre eigenen literarischen Texte auf Deutsch – andere Identitätsfragen aufwerfen als Martin Pollacks Suche nach den familiären Spuren in Slowenien, zeigt Alida Bremers Roman Olivas Garten (2013), in dem eine Kroatin, die seit langem in Deutschland lebt, einen Olivenhain in Kroatien erbt und sich auf den Weg macht, um trotz aller Hindernisse der kroatischen Bürokratie ihr Erbe in Besitz zu nehmen. Der Roman, der autobiografische Züge trägt, vermittelt einerseits die Absicht, dem deutschen Leser ein liebenswertes Kroatien zu zeigen, und offenbart andererseits über die Rolle der Protagonistin den Status des Dazwischen, in dem, wie Alida Bremer in einem Interview sagt, auch sie sich befindet.4

4

Interview mit Alida Bremer für das Domradio Köln, http://www.domradio.de/audio/alida-bremer-ueber-ihren-roman-olivas-garten [8.10.2015].

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AGENTUREN Auf dem internationalen Buchmarkt spielen Agenturen eine wichtige Rolle. Man unterscheidet zwei Haupttypen von Agenturen: die Autorenagentur, die versucht, die Rechte eines Autors international bestmöglich zu vermarkten, und die Subagentur, deren Aufgabe es ist, Übersetzungsrechte international zu verkaufen (vgl. Fischer 2010: 48). In Deutschland ist die Agentur Thomas Schlück von großer Bedeutung für die Vermittlung von britischer und amerikanischer Literatur (ebd.). Für die Vermittlung (ost)mitteleuropäischer Literatur sind die Agenturen nahezu bedeutungslos, was darin begründet liegt, dass das Marktsegment zu klein ist, um ein profitables Wirtschaften einer Agentur zu ermöglichen. Die Agentur müsste – auf (Ost)Mitteleuropa bezogen – einen großen, mehrsprachigen, kulturell heterogenen Raum abdecken, um wirtschaftlich arbeiten zu können. In einem derart großen Raum ist eine intime Kenntnis der literarischen Szenen nicht mehr möglich. Zwei Agenturen für den deutschsprachigen Raum seien dennoch genannt: die Agentur Galina Dursthoff, die mit Vladimir Sorokin, Svjatlana Aleksijevič, Oksana Zabužko und Julia Kisina namhafte russische, belarussische und ukrainische Autorinnen und Autoren unter Vertrag hat, und die Agentur Schruf, die südslawische Autorinnen und Autoren vermittelt, darunter Goran Petrović und Olja Savičević.

P REISE Der wichtigste deutsche Preis, der an Übersetzer verliehen werden kann, ist der 1979 gestiftete Hieronymusring. Ähnlich dem Inflandring für Schauspieler wechselt der Hiernonysring alle zwei Jahre seinen Besitzer. Der nachfolgende Preisträger wird jeweils vom vorausgehenden bestimmt. Von den Übersetzern osteuropäischer und südosteuropäischer Literatur wurden Ilma Rakusa (1987) und Sylvia List (1989) mit dem Hieronymusring geehrt. Ein weiterer wichtiger Übersetzerpreis ist der Paul-Celan-Preis, der 1988 vom Deutschen Literaturfonds gestiftet wurde und zunächst nur Übersetzer aus dem Französischen auszeichnete. Seit 1995 wird der Preis auch an Übersetzerinnen und Übersetzer aus anderen Sprachen vergeben. In der Liste der Preisträger finden sich zahlreiche Übersetzerinnen und Übersetzer aus ost-, mittel- und südosteuropäischen Sprachen: Andreas Tretner (2001), Gabriele

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Leupold (2002), Esther Kinsky (2009), Rosemarie Tietze (2010), Mirjana und Klaus Wittmann (2011), Dorothea Trottenberg (2012). Im Bereich der Übersetzungen aus dem Polnischen ins Deutsche und umgekehrt ist der Karl-Dedecius-Preis die wichtigste Auszeichnung. Der Preis wird alle zwei Jahre von der Robert Bosch Stiftung und dem Deutschen Poleninstitut Darmstadt vergeben und ehrt jeweils ein Übersetzertandem. Die letzten Preisträger waren 2015 Sven Sellmer und Katarzyna Leszczyńska. Ein besonderer Preis ist der Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis, der alle zwei Jahre von der BHW-Bankstiftung in Zusammenarbeit mit dem LCB, dem Goethe-Institut und dem Deutschen Theater Berlin vergeben wird. Er zeichnet einen osteuropäischen oder südosteuropäischen Autor und seinen Übersetzer als Tandem aus. 2014 wurden Serhij Žadan mit seinen beiden Übersetzern Sabine Stöhr und Jurij Durkot mit dem Brücke-Berlin-Preis ausgezeichnet. Seit 1985 vergibt der Übersetzungsbeirat beim Österreichischen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur den Staatspreis für literarische Übersetzung. Der Preis wird jeweils an zwei Übersetzer vergeben, zum einen für die Übersetzung eines zeitgenössischen österreichischen Werkes in eine Fremdsprache und zum anderen für die Übertragung eines fremdsprachigen Werkes ins Deutsche. Mit dem Staatspreis für literarische Übersetzung wurden ebenfalls viele Übersetzerinnen und Übersetzer aus ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Sprachen geehrt, u.a. Erwin Köstler (1999), Christa Rothmeier (2000), Martin Pollack (2003), Fabjan Hafner (2006) und Doreen Daume (2008).

L ITERATUR Bachleitner, Norbert & Michaela Wolf (Hg.) (2010): Streifzüge im literarischen Feld. Berlin: Lit. Fischer, Ernst (2010): Übersetzungen auf dem Markt: Institutionen und Steuerungsfaktoren. In: Bachleitner/Wolf 2010, S. 33-64. Kaindlstorfer, Günter (2014): Martin Pollack. Der Archäologe des Völkermords. 17.3.2014. URL: www.deutschlandfunk.de/martin-pollack-derarchaeologe-des-voelkermordes.1310.de.html?dram:article_id=280382 [8.10.2015]. Liebermann, Doris (2004): Diese leere Muschel, die übrig geblieben ist…, 31.12.2004. URL: www.zeit.de/2005/01/L-Prohasko [14.10.2015].

Essay

Lebensläufer Zu einer kleinen Theorie unauratischer Kulturen 1 J URKO P ROCHASKO

Er sieht das Wort, er staunt, er meint, es nie vorher gehört zu haben, dann lächelt er milde, weil er das Spiel zwar erkannt, aber nicht durchschaut hat, das Wortspiel, er will dem Spiel gewachsen sein, mitmachen und mithalten, dass es dem Pass des Urhebers gerecht wird. Dann ist er leicht verwirrt, schaut nach, wird nicht fündig, wird dann doch anderweitig fündig, das bringt ihm aber nichts, er fragt weiter, er fragt nach, überlegt, was er damit anfangen soll, untersucht die Zusammenhänge, lotet die Zusammenklänge aus, und beschließt zaudernd, wenn schon nicht das Wort selbst, das es ja so nicht geben kann, dann zumindest den Zusammenhang irgendwie zu rekonstruieren, mit etwas anderen Mitteln, und dann das Halbfertige zu transportieren, den Zusammenklang irgendwie hervorzuzaubern, um die Wirkung nachzumachen, der Wirkung nachzueifern, der Wirkung wegen, dem Geist

1

Dieser Text beruht auf einer Rede, die Jurko Prochasko am 20. Oktober 2015 in Berlin auf einem Festakt zum literarischen Übersetzen in der Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung gehalten hat. Eine kürzere Version der Rede wurde anlässlich des Projekts »Übersetzungswürfel« für das Magazin # 25 der Kulturstiftung des Bundes geschrieben (unter dem Titel Warum sich mit der Ukraine beschäftigen?); wir drucken diesen Text als Teil der hier vorliegenden längeren Version mit freundlicher Genehmigung der Kulturstiftung des Bundes ab (Anm. der Herausgeber).

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treu, nicht dem Buchstaben. Das Wort heißt Lebensläufer, und es gehört übersetzt. Viele Lebensläufer haben kaum einen nennenswerten Lebenslauf, nicht das, was man mit gutem Gewissen hätte vorzeigen können, was sich unmissverständlich und zuversichtlich zeigen lässt, dafür verstehen die meisten von ihnen vom Lauf des Lebens, der Leben viel mehr als die Menschen mit richtigen Lebensläufen, Männer mit Eigenschaften, Menschen mit Prinzipien. Nein, natürlich nicht den eigenen. Bei vielen besteht ja der Lebenslauf aus lauter Positionen von übersetzen Werken, mit Daten versehen, sei es der Übersetzung, sei es der Publikation, oft liegen ja auch Jahre dazwischen, sei es aus Versehen, sei es aus Unzulänglichkeit oder aus Verzicht. Ein Verzicht auf einen Lebenslauf bedeutet nicht zwingend ein Verzicht auf das Leben. Bei vielen lässt sich deshalb der eigene Lebenslauf erst nachträglich formulieren. Die Wahl der Werke ist die Lebensentscheidung des Übersetzers, aus ihrer Zusammensetzung und Reihenfolge setzt sich sein Leben und oft sein Schicksal zusammen. Die Lebensläufer laufen meistens nicht ums Leben, ihr Leben ist kein Lauf ums Leben, aber auch kein Laufen im Kreis. Sie schätzen aber Menschen mit Lebensläufen, sie wissen, dass Lebensläufe etwas wert sind, sie stammen meistens aus den Zeiten, als Lebenslauf noch etwas galt, noch etwas bedeutete. Diese Geltungen und diese Bedeutungen gehören ebenfalls übersetzt, sonst versteht sie ja keiner, keiner mehr. Auf jeden Fall wissen sie aber sehr wohl, dass das Leben läuft und verläuft, und dass der Verlauf wichtiger ist als der Lauf, dass es auf den Verlauf ankommt, dass er nicht beliebig ist. Auf dem großen Schachbrett des kleinen Lebens gehören sie eben zu den Leichtfiguren. Die Läufer, die Leichtfiguren des Lebens. Ihr Leben allerdings ist alles andere als leicht, und ihre Arbeit fürs Leben schon gar nicht. Wieso entscheidet man sich überhaupt für so ein Leben? Wieso kann man so etwas denn überhaupt wollen? Wie lebensfremd muss man sein, um sich auf so ein Leben einzulassen, auf das ja kein Verlass ist, überhaupt keiner. Reich wirst du ganz bestimmt nicht, berühmt auch nicht, anerkannt vielleicht bestenfalls in einem sehr engen Kreis von sehr merkwürdigen Menschen, von lauter Lebenslaufverzichtern und -verweigerern. Es ist ein schweres Leben einer Leichtfigur des Lebens. Es ist eine meistens schwierige, oft sehr mühsame, immer sehr zeitraubende Arbeit, die einen Lebenslauf kaum er-

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möglicht, keine Zeit mehr lässt für einen Lebenslauf, bei der der Lebensverlauf, und zwar der Lauf des Lebens, an einen vorbeigeht, unbeteiligt, und den Verlauf des Lebens nur umso deutlicher spüren lässt. Ist das Werk gelungen, ist es der Verdienst des Originals, ist es misslungen, unbedingt dein Scheitern, deine Unzulänglichkeit. Egal, was du schon vorher geleistet hast, bist du vor künftigen Niederlagen nie gefeit. Die Reifedauer ist sehr lang, der Verfall kann unglaublich schnell vor sich gehen. Leichtfiguren haben es nicht immer leicht. Auch der Umgang mit den Leichtfiguren ist nicht unbedingt immer leicht. Leichtfigur bedeutet vielmehr, dass man sie in der großen Partie nicht so ernst nimmt, dass man sie für leicht erachtet, und das bedeutet wiederum, dass ihr Verlust nicht schwer fällt, eben auf die leichte Schulter genommen wird. Im Zweifel wird man eine Leichtfigur opfern, Schwerfiguren wird man anders verlustig. Läufer können ihre Feldfarbe nicht wechseln, zumindest solange sie in dieser Partie sind. Sie können die anderen Figuren auch nicht überspringen. Sie können sie nicht einmal frontal angehen. Was ihnen aber offen bleibt, sind die vielgerichteten Diagonalen. Sie können diagonal subversiv sein und sind frei, sich in alle vier diagonale Himmelsrichtungen zu bewegen. Sie müssen zwar ihrer Farbe während des Spiels treu bleiben, die Gesamtfarbe ihres Lebens aber lassen sie als Summe ihrer Übersetzungen erkennen. Oft lassen sie Farbe erkennen, indem sie Sachen für die Übersetzung selbst wählen und sich so ihr eigenes Feld erschaffen, ihr weites Feld bekennen. An ihren Läufen durch ihre Felder werdet ihr sie erkennen. Das Leben der Leichtfiguren ist also an sich schon schwer genug, egal, wie leichtlebig sie daherkommen mögen. Es ist schon grundsätzlich schwer genug, Übersetzer und Vermittler zu sein, doch selbst innerhalb dieser an und für sich schon schweren Beschäftigung, der Übersetzung und Vermittlung zwischen den europäischen Kulturen, gibt es zusätzlich noch eine besonders sperrige Sparte: die Vermittlung der unauratischen Kulturen. Es gibt nämlich Kulturen, bei denen die Lust, daraus zu übersetzen, sozusagen ›selbstverständlich‹ ist, und andere, die immer eine ›Begründung‹, fast ›Rechtfertigung‹ brauchen. Ich nenne die eine Gruppe ›auratische Kulturen‹, die andere ›unauratische‹. Die ›auratischen‹ sind diejenigen, denen eine unbedingte Aura vorauseilt, die keiner zusätzlichen Begründung bedürfen, die gleichsam für sich selber leuchten und einleuchten. Die üblichen Verdächtigen darunter sind: die englische, französische, deutsche, spanische, russische, italienische etc. Die ›unauratischen‹ Kulturen dagegen – um wiederum

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nur bei den europäischen zu bleiben –: die belorussische, makedonische, slowakische, lettische, litauische, slowenische, bosnische, ukrainische, moldawische, finnische, albanische etc. Ungarn und Polen beispielsweise gehören bereits einer anderen Kategorie an, weil sie zwar keine heutigen, aber sehr wohl die Großmächte von einst sind. Sie haben historisches Gewicht. Besonders schwer sind die Lebensläufe durch die unauratischen Kulturen. Das Auratische hier hat nicht viel, aber doch etwas mit der Aura gemeinsam, wie Walter Benjamin sie versteht. Bei ihm ist die Aura ja etwas Fernes, trotz der Nähe, etwas Unerreichbaren, Unannahbares. Ich verstehe das Unauratische als die vermeintliche Nähe, die so nahe scheint, dass sie gleichzeitig verständlich, vorhersagbar und so schablonenhaft und partiell ist, dass es wiederum uninteressant ist, aber auch nicht exotisch genug sein kann. Dem man im Zweifelsfall zunächst Ablehnung oder zumindest Skepsis entgegenbringt, bevor man geneigt ist, nachzuschauen, was da eigentlich ist. Ich verstehe unter einer Aura etwas, was einer Kultur vorauseilt, als Nimbus schon immer da ist, bevor man mit einem Phänomen zu tun hat, was eine Kultur vor negativen Klischees schützt und ihr positive Vorurteile beschert. Etwas, bei dem man im Zweifelsfall davon ausgeht, dass es sich lohnt, sich mit dieser Kultur zu beschäftigen, noch bevor man zu Gesicht bekommt, mit was genau. Diese Kulturen nennt man noch ›große‹ und ›kleine‹, ›universale‹ und ›periphäre‹, ›metropolitane‹ und ›provinzielle‹. Doch ist es ganz evident, dass es sich bei den ›auratischen‹ fast ausschließlich um die (post)imperialen Kulturen handelt, bei den ›unauratischen‹ – ausnahmslos um die (post)kolonialen. Und das alles innerhalb Europas. Dass die irische Literatur zu den ›auratischen‹ zählt, hat sie nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass sie sich mit der großen, mit der englischen Sprache identifiziert hat. Anders die Ukraine, die keine große Sprache nutzt, zum Beispiel die Russische. Und dennoch: Ließe man sich einmal ernsthaft auf die ukrainische Kulturgeschichte ein, so würde man ziemlich schnell feststellen, dass alle ihre Hauptentwicklungslinien und zentralen Episoden integrale Bestandteile der gesamteuropäischen Kultur und Geschichte, ja von ihr gar nicht wegzudenken sind. Ohne den gesamteuropäischen Kontext ist die gesamte ›ukrainische Idee‹ nicht zu erklären, ohne sie ergibt sie keinen Sinn, bleibt sie ein Torso. Bloß: Was ist diese ›gesamteuropäische Kultur‹? Wer definiert sie und wie verorten wir darin die ukrainische Kultur?

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Man hat im westlicher gelegenen Europa zur Ukraine, ihrer Kultur und Geschichte in der Regel keine richtige Beziehung, genauer: so gut wie keine, und ganz ehrlich: eigentlich überhaupt gar keine. Man hat sich mit dem Land kaum beschäftigt und beschäftigt sich auch weiterhin kaum mit ihm. Warum auch? Man stellt sich die Ukraine als ein sehr junges Land vor (das sozusagen gerade erst auf der Landkarte aufgetaucht ist), bar jeder Geschichte. Trotz seiner Größe ist es nicht ausreichend gewichtig, es ist zu wenig interessant, zu wenig geheimnisvoll und nicht attraktiv genug, als dass man sich mit ihm befassen müsste. Seit den jüngsten Ereignissen hält man es vielleicht allenfalls für gefährlich. Lohnt es sich überhaupt, sich auf Länder wie die Ukraine einzulassen? Kann man kulturell von ihnen profitieren? Oder wäre das nicht sogar kontraproduktiv: Vielleicht macht einen das nur depressiv, wenn man sich mit dem ganzen Ausmaß an erahnbaren Tragödien auseinandersetzt, die sich dort abspielten und vielleicht immer noch abspielen und von denen man besser gar nichts wissen will? Es scheint komfortabler, in diesem liebgewonnenen Unwissen zu verharren, denn damit bleiben alle Möglichkeiten offen: Eine herrliche Fremdheit, am besten sogar Exotik, die die Überzeugung bestärkt, das alles gehöre nicht dazu, das alles habe mit uns nichts zu tun. Will man wirklich diese Flächen opfern, auf die sich alles so herrlich projizieren lässt? Meist beschäftigt man sich ja mit einer Gegend, weil diesem Land, dieser Stadt eine bestimmte Aura vorausgeht. Je klarer die Kontur dieser Aura, desto strahlender ist sie. Mit Wien geht es uns so oder mit Andalusien oder mit Samarkand. Diese Aura beruht auf sedimentiertem Geschichtswissen und funktioniert auch, ohne dass oder bevor man sich mit der Kultur auseinandersetzt. Voraussetzung dafür ist, dass die Geschichte dieser Gegend für wichtig erachtet wird. Das wiederum hat mit dem Gewicht eines Landes zu tun. Gewicht wird gemessen entweder am heutigen (geo-)politischen Gewicht oder am Gewicht des Beitrags für die Kultur der Menschheit. Die Ukraine gehört nicht zu den Ländern mit Gewicht. Ihre Geschichte wird jenseits der Landesgrenzen nirgendwo gelehrt oder gelernt. Man weiß dementsprechend auch nichts von der dortigen Kultur. Die Ukraine gehört zu den Ländern, denen so gut wie keine Aura vorauseilt. Je weniger Aura ein Land umgibt, umso mehr Platz gibt es für negative Stereotypen (denn Aura bedeutet in den meisten Fällen nichts anderes als positive Klischees). Kommt es in diesen unauratischen Ländern zu Revolte, Krieg oder Gewalt und dauern diese dann lange genug, so dass auch das fernere Ausland begreift,

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dass nicht nur das Ursprungsland, sondern auch Länder oder größere Gebiete der auratischen Kultur davon betroffen sind, ist man zunächst gezwungen, sich mit dem aktuellen Geschehen dort auseinanderzusetzen. Eskaliert die Gewalt und wird das Geschehen zu unübersichtlich, beschäftigt man sich allmählich auch mit der Geschichte des Landes. Wird die Situation schließlich als bedrohlich empfunden, so befasst man sich auch mit seiner Kultur. Denn Kultur wird gemeinhin dem Krieg entgegengesetzt, man erblickt darin das Gegengewicht und Mittel gegen Krieg und Gewalt schlechthin. Ob dies nun wirklich so ist, sei dahingestellt, die Illusion aber wollen wir aufrechterhalten. Auffallend ist, dass die Frage nach der Kultur unauratischer Länder sich erst dann stellt, wenn dort etwas passiert, was nicht nur das Dort, sondern auch das auratische Hier bedroht. Dieser Umstand verrät etwas über das Verhältnis von Gewalt, Kultur und Wahrnehmung. Gewalt ist ein wichtiges Fundament, ja offenbar eine unabdingbare Voraussetzung ›großer Kulturen‹. ›Kleine Kulturen‹ werden oftmals erst durch Gewalt wahrgenommen. Das ist kein Wunder – denn auch die großen (auratischen) Kulturen basieren auf Gewalt. Flämische Tapisserien, Tizian-, Velásquez- und Rubensbilder, Kunst-, Schatz- und Rüstungskammern, antike, orientalische und ethnologische Sammlungen, die exzeptionelle Dichte und Qualität von Kirchen, Klöstern, Schlössern und Palais, von herrlichen und herrschaftlichen Gartenanlagen, Orangerien, das Niveau von Universitäten, Akademien und Bibliotheken, erstklassige Museen und Galerien sind eben nicht einfach so gegeben. Sie sind fast immer Folgen einer imperialen Herrschaft, fast immer in Vielvölkerreichen. Oder zumindest im Raum einer Großmacht. Auch in der Ukraine ist viel entstanden: Ikonen, byzantinisch geprägte Romanik, Heldenepen, Holzkirchen, bestickte Blusen, Gogol‘, Bulgakov, Malevič, Celan, Bruno Schulz, Joseph Roth. Aber alles, was seinen Ursprung in der heutigen Ukraine hat, ist zugleich Vielvölkerimperien geschuldet, in diesem Fall mehreren zugleich. Diese Tatsache wird nicht mit der ukrainischen Kultur in Verbindung gebracht, weil die Ukraine als politisches und historisches Gebilde nie eine Rolle gespielt hat. Umgekehrt kennen auch die Ukrainer die ›eigene‹ Kultur nicht gut genug, um daraus eine narzisstische Ressource zu machen. Sie sind allzu oft hin- und hergerissen zwischen kompensatorischem Größenwahn (»Unsere Kultur ist die älteste und alle wichtigen Künstler sind in Wirklichkeit Ukrainer«) und resignativer Verzweiflung (»Es ist alles nichts, wir haben gar

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nichts vorzuweisen; wenn man sich messen wollte mit den ›richtigen‹ Kulturen, wäre es ein einziges Desaster; lieber gleich aufgeben und sich einer großen und bedeutenden Kultur anschließen«). So offenbart sich ein weiteres Phänomen: unsere Neigung, die kulturellen Errungenschaften ehemaliger Vielvölkerreiche mit der Titular-, sprich Imperialnation gleichzusetzen, und die Kulturen aller anderen Völker entweder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder auf schiere Folklore, auf die bäuerliche Kultur zu reduzieren. Österreich ist heute Kultur pur, die Ukraine ist kulturelles Niemandsland. Es bedurfte Revolten, damit man auf ein europäisches Land wie die Ukraine aufmerksam geworden ist. Es bedurfte eines Krieges gegen dieses Land, als Strafe für die versuchten Revolten, bis man nun anfängt, nach seiner Kultur zu fragen. Da ist er wieder, der intime, der psychologische Zusammenhang zwischen Gewalt und Kultur, der sich in unserer Neigung offenbart, ›große‹, ›richtige‹, ›hohe‹ Kulturen mit den (post-)imperialen gleichzusetzen. Dabei mag noch so viel historische Aufklärung und Aufarbeitung geleistet worden sein, mögen Eroberungen, Kriege, Unterjochung noch so scharf wie scharfsinnig veurteilt werden – die Faszination (post-) imperialer Kulturen scheint darunter überhaupt nicht zu leiden, ganz als wären sie ein besonderer, von allen gewaltsamen Aspekten isolierter Bereich des reinen und unbefleckten Geistes. Auf die (post-)imperiale Kultur kann man ohne schlechtes Gewissen stolz sein. Ja mehr noch, gerade die Gewalt macht diese Kultur sexy. Einerseits postuliert man Gewalt und Kultur als Gegensätze. Andererseits kommt das imperiale Denken wieder durch die Hintertür herein: In der Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie feiert es fröhliche Urständ und hält sich hartnäckig. Der Tendenz, Kultur als zentral oder peripher zu lokalisieren, und diese Loci dann zu verewigen, ist nicht beizukommen. (Kultur-)›Metropole‹ und ›Provinz‹ gehören – entgegen jedem Anschein und trotz aller Konjunktur – in Wirklichkeit zu den am wenigsten reflektierten Begriffen. Diese peripheren, unauratischen Länder stehen im Abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Das offenbart eine traditionelle Schwäche sowohl des Westens als auch des ihm in seinem Kanon nacheifernden Restes der Welt: die Schwierigkeit bis Unmöglichkeit, sich eine wirklich attraktive Kultur anders vorzustellen als (post-)imperial. Diese mangelnde Fantasie verdeckt eine Reihe von Schwierigkeiten, denen man sich nicht stellen will. Eine

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wirkliche Auseinandersetzung kostet Mühe, und man ist nicht sicher, ob dieser Aufwand sich lohnt. So wehrt man sich gegen die Komplexität mit zwei Strategien: Entweder man erklärt die ukrainische Geschichte für zu unübersichtlich und folglich für unverständlich. Man kapituliert vor der komplexen Anforderung, ein Narrativ für die ukrainische Kultur zu entwickeln. Oder man ordnet sie anderen, ›wirklichen‹ Geschichten (der russischen, der habsburgischen) als Unterkapitel zu. Beides macht etwas ganz offensichtlich: die kardinale Schwierigkeit des Westens, sich – trotz aller Beteuerungen, der Arbeit an sich und seinen verdrängten hegemonialen Mentalitätsderivaten – den Nutzen und die Notwendigkeit anderer Geschichtsmodelle als des eigenen, (post-)imperialen, einzusehen. Aber gerade daran könnte die kulturelle Ignoranz oder Arroganz ja auch ein wenig genesen. Denn sich damit zu beschäftigen, heißt, die meist unbewussten, aber immer übermächtigen Mechanismen ein wenig zu begreifen, mit denen verschiedene Kulturen in Europa – und verschiedene Geschichten – hierarchisiert, gewertet und (nicht) wahrgenommen werden. Eine genaue Auseinandersetzung mit einer Kulturgeschichte erschwert nämlich das Beibehalten der Projektionen und Vorurteile, die Überzeugung, man wisse es sowieso alles viel besser, ganz enorm. Sie unterminiert erheblich die Neigung, ›Provinzialitäten‹, ›Ränder‹ und ›Peripherien‹ auch noch geografisch festlegen und in dieser so geschaffenen Ordnung den Überblick haben zu wollen. Stattdessen ist man gezwungen, die entsprechende Gemeinschaft ernst zu nehmen, ohne einfach in das falsche Pathos von der natürlichen Ebenbürtigkeit aller Kulturen zu verfallen. Warum brauchen wir heute noch überhaupt eine Aura? Wäre es nicht einfacher, sich einzugestehen, das Spiel mit der Aura ist ein Spiel von gestern, und heute geht ein völlig anderes Spiel? Schön wär es, und vielleicht sogar gerecht, nur: das Auratische – wie das Unauratische übrigens auch –ist ebenso sehr zum bestimmenden Anteil in den gängigen Wahrnehmungen geworden, so zäh, so mythologisiert, dass es überhaupt nicht irrelevant ist. Man muss sich vielleicht lieber sagen, eine ›Arbeit an der Aura‹ ist zwar mühsam, aber nach wie vor unabdingbar. Damit ließe sich übrigens die bei Benjamin fehlende historisch-dynamische Dimension des Auratischen ergänzen. Aber: Natürlich sieht die Arbeit an der Aura heute ganz anders aus. Sie muss das herkömmliche System von ›imperial-kolonial‹ transzendieren, und dabei fällt den Übersetzern – und damit wären wir wieder bei den Lebensläufern

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vom Anfang – eine sehr gewichtige Rolle zu. Übersetzen, Ausstellen, Demonstrieren, Erzählen und Kommentieren – das sind die neuen, postkolonialen Mittel der ›Arbeit an der Aura‹. Aber auch in diesem Bereich können wir die postkolonialen Derivate beobachten, beispielsweise bei der Tätigkeit von nationalen ›Popularisierungsund Bekanntmachungsinstitutionen‹: die reichen postimperialen Nationen mit British Council, Institut Français, Goethe-Institut und ähnlichen Institutionen sind den ›armen‹ postkolonialen Kulturen voraus. Hier kann man, muss man fast fragen: warum ist in unseren Tagen der Begriff von ›nationalen Kulturen‹ nach wie vor so wichtig? Und daher auch ›nationalen Auren‹. Warum können sie in der globalisierten (und vielfach postnational geglaubten und missverstandenen) Welt nicht von ›persönlichen Auren‹ ersetzt werden? Dazu gibt es mehrere Gründe: Der nationale Fokus lässt diese wichtige postkoloniale Problematik nicht so einfach in der amorphen Rhetorik der Globalisierung aufgehen und sich so der Frage nach Folgen von kulturellen Imperialismen und Kolonialismen entziehen. Noch wichtiger ist aber – und das sehen wir gerade am Beispiel Ukraine–Russland – wie zäh diese nationalen Kategorisierungen sind und welche verheerenden oder zumindest verhängnisvollen Folgen die gängigen Vorstellungen von ›Ländern, mit Hochkulturen ausgestattet‹ versus ›kultur-, geschichts-, und ergo auch kulturgeschichtslosen Ländern‹ haben, die zu bombardieren eigentlich kein wirklicher Verlust ›für die Menschheitskultur‹ darstellt. Der Lebenswert einer bloß biologischen Bevölkerungsmasse ist sicherlich geringer als der einer ›Kulturnation‹. Russland, sein Vorgehen, seine Logik, auch seine Propaganda werden daher viel ernster genommen, die Bereitschaft, sich mit den Aktivitäten einer ›Weltkultur‹ auseinanderzusetzen ist immer höher, und die Neigung, der Propaganda zu glauben, auch. Wie viel einfacher es Russland fällt, die Ukraine zu diffamieren, weil es eben eine imperiale Macht war, die mit einer großen Aura ausgestattet ist. Dazu kommt das völlig ungleiche symbolische Kapital, das hinter einem Russland und hinter einer Ukraine steht. Hier lässt sich beobachten, was es heißt und verheißt, wenn der Aggressor eine auratische Kultur repräsentiert und das Opfer eine unauratische. Wie gern man dazu neigt, die Verbrechen zu relativieren, wenn sie von großen Kulturen verübt werden. Und wie schwer es andererseits ist, ein Land mit unauratischer Kultur erst einmal zu erklären, zu vermitteln, wie es immer wieder in Erklärungsnot gebracht wird, in den Rechtfertigungsmodus.

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An dieser Stelle müssen wir uns die entscheidende Frage stellen, ob wir in das große Konzert europäischer Kultur nur das Auratische aufnehmen wollen, Exzellentes, nur Höhenflüge. Damit verliert man aber Zusammenhang und Zusammenhalt. Ohne diese Zusammenhänge wird es immer Lükken geben, umso größere, als sie nicht einmal bemerkt werden dürften. Warum ist man bereit, diese Lücken entstehen zu lassen, warum duldet man sie? Die unauratischen Kulturgeschichten verraten unter anderem auch das Verdrängte, das Verschmähte und Peinliche der europäischen Kultur, vom Verbrecherischen ganz zu schweigen. Kultur ist nicht nur dazu da, Großartiges, Glanz und Gloria zu zelebrieren, sondern auch die tiefsten Täler unserer Existenz zu reflektieren. In den unauratischen Kulturen werden sie weniger mit Dekor verdeckt. Für Tragödien ist immer Material da, für Dekor nur gelegentlich. Vielleicht täte es auch den ›großen Kulturen‹ gut, sich einmal im Spiegel der unauratischen zu betrachten, ihrer Entwicklungen, Institutionen und Verwicklungen. Noch besser wäre es allerdings, diese beiden als ein wechselseitig bedingtes, wenn auch vielfach gebrochenes Kontinuum zu sehen. Die ›unauratischen‹ Kulturen werden ewig ›unvollständig‹ bleiben in diesem alten Sinn des Hochimperialismus. Sie werden es nie schaffen, die ›auratischen‹ einzuholen. Bleibt man in diesem Paradigma (was gar nicht so selten der Fall ist) und folglich auch in diesem irrsinnigen Wettstreit, in diesem Kompensationswahn, kann man weder etwas gewinnen noch eine eigene kulturelle Selbstverständlichkeit finden. So eine kulturelle Identität wird immer sekundär, d.h. defizitär bleiben. Und es wird immer bleiben diese ›koloniale Scham‹, dieser gekränkte Narzissmus, diese quälende und hemmende Minderwertigkeitsgefühl, das jederzeit in Überlegenheitsphantasien zu kippen droht. Demnach geht es um etwas ganz anderes. Es geht darum, dieses Paradigma zu verlassen und die eigene Kulturgeschichte aus der Zeit der Hochimperialismen als ›normal‹ in dem Sinne zu verstehen, dass es unter diesen Umständen gar nichts anderes geben konnte, dass diese eigene Kultur aber gleichzeitig die Rückseite, die Kehrseite von imperialen Hochkulturen ist. Innerhalb dieses Paradigmas ist nichts mehr wiedergutzumachen. Außerhalb aber sehr wohl. Man muss sich verabschieden von der Vorstellung, man müsse Reue und Abbitte verlangen (oder zumindest erwarten), von Schuldzuweisungen einerseits und Rechtfertigungen der eigenen ›strukturellen Unvollkommenheit‹ andererseits. Sondern lieber auch diesen ›unvollständigen und

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unvollkommenen Kulturen‹ neue Einsichten abgewinnen und so zu einer souveräneren Selbstverständlichkeit gelangen. Es geht mir vor allem um diese Einsicht: Die ›auratischen‹ und die ›unauratischen‹ Kulturen sind Dimensionen und Folgen von gleichen – und das heißt eben auch gemeinsamen – Prozessen. Sie sind auch die jeweiligen Rück- und Kehrseiten voneinander. Es geht darum, ein neues Konzept von diesem Kontinuum zu formulieren und zu formieren, zwar mit unterschiedlichen Eigenschaften, aber ohne unüberwindliche, qualititative und hierarchische Trennungen. Wenn wir Europa wirklich ernst nehmen würden, würden wir es kaum anders denken als ein kulturelles Kontinuum, nicht im Sinne von friedfertiger Widerspruchslosigkeit, sondern als ein Gebilde, das man ohne die größeren Kontexte nicht adäquat verstehen kann – nicht die herrliche Größe der großen Kulturen, aber auch nicht die vermeintliche Misere der unauratischen.

Autorinnen und Autoren

Blagus, Monika, Dr., schloss 2008 das Germanistik- und AnglistikStudium Universität Zagreb ab. Seit 2009 ist sie an der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität Zagreb tätig, bis 2015 Doktorstudium in Linguistik (Betreuer Prof. Dr. Mirko Gojmerac und Dr. Radegundis Stolze). Als DAAD- Stipendiatin verbrachte sie das Wintersemester 2013/2014 an der TU Darmstadt. Ihr Forschungsinteresse liegt in den Bereichen der Übersetzungswissenschaft, Hermeneutik und Fachübersetzen. Dissertation: Die fachliche Übersetzungskompetenz - eine empirische Studie am Beispiel musikwissenschaftlicher Texte (Diss, 2015. Car, Milka, Dr., ao. Prof., studierte Komparatistik und Germanistik an der Universität Zagreb. Seit 2000 am Lehrstuhl für Literaturwissenschaft der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät Zagreb tätig, ab 2014 als ao. Professorin. Magisterarbeit über die Rezeption der deutschsprachigen Dramatik im kroatischen Theater in Zagreb 1894-1939 (2003), Dissertation über den deutschsprachigen Dokumentarroman im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (2008). Rezensentin deutschsprachiger Neuerscheinungen für das Dritte Programm des Kroatischen Rundfunks. Längere Studienaufenthalte in Wien und München. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Dramatik in Kroatien, Dokumentarroman in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts Dathe, Claudia, studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk (Russland) und Krakau. Von 1997 bis 2004 arbeitete sie als DAAD-Lektorin in Kasachstan und der Ukraine. Nach ihrer Rückkehr war sie als freiberufliche Übersetzerin für

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Ukrainisch und Russisch tätig und führte Seminare für Nachwuchsübersetzer durch. Seit 2009 ist sie als Koordinatorin für Projekte zum literarischen Übersetzen am Slavischen Seminar der Universität Tübingen tätig, von 2013 koordinierte sie das EU-Projekt »TransStar Europa«. Claudia Dathe hat u.a. die ukrainischen Autoren Serhij Žadan, Tanja Maljarčuk und Andrej Kurkov ins Deutsche übersetzt. Hončar, Olha ist Kulturwissenschaftlerin, Kulturmanagerin im Programm »Kulturdiplomatie zwischen den ukrainischen Regionen« der Kyjiver NGO Ukrainisches Krisenmediacenter (Ukraine Crisis Media Center), erforscht den Bereich Literaturmanagement in der Ukraine. Ivanyc’ka, Maria, Univ.-Doz. Dr., studierte Germanistik an der Universität Černivci. Wissenschaftliche Aufenthalte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an den Universitäten Wien, Düsseldorf und Tübingen. Nach der Promotion 1994 lehrte sie an der Universität Černivci; seit 2000 ist sie als Dozentin des Lehrstuhls für Theorie und Praxis des Übersetzens aus dem Deutschen an der Kyjiver Nationalen Taras-Ševčenko-Universität tätig, wo sie seit 2011 am Habilitationsprojekt zum Literaturübersetzen und deutschukrainischen Literaturbeziehungen arbeitet. Sie hat einige Werke von P. Turrini, J. Hermann, A. Hilling, F. Werfel, E. Hummel, E. Profousová ins Ukrainische übersetzt. Forschungsschwerpunkte: translation studies, cultural studies, deutsche Literatur in der Bukowina, deutsch-ukrainische Literaturbeziehungen, Semantik und Syntax der deutschen Sprache. Jabłkowska, Joanna, Prof., Leiterin des Lehrstuhls für deutschsprachige Literatur und Kultur an der Universität Łódź. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Literatur und Politik, Utopie und Apokalypse. Zuletzt erschienene Studien u.a.: Der geschundene oder verstümmelte Körper als politisches Instrument. Zu Heiner Müllers ›Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar‹ (2014); Kollision oder Umkodierung? Zur ‚treuen‘ Literaturverfilmung am Beispiel von Werner Herzogs Woyzeck (2015); Gedächtnis und Gemütlichkeit. Zur kritischen ‚Aufarbeitung‘ der Vergangenheit in der österreichischen Literatur. In: TEXT + KRITIK. Sonderband IX (2015).

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Lukas, Katarzyna, Dr. phil., Germanistik-Studium und Promotion (2006) an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, Polen. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Gdańsk. Publikationen zum literarischen Übersetzen (deutsch/polnisch/ englisch), zur Komparatistik und Kulturwissenschaft, u.a. Das Weltbild und die literarische Konvention als Übersetzungsdeterminanten. Adam Mickiewicz in deutschsprachigen Übertragungen (2009). Mitherausgeberin von Sammelbänden, u.a. Translation im Spannungsfeld der ›cultural turns‹ (2013), Deutsch im Kontakt und im Kontrast. Festschrift für Prof. Andrzej Kątny zum 65. Geburtstag (2014). Nazarkevyč, Chrystyna, Dr., lehrt am Lehrstuhl für Deutsche Philologie der Nationalen Ivan-Franko-Universität L’viv Theorie und Praxis des Übersetzens und verfasst wissenschaftliche Publikationen im Bereich der Translationswissenschaft und Stilistik. In der unterrichtsfreien Zeit ist sie Übersetzerin von wissenschaftlicher und literarischer Prosa, lyrischen und dramatischen Texten ins Ukrainische. Übersetzt Fachliteratur und Belletristik; unter den von ihr übersetzten Theaterstücken waren Martin Heckmanns’ Kommt ein Mann zur Welt und Ulrich Hubs An der Arche um acht. Zuletzt übersetzte sie den Romane Alle Tage von Terezia Mora und Mehr Meer von Ilma Rakusa. 2011 war sie im Rahmen des Projektes »Textabdrücke« Gastdozentin an der Universität Tübingen. Pełka, Artur, Dr. phil., seit 2001 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der Universität Łódź; Humboldt-Stipendiat. 2004 Promotion zum Körperdiskurs in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Werner Schwab. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Drama im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Theater in Polen, österreichische Gegenwartsliteratur, Körperlichkeit und Gewalt, gender- und queer-studies. Herausgeber diverser Sammelbände; zuletzt erschienen: Junge Stücke (transcript 2014). Prochasko, Jurko, Germanist, Übersetzer, Essayist, Publizist (Krytyka, Tygodnik Powszechny, Die Zeit, Frankfurter Rundschau u.a.) und Ausstellungskurator. Seit 1993 am Iwan-Franko-Institut der ukrainichen AW in L’viv tätig tätig ist sowie an der Iwan-Franko-Universität und dem von ihm mitbegründeten Psychoanalytischen Institut. Studierte Germanistik und

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Psychologie an der Universität L’viv und absolvierte Ausbildung zum Gruppenanalytiker in Altaussee. Übersetzt aus dem Deutschen (u.a. H. v. Kleist, R. Musil, J. Roth, F. Kafka, R. M. Rilke), Polnischen (J. Wittlin, J. Iwaszkiewicz, L. Kołakowski) und Jiddischen (Deborah Vogel). Korrespondierendes Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste. FriedrichGundolf-Preisträger für Vermittlung der deutschen Kultur im Ausland der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Österreichischer Staatspreis für literarische Übersetzung Translatio. 2014-15 visiting fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. Redaktionsmitglied der Kyjiver Monatschrift Krytyka. Schahadat, Schamma, Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen; Leiterin des EU-Projekts »TransStar Europa«. Promotion und Habilitation an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: russische und polnische Literatur, Filmgeschichte, Literatur-, Kultur- und Übersetzungstheorie. Neueste Publikationen u.a.: Gut und schön? Die neue Moralismusdebatte am Beispiel Dostoevskijs, hg. mit C. Misselhorn, I. Wutsdorff und S. Döring (2014); Zwischentexte. Literarisches Übersetzen zwischen Theorie und Praxis, hg. mit C. Dathe und R. Makarska (2013); Der polnische Film von den Anfängen bis in die Gegenwart, hg. mit K. Klejsa und M. Wach (2012). Schödel, Karmen, geboren in Reutlingen, aufgewachsen in Deutschland und Slowenien. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Maribor im Bereich der Wirtschaftsprüfung zunächst in Ljubljana und ab 2001 in Nürnberg tätig. 2005 staatliche Prüfung als Übersetzerin für die slowenische Sprache beim Amt für Lehrerbildung Darmstadt. Öffentlich bestellte und beeidigte Übersetzerin für die slowenische Sprache, Mitglied im Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer e.V. (BDÜ). Seit 2006 freiberufliche Übersetzerin mit den Arbeitssprachen Deutsch und Slowenisch, Schwerpunkte: Recht, Wirtschaft, Technik, Tourismus, Kultur, Literatur. Weitere Tätigkeiten: Dolmetschen, Vertonung, Sprachunterricht, interkulturelles Coaching. Sidowska, Karolina, Dr., lehrt am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der Universität Łódź. Studium der Polonistik und Germanistik in Łódź und Tübingen. Dissertation:

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Repräsentationen der Emotionen in der expressionistischen Lyrik. Eine kognitivistische Analyse (Łódź 2012). Forschungsschwerpunkte: Kognitivismus in der Literatur, Theorie der Affekte, deutsche und polnische Literatur der Jahrhundertwende und der Gegenwart. Smodiš, Irena, geboren und aufgewachsen in Ljubljana, verbrachte aber einige Jahre in Wien und Berlin. Zurzeit schreibt sie ihre Master-Thesis an der Abteilung für Germanistik, Nederlandistik und Skandinavistik der Philosophischen Fakultät in Ljubljana. Sie übersetzt aus dem Deutschen und Schwedischen ins Slowenische, unterrichtet Deutsch als Fremdsprache und arbeitet für den slowenischen Verlag Beletrina. Trupej, Janko, Dr., nach dem Studium des Übersetzens und Dolmetschens (Englisch und Deutsch) an der Universität Maribor 2013 promovierte er an der Universität Ljubljana mit einer Dissertation über das Übersetzen vom rassistischen Diskurs. Die Resultate seiner Forschungen präsentierte er u.a. in den Zeitschriften Slavistična revija, Primerjalna književnost, ELOPE und MIR. Post-doc Forschungsaufenthalt an der Universität Tübingen; Teilnahme am Projekt »TransStar Europa«. Er arbeitet als freiberuflicher Übersetzer und Dolmetscher, arbeitete ehrenamtlich für UNICEF und unterrichtete einen Business Englisch Kurs im Rahmen des Zentrums für lebenslanges Lernen der Philosophischen Fakultät Maribor. Vachovs’ka, Nelja ist ukrainische Germanistin, Literaturübersetzerin und Herausgeberin, promoviert zur deutschen Wendeliteratur. Weinberg, Manfred, Prof. Dr., studierte Germanistik, Biologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn und promovierte 1992 dort mit einer Dissertation über Hubert Fichte. Ab 1993 Postdoktoranden-Stipendiat im Graduiertenkolleg Theorie der Literatur an der Universität Konstanz; dort weitere Anstellungen sowie Lehrstuhl-Vertretungen. 2001 Habilitation mit einer Arbeit zum Thema Erinnerung/Gedächtnis. Seit Herbst 2010 (als DAAD-Langzeitdozent) Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Karls-Universität Prag. Mitglied u.a. des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik sowie der brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien. Leiter der »Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur« an der Karls Univer-

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sität Prag; Mitglied des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats sowie des Vorstands der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik. Wlostowska, Magda, geboren in Wroclaw, studierte Politikwissenschaft, Ost- und Südosteuropawissenschaften sowie Polonistik in Leipzig. Danach wissenschaftliche Mitarbeit am Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig und am Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Seit 2010 ist sie staatlich geprüfte Übersetzerin für Polnisch und übersetzte im Rahmen des europäischen Literatur- und Übersetzungsprojektes TransStar Teile aus Sylwia Chutniks Roman Dzidzia ins Deutsche. Sie lebt in Leipzig und arbeitet an einer Promotion zu linken und alternativen Milieus in Polen. Zbytovský, Štěpán, Ph.D., wissenschaftlicher Assistent am Institut für germanische Studien und Mitarbeiter der Kurt-Krolop-Forschungsstelle für deusch-böhmische Literatur an der Karls-Universität in Prag. Studierte evangelische Theologie und Germanistik in Prag; Cotutelle-Promotion an der Karls-Universität Prag und Universität Konstanz mit der Dissertation Mythologie und Geschichte. Studien zur deutschen Literatur der und der frühen Nachkriegszeit (1945-1953). Forschungsschwerpunkte: Mythos und Literatur, Deutschböhmische Literatur und Publizistik, Expressionismus, westdeutsche Literatur nach 1945. Zlatnar Moe, Marija, Dr., Dozentin für Translationswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana. Längere Studien- und Forschungsaufenthalte in London und Oslo, 2003 Promotion in Literaturwissenschaften. Ihr wissenschaftliches Interesse fokussiert sich auf literarisches Übersetzen (Prosa und Dramatik) und auf Forschungen zu den stilistischen Veränderungen beim Übersetzen der Unterhaltungsliteratur. Sie ist literarische Übersetzerin aus dem Norwegischen ins Slowenische. Forschungsschwerpunkte: Übersetzen von Drama- und Prosatexte, Stereotypen und nationale Bilder in den Übersetzungen, ideologische Merkmale der Zielkultur und ihr Einfluss auf die Übersetzung, Lesekultur und ihr Einfluss auf die Qualität der Übersetzungen.

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Žigon, Tanja, Dr., studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Ljubljana, längere Studien- und Forschungsaufenthalte im Rahmen verschiedener Projekte in Udine (Italien), Wien, Salzburg (Österreich) und München. 2008 Promotion in Literaturwissenschaften, seit 2009 Dozentin für Translationswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana und Leiterin der Forschungsgruppe Interkulturelle Literaturwissenschaft bei der slowenischen Forschungsagentur. Sie übersetzt aus dem Deutschen ins Slowenische, vor allem historische Texte und Archivdokumente. Forschungsschwerpunkte: deutsch-slowenische literarische Wechselbeziehungen, interkulturelle Literaturgeschichte (Zeitungs- und Theaterwesen) und kulturorientierte Translationswissenschaft.

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Corinna Albrecht, Andrea Bogner (Hg.) Tischgespräche: Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft Januar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2206-5

Lavinia Heller (Hg.) Kultur und Übersetzung Studien zu einem begrifflichen Verhältnis August 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2963-7

Elena Enda Kreutzer Migration in den Medien Eine vergleichende Studie zur europäischen Grenzregion SaarLorLux Mai 2016, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3394-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Laura Beck, Julian Osthues (Hg.) Postkolonialismus und (Inter-)Medialität Perspektiven der Grenzüberschreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film März 2016, ca. 270 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2899-9

Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hg.) Die interkulturelle Familie Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven (in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes) 2012, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1880-8

Thomas Ernst, Dieter Heimböckel (Hg.) Verortungen der Interkulturalität Die ›Europäischen Kulturhauptstädte‹ Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010) 2012, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1826-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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