Stadt - Mord - Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa [1. Aufl.] 9783839419182

Auch für den Krimi gilt: Der Westen Europas kennt den Osten selten gut - dennoch ist er von ihm fasziniert. Neben westli

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Stadt - Mord - Ordnung: Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa [1. Aufl.]
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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
AUFBLICK: OST-/ OSTMITTELEUROPA UND DIE WENDE ALS CHRONOTOPOS FÜR KRIMIS
Der ost- und ostmitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region
Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität. Emotionaler und moralischer Raum in einer ,Welt der Lügen und des Überlebens‘
ÜBERBLICK: GENIUS LOCI ODER KULISSE? STÄDTE ALS TATORTE
Die Spieler in den ruhigen Zagreber Straßen. Zwei Kriminalromane der zeitgenössischen kroatischen Literatur
Gib jedem seinen eigenen Mörder. Der glokale Triester Krimi
Wie verhext – Kiew als russische Stadt. Zu Lada Lusinas Romanreihe „Die Hexen von Kiew“
Tod in Moskau oder Das Paradies der armen Frauen
EINBLICK: ERINNERUNGSKULTUR BZW. BRESLAU-KRIMI
Die Kriminalromane von Marek Krajewski: von der Ästhetik zur Anästhetik oder Wie man die Geschichte manipuliert
Retrokryminał Breslau als Erinnerungsor in den Kriminalromanen von Marek Krajewski
Krimi als Zeitmaschine. Realitätseffekte in Marek Krajewskis. Eberhard-Mock-Roman „Festung Breslau“
‚AUSSENBLICK‘: WESTEUROPAS OSTEN
Dienstreisen. Budapest in den Kriminalromanen von Sjöwall/ Wahlöö und Viktor Iro
Die Grube als Topos des Sozialismus oder Archäologie der Gegenwart. „Stalin’s Ghost“ von Martin Cruz Smith und „Nasses Grab“ von Helena Reich
AUSBLICK: POSTMODERNE BZW. PRAG IM (ANTI-)KRIMI
Krimi, Raumerfahrung und Tourismus. Perspektivwechsel in den Krimis „Sedmikostelí“ und „Stín katedrály“ von Miloš Urban
Jáchym Topols „Výlet k nádražní hale“ oder „The Difficult Art of Murder“
Autorinnen und Autoren

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Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung

Lettre

Matteo Colombi (Hg.)

Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Nora Schmidt Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen: Anna Förster Satz: Henrike Schmidt, (p)ostkarte(ll). institut für angewandte kulturforschung Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1918-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7

AUFBLICK: O ST-/ O STMITTELEUROPA UND DIE W ENDE ALS C HRONOTOPOS FÜR K RIMIS Der ost- und ostmitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region

Matteo Colombi | 11 Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität. Emotionaler und moralischer Raum in einer ,Welt der Lügen und des Überlebens‘

Bart Keunen | 29

ÜBERBLICK: G ENIUS LOCI ODER KULISSE? STÄDTE ALS TATORTE Die Spieler in den ruhigen Zagreber Straßen. Zwei Kriminalromane der zeitgenössischen kroatischen Literatur

Alida Bremer | 57 Gib jedem seinen eigenen Mörder. Der glokale Triester Krimi

Matteo Colombi | 79 Wie verhext – Kiew als russische Stadt. Zu Lada Lusinas Romanreihe „Die Hexen von Kiew“

Anna Olshevska | 123 Tod in Moskau oder Das Paradies der armen Frauen

Doris Boden | 151

E INBLICK: E RINNERUNGSKULTUR BZW. BRESLAU-K RIMI Die Kriminalromane von Marek Krajewski: von der Ästhetik zur Anästhetik oder Wie man die Geschichte manipuliert

Małgorzata Smorąg-Goldberg | 175 Retrokryminał – Breslau als Erinnerungsort in den Kriminalromanen von Marek Krajewski

Dirk Kretzschmar | 193 Krimi als Zeitmaschine. Realitätseffekte in Marek Krajewskis Eberhard-Mock-Roman „Festung Breslau“

Wolfgang D. Brylla | 219

‚AUSSENBLICK‘: W ESTEUROPAS OSTEN Dienstreisen. Budapest in den Kriminalromanen von Sjöwall/ Wahlöö und Viktor Iro

Dirk Hohnsträter | 233 Die Grube als Topos des Sozialismus oder Archäologie der Gegenwart. „Stalin’s Ghost“ von Martin Cruz Smith und „Nasses Grab“ von Helena Reich

Marina Dmitrieva | 241

AUSBLICK: P OSTMODERNE BZW. P RAG IM (ANTI-)KRIMI Krimi, Raumerfahrung und Tourismus. Perspektivwechsel in den Krimis „Sedmikostelí“ und „Stín katedrály“ von Miloš Urban

Nora Schmidt | 261 Jáchym Topols „Výlet k nádražní hale“ oder „The Difficult Art of Murder“

Darina Poláková | 287 Autorinnen und Autoren | 303

Danksagung

Jeder Sammelband setzt eine umfangreiche Zusammenarbeit und Unterstützung voraus. Zuallererst möchte ich mich bei den BeiträgerInnen bedanken, die bereit waren, ihre Forschungsergebnisse vorzustellen und zu diskutieren und für die Publikation im Hinblick auf die gemeinsam verfolgte Fragestellung zu überarbeiten. Think tank unserer Arbeit war die Konferenz „Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Settings in der Kriminalliteratur aus Ost-MittelEuropa“ am GWZO Leipzig vom 25. bis 26.3.2010, deren TeilnehmerInnen ich für die anregenden Diskussionen danke. Hilfreiche Denkanstöße habe ich zudem von Prof. Dr. Wolfgang F. Schwarz und unseren StudentInnen des Kolloquiums „Transkulturelle Westslawistik: Prag und Breslau als multiethnische Städte in der Kriminalliteratur“ am Institut für Slavistik der Universität Leipzig im Wintersemester 2011/2012 erhalten. Diese Publikation wäre nicht möglich gewesen, ohne die Unterstützung von Anna Förster (Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen), Nora Schmidt (Stillektorat) und Henrike Schmidt von „(p)ostkarte(ll). institut für angewandte kulturforschung“ (Satz). Ihnen danke ich auch für ihre professionelle Toleranz den Unwägbarkeiten im redaktionellen Alltag gegenüber. Für inhaltlichen und/ oder logistischen sowie technischen Rat habe ich zahlreichen GWZO-KollegInnen zu danken: den Mitgliedern des Forschungsprojekts „Imaginationen des Urbanen“ Arnold Bartetzky, Marina Dmitrieva, Christine Gölz, Alfrun Kliems und Darina Poláková, den studentischen Hilfskräften Iryna Kobevko-Müller, Johanna Noske und Lena Scheidig sowie dem Verwaltungsteam Anja Fritzsche, Anja Radon und Antje Schneegaß. Dem Photographen Jens Klein gilt mein Dank für die Bearbeitung der Bilder. Jennifer Niediek vom transcript Verlag danke ich für die nette und unkomplizierte Betreuung. Schließlich danke ich dem Bun-

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desministerium für Bildung und Forschung, das diese Publikation finanziell ermöglicht hat. In Bezug auf meinen eigenen Aufsatz hätte ich vielen weiteren KollegInnen und FreundInnen zu danken. Es an dieser Stelle zu tun, wäre aber gegenüber den anderen BeiträgerInnen ungerecht, da sie die Möglichkeit nicht haben, hier eine Danksagung zu schreiben. Zu jener Zusammenarbeit, die Sammelbände möglich macht, gehört also auch mancher privater Dank. Berlin, 24.5.2012 Matteo Colombi

Aufblick: Ost-/ Ostmitteleuropa und die Wende als Chronotopos für Krimis

Der ost- und ostmitteleuropäische Krimi zwischen Gattung und Region M ATTEO C OLOMBI

Der vorliegende Konferenzband präsentiert die Ergebnisse der internationalen Konferenz „Stadt – Mord – Ordnung. Urbane Settings in der Kriminalliteratur aus Ost-Mittel-Europa“, die am 25.-26.3.2010 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig stattgefunden hat. Die Veranstaltung war Teil des GWZO-Forschungsprojekts „Imaginationen des Urbanen in Ostmitteleuropa. Stadtplanung – Visuelle Kultur – Dichtung im 20. Jahrhundert“ (Laufzeit: 20062010), das sich die Frage stellte, „wie sich die Denkfigur ,Urbanität‘ in Ostmitteleuropa nach den Weltkriegen und dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Systems ästhetisch ausformt.“1 Die Forschungsgruppe verband den vielschichtigen Begriff Urbanität mit „kosmopolitischer Weltläufigkeit“ und betonte dessen „ästhetische[n] Kern“. Gemeint ist damit „das zwanglose und spielerische Umgehen des Menschen mit seinem sinnlichen und geistigen Vermögen, das durch den gesellschaftlichen Verkehr in der städtischen Lebenswelt stimuliert wird und sich in ihr auch verkörpert“ (Paetzold 2005: 282-283. Zit. n. Bartetzky/ Dmitrieva/ Kliems 2009: 9-10), wobei Zwanglosigkeit und Spiel als relativ und situativ betrachtet werden müssen. Im Fall Ost- und Ostmitteleuropas2 wurden Urbanitäts-

1

Siehe die Webseite des Projekts: http://www.uni-leipzig.de/~gwzo/index.php?op

2

Unter dem Terminus ‚Ostmitteleuropa‘ wird am GWZO Leipzig der Raum zwi-

tion=com_content&view=article&id=209&Itemid=1126 (8.5.2012). schen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria gefasst, d. h. im Groben die Region

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vorstellungen nach der Wende mit politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformationen konfrontiert, die zu herkömmlichen Merkmalen der ost- und ostmitteleuropäischen Stadtlandschaft hinzukamen. Diese sind etwa die „regionaltypische Polyethnizität und -kulturalität oder auch d[ie] im Vergleich zu Westeuropa stärkere rurale Prägung und de[r] damit einhergehende geringere Urbanitätsgrad.“ (siehe Fußnote 1) Zu den Perspektiven, aus denen das Forschungsprojekt „Imaginationen des Urbanen“ Stadtlandschaften unter die Lupe genommen hat, zählt auch die kriminalliterarische. Denn bereits seit dem sogenannten golden age des Krimigenres besteht eine enge Verbindung zwischen Stadt und Kriminalliteratur; die (Groß)Stadt ist der Nährboden des Genres, wie Gilbert Keith Chesterton in seiner kurzen Schrift „A Defense of Detective Stories“ (1901) lapidar formuliert: „A rude, popular literature of the romantic possibilities of the modern city was bound to arise.“ (Chesterton 2006: 144) Auf gattungstheoretischer Ebene erläutert Melanie Wigbers in ihrer Untersuchung zur Raumdarstellung im Krimi „Krimi-Orte im Wandel. Gestaltung und Funktionen der Handlungsschauplätze von der Romantik bis in die Gegenwart“ (2006), warum die Raumrepräsentation – sei sie von Städten sei sie von anderen Handlungsorten – ein gewichtiges Genreelement bildet: Die Kriminalerzählung lebt wesentlich von äußerer Handlung: Ihre Figuren sind aktiv, sie begehen Verbrechen und versuchen sie aufzuklären, sie werten Spuren aus oder bemühen sich, diese zu verwischen, sie verstecken sich, verfolgen sich gegenseitig oder fliehen voneinander. Indem die Charaktere des Krimis sich ständig im Raum bewegen und ihn aufmerksam wahrnehmen, sind sie kontinuierlich auf diesen Raum bezogen. […] Nicht zufällig werden die Figuren immer wieder in Situationen gezeigt, in denen sie Stadtpläne studieren, Telefonbücher wälzen, Streckenbeschreibungen erfragen oder Kontakte zu Ortsbewohnern knüpfen, von denen sie Informationen erhalten können. Das ebenso enge wie misstrauische, prüfende Verhältnis der Figuren zu den Räumen ist ein charakteristisches Merkmal des Krimis. (Wigbers 2006: 12)

zwischen den baltischen Ländern im Norden und Griechenland im Süden Europas (http://www.uni-leipzig.de/gwzo/ [8.5.2012]). Dabei ist es unmöglich eine endgültige Grenzziehung zwischen Ostmittel- und Osteuropa zu ziehen: Eventuelle Differenzierungen müssen kontextabhängig diskutiert werden.

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Aus diesen Grundannahmen zum Zusammenhang von urbanem Raum und Kriminalliteratur ist die Fragestellung von Konferenz und Sammelband entstanden: Kann man behaupten, dass jede ost- und ostmitteleuropäische Stadt ihre spezifische Topographie des Verbrechens produziert, die sich aus der Geschichte und Geographie des Ortes speist? Aus welchen historischen, politischen und symbolischen Quellen schöpfen Krimis über ost- und mitteleuropäische Städte? Bestätigen bzw. unterlaufen ost- und ostmitteleuropäische Krimis städtische Mythen, touristische Routen oder ethnische Klischees? Im Krimi werden Ordnungskomplexe wie Gewalt, Gerechtigkeit und Moral verhandelt. Welche Veränderungen erfuhren und erfahren ostund ostmitteleuropäische Krimis nach den politischen Umbruchszeiten? Wie wird Ordnung räumlich – in Stadträumen, Kulturräumen, Erinnerungsräumen oder auch ethnoscapes – wiederhergestellt? Welche spezifischen literarisch-handwerklichen Eigenschaften weisen die Werke auf, z. B. hinsichtlich Figurenführung, Textinstanzen, Erzählaufbau, Inszenierung des urbanen Settings? Wie verhalten sich allgemeine Regeln des ursprünglich angloamerikanisch und französisch geprägten Genres und geographisch bedingte Merkmale der ost- und ostmitteleuropäischen Krimis zueinander? Obwohl der ost- und vor allem der ostmitteleuropäische Krimi im Westen Europas eine noch relativ unbekannte Größe ist, konnte er in den letzten Jahren in den Buchhandlungen Westeuropas zunehmend Erfolge verzeichnen. Was Deutschland anbelangt, wird diese Betrachtung durch einen Blick auf das beliebte online Krimi-Portal „Krimi-Couch“ bestätigt.3 Unter der Rubrik „Krimis nach Region“ findet man auch „Osteuropa“ (inklusive des Balkans, Griechenlands und der Türkei). Wenn man die interaktive Weltkarte unter „Krimi-Entdecker“ aufruft, werden Ost- und Südosteuropa sogar getrennt visualisiert. Aufgelistet werden für „Osteuropa & Russland“ hauptsächlich Autoren, die über Russland schreiben, aber auch Schriftsteller, die ihre Werke in Moldawien, Polen, Tschechien, in der Ukraine und in Ungarn spielen lassen. Die vorgestellten südosteuropäischen Krimis kommen wiederum aus Bosnien und Herzegowina, Griechenland, Kroatien und der Türkei. Die eingetragenen Krimiautoren sind nicht alle ‚heimische‘, sondern zum erheblichen Teil ‚auswärtige‘ Autoren, d. h. Autoren aus dem ‚Westen‘, die über den ‚Osten‘ schreiben.

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https://www.krimi-couch.de (8.5.2012).

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Die kartographische Darstellung von „Krimi-Couch“ betont zudem, dass sich die jeweiligen Autoren nicht nur mit einem bestimmten Land, sondern auch mit einer gewissen Stadt in Verbindung bringen lassen: Zu Moskau werden z. B. 23 und zu Prag 5 Autoren aufgelistet, darunter auch Martin Cruz Smith, Alexandra Marinina, Helena Reich und Miloš Urban, deren Krimis in diesem Band analysiert werden. Der Krimi aus „Osteuropa“ kennzeichnet sich laut „Krimi-Couch“ dadurch, dass er „Verbrechen in Zeiten des Umbruchs“ erzählt. „Länder wie Polen, die Tschechei [sic!], Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Co.“ seien „für Krimi-Theoretiker eine wunderbare Umgebung: Alte Gesellschaftsstrukturen zerbrechen, neue entwickeln sich mal rasant, mal im Schneckentempo; es gibt neureiche Gewinner, zahllose Verlierer von Krieg und Wende.“4 Demgegenüber muss festgestellt werden, dass eine systematisch vergleichende Erforschung sowohl der Nachwende-, als auch der Vorwendekriminalliteratur aus Ost- und Ostmitteleuropa in Deutschland noch aussteht. Allgemeine gattungsgeschichtliche und -theoretische Untersuchungen über das Krimigenre konzentrieren sich in der Regel auf englisch- und französischsprachige Texte, nicht zuletzt weil die Klassiker des Genres in diesen Sprachen verfasst wurden. Oft wird dieser anglo-frankophone Schwerpunkt durch Einblicke in andere romanische bzw. germanische Literaturen erweitert, selten allerdings durch Beispiele aus Ost- und Ostmitteleuropa. So setzt sich Peter Nusser in seiner Abhandlung „Der Kriminalroman“ (2009) nicht nur mit englisch- und französischsprachigen Krimis, sondern auch mit zahlreichen deutschen Werken auseinander, zu denen auch einige in Deutschland stark rezipierte schwedische Krimis hinzukommen. Weniger repräsentativ sind die Beispiele ost- und ostmitteleuropäischer Autoren. Nusser erwähnt die Russen Boris Akunin und Aleksandra Marinina sowie den Polen Stanisław Lem. 5

4 5

http://www.krimi-couch.de/krimis/krimis-aus-osteuropa.html (8.5.2012). Bei allen drei Autoren handelt es sich um jeweils nur einen einleitenden Satz, mit dem ihre Krimis als Vertreter einer bestimmten Gruppe eingeordnet werden (historischer Krimi bei Akunin, sozialkritischer Krimi bei Marinina und Parodie des Detektivromans bei Lem). Eine weitere neuere Publikation, die sich dem Krimigenre aus vergleichender Perspektive widmet und ein Beispiel aus Ostbzw. Ostmitteleuropa mitberücksichtigt ist der von Immacolata Amodeo und Eva Erdmann 2009 herausgegebene Sammelband „Crime and Nation. Political

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Anders ist die Forschungslage innerhalb der Slawistik, die die slawischsprachige Kriminalliteratur nicht ununtersucht gelassen hat. Dennoch muss man auch hier feststellen, dass umfassende und vergleichende Studien noch fehlen. Neben der systematischen Untersuchung von Norbert Franz „Moskauer Mordgeschichten. Der russisch-sowjetische Krimi 1953-1983“ (1988), sind vor allem Aufsätze und kurze Beiträge zu verzeichnen, die sich entweder mit einzelnen Autoren, mit der Krimitradition in einer sogenannten Nationalliteratur oder mit einem Vergleich zwischen diesen und westlichen Vorbildern bzw. aktuellen Beispielen des Krimigenres beschäftigen.6 Diese Ansätze sind freilich gewichtig, weil sie immer wieder aus komparatistisch-genetischer Perspektive belegen, dass slawische Krimis intertextuelle Bezüge sowohl zu westlichen, insbesondere englisch- und franzö-

and Cultural Mappings of Criminality in New and Traditional Media“. Hier hat der Slawist Holt Meyer einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er sich mit Siebenbürgen beschäftigt, allerdings weder aus einheimischer Perspektive noch anhand eines typischen Krimis, sondern aufgrund der Darstellung der Region in Bram Stoker’s „Dracula“ („,and qua criminal he is of an imperfectly formed mind…‘: Transylvania and Ireland as ,Criminally Deficient Territories‘ and the Terrain of the Sponsa Christi as Accomplice of/in Bram Stoker’s Dracula“). In dem Sammelband „Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften“ von Barbara Korte und Sylvia Paletschek (2009) kann man eine Studie von Elisabeth Cheauré über Akunin lesen („Russland im Strudel des Verbrechens. Geschichte und nationale Identität in Krimis von B.[oris] Akunin“) und eine von Sandra Schauer über den DDR-Krimi („,Die Verbindung Militarismus und Kapital wird offenkundig‘. Zum Geschichtsrekurs in Friedrich Karl Kauls DDR-Kriminalroman Mord in Grunewald (1953)“). Der DDR-Krimi bildet ein in der deutschen Krimiforschung mehrmals studiertes Thema, das u. a. von Nusser untersucht wurde (siehe auch Nusser 2009: 143-145), und repräsentiert eine Schnittstelle zwischen allgemeinliteraturwissenschaftlicher bzw. germanistischer und ost-/ ostmitteleuropäischer Krimiforschung, da die DDR zum Ostblock gehörte und dort ,sozialistische Krimis‘ geschrieben wurden. Es ist deshalb kein Zufall, dass eine deutsche Abhandlung über Kriminalliteratur, in welcher der russische, tschechische und (obgleich weniger) der polnische Krimi einen gewissen Raum beanspruchen, in der DDR entstanden ist: Waltraud Woellers „Illustrierte Geschichte der Kriminalliteratur“ (1984). 6

Siehe die Bibliographien der einzelnen Aufsätze dieses Bandes.

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sischsprachige Vorbildern, als auch zu anderen, innerhalb der eigenen nationalen Tradition zu situierenden Krimis herstellen.7 Zudem erscheint vom Standpunkt der areal studies eine kontrastive Untersuchung von Krimis aus verschiedenen ost- und ostmitteleuropäischen Gebieten gewinnbringend, weil diese Werke unter typologisch vergleichbaren Bedingungen verfasst wurden und werden.8 Mit Hinblick auf die Zeit des Sozialismus ist für Krimis aus fast der gesamten Region die Auseinandersetzung mit einem ähnlichen ideologischen Hintergrund feststellbar. Im Sozialismus, „wo die Kriminalität keinen Platz hat, dürfte auch der Krimi keinen haben“ – doch de facto wurden Krimis geschrieben (Franz 1988: 11 f.). Dieser gemeinsame weltanschauliche Background ist in der ganzen Region zwischen 1989 und 1991 abhanden gekommen, was im zeitgenössischen ost- und ostmitteleuropäischen Krimi laut der bereits erwähnten Darstellung von „KrimiCouch“ dazu geführt hat, dass die Autoren sich mit der Thematisierung des Verbrechens in Zeiten des Umbruchs vom sozialistischen zum kapitalistischen System auseinandersetzen. Begründet der historische Zusammenhang den typologischen Vergleich der Imaginationen des Urbanen in Krimis aus und über verschiedene ostund ostmitteleuropäische Länder, darf trotzdem nicht vorschnell geschlossen werden, es bestünde ein Entsprechungsverhältnis zwischen regionaler Geschichte und literarischen Formen. An dieser Stelle erweist sich die Ergänzung der regionalen Perspektive durch den gattungstheoretischen und -geschichtlichen Ansatz als besonders hilfsreich. Die Aufmerksamkeit für Geschichte und gesellschaftliche Konflikte charakterisiert nämlich nicht nur den ost- und ostmitteleuropäischen Krimi, sondern den zeitgenössischen Krimi im Allgemeinen. Dieser scheint sich besonders stark um „Realitätsnähe und Milieusstudien“ zu bemühen (Nusser 2009: 107). Der ausgeprägte sozial ausdifferenzierende Blick heutiger Krimis erklärt u. a. die Entstehung des sogenannten Regionalkrimis, eines Untergenres, dessen Werke „durch detailgetreue Lokalkolorite und auch dialektale Eigenarten

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In Bezug auf den russischen Krimi beweist das Franz (1988: 67-77). „Während der [literarische] genetische Vergleich als Kontaktstudie Ähnlichkeiten zum Gegenstand hat, die durch Kontakt, d.h. durch direkte oder indirekte Beeinflussung entstehen, werden im Rahmen eines typologischen Vergleichs [literarische] Ähnlichkeiten untersucht, die ohne Kontakt […] zustande kommen.“ (Zima 1992: 94)

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auf den stets Erfolg versprechenden Wiedererkennungseffekt ihrer speziellen Leserschaft zielen und dabei zugleich deren Bedürfnis nach Beobachtung von Konfliktpotentialen in ihrem engeren sozialen Umfeld befriedigen.“ (Nusser 2009: 108) Marieke Krajebrink hat diesbezüglich bemerkt, dass regionalgebundene Krimis nicht nur von ebenso regionalgebundenen Leserschaften geliebt werden, sondern auch vom auswärtigen Publikum. Neben dem Genuss der Wiedererkennung besteht laut Krajebrink auch „the pleasure provided by the tourist gaze. Vivid descriptions of exciting faraway places, especially when combined with an adventurous quest and a sense of danger clearly can make a highly attractive formula, popular to a large leadership.“ (Krajebrink 2009: 60) Erweist sich der Raumbezug im zeitgenössischen Krimi als besonders stark, bildet die Raumdarstellung eine grundsätzliche Komponente des Genres von seinen Anfängen an, wie Wigbers gezeigt hat. Die Bindung zwischen Raumdarstellung und Sozialkritik, die sowohl „Krimi-Couch“ als auch Nusser hervorheben, hat sich in Bezug auf die Stadt zuerst im hardboiled Krimi herauskristallisiert, obwohl es in diesen Texten nicht so sehr um eine bestimmte Stadt, sondern um das Großstädtische im Allgemeinen geht (Wigbers 2006: 95-102). Die sozialkritische Herangehensweise des hard-boiled wurde ab den 1960ern Jahren vom deutschen und skandinavischen „Soziokrimi“ übernommen, wobei es laut Wigbers vor allem die schwedischen Krimis von Maj Sjöwall und Per Wahlöö gewesen sind, die in Anlehnung an Simenons Darstellung von Paris in seinen Maigret-Romanen die Spezifika ihrer Krimischauplätze literarisch gestaltet haben. Die Raumdarstellung sei in diesen Romanen „multifunktional“, sie diene zum einen der kritischen Darstellung von gesellschaftlichen Missständen und gravierenden Machtgefällen, zum anderen der Spannungserzeugung, aber auch der detaillierten Ortsabbildung (Wigbers 2006: 168). Die Linie von Sjöwall und Wahlöö haben dann mehrere, nicht nur skandinavische Autoren übernommen, bei denen die Schauplätze „zu eigenen Themen“ avancierten (Wigbers 2006: 239). U. a. analysiert Wigbers eingehend Donna Leons Venedig-Romane der Commissario-Brunetti-Serie (Wigbers 2006: 221-226), die auch bei Nusser als Beispiele für den Milieu-Krimi erwähnt werden (Nusser 2009: 106). Donna Leon wird von Krajebrink als Vertreterin einer lokal basierten Kriminalliteratur betrachtet, die oberflächlich und stereotypisch operiert und dem Raum nicht viel mehr als die einfache Funktion von pittoreskem Ornament („picturesque décor“) und kli-

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scheehaftem Touristenbild zugesteht (Krajebrink 2009: 61). Dahingegen gibt es laut Krajebrink Krimis, die den Raum reflektiert und kritisch darzustellen wissen: „ […] a mode of crime writing that in its representation of localities is more concerned with exploiting and reflecting social and political issues. It is here that settings can take on the quality of lieux de mémoire, and become important instances in crime fiction as critical memory, reflecting the contested identities involved.“ (Krajebrink 2009: 64) Die 12 Aufsätze dieses Bandes setzen sich mit der These auseinander, dass eine pointierte, die Besonderheiten der jeweiligen Orte hervorhebende Raumdarstellung ein Merkmal des zeitgenössischen Krimis bildet, erweise sie sich als stereotypisch, oder aber als kritisch. Sie prüfen diese These anhand des ost- und ostmitteleuropäischen Krimis, differenzieren sie aus und entwickeln sie weiter. Dabei konzentrieren sie sich auf Stadtdarstellungen – obwohl diese gelegentlich mit Dorf- und Landdarstellungen verglichen werden – und auf die Nachwendezeit. Ist der berücksichtigte Zeitraum ziemlich eingeschränkt, erweist sich der geographische Fokus als breit angelegt. Der Band versammelt Beiträge zu Krimis, die in ost- und ostmitteleuropäischen Sprachen (z.B. Kroatisch, Polnisch, Russisch, Slowenisch, Tschechisch, mit Hinweisen auf ungarische Krimis) verfasst wurden, sowie zu Krimis, die in anderen Sprachen geschrieben wurden (Deutsch, Englisch, Italienisch, Schwedisch). Die Analysen tragen der Besonderheit bestimmter ostmitteleuropäischen Regionen (Galizien, Schlesien, Nordostadria) Rechnung und nehmen alle eine bestimmte Stadt als Handlungs- und Tatort unter die Lupe: Breslau, Budapest, Kiew, Moskau, Prag, Triest, Zagreb. In der Sektion „Ost-/ Ostmitteleuropa und die Wende als Chronotopos für Krimis“ werden die Raum-Zeit-Koordinaten des Bandes abgesteckt: Diese Einleitung fungiert als Einführung in den Zusammenhang von regionaler Herkunft und gattungsbedingten Merkmalen des zeitgenössischen ostund ostmitteleuropäischen Krimis. Der Aufsatz von Bart Keunen „Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität. Emotionaler und moralischer Raum in einer ,Welt der Lügen und des Überlebens‘, liefert für die im Band untersuchten Krimis den kultur- und gattungsgeschichtlichen Hintergrund sowie den ästhetischen Rahmen. In der Geschichte des Krimis wird eine allmähliche Ent-Heroisierung der tragenden Protagonisten des Krimis, d. h. der Ermittler, festgestellt. In klassischen Krimis sind sie generell durch ihre Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit gekennzeichnet (unabhängig

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davon, ob sie in dieser Suche erfolgreich sind). In zeitgenössischen Krimis hingegen sind die Ermittler zunehmend ambivalente Figuren, die sich nicht selten als zynisch, opportunistisch bzw. feige erweisen. Ihre Ambivalenz entspricht der Ambivalenz des privaten und gesellschaftlichen Lebens in heutigen Städten, in denen es in erster Linie darum geht, zu überleben und nicht darum, ‚im Wahren‘ zu leben. Die ästhetische Struktur des Krimis zielt darauf, mimetische und andere literarische Verfahren anzuwenden, um das Verhältnis zwischen Ermittlern, Verbrechen und Stadt für den Leser unmittelbar zu machen. Auf dieser Basis kann der Krimi allerdings auch mit Verfremdungsstrategien operieren. Beides, Immanenz und Verfremdung, können einen kritischen Blick unterstützen, müssen es aber nicht. Keunen bespricht diese Thesen am Beispiel der Nachwendewerke des polnischen Krimiautors Marek Krajewski und des in Triest lebenden deutschen Schriftstellers Veit Heinichen, die im Weiteren das Thema anderer Aufsätze bilden. Die Sektion „Einblick: Genius Loci oder Kulisse? Städte als Tatorte“ bietet eine erste Auswahl von Autoren und Werken aus verschiedenen Regionen. In den Analysen wird nach den Merkmalen der jeweiligen Stadtdarstellungen gefragt. Alida Bremer beschäftigt sich in „Die Spieler in den ruhigen Zagreber Straßen: Zwei Kriminalromane der zeitgenössischen kroatischen Literatur“ mit der Frage, warum die meisten jugoslawischen Krimis aus Kroatien stammen und in Zagreb spielen. Laut Bremer hat sich der jugoslawische Krimi stark auf die britischen Klassiker des Genres bezogen, die als Tatort oft eine ländliche und relativ kleine Stadt auswählten, ähnlich der Stadt Zagreb vor der Unabhängigkeit Kroatiens. Die Tradition des Zagreber Krimis wird auch heute fortgesetzt, aber dank der Einführung neuer Themen variiert, wie z. B. in „Mirna ulica, drvored“ [Ruhige Straße, Baumallee] von Nada Gašiü, das u. a. Homosexualität und Homophobie thematisiert. „Igraþi“ [Die Spieler] von Edo Popoviü liest Bremer als Persiflage eines Großstadtkrimis, in der Zagreb als korrupte Megalopolis dargestellt wird. Trotz der Übertreibungen (bzw. durch diese) werden allerdings bestimmte schwerwiegende Probleme der zeitgenössischen kroatischen Gesellschaft angesprochen. Matteo Colombi hat sich in seinem Aufsatz „Gib jedem seinen eigenen Mörder: der glokale Triester Krimi“ Krimis aus Triest gewidmet, die mehrere Krimiautoren in mehreren Sprachen schreiben (Deutsch, Italienisch, Slowenisch). Die Darstellung der nordostadriatischen Grenzstadt variiert

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dabei bei den jeweiligen Autoren. Sie kann ausschließlich als erkennbare Handlungskulisse für einheimische Leser und ihren Wiedererkennungsbedarf inszeniert werden, wie in Giuliana Iaschis Roman „L’assassinio di Via Malcanton“ [Der Mord in der Malcantonstraße], oder aber auch kritisch betrachtet werden. So problematisiert Sergej Verþ in seinen KommissarBeno-Perko-Romanen den andauernden Konflikt zwischen der italienischen Mehrheit und der slowenischen Minderheit der Stadt aus existenziell-philosophischer Perspektive, während Veit Henichen sich in seiner KommissarProteo-Laurenti-Serie auf den historisch-politisch-wirtschaftlichen Hintergrund der Stadt von der Habsburger Epoche bis zur Globalisierungszeit bezieht. Die Geschichte Kiews steht im Zentrum der Romane der russischsprachigen ukrainischen Autorin Lada Luzina, die das Krimigenre mit dem des fantasy vermischt. Anna Olshevska untersucht in „Wie verhext – Kiew als russische Stadt. Zu Lada Lusinas Romanreihe ,Die Hexen von Kiew‘“, wie sich die Autorin mittels des phantastischen Topos der Reise in die Vergangenheit mit den Ursprüngen der multiethnischen Zusammensetzung ihres Landes auseinander setzt. Die konkrete Kiew-Darstellung Lusinas schwebt allerdings zwischen kritischer und atmosphärischer Perspektive. Dahingegen bleibt die Darstellung von Moskau in den Romanen der russischen Krimiautorin Aleksandra Marinina wenig konkret, argumentiert Doris Boden in „Tod in Moskau oder Das Paradies der armen Frauen“. Dass die Stadt dennoch nicht nur die Kulisse für die Krimihandlung abgibt, zeigt sich anhand der Fokussierung auf Moskau, auf Verbrechen innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsschicht und anhand auffallender Parallelen in allen Krimis der Autorin. Hier geht es nicht um eine realistische Aufklärung von Verbrechen, vielmehr wird soziale Realität einer Neubewertung zugeführt: Die Verbrecher entstammen sämtlich der Mafia, sind Neue Russen oder korrupte Politiker. Ihre Bestrafung erfolgt unmittelbar – nicht durch Polizei und Gericht, sondern aufgrund merkwürdiger Zufälle und unwahrscheinlicher Handlungsverläufe durch Stellvertreter der einfachen Bevölkerung. In Marininas Universum ist Selbstjustiz kein Verbrechen. Der Tod bleibt abstrakt und der Rezipient einer ethischen Bewertung des Geschehens enthoben. Die nächste Sektion des Bandes, „Einblick: Erinnerungskultur bzw. Breslau-Krimi“ ist der kontroversen Diskussion eines einzigen Autors gewidmet: Marek Krajewski, Verfasser einer sowohl in Polen als auch in

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Deutschland viel gelesenen Krimiserie, die im deutschen Breslau spielt und die nationalsozialistische Zeit der Stadt behandelt. Małgorzata SmorągGoldberg vertritt in ihrem Beitrag „Die Kriminalromane von Marek Krajewski: von der Ästhetik zur Anästhetik oder Wie man die Geschichte manipuliert“ die Meinung, dass Krajewskis Darstellung von Breslau an den Kitsch jenes steifen „saturierten Gedächtnisses“ grenze, das sich nicht mehr hinterfragen lässt. Krajewski bedient alle morbiden und unheimlichen Klischees über die Nazi-Zeit, um den Leser einerseits zu erschrecken und andererseits zu erregen, aber ohne ihn zu jedweder Hinterfragung der Vergangenheit zu motivieren. Anders äußert sich Dirk Kretzschmar in „Retrokryminał. Breslau als Erinnerungsort in den Kriminalromanen von Marek Krajewski“: Krajewskis Stadt-Bild hält er für konterdiskursiv polemisch und provokant. Krajewskis selbstgefällige Detailliertheit der Beschreibungen etwa habe auch ein kritisch-dekonstruktives Potential in Bezug auf die üblichen Vergangenheitsklischees, die Breslau umgeben. Seine Stadtdarstellung rückt die Präsenz deutscher Vergangenheit in Breslau, die von der polnischen offiziellen Kultur lange Zeit verschleiert wurde, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig verzichtet Krajewski auf eine Verklärung dieser Vergangenheit, so wie sie im kollektiven Gedächtnis der Vertriebenen verankert ist, indem die Romane das Potenzial des Krimigenres ausnutzen, den urbanen Raum als unheimlichen Schauplatz von Unordnung und Devianz zu gestalten. Wolfgang Brylla beschäftigt sich in seinem Beitrag „Krimi als Zeitmaschine. Realitätseffekte in Marek Krajewskis Eberhard Mock-Roman ,Festung Breslau‘“ eingehend mit einem Aspekt der empirischen Fundiertheit von Krajewskis Werken: dem akribischen Bezug auf Gegenstände, insbesondere, aber nicht nur, auf Waren, die typisch für das Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jhs. sind. Die vielen Hinweise auf die Konsumwelt jener Epoche dienen der Erzeugung eines Realitätseffekts, der dem Leser die Vergangenheit als konkret erfahrbar erscheinen lässt, selbst wenn die erzählten Geschichten außerordentlich sind und aus einer vergangenen Welt stammen. Aus dieser Perspektive ist die Ästhetik der Romane Krajewskis mit der der Unterhaltungsliteratur vergleichbar, die das Alltägliche mit dem Außergewöhnlichen im Dienst angenehm spannender Identifikationsprozesse kombiniert.

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Die Sektion „,Außenblick‘: Westeuropas Osten“ setzt sich mit westlichen Krimis auseinander, die ihre Handlung in Ost- und Ostmitteleuropa spielen lassen. Dirk Hohnsträters Aufsatz „Dienstreisen. Budapest in den Kriminalromanen von Sjöwall/ Wahlöö und Viktor Iro“ vergleicht zwei Romane über Budapest, „Mannen som gick upp i rök“ [Der Mann, der sich in Luft auflöste] von Maj Sjöwall und Per Wahlöö und „Tödliche Rückkehr“ von Viktor Iro (Pseudonym von Hohnsträter selbst). Marina Dmitrieva analysiert im Aufsatz „Die Grube als Topos des Sozialismus, oder Archäologie der Gegenwart. ,Stalin’s Ghost‘ von Martin Cruz Smith und ,Nasses Grab‘ von Helena Reich“ einen Moskauer und einen Prager Krimi. Beide Beiträge unterscheiden anhand ihrer Beispiele zwischen komplexen und vereinfachenden darstellerischen Herangehensweisen. Sowohl Iro als auch Cruz Smith versuchen, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen und nutzen dabei das hinterfragende Potential ihres distanzierten Blicks, des Blicks eines Fremden, ohne dabei das Bild von Moskau und Budapest den westlichen Vorstellungen unreflektiert anzupassen. Dahingegen bauen Sjöwall/ Wahlöö und Reich ihre Texte auf bestimmten, bei Reich auch klischeehaften westlichen Bildern von Budapest und Prag auf. Die letzte Sektion „Ausblick: Postmoderne bzw. Prag im (Anti-)Krimi“ behandelt tschechische Texte über Prag, die mit einigen Strukturen und Verfahren des Krimigenres spielen und dabei zu einer Auflösung der Krimi-Spur bzw. zur Entstehung eines Anti-Krimis führen. Nora Schmidt setzt sich in „Krimi, Raumerfahrung und Tourismus. Perspektivwechsel in den Krimis ,Sedmikostelí‘ und ,Stín katedrály‘ von Miloš Urban“ mit den Romanen eines Autors auseinander, der auf dem deutschen Buchmarkt einfach als Krimiautor gehandelt wird, obwohl er in postmoderner Manier mit dem Krimi und anderen Genres spielt und zum literarischen pastiche neigt. In ihrem Aufsatz vergleicht Schmidt die Raumkonstruktion in den beiden Romanen „Sedmikostelí“ ([Siebenkirchen], dt. „Die Rache der Baumeister“) und „Stín katedrály“ [Im Dunkel der Kathedrale] und stellt eine Verschiebung fest. Schafft ersterer ein allmählich ins Psychotische übergehendes Pragbild, dass dem vertrauten Stadtbild des Touristen und des Lesers stark entgegengesetzt ist, spielt letzterer mit der Kopräsenz und der wechselseitigen Berührung von touristischen und anderen Formen der Stadtwahrnehmung im Text. Es zeigt sich, dass durch das Spiel mit Perspektiven eine Sehnsucht nach örtlicher Unmittelbarkeit und Orts-

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bestimmung einerseits inszeniert, andererseits vereitelt wird und damit auch die kriminalistische Spurensuche. Darina Poláková befasst sich in „Jáchym Topols ,Výlet k nádražní hale‘ oder ,The Difficult Art of Murder‘“ mit dem Bild Prags in einer Erzählung des tschechischen Schriftstellers Jáchym Topol und beleuchtet den Plot im Wechselverhältnis zur textuellen Erzähllogik. Die detektivische Suche des Lesers nach dem Täter führt (möglicherweise) zum Ich-Erzähler als potenziellem, obwohl nicht eindeutigem Mörder, dessen schizophrene Identität sich im Bild der Gespaltenheit der postsozialistischen Stadt widerspiegelt. Auf der Metaebene lässt sich die Erzählung auch als irritierendes Spiel mit den Erwartungen von hard-boiled-Krimilesern betrachten. Zwischen den verschiedenen Sektionen und Aufsätzen ergeben sich auf thematischer Ebene zahlreiche Querverbindungen. Einige Aufsätze konzentrieren sich auf den ethischen Diskurs über Gewalt und Ordnung, der in den Krimis sowohl von den Figuren als auch durch die Erzählstrategien gestaltet wird (Boden, Bremer, Keunen, Kretzschmar). Etliche Beiträge nehmen das kollektive und individuelle Gedächtnis von Figuren, Autoren und Lesern als wichtigen Bestandteil der heutigen ost- und ostmitteleuropäischen Literatur unter die Lupe (Brylla, Colombi, Dmitrieva, Hohnsträter, Kretzschmar, Olshevska, Smorąg-Goldberg). Bei diesem Thema spielt oft auch die ethnische Vielfalt Ost- und Ostmitteleuropas eine wichtige Rolle. Das Verhältnis zwischen touristischem Blick und Stadtdarstellung im Krimi bzw. Pseudo-/ Antikrimi fundiert den Aufsatz von Schmidt, lässt sich aber auch in anderen Analysen wiederfinden (Colombi, Dmitrieva, Hohnsträter, Olshevska, Poláková). Alle Aufsätze setzten sich schließlich mit den ästhetischen und textstrukturellen Strategien der Stadtdarstellung auseinander. Als Leitmotiv erweist sich insbesondere die Frage nach den Verfahren, durch welche die Kriminalliteratur zur mimetischen Identifikation mit dem Gelesenen führt. Der Sammelband bietet ein reiches Angebot an Theorien und Begriffen, mit denen diese Frage behandelt wird: u. a. Immersionstheorie (Keunen), Funktion des sogennanten „Trivialen“ in der postmodernen Ästhetik (Bremer), Glokalismus (Colombi), postcolonial theory (Olshevska), Illusionstheorie (Boden), mémoire saturée (Smorąg-Goldberg), „Retro“-Repräsentation der Vergangenheit (Kretzschmar), effet du réel (Brylla), archeology of contemporary past (Dmitrieva), Ebenen der literarischen Raumdarstellung (Hohnsträter), Performanztheorie in Kombination mit tourist gaze (Schmidt), Gattungstheorie und -geschichte des hard-

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boiled (Poláková). Zu vermerken ist, dass die Hälfte der Aufsätze auf bildliches Material rekurriert, um verschiedene Aspekte des Krimi-Mimetismus aufzuzeigen. Dabei handelt es sich um Verweise auf den Paratext (Covers, Karten und Werbebroschüren) bzw. auf eine versinnbildlichende Gegenüberstellung von schriftlichen Raumdarstellungen und visuellen Repräsentationen (Fotos, meistens vom urbanen Raum und Stadtgebäuden, Logos, topographische Aufzeichnungen von urbanen Routen). Komplementär zum Problem des Mimetismus ist die Frage nach den kritischen Fähigkeiten des Krimis und seiner stilistischen Verfahren in Bezug auf Stadtrepräsentationen, d. h. die Frage nach Krajebrinks Gegenüberstellung von klischeehafter und reflektierter Kriminalliteratur: Kann ein Genre, das traditionell zu einer mimetischen und geschlossenen Narrationsweise neigt, die Stadt und ihre Gewaltmechanismen komplex wiedergeben? Einige der analysierten Krimis werden von den einzelnen Beiträgern als gelungene Versuche gesehen, die vergangenen und gegenwärtigen Probleme der ost- und ostmitteleuropäischen Städte kritisch zu inszenieren. Andere werden hingegen als Banalisierungen interpretiert. Der Krimiautor Krajewski wird dabei zum Streitobjekt verschiedener Interpretationen. Betonen alle Beiträge über sein Werk dessen geschlossene („saturierte“, retro-, die Illusion von Wirklichkeit erzeugende) Darstellung der Breslauer Vergangenheit, sieht Kretzschmar in ihr auch einen kritischen, antiverklärenden Ansatz, der durch die heterotopische Stadtgestaltung übermittelt wird. Neben der Rolle von Heterotopien im Krimi werden in verschiedenen Aufsätzen des Bandes ästhetische Verfahren fokussiert, durch die der Krimi zu einer kritisch-reflektierten Imagination und Repräsentation des urbanen Raums gelangen kann: Parodie bzw. Spiel mit der geschlossenen Form des Genres (Bremer, Poláková, Schmidt), Polyfonie und Perspektivenwechsel (Colombi, Olshevska), dynamische Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart (Dmitrieva, Hohnsträter). Im Allgemeinen scheint der ost- und ostmitteleuropäische Krimi aus einem wohlbekannten Spannungsfeld zu entstehen: Einerseits aus der eskapistischen Imaginierung eines „Reich[s] sozial/ gesellschaftlicher Gerechtigkeit“ (Boden) bzw. aus der Produktion von „geschmeidige[n], ungebrochene[n] und vorgefertigte[n] Erzählungen […], äußerst gut zum Konsumverhalten“ (Smorąg-Goldberg), andererseits aus der mimetischen Kraft der Literatur zu zeigen, dass der „Einfluss mythologischer Muster als anthropologische Konstante“ zu betrachten ist und die kriminalliterarische „Verbindung von Anspielungen auf den gesetzlosen

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Zustand des Menschen mit dem Gefühl der Machtlosigkeit [...] die Komplexität der modernen Zeit besser als jede explizite Ideologiekritik“ veranschaulicht (Keunen). Abschließend sei hier auf einige Forschungsdesiderata hingewiesen. Dieser Sammelband bemüht sich, ein breites Spektrum ost- und ostmitteleuropäischer Kriminalliteratur vorzustellen und versucht einen transversalen Einblick in das Thema. Dennoch kann er keine systematische Untersuchung seines Forschungsgegenstands bieten. Aus räumlicher Perspektive müsste man auch jene ost- und ostmitteleuropäischen Länder berücksichtigen, die hier nicht in Betracht gezogen wurden. Aus zeitlicher Perspektive wäre es erforderlich, den Zeitrahmen zurück in die Vorwendezeit bis zu der Entstehungszeit der Gattung zu erweitern. Dies würde u.a. ermöglichen, die Frage nach den westlichen und heimischen Vorbildern und Vorfahren des ost- und ostmitteleuropäischen Krimis konsequent nachzugehen. Dabei wäre es aufschlussreich, umfassend kontrastiv zu arbeiten, damit nicht nur einzelne Krimis bzw. Autoren verschiedener Herkunft und Fasson punktuell verglichen, sondern auch ganze Gruppierungen und Traditionen erfasst würden. Die Möglichkeiten einer solchen breit angelegten literaturgeschichtlichen Untersuchung sind jedoch gleichzeitig in hohem Maße von einem besseren Überblick über den Forschungsstand abhängig. Die Erarbeitung eines vergleichenden Verzeichnisses der Krimi-Primär- und Sekundärliteratur über die und aus den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern, eine Bibliographie, die nicht nur slawistische Arbeiten in deutscher und englischer Sprache berücksichtigt, sondern auch Untersuchungen in den slawischen und nichtslawischen Sprachen aus der Region sowie die wissenschaftliche Forschung in anderen Ländern mit einbezieht, steht noch aus. Die weitere Erschließung des Forschungsfelds sollte von seiner komparatistischen Rückkopplung sowohl an die allgemeine Krimiforschung als auch an mediale Studien flankiert werden, damit der ost- und ostmitteleuropäische Krimi als Untersuchungsobjekt nicht isoliert bleibt, sondern im Rahmen transkultureller und transmedialer Literaturwissenschaft weiter erforscht werden kann.

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B IBLIOGRAPHIE Amodeo, Immacolata/ Erdmann, Eva, 2009: Crime and Nation. Political and Cultural Mappings of Criminality in New and Traditional Media. Trier. Bartetzky, Arnold/ Dmitrieva, Marina/ Kliems, Alfrun, 2009: Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Berlin. Cheauré, Elisabeth, 2009: Russland im Strudel des Verbrechens. Geschichte und nationale Identität in Krimis von B.[oris] Akunin. In: Korte, Barbara/ Paletschek, Sylvia: Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln-Weimar-Wien, 183-203. Chesterton, Gilbert Keith 2006 [1902]: A Defendence of Detective Stories. In: Ders.: The Defendant, Teddington. 139-145. Franz, Norbert, 1988: Moskauer Mordgeschichten. Der russisch-sowjetische Krimi 1953-1983. Mainz. Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig: http://www.uni-leipzig.de/ gwzo (8.5.2012). Imaginationen des Urbanen in Ostmitteleuropa. Stadtplanung – Visuelle Kultur – Dichtung im 20. Jahrhundert: http://www.uni-leipzig.de/~ gwzo/index.php?option=com_content&view=article&id=209&Itemid= 1126 (8.5.2012). Korte, Barbara/ Paletschek, Sylvia, 2009: Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln-Weimar-Wien. Krajebrink, Marieke, 2009: Place Matters. Locale in Contemporary International Crime Fiction. In: Amodeo/ Immacolata, Erdmann/ Eva: Crime and Nation. Political and Cultural Mappings of Criminality in New and Traditional Media. Trier, 55-65. Krimi-Couch: http://www.krimi-couch.de (8.5.2012). Meyer, Holt, 2009: „and qua criminal he is of an imperfectly formed mind…“: Transylvania and Ireland as ,Criminally Deficient Territories‘ and the Terrain of the Sponsa Christi as Accomplice of/in Bram Stoker’s Dracula. In: Amodeo, Immacolata/ Erdmann, Eva: Crime and Nation. Political and Cultural Mappings of Criminality in New and Traditional Media. Trier, 143-161. Nusser, Peter, 2009: Der Kriminalroman. Stuttgart-Weimar.

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Paetzold, Heinz, 2005: Urbanismus. In: Barck, Karlheinz u. a.: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6. Stuttgart-Weimar, 283-311. Schauer, Barbara, 2009: „Die Verbindung Militarismus und Kapital wird offenkundig“. Zum Geschichtsrekurs in Friedrich Karl Kauls DDRKriminalroman Mord in Grunewald (1953). In: Korte, Barbara/ Paletschek, Sylvia: Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Köln-Weimar-Wien, 205-225. Woeller, Waltraud, 1984: Illustrierte Geschichte der Kriminalliteratur. Leipzig. Zima, Peter, 1992: Komparatistik. Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft. Tübingen.

Der Großstadtkrimi und die Diagnose der Modernität1 Emotionaler und moralischer Raum in einer ‚Welt der Lügen und des Überlebens‘ B ART K EUNEN

Kriminalromane gehören einer langen Tradition an. Mehrheitlich sind sie die wahren Erben des realistischen Paradigmas der ersten Hälfte des 19. Jh.s und der aus Realismus und Naturalismus entstandenen modernistischen Tradition. In ästhetischer Hinsicht könnten sie deshalb leicht als überholt abgetan werden. Die eher altmodische Poetik, die Krimiautoren vom Hochrealismus übernehmen und die ihr Werk einem breiten Publikum leicht zugänglich macht, bildet das Zentrum ihres Schreibens. Gleichzeitig zwingt die Notwendigkeit, mit aktuellen Themen Schritt zu halten, Krimiautoren jedoch dazu, ihre Vorbilder des 19. Jh.s fortwährend zu übertreffen; es ist typisch für die Kriminalliteratur, dass sie einer ständigen Erneuerung auf thematischer Ebene bedarf. Aus diesem Grund lassen sich Krimiautoren häufig von aktuellen, in der Öffentlichkeit präsenten philosophischen Ideen

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Der Klarheit halber wird hier der englische Terminus modernity durch das im Deutschen etwas unübliche Wort „Modernität“ bzw. durch den Ausdruck „moderne Zeit“ übersetzt. Während das englische Wort modernity den kulturellen Umbruch gegenüber der Tradition im Allgemeinen bezeichnet, wird der deutsche Ausdruck „Moderne“ in literaturwissenschaftlichen Studien auf die kulturelle und künstlerische Umbruchsstimmung um 1900 eingeschränkt [Anmerkung A. F.].

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und sozio-politischen Debatten inspirieren. Paradoxerweise sind Krimis deshalb gerade aufgrund ihrer festen Verankerung in der realistischen Tradition das Medium der größtmöglichen Aktualität; sie stehen gewissermaßen an vorderster Front gesellschaftlicher Entwicklungen und rekurrieren häufig auf progressive oder abseitige Tendenzen innerhalb der bürgerlichen Moral. Genau wie ihre realistischen Vorgänger des 19. Jh.s sind Krimiautoren auch heute noch fasziniert von den sozialen und psychologischen Implikationen der modernen Welt. Es ist kein Zufall, dass sowohl realistische als auch Kriminalromane nach dem 1. Weltkrieg eine Vorliebe für Plots in einem großstädtischen Setting entwickelt haben. Die literarischen Großstadtwelten der Romane des 19. und frühen 20. Jh.s sind für diese Schriftsteller deshalb so attraktiv, weil sie ihnen die Verwendung einer Art synekdochischer Strategie erlaubt. Die moderne, (post-)industrielle Stadt wird von vielen Schriftstellern als eine bevorzugte Umgebung wahrgenommen, als ein Raum, der die wichtigsten sozialen und historischen Prozesse zum Vorschein bringt. Der urbane Raum gilt im Allgemeinen als sichtbare Gestaltwerdung des Modernisierungsprozesses selbst; er ist das, was Simmel als „point of concentration of modernity“ bezeichnet hat (Frisby 1992: 69). Die wichtigen Großstadtromane von Dos Passos, Döblin und Zola sind hervorragende Beispiele für eine von einer „Theorie der Modernität“ geprägten Raumerfahrung. Geschichten wie diese sind es, die der modernen Existenz einen Sinn geben. Themen wie die Ankunft in der Stadt (Dos Passos, Zola), Erfolg und Abstieg in der Stadt (Dreiser, Zola) oder der Klassenkampf in der Metropole (Dickens, Hugo) sind Bestandteile eines Repertoires urbaner Erfahrungen, die in der Literatur klassischen Status erlangt haben (für einen Überblick siehe Keunen, 2000). In diesem Kontext ist die Literatur ein Mittel, um der Welt Bedeutung zu verleihen. Durch Geschichten erhält die moderne Existenz eine Art Daseinsberechtigung und Bedeutsamkeit. In diesem Sinne handelt es sich bei Großstadtliteratur um ein wichtiges kulturelles Instrument, denn sie erzählt vom Umgang der Menschen mit der modernen Zeit. Sicher gilt dies für den französischen Realismus und den angelsächsischen Naturalismus: die Konfrontation zwischen Individuum und Stadt nimmt hier nicht selten die Gestalt eines tragischen Konflikts an, dem zu entkommen der Einzelne kaum in der Lage ist (vgl. Klotz 1969, Williams 1973: 235; Göbel 1982: 90-92). Dem schließt sich auch Amy Kaplan in ihrer Untersuchung zum amerikanischen Realismus an: es gelte, diesen zu unter-

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suchen als „a strategy for imagining and managing the threats of social change – not just to assert a dominant power, but often to assuage fears of powerlessness.“ (Kaplan 1988: 10) Im Fahrwasser der großen Realisten und Modernisten verwenden Krimiautoren urbane Settings, um sich mit ihrer sozialen und kulturellen Umgebung auseinanderzusetzen. Es ist keineswegs ein Zufall, dass die meisten Ermittler gegenwärtiger Kriminalromane in Städten unterwegs sind: Sara Paretskys V. I. Warshawski in Chicago, Robert Parkers Spenser in Boston, John Lutzs Alo Nudger in St.-Louis, Ian Rankins Rebus in Edinburgh, Marek Krajewskis Eberhard Mock in Breslau, Veit Heinchens Proteo Laurenti in Triest, etc. zeigen, dass eine kriminalistische Untersuchung durch die Ansiedlung von Protagonisten, Opfern und Verbrechern in einem urbanen Setting mehr oder weniger zu einem Kampf mit der Modernität wird. Großstädte sind die Heimstatt der Modernität und liefern als solche einen referenziellen Rahmen, der mühelos mit Erkenntnissen über soziale Zerrissenheit und Gesetzlosigkeit, aber auch mit Individualisierung oder Zynismus ausgefüllt werden kann. Suzanne Nalbantians Aussage über die Schriftsteller des 19. Jh.s lässt sich ohne weiteres auch auf Krimiautoren übertragen: „They were writers who distilled collective intricacies in individual instances of complexity, making the individual problematic cases into archetypes for a continuous and extended moral trauma.“ (Nalbantian 1984: 15) Für den Korpus literarischer Werke, die im Mittelpunkt dieses Sammelbandes stehen, ist der Kampf mit dem moralischen Trauma von zentraler Bedeutung. Die Sehnsucht nach philosophischen Experimenten ist groß, denn die mitteleuropäischen Kulturen sind durch ideologische Spannungen miteinander verwoben und haben mit gesellschaftlicher Komplexität und einer unsicheren Zukunft bzw. einer offenbar noch nicht bewältigten Vergangenheit zu kämpfen. In diesem Beitrag möchte ich deshalb den letztgenannten Gegenstand ausführlich untersuchen und unterstreichen, dass sich hinter zeitgenössischen Darstellungen des urbanen Raums in der Kriminalliteratur eine bestimmte moralische Aussage verbirgt und dass diese im Grunde darauf hinausläuft, die Komplexität der modernen Welt kritisch zu bestätigen. Zunächst jedoch werde ich mich den künstlerischen Voraussetzungen zuwenden, also dem mimetischen Fundament von Krimiliteratur. Dabei werde ich zwei spezifische Aspekte der Mimesis in Großstadtkrimis

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hervorheben: den emotionalen Wert des geschilderten urbanen Raums und ihre gedanklichen Verknüpfungen mit ,Theorien der Modernität‘.

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Wie ihre literaturhistorischen Pendants im Realismus betont Kriminalliteratur die mimetische Funktion der Erzählkunst und simuliert mit Vorliebe ganz bestimmte Aspekte des individuellen und kollektiven Verhaltens. Beide Arten von Literatur räumen einer der wichtigsten Funktionen der Erzählkunst, der Mimesis, eine bevorzugte Stellung ein. In „Temps et récit“ stellt Paul Ricoeur fest, fiktionale Erzählungen würden erst dann zu Narrativen, wenn es ihnen gelänge, eine „Handlungsmimesis“ (mimésis de l’action) herzustellen (Ricoeur 1984). Im Anschluss an Aristoteles geht Ricoeur davon aus, dass selbst stilistisch unausgereifte Erzählungen zu Narrativen werden, sobald sie Handlungen und Prozesse schildern, und das, obwohl jede Erzählung selbstverständlich von Sprache und Stil abhängig ist. Tatsächlich ist Aristoteles der Ansicht, dass der Dichter „mehr Dichter von Mythen [d.h. von Handlungseinheiten] als von Versen sein muss, sofern das, was ihn zum Dichter macht, in der Nachahmung besteht, Gegenstand der Nachahmung aber Handlungen sind.“ (Aristoteles 2008, 14) Deshalb ist die Triebfeder der Konstruktionen der narrativen Vorstellungskraft, die wir als „Fiktionen“ bezeichnen, nichts anderes als der Wille, menschliches Handeln zu rekonstruieren. Mit Ricoeur und Aristoteles kann die Kriminalliteratur also gerade deshalb als eine der grundlegendsten literarischen Formen bezeichnet werden, weil sie darauf abzielt, die Logik menschlichen Handelns nachzuvollziehen. Wie die realistische Literatur des 19. Jh.s, vertraut die Krimiliteratur auf die der Erzählkunst eigene Vorstellungskraft: Sie macht ausgiebig Gebrauch von Beschreibungstechniken (sowohl um individuelle Figuren als auch räumliche Settings zu zeichnen) und gestaltet Plotstrukturen durch Reflexion menschlichen Verhaltens und die eingehende Prüfung psychologischer Motivationen und soziologischer Einflüsse. Darüber hinaus scheinen Krimiautoren wie ihre älteren Schriftstellerkollegen der Ansicht zu sein, Literatur könne Lesern bei der Konstruktion von Weltbildern behilflich sein oder Hilfestellungen bei der Kritik bedenklicher Perspektiven bieten; für eine realistische Poetik ist Literatur nicht nur eine Angelegenheit

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der Ästhetik, sondern auch ein Weg, sich in die sie umgebende Welt einzumischen. Im Folgenden werde ich mich ausführlich mit der mimetischen Natur von Kriminalliteratur auseinandersetzen und mich dafür den räumlichen Aspekten ihrer fiktionalen Welten zuwenden. Über die räumliche Vorstellungskraft rekurriert Literatur auf die emotionalen und begrifflichen Werte, die der moderne Mensch mit seiner Welt assoziiert. In diesem Zusammenhang greife ich auf das Werk des Philosophen Ernst Cassirer (Breslau, 1874 – New York, 1945) zurück. Mithilfe der Überlegungen, die er in seiner dreibändigen „Philosophie der symbolischen Formen“ (1923-1929) formuliert, lässt sich das Problem des literarischen Raums neu denken, und zwar als eine Frage literarischer Vorstellungskraft und ihrer Funktionsweisen. Wie vor ihm Kant, betrachtet auch Cassirer den Raum als wichtige Komponente menschlicher Erkenntnis und menschlichen Erlebens. Er geht jedoch noch weiter und erkennt, dass spezifische kognitive Operationen spezifische Arten von Erkenntnis erzeugen. In Abhängigkeit davon, welcher kognitive Apparat bei seiner Wahrnehmung zum Einsatz kommt, kann der Raum sehr unterschiedliche Formen annehmen. So ist beispielsweise die von einem analytisch-kausalistischen Bewusstsein hervorgebrachte Erkenntnis vollkommen anderer Natur, als eine, die von einem mythischen Bewusstsein oder durch die Alltagswahrnehmung produziert wird. Cassirer entwirft deshalb eine Epistemologie, die einen dreifachen Erkenntnisbegriff entwickelt. Demnach verfügt der Mensch über drei vollkommen verschiedene Verfahren, seine Umgebung geistig zu erfassen: Er kann die Wirklichkeit als Ausdruck, Darstellung oder Bedeutung wahrnehmen. In jedem dieser Fälle kommt eine andere Form der Vorstellungskraft zum Einsatz, die ich entsprechend als Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsvorstellung bezeichnen werde. Der literarische Raum scheint drei Arten von Erleben hervorzubringen: das Erleben des Raumes als unmittelbare AusdrucksKraft (in welcher wir unsere Umwelt intuitiv erahnen), als Darstellung (in der wir räumliche Objekte und Prozesse wahrnehmen), oder als einen abstrakteren, symbolischen Raum (eine intellektuelle Raumordnung). Diese drei Erkenntnisoperationen (oder, wie Cassirer sagen würde: Funktionen) schlage ich als solide Grundlage für eine Untersuchung des mimetischen Charakters von Kriminalromanen vor. Aus naheliegenden Gründen bleiben die meisten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen und vor allem die meisten Studien zum literarischen

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Raum auf die zweite epistemologische Ebene beschränkt. Sie konzentrieren sich auf die für die fiktionale Welt formgebenden Darstellungen, um so die Beschaffenheit dieser Welt offenzulegen. Indem sie Stadtdarstellungen analysieren, untersuchen Literaturwissenschaftler beispielsweise die Interaktion von Figuren mit ihrer Umgebung oder das physische Setting, in dem sie ihre Handlungen ausführen. Diese „darstellende“ Handlungsmimesis ist jedoch lediglich die Spitze des Eisbergs. Eine weitaus tiefer gehende Erkenntnis wird Cassirer zufolge erst von den beiden anderen Ebenen der Vorstellungskraft generiert, nämlich von den expressiv-affektiven Eigenschaften der wahrgenommenen Ereignisse und Settings, sowie von den gedanklichen Konzepten, auf die wir die Darstellungen beziehen. Erstens: wenn wir die Welt durch die Ausdrucksvorstellung wahrnehmen, werden wir von unserer Umgebung unmittelbar emotional beeinflusst. Cassirer betont, dass unser Wissen über die räumliche Welt stark von unserer emotionalen Einstellung gegenüber dem Raum geprägt ist; indem wir einen Gegenstand oder eine Situation erfassen oder darstellen, nehmen wir gleichzeitig auch einen emotionalen Wert wahr. Innerhalb des von Cassirers Denken in hohem Maße beeinflussten Bachtin-Kreises wurde dies so formuliert: It seems that we perceive the value of an object together with its being, as one of its qualities; in the same way, for example, we sense the value of the sun together with its warmth and light. And thus all phenomena of being which surround us are fused together with our evaluations of them. (Voloshinov 1926: 13)

Diese Dimension ist für die Analyse mimetischer Literatur von besonderer Bedeutung: Durch die in fiktionalen Welten präsente emotionale Spannung kann der Leser in eine konkrete fiktionale Atmosphäre buchstäblich eintauchen (dank dieser epistemologischen Funktion ist Literatur in hohem Maße befähigt, ein mit starken Emotionen aufgeladenes Raumgefühl zu evozieren). Diese Ausdrucksebene der Vorstellungskraft ist die Grundlage der literarischen Mimesis; sie geht den im Allgemeinen mit der Mimesis verbundenen Darstellungen voraus und verstärkt deren Wirkung. Sie deckt sich mit Wahrnehmung und Darstellung, oder, wie Cassirer es formuliert, „der Ausdrucks-Sinn haftet vielmehr an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erfasst und unmittelbar ‚erfahren‘.“ (Cassirer 1954c: 80)

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Die Ausdrucks-Vorstellung ist die grundlegendste Strategie der Vorstellungskraft; sie ist von zentraler Bedeutung für die Anfangsstadien der menschlichen Zivilisation – die sogenannten ‚primitiven‘ Kulturen, die sich über mythische Geschichten ausdrücken – und auch für das ontogenetische Anfangsstadium des Menschen – also die Phase, in der ein Kind starke Gefühle für magische Gestalten (Monster und Feen) hegt – kann jedoch gleichzeitig auch als eine unbewusste Ebene jeder menschlichen Erkenntnis betrachtet werden. Durch den Filter der Ausdrucks-Vorstellung erscheint alles, was uns umgibt als emotional aufgeladene, als in irgendeiner Weise ‚belebte‘ oder ‚beseelte‘ Gebilde: „In dem reinen Phänomen des Ausdrucks, in der Tatsache, daß eine bestimmte Erscheinung in ihrer einfachen ‚Gegebenheit‘ und Sichtbarkeit sich zugleich als ein innerlich-Beseeltes zu erkennen gibt.“ (Cassirer 1954c: 108, Hervorhebung B.K.) Den Raum wahrzunehmen bedeutet in diesem Fall nichts anderes, als die emotionale Kraft zu erfassen, die von einer Situation, einem Gegenstand oder einer Person ausgeht: „die Erlebniswelt des Mythos [...] ist nicht ein Inbegriff von Dingen, die mit bestimmten ‚Merkmalen‘ und ‚Kennzeichen‘ versehen sind, an denen sie sich erkennen und voneinander unterscheiden lassen, sondern es ist eine Mannigfaltigkeit und Fülle ursprünglich ‚physiognomischer‘ Charaktere.“ (Cassirer 1954c:80)2 Zweitens: Die Bedeutungs-Vorstellung, die dritte von Cassirer definierte Art der Erkenntnis, wird häufig von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern bei der Konstruktion oder Analyse fiktionaler Welten verwendet. Wie meine einleitenden Sätze gezeigt haben, lässt sich Großstadtliteratur im Zusammenhang mit Phänomenen untersuchen, die von der So-

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Als solche hat die Ausdrucksfunktion menschlichen Wissens einen sehr spontanen und alltäglichen Charakter. Lächelt mich jemand an, interpretiere ich diesen Gesichtsausdruck unmittelbar als Akt der Wertschätzung. Unter Verwendung eines etwas unüblichen, von Cassirer (und anderen, unter ihnen Walter Benjamin) jedoch sehr geschätzten Begriffs, können wir Lächeln als ein „physiognomisches“ Phänomen bezeichnen: in einem lächelnden Gesicht lesen wir einen Charakterzug, eine positive Kraft. Empfinden wir hingegen Angst, scheinen Dinge und Personen um uns herum eine negative Kraft zum Ausdruck zu bringen. Fürchtet sich beispielsweise ein Kind vor dem Rascheln der Blätter in einem dunklen Wald, glaubt es, dies auf eine dunkle Macht zurückführen zu können: das Kind bedient sich seiner Ausdrucks-Vorstellung.

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ziologie oder der Kulturphilosophie beschrieben worden sind. Diese konzeptuellen Assoziationen sind konstitutive Bestandteile sowohl literarischer Stadtdarstellungen als auch der Alltagswahrnehmung von Städten. Wenn wir einen Gegenstand oder eine Situation wahrnehmen oder darstellen, so Cassirer, bewerten wir sie gleichzeitig auch, indem wir sie in einen konzeptuellen Referenzrahmen einordnen. Deshalb geht es bei literarischen Darstellungen von Städten (und dementsprechend auch bei deren literaturwissenschaftlicher Untersuchung) um sehr viel mehr, als bloß dokumentarische Beschreibungen des urbanen Raums. Es handelt sich immer auch um einen Mikrokosmos, der wichtige Entwicklungen der Gesamtgesellschaft synekdochisch evoziert, wie beispielsweise Bürokratisierungs- und Industrialisierungsprozesse, die Rationalisierung und das Auseinanderdriften moralischer Diskurse, oder die Kommerzialisierung und Individualisierung von Lebensstilen, die mit diesen einhergehen (vgl. Keunen 2007). Typisch für die Bedeutungsebene der literarischen Mimesis ist die Anwesenheit moralischer Konzepte. Wie Thomas Pavel in „Fiction and Imitation“ zeigt, zielt die Literatur darauf ab, moralische Haltungen mimetisch nachzuspielen; sie bezieht sich auf Werte und Normen und versucht auf diese Weise, unser gesellschaftliches Erleben zu erklären (2000: 529; siehe auch 2006: 3). Schriftsteller wählen ihre Darstellungen deshalb sorgfältig aus, um ihre Leser zu moralischer Reflexion anzuregen; Literaturwissenschaftler hingegen versuchen, den moralischen und kulturellen Raum nachzuvollziehen, denen sie in einem Text begegnen.

D IE AUSDRUCKS -V ORSTELLUNG : U RBANER R AUM UND RÄUMLICHE I MMERSION Durch die Kriminalliteratur taucht der Leser in ein, vom Autor geschätztes und als faszinierend empfundenes fiktionales Biotop ein. Zur Herstellung dieses Effekts kann der Autor sich einer Vielzahl von Techniken bedienen. Architektonische Details (Wahrzeichen, Plätze, Gebäude, städtische Infrastruktur), Bewegungen durch den Raum (eine Zugfahrt) und detaillierte Überblicke über die topographische Situation (mit Hilfe von toponymischen Referenzen) tragen allesamt zur Erzeugung dieses immersiven Effekts bei. Besonders Toponyme helfen dem Leser, ein Gefühl von räumlicher Orientierung zu erhalten. Bei der Lektüre von Romanen zeitgenössi-

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scher Krimiautoren ist der Leser geneigt, einen Stadtplan hinzuzuziehen, so sehr sind ihre Texte von räumlichen Indikatoren durchsetzt. Diese toponymische Redundanz und andere Formen des ‚räumlichen Realismus‘ hängen mit einer für Krimiliteratur typischen Form des Schreibens zusammen: sie sind Teil einer Strategie, die darin besteht, (falsche oder nützliche) Hinweise zu streuen, die es dem Leser ermöglichen, den Lösungsprozess selbst nachzuvollziehen (Todorov 1971, Eisenzweig 1986). Malcah Effron zufolge ist die Verwendung detaillierter räumlicher Settings jedoch nicht nur eine Technik, die verwendet wird, um den Plot von Kriminalromanen voranzutreiben. Vielmehr erleichtere sie das Eintauchen in eine als vertraut empfundene Welt. Das detaillierte räumliche Setting diene einem effet du réel: „By extending Barthes’ understanding of the superfluous details of setting that appear in nineteenth-century novels to the superfluous details of setting that appear in twentieth-century detective fiction, we can see how these details of the real city setting take on the work of the reality effect within the contemporary detective narrative.“ (Effron 2009: 332) Zu Recht stellt Effron fest, dass der urbane Raum in mimetischer Literatur nicht nur darstellende Funktion hat, sondern zugleich auch über eine begriffliche Dimension verfügt; die Verwendung urbaner Toponyme (wie etwa Strassennamen oder architektonischer Referenzen) „demonstrates that, by using real city streets as settings for fictional crimes, contemporary detective fiction can redefine the reality effect by introducing present referents.“ (Effron 2009: 334)3 Mit Cassirers Auffassung von der Funktionsweise der menschlichen Vorstellungskraft, schaffen literarische Darstellungen einen Zugang zum gedanklichen Bezugssystem der ‚Wirklichkeit‘. Dies erklärt teilweise, weshalb sich in den letzten Jahren fast überall auf der Welt ,regionale‘ Krimischriftsteller einer solchen Beliebtheit erfreuen. Durch die Verortung der Handlung in einer vertrauten räumlichen Umgebung erfährt die Arbeit des Ermittlers eine Kontextualisierung innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Welt. Die Anziehungskraft des Verbrechens wächst,

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Effron schließt sich hierin einer Beobachtung Bulsons an: kartographische Konturen haben „the ability to overlay and infuse fictional plots with the places where historical events happened.“ (Bulson 2007: 94) Dadurch rückt etwas in den Vordergrund, dass Bulson als „suspension of misbelief“ beschreibt und durch das der Leser von einem Prozess erfasst wird, den die Erzähltheorie als „Immersion“ bezeichnet.

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wenn es in der unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet, wenn es so dargestellt wird, als könne es in jedem Augenblick und hinter jeder Ecke der eigenen Stadt auftauchen. Die toponymische Redundanz ist also ein wichtiges Werkzeug für die Zustandsbeschreibung der modernen Zeit, wie sie die mimetische Kunst vorzunehmen versucht. Nichtsdestotrotz ist die Attraktivität mimetischer Literatur nicht allein mit dieser Bedeutungs-Dimension des effet du réel zu erklären. Noch ein anderer Effekt scheint hierbei im Spiel zu sein, den Effron (und andere Autoren, welche die symbolische Funktion des literarischen Raums betonen; vgl. beispielsweise Higmore 2005: 112-113) jedoch nicht berücksichtigen: Durch ihre peinlich genaue Referenz auf urbane Settings wirken mimetische Texte auch auf die Ausdruckswahrnehmung. Betrachtet man die Auswahl an Schauplätzen und die Art und Weise, wie Figuren in diesen Räumen interagieren, lässt sich unschwer erkennen, dass Beschreibungen einsamer Helden in verlassenen Landschaften oder Porträts verödeter Gegenden oder anderer wenig ansprechender Settings in heutigen Kriminalromanen eine herausragende Rolle spielen. Die besondere Atmosphäre beispielsweise des hard-boiled Krimis ist die einer irrationalen, häufig mythischen Beschwörung der modernen Metropole. Die Stadt wird als verlassen und leer, nächtlich und anonym dargestellt.4 Der Polizist durchquert belebte Straßen; und streunt dennoch, wie bei Baudelaire oder in Edgar A. Poes „The Man in the Crowd“, durch verwaiste Gassen und über trostlose Plätze. Er bewegt sich mit Vorliebe durch finstere Außenbezirke und begibt sich in Gegenden der Stadt, die von anderen gemieden werden. In Raymond Chandlers Romanen beispielsweise scheint nichts den Dreck des Unrats fortwaschen zu können, nicht einmal der endlose Regen, der ein Gefühl von Unruhe hervorruft, die wiederum zur bedrohlichen Unvorhersehbarkeit der Stadt beiträgt. Tatsächlich ist der Regen in seinem Werk so allgegenwärtig, dass die Stadt selbst sich zu verflüssigen scheint und fast im Rinnstein verschwindet (Blanc 1991: 73). Obwohl zentraleuropäische Kriminalromane sich vom klassischen hard-boiled Krimi in mancherlei Hinsicht unterschei-

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Die Metapher der Nacht analysierte zuletzt William Sharpe (2008). Realistische und modernistische Kunst verwendet diese Art der Stadtdarstellung mit Vorliebe zur Illustration von moralischem Verfall (die Stadt als Babylon der 1850er Jahre), Wohlfahrts-Euphorie (frühes 20. Jahrhundert) oder sexueller Befreiung und Gewalt (in den 1940er und 50er Jahren).

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den, sprechen sie die Ausdruckswahrnehmung doch auf dieselbe Art und Weise an. Eine typische Szene aus Krajewskis zweitem Roman „Koniec Ğwiata w Breslau“ ([Das Ende der Welt in Breslau], dt.: „Der Kalenderblattmörder“) oder ein symptomatischer Abschnitt auf den ersten Seiten von „Die Toten vom Karst“, einem Roman von Veit Heinichen von 2002, illustrieren dies in hohem Maße: Breslau, Sonntag, den 22. Dezember, acht Uhr abends. An der Straßenbahnhaltestelle am Zwingerplatz standen nur zwei Fahrgäste. Beide trugen tief in die Stirn gezogene Hüte und hatten den Mantelkragen aufgestellt. Der Größere der beiden malte mit seiner Schuhspitze Zickzackmuster in den Schnee und beugte sich zu dem Kleineren hinunter, der ihm etwas ins Ohr flüsterte. Der Schnee fiel diagonal, vom Wind fortgeweht, und verwischte die Grenze zwischen dem schwarzen Himmel und dem Lichtkreis der Gaslaterne. (Krajewski 2006: 282)5 Laurenti schlug den Kragen hoch, wechselte die Strassenseite und ging nahe an den Hauswänden entlang. Die Naturgewalten, die ihm ins Gesicht peitschten, taten ihm gut, auch wenn sie ihn nicht von seinem Kummer ablenken konnten. (Heinichen 2002: 9-10)

Die Bilder eines einsamen, die Straße entlang laufenden und von den Naturgewalten umtosten Mannes tragen zur Dramatisierung und zur Entstehung einer unheilschwangeren Atmosphäre bei und schaffen so das Setting für die Ermittlung, für eine heroische Figur im Kampf mit einer labyrinthischen Realität (Scaggs 2005: 72; Willett 1996: 94-95). Zusammenfassend lässt sich Kriminalliteratur als eine Art atmosphärischer Sozialistischer Realismus betrachten: während sie unsere Welt darstellen, betonen sie gleichzeitig den emotionalen Wert bestimmter Situationen. Diese Vorliebe für leicht dysphorische Räume zeigt, dass realistische Stadtdarstellungen nicht nur auf Repräsentation abzielen und dass es ihnen auch nicht ausschließlich um den gedanklichen Rahmen des aktuellen ge-

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„Na przystanku tramwajowym na Zwingerplatz stali tylko dwaj pasaĪerowie. Obaj mieli postawione kołnierze palt i naciĞniĊte na oczy kapelusze. WyĪszy rysował w ĞwieĪym Ğniegu zygzaki i pochylał siĊ ku niĪszemu, który szeptał mu coĞ, wspinając siĊ na palce. ĝnieg sypał ukoĞnie, przecinając nieostrą granicĊ pomiĊdzy czarnym niebem a strefą gazowego poblasku.“ (Krajewski 2005: 267)

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sellschaftlichen Kontextes geht. Detaillierte Beschreibungen der jeweiligen Städte werden nicht nur aus Gründen der Wiedererkennbarkeit vorgenommen. Sie versuchen auch, das Eintauchen in eine fiktionale Urbanität und eine darauffolgende spontane qualitative und affektive Bewertung des fiktionalen Settings auszulösen. Die heutige Narratologie bezeichnet das Erlebnis, das diesem Vergnügen zugrunde liegt als „räumliche Immersion“: eine besondere Form der Empathie. Diese betrifft “those moments of sheer delight, (when) the reader develops an intimate relation to the setting as well as a sense of being present on the scene of the represented events.“ (Ryan 2001: 122) Marie-Laure Ryan zufolge ist der Lektüre von fiktionaler Literatur stets ein starkes eskapistisches Element eigen. Und in der Tat ist das Lesen immer eine magische Angelegenheit. Mithilfe von Figuren und Erzählern navigieren Leser und Autoren durch den virtuellen Raum einer fiktionalen Welt. In gewisser Hinsicht sind literarische Figuren Avatare. Sie tragen den Geist und die Phantasie von Lesern und Autoren. Wie hinduistische Götter, die vom Himmel zu einer leiblichen Existenz in die Welt herabsteigen, scheinen sich Leser und Autoren in der fiktionalen Welt zu inkarnieren. Diese ,eskapistische‘ Flucht in einen virtuellen Raum spielt nirgends eine so bedeutende Rolle wie in der realistischen Literatur. Konstitutiv für das immersive Leseerlebnis ist Ryan zufolge das Phänomen der „emotionalen Immersion“. Es tritt auf, wenn Leser so emotional auf die dargestellten Ereignisse reagieren, als beträfen diese Personen des ,realen Lebens‘ und nicht literarische Figuren (vgl. Ryan 2001: 148, 121). Mit anderen Worten, Leser erfahren eine emotionale Immersion, wenn fiktionale Ereignisse und Figuren ,echt‘ genug erscheinen, um eine emotionale Reaktion zu provozieren – sei es „sadness, relief, laughter, admiration, spite, fear,“ oder „sexual arousal“ (Ryan 2001: 148, vgl. Van Steenhuysen 2011). Ryan ist demnach der Ansicht, dass die literarische Vorstellungskraft nicht nur auf ihre Darstellungs- und Bedeutungs-Funktion zurückgreift, sondern dass sie auch die Ausdrucks-Funktion ansprechen muss.

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D IE B EDEUTUNGS -V ORSTELLUNG IN URBANER K RIMILITERATUR UND DER Z USTAND DER M ODERNITÄT Wenn wir uns von den in literarischen Räumen realisierten emotionalen Werten weg- und zu den kulturellen Voraussetzungen hinbewegen, die in ihnen widerhallen, nähern wir uns einer weiteren Dimension der Raumerfahrung. Auf dieser Ebene ist vor allem der moralische Horizont von Interesse, der sich in einem Roman abzeichnet und der den Leser dazu auffordert, über das in der Geschichte dargestellte Verhalten der Figuren nachzudenken. Den Begriff ‚Horizont‘ verwende ich ganz bewusst, um zu betonen, dass es sich auch hier um Raum handelt – wenn auch in einem eher metaphorischen Sinne. Von russischen Literaturtheoretikern wie Michail Bachtin und Jurij Lotman wissen wir, dass der literarische Raum mit einer Weltsicht verknüpft sein kann – ein moralischer Raum, der scheinbar eine Karte von Werten zeichnet, die in einer bestimmten Gesellschaft oder kulturellen Konstellation als relevant empfunden werden (vgl. Keunen 2011: 21). Wenn Bachtin in „Forms of Time and of the Chronotope in the Novel“ (1981) literarische Zeitdarstellung untersucht, favorisiert er stets eine Zeit des Werdens, ein fortwährendes Fließen sich verändernder Bewertungen, das er als typisches Merkmal der Raumkonstitution des modernen Romans betrachtet. In „The Bildungsroman and its Significance in the History of Realism“ schreibt er, Zeit werde im Roman als „emerging whole, an event“ wahrgenommen: The ability to see time, to read time, in the spatial whole of the world and, on the other hand, to perceive the filling of space not as an immobile background, a given that is completed once and for all, but as an emerging whole, an event - this is the ability to read in everything signs that show time in its course, beginning with nature and ending with human customs and ideas (all the way to abstract concepts). (Bakhtin 1986: 25)

Realistische Werke des 19. Jh.s veranschaulichen dieses Phänomen in hohem Maße. Große Romanautoren dieser Zeit zeichnen nicht nur physische Settings, sondern verwenden räumliche Repräsentationen als Symbole für moralische Werte. Durch die Bewegungen der Figuren im Raum konstruieren sie Modelle des sozialen Verhaltens und der Werte, die hinter

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diesem Verhalten zu stehen scheinen. Peter V. Zimas Arbeiten (z. B. 1980) zeigen, dass beispielsweise Balzac ein Meister moralischer Symbole gewesen ist. In seinen Romanen werden Schein und Sein einander fortwährend gegenübergestellt. In ihrem Verlauf stellen sich die Protagonisten als alles andere denn als gute Familienväter oder mitfühlende Bedienstete heraus, die sie anfänglich zu sein schienen; hinter ihren scheinbar unschuldigen Motivationen verbergen sich überraschende Kräfte: Habgier, Eifersucht, kalte Berechnung oder Machthunger. Der realistische französische Roman des 19. Jh.s demaskiert, entlarvt und entblößt, zerstört Illusionen, durchbricht den Schein und legt das Sein des Menschen offen. In dieser Phase der Literaturgeschichte ist die Welt geprägt von moralischer Ambiguität und Schriftsteller machen es sich zur Aufgabe, diese zu entlarven und die aus ihnen resultierenden Folgen für die Entwicklung ihrer Erzählungen zu nutzen. Hinter dieser irregeleiteten Welt lässt Balzac eine ideale Sphäre der Werte erahnen – etwa, indem er den Plot auf eine Bejahung von Werten und Wahrheiten ausrichtet, die das bürgerliche Publikum als annehmbare Alternative zum Individualismus einer kapitalistischen Gesellschaft betrachtet.6 Eine weitere Verfeinerung erlebte diese Technik im klassischen Großstadtroman (Zola und Dreiser), welcher das gesellschaftliche Leben in

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Zima untersucht die Geschichte des Romans als eine historische Entwicklung von der Ambiguität hin zur Ambivalenz gegenüber moralischen Werten (Zima 1980). Diese Entwicklung lässt sich insbesondere auf den literarischen Umgang mit Städtebildern übertragen. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s hielten Romanautoren es noch für möglich, die Ambiguität durch eine Art Hegelsche Synthese zu überwinden. Dieser Glaube an eine transzendente Wahrheit und einen transzendenten Wert blieb noch einige Zeit bestehen. Obwohl das äußere Erscheinungsbild der Welt eine gewisse Ambiguität provozierte, herrschte noch immer die Überzeugung, „Schein“ könne in „Sein“ sublimiert werden. Deshalb wurden spezifisch städtische Helden so dargestellt, dass sie eine zugrundeliegende, tiefere Essenz städtischen Lebens aufzeigten. In einer zweiten, ambivalenten Phase erwies sich die Möglichkeit einer Synthese im frühen 20. Jh. zunehmend als problematisch. Diese Literatur der Hochmoderne nahm die Differenz zwischen „Schein“ und „Sein“ nicht länger als gegeben hin und konfrontierte den Leser mit einer enthierarchisierten Gegenüberstellung unterschiedlicher Perspektiven. Stadtdarstellungen setzten zunehmend auf einen notwendigerweise fragmentarischen Charakter.

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der kapitalistischen Stadt als eine von den Kräften des Pathos, der Instinkte und Begierden angetriebene Trugwelt des schönen Scheins entlarvte, in der authentische menschliche Werte unterdrückt wurden. Die Paris-Darstellungen in den Romanen von Balzac und Zola oder die Darstellungen SanktPetersburgs in den Werken Dostojewskis und Beylijs heben allesamt soziale Beziehungen (oder deren Fehlen) und gesellschaftliches Verhalten (oder dessen Gegenteil, die Individualisierung) hervor. Dies geschieht an erster Stelle durch das Eintauchen des Lesers in die räumliche Welt, zum anderen aber auch durch die Erwähnung von gesellschaftlichen Themen oder Problemen, die für den modernen Kontext typisch sind. Die Thematisierung des moralischen Raums steht in engem Zusammenhang mit Realismus und Naturalismus. Spätere Formen literarischer Mimesis scheinen eine gewisse Abneigung gegenüber dem explizit moralistischen Tonfall des realistischen Romans zu hegen; in der Poetik der Avantgarde und des Modernismus scheinen moralische Bedeutungen sogar völlig in Verruf geraten zu sein. In Krimis jedoch hat sich der moralische Raum zu einem gewissen Grad erhalten. So wird kriminelles Verhalten beispielsweise in Kriminalromanen des frühen 20. Jh.s als Folge des Bankrotts bürgerlicher Normen beschrieben. Die proletarische Klasse, Juden oder Ausländer: In Krimis sind sie alle Repräsentanten der Normabweichung. Wie Sir Arthur Conan Doyle vor ihr, setzt Agatha Christie einen moralisch und technisch überlegenen Helden in Szene, der die bürgerlichen Werte ein ums andere Mal wiederherstellt. Der klassische Krimiplot endet stets mit einem Lobgesang auf die rationale Überlegenheit seines Helden. Sherlock Holmes und Hercule Poirot sind Figuren, die typischen Problemen der modernen Zeit begegnen, wie etwa der Zersplitterung der Gesellschaft oder dem Chaos moralischer Konflikte. Wie Koenraad Geldof in einem anschaulichen Aufsatz über die Geschichte des Kriminalromans im 20. Jh. (2000) feststellt, ist auch die Reaktion dieser Figuren typisch für die Modernität: Sie begegnen der Modernisierung mit etwas, das Philosophen als ,reine Vernunft‘ bezeichnen. Wie im folgenden zu sehen sein wird, gibt es einige Anzeichen, die dafür sprechen, dass der typische Plot des Großstadtromans – also der Kampf des Individuums mit den moralischen Folgen der Modernität – im Laufe des 20. Jh.s an Bedeutung verloren hat. Um die existenziellen Traumata ihrer Figuren zu inszenieren, greifen die literarischen Vorreiter des Modernismus oder der sogenannten Postmoderne nicht länger auf die Konfron-

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tation zwischen Individuum und moderner Zeit zurück. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Folgen dieser Konfrontation: ein Zustand der Unfähigkeit und Machtlosigkeit oder des Niedergangs von Traditionen und Strategien symbolischer Bedeutung. Mit Gilles Deleuze und Félix Guattari gesprochen setzen sie die absolute „Dekodierung“ gesellschaftlicher Codes in Szene. Am offensichtlichsten ist diese Verschiebung in hard-boiled Krimis und deren heutigen Nachfolgern zu beobachten; Geschichten, die sich hinsichtlich ihrer Plotstruktur zwar der Techniken des 19. Jh.s bedienen, auf der Ebene des moralischen Raums aber frischen Wind in die literarische Landschaft bringen.

D ER MORALISCHE R AUM DER G EGENWART : VOM ‚Ü BERLEBEN IN EINER W ELT DER L ÜGEN ‘ ZUM – ‚L ÜGEN IN EINER W ELT DES Ü BERLEBENS ‘ Anlässlich des Erscheinens des 1000. Bandes der renommierten „Série noire“ des renommierten französischen Verlages Gallimard veröffentlichte Deleuze, damals noch ein weitgehend unbekannter Philosoph 1966 in der ebenso unbekannten Zeitschrift „Arts et Loisirs“ einen bemerkenswerten Aufsatz über die Philosophie des Kriminalromans. Dieser Text kann als kurzes Resumée der Geschichte des Krimis gelesen werden, ist aber zugleich auch eine kulturphilosophische Reflexion zweier für das moderne Denken typischer Repräsentationsmodi. Zunächst unterscheidet Deleuze zwischen dem klassischen Detektivroman und dessen in Frankreich als „roman noir“ bezeichneter Variante. Ausgehend von dieser Unterscheidung beschreibt er zwei Haltungen gegenüber der modernen Moral. Die beiden Varianten von Kriminalgeschichten unterscheiden sich durch ihr radikal verschiedenes Problemlösungsverhalten. Sherlock Holmes und Hercule Poirot (genauso wie Dupin, Rouletabille und Miss Marple) sind ideale Vernunftwesen, die den Verbrecher und damit auch das Verbrechen an sich mit Hilfe von Operationen des logischen Denkens (Induktion und Deduktion) zur Ordnung rufen. Dadurch wird der Detektiv zu einer virtuosen Persönlichkeit in einer amoralischen Welt, ein Feind der Reichen und Schönen, der die Wahrheit hinter der sorgfältig errichteten Fassade enthüllt (Cawelti 1976: 139-156). Philip Marlowe (in Raymond Chandlers Werk), Nestor Burma (Leo Malet und Jacques Tardi), oder Marek Krajewskis Eberhardt

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Mock hingegen zeigen wenig Sinn für den „Willen zur Wahrheit“ des klassischen Detektivromans. Im hard-boiled Krimi neigt der Polizist sehr viel eher dazu, auf Informanten zurückzugreifen oder einen Gefangenen zu foltern und die gewünschten Informationen aus ihm herauszuprügeln, als dass er wissenschaftlichen Schlussfolgerungen oder metaphysischen Spekulationen nachginge: Ce qui était nouveau, comme usage et exploitation littéraires, c’était d‫ތ‬abord de nous apprendre que l’activité policière n’a rien à voir avec une recherche métaphysique ou scientifique de la vérité. La laboratoire de police ne ressemble pas plus à la science que les coups de telephone d’indicateur, les rapports de gendarmerie ou les procédés de torture ne ressemblent à un discours métaphysique. (Deleuze 1966: 12)

Die eher unorthodoxen Verhörmethoden, die Mock in der nachfolgenden Szene an den Tag legt, sprechen für sich: Diehlsen tat, wie ihm geheißen, und versuchte sich wieder hochzuziehen. Dabei zappelte er mit den Beinen, als ob er sich irgendwo abstützen wollte. Mock wischte sich angeekelt mit dem Taschentuch Diehlsens Schweiß vom Gesicht. Er stellte sich neben den hängenden Gefangenen und betrachtete aufmerksam dessen kaum vorhandene Muskulatur. Diehlsen zog sich ein Stück hoch und sackte wieder herunter. Dann zog er sich wieder hoch, bis er mit dem Kinn auf Höhe der Schiene war, konnte sich nicht mehr halten und fiel zu Boden. Er jaulte vor Schmerz auf und packte seinen verletzten Knöchel. „Ich kann nicht mehr...“, flüsterte er. „Nun, sehen Sie, Herr Diehlsen?“ Mock warf das Taschentuch hinter sich. „Ovid hatte Recht. Ich bewundere Ihren Willen, und dafür werde ich Sie in eine ganz normale Untersuchungshaft überführen. Dort werden wir uns gemütlich und in Ruhe über die Kriminalgeschichte unserer schönen Stadt unterhalten. Ja, Sie dürfen das Weihnachtsfest in warmen Räumen verbringen.“ (Krajewski 2006: 296 f.)7

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„Diehlsen objał dłoĔmi szynĊ i probówał siĊ podĨwignąü. Wywijał przy tym nogami, jakby chciał siĊ na czymĞ oprzeü. Mock z obrzydzeniem wycierał chustką do nosa pot Diehlsena ze swojej twarzy. Podszedł do wiĊĨnia i uwaĪnie przypatrywał siĊ jego wątłym muskułom. Diehlsen podciągał siĊ powoli i opadał. Kiedy dochodził juĪ brodą do poprzeczki, puĞcił siĊ i upadł. Zawył z bólu i uklĊknął, trzymając siĊ za zwichniĊtą kostkĊ. – Nie mogĊ – wyszeptał. – Widzi pan, Diehlsen – Mock rzucił chustkĊ w róg sali. – Owidiusz miał racjĊ. Pochwa-

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Die in hohem Maße unethische Haltung des Helden in Krajewskis Romanen lässt sich als Zuspitzung eines Individualisierungsprozesses lesen, der hier als konstitutives Element der Modernität verstanden wird: die Tendenz, ein durch Grenzüberschreitungen geprägtes Bild von Freiheit zu stilisieren, bringt auch eine Neukonzeption der Eigenständigkeit des Einzelnen mit sich. Im Gegensatz zum traditionellen Detektiv (im Stile Conan Doyles) ist der Held des zeitgenössischen Krimis viel häufiger geneigt, eine ‚unethische‘ Grundhaltung einzunehmen. Deleuze zufolge hegt der roman noir eine moralische Haltung, die auf eine anti-idealistische Weltsicht gründet. Die aristokratische Welt des Detektivromans und des realistischen Romans des 19. Jh.s hingegen sei idealistisch geprägt; eine Welt, in welcher der Detektiv unter der Oberfläche Nachforschungen anstellt und versucht, die hinter der Fassade verborgene Wahrheit freizulegen. Der Detektiv steht für den rationalen Menschen, der lernen muss, in einer Welt der Lügen und Eigeninteressen zu überleben. Heutige Ermittler hingegen scheinen selbst von der Welt der Lügen infiziert und neigen dazu, sich mit der Erkenntnis, dass das Streben nach Wahrheit jeden Sinns und jeder Bedeutung entbehrt, abzufinden. Detektive wie Sherlock Holmes oder sein mehr oder weniger aktuelles Pendant Derrick, die im Grunde kaum als Menschen aus Fleisch und Blut dargestellt werden, bekommen zunehmend Konkurrenz von einem anderen Typus. Die zeitgenössische Kriminalliteratur akzeptiert den Menschen in seiner wahren Gestalt, nämlich der eines egozentrischen Lügners, der versucht, die Welt um jeden Preis zu manipulieren. Ziel des Ermittlers ist nicht mehr das Überleben in einer Welt der Lügen, sondern eher in einer Welt verbissener Überlebender. Der Krimiautor der Gegenwart leuchtet diese Sicht auf den Menschen aus, indem er vor allem Aufschneider und Individuen in Szene setzt, die nicht in erster Linie an ihrem eigenen „Image“ interessiert sind. Auf diese Weise zeigt er, dass nur ein kreativer Umgang mit der eigenen Identität den Lebenskampf zu einem günstigen Ende führt. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise die Persönlichkeit Mocks voll von Doppeldeutigkeiten und Widersprüchen ist. Er ist eine merkwürdige Kombination aus akademischer Gelehrsamkeit (er ist Altphilologe und prahlt bevorzugt mit

lam pana wolĊ walki i w nagrodĊ kierujĊ pana do normalnego policyjnego aresztu, Tam długo bĊdziemy mogli gawĊdziü o historii kryminalnej naszego grodu. Tak, tam w cieple spĊdzi pan ĞwiĊta [...].“ (Krajewski 2005: 280 f.)

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seinem Sprachtalent) und rauen proletarischen Verhaltensweisen (er ist gewalttätig, impulsiv und verbringt seine Zeit gern in zwielichtigen Bars). Diese Polarität wird von weiteren Ambiguitäten noch verstärkt: Einerseits ist Mock ein bürgerlicher, vergleichsweise gesetzestreuer Mensch; andererseits verfügt er jedoch über eine anarchistische Neigung zum Ungehorsam. Letzten Endes kann der Leser daraus nur schließen, dass diese Helden niemals besser sind als die chaotische Welt, in der sie das Gesetz aufrechterhalten und die Ordnung wahren sollen. In diesem Widerstreit wird sich der Leser bloß seiner eigenen, idiosynkratischen Moral bewusst; er entwickelt sein Ego, indem er auf äußerst minimalistische moralische Standards zurückfällt, also eine Ethik, die in der Moraltheorie als „Vernunftethik“ bezeichnet wird. Oder es ist das ethische Selbstbewusstsein des traditionellen Helden bzw. die „Strategie der Recodierung“ wie Deleuze und Guattari (1972/ 1980) es bezeichnen, das von einer noch extremer individualistischen Haltung abgelöst wird, in deren Kontext der Widerstand gegen eine transgressive Welt selbst radikal grenzüberschreitende Züge annimmt. Eine Welt, in der Wettbewerb und nicht enden wollender Lebenskampf zur Norm geworden sind, bereitet diesem moralischen Verfall fruchtbaren Boden. Deleuze zufolge ist die heutige Welt in den Augen des Krimiautors ein noch weitaus härteres Pflaster als sie es zu den Zeiten Balzacs und Conan Doyles gewesen ist. Der gradlinige, zum Ideal führende Weg (Wahrheit, Ordnung, Frieden) scheint Seitenpfaden und Umwegen gewichen zu sein, die im Grunde nirgendwohin führen. Das gedankliche Universum des Ermittlers in Krajewskis Romanen ist in diesem Kontext äußerst anschaulich. In „Koniec Ğwiata w Breslau“ tritt Eberhard Mock als Figur am Scheideweg divergierender gesellschaftlicher Kräfte auf: seine tragische junge Frau, die er fortwährend mit kleinen Geschenken ruhig stellen muss, entzieht sich am Ende seiner Kontrolle; seine aufsässigen Untergebenen, deren Loyalität mit stillschweigender Subversion wechselt, zeichnen sich durch dieselbe fließende Unbestimmtheit aus. Typisch für Krajewskis MockReihe ist auch das Auftreten von Figuren der großstädtischen Unterwelt (Prostituierte, Alkoholiker, Sektierer, perverse Psychopaten). Sie vervollständigen das Bild einer von chaotischen Kräften dominierten Gegenwart. In Krajewskis Universum ist der Einzelne ein Spielball unkontrollierbarer Kräfte und die Gesamtheit dieser Universen ist eine rhizomatische Welt widerstreitender Lebenswege. Die Welt des hard-boiled Krimis weist viele

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Gemeinsamkeiten mit derjenigen eines Regisseurs wie Quentin Tarantino auf. Es ist eine Welt, deren Individuen sich immerzu verstellen und fremde Rollen spielen, eine Welt, in der sie gewaltsam auseinandergerissen werden, nur um anschließend wieder miteinander zu kollidieren, als hätte die Natur ihre Gewalt von der Leine gelassen. In solch einem Universum kann man niemandem trauen. Diese Welt kennt keine Tiefe, keine Wahrheit, in ihr gibt es weder authentische Motivationen noch geheime Bedeutungen aufzudecken. Da ist einzig ein mehr oder weniger endloses Spiel der Lügen, jede neue Lüge führt zu einem neuen Problem, welches von den Helden abgearbeitet wird, bis schließlich eine neue Lüge auftaucht, die wiederum ein neues Problemfeld gebiert. Oder um mit Theo D’haen und Hans Bertens zu sprechen: die Figuren zeitgenössischer Kriminalromane „consciously and cynically implicate themselves in what they know to be a corrupt and even inhuman system. The alternative is that they opt out. (Bertens 2001: 112)

D AS Z USAMMENSPIEL VON AUSDRUCKS - UND B EDEUTUNGS -R ÄUMEN IM G RO S S STADTKRIMI Die zeitgenössische Darstellung des Ermittlers muss vor dem Hintergrund eines gewandelten moralischen Referenzrahmens betrachtet werden. Die Mimesis der gegenwärtigen Zustände im heutigen Kriminalroman ist geprägt von einem moralischen Raum, der sich von jenem früherer Arten von Literatur deutlich abhebt. Der Held des spätmodernen8 Krimis kämpft weniger gegen eine spezifische Form des Bösen oder gegen eine moralisch negative Instanz, sondern vielmehr gegen einen abstrakteren Feind: das Fehlen moralischer Grundsätze. Deshalb feiert Deleuze den roman noir für seine Darstellung dessen, was er eine „Gesellschaft auf dem Höhepunkt ihrer Falschheit“ nennt. „Falschheit“ ist ein Konzept Friedrich Nietzsches, das für Deleuzes Werk in den späten 1960er Jahren von großer Bedeutung war, vor allem für „Logique du sens“ (1968) und „Différence et répétition“ (1969); in dem hier diskutierten Essay erscheint der Begriff hingegen in

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Im Original „late modern“ mit Hinweis auf die heutige Zeit, wie sie sich in etwa der 2. Hälfte des 20. Jh.s durch Spätkapitalismus und Globalisierung entwickelt hat [Anmerkung A. F.].

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einem sozio-kulturellen Kontext. Deleuze zufolge hat das spätmoderne Individuum jede Hoffnung auf eine stabile Identität aufgegeben. Der Mensch der Spätmoderne lebt von den Zerstreuungen des glitzernden Scheins und wird von unkontrollierbarer Kreativität vorangetrieben. Zwischen ihr und der ordnenden Kreativität des rationalen Geistes (dem Ideal Conan Doyles) liegen Welten: das Fehlen von Vorbildern und Strukturen macht jede Hoffnung auf erfolgreiche Rekonstruktion zunichte. In der Tradition des hardboiled Krimis und des zeitgenössischen Kriminal-Thrillers wartet der Held in der moralischen Gosse der Gesellschaft nur darauf, den Kampf mit den Problemen der Modernität aufzunehmen. Wie bereits festgestellt, besteht der wichtigste Unterschied zum klassischen Detektivroman darin, dass der Plot nicht in einen Zustand von Frieden und Bejahung des bürgerlichen status quo mündet, sondern mit einer unvollkommenen Eindämmung des Chaos endet. Zwar wird ein Übeltäter ausgeschaltet, aber am Ende der Geschichte ist die Welt noch genauso unvollkommen wie zuvor. In dieser Hinsicht behalten die neueren Formen der Krimiliteratur in der Gegenwart das realistische Paradigma bei; untersucht man den Realismus „as a strategy for imagining and managing the threats of social change to assuage fears of powerlessness“ (Nalbantian, s.o.), dann lässt sich feststellen, dass die Angst vor der Machtlosigkeit in den vergangenen 80 Jahren immer weiter in den Kriminalroman eingedrungen ist. Die wachsende Mimesis der Machtlosigkeit auf der Ebene der Bedeutungswahrnehmung (also der Aussagen über die gesellschaftliche Situation) wird durch Veränderungen auf der Ebene der Ausdruckswahrnehmung noch verstärkt. Die in diesem Beitrag angeführten Beispiele – die bedrohliche Atmosphäre nächtlicher Städte, die bedrückende Anziehungskraft verregneter, nebliger oder verschneiter Straßen, die rätselhafte Kraft verlassener städtischer Gegenden und urbaner Ruinen – zeigen, dass Großstadtdarstellungen Gefühle der Machtlosigkeit zum Ausdruck bringen. Durch das Auftreten von Figuren der städtischen Unterwelt oder isolierter, gesetzloser Individuen wie Eberhard Mock in dunklen, kalten und unattraktiven physischen Settings, werden unter anderen Umständen sich entziehende Phänomene wie Moral oder „Zeitgeist“ greifbar. Gerade in literarischen Inszenierungen, die in hohem Maße die Ausdrucks-Vorstellung ansprechen, enthüllt die Modernität ihr wahres(tes) Gesicht. Die ‚Überlebenswelt‘ des klassischen Detektivromans und vieler realistischer Romane des 19. Jh.s präsentierte sich weitaus heller und sauberer, selbst wenn sie vom verwerf-

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lichen Verhalten von Lügnern oder verlogenen Institutionen überschattet wurde. Die bedrückende und aggressive Atmosphäre der Schauplätze und der darin involvierten emotionalen Eigenschaften legen die Vermutung nahe, dass diese ‚Überlebenswelt‘ einer passenderen Ausstattung bedurfte. Die ‚Lügen in einer Welt des Überlebens‘ erforderten offenbar ein Setting im Stile des roman noir, das in der Lage war, Empfindungen wie Melancholie, Angst, Desorientierung, Leere etc. heraufzubeschwören … In dem er sich der Atmosphäre des roman noir bedient und die am augenfälligsten irrationalen Aspekte unserer Kultur anspricht, ermöglicht uns der Krimi, die politischen Probleme unserer Zeit zu verstehen. Viele Probleme der Gegenwart – Gefühle der Unsicherheit, Panik vor wirtschaftlichen Krisen, die wachsende Kluft zwischen Bürgern und Politik – berühren irrationale Ängste. Diese Tendenz beobachtet Cassirer bereits in den 40er Jahren des vorigen Jh.s. Obwohl er in erster Linie als Vertreter der Aufklärungstradition gilt, besteht einer seiner interessantesten Gedanken darin, dass er den Einfluss mythologischer Denkmuster als anthropologische Konstante betrachtet. Welches Maß an Raffinesse unser Wissen in Zeiten von high tech und der hochgradigen Spezialisierung auch immer erreicht haben mag, zu einem gewissen Grad denken wir immer noch mythologisch. In einem seiner letzten Werke, in dem er den Aufstieg des Faschismus analysiert, unter dem er selbst sehr gelitten hat, liefert Cassirer einen Beweis für seine Idee. In „The Myth of the State“ (1946) zeigt er auf, in welch hohem Maße die Analyse der politischen Situation von unserer affektiven Vorstellungskraft beeinflusst wird. Dieser Ansicht war auch Walter Benjamin. Er bezeichnete den Kapitalismus als „Naturerscheinung“, die mythische Kräfte wiederbelebt habe, welche eher primitiven Kulturen zugeschrieben werden: „Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte.“ (Benjamin 1982: 494) Benjamin zeigte sich zu Recht in hohem Maße besorgt angesichts der in unserer säkularisierten und rationalisierten Welt vorhandenen irrationalen Tendenzen. In einer solchen Kultur gewinnt die jeweils andere Seite der Medaille automatisch dieselbe Bedeutung. Die Menschheit, so Benjamin in seinem „Passagenwerk“, „sera en proie à une angoisse mythique tant que la fantasmagorie y occupera une place.“ (Benjamin 1982: 61, Fr. i. O.) Das Faszinierende einer mythischen Wissenkonstruktion birgt zugleich auch ein Element des Terrors. Die Angst, unsere Freiheit und unseren Wohlstand zu verlieren geht Hand in

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Hand mit Träumen von Erfolg und Reichtum. Diese Feststellung kann als Leitfaden für die Lektüre zeitgenössischer Kriminalromane dienen. Ihre Verbindung von Anspielungen auf den gesetzlosen Zustand des Menschen mit dem Gefühl der Machtlosigkeit veranschaulichen die Komplexität der modernen Zeit besser als jede explizite Ideologiekritik. Mit anderen Worten: Im Krimi zeigt sich das Potenzial einer wahrhaft mimetischen Kunst. Aus dem Englischen von Anna Förster

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Überblick: Genius Loci oder Kulisse? Städte als Tatorte

Die Spieler in den ruhigen Zagreber Straßen Zwei Kriminalromane der zeitgenössischen kroatischen Literatur A LIDA B REMER Er hörte weder die Musik aus dem Café in der Martiüeva Straße, noch die Flüche, noch die Katzen im Hof, noch die entfernte Polizeisirene. NADA GAŠIû Inmitten all dieser Müllhaufen und des Gerümpels an den Ständen hatten sie ein Glasgebäude errichtet, du lieber Himmel, hier wuchs wohl gerade ein neues New York heran. EDO POPOVIû

Jorge Louis Borges, Vladimir Nabokov, Italo Calvino und Umberto Eco zeigten zwischen den Sechzigern und Achtzigern, dass es in der erzählenden Literatur zwar nicht mehr viel Neues geben, aber dass ein kreativer und reflektierter Umgang mit dieser Tatsache zu einem Kunstwerk verarbeitet werden kann, sowie dass das Spielen mit einem Schema eine schier unbe-

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grenzte Zahl von Kombinationen bietet.1 Diese literarische Welle gelangte auch nach Kroatien und erweckte vor allem bei Literaturwissenschaftlern ein Interesse am Kriminalroman als Gattung mit besonderem literarischem Potential. Natürlich blieb diese Veränderung des Paradigmas, bei der „der Graben“ zwischen „niedriger“ und „hoher“ Literatur (Fiedler 1988) geschlossen wurde, vor allem den Eingeweihten vorbehalten, aber immerhin zeichnete sich eine Wende innerhalb der kroatischen Literatur ab. Denn es gab kaum Krimi-Autoren in Kroatien, wurde diese Gattung doch allgemein als trivial angesehen – sie stand unter einem schlechten Vorzeichen, da der wichtigste kroatische Autor des 20 Jh.s, Miroslav Krleža, einst entschieden abgelehnt hatte, sich an einem Krimi-Experiment zu beteiligen.2 Auch die sozialistischen Vorstellungen von Kultur und von literarischen Werten wirkten sich negativ auf die Rezeption und Produktion von Unterhaltungsliteratur aus. Dennoch sind seit den Fünfzigern einige Namen von Krimiautoren zu nennen: Antun Šoljan (ein Anglist und Nabokov-Kenner) mit seinem Roman „Der einfache Mord“, Milan Nikoliü, der sogar 28 Romane schrieb, die sich alle im lokalen Milieu abspielen, Ivan Raos, dessen beide Romane in den USA und in Großbritannien spielen, Branko Belan und Nenad Brixy, der in den Sechzigern unter dem Pseudonym Timothy Tatcher zwei viel beachtete Parodien geschrieben hat, die in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurden.3 Verglichen mit den benachbarten Län-

1

In meiner Doktorarbeit, die 1999 unter dem Titel „Kriminalistische Dekonstruktion: Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane“ in Würzburg veröffentlicht wurde, habe ich mich ausführlich sowohl mit der Geschichte des Kriminalromans, wie auch mit den literaturtheoretischen Analysen dieser Gattung und mit den vielfältigen Arten, das Schema zur verändern, beschäftigt. Deshalb werde ich meinen Beitrag als einen freien Essay gestalten, ohne einen größeren wissenschaftlichen Apparat zu bemühen – obwohl inzwischen zahlreiche neue Studien zu diesen Themen erschienen sind; ihre Zahl ist Legion, beinahe so groß, wie die Zahl der Krimis, die inzwischen allerorts geschrieben werden.

2

Ulrike Schult berichtet in ihrer Magisterarbeit, wie der Chefredakteur der Zagreber Zeitschrift „Kriminal“, Valent Klanjþiü, 1934 mehrere bedeutende Autoren des damaligen Königreichs Jugoslawien um Beiträge für ein gemeinsames humoristisches Krimi-Projekt bat, was Krleža entrüstet abgelehnt zu haben scheint.

3

In deutscher Sprache sind sie in der DDR in der Reihe Kronen-Krimi des Eulenspiegel-Verlages erschienen. 1967 und 1972 die Übersetzungen von „Mrtvacima

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dern, mit denen Kroatien einst die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien bildete, waren es sogar recht viele Autoren. Ebenso waren auch die meisten Krimiforscher ausgerechnet in Kroatien angesiedelt. Warum auch immer, eine soziologische Betrachtung würde das vielleicht erklären können. Das Interesse an der englischen und amerikanischen Literatur im Allgemeinen ist sicher einer der Gründe dafür (etwa im Fall von Antun Šoljan): Die englischsprachige Literatur stand in jener Zeit auch als Symbol für unzensiertes Schreiben und war eine Art Fenster in den Westen. In den Siebzigern und Achtzigern des 20 Jh.s befreiten Goran Tribuson, Ludwig Bauer und vor allem Pavao Pavliþiü die Gattung des Kriminalromans endgültig von ihrem Schattendasein. Pavliþiü ist ein Meister der fliessenden Übergänge zwischen dem Realen und dem Phantastischen und ein sehr genauer Beobachter. Da es sich um einen Literaturprofessor der Universität in Zagreb handelte, hütete sich die Kritik vor dem Vorwurf der billigen Unterhaltung. Sie suchte stattdessen in seinen literaturtheoretischen und -historischen Kenntnissen nach den Gründen, die hinter einer Entscheidung für diese Gattung stehen könnten. Und doch ist das Vorurteil, das dem Kriminalroman als einer niedrigen Gattung anhaftet, immer noch häufig ein Hindernis dafür, in Pavao Pavliþiü einen der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen kroatischen Literatur zu erkennen, der ca. 50 Bücher geschrieben hat, darunter 20 Romane. Da auch Pavliþiü, wie viele andere Autoren im Kroatien jener Jahre, dem verzaubernden Sog, der von Jorge Luis Borges und von der Postmoderne ausging, verfallen war, schrieb er u. a. einen Krimi über einen Mann, der ein perfekter Gemäldefälscher wurde, um auf der Folie des kriminalistischen Plots eine Theorie über die Bedeutung des Originals und des Plagiats auf den Spuren von Borges zu entwickeln. Während die Moderne den Bruch mit der Tradition und das Neue als höchsten Wert postulierte (berühmt ist der programmatische Ausruf Baudelaires im Gedicht „Le voyage“: „Au fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau!“ [Baudelaire 1975: 134]), kehrt Borges in der Erzählung „Pierre Menard, Autor des Quijote“ die Idee des Neuen in der Literatur ins Absurde: Pierre Menard schreibt das Werk von Cervantes neu, indem er es Wort für Wort genauso schreibt, wie es bereits von Cervantes geschrieben wurde (Borges 1970). Die Kriminal-

ulaz zabranjen“ [Für Tote Eintritt verboten] und „Hollywood protiv mene“ [Hollywood gegen mich].

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romane mit ihren schematischen Strukturen und thematischen Grenzen ermöglichen eine Vielzahl von Variationen, ohne je wirklich „neu“ sein zu können. In seinen Kurzgeschichten und Romanen mit kriminalistischer Struktur hat Pavao Pavliþiü häufig auf eine Verbindung zwischen Zagreb und der Krimihandlung gesetzt, eignete sich doch diese Stadt mit ihrer Verschlossenheit und Vertraulichkeit für ähnliche atmosphärische und strukturelle Elemente wie jene Dörfer in der britischen Krimitradition. Das Verbrechen lauert in seinen Texten in der kleinbürgerlichen Ordnung. Das Urbane bei Pavliþiü trägt keine großstädtische Prägung, da die Hauptstadt Kroatiens die Überschaubarkeit des ganzen Landes widerspiegelt. Freilich haben der Krieg und der Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens diese Atmosphäre verändert. Die theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Kriminalroman waren im Kroatien der Siebziger und Achtziger sogar ausgeprägter als das Schreiben der Romane selbst. Die Germanisten Zdenko Škreb und Viktor Žmegaþ setzten sich in erzählanalytischen Studien mit der Gattung auseinander, und einige ihrer Texte sind auch in deutscher Sprache zugänglich (Žmegaþ 1971). Stanko Lasiü verwendete Kriminalromane, um seine strukturalistische Theorie zu entwickeln. Und auch zwei weitere kroatische Literaturkenner schrieben Bücher über Krimis: der Kritiker Igor Mandiü und eben Pavao Pavliþiü. Die Gründe für dieses plötzlich erwachte Interesse waren verschieden. Einerseits wuchs in den Reihen der Literaturtheoretiker das Bewusstsein, dass sich in dieser vermeintlich trivialen literarischen Gattung doch mehr Potential verbirgt, als es eine veraltete elitäre Konzeption der Literatur zulassen wollte, andererseits lockerte sich die sozialistische Ästhetik dahingehend, dass die Phänomene der westlichen Kultur zu einer willkommenen Herausforderung für Theoretiker wurden. Vielleicht verband sich mit dem Krimi auch die Hoffnung, in einer unterhaltsamen Art bestimmte Dinge sagen zu können, die sonst sofort politische Konsequenzen nach sich gezogen hätten? Viele Moden, Einflüsse, theoretische Überlegungen und literarische Experimente jener Jahre kamen von außen, aber Theoretiker wie Žmegaþ oder Škreb, die zu der sogenannten Zagreber Schule gehörten, waren innovativ und originell. Die damalige subtile jugoslawische Zensur betraf mehr die einheimischen Autoren als die ausländischen, so dass damals alle Einflüsse, ob aus dem Westen oder aus dem Osten, relativ frei in das Land und

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in den Literaturbetrieb einfließen konnten, was die Literaturwissenschaftler der Zagreber Schule zu ungehinderter Forschung in alle denkbaren Richtungen anregte. Dazu kam noch der Film – im Unterschied zu anderen Ländern des europäischen Ostens kannte man auch beim Import von Filmen keine nennenswerte Zensur. Als Mitte der Achtziger mit der Zeitschrift „Quorum“ in Zagreb eine wahre Lawine der Postmoderne über die jugoslawische Literatur rollte, war es nur eine Frage der Zeit, wann auch in diesen Ländern mehr Krimis geschrieben würden, die ihre vielseitige Verwandlungsfähigkeit in anderen Literaturen schon gezeigt hatten. – Doch es kam anders. Der Krieg in den Neunzigern brachte plötzlich ganz andere Themen auf, und auch die Postmoderne wurde in der kroatischen Literatur in ihrem Vormarsch jählings aufgehalten – es kam die Zeit der Tagebücher und Autobiographien, der Essays über die Identität und der schlagfertigen Kurzgeschichten, die die Atemlosigkeit, die allgemeine Betroffenheit und die Absurdität des Augenblicks zum Ausdruck brachten. Die Krimis jedoch erlebten in den Neunzigern nicht jene Blüte, die sie in anderen Literaturen erreichten und für die die Voraussetzungen schon geschaffen worden waren. Es konnte allerdings nicht mehr lange dauern, bis die Autoren, die zunehmend in stark realistisch geprägten Romanen den Krieg zu beschreiben versuchten, auf den Kriminalroman mit seinen vielen Varianten – vom Detektivroman bis zum Thriller, vom whodunit bis zum hard-boiled – zurückgreifen würden. Jurica Paviþiü, ein subtiler Erzähler und Filmkenner, war m.E. der erste, der die Krimistruktur für ein schwieriges aktuelles Thema verwendete: Das Schweigen der Gesellschaft über die Kriegsverbrechen, die die Soldaten bzw. Kriegsveteranen der „eigenen“ Seite begangen haben.4 Paviþiü, der selbst für neun Monate als Soldat in den Krieg einbezogen war, verarbeitet in diesem Roman, der sich vor allem in der Küstenstadt Split abspielt, diese Erfahrung. Die Bearbeitung der Nachkriegszeit hat in Kroatien schließlich zu zwei bemerkenswerten Zagreber Krimis geführt, die ganz im Geiste der oben in Kürze geschilderten Entwicklung stehen – zur Trilogie „Igraþi“ (2006, dt. „Die Spieler“ 2009) von Edo Popoviü als eine Art turbulenter Thrillerper-

4

Sein Roman „Ovce od gipsa“ (1997) ist auf Deutsch unter dem Titel „Nachtbus nach Triest“ (2001) erschienen.

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siflage und zum whodunit-Roman „Mirna ulica, drvored“ ([Eine ruhige Straße, eine Baumallee] 2007) von Nada Gašiü, das ins Deutsche noch nicht übersetzt wurde.5 In diesen beiden Werken wurde die Tradition des Kriminalromans in der hektischen zeitgenössischen Situation Kroatiens zu neuem Leben erweckt. Den Roman „Die Spieler“ hat Edo Popoviü bewusst als eine Art Parodie der amerikanischen hard-boiled-Variante des Kriminalromans angelegt, um die kroatische Nachkriegsgesellschaft krimineller als in jeder anderen Fiktion beschreiben zu können. Nada Gašiü wiederum gestaltet ihren Roman „Mirna ulica, drvored“ als einen beinahe klassischen Kriminalroman britischen Stils. Beide Autoren verwenden diese Literaturgattung, um über die Wirklichkeit ihrer Zeit zu sprechen und auch über Zagreb, die bisher einzige Krimi-Stadt in der kroatischen Literatur und darüber hinaus in den gesamten ehemals jugoslawischen Literaturen. Bei Popoviü ist es das Zagreb der Vororte, der Betonsiedlungen, der zwielichtigen Bars, denen die Vororte mit den Villen der Neureichen und Prominenten gegenüber stehen, die die wahren Verbrecher sind. Bei Gašiü ist es das Zagreb der Kleinbürger, der ruhigen Nachbarn, die nichts gehört und nichts gesehen haben. Dem Wegschauen und dem Nichthören kommen in einer Nachkriegszeit tiefere Bedeutung zu als in einem britischen Krimi, da dieses Leitmotiv, das im klassischen Krimi dazu dient, die Spannung um das Geheimnis zu erhöhen, es hier ermöglicht, das Verhalten der Mehrheit der Gesellschaft den Kriegsverbrechern gegenüber darzustellen. Daša, eine einsame ältere Dame, hat im Roman von Nada Gašiü in Bezug auf einen Mord „Etwas“ gesehen und nicht einmal in ihrem Tagebuch, in dem sie ihre Träume und Gedanken notiert, schreibt sie offen darüber, geschweige denn, dass sie zur Polizei geht oder das Gesehene jemandem anderen anvertraut. Nicht einmal als ein alter bosnischer Flüchtling zu Unrecht des Mordes beschuldigt wird, meldet sie sich zu Wort, obwohl ihr das Nicht-Schauen-Wollen durchaus bewusst ist: Und auch jetzt, diese Kritzelei auf Papier über völlig unwichtige Dinge, zu einem Zeitpunkt, wo etwas passiert ist, und ich dieses Etwas gesehen habe, ist nichts anderes als einen dünnen Spitzenkragen über die Augen zu stülpen. Komme was wolle.

5

Ich danke Margit Jugo, die die Übersetzungen der Zitate aus dem Roman von Gašiü für diesen Aufsatz angefertigt hat.

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Wird diese wahnsinnige Hitze bald nachlassen? Werden wir endlich eine Zeit mit milderem Wetter und mit Regen erleben, der fällt, um abzukühlen, und nicht, um auf dem Asphalt anzufangen zu kochen? Vielleicht wäre ich zu Dem-Der-Lächelt ehrlicher, wenn es nicht so heiß wäre und stinken würde. Und es liegt ein furchtbarer Gestank in der Luft. Und niemand schert sich darum. Durch welche Spitzenkragen denn schauen meine Nachbarn hindurch? Was haben denn sie über ihre Gesichter und Nasen gezogen? Vielleicht nehmen sie den Gestank wirklich nicht wahr? Oder sie nehmen ihn weniger wahr als ich? Ihnen stinken lebende Menschen. Mit Leichen werden sie schon fertig. (Gašiü 2007: 58. Übersetzung M. J.)6

Die Polizei begegnet dieser Mauer aus Unwissenheit, die die Zagreber Kleinbürger um sich gebaut haben, so wie im Gespräch des Herrn Foþek mit Inspektor Krolo: „Sie haben davon gehört? Waren Sie zum Zeitpunkt des Geschehens nicht auf der Straße?“ „Nein, war ich nicht, ich war nur sehr kurz auf der Straße, und sobald die körperliche Auseinandersetzung begann, habe ich mich in meine Wohnung zurückgezogen. Mir graut vor Gewalt. Eigentlich bin ich ein Feigling.“ Foþek lachte auf und setzte dann ein gefälliges Lächeln auf, bis er auf dem Gesicht des Inspektors einen kurzen Anflug von Ärger erkannte. „Was haben Sie gesehen, während sie auf der Straße waren?“ „Eigentlich nichts. Ich stand zwischen den Nachbarn, und da ich etwas kleiner bin als die anderen, konnte ich nicht viel sehen. Eigentlich nichts.“

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„I sada ovo drljanje po papiru o posve nevažnim stvarima, u trenutku kad se dogodilo nešto, a ja to nešto vidjela, nije ništa drugo nego navlaþenje tankog, þipkanog ovratnika preko oþiju. Pa što bog da. Hoüe li uskoro popustiti ova sumanuta vruüina? Hoüemo li konaþno uüi u razdoblje pitomijeg vremena i kiša koje padaju da bi rashladile, a ne da prokuhaju na asfaltu? Možda bih s Onim Koji Se Smiješi iskrenije razgovarala da nije tako vruüe i smradno. A zaudara strašno. I nitko e ne osvrüe. Kroz kakve to þipkane ovratnike gledaju moji susjedi? Što su to navukli preko lica i nosova? Možda im stvarno ne smrdi? Ili im smrdi manje nego meni? Njima smrde živi ljudi. Lako üe oni s leševima.“

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„Irgendetwas müssen Sie doch gesehen haben.“ (Gašiü 2007: 106. Übersetzung M. J.)7

Um das Wegschauen geht es auch im Roman von Edo Popoviü. Am Anfang seines Romans „halluziniert“ die Protagonistin Natascha die Wirklichkeit: In ihrem Fieber sieht sie Mörder, Vergewaltiger, Brandstifter und ähnliche Typen, vor denen wir die Augen verschließen und so tun, als gäbe es sie gar nicht. Natascha aber befindet sich auf unvorstellbar freiem Feld, völlig schutzlos, denn sie hat keine inneren Augen, die sie verschließen könnte, um all das nicht zu sehen, was wir ungesehen lassen können. (Popoviü 2009: 12)8

Natascha wird in die psychiatrische Klinik eingewiesen, und der Klinikchef schreit sie an: Zum Teufel, Fräulein, der Krieg ist längst zu Ende, diese Typen sitzen in Gefängnissen, und es besteht keine Notwendigkeit, dass sie sich jetzt noch so anstellen, schrie er Natascha an. Ach ja, und wer sind dann die?, dabei zeigte sie wie selbstverständlich auf ein komplettes Erschießungskommando, das auf Zivilisten schoss. […]

7

„,ýuli ste? Zar niste bili na ulici kad se dogaÿaj zbio?‘ ,Ne, nisam, ja sam bio na ulici vrlo kratko, i þim je poþeo fiziþki obraþun, ja sam se povukao u svoj stan. Ja se grozim nasilja. Zapravo sam kukavica.‘ Foþek se zasmijao, pa se nastavio udvorno smiješiti sve dok nije na inspektorovu licu ugledao kratak bljesak ljutnje. ,Što ste vidjeli dok ste bili na ulici?‘ ,Zapravo ništa. Ja sam stajao meÿu susjedima, a kako sam nešto niži od drugih, slabo sam vidio. Zapravo ništa.‘ ,Nešto ste ipak morali vidjeti.‘“

8

„U groznici, ona vidi ubojice, silovatelje, palikuüe i sliþne tipove pred kojima mi možemo zatvoriti oþi, praviti se kao da ih nema. Ali Nataša, ona se nalazi na neopisivo brisanom prostoru, potpuno bespomoüna, jer ne postoje unutarnje oþi koje može zatvoriti da ne vidi ono što mi ne možemo vidjeti.“ (Popoviü 2006: 13)

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Sie wurde als Simulantin und gewöhnliche Provokateurin entlassen. (Popoviü 2009: 12-13)9

Diese Art von Verdrehung der Wahrheit und der Gerechtigkeit finden wir auch in der ironisch aufgebauten Struktur des Romans, der gerade aufgrund dieser Verdrehung zum „typischen kroatischen Krimi“ erklärt wird: Einige Tage waren vergangen, aber diese Sache mit der Tänzerin und ihrer Überdosis, den anderthalb Kilo Heroin, den entsorgten Cousins, dem verschwundenen Polizeichef der AKA und dem erschossenen Spitzel hatte sich keineswegs weiter verkompliziert, verwickelt, verstrickt und nicht ein bisschen verheddert, was allgemein betrachtet schlecht für einen Krimi ist, aber keinesfalls schlecht für einen kroatischen Krimi. Der kroatische Krimi ist eine spezielle Gattung, hundertprozentig sauber und hundertprozentig kroatisch, ohne diese idiotischen Komplikationen und Unklarheiten, die das Gehirn des kroatischen Bürgers nur belasten würden – als hätte das kroatische Gehirn nichts Klügeres zu tun, als sich mit der Frage zu beschäftigen, wer wen abgemurkst hat und warum. (Popoviü 2009: 110)10

Das „Normale“ und das „Verrückte“, die Wirklichkeit und die Illusion tauschen ihre Positionen. Auch die Gerechtigkeit und die Schurkerei haben innerhalb der Gesellschaft ihre Plätze auf der traditionellen Werteskala verlassen, alles steht auf dem Kopf. Am Ende des Buchs kann der Detektiv nur durch Anwendung von kriminellen Machenschaften den Fall lösen, um die

9

„,Doÿavola, gospoÿice, pa rat je odavno završio, ti tipovi su u zatvorima i nema potrebe da se sad tu prenemažete‘, izderao se na Natašu. ,Je li, a tko su onda ovi ovdje?, kao od šale mu je pokazala kompletan streljaþki vod koji je pucao u civile.‘ [...] Otpuštena je kao simulantica i obiþan provokator.“ (Popoviü 2006: 14)

10 „Prošlo je još nekoliko dana, ali se stvar s predoziranom plesaþicom, kilom i pol heroina, poþišüenim roÿacima, isparenim naþelnikom AKO-a i upucanim drukerom uopüe nije zamaglila, zamuljala, ma ni za mrvu zakomplicirala i zapetljala, što je, opüenito uzevši, loše za krimiü kao žanr, ali ne i za hrvatski krimiü. Hrvatski krimiü specijalni je žanr, stopostotno þist i stopostotno hrvatski, bez onih idiostskih komplikacija i nejasnoüa koje bi samo opteretile mozak hrvatskog þovjeka; kao da hrvatski mozak nema pametnija posla nego se optereüivati pitanjima tko je koga roknuo i zašto.“ (Popoviü 2006: 95)

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Gerechtigkeit und die Ordnung wieder herzustellen – eine Ordnung, die auf Betrug, auf Selbstjustiz und Erpressung gründet. Der Held des Romans erlaubt sich, in einer rechtlosen Gesellschaft das Recht in die eigenen Hände zu nehmen, und gewinnt damit die Sympathien der Leser. Auf der metafiktionalen Ebene wird im Text häufig das Bewusstsein des Autors für die Verdrehung der Normalität in der Wirklichkeit und die daraus folgende Irrationalität der Illusion deutlich. Der Autor verhält sich zu seinem Text wie zu einem Dokument und einem Spiegelbild der Wirklichkeit, das angesichts der burlesken Verwicklungen ironisch und ernüchternd wirkt. Indem er betont, dass in den echten Krimis die Dinge ganz anders stehen, weil sie einer literarischen Logik folgen, während sie in den kroatischen Krimis der Abbildung der Gesellschaft dienen, die so grotesk ist, dass dadurch der kroatische Krimi in das Groteske abrutschen muss, schafft der Autor eine metafiktionale, selbstironische Betonung der Wahrhaftigkeit seiner Fiktion. Einige Literaturtheoretiker haben das komische Potential der Gattung entdeckt und reflektiert, so hat etwa Georg Grella behauptet, dass der klassische Krimi zur Komödie gehört: Neither a picture of actual crime, a pure game of wits, nor a popular but degenerate version of tragedy, it is a comedy. More specifically, it remains one of the last outposts of the comedy of manners in fiction. (Grella 1980: 88)

Rick A. Eden hat sich darauf polemisch bezogen und geschrieben, dass der Krimi zur übergeordneten Gattung der Satire und nicht der Komödie gehöre. Vor allem das Verschwinden des Heroischen mache ihn zur Satire: „Formal detective novel is not comic but satiric.“ (Eden 1983: 279) Das verschwundene Heroische sehe man am Verfehlen des Ziels in der erotischen Beziehung. Der satirische Held versäume in einem Nebenstrang der Geschichte, eine Frau zu erobern (bzw. wie in der übergeordneten Gattung der Komödie, eine Frau zu heiraten). Das Scheitern des Detektivs als Liebhaber habe primär eine parodistische Funktion und führte auch zum Entstehen der Serien mit einem einsamen Protagonisten: The satiric hero (usually male) fails to win a spouse or romantic partner, another indication that he is not a full-fledged hero. Satire, then, ends on a note quite different from comedy’s. It can’t promise anyone happiness ever after. The proper sequel to a satire, since nothing really changes, is simply another satire, a fact which may en-

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courage the writers of detective fiction to produce their novels in long series. (Eden 1983: 282)

In ihrer Studie „The Woman Detective: Gender & Genre“ schrieb Kathleen Gregory Klein, dass jedes Abweichen vom klassischen Grundmuster des Krimis unweigerlich parodistisch wirken muss, da die strenge Form der Gattung dazu einfach einlade: A fictional form so well defined and predictably structured as the detective novel lends itself easily to parody. And, like the romance, gothic, or western, it contains all the elements of potential self-parody even when the author does not directly or consciously express that impulse. (Klein 1988: 173)

Ihr zufolge sind alle Krimis mit einer weiblichen Detektivin im strengen Sinne bereits Parodien, denn das Schema sieht einen männlichen Detektiv vor. Eine Frau sei eine signifikante Veränderung innerhalb des Schemas: In a general way, all novels featuring women private eyes could be described as parodies; their authors adopt a fixed formula while making one significant change. (Klein 1988: 173)

Sowohl Popoviü wie auch Gašiü benutzen auf je eigene Art diese parodistische Kraft, die der Gattung innewohnt. Edo Popoviü schafft einen AntiHelden, der in erotischer Beziehung scheitert, den Fall löst und trotzdem degradiert wird (er verliert seinen Job als Polizist) – sehr ähnlich wie Mario Vargas Llosa in seinem Roman „Wer hat Palomino Molero umgebracht?“ Auch Llosa verwendet die Krimiformel mit ihrem parodistischen Potential um eine kriminelle und korrupte Gesellschaft zu beschreiben; sein erfolgreicher Macho-Detektiv scheitert nur in seinem Versuch die korpulente Dona Adriana zu erobern. Popoviüs Trilogie ist komplex aufgebaut, voller überraschender Wenden, Höhepunkte und vorübergehender Auflösungen, wobei die Parodie auf die Spitze getrieben wird, um das Bild der kriminellen und korrupten kroatischen Gesellschaft nach dem Krieg in den Neunzigern erbarmungslos zu zeichnen. Die enge Verquickung zwischen Politik, Medien und Kriminalität, sowie die Fähigkeit der Menschen, sich von Ideologien und der Boulevardpresse blenden zu lassen und dabei wegzuschauen, sind der Hintergrund, vor dem der Detektiv agiert. Da er zynisch

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und abgebrüht, aber eigentlich einsam und empfindsam ist, verliebt er sich in die Frau, die er retten soll, doch seine Träume von einem gemeinsamen Leben werden zwar nicht verlacht, aber notwendigerweise enttäuscht. Obwohl am Ende des Romans die Gerechtigkeit und die Ordnung wieder hergestellt werden, geschieht das auf eine illegale Art, so wie in dieser Nachkriegsgesellschaft, die ihre Traumata mit der Wende vom Sozialismus zu einem Turbo-Kapitalismus nur noch vertieft hat, alles illegal ist. Im ersten Teil der Trilogie begegnet der Leser einem Pärchen: Natascha, die nicht Wegschauen kann, wird zum psychiatrischen Fall erklärt, und ihr Freund Boris, ein Schriftsteller und Zyniker, wird zum Opfer eines raffinierten Komplotts. Er wird ohne jede Grundlage zu einem Verbindungsmann der internationalen terroristischen Szene erklärt. Die kroatischen Politiker hatten nämlich in enger Zusammenarbeit mit der Polizei beschlossen, ein wichtiger Bestandteil des internationalen Antiterror-Blocks werden zu müssen (um von diversen Problemen im Land abzulenken), und nun brauchen sie dringend „einen Araber oder etwas Ähnliches“ (Popoviü 2009: 15)11, um mit Hilfe des Dritten im Bunde, den kroatischen Medien, eine perfekte Nachricht für das Volk lancieren zu können. Die entsprechende Anfrage landet auf dem Schreibtisch von Folo, dem Leiter der Abteilung für Kulturterrorismus, einem resignierten Literaturprofessor, der zufällig bei der Polizei arbeitet. In seiner Abteilung sammelt man Dossiers über Schriftsteller; diverse Spitzel fungieren als Quellen für diese Dossiers. Auf der Suche nach der passenden Person für die sensationelle Meldung, findet Folo das Dossier von Boris, einem jüdischen Autor: Da die Serben vom häufigen Gebrauch ziemlich abgenutzt waren, hatte sich Folo für einen Juden entschieden. Ein Jude, der sich mit arabischen Terroristen einlässt – das wird eine Bombe! (Popoviü, 2009: 24)12

In einer tragikomischen Reihe von Episoden wird der perfekte Aufbau des ‚Falls Boris Elazar‘ gezeigt. Am Ende des ersten Teils der Trilogie verabschiedet sich Natascha in die Klinik, und der bisher erfolglose und von

11 „Nekog Arapa ili nešto sliþno.“ (Popoviü 2006: 16) 12 „Buduüi da su se Srbi popriliþno ofucali od þeste uporabe, Folo se odluþio za Židova. Židov koji petlja s arapskim teroristima, koja üe to bomba biti.“ (Popoviü 2006: 24)

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Schreibblockaden geplagte Autor Boris, der ohne eigenes Verschulden überall als jüdischer Kontaktmann von Osama Bin Laden bekannt geworden ist, bekommt eine horrende Summe für seinen Roman angeboten. In der Gesellschaft sind alle Werte verdreht und deshalb wirken die überraschenden Pointen zwar witzig und gekonnt ausgedacht, aber zugleich auch möglich und realistisch. Im zweiten Teil der Trilogie wird ein Spitzel namens Märzhase ermordet, der schon im ersten Teil aktiv war. Eine schöne junge Frau erscheint bei Folo, und dank ihr erfährt der zynische Abteilungsleiter, dass Märzhase anscheinend zu viel wusste über einen Ring ukrainischer Prostituierter und über Auseinandersetzungen zwischen Waffenhändlern, Drogendealern und anderen kroatischen neuzeitlichen Geschäftsleuten, die allesamt große ,Patrioten‘ sind. In diesem zentralen Teil der Trilogie gelingt dem Autor ein schonungsloses Bild der postsozialistischen und neonationalistischen Gesellschaft, das seinesgleichen in allen postjugoslawischen Literaturen sucht. Die Entstehung des Nationalismus wurde in Kroatien durch die Situation zu Beginn der Neunziger extrem begünstigt: Die jugoslawische Volksarmee und die serbischen Freischärler hielten ein Drittel des Landes okkupiert, aus diesen Gebieten waren alle Kroaten vertrieben, die Städte Osijek, Dubrovnik, Zadar und vor allem Vukovar wurden durch brutale Angriffe in Mitleidenschaft gezogen oder zerstört, viele Menschen kamen um, galten als vermisst oder waren auf der Flucht. In dieser Situation waren die Bürger sehr anfällig für patriotische und nationalistische Ansprachen, und die kroatischen Politiker der Tuÿman-Ära bedienten sich stark dieses Diskurses, schürten Ressentiments, und viele von ihnen bereicherten sich unter dem Deckmantel der Aufopferung für die Heimat. Im letzten Teil wird dieses Bild der korrupten Politiker und ihrer Kumpel – der zwielichtigen Geschäftsleute, um die Schlägertrupps der Fußballfans angereichert. In Zagreb heißen sie Bad Blue Boys, und sie haben ihre eigenen moralischen Gesetze. Für einen unter ihnen, der auf die Seite der kriminellen Neureichen, Mafiosi und Politiker gewechselt ist, wird es deshalb keine Gnade geben – er ist der echte bad boy dieses Anti-Märchens. Er bekommt nämlich den Auftrag, jene schöne ukrainische Prostituierte zu beseitigen, die Folo vom Tod des Märzhasens und auch ihrer Freundin berichtet hat. Vom desinteressierten Zyniker verwandelt sich Folo in einen interessierten Helden, da er das Mädchen beschützen will. Er tötet am Ende ihre Verfolger und arrangiert mit den gängigen Methoden der Machthaber

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eine durch die Medien verbreitete Lüge über einen angeblichen Polizeiauftrag, in dessen Ausführung er zu seiner Verteidigung schießen musste. Er erzwingt dabei das Schweigen des Polizeichefs durch dieselben Methoden, die er zuvor im Fall Boris Elazar angewendet hatte – eine Erpressung, die auf Spitzelberichten über den Polizeichef und seine Tochter in den Dossiers gründet. Damit schließt sich der Kreis. Zagreb erscheint in dieser Trilogie als ein urbaner Dschungel und zugleich als Provinz. Der Marktplatz in der Betonsiedlung, die während des Sozialismus als Novi Zagreb aufgebaut wurde, ist ein Treffpunkt für Schmuggler, dagegen ist das Zentrum von Zagreb ein Ort voller glänzender neuer Cafés, in denen sich die neuen Prominenten treffen, die genauso korrupt sind, wie die neue Elite des Landes, die in den Vorortvillen wohnt. Ein Kapitel trägt den Titel: „Ach, die Metropole, die Metropole… und die hungrige Meute darin“. Als vor drei Jahren am helllichten Tag die junge Anwaltstochter Ivana Hodak ermordert wurde und daraufhin eine Autobombe den umstrittenen Zeitungsmogul Ivo Pukaniü zusammen mit seinem Kollegen, dem Marketing Direktor seiner Firma, Niko Franiü, tötete, sandte mir Edo Popoviü eine SMS folgenden Inhalts: „Hier spielen sich gerade ‚Die Spieler‘ ab“. Die Wirklichkeit hatte die Fiktion wieder einmal übertroffen. Die beiden realen Fälle sind bis heute ungelöst, und niemand glaubt den offiziellen Darstellungen der Polizei. In den Medien und in Internetforen werden Vermutungen formuliert, dass die beiden Fälle zusammenhängen und dass man sie nie aufklären wird, da sich die Akteure auch in Regierungskreisen bewegen. Auch Sina Karli, die Chefredakteurin der Zeitung „Nacional“, deren Herausgeber Ivo Pukaniü war, sprach über ihre Hoffnung, dass die Polizei herausfinden würde, ob es einen Zusammenhang zwischen den beiden Mordfällen gegeben habe. In einem Interview mit dem österreichischen „Standard“ sagte Karli, dass Ivo Pukaniü gegen den ehemaligen General und stellvertretenden Verteidigungsminister Vladimir Zagorec aussagen wollte (Honsig-Erlenburg 6.11.2008); Ivana Hodak, deren Vater der Anwalt von Zagorec war, wurde nach der Auslieferung von Zagorec aus Österreich ermordet. Der Schock nach dieser Ermordung war in der Öffentlichkeit noch nicht abgeflaut, als auch Pukaniü und Franiü ermordert wurden. Pukaniü wurde nachgesagt, er habe dem Unternehmer Hrvoje Petraþ nahegestanden, der beschuldigt wurde, die Entführung des Sohns von Zagorec organisiert zu haben. Petraþ, von dem es heißt, dass er zu Beginn

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des Krieges durch Geldspekulationen zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina sein Business-Imperium aufgebaut hat, ist im Roman von Edo Popoviü in folgender Beschreibung erkennbar: Er belud einen LKW mit Paletten voller Jugo-Dinare. Wo kommt jetzt bloß dieses Geld her?, wunderte er sich sogar im Traum, und fuhr von Zagreb nach Mostar. In Mostar hob er die LKW-Plane an, und siehe da, anstelle der Dinare lagen D-Mark, und das Beste war, dass auf diesem Haufen Kohle Mutter Kroatien stand, die dreifarbige Schärpe quer über den üppigen Titten. Sie sagte zu ihm: Nimm es, mein Sohn, das ist das Mindeste, was ich, deine Heimat, für dich, meinen liebenden Sohn, tun kann. (Popoviü 2009: 113)13

Ironie versteckt sich auch bereits im Titel des Romans von Nada Gašiü: Die ruhige Straße und die Baumallee lassen auf paradoxale (im Genre nicht unübliche) Weise Unheil vermuten. Die Zeit des Geschehens ist eine Woche im August 2003. Neben den Mülltonnen in einer ruhigen Zagreber Straße beginnt es in der Hitze erbärmlich zu stinken. In der Anspannung beginnen die Menschen ihre bösen und kleinkarierten Seiten schneller als sonst zu zeigen. Jeder beobachtet jeden, aber keiner sieht etwas. In dieser Atmosphäre wird eines Tages ein junger Kriegsveteran tot aufgefunden, der am posttraumatischen Syndrom litt. Im allgemeinen Gestank hat keiner die Leiche hinter den Mülltonnen entdeckt, bis sie ein alter Flüchtling aus Bosnien findet, der daraufhin prompt des Mordes beschuldigt wird. Obwohl freilich nichts gegen ihn vorliegt und er schnell entlassen wird, wird er so sehr gedemütigt, dass er am Ende Selbstmord begeht. Und es gibt noch weitere Tote im Roman. Die Autorin schildert einzelne Wohnungen in der ruhigen Straße und ihre Bewohner, die im typischen Zagreber Dialekt sprechen. Zagreb ist eine Stadt mit gepflegten Umgangsformen, man weiß, was sich gehört, während sich dahinter provinzielle Klaustrophobie, Klatsch und Tratsch, Intrigen und Verlogenheit verbergen. Die Bewohner der ruhi-

13 „Kao, nakrcao on neki kamion paletama punim jugo-dinara, otkud mu ta valuta, þudio se on i u snu, i otfurao ga iz Zagreba u Mostar. A u Mostaru, podigne on ceradu kamiona, kad ono umjesto dinara – njemaþke marke. I što je najbolje, na toj hrpi love stoji Majka Hrvatska, s trobojnom lentom preko ramena i bujnim cicama i sve to, i kaže mu: Uzmi, sine moj, to je najmanje što ja, tvoja domovina, mogu uþiniti za tebe, sina domoljubnog.“ (Popoviü 2006: 97)

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gen Straße stecken ihre Nase überall hinein und beteuern gleichzeitig, dass sie sich nicht einmischen wollen. Alle zeigen einen erstaunlichen Mangel an Zivilcourage und Menschlichkeit, bis auf einen homosexuellen Künstler und Taugenichts und eine an Schizophrenie erkrankte Frau. In einer Reihe von Nebenepisoden entsteht das Bild der Menschen aus der „ruhigen Straße“. Während der bosnische Flüchtling Alija wegen falscher Beschuldigungen Selbstmord begeht, bleiben Verbrechen ungesühnt. Das Ehepaar Foþek, ein kleiner, scheuer Ehemann und seine jähzornige Frau, die er „mein Hühnchen“ nennt, erzählt überall, wie aufopferungsbereit sie sich um die demenzerkrankte Mutter bzw. Schwiegermutter kümmern, die sie am Ende mit einer Bratpfanne ermorden werden. Dem herbeigeholten Arzt erklären sie, dass ihr katholischer Glaube ihnen eine Obduktion unmöglich macht, doch der Arzt hält eine solche ohnehin für unnötig: Es sei so heiß, und die alten Menschen stürben wie Fliegen. Diese Erklärung kommt den Foþeks nur gelegen, danach reden sie sich gegenseitig ein, dass die arme Mama die Hitze nicht mehr ausgehalten habe. Sie organisieren eine schöne Beerdigung, zu der alle Nachbarn kommen, so wie es sich gehört. Im Erdgeschoss ihres Hauses wohnt eine einsame Frau, die oben erwähnte Daša, die ein Tagebuch führt und ihm auch Zeichnungen beifügt, in welchen sich sehr überraschend und raffiniert, Hinweise auf den Mörder des jungen Kriegsveteranen verstecken. Sie hat den Mord gesehen, aber sie mischt sich ebenfalls nicht ein – auch dann nicht, als der alte Bosnier in Untersuchungshaft genommen wird. Das Schweigen wird die Zeugin mit ihrem Leben bezahlen, da der Mörder ahnt, dass sie etwas gesehen hat. Auch im Titel des 1957 erschienenen postmodernen Kriminalromans des italienischen Autors Carlo Emilio Gadda „Quer pasticciaccio brutto de Via Merulana“ [Die grässliche Bescherung in der Via Merulana] wird eine Straße hervorgehoben. Es ist eine ruhige, bürgerliche Straße in Rom, in der ein Verbrechen geschieht. Wie Gašiü dient auch dem italienischen Autor die Straße dazu, eine Gesellschaft darzustellen, die nach außen die bürgerlichen Formen wahren möchte, aber tief amoralisch, gefühllos und verdorben ist. Die schmale Grenze zum Verbrechen wird leicht überschritten, niemand hat etwas gesehen oder gehört, die Menschen, die sich etwas anders als die „normalen“ Bürger verhalten, werden leicht verdächtigt oder werden zum Opfer eines Mordes. Es ist die Zeit der Mussolini-Herrschaft. Gadda bedient sich im Roman einer „makkaronischen“ Sprache und auch Gašiü setzt

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meisterhaft den lokalen Zagreber Dialekt ein, um die Bewohner der ruhigen Straße zu charakterisieren. Satirische Elemente, die ein scheiternder Detektiv mit sich bringt, finden sich bei Gadda und bei Gašiü. Beim italienischen Autor verlaufen sich die Pfade der Suche im Labyrinth der Stadt. Der Fall der ermordeten – vermutlich lesbischen – Liliana bleibt auf eine beunruhigende Weise ungelöst. Bei Nada Gašiü ist die einsam lebende Daša die Detektivin und das Opfer zugleich. Dank ihrer Zeichnungen begreift der homosexuelle Viktor, ein Träumer und sehr unentschlossener Mensch, der in Marinos Wohnung vor allem deshalb wohnt, weil er mittellos ist, am Ende der Geschichte, dass sein früherer Partner und heutiger Mitbewohner Marino der Mörder ist. Dabei handelt es sich um keinen vorsätzlichen Mord: Marino ist an sein Opfer Herrn Peþiniü in einem schwierigen Moment geraten, als er sich wegen seines ungeklärten Verhältnisses zum ehemaligen Freund Viktor besonders betrübt fühlte. Peþiniü hat ihn ausgelacht und eindeutig anzügliche Anspielungen auf seine Homosexualität gemacht. Es ist zu einem Handgemenge gekommen, bei dem Peþiniü ausgerutscht und verunglückt ist. Das Verbergen der Homosexualität, die der Choreograf Marino nur jenseits der Grenze, in Slowenien, entspannter in der Öffentlichkeit zeigen kann, ist die Quelle seiner tiefen Frustration, obwohl dies im Roman nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet wird. Marino hat zwar geahnt, dass die alte Daša ihn mit Peþiniü gesehen hat, aber zum Mord an ihr hat er sich nicht so sehr aus Angst entschieden. Vielmehr haben ihn Eifersucht und Enttäuschung bewegt, da er die alte Dame in einer für ihn allzu großen Vertrautheit mit Viktor gesehen hatte. Daraufhin hat er sie aus Verzweiflung getötet, wie in Trance. Nach der Lektüre des Romans bleibt der Leser allein mit dem beunruhigenden Gefühl eines Falls ohne echte Lösung, vielleicht deshalb, weil er ahnt, wie viele Foþeks auf dieser Welt ihre Nächsten mit einer Bratpfanne töten und von den herbeigerufenen Ärzten sogar ordentliche Totenscheine ausgestellt bekommen. Und es bleibt ihm das ungute Gefühl, dass jeder Mensch aus Resignation, Demütigung, Einsamkeit und Verzweiflung zum Mörder oder Selbstmörder werden kann. Das eigentliche Verbrechen in diesem Krimi ist die doppelte Moral der Gesellschaft, die das kleinbürgerliche Lebensmodell als einzig gültiges postuliert und feindlich gegenüber alten und dementen Menschen, unverheirateten Frauen, Homosexuellen, Arbeitslosen, bosnischen Flüchtlingen

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und überhaupt allen ist, die nicht „wir“ sind, wobei die Identität und Zugehörigkeit zu diesem „wir“ immer wieder in Gesprächen zwischen „anständigen“ Nachbarn bestimmt wird. Wie im Rom Mussolinis, so ist die Ursache für die grässliche Bescherung hinter den Mülltonnen im Nachkriegs-Zagreb auch nicht eindeutig. Es ist eine kriminalisierende Gesellschaft, die Mord in den eigenen Reihen duldet und zulässt. Dadurch verliert sich der spielerische Charakter des klassischen Detektivromans und eine andere, der Gattung ebenfalls immanente Eigenschaft, kommt zum Vorschein: die Kritik an der Gesellschaft. In den Landidyllen, in Universitätsstädtchen, in vornehmen Häusern mit Gärten und Bibliotheken lauerte das Verbrechen hinter den Fassaden einer gesellschaftlichen Ordnung. Von den amerikanischen hard-boiled-Autoren wurde dahingegen das Verbrechen auf den Straßen der Großstädte begangen, unter Menschen, die Macht, Geld und Einfluss hatten. Ob klassische Formel eines whodunit oder die Formel eines Actionthrillers – in beiden Fällen war die Kritik an der Gesellschaft implizit präsent, und Autoren wie Gadda, Vargas Llosa, Popoviü und Gašiü haben diese Kritik aufgegriffen. Das Verbrechen ist ein Teil der Gesellschaft, und je korrupter, ehrloser, verdorbener eine Gesellschaft ist, desto aussichtsloser ist die Beruhigung am Ende des Romans, die bei den klassischen Prototypen noch gegeben war, desto bedrohter und fragiler ist die wiederhergestellte Ordnung. Obwohl Viktor begriffen hat, dass sein Freund Marino der Mörder ist, und obwohl er ihn dazu gebracht hat, sich der Polizei zu stellen, d. h., obwohl er „der Held“ ist, der den Fall gelöst hat, geschieht das eher zufällig. Und um ein wahrer Held zu sein, würde er jenen gesellschaftlichen Mut zum Coming-out brauchen, den er nicht aufbringen kann, nicht einmal, um sich gegen die allgemeine Heuchelei zu positionieren und sein Verhältnis mit Marino, der ihm seine Existenz materiell ermöglicht, zu verteidigen. So verleugnet er gegenüber dem Nachbarn und unsympathischen Denunzianten Cvirn sein Verhältnis mit Marino: „Und Sie sagen, im Viertel erzählt man sich, dass wir Homos sind... Logisch, zwei Männer. Einer Maler, der andere Choreograf, was sollten die auch sonst sein? Bis gestern waren noch alle südlich der slowenischen Grenze, die mit Messer und Gabel essen, Schwuchteln. Und sehen Sie, wir nicht. Das sag ich nur so, weil es mir eigentlich völlig egal ist, was die Leute denken, und noch egaler ist mir, was sie reden, vor allem in diesem geriatrischen Viertel hier.“ Während er dies sagte, war

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Viktor ganz, ganz schlecht. Er war Cvirn dankbar, dass er ihn unterbrach. „Aber nein, verstehn Sie, es geht nicht darum, ob Sie’s sind oder nicht. Es geht darum, dass ich mir drauf reingefalln bin. Auf mich selbst bin ich mir reingefalln. Ich pfeif doch auch total drauf, was die Klatschweiber da über Sie und mich denkn. Wenn ich mir was im Leben nicht ausstehn kann, dann sind das die Klatschweiber da im Viertel. Ich würd sie alle umbringen. Sehen Sie, wie einem das so rausrutscht? Umbringen? Nein, vergiftn sollte man die... so eben, dass die Durchfall kriegn, dass die nicht aus dem Haus raus können. Aber, gut. Die sind ja auch nicht schuld... Sondern ich. Ich hab mich eigentlich weniger, wie sagt man nochmal, an Ihnen gestört. Eigentlich war’s Ihr Kumpel, der mir tierisch auf die Nerven gegangen is. Jetzt geht’s ja noch so einigermaßen. Irgendwie is er normaler. Anständiger is er geworden. Jeans, Shirt, wie alle andern auch... Aber ne Zeit lang, die reinste Katastrophe... Scheiße Mann, der sah aus wie ’ne Papageiennutte. Der hat so ’n Rüschenkram, so ’n Spitzenzeugs gehabt, so ’n grünen Scheißdreck über den Schultern, der reinste Horror.“ (Gašiü 2007: 268. Übersetzung M. J.)14

Zagreb eignet sich aus verschiedenen Gründen dazu, eine Krimimetropole der südslawischen Literaturen zu sein, vielleicht deshalb, weil hier schon sehr früh bedeutende literaturtheoretische Überlegungen über den Krimi angestellt wurden, vielleicht deshalb, weil die kleine, aber feine Tradition des kroatischen Krimis im Zeichen des Anglisten Šoljan stand, der ein so

14 „,A velite, priþa se po kvartu da smo homiüi... Logiþno, dva muškarca. Jedan slikar, drugi koreograf, što bi drugo i bili? Do juþer su svi ispod Sutle koji jedu beštekom, bili pederi. A eto, nismo. To tek tako kažem jer mi je zapravo sasvim svejedno što ljudi misle, još mi je svejednje što govore, naroþito u ovom gerijatrijskom kvartu.‘ – Dok je to izgovarao, Viktor se osjeüao vrlo, vrlo loše. Bio je zahvalan Cvirnu što ga je prekinuo. – ‚Ma ne, kužite, nije fora u tom dal jeste ili niste. Fora je u tome da sam ja nasjel. Samom sebi sam nasjel. A i meni se živo fuüka kaj ove babetine misliju i o vama i o meni. Ak nekaj mrzim u životu to su ove babetine u kvartu. Sve bi ih pobil. Jel vidite kak to þoveku pobegne? Pobil? Ma ne, potroval... Onak, da dobiju proliv, da nemreju van od doma. No, dobro. Nisu ni one krive... Ja sam. Meni ste zapravo manje smetali, kak se zove, vi. Meni je zapravo grozno išel na živce vaš frend. Sad je još kak-tak. Nekak je normalniji. Upristojil se. Traperice, majica, ko i svi... Al jedno vreme, þista katastrofa... Jebate, izgledal je ko papiga prostitutka. Imal je na sebi neke volanþeke, neke þipkice, neki, neki zeleni drek prek ramena, þist užas.‘“

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wichtiger und mutiger Autor war. Vielleicht, weil eine Sammlung von Kurzkrimis von Pavao Pavliþiü „Dobri Duh Zagreba“ [Der gute Geist von Zagreb] heißt (1976). Zagreb hat Atmosphäre, Zagreb ist groß genug, um diverse Zuzügler aufzunehmen, diverse Aufsteiger, Draufgänger, aber auch Verbrecher anzuziehen, und klein genug, um voller Intrigen, Tratsch und Klatsch zu sein. Vielleicht eignet sich Zagreb auch deshalb als Krimimetropole, weil Zagreb einerseits die Hauptstadt Kroatiens, aber zugleich immer eine kleine Provinz ist – einst eine Provinz in der Habsburger Monarchie, dann eine Provinz im titoistischen Jugoslawien, in dem Belgrad zur einzigen Großstadt im Lande angewachsen war, bald wieder eine Provinz innerhalb der EU. Diese Mischung aus Hauptstadt und Provinz, aus wichtig und unbedeutend, verursacht gewiss eine kollektive Neurose. Die Überschaubarkeit und die Intimität der Stadteile, die ein wenig verschlafen wirken, mischen sich mit der großstädtischen Vereinsamung. Die kleinbürgerlichen Manieren, die immer noch aus den k. u. k.-Zeiten präsent sind, die katholische Sittsamkeit, die sich leicht gegen Menschen anderer Herkunft oder anderer sexueller Orientierung richten kann, die Betonung der bürgerlichen Werte – all das ergibt eine ideale Grundlage, um den Topos Zagreb interessant für Krimis zu machen.

B IBLIOGRAPHIE Baudelaire, Charles, 1975 [1857-1868]: Les Fleurs du Mal. In: „Œuvres complètes“, Bd. 1. Paris. Borges, Jorge Luis, 1970 [1944]: Pierre Menard, Autor des Quijote. In: Sämtliche Erzählungen. Aus dem Spanischen von Karl August Horst. München. 161-171. Bremer, Alida, 1999: Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane. Würzburg. Brešiü, Vinko, 1996: Der kroatische Kriminalroman. In: Burkhart, Dagmar/ Biti, Vladimir (Hg.): Diskurs der Schwelle. Aspekte der kroatischen Gegenwartsliteratur. Frankfurt am Main, 205-224. Eden, Rick A., 1983: Detective Fiction as Satire. In: Genre 16, 279-295.

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Schult, Ulrike, 2009: Lebenswirklichkeit im Sozialismus im Prisma der Populärliteratur: Der kroatische Kriminalroman der 1950er und 1960er Jahre. Magisterarbeit im Fach Südslavistik, Leipzig. Tatcher, Timothy, 1972: Hollywood gegen mich. Aus dem Serbokroatischen von Barbara Sparing. Berlin. Tatcher, Timothy, 1967: Für Tote Eintritt verboten. Aus dem Serbokroatischen von Barbara Sparing. Berlin. Žmegaþ, Viktor (Hg.), 1971: Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Detektivromans. Frankfurt a. M.

Gib jedem seinen eigenen Mörder: der glokale Triester Krimi M ATTEO C OLOMBI

K RIMIS

AUS UND ÜBER

T RIEST

Inspektor Astolfi, Kommissar Laurenti, Kommissar Perko, Inspektor Rivera, der Psychoanalytiker Roberto Gerbin… Es sind nicht wenige literarische Figuren, die öfter oder einmal in Triest ermittelt haben. Ihre Schöpfer, respektive Marco Giovanetti (geb. 1972), Veit Heinichen (geb. 1957), Sergej Verþ (geb. 1948), Andrea Ribezzi (geb. 1959) und Giuliana Iaschi1, wohnen und arbeiten alle in Triest oder in dessen Umgebung.2 Die Literatur aus der Triester Region hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten ziemlich intensiv dem Krimigenre zugewendet3, nicht zuletzt durch Veranstaltungen

1

Das Geburtsjahr dieser Autorin scheint nicht öffentlich bekannt zu sein.

2

Damit ist das Gebiet Julisch Venetien gemeint, d. h. die Provinzen Triest und Görz. Im Folgenden wird auf dieses Gebiet als „Triester Region“ bzw. „Triester Umgebung“ referiert. Diese Bezeichnungen können sich kontextabhängig auch entweder nur auf die Stadt Triest und ihr Hinterland beziehen, oder aber auf Julisch Venetien, samt dem slowenischen bzw. kroatischen Istrien (das mit den Gebieten Görz und Triest vom 19. Jh. bis 1945 eine einzige Verwaltungseinheit bildete; bis 1918 unter den Habsburgern und bis 1945 als Teil des italienischen Königreichs)

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Triest wurde auch schon vor 1990 zum literarischen Krimischauplatz, allerdings nur in wenigen Beispielen im Vergleich zum Aufschwung der Triester Krimi-

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wie das Festival der Kriminalliteratur „Grado Giallo“ in der nördlich von Triest gelegenen Küstenkleinstadt Grado.4 Freilich lassen die Krimiautoren aus der Triester Region nicht jeden Roman bzw. jede Erzählung an ihrem Wohnort spielen, und es gibt Krimis über diese Gegend, die wiederum aus der Feder von Autoren stammen, die nicht in der Region wohnen.5 Dennoch ist die Anzahl der Kriminalautoren und -texte aus und über Triest und Umgebung beträchtlich genug, um eine nähere Untersuchung anzuregen.6 In der Tat spielen Triester Krimis mit bekannten Merkmalen der Triester Kultur, in erster Linie mit dem multiethnischen Charakter der Stadt. Sie nehmen nicht nur auf die italienische Bewohnermehrheit Bezug, sondern auch auf die slowenische Minderheit und die Habsburger Vergangenheit von Triest sowie dessen Verbindung zum sogenannten Mitteleuropa. Ebenso wird die geographische Grenz- bzw. Schwellenlage von Triest zwischen dem Balkan und dem Rest Europas betont. Selbst das nationale Herkunftsmilieu der Autoren und die Sprache, in der sie schreiben, weist auf Multiethnizität hin: Neben zahlreichen italienisch schreibenden Schriftstellern verfassen auch ein slowenisch und ein deutsch schreibender Autor, Sergej

nalliteratur ab den 1990er Jahren. Zu Triest in der Kriminalliteratur bis in die 1980er Jahre siehe Curci 1998. 4

http://www.gradogiallo.it (26.3.2003). „Giallo“, wortwörtlich „gelb“, ist der geläufige italienische Ausdruck für Krimi. Die Bezeichnung ist mit einer erfolgreichen Kriminalliteraturreihe des Mondadori Verlags entstanden, die für den gelben Buchumschlag bekannt ist.

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Der in Triest wohnende Krimiautor Alberto Custerlina hat z. B. Sarajevo als Handlungsort seiner beiden ersten Romane gewählt, lediglich sein dritter Roman spielt in Triest („Balkan Bang!“ 2008, „Mano nera“ [Schwarze Hand] 2010, „Cul-de-sac“ [Sackgasse] 2011). Krimis über Triest, die nicht von Schriftstellern aus der Triester Region geschrieben wurden, sind z. B. „Il filo del male“ [Der Faden des Bösen] (2010) von Francesco Fiorentino und Carlo Mastelloni, „Miracoli di Trieste“ [Triester Wunder] von Andrea Camilleri und „Appuntamento a Trieste“ von Giorgio Scerbanenco [Verabredung in Triest] (1953, siehe Curci 1998: 37).

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Aufgrund der allgemeinen Fragestellung des vorliegenden Bandes konzentriert sich diese Studie auf Krimitexte, in denen Triest als urbaner Raum eine besonders relevante Rolle spielt. Teil dieser Rolle bildet allerdings gerade das enge Verhältnis, das Triest mit seiner ländlichen Umgebung verbindet.

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Verþ und Veit Heinichen Krimis über Triest. Die Tatsache, dass die meisten Krimiautoren aus Triest und Umgebung über ihre Stadt schreiben, lässt sich mit der traditionell starken Selbstbezogenheit der Triester Literatur in Verbindung setzen, die Katia Pizzi als „a tight network of mutual socialization, inspiration, criticism and promotion“ definiert. Aus diesem Netzwerk entstehen Texte, die oft Fiktives und Faktuales bewusst vermengen: „a high degree of contamination between fiction and reality whereby fictional characters are consistently and overtly modelled on real-life, historical individuals.“ (Pizzi 2001: 55)7 Der Krimi bildet in Bezug auf das enge Verhältnis zwischen Literatur und Stadt in Triest keine Ausnahme. Dieses Phänomen soll am Beispiel von drei Romanen untersucht werden, welche die Vielfalt der Triester Kriminalliteratur zeigen: „Rolandov steber“ [Die Rolandssäule] von Sergej Verþ (1991), Giuliana Iaschis „L’assassinio di Via Malcanton“ [Der Mord in der Malcantonstraße] (1996) und Veit Heinichens „Die Toten vom Karst“ (2002). Die Texte werden mittels close readings präsentiert und miteinander verglichen. Die inhaltlichen und stilistischen Hauptmerkmale und Vorbilder der drei Romane werden dargestellt und deren Positionierung innerhalb des Krimigenres erläutert. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Charakteristika der literarischen Stadtdarstellung und deren ästhetischen Verfahren und Funktionen. Überdies wird die Rolle sowohl verschiedener Sprachprofile und Herkunftskulturen der Autoren, als auch der erzielten Leserschaft fokussiert. Das Verhältnis der Autoren zu Literaturszene und Lesern wird nicht nur anhand der Romananalyse, sondern auch aufgrund von Interviews und Rezensionen untersucht. Abschließend soll der Umgang des Triester Krimis mit Triester ,Realien‘ im Zusammenhang mit aktuellen globalen Tendenzen in der Wahrnehmung und Darstellung des Lokalen betrachtet werden.8

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Pizzi bezieht sich an dieser Stelle auf Angelo Ara und Claudio Magris (2007: 98).

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Eine genaue Untersuchung des Verhältnisses, das der Krimi-Buchmarkt zu den o. g. Aspekten unterhält, sowie dessen Rolle bei der Modellierung des Triester Krimis sprengt den Rahmen dieser Untersuchung.

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M ETAPHYSIK DER S EELEN : D AS SLOWENISCHE T RIEST IN „R OLANDOV STEBER “ VON S ERGEJ V ERý 1991 veröffentlichte der in Triest und Slowenien bekannte Theater- und Drehbuchautor Sergej Verþ seinen ersten Krimi: „Rolandov steber. Kriminalni roman“.9 Ermittler, Opfer und Mörder sind in „Rolandov steber“ ausnahmslos Slowenen, die zu den slowenischen Minderheiten in Italien und Kärnten gehören. Ihre Identität, ihre Aktionen, Gedanken und Gefühle werden in der Erzählung durch ihr grenzüberschreitendes Slowenischsein definiert, das von Verþ als eine besondere Zwischenlage dargestellt wird, aus der die historischen Traumata der gesamtslowenischen Geschichte in ihrer Komplexität betrachtet werden können. Der Protagonist Kommissar Perko ist in Triest geboren, hat aber seit Beginn seiner Karriere als Polizist ausschließlich in Süditalien gearbeitet. Er bedauert es nicht, seine Heimatstadt verlassen zu haben, weil er zu ihr ein problematisches Verhältnis unterhält. Perko sieht Triest als vom Provinzialismus und dem immerwährenden Konflikt zwischen Italienern und Slowenen stark belastet und empfindet die Stadt als erstarrt (Verþ 1991: 67). Er muss allerdings nach Triest zurückkehren, weil der Triester questore (Polizeipräsident) ihn zurückbeordert hat, um über einen Mord im slowenischen Milieu der Stadt zu ermitteln. „Rolandov steber“ ist somit nicht nur die Geschichte einer Ermittlung, sondern auch eine Art Bildungsroman, da Perko in Triest mit seiner eigenen Identität konfrontiert wird. Als Slowene hat er Angst, von den Italienern aus Triest nicht akzeptiert zu werden, insbesondere in seiner Funktion als Polizeibeamter des italienischen Staates.10 Zugleich fühlt er sich auch gegenüber den Slowenen als Aussenseiter, da er sich entschieden hat, Polizeibeamter ‚der Italiener‘ zu werden.

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Dieser Roman ist der erste einer Reihe von bislang 4 Romanen: „Skrivnost turkizne meduze“ [Das Geheimnis der türkisen Qualle] (1998), „Pogrebna maškarada“ [Bestattungsmaskerade] (2003) und „Mož, ki je bral Disneyjeve stripe“ [Der Mann, der Disney-Comics las] (2009).

10 „Slovenski major v italijanski policijski službi se jim je nenadoma zazdel kot bananovec na Antarktiki?“ [Schien ihnen ein slowenischer Major im italienischen Polizeidienst plötzlich wie ein Bananenbaum auf der Antarktis?] (Verþ 1991: 21. Übersetzung M. C.).

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Die unpersönliche Erzählstimme von „Rolandov steber“ fokussiert meist die Gedanken und Gefühle von Kommissar Perko, durch dessen Auge der Leser das Verhältnis zwischen Italienern und Slowenen in Triest betrachtet. Dieses wird von Perko nicht so sehr als das Produkt historischer Zusammenhänge dargestellt, sondern als eine Art Metaphysik und Ethik des Ethnischen. Italiener und Slowenen unterscheiden sich in der Wahrnehmung des Kommissars nämlich schon stark in ihrer ,Seele‘ und in ihrem Benehmen. Erstere scheinen ihm extrovertiert und unbefangen, aber auch angeberisch, während letztere als introvertiert, starr und unheimlich dargestellt werden. Bejahen die Italiener Perko zufolge die Welt in all ihren positiven und negativen Aspekten, fürchten sich die Slowenen vor ihr und neigen zur Lebensunfähigkeit. Der Kommissar identifiziert sich mit dem slowenischen Temperament: Als Kind weigerte er sich, im Hof zu spielen, weil der ihm zu schmutzig war. Als Erwachsener fühlt er sich im großen Hof der Welt ähnlich fehl am Platz und beneidet die Lebenslust der Italiener, die er trotz seines slowenischen Temperaments nachzuempfinden versucht: Überallhin, wo er sich gewandt hatte, stand er […] mit einer solchen Angst vor dem Schmutz, dass er als Kind im Hof nicht spielen wollte. So hatte er sein ganzes Leben lang mit der eigenen Geschichte gekämpft und je mehr er sich überzeugte, ein anderer zu sein, desto mehr prägte ihn jene unauslöschlicheVergangenheit (Verþ 1991: 67. Übersetzung M. C.)11

Dennoch findet Perko das Verhalten der Italiener oft zu unreflektiert und kann sich darin nicht ganz wiederfinden. Dafür ist er allzu gesetzestreu, unparteiisch, bedacht und starr bzw. zu sehr „österreichisch-ungarisch“, wie es einer seiner italienischen Kollegen ausdrückt:12

11 „Kakorkoli se je obrnil, je ostal […] s tolikšnim strahom pred umazanijo, da se kot otrok ni hotel igrati na dvorišþu. Tako se je vse življenje boril s svojo osebno zgodovino in bolj ko se je prepriþeval, da je drugaþen, bolj ga je ta neizbrisna preteklost oznaþevala.“ Ich bedanke mich bei Urška ýerne für ihre Beratung bei den Übersetzungen. 12 Metaphysische und ethische Eigenschaften werden somit in „Rolandov steber“ nicht nur den beiden Triester Ethnien, sondern auch einem politischen Gefüge der Vergangenheit, dem alten habsburgischen Vielvölkerstaat zugeschrieben.

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Er hatte nie verstehen können, wie dieser Mensch, der seit so vielen Jahren unter der milden italienischen Sonne lebte, in seinem Wesen ein steifer österreichischungarischer Beamter geblieben war. Es gab kein Leben in ihm. Lediglich eine einzige Sorge um Ordnung und Verantwortung. (Verþ 1991: 55. Übersetzung M. C.)13

Dieses Habsburger Erbe betrachtet Perko selbst als zweischneidig: Bereut er die eigene Starre, so bildet Geradlinigkeit im Geist und im Verhalten doch seinen höchsten Lebenswert. Alles andere als ,habsburgisch‘ schnurgerade und ausgeglichen sind hingegen die anderen beiden wichtigen Slowenen im Roman: das Opfer Sanja Haderlap und der Täter Kazimir Levec. Erschreckt der Schmutz dieser Welt Kommissar Perko, erscheinen Sanja Haderlap und Kazimir Levec von ihm angezogen zu werden. Bei der ermordeten Sanja Haderlap ist es eine sexuelle Störung, eine Art Nymphomanie. Ein ähnlicher sexueller Zwang charakterisiert ihren ehemaligen Liebhaber und Mörder Kazimir Levec, der von einem gewalttätigen Leben und Opportunismus in ideologischen Konflikten gebrandmarkt ist. Er gehörte im zweiten Weltkrieg zunächst der slowenischen paramilitärischen Rechtsorganisation Bela garda [Weiße Garde] an und hat später eine SS-Kantine in Triest beliefert und ein SS-Freudenhaus geleitet. Opportunistisch hat er am Ende des Krieges die Seite gewechselt und in Triest zuerst die jugoslawischen Partisanen, dann die Alliierten und dann die Italiener mit Lebensmitteln und anderem versorgt. Für seine Dienste als Lieferant bekam er von der Finanzelite der Stadt einen großen Kredit und begann eine erfolgreiche Karriere als Unternehmer (Verþ 1991: 119-122, 168-173). Diese hat ihm später wiederum ermöglicht, sich extrem teure Orgien in seiner Villa auf dem Karst zu leisten und seinen eigenen sexuellen Zwang zu befriedigen. Während einer dieser wilden Feiern hat er, betrunken, Sanja Haderlap umgebracht. Genauso wie die Hauptfiguren des Romans wird auch dessen Handlungsort Triest als besonders schräg dargestellt. Trotz der Detailliertheit der

13 „Ni in ni mogel razumeti, kako je ta þlovek, ki že toliko let živi pod milim italijanskim soncem, ostal v svojem bistvu tog avstroogrski državni uradnik. Nobenega življenja ni bilo v njem. Ena sama skrb za red in odgovornost […].“

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Toponomastik14 wirkt die Beschreibung der Orte nicht sehr naturalistisch, sondern eher symbolisch, insbesondere stark axiologisch: Er dachte wieder an seine südlichen Gebiete, wo der Gegner deutlich erkennbar war. Jedes Viertel hatte seinen Paten, seine Mafia-Familie. […] Das Dschungelgesetz natürlich, aber auch das Gesetz der klaren Verhältnisse. Und hier, in dieser wie eine alte Hure aufgeputzten Stadt? Hier denkt man, dass alles erlaubt ist. […] Alles sieht so verdammt idyllisch aus, dass es jemandem, der von außen kommt verdächtig erscheint. Was steckt hinter der Idylle? Prostitution, Drogen, Geldwäscherei, Waffenhandel? All diese Dinge scheinen auf den ersten Blick für diese Stadt unglaubwürdig, sogar absurd zu sein. Dass irgendjemand jemanden töten würde? Unmöglich, hier sind alle ja gut wie die Triester pinca… (Verþ 1991: 75. Übersetzung M. C.)15

Der Gegensatz zwischen Triest und dem Süden von Italien wird hier, wie an anderen Stellen des Romans, betont. Das Leben in den von der Mafia kontrollierten Gebieten ist zwar hart, aber die Spielregeln sind zumindest offengelegt und klar. Triest hingegen ist eine bürgerliche Stadt, die nach außen hin wie eine glückliche Insel wirkt, aber in Wahrheit ein Schlangennest ist. Das spöttische Gleichnis zwischen Triest und dem Triester Gebäck pinca (it. pinza) (Abbildung 1) hat die Funktion, den Topos der Kleinstadt als falsche Idylle genau auf Triest zuzuschneiden: Durch den Hinweis auf die lokale Alltagskultur.

14 Viele Ortsnamen werden zitiert, sowohl von Straßen und Gebäuden in der Stadt als auch von Dörfern aus dem Triester Hinterland (siehe Verþ 1991: 17, 54-55). 15 „Spet je pomislil na svoje južne kraje, kjer je bil nasprotnik oþiten. Vsaka þetrt je imela svojega botra, svojo mafijsko družino. […] Zakon džungle seveda, a tudi zakon odkritih razmerij. Kaj pa tu, v tem kot stara kurba nališpanem mestu? Tu mislijo, da jim je dovoljeno vse. […] Vse je videti tako prekleto idiliþno, da se þloveku, ki prihaja od zunaj, zdi že sumljivo. Kaj se skriva za to idiliko? Prostitucija, droga, obraþanje umazanega denarja, trgovina z orožjem? Karkoli od tega se ti zdi za to mesto na prvi pogled neverjetno, celo absurdno. Da bi kdorkoli koga ubil? Nemogoþe, tu so ja vsi dobri kot tržaška pinca…“

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Abbildung 1: Triester „pinca“ (it. „pinza“)

Quelle: Foto von Borut Klabjan; Bäckerei u. Konditorei Ota in Bagnoli della Rosandra (sl. Boljunec)

Ein solches Triestbild knüpft an die Tradition der whodunit-Krimis an, welche die Heuchelei der bürgerlichen Welt zeigen wollen. Obwohl viele klassische Detektivromane sich in Interieurs abspielen, kann man auch andere finden, die Dörfer, kleine oder mittelgroße Städte als Schauplatz des Verbrechens wählen und als Inbegriff des Spießbürgerlichen repräsentieren. Wie W. H. Auden bemerkt hat, handelt es sich bei den whodunit um die Demaskierung der Laster einer „closed society“, die als „an innocent society in a state of grace“ erscheinen muss (Auden 2002: 263-264. H. i. O.). Kleinstädte eignen sich nach Michail Bachtin dafür, weil sie in der Literatur oft durch den Chronotopos der Idylle gestaltet werden (Bachtin 1986: 452). Beruht in der Darstellung des Romans das gesamte Triester Leben auf der Zwiespältigkeit zwischen öffentlichem Spießertum und privater Sittenwidrigkeit, kennzeichnet sich die Lage der Triester Slowenen noch dazu durch eine ethnisch-nationale Spaltung. Kommissar Perko hat seine Magisterarbeit über das „Kriminelle Verhalten in der paranoid-depressiven Bevölkerung mit doppelter Nationalangehörigkeit des Landskreises Triest“ („Deliktna ravnanja paranoidno-depresivne dvonacionalne populacije v tržaški pokrajini“) geschrieben, und seine These ist, dass die Triester Slowenen sich ständig zwischen Italienertum und Slowenentum hin und her gerissen fühlen und dass diese psychologische Belastung sie zu geistigen Störungen oder auch Verhaltensstörungen und somit zum Verbrechen führen kann. Sie sind „fanatische Befürworter von Wahrheiten, an die nur sie

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glauben“.16 Die Geschichte von „Rolandov steber“ scheint Perkos Betrachtungen über die Triester Slowenen zu bestätigen und sie auf die slowenische Minderheit aus Kärnten zu erweitern: Als Kärntner Slowene ist der Mörder Kazimir Levec in der slowenischen und deutschen Kultur groß geworden. Seine Tätigkeit bei den belogardisti und später seine Kollaboration mit den Nazis können in jener Neigung zum Fanatismus begründet sein, die Perko zufolge eine Konsequenz der Kombination von Minderheits- und Grenzlage ist. Dennoch scheint Levec während der Zusammenarbeit mit den Nazis auch starkes Interesse an finanziellen Gewinnmöglichkeiten gehabt zu haben, wahrscheinlich mehr als am Sieg der rechten Ideologie: Nicht zufällig wechselt er am Ende des Krieges und noch einmal in der Nachkriegszeit prompt das Lager. Verþ verzichtet insofern auf einseitige Erklärungen der Beweggründe von Verbrechen. Zugleich aber deutet er darauf hin, dass die besonders konfliktreiche Geschichte der Heimatgebiete der Kärntner und Triester Slowenen vielerlei Anlass zu Gewalt und Verbrechen gegeben hat und die Folgen bis in die Gegenwart wahrzunehmen sind.17 Auffällig ist dabei, dass die Geschichte von Triest und Kärnten in „Rolandov steber“ nicht nur und nicht so sehr als ein historischer Prozess, sondern eher als ein metaphysisches und ethisches Ereignisfeld dargestellt wird. Die Dynamik des Mords von „Rolandov steber“ wird mit der Spezifik der starren und verschraubten slowenischen Seele in Verbindung gebracht, der Seele der in den Grenzgebieten aufgrund der äußerst traumatischen Vergangenheit zur psychischen Labilität neigenden Bewohner. Eine solche Charakterisierung des ,Geistes‘ der Slowenen wirkt übertrieben, reduktiv und unglaubwürdig und lässt sich aus der Perspektive der Unterhaltungsliteratur als Strategie der Spannungserzeugung verstehen, die den Figuren eine tragische bzw. teuflische Aura verleiht. Beruft sich Kommissar Perkos rationale Ermittlung und sein kühler Blick auf das kleinstädtische Triest und auf die Tradition des Whodunit, so steht die düstere Darstellung Triests im Allgemeinen und vom sloweni-

16 „fanatiþni zagovorniki resnic, v katere verjamejo le oni.“ (Verþ 1991: 199. Übersetzung M. C.) 17 Dennoch muss bemerkt werden, dass nicht alle slowenischen Figuren im Roman negativ sind. Als besonders positiv erscheinen z. B. einige Karsteinwohner bescheidener Herkunft (z. B. Verþ 1991: 96).

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schen Milieu insbesondere mit der Welt vom Psychothriller in Verbindung (Nusser 2009: 58-59). Das slowenische Thema, vor allem die Minderheitenlage in Triest, erweist sich als der inhaltliche Kern von „Rolandov steber“. Verþ scheint den Roman hauptsächlich für seine slowenischen Mitbürger geschrieben zu haben und für eventuelle andere slowenischsprachige Leser, die Interesse an der slowenischen Minderheit aus Triest haben. Die Spezifik des Themas könnte erklären, warum der Roman erst 2006 ins Italienische übersetzt wurde.

T RIEST UND K RIMI ALS D OPPELKULISSE : G IULIANA I ASCHIS „L’ ASSASSINIO DI V IA M ALCANTON “ 1996, fünf Jahre nach „Rolandov steber“, hatte die ehemalige Lehrerin Giuliana Iaschi ihr spätes literarisches Debüt mit dem Kriminalroman „L’assassinio di Via Malcanton“.18 Wie „Rolandov steber“ zeigt dieser Text ein bestimmtes Interesse am Hinterfragen psychischer Probleme, aber es geht bei Iaschi weniger als bei Verþ um das Verhältnis zwischen der Psyche des Einzelnen und kollektiven Konstrukten wie Gesetz, Staat und Ethnie bzw. kollektiven Ereignissen wie dem Zweiten Weltkrieg. Vielmehr werden das intime Leben der Individuen, ihre persönlichen und eventuell auch sehr alltäglichen Ängste und Sehnsüchte fokussiert. „L’assassinio di Via Malcanton“ handelt von der Untersuchung des Mordes an Panezio Wrem, einem jüdischen Antiquitätenhändler, der in seinem Geschäft im ehemaligen Triester Ghetto getötet wurde. Mörder, Opfer und Polizeiinspektor sind allerdings eher Nebenfiguren der Handlung.19 Der Protagonist des Romans, aus dessen Perspektive die Ereignisse von der unpersönlichen Erzählstimme wiedergegeben werden, ist der Psychoanalytiker Roberto

18 Die Autorin hat in den folgenden Jahren weitere Krimis veröffentlicht: die Romane „Partita doppia“ [Doppeltes Spiel] (1998b) und „L’uomo nell’ombra“ [Der Mann im Schatten] (2008) und den Erzählungsband „L’uomo con la giacca color senape“ [Der Mann mit dem senffarbigen Jackett] (2000). 19 Am Ende des Romans entdeckt die Polizei, dass der Mörder ein anderer Antiquar des Ghettos ist, der aus Neid gegenüber dem erfolgreicheren Kollegen Wrem diesen jedoch nicht vorsätzlich getötet hat (Iaschi 1996: 230-235).

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Gerbin, der zum dilettantischen Ermittler wird, weil seine manisch-depressive Patientin Antonia Verdoljak in den Fall verwickelt ist. Die Polizei verdächtigt sie des Mordes, da sie eine Affäre mit dem Ermordeten hatte, die u. a. deshalb scheiterte, weil er sie zu erniedrigenden sexuellen Praktiken zwang. Gerbin verteidigt seine Patientin leidenschaftlich gegen den Verdacht der Polizei und versucht selber den Täter zu ermitteln. Dabei verliert der Psychoanalytiker seine professionelle Distanz zur Patientin, verliebt sich in sie und beginnt eine Affäre mit ihr. Für sie verletzt er nicht nur seinen beruflichen Verhaltencode, sondern er verlässt auch seine langjährige Freundin. Er scheitert allerdings sowohl als Ermittler, als auch als Liebhaber. Die Polizei – nicht er – ermittelt den Mörder, während Antonia Verdoljak in eine neue depressive Phase gerät und Selbstmord begeht, weil sie sich der starken Persönlichkeit von Doktor Gerbin nicht gewachsen fühlt. Das Thema Liebe stellt keine Neuheit im Krimigenre dar. Es bildet bereits im klassischen Krimi einen sich wiederholenden Nebenaspekt, der nicht selten in Eifersucht übergeht und zu einem Beweggrund für das Verbrechen werden kann. Aber auch die Liebschaften der Ermittler können zu einem sekundären Erzählstrang des Krimis werden.20 Bei Iaschi ist die Liebe jedoch keineswegs zweitrangig, sondern sie rückt in den Mittelpunkt der Geschichte. Die besteht eigentlich in den Umwälzungen im Leben des Protagonisten durch seine Leidenschaft für Antonia Verdoljak.

20 Die Zweitrangigkeit des Themas Liebe in der Kriminalliteratur gründet in deren „schematische[r] Reduktion der Psychologie“ (Heißenbüttel 1998: 120), d. h. in der Tatsache, dass „der Mord in der Darstellung als rein dingliches Problem behandelt, also um seine psychologischen und soziologischen Aspekte verkürzt wird, auch wenn als seine Motive schließlich Eifersucht, Angst, Besitzgier usw. ,genannt‘ werden […].“ (Nusser 2009: 24-25) Nichtdestotrotz spielen Liebesbeziehungen, darunter auch die der Ermittler, eine gewichtige Rolle bei manchen Krimi-Klassikern (z. B. bei Edgard Wallace, siehe Nusser 2009: 131). Es handelt sich so dennoch um Motive, die für die Krimi-Handlung funktional sind (Nusser 2009: 65). In den zeitgenössischen Kriminalromanen hat die fortschreitende Humanisierung der Ermittlerfiguren das Interesse für ihr intimes Leben verstärkt und hat sich vom Krimiplot teilweise emanzipiert (Nusser 2009: 106). Zur besonderen Funktion von (gescheiterten) Liebesgeschichten in Anti-Krimis siehe Bremer (1999: 108) und Gregory Klein (1988).

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Nun ja… Männer und Frauen, immer auf der Kippe zwischen Norm und Normverletzung, zwischen Licht und Schatten… Einige finden ihr Gleichgewicht, andere nicht. Und es gibt welche, die glauben, es gefunden zu haben, weil sie die Regeln respektieren… Die wahre Kraft liegt darin, die Regeln überschreiten zu können, sagte er sich. (Iaschi 1996: 24. Übersetzung M. C.)21

„L’assassinio di Via Malcanton“ basiert auf der Kombination zweier Geschichten von Normverletzungen. Einerseits handelt es sich um die Grenzüberschreitungen der Liebe, andererseits um die des Verbrechens. Der Philosoph Roger Callois definiert den Krimi als „den Kampf zwischen dem aufbauenden und dem zerstörenden Element […], deren ständige Rivalität das Universum im Gleichgewicht hält. In der Gesellschaft findet dieser Kampf seinen Ausdruck im Antagonismus vom Gesetz und Verbrechen“ (Caillois 1998: 178). Wird dieser Antagonismus im Krimigenre mittels des Ermittlungsnarrativs repräsentiert, inszeniert Iaschi den Antagonismus zwischen Ordnung und Unordnung durch das psychoanalytische Narrativ von Doktor Gerbin, der seine Patientin und sich selbst analysiert. Nach dem Selbstmord von Antonia Verdoljak kommen beide Narrative, das kriminalistische und das psychoanalytische, am Ende des Romans zusammen. Gerbin muss sich fragen, ob er durch seine Sehnsucht nach einer außerordentlichen Liebeserfahrung die fragile Psyche seiner Patientin überfordert und somit zu ihrem Mord indirekt beigetragen hat. Dabei gesteht er sich zwar ein, unreflektiert und ungeschickt gehandelt zu haben, aber er scheint sich selbst zu verzeihen und sein Leid aufarbeiten zu wollen: Auf die Leiden des Lebens reagieren, sie akzeptieren; sich akzeptieren und die Schulden, an denen wir Schuld sind; verstehen: so sagte er seinen Patienten… Er war gescheitert: Aber von seinem Scheitern – von ihr: Antonia – hatte er gelernt… und er wollte das nicht verschenken, er wollte es nicht! Sonst zum welchen Zweck sollte man weitermachen? (Iaschi 1996: 237, Übersetzung M. C.)22

21 „Già... Uomini e donne, sempre in bilico tra norma e trasgressione, luce e ombra... Chi trova l’equilibrio e chi no. E chi crede di averlo trovato perché rispetta le regole… La vera forza è nel saper trasgredire, si disse.“ 22 „Reagire ai dolori della vita, accettarli; accettare se stessi, e le colpe di cui siamo colpevoli; capire: così diceva ai pazienti… Lui aveva fallito. Ma da quel falli-

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Diese Auseinandersetzung Gerbins mit sich selbst bildet die tatsächliche Ermittlung im Roman, neben der die Ermittlung über den Mord von Panezio Wrem eine bloß ergänzende Funktion hat: Sie sorgt für Spannung und erhöht das Unterhaltungspotenzial der Geschichte, dessen Ariadnefaden die destabilisierende Kraft der Leidenschaft, nicht des Verbrechens, ist. Im Unterschied zu „Rolandov steber“ werden die Charaktere und ihre Beweggründe in „L’assassinio di Via Malcanton“ mit den Besonderheiten von Triest und dessen Stimmung nicht in Verbindung gebracht. Es sind im Text zahlreiche Hinweise auf die Stadt zwar vorhanden, aber sie sind knapp und undekodiert. Beispielsweise werden Straßennamen erwähnt, und es gibt Verweise auf das ehemalige Ghetto, auf die Triester jüdische Gemeinde, auf die habsburgische Vergangenheit Triests oder auf den Antisemitismus der Triester Rechtsradikalen (Iaschi 1996: 58, 148-149, 77-78). Man findet auch Anspielungen auf die Triester italienische Literatur: Beispielsweise wird aus zwei Gedichten von Umberto Saba23 zitiert, und der Romantitel selbst ist eine Anspielung auf die Erzählung „L’assassinio di via Belpoggio“ [Der Mord in der Belpoggiostraße] von Italo Svevo (1890), dem berühmtesten Autor der Triester Moderne in italienischer Sprache. Svevos Hauptwerk „La coscienza di Zeno“ [Zenos Gewissen] (1923), das erste Werk der italienischen Literatur, das sich der Psychoanalyse widmet, ist auch das Vorbild für das psychoanalytische Narrativ der Handlung in „L’assassinio di Via Malcanton“24. All diese Hinweise auf Topographie, Geschichte, Gesellschaft und Kultur Triests spielen allerdings keine wesentliche Rolle für die Handlung, weil sie in keiner Weise auf das Verhalten der Figuren Einfluss nehmen. Die im Roman gelieferten Auskünfte über Triest sind nur flüchtige Verweise, wie folgendes Beispiel zeigen kann:

mento – da lei: Antonia – aveva imparato… e non voleva disperderlo, non voleva! Se no a che scopo continuare?“ 23 Umberto Saba (1883-1957), Pseudonym von Umberto Poli, ist einer der berühmtesten Triester Dichter in italienischer Sprache. In „L’assassinio di Via Malcanton“ wird aus den Gedichten „Tre vie“ [Drei Straßen] auf Seite 61 und „Trieste“ [Triest] auf Seite 228 zitiert (siehe Saba 2004: 89-90, 79). 24 Zum Verhältnis zwischen Triester Literatur und Kultur und Psychoanalyse siehe Voghera (1980).

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Er ging in Via San Michele. Seit wann war er nicht mehr zu Fuß hier entlang gegangen? Er ging über die Rotonda Pancera und bog ab in via Madonna del Mare […] Er kam hinter der Cittavecchia dann auf Piazza Hortis: Vor einer Woche war Gigliola dort, vor dem Tor, um auf ihn zu warten. Es war nur eine Woche vergangen… Er lief schneller und erreichte in kurzer Zeit die via del Lazzaretto Vecchio. „Es gibt in Triest eine Straße, in der ich mich spiegle…“25 Er trat in das Tor hinein. Er war angekommen. (Iaschi 1996: 61. Übersetzung M. C.)26

Das ist die Beschreibung des Wegs, den Roberto Gerbin nimmt, um zur Universität zu gehen. Sie ist zwar geographisch exakt (Abbildung 2), aber die Wegsschilderung beschränkt sich auf eine genaue Toponomastik und beschreibt die Stadt keinesfalls für einen Leser, der Triest nicht kennt. Sowohl Gerbins Erinnerung an die verlassene Freundin als auch das Zitat aus Sabas Gedicht könnten zwar dieser Textstelle den Anmut literarischer flânerie verleihen, in deren Struktur Orte, kollektives und persönliches Gedächtnis, sowie literarische Verweise oft vermengt werden (Benjamin 1991: 524-569, Colombi 2008: 51-56). Dennoch bleibt die Verbindung zwischen diesen Elementen kurz und mechanisch, weshalb der Text nicht als flânerie-Text zu bezeichnen ist. Die literarische Repräsentation der Besonderheiten der Triester Welt scheint kein Anliegen von „L’assassinio di Via Malcanton“ zu sein. Man kann deshalb vermuten, dass die im Text oftmals angedeutete Triest-Kulisse nicht für ein Publikum erschrieben ist, das die Stadt durch den Roman entdecken möchte oder über sie nachdenken will – ganz unabhängig von den Ansprüchen: Die Triest-Darstellung von „L’assassinio di Via Malcanton“ kann nämlich weder Leser mit kritischen, noch Leser mit mainstream-touristischen Erwartungen zufrieden stellen.

25 Zitat aus Umberto Sabas Gedicht „Tre vie“. 26 „Prese la via San Michele. Da quanto tempo non la faceva a piedi? Superò la Rotonda Pancera, girò verso via Madonna del Mare. […] Arrivò alle spalle di Cittavecchia, poi in piazza Hortis: una settimana fa c’era Gigliola ad aspettarlo, davanti a quel portone. Era passata una sola settimana… Allungò il passo, e in breve raggiunse via del Lazzaretto Vecchio. ‚C’è a Trieste una via dove mi specchio…‘ Entrò nel portone. Era arrivato.“

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Abbildung 2: Gerbins Route durch Triest in „L’assassinio di Via Malcanton“

Quelle: „Abbazia und die adriatische Riviera mit Triest, Fiume und den Inseln des Quarnero“. Berlin, 1926 (bearbeitetes Bild)27

Viel mehr adressiert der Roman die unmittelbaren Identifikationsbedürfnisse von Lesern, die auch im Alltag mit Triest bereits eng vertraut sind. Auf die Stadt wird nur kurz toponymisch referiert, um dieser Art von Lesern eine Selbst(an)erkenntnis zu ermöglichen und auch um dabei ihre Aufmerksamkeit für das wahre Thema des Romans, die intime Geschichte von Doktor Gerbin, aufrechtzuerhalten.28 Iaschis impliziter Leser – etwa ein Triest(Kenn)er – ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum „L’assassinio di Via Malcanton“ in Italien – außerhalb von Triest – recht wenig bekannt ist und in keine andere Sprache übersetzt wurde: Das Buch behandelt zwar ein universales Thema, die Leidenschaft, aber es gestaltet demgegenüber auch eine Triest-Kulisse, die nur von Eingeweihten rezipiert werden kann. Nur Leser, die sich in Triest heimisch fühlen, können durch ihre Kenntnisse

27 Der auf dem Stadtplan als „Piazza degli Studi“ [Studienplatz] bezeichnete Platz wurde 1926 in „Piazza Hortis“ [Hortis-Platz] (siehe Iaschis Zitat) umbenannt. 28 Das auktoriale Angebot sowie die Lesersuche nach Selbsterkennung in literarischen Texten lässt sich aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff der „Adäquanz“ erläutern: „Je größer die ‚Adäquanz‘ von inhaltlichen, strukturellen und sprachlichen Merkmalen des Textes mit den kommunikativen Dispositionen beim Rezipienten ist, desto größer ist auch die Konsumierbarkeit und Wirksamkeit des Textes.“ (Nusser 2009: 167)

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und Erfahrungen die Leerstellen ausfüllen, die sich im Text zwischen der exakten, aber verschlossenen Toponomastik und den knappen flânerieNuancen auftun.

P OLYPHONIE DER G ESCHICHTE : T RIEST UND I STRIEN IN V EIT H EINICHENS „D IE T OTEN VOM K ARST “ Einen großen Kontrast zu Iaschis „L’assassinio di Via Malcanton“ bildet Veit Heinichens zweiter Krimi „Die Toten vom Karst“ (2002)29, nicht nur weil hier die Mordermittlung die ganze Handlung des Romans strukturiert, sondern weil Heinichens Verweise auf Triest sehr ausführlich sind und nicht nur einen heimischen, sondern auch einen auswärtigen, in erster Linie einen deutschsprachigen Leser voraussetzen, der durch die Lektüre des Romans etwas über Triest und dessen Geschichte erfahren soll. Der Triester Kommissar Proteo Laurenti ermittelt in diesem Krimi den Mord von Manlio Gubian, dessen Haus im Dorf Contovello/ Kontovel auf dem Karst hinter Triest in die Luft gejagt wurde. Die Untersuchung führt Kommissar Laurenti dazu, sich mit der schwierigen Vergangenheit Triests und Istriens während und nach dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Das Verbrechen geschieht im Rahmen der alten Fehde zwischen den Familien Gubian und Marasi, beide ursprünglich aus Istrien. Erstere ist halb italienischer, halb kroatischer Abstammung und hat im Zweiten Weltkrieg Titos Partisanen unterstützt. Letztere ist eine italienische Familie, die faschistisch war und auch nach dem Krieg rechtsorientiert geblieben ist. Die tragischen Ereignisse, welche Istrien im 20. Jh. markiert haben, prägen die Vergangenheit beider Familien: der Exodus der italienischen Bevölkerung aus Istrien nach dem Zweiten Weltkrieg, die Unterdrückung von Slowenen und Kroaten unter dem italienischen Faschismus in der Zwischenkriegszeit und die abwechselnden Racheakte beider Seiten während des Krieges. Diesbezüglich spielen in Heinichens Roman insbesondere die foibe eine große Rolle, jene tiefen Karsthöhlen, in denen jugoslawische Partisanen

29 Der Roman ist Teil einer Serie, die mit „Gib jedem seinen eigenen Tod“ 2001 begann und mit „Tot auf der Warteliste“ (2003c), „Der Tod wirft lange Schatten“ (2005), „Totentanz“ (2007), „Die Ruhe des Stärkeren“ (2010a) und „Keine Frage des Geschmacks“ (2011) fortgesetzt wurde.

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ihre Gegner gelegentlich verschwinden ließen – d. h. vor allem, aber nicht ausschließlich, italienische Faschisten. Anders als die Krimis von Verþ und Iaschi deren Erzählfokus hauptsächlich oder ausschließlich auf den Protagonisten liegt, ist „Die Toten vom Karst“ polyfokal. Der unpersönliche Erzähler verfolgt manchmal die Taten und Gedanken vom Kommissar Laurenti und manchmal die der anderen Figuren. Dabei ist das Erzähltempo ziemlich rasant: Der Roman besteht aus short cuts, relativ kurzen Abschnitten, die aufeinanderfolgen und die Narration so aufbauen, dass der Leser den logischen Ablauf der Geschehnisse nur mit Anstrengung genau verfolgen kann. Vielmehr ist er mit der atemberaubenden Reihenfolge von sich überschneidenden Szenen beschäftigt, in denen verschiedene Romanfiguren handeln und die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zeigen. Es handelt sich um eine filmtechnische Strategie, die u. a. auch in zahlreichen Krimiserien Anwendung findet.30 Dabei kennzeichnet „Die Toten vom Karst“ die Vielfalt und Komplexität der Handlungsstränge, die darin zusammengeschnürt werden. Dennoch kennt der Roman auch Retardierungsmomente, hauptsächlich historische Exkurse über die Geschichte Triests und Istriens, welche die Erzählung verlangsamen. Diese Textstellen ermöglichen es auch Lesern, die mit der Triester Geschichte nicht vertraut sind, den verwickelten histori-

30 Wie Nusser anmerkt, haben filmische Erzählstrategien insbesondere den Thriller beeinflusst (Nusser 2009: 160-166, bes. 164 über die Zersplitterung der Wahrnehmungen des Betrachters bzw. Lesers durch den raschen Wechsel der Schauplätze). Andererseits darf man den Einfluss des Films auf (Kriminal-)Literatur nicht überschätzen: Die Verschiebung des Erzählfokus sowie andere erzählerische Verfahren wurden in der Literatur auch vor der Entstehung und Verbreitung des Films praktiziert (Fusillo 2008: 24-27). Dennoch spricht die äußerste Intensivierung und Beschleunigung in der Anwendung solcher Verfahren in der zeitgenössischen Kriminalliteratur für eine gewisse Rezeption filmischer Erzählstrategien: „Der Erzähler verlässt sich auf eine neue, unterschiedliche ,Enzyklopädie‘ des Lesers, dem die typische Rolle des Zuschauers erteilt wird, weil er aus den Formen des visuellen Erzählens bereits schlau geworden ist: Er ist dazu gezwungen, die zeitlichen und kausalen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Erzählteilen zu rekonstruieren.“ (Ivaldi 2008: 281. Übersetzung M. C.) Ivaldi verwendet hier den Terminus „Enzyklopädie“ im Ecoschen Sinne und meint damit die intertextuelle Kompetenz des Lesers (siehe Eco 1979: 78).

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schen Hintergrund der Handlung zu verstehen. Sie werden auf gezielte und variierende Art und Weise eingeschoben, um die Spannung nicht allzu stark zu reduzieren. Neben der klassischen diegetischen Zusammenfassung von Erinnerungen und Betrachtungen einiger Figuren, werden Informationen auch in Dialogen mimetisch eingebaut oder als Inhalt von fiktiven Zeitungsartikeln reproduziert (z. B. Heinichen 2003a: 42-46, insbesondere 45, 14-16). Trotz der Vielfalt an narrativen Standpunkten und Verfahren bildet die Figur des Kommissars Laurenti die wichtigste Linse, durch die Heinichen seinen in die Geschichte Triests tief verankerten Roman gestaltet. Laurenti kommt aus dem süditalienischen Salerno und ist somit kein gebürtiger Triester, anders als die beiden Ermittler von Verþ und Iaschi. Sein Blick auf die Stadt sowie seine Art, an deren Gesellschaft, Geschichte und Politik Kritik zu üben, werden als die eines Auswärtigen präsentiert, der sich mit Triest nicht vollkommen identifizieren kann: „Triest ist ein Irrenhaus!“ brummte Laurenti und schüttelte den Kopf. Irgendwann einmal würde er sich doch intensiver mit dem Phänomen der Foibe beschäftigen müssen. Er wollte sich ein paar Bücher besorgen und jemanden in der Stadt auftreiben, der unpolemisch mit der Sache umging und die Hintergründe aufhellen konnte. (Heinichen 2003a: 16)

Andererseits wird der Kommissar nicht als ein wirklich Fremder präsentiert, weil er nach langer Zeit in Triest gewissermaßen heimisch geworden ist. Er selbst behauptet, dass der Umzug aus Süditalien nach Triest ihm die Möglichkeit gab, einen individuellen Lebensweg einzuschlagen: „Ich war froh, als ich aus Salerno wegkam, war glücklich, daß ich irgendwo anders meinen Weg machen konnte, meinen eigenen, und fühle mich in Triest zu Hause, obgleich auch ich ein Immigrant bin.“ (Heinichen 2003a: 283)

Aus dieser Lage zwischen Fremdheit und Zugehörigkeit gestaltet die unpersönliche Erzählstimme des Romans Laurentis Betrachtungen über Triest, die so zahlreich und ausführlich sind, dass der Kommissar nicht nur Verbrecher, sondern auch seine Stadt zu ermitteln scheint. Er hat einen besonders schneidenden Blick, der es ihm erlaubt einerseits an den Gedanken und Gefühlen der Triester teilzunehmen und andererseits fällt es ihm so

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auch leicht, die Distanz zu wahren. So bemerkt er z. B. über die foibe: „Er schob das düstere Thema schon lange vor sich her, wie die meisten Triestiner, die einen großen Bogen um die schwarzen Abgründe machten.“ (Heinichen 2003a: 16) Laurenti weiß und fühlt wie jeder andere Triester, dass eine bewusste Auseinandersetzung mit den foibe aufgrund der politischen und ethischen Implikationen mühsam und schmerzhaft sein kann. Deswegen hat er dieses Thema verdrängt bzw. oberflächlich wahrgenommen. Dennoch haben weder der Kommissar noch seine Vorfahren mit der Geschichte und den ethnischen und ideologischen Rivalitäten der Stadt im Zweiten Weltkrieg und in der frühen Nachkriegszeit etwas zu tun. Deswegen kann Laurenti sich in der Erinnerung an diese schwierige Zeit freier bewegen als viele andere Figuren des Romans, die persönlich oder über ihre Familiengeschichte betroffen sind. Von großer Bedeutung ist in „Die Toten vom Karst“ auch die Persönlichkeit der Mörderin Nicoletta Marasi. Durch sie repräsentiert Heinichen die Wirkung von ideologischer Gewalt auf die aufeinanderfolgenden Generationen einer Gesellschaft. Verbittert schaut sie auf die Geschichte Istriens und ihrer Familie zurück: All diese feinen Regierungen, die wir hatten, sind doch nicht besser als diese Dreckslawen. Verstehen Sie: wir wollen das zurück, was uns gehört! Istrien ist italienisch! Die Familie meines Vaters hatte Land und Vieh und Weizen und Wein. Sein älterer Bruder gehörte zu den 250.000 italienischen Soldaten, die den Deutschen gegen die Russen helfen sollten. Diese hilflose Truppe, mit der Mussolini diesem Hitler in den Arsch kriechen wollte. Er ist nie zurückgekehrt. Und seine Schwester haben sie umgebracht… […] Gubian war kommunistischer Partisan! Er hat Violetta denunziert wegen nichts. Sie hatte ihn abfahren lassen. Sie wurde von der ganzen Meute vergewaltigt und dann in eine Foiba geworfen. Man hat sie später gefunden! Deswegen weiß man das! Den Mördern ist natürlich nichts passiert. (Heinichen 2003a: 175177)

Das nicht minder ideologische Gegenstück zu ihrer Perspektive bilden die Erinnerungen der Familie Gubian. Der ehemalige Partisan dieser Familie, von dem im angeführten Zitat die Rede ist, streitet seine Schuld am Mord von Violetta Marasi, Nicolettas Tante, ab. Er attackiert im Gegensatz dazu die Grausamkeit der faschistischen Unterdrückung der Slowenen und Kroaten. Durch das entgegengesetzte Gedächtnis beider verfeindeter Familien

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(und anderer Figuren), sowie durch die historischen Überlegungen Laurentis entsteht im Roman ein pluralistisches Bild der Geschichte, in die der Mord eingebettet ist. Genauso wie die Erzähltechnik der short cuts polyfokal ist, ist die Erzählung der Geschichte polyphonisch. Sie ist dialogisch im Sinne Bachtins, weil sie die Bedeutung von Ereignissen zumindest teilweise offen lässt (Bachtin 1986: 77-261, insb. 124-198). Ein heikler Themenkomplex, wie es die Gewalttaten des Zweiten Weltkriegs und die Auswanderung der italienischen Bevölkerung aus Istrien nach dem Krieg sind, wird nuanciert dargestellt. Über die verschiedenen Figuren kommen sowohl die Perspektive der italienischen als auch der kroatischen Istrier samt ihrer Verflechtung mit den politischen grands récits des 20. Jh.s. zum Tragen. Außerdem betont Heinichen am Beispiel der italienisch-kroatischen Familie Gubian, dass die ethnisch-nationalen Grenzen fließend sein konnten. Die Tatsache, dass sich ein Mitglied dieser Familie nach dem Zweiten Weltkrieg für Jugoslawien entschied und in Istrien geblieben ist, führt in die Erzählung das Thema der sogenannten italienisch(-kroatisch)en rimasti [Verbliebenen] und deren schwieriges Verhältnis zu den aus Istrien umgesiedelten Italienern ein, die sich selbst als esuli [Exilierte] bezeichnen.31 Achtet Heinichen einerseits auf die ethnische Trennung und die ideologischen Gegensätze der Triester Region, relativiert er sie andererseits als historische Konstrukte, die zwar ständig einen beträchtlichen Einfluss auf Gesellschaft und Individuen haben, die aber immer auch kontextabhängig sind und überwunden werden können. Die Familien Marasi und Gubian sind so trotz ihrer Fehde gemeinsam an einem verbrecherischen Unternehmen beteiligt: Sie schmuggeln zusammen Drogen übers Meer von Kroatien nach Italien. Am Beispiel der Kriminalität zeigt Heinichen auf provokative Art und Weise, dass ideologische Konflikte weder kohärent noch beständig sind. Die globalisierte Wirtschaft, inklusive ihrer versteckten illegalen Seite, kann unter Umständen über sie hinwegsehen. Um den Fall zu lösen, braucht Kommissar Laurenti die Hilfe einer kroatischen Staatsanwältin aus Istrien. Damit wird die Notwendigkeit bezeichnet, das internationale Verbrechen in internationaler behördlicher Zusammenarbeit verschiedener Länder zu bekämpfen. Die Kooperation zwischen Laurenti und der Staats-

31 Über den Konflikt von rimasti und esuli aus anthropologischer Perspektive siehe Ballinger (2002).

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anwältin Živa Ravno wird in „Die Toten vom Karst“ zum Symbol einer für beide Figuren zeitgemäßen europäischen Kultur, in der die Vergangenheit gemeinschaftlich aufgeklärt wird und in der man sich mit den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft gemeinsam auseinandersetzt. Obwohl Laurenti in seiner Kritik am Begriff der nationalen Identität radikaler ist als seine kroatische Arbeitskollegin, sind sie sich einig in ihrem negativen Urteil über jene ideologische und konflikterregende „Nostalgie, die ein Zusammenleben jenseits der ökonomischen Wirklichkeit schwierig macht.“ (Heinichen 2003a: 283-284) Im Unterschied zu den Nostalgikern denken beide, dass „es an der Zeit [ist], offen über die Probleme der Vergangenheit zu sprechen, damit es eine Zukunft gibt, die nicht nur EU heißt, sondern gute Nachbarschaft. Ich [Živa Ravno] will, dass dieses Land so schnell wie möglich alle Grenzen vergisst.“ (Heinichen 2003a: 283-284) Trotz des evidenten politischen Engagements lässt sich nicht jeder Verweis des Romans auf die Realien der Triester Region mit der KrimiHandlung oder mit einer politisch reflektierten Darstellung der Geschichte verknüpfen. Einige Beschreibungen, insbesondere die der Architektur, der Gaststätten oder der Küche von Triest, scheinen weder dem Plot noch dem politischen Diskurs zu dienen. Anders als bei Iaschi handelt es sich allerdings nicht nur um kurze Verweise, die nur ein mit Triest bereits vertrautes Publikum dekodieren kann. Es sind ausführliche Darstellungen, die einen anspruchsvollen, an der Triester Kulturgeschichte interessierten Touristen zufrieden stellen können. Damit pflegt Heinichen in seiner Triest-Darstellung neben einem historisch kritischen auch eine touristisch unterhaltsame Perspektive (Abbildung 3): Er [Laurenti] beschloß, für ein paar Minuten ins „Caffè San Marco“ zu gehen, um eine Kleinigkeit zu essen. An normalen Tagen saß er fast jeden Mittag in diesem prachtvollen Raum, der ein besonderer Zeuge Triestiner Geschichte war. Laurenti erinnerte sich, dass er erst vor kurzem erfahren hatte, dass das San Marco einst, als es kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eröffnet wurde, Treffpunkt der Irredentisten war. Die Anhänger Italiens fanden dort in Hinterzimmern die unter den Habsburgern verbotene italienische Presse und besprachen ihre hochfliegenden Pläne. Und es saßen, vermutlich jeder für sich, auch die Triestiner Intellektuellen drin, darunter Svevo, Slataper und Saba. Für James Joyce war es bereits zu spät. Am 22. Mai 1915 eskalierte die Situation. In Italien erfolgte die Mobilmachung, und die Habsburger verordneten, dass die Grenzen geschlossen wurden. Wenige Stunden

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später zogen pro-österreichische Horden durch die Stadt, legten Feuer im Gebäude des „Piccolo“ [Triester italienischsprachige Zeitschrift] und verwüsteten das erst viereinhalb Monate alte „San Marco“. Joyce floh in die Schweiz und kam erst nach dem Krieg zurück, sein Bruder Stanislaus wurde in einem österreichischen Lager interniert. Im „San Marco“ waren damals auch gefälschte Pässe zu haben, mit denen wehrpflichtige Männer versuchten, sich dem österreichischen Stellungsbefehl zu entziehen. (Heinichen 2003a 203)

Abbildung 3: Detail der Werbebroschüre des Hanser Verlags über Heinichens Romane. Die Ortschaften aus den Krimis sind mit Buchstaben auf der Karte gekennzeichnet und mittels einer kurzen Beschreibung und eines Bildes präsentiert.

Quelle: Hanser Verlag (Broschüre und Karte); Photo: Veit Heinichen

Die Tatsache, dass der Roman „Die Toten vom Karst“ eine Art ,Einführung‘ zu Triest ist und die Stadt auch für das historisch bzw. touristisch interessierte auswärtige Publikum darstellt, mag einen Grund für die beträchtliche Weite seines Rezeptionsradius bilden. Die italienische und die slowenische Übersetzung des Romans erschienen 2003 und 2010. Darüber hinaus existieren eine niederländische, eine französische und eine spanische Ausgabe des Romans, der außerdem 2006 für das deutsche Fernsehen verfilmt wurde.32

32 Die Toten vom Karst wurde mit Heinichens erstem Roman Gib jedem seinen eigenen Tod von Sigi Rothemund verfilmt und 2006 von der ARD ausgestrahlt. Die Verfilmungen von Tod auf der Warteliste und Der Tod wirft lange Schatten

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T RIESTER K RIMIS IM V ERGLEICH : S TADTDARSTELLUNG , L ESERSCHAFT UND G ATTUNGSBEZUG Der Vergleich zwischen den Texten von Verþ, Iaschi und Heinichen zeigt, dass diese Triester Krimis sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede aufweisen. In Bezug auf die Triest-Darstellung unterscheidet sich Iaschis „L’assassinio di Via Malcanton“ von beiden anderen Romanen ziemlich stark, indem die Stadt hier als Kulisse dargestellt wird, die mit den Kernmotiven der Romanhandlung nicht wesentlich verbunden ist. Dahingegen verknüpft sich die Krimistruktur von „Rolandov steber“ und von „Die Toten vom Karst“ mit Triest als Handlungsort. Der Fall und seine Beweggründe, die Ermittlung und die Betrachtungen von Kommissar Perko und Kommissar Laurenti bilden zugleich diskursive Aussagen über Triest und seine Merkmale. Die Art dieser Betrachtungen unterscheidet wiederum Verþ und Heinichen: „Rolandov steber“ repräsentiert die Stadt eher von einem existentiellen, ethisch und metaphysisch gefärbtem Standpunkt, während „Die Toten vom Karst“ einen dezidiert historisch-politischen Fokus hat. Einen zweiten Unterschied bildet der implizite Leser dieser Texte, den man aufgrund ihrer inhaltlichen Schwerpunkte und Erzählstrategien vermuten kann. Verþ scheint in erster Linie für Triester Slowenen zu schreiben bzw. für Slowenen aus Slowenien, die sich für die Auslandsslowenen aus Triest interessieren.33 Iaschi adressiert Triester, die italienisch lesen können,

folgten 2007 und 2008 (Regie: Hannu Salonen), Totentanz 2009 (Regie: Ulrich Zrenner). Die Nähe zu einer bestimmten filmischen Sprache und die konsequente Verfilmung der Romane von Heinichen werfen die Frage auf, ob der Autor mittlerweile von Vornherein multimedial arbeitet und seine Romane bereits im Hinblick auf eine mögliche Verfilmung schreibt (zum zeitgenössischen Krimi und Intermedialität siehe Nusser 2009: 78). 33 Man könnte hier auch an (insbesondere Triester) Italiener denken, die sich für das slowenische Triest interessieren. Allerdings ist die Anzahl der Italiener, die des Slowenischen mächtig sind, auch in Triest sehr gering (Verþ, I. 2011: 11-13, insb. Fußnote 23). Für eventuell an Slowenien interessierte Italiener ist „Rolandov steber“ erst nach dem Erscheinen der italienischen Übersetzung zugänglich geworden. Man kann die Frage aufwerfen, ob Verþ’ Darstellung von

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die aber nicht über Triest lesen sollen, sondern über Liebe, und dabei Triest als gemütliche Kulisse haben, über die sie nicht weiter nachzudenken brauchen. Heinichen widmet sich dahingegen Lesern, die Triest sowohl als geschichtlich spannenden Ort als auch touristisch anlockendes Reiseziel im Auge haben.34 Ähnlich sind sich alle drei Romane dahingehend darin, dass sie bestimmte Merkmale der Kriminalliteratur bedienen. Sie verwenden einen relativ umfangreichen, aber gewöhnlichen Wortschatz und respektieren die Standards der geschriebenen Syntax. Zu vermerken ist, dass alle drei Texte einige Tendenzen des zeitgenössischen Krimis zu bestätigen scheinen. Sowohl „L’assassinio di Via Malcanton“ als auch „Rolandov steber“ und „Die Toten vom Karst“ kennzeichnen sich durch die Hybridisierung mit Elementen aus anderen Genres bzw. durch die Vermischung von verschiedenen Untergenres des Krimis. Am stärksten ist hier Iaschis Roman, der eigentlich ein psychologischer Roman mit einer kriminellen Nebenhandlung ist. Verþ und Heinichen vermengen beide verschiedene Untergenres

Triest von der Absicht beeinflusst ist, die Welt der Triester Slowenen sowohl in Slowenien als auch in Italien durch einen Krimiplot bekannt zu machen. Diese Möglichkeit könnte umso mehr für seine späteren Krimis gelten, da Verþ inzwischen als Krimiautor in Slowenien bekannt ist und ein zweiter Krimi von ihm ins italienische übersetzt wurde (Verþ 2007). 34 Da Heinichen auf Deutsch schreibt, ist klar, dass er an das deutschsprachige Publikum denkt und somit an das Bild, das Triest im deutschsprachigen Raum hat(te). Andererseits wurden alle Romane Heinichens ab „Die Toten vom Karst“ rasch ins Italienische übersetzt und Heinichen ist ein gut bekannter und anerkannter Krimiautor in Italien. Es lässt sich deshalb vermuten, dass er auch Italiener unter seinen Lesern vorsieht, nicht zuletzt Italiener aus der Triester Region, wo er im öffentlichen Leben ziemlich aktiv ist (siehe nächsten Abschnitt). Die internationale Bekanntheit, die Heinichens Werk dank der zahlreichen Übersetzungen inzwischen sowohl an der Nordostadria, als auch in anderen Ländern erlangt hat, spricht für eine gesamteuropäische Leserschaft. Damit können sich sowohl Auswärtige identifizieren, als auch Triester, welche ihre Stadt und deren kulturelle Bedeutung in Heinichens Krimis umfassend repräsentiert finden.

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des Detektivromans und des Thrillers.35 Verþ liebäugelt außerdem mit Psychologie und Philosophie, während Heinichen sich in der relativ jungen Tradition des gesellschaftskritischen Milieu-Krimis positioniert (Nusser 2009: 106-108, 136-141). Der Bezug auf eine konkrete Stadt und Topographie mit all ihren Besonderheiten – Triest – und nicht auf eine Stadt, die zwar London oder Los Angeles heißen kann, aber nicht an sich wichtig ist, sondern als Idealtyp der Großstadt fungiert, bildet ebenso eine Charakteristik des zeitgenössischen Krimis (Krajenbrink 2009). Dafür prägend sind auch die inbetween-Figuren der Kommissare: Perko, ein Slowene in der italienischen Polizei, und Laurenti, ein Süditaliener an der Nordostadria (ebd.: 62).

D IE E NTSTEHUNG EINES L ABELS : S ELBSTDARSTELLUNG UND R EZEPTION DER T RIESTER K RIMIAUTOREN Die Behauptungen der Autoren über ihre Werke und die Kommentare von Literaturkritikern und -wissenschaftlern entsprechen – insbesondere im Fall von Verþ und Heinichen – den Ergebnissen der hier ausgeführten Textanalysen. Die Publikation der italienischen Übersetzung von „Rolandov steber“ war Anlass zu einem persönlichen Statement von Verþ, das in der

35 In der Kriminalliteraturforschung herrscht keine klassifikatorische Einigkeit über die Untergenres des Krimis. Im Allgemeinen erkennt man den Unterschied an zwischen Krimis à la Arthur Conan Doyle, in denen die intellektuelle Ermittlung des Detektivs den Kern der Geschichte ausmacht, und Krimis à la Raymond Chandler, in denen die action eine viel größere Rolle spielt. In dieser Untersuchung wurde die Terminologie von Nusser (2009) übernommen, der die erste Gruppe von Krimis als Detektivromane (hier auch whodunit genannt) und die zweite als Thriller bezeichnet. Eine ähnliche Unterscheidung mit anderen Bezeichnungen findet man bei Heißenbüttel (1998) und Todorov (1998), während Nünning (2008: 5-13) ein anderes, triadisches, Klassifikationsmodell vorschlägt. Die Forscher scheinen darin übereinzustimmen, dass die Geschichte des Kriminalromans durch eine allmählich stärkere gegenseitige Kontaminierung der jeweiligen Untergenres geprägt wurde.

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Triester slowenischen Zeitung „Primorski dnevnik“ [Küstenländisches Tageblatt] (21.4.2006) erschien, und zu einem inhaltlich sehr ähnlichen Interview in der Triester italienischen Zeitung „Il Piccolo“ [Die Kleine (Zeitung)] (Godnik 22.4.2006). In beiden Texten betont Verþ, mit „Rolandov steber“ einen provokativen Krimi über die Triester slowenische Minderheit geschrieben zu haben. Mit Absicht habe er einen Triester Slowenen als Hauptfigur gewählt, der nicht nur dem italienischen Staat verantwortungsbewusst diene, sondern noch dazu die dunkle Seite und die Heuchelei seiner nationalen Gemeinschaft demaskiere. Durch Kommissar Perko habe Verþ die Verschlossenheit der Triester Slowenen sowie ihr Voreingenommensein gegenüber den italienischen Behörden aufzeigen wollen. Gleichzeitig sei die Figur von Perko aus einer intimen Auseinandersetzung des Autors mit seiner eigenen Identität entstanden, die zwischen slowenischer und italienischer Kultur gespalten ist: Einige Traumata von Kommissar Beno [Perko] sind auch meine Traumata. Er sagt irgendwo, dass er dieses nationale Geschwür hinter sich hat. Weil er aber innerhalb des [italienischen] Staatsapparats beruflich tätig ist, gilt er zumindest in den Augen der offiziellen Gremien der Minderheit irgendwie als „Verräter.“ (Verþ 21.4.2006. Übersetzung M. C.)36

Der Inhalt beider Interviews bestätigt das Profil des Autors, bekannt als Satiriker und Parodist, der die Triester slowenische Gesellschaft auf kritische und/ oder lustige Art und Weise zu provozieren weiß. Aleksa Šušuliþ hatte bereits 1991 in ihrer Rezension von „Rolandov steber“ bemerkt, dass der Text eine bewusste Provokation der Slowenen aus Triest und Kärnten ist, die wahrscheinlich auf real existierende Personen anspielt: „eine persönliche Abrechnung [...] sublimiert auf metaphorischer Ebene und versteckt hinter Pseudonymen und Analogien.“ (Šušuliþ 27.12.1991. Übersetzung M. C.) Dabei treffe der Roman an manchen Stellen ins Schwarze und führe zu einer gesunden Kritik, wenn man über die Provokation hinaus lesen wolle. Gerade die starke Fokussierung auf die Welt der Triester Slowenen wurde von dem Komparatisten Tomo Virk (9.1.1992) in der slowenischen Zeitung „Slovenec“ [Der Slowene] kritisiert. Verþ’ existentielles und polemisches

36 Der Autor könnte hier auf die Tatsache anspielen, für den italienischen nationalen Fernsehsender RAI gearbeitet zu haben.

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Engagement gegen die Laster seiner slowenischen Mitbürger ist nach Virk so stark, dass Verþ in „Rolandov steber“ weder die richtige Distanz zum Inhalt noch die erforderliche Aufmerksamkeit für die Form findet. Die Darstellung der Triester Slowenen als absolute Verkörperung des Bösen sei allzu überladen und belaste die Handlung. Verþ wiederum scheint sich der Gefahren einer exzessiven Autoreferenzialität bewusst: „In all meinen Erzählungen habe ich immer vermieden, das zu tun, was viele unter meinen slowenischen Kollegen machen: d. h. die Breite der Figuren einzuschränken, indem man sie in die Orte und Traditionen der [slowenischen] Gemeinschaft eingrenzt. Aber es bleibt wahr, dass man bestimmte Dinge mit sich trägt, weil sie Teil der eigenen Wurzeln und des Background sind, in dem man groß geworden ist.“ (Godnik 22.4. 2006) Der auktoriale Blick auf die Triester slowenische Gesellschaft dürfte weniger einseitig sein als Virk vermutet. Das übertrieben düstere Bild der Triester Slowenen in „Rolandov steber“ könnte sogar darauf zielen, Skepsis bei den Lesern zu erzeugen, damit sie die Glaubwürdigkeit dieses Bildes in Frage stellen. In diesem Sinne würde der Roman auf zwei Ebenen kathartisch wirken: Einerseits als emotional beladene Darstellung der ‚Leichen‘, die Triester Slowenen in ihren Kellern haben, andererseits als spielerische Warnung davor, die Realität allzu stark zu fiktionalisieren und sich diese ‚Leichen‘ so sensationell abscheulich wie in einem Thriller vorzustellen.37 Sei diese Vermutung richtig oder nicht, scheinen die Kommentatoren darin übereinzustimmen, dass das Kernthema des Romans die (Triester) slowenische Gesellschaft, ihre Ängste und ihre Traumata bilden.38

37 Nach dieser Interpretation könnte man „Rolandov steber“ eine ähnliche Ambivalenz zuschreiben wie sie Eco in Ian Flemings 007-Romanen festzustellen glaubt. Fleming stellt „die Sowjets derartig wahnsinnig und unwahrscheinlich böse [dar], daß man sie unmöglich ernst nehmen kann.“ Diese „Unglaubwürdigkeit der Übertreibung“ ist laut Eco Zeichen einer Ironienuance, die aber „ganz verschleiert“ ist und nicht stark genug, damit der Leser die Plausibilität des Dargestellten radikal in Frage stellt (Eco 1998: 197). Im Unterschied zu Fleming dämonisiert Verþ allerdings nicht die Anderen (das wären für die Triester Slowenen die Italiener), sondern die eigene Gemeinschaft. 38 Die Diskrepanz zwischen der Interpretation von Šušuliþ in der Triester slowenischen Zeitung „Primorski dnevnik“ und der von Tomo Virk im slowenischen

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Betont Verþ zum einen das Provokative, zum anderen das Autobiographische in „Rolandov steber“, hebt Heinichen in seinen Interviews, die man in der deutschen und italienischen, aber auch in der slowenischen Presse lesen kann, einerseits die historisch-politische Reflexivität und andererseits das zivilgesellschaftliche Engagement seiner Romane hervor. Im Gespräch mit Paolo Rumiz, Triester Schriftsteller und Journalist für die Zeitung „Il Piccolo“, bemerkt Heinichen, dass Triest eine Stadt ist, die viele imaginieren, aber wenige kennen. Sie zu erkunden, bedeute „in ihren versenkten Konflikten“ zu graben, in Konflikten, „die gewaltig sind, auf mehreren Ebenen strukturiert, und die eine äußerst komplizierte Geographie abzeichnen.“ (Rumiz 13.1.2002) In einem anderen Interview für „Il Piccolo“ behauptet Heinichen, dass er den Krimi als „ein perfektes literarisches Mittel“ betrachtet, um „über die moderne Gesellschaft zu sprechen“ und zeigt sich dessen bewusst, dass ihm seine kritische Haltung Gegner verschaffen könne (Mezzena Lona 9.9.2003). Heinichen bestätigt, dass ein Ziel seiner Romane die Verbindung von Regionalem und Globalem ist: Kein Ort in Europa verfügt über mehr Grenzen als Triest. Direkt oder über den Seeweg steht die Stadt täglich mit über zwölf Ländern in Verbindung. Sie ist ein Schnittpunkt Europas, der Übergang zwischen der mediterranen Welt und der des Nordens, des Balkans und Westeuropas, Meer und Berg, Kommerz und Kultur. […] Kommissar Proteo Laurenti, der Protagonist meiner Bücher, hat mit all dem zu tun: Schmuggel jeglicher Art, Korruption, Geheimdienste, Menschenschleuserei, Organhandel, Neue Sklaverei. In einigen dieser Gebiete leitet die Staatsanwaltschaft Triest tatsächlich die Ermittlungen in Italien und steht in Verbindung mit den anderen europäischen Kollegen.39

Genauso wie seine Figur Proteo Laurenti in „Die Toten vom Karst“ (und den anderen Romanen), wirft Heinichen den Triestern eine ähnliche Selbstzentriertheit vor wie die, welche Verþ an den Triester Slowenen kritisiert.

„Slovenec“ lassen vermuten, dass insider- und outsider-Betrachtungspositionen in der Rezeption des Romans eine Rolle spielen könnten. 39 Interview von Jörg Steinleitner mit Heinichen. In: http://www.steinleitner.org/ prominterview.php?id=28&ts= (26.3.2012).

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Die Triester Italiener sind Heinichens Meinung nach mit ihrer Vergangenheit immer noch allzu sehr beschäftigt. Dabei bemerken sie nicht, dass der Kalte Krieg beendet ist und dass für das zeitgenössische Triest die Jugoslawienkriege und die heutige Lage des Balkans viel eher ausschlaggebend sind, im Guten wie im Bösen, als die habsburgische Vergangenheit, die Zeit des Faschismus oder des Eisernen Vorhangs. Heinichens politische Botschaft an die Triester ist, dass sie mit den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens dezidierter und kompetenter kooperieren sollten, damit ihre Stadt nicht zu einer isolierten Provinz wird (Rumiz 13.1.2002). Heinichens Behauptungen in den Interviews korrespondieren mit seinen öffentlichen Tätigkeiten. Er ist sowohl politisch aktiv für die italienische Mittelinke als auch innerhalb des Vereins „Gruppo di azione locale Carso (GAL)/ Lokalna akcijska skupina Kras (LAS)“ [Lokale Aktionsgruppe Karst], der für die landwirtschaftliche und touristische Valorisierung des Karsts in den Provinzen von Görz und Triest zuständig ist. Im Verein arbeiten Italiener und Slowenen aus der Minderheit zusammen.40 Heinichen stellt den Fall eines stark rezipierten Autors dar, zum einen weil seine Krimis international erfolgreich sind und verfilmt wurden, zum anderen weil sein politisches Engagement die Öffentlichkeit von Triest und Umgebung polarisiert und Anlass für Presseberichte ist. Die enge Beziehung zwischen Heinichens Werk und Triest wird von mehreren Seiten stark betont. Primož Sturman hat in einem Artikel für die wichtige Zeitung „Delo“ aus Ljubljana von einer „Symbiose zwischen Stadt und Autor“ gesprochen (23.8.2006). Dieses enge Verhältnis wird in der Regel als politisch und sachkundig beschrieben, wie der Literaturwissenschaftler Walter Grünzweig für den Wiener „Standard“ zusammengefasst hat: Die Verknüpfung von Diskursen der Geschichte und des Krimi, die einander bedingen, dann aber wieder hinterfragen und manchmal gar aufheben; die Suche nach Wahrheit(en) im großen ethnischen Durcheinander; die Macht des Ideologischen; die Schlüsselfunktion des kulturellen Gedächtnisses; die Qualitäten der Landweine in den Buschenschanken des Karsts: der kulturwissenschaftliche Krimi – hier ist er. (Grünzweig 2.3.2002)

40 Zum GAL/LAS siehe http://www.reterurale.it/flex/cm/pages/ServeBLOB.php/L /IT/IDPagina/7361#bfd303 (26.3.2012).

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Neben der Fundiertheit des historischen und gesellschaftlichen Triester Settings wird in den Rezensionen auch Heinichens Fähigkeit gepriesen, sein Wissen in spannende Krimigeschichten zu packen. Danijel Vonþina erwähnt die filmartige Struktur der Ermittlungen vom Kommissar Proteo Laurenti als ein wichtiges Strukturelement von Heinichens Werk (23.8. 2006). Die Juroren des Radio-Bremen-Krimipreises 2005 und dessen italienischen Gegenstücks „Premio Franco Fedeli“ 2003 und 2004 scheinen Heinichen gerade wegen dieser Kombination von recherchiertem Hintergrund und unterhaltsamen Plots ausgezeichnet zu haben. Auf der Webseite von Radio-Bremen kann man lesen, dass die Jury Heinichen „für seine feinfühlige, unterhaltsame und genaue Erforschung der historisch-politischen Verflechtungen, die Triest als Schauplatz mitteleuropäischer Kultur kennzeichnen“ ausgezeichnet hat.41 Wird Heinichen im Allgemeinen sowohl in, als auch außerhalb von Triest mit Wohlwollen rezensiert, hat er an seinem Wohnort auch für öffentliche Spannung gesorgt. Der slowenische Triester Historiker Jože Pirjevec, ein bewiesener Kenner der Ereignisse um der foibe, schrieb bereits am 28.8.2002 für das „Primorski dnevnik“ einen kritischen Artikel über „Die Toten vom Karst“, als der Roman lediglich in deutscher Sprache erschienen war. Pirjevec konzentrierte sich in seiner Rezension auf einen bestimmten Mord aus dem Roman, in dem das Opfer mit einer Harpune durchbohrt und auf ein Eisengestell hinaufgehievt wird. Eine Romanfigur, der alte Gerichtsmediziner Oreste John Achille Galvano behauptet vor Kommissar Laurenti, dass dies eine „typische Foltermethode der Slawen“ in den Jahren 1943 und 1945 war (Heinichen 2003a: 127). Pirjevec bemerkt, dass diese Aussage historisch nicht korrekt ist, „allzu klischeehaft“ sei auch die Zusammenfassung der Geschehnisse um die foibe, die Doktor Galvano an einer anderen Stelle im Roman macht (Heinichen 2003a: 185-186). Heinichen repräsentiere hier die jugoslawischen Partisanen als blutrünstige Barbaren, genauso wie es die italienische Rechte in Triest schon lange tue (Pirjevec 28.8.2002). Der „Primorski dnevnik“ veröffentlichte daraufhin in September zwei Reaktionen, welche „Die Toten vom Karst“ und dessen

41 http://www.radiobremen.de/kultur/dossiers/krimipreis/krimipreis112.html (26.3. 2012). Zum „Premio Franco Fedeli“ siehe drei Artikel aus der Zeitschrift „Polizia e democrazia“ [Polizei und Demokratie]: http://www.poliziaedemo crazia.it (26.3.2012).

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Autor verteidigten (Gruden 10.9.2002 und Schneider 11.9.2002).42 Beide Texte argumentieren damit, dass Galvanos Darstellung der Geschichte der foibe nur einen der vielen Standpunkte des Romans bildet. Gruden merkt an, dass diese Figur an anderer Stelle auch die Verbrechen der Faschisten anprangt (Heinichen 2003a: 59). Insgesamt stimmen beide Leserinnen mit dem Urteil der meisten Rezensenten überein: „Die Toten vom Karst“ sei ein gut recherchierter Roman, der zu Recht zeige, dass die Triester – seien sie Italiener oder Slowenen, Linke oder Rechte – ihre Vergangenheit noch nicht bewältigt haben. Doch Kritiken kamen nicht nur aus dem Triester kulturellen Establishment. 2008-2009 fiel Heinichen einer Diffamierungskampagne zum Opfer. Verschiedene Triester Institutionen und einzelne Personen erreichten anonyme Briefen, in denen behauptet wurde, dass der Schriftsteller ein aus Deutschland geflohenen Pädophiler sei, der in Triest Zuflucht suche. Die Polizei ermittelte ein Jahr ohne Erfolg, bis Heinichen beschloss, den Fall in einem Artikel für „Il Piccolo“ vor der Triester Öffentlichkeit bekannt zu machen (Heinichen 21.2.2009). In seinem Text äußerte Heinichen den Verdacht, dass die Diffamierung mit seinen kritischen Äußerungen über rechte Politiker aus Triest in Verbindung stehen könnte, die er sowohl in seinen Romanen als auch an anderen Stellen geäußert hatte. Die rechten Parteien aus Triest reagierten empört und beschuldigten ihrerseits Heinichen der Diffamierung, während sich die italienische und internationale Presse mit ihm solidarisierte (siehe z. B. Rumiz in La Repubblica und Marco Imarisio in Corriere della Sera, beide 25.2.2009). Bemerkenswert ist, dass Heinichen – gewiss auf zwei vollkommen unterschiedliche Arten und in zwei differenten Kontexten – aus zwei gegensätzlichen Gründen attackiert wurde: einmal wegen seiner angeblichen rechtsorientierten Darstellung der Geschichte und einmal (falls die Vermutung des Autors begründet ist) weil er die Triester Rechte kritisiert hatte. Diese beiden Episoden bestätigen die polarisierende Wirkung der schriftstellerischen und kulturpolitischen Tätigkeit Heinichens, der sich für seine Romane wünscht, dass „die Leute, selbst wenn sie wegen meiner Romane erstaunen, es am Ende doch schätzen wer-

42 Gruden präzisiert in ihrem Text, dass sie zum engeren Freundkreis von Heinichen gehört.

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den, dass jemand nicht schweigt und nicht vortäuscht, dass er nicht gewusst, nicht gesehen hat.“ (Mezzena Lona 9.9.2003)43 Bestätigen die persönlichen Aussagen von Verþ und Heinichen, sowie ihre publizistische und wissenschaftliche Rezeption, die Ergebnisse der oben dargestellten Textanalysen, kommt es im Fall von Iaschi zu einem partiellen Widerspruch zwischen Textanalyse und kritischer Rezeption einerseits und den Behauptungen der Autorin andererseits. Iaschi betonte im Rahmen einer Konferenz über Kriminalliteratur am Institut für Italianistik der Universität Triest die Wichtigkeit der Stadt als Setting für ihre Krimigeschichten.44 Triest und seine besondere Geschichte und Geographie, seine Grenzlage, bildeten für die Autorin sowohl den „logistico“ [logistisch] als auch den „interiore“ [innerlichen] Handlungsort, zu dem sie spontan neigen würde (Iaschi 1998: 46-48). In der Tat lässt sich die „logistische“, d. h. geographisch-topographische, Bindung an Triest durch die Lektüre von „L’assassinio di Via Malcanton“ leicht beweisen. Problematischer erscheint dahingegen die Behauptung, dass Triest auch den „innerlichen“ Handlungsort von diesem Roman bildet, da die Ereignisse, die im Roman erzählt werden, nur in oberflächlicher Verbindung zu den Triester Realien stehen. In seinem Vorwort zu „L’assassinio di Via Malcanton“ bezeichnet der Triester Italianist Giuseppe Petronio Iaschis intertextuellen

43 Heinichens Auszeichnung mit dem XIII Premio Internazionale Trieste – Letteratura di Frontiera [XIII. Internationaler Preis Triest – Literatur an der Grenze] im Dezember 2011 könnte zumindest teilweise als die jüngste Auszeichnung dieser Polarisierung betrachtet werden. Ab Mai 2011 wird Triest nämlich von den Mittelinken regiert. 44 Es handelte sich um die Konferenz „Il giallo in Italia, il giallo in Germania“ [Der Krimi in Italien, der Krimi in Deutschland] am 7.10.1997, deren Konferenzband von Iaschi herausgegeben wurde (Iaschi 1998a). Es wäre genauer zu untersuchen, inwiefern das starke Interesse der Italianisten der Universität Triest für die Unterhaltungsliteratur in der Entwicklung des Triester Krimis eine Rolle gespielt hat. Die Forscher um den marxistisch und gramscianisch orientierten Kritiker Giuseppe Petronio haben dem Krimigenre zahlreiche Publikationen gewidmet (z. B. Petronio 1988 und 2000). Sein Nachfolger Elvio Guagnini, der nicht nur als Forscher der Kriminalliteratur (z. B. Guagnini 2010), sondern auch als Kritiker und Promoter von Autoren in Triest aktiv ist, unterstützt das Festival „Grado Giallo“. Ihm verdanke ich zahlreiche bibliographische Hinweise.

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Hinweis auf Svevos Kriminalerzählung „L’assassinio di Via Belpoggio“ als „eine gewisse Koketterie“, ein „Zuzwinkern“ (ammiccare) der Triester Autorin zu ihren Triester Lesern (Petronio 1996: 8-9. Übersetzung M. C.). Seiner Meinung nach kann Iaschis Text nur bedingt als Triester Krimi betrachtet werden. Viel mehr bilde er eine „Geschichte gewöhnlicher Menschlichkeit“ (ebd.: 9), in welcher weder der Handlungsort noch die Ermittlung eine zentrale Rolle spielen. Dennoch muss bedacht werden, dass Iaschis Roman besonders für Triester Leser geschrieben ist. Speziell an diese adressiert Iaschi ihre Erzählung über ,gewöhnlichen‘ Menschenhass, Menschenliebe und Menschenwut, indem sie Triest als Bühne für ihre allgemeingültige Geschichte nutzt, eine Kulisse, die ihrem Publikum so vertraut ist, dass die Autorin sie extrem knapp, aber zugleich topographisch exakt beschreiben kann. In Bezug auf sein Publikum erweist sich „L’assassinio di Via Malcanton“ viel mehr triestinisch als „Die Toten vom Karst“, das Triest vor dem Gedächtnis des deutschsprachigen und schlechthin des europäischen Publikums vorführen will. Iaschis Roman ist hinsichtlich der Leserschaft sogar mehr stadtverbunden als „Rolandov steber“, der sich nicht nur an das Triester slowenischinteressierte Publikum wendet, sondern auch Slowenen aus Slowenien erreichen möchte. Überdies charakterisiert sich Iaschis Roman durch sein intertextuelles Spiel mit der Literatur Italo Svevos, auf die sowohl im Krimi-Erzählstrang als auch im psychoanalytischen Erzählstrang angespielt wird. Wie Petronio anmerkt, sind die meisten Triester Leser in der Lage diese Anspielung zu dekodieren. „L’assassinio di Via Malcanton“ ist zwar kein triestbezogener Krimi, dennoch präsentiert es sich eindeutig als Triester Roman. Die Tatsache, dass Iaschi ihren Text ausdrücklich als Triester Krimi bezeichnet, deutet auf die Wichtigkeit der öffentlichen Zusammenhänge hin, in denen der Diskurs über die Kriminalliteratur aus Triest stattfindet. Der Kontext dieser Äußerung von Iaschi ist, wie gesagt, eine Krimi-Konferenz in Triest gewesen, die u. a. Triester Krimiautoren bekannt machen und die Spezifizität des Triester Krimis betonen wollte. Iaschis Aussagen sowie die der anderen anwesenden Schriftsteller, erscheinen dementsprechend dem konzeptionellen Rahmen der Konferenz angepasst zu sein. Dieser Konferenz folgten zahlreiche Veranstaltungen wie das anfangs erwähnte Festival der Kriminalliteratur in Grado. Nicht zuletzt durch solche Initiativen ist eine Art Label entstanden, der Triester Krimi, von dem ein

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bestimmter Bezug auf die Triester Realien erwartet wird. Zugespitzt, könnte man sogar behaupten, dass diese Label made in Trieste insofern erkennbar ist, als es in den zugehörigen Krimis gleichviel um Triest und seinen Mikrokosmos wie um Verbrechen geht. Dieses Kennzeichen ist zum einen als Produkt von Lesererwartungen zu betrachten und zum anderen als Resultat einer bestimmten Lesesteuerungspolitik des Triester literarischen Krimi-Establishments.45 Ein Beweis dafür ist, dass Iaschi mit ihrem jüngsten Triester Krimi „L’uomo nell’ombra“ [Der Mann im Schatten] (2007) einen Krimi geschrieben hat, der die Handlung und Profilierung der Figuren mit Triest viel stärker verbindet als „L’assassinio di Via Malcanton“ und sich mit der Geschichte und dem Alltag der Stadt in den frühen 1950ern Jahren auseinandersetzt.

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UND SPACIAL TURN :

T RIEST

ALS

,G LOKALITÄT ‘

Die starke Fokussierung der Triester Krimis auf die Stadt lässt sich auch mit Argumenten erläutern, die weniger mit Triest per se als mit allgemeinen Tendenzen der zeitgenössischen Literatur und Kultur verbunden sind: Der sogenannte spacial turn hatte auch Konsequenzen für die Kriminalliteratur.46

45 Siehe Fußnote 8. 46 Andere Perspektiven, welche die Entwicklung des gegenwärtigen Krimis aus literaturtheoretischer und -geschichtlicher Perspektive erklären, können hier nur angedeutet werden. Aus der Perspektive der Gattung ist der Krimi strukturell dazu geeignet, sich anderen Erzählformen zu öffnen. Er erzählt ein Verbrechen und eine Ermittlung und dafür braucht er ein Milieu und einige Figuren. Eben durch Milieu und Figuren finden viele soziale Themenbereiche Zugang zum Krimi (Nünning 2008: 3-4), darunter auch die Stadt (Rigosi 2006: 88-95). Außerdem lässt sich das Krimigenre mit dem Anspruch nach Unterhaltung gut kombinieren, der viele zeitgenössische Poetiken kennzeichnet. Sowohl die Postmoderne als umfangreiche literarische Epoche als auch der Postmodernismus als kodifizierte literarische Strömung erzielen oft den Zusammenhang zwischen komplexer inhaltlich-formaler Vielschichtigkeit einerseits und erzählerischer Unterhaltsamkeit andererseits. Krimis, die sich mit bestimmten Städten näher befassen, können eine effektive Verwirklichung dieses Zusammenhangs bilden.

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Die Prominenz des Raums in der zeitgenössischen Weltwahrnehmung und -repräsentation führt, so Doris Bachmann-Medick, zu einer „spazialen Hermeneutik“, die darin besteht, „alle Verstehensakte räumlich zu öffnen, sodass sie die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander und Auseinander ungleicher Lebensphären ebenso erfassen können wie die Asymmetrien der Machtverteilung.“ (Bachmann-Medick 2006: 303)47 Das Spiel zwischen Nebeneinander und Auseinander, Konvergenzen und Divergenzen verschiedener Orte ist heute von großer kultureller Relevanz. Damit kann man sehr unterschiedlich umgehen: die Differenzen stark vermindern bzw. bewahren, die Ähnlichkeiten verstärken oder aber abschwächen. Außerdem ist es jedem einzelnen möglich, an diesem Wahrnehmungsspiel bedacht oder unreflektiert teilzunehmen. Trotz der Vielfalt an Strategien scheint der Gedanke (und das Gefühl), dass die Heterogenität der Welträume auf kein einheitlich konzipiertes (Zeit-)System reduziert werden kann im Allgemeinen verbreitet zu sein.48 Wir können also vermuten, dass die Wirkungen des spacial turn auf unsere Raum- und Ortswahrnehmung auch im Krimi und u. a. im Triester Krimi zu spüren sind. In der Tat schöpfen Verþ und Heinichen, ihre Mordund Ermittlungsgeschichten aus den lokalen Traditionen von Triest und

Der Stadtraum, z. B der von Triest, gilt seit der Moderne als Raum der Mannigfaltigkeit par excellence, während das Krimi-Schema einen soliden Unterhaltungsplot wiederum anbietet, der auf dem „Wechselspiel zwischen Stimulierung von Angst und Sicherheitsversprechen“ und auf „Bindungen des Lesers an den Helden“ basiert (Nusser 2009: 168-170). 47 Sie verweist auf Sojas „Postmodern geographies“ (1989: 1 f.), in dem von „spatial hermeneutics“ die Rede ist. 48 Für die Geisteswissenschaften konstatiert Bachmann-Medick: „Den Siegeszug des Historismus mit seiner Vorherrschaft evolutionistischer Auffassungen von Zeit, Chronologie, Geschichte und Fortschritt zu überwinden –, darauf zielt die ausdrückliche Hinwendung zu Raum und Räumlichkeit, wie sie seit den 1980er Jahren stattfindet. Gleichzeitigkeit und Nebeneinander scheinen also die Kategorien von Entwicklung und Fortschritt hinter sich zu lassen“ (2006: 286). Diese konzeptuelle Neuorientierung entspricht den Bemühungen der Wissenschaft, die zeitgenössische Raumwahrnehmung adäquater zu beschreiben, und bildet zugleich den Versuch, eine solche multipolare Vorstellung von Raum, Zeit und Kultur zu befürworten und zu verbreiten.

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Umgebung. Die Mörder von „Rolandov steber“ und „Die Toten vom Karst“ sind ein nach Triest ausgewanderter Kärntner Slowene und ehemaliger Faschist bzw. die ebenso faschistoide Tochter eines nach Triest übergesiedelten italienischen Istriers. Beide Autoren scheinen zu glauben, dass eine Stadt wie Triest bzw. bestimmte Milieus dieser Stadt aufgrund ihrer speziellen Prägung auch bestimmte Gewalttaten und Täterprofile hervorbringen, die sich speziell aus ihrem Entstehungskontext speisen. Man könnte den Titel von Heinichens erstem Roman „Gib jedem seinen eigenen Tod“ umformulieren und behaupten, dass Verþ und Heinichen jedem in Triest seinen eigenen Mörder geben wollen. Das heißt allerdings nicht, dass Verþ und Heinichen ausschließlich im lokalen Kontext verhaftet bleiben. Sie zeigen sich beide offensichtlich auf der Suche nach breiteren Zusammenhängen. Verþ will das lokale Triest in den größeren Zusammenhang von Italien und Slowenien einbetten. Heinichens Horizont ist in „Die Toten vom Karst“ ähnlich, aber er fokussiert mehr Istrien und Kroatien als Slowenien. Eine Folge des Interesses für Italiens Nachbarländer hinter der Triester Grenze ist, dass beide Autoren indirekt die ganze jugoslawische Geschichte berücksichtigen müssen.49 Sowohl „Rolandov steber“ als auch „Die Toten vom Karst“ sind in der Überzeugung geschrieben, dass der breitere Kontext Einfluss auf Triest, seine Einwohner und deren Gedanken und Gefühle sowie Gewalttaten und Verbrechen nimmt.50 Beide legen Wert darauf, diese Dynamik kritisch zu hinterfragen. Heinichen scheint sogar programmatisch daran zu glauben, dass eine gute, balancierte Politik zwischen Belangen en gros et en détail tatsächlich möglich ist und vieles beitragen kann.

49 In den anderen Romanen erweitert Heinichen den Triester Bezugsraum zu ganz Europa und in seinem vorletzten Roman „Die Ruhe des Stärkeren“, welcher der Wirtschaftkrise gewidmet ist, sogar zur Welt (Colombi 2009: 431-433). 50 Diese Kombination von lokaler und globaler Perspektive bildet einen wichtigen Aspekt des spacial turn: „[Es] laufen im lokalen Raum gewissermaßen die globalen Stränge zusammen – […] denn ,am Lokalen ist gerade die Art und Weise wichtig, in der Widersprüche zwischen Klassen, Rassen oder Geschlechtern gelöst werden…‘“ (Bachmann-Medick 2006: 296-297. Das Zitat im Zitat stammt aus Kirby 1996: 174).

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Heinichens und teilweise auch Verþ’ Herangehensweise lässt sich mit Bezug auf den soziologischen Begriff des Glokalen besser erfassen.51 Dieser Begriff hat eine kurze, aber facettenreiche Geschichte, die sich auf seine Anwendung in der Soziologie durch die Schriften von Roland Robertson (1998) und Zygmunt Bauman (1998) bezieht. Dabei geht es um einen Ansatz und eine entsprechende Theorie, welche in der Lage sein kann, die Vernetzungen vom Globalen und Lokalen zeitgemäß zu erfassen. In seinem Aufsatz „Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit“ kritisiert Roland Robertson, dass man das Globale und das Lokale allzu binar denke: Global würde mit homogen gleichgestellt und lokal mit heterogen. Die Folge eines solchen Binarismus sei, dass beide Dimensionen als unvermeidlich getrennt oder im Konflikt betrachtet würden. Dagegen solle man global von globalisierend/ homogenisierend und lokal von lokalisierend/ heterogenisierend unterscheiden und „die Formen ausbuchstabieren, in denen sich homogenisierende und heterogenisierende Tendenzen wechselseitig durchdringen.“ (Robertson 1998: 196) Oft nimmt der Begriff „glokal“ auch eine starke politisch engagierte Konnotation an, die an Heinichens Ansichten erinnert. Man müsse einen Umgang mit unserer globalisierten Welt finden, welcher das Spezifikum der einzelnen lokalen Orte respektiere. Es sei zu verhindern, dass die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und anderen Mächte, die ihre Hegemonie auf der Welt etablieren wollen, dies auch tatsächlich tun. Die Weltvernetzung dürfe nicht nur einseitig sein und ihre Art von oben bestimmt werden, sondern auch von unten. Dafür müsse man die Bedürfnisse und die Rahmenbedingungen des jeweils Lokalen viel mehr berücksichtigen. Vom Triester Krimi könnte man also über den Begriff des Glokalen einen Bogen in Richtung Welt-governance und Weltutopien schlagen. Oder bemüht man hier zu viel, um die gute Konjunktur eines kleinen regionalen Literaturphänomens zu erläutern? Es wäre übertrieben, diese Betrachtungen über den spacial turn zu verabsolutieren. Man kann durchaus vermuten, dass Iaschis letzter Krimi „L’uomo nell’ombra“ sein Publikum auch dann gefunden hätte, wenn sie ihn nach dem Muster von „L’assassinio di Via Malcanton“ geschrieben hätte, d. h. ohne das Krimi-Erzählschema und das Thema Stadt ,glokal‘ miteinander zu verbinden. Das enge Verhältnis zwi-

51 Eine Verbindung zwischen Krimis und glocalisation sieht auch Krajenbrink (2009: 59).

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schen Krimi und literarischer Darstellung konkreter Städte ist zu keiner unausweichlichen Regel des Genres geworden, wie zahlreiche Krimitexte bestätigen würden. Dennoch lässt es sich sicherlich als aktuelle Tendenz beobachten und mit wichtigen Facetten der zeitgenössischen Kultur in Verbindung bringen. Krimis, die konkreten Städte genau fokussieren, entsprechen der heutigen Faszination für die Vernetzung zwischen Lokalem und Globalem und haben dabei gute Chancen, etliche Autoren und Leser in ihren Schreib- bzw. Lesewünschen anzuregen.

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Wie verhext – Kiew als russische Stadt Zu Lada Lusinas Romanreihe „Die Hexen von Kiew“ A NNA O LSHEVSKA

I N WELCHER S PRACHE GESCHRIEBEN ?

WIRD UKRAINISCHE

L ITERATUR

Ukrainische zeitgenössische Literatur ist mittlerweile keine unbekannte Größe in Deutschland. Autoren wie Juri Andruchowytsch, Oksana Sabuschko oder Serhij Zhadan werden im deutschsprachigen Raum nicht nur von Slavisten gern gelesen. Ich möchte mich jedoch im Folgenden einer Autorin widmen, von welcher bisher lediglich ein Roman auf Deutsch erschienen ist. Zum Einen, weil es in ihren Romanen um Morde und Verbrechen geht, die in Kiew stattfinden, und sie so zum Rahmenthema „Stadt – Mord – Ordnung“ gehören. Zum Anderen, weil es sich dabei um ein relativ neues und m. E. sehr interessantes Phänomen aktueller ukrainischer Literatur handelt: um die russischsprachige ukrainische Literatur. Die Zuordnung zur jeweiligen Literatur aufgrund der Sprache scheint auf den ersten Blick selbstverständlich. Jedoch birgt die Sprachsituation gerade in der Ukraine starkes Konfliktpotenzial1; Sprache, ob Russisch oder Ukrainisch fungiert als inneres und äußeres Identifizierungsmerkmal nicht nur für Literaten sondern auch für die Mehrheit der Bevölkerung. Äußerst verbreitet ist das Denkmuster, nach dem jemand, der Ukrainisch spricht ein

1

Hierzu z.B.: „Konflikte um Sprachen bergen stets ein erhebliches Mobilisierungspotenzial in sich, weil im Prinzip jedermann davon betroffen ist.“ (Simon 2007: 6-11)

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Ukrainer ist, während jemand, der Russisch spricht, ein in der Ukraine lebender Russe ist. Durch unterschiedlichste Einflüsse im Laufe der Geschichte können die Ukraine und ihre Einwohner schwer einen gemeinsamen Nenner finden, über den sich alle identifizieren könnten. Weder sprachlich noch religiös oder kulturell kann man im ukrainischen Fall von Homogenität sprechen. Lediglich das gemeinsame Territorium verband Ukrainer zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit (Woznjak 2004: 71). Die komplizierte gemeinsame Vergangenheit Russlands und der Ukraine sorgte dafür, dass die Bildung der ukrainischen Nation unter Anderem mit einer negativen Abgrenzung zu Russland einherging (Hnatjuk 2004: 91-115). Somit ist die Zuordnung von Literatur, die in der heutigen Ukraine ausgerechnet in russischer Sprache erscheint, alles andere als unproblematisch. Die meisten Werke, die zur ukrainischen Literatur gezählt werden, sind auch in ukrainischer Sprache verfasst. Eine Sonderstellung genießt der Kiewer Autor Andrej Kurkow: Er schreibt konsequent in russischer Sprache, sieht sich selbst aber trotzdem als einen ukrainischen Schriftsteller und wird auch als solcher wahrgenommen. Es kann nicht außer Acht gelassen werden, wie lange die Ukraine und Russland bzw. die ehemalige UdSSR einen gemeinsamen politischen und kulturellen Weg beschritten haben, wie stark der Einfluss russischer Kultur war und welch großen Anteil die Russophonen in der Ukraine ausmachen. Nach Angaben der Volkszählung von 2001 beträgt der Anteil ethnischer Russen in der Ukraine 17,3%2, von diesen benennen über 95% Russisch als ihre Muttersprache. Zusätzlich haben 14,8% ethnischer Ukrainer Russisch als Muttersprache3. Wenn man andere ethnische Minderheiten in der Ukraine berücksichtigt, die zum Teil (z.B. Griechen bis zu 88,5%) nicht ihre eigene, sondern die russische Sprache als Muttersprache bezeichnen, kommt man zu dem Ergebnis, dass Russisch die Muttersprache von 29,6% der ukrainischen Bevölkerung ist4, was fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht. Somit ist es eher erstaunlich, dass es bisher nur wenige russischsprachige Autoren in der Ukraine gibt.

2

http://2001.ukrcensus.gov.ua/results/general/nationality (03.04.2012).

3

http://2001.ukrcensus.gov.ua/results/general/language (03.04.2012).

4

Ebd.

K IEW

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Eine von ihnen, die wie Kurkow ausschließlich auf Russisch schreibt, ist Lada Lusina. Lada Lusina (eigentlich Wladislawa Kutscherova) wurde 1972 in Kiew5 geboren. Sie begann als Boulevard-Journalistin und hatte sich das Attribut „Skandaljournalistin“ verdient, worüber sie sogar 2004 ein Buch mit dem Titel „Kak ja byla skandal’noj žurnalistkoj“ [Wie ich eine Skandaljournalistin war] verfasste. Seit 2002 veröffentlicht sie Bücher, deren Handlungsort meist Kiew ist, wo sie lebt und arbeitet. Außer der Romanreihe „Die Hexen von Kiew“, die den Schwerpunkt dieses Artikels bilden soll, gehört auch der 2004 erschienene Essayband „Sex und Kiew“ zu den Werken, die sich mit ihrer Heimatstadt beschäftigen. Lusina gehört zu den bekanntesten ukrainischen Autoren; ihr zweiter Roman der HexenReihe „Schuss in der Oper“ wurde 2008 im Literaturwettbewerb als „Bestes ukrainisches Buch“ ausgezeichnet6 – als einziges Buch in russischer Sprache. Lusina ist zudem Vorsitzende der Kiewer Hexenvereinigung; nach ihren Romanen werden in Kiew mittlerweile Touren für Touristen angeboten. Besonders interessant für eine Untersuchung des Krimis im ost- und ostmitteleuropäischen Raum ist die Romanreihe „Die Hexen von Kiew“. Hier wird nach einem genretypischen Schema der Kriminalliteratur durch mehrere Morde bzw. Mordpläne und ihre Aufklärung bzw. Vereitelung eine verlorengegangene Ordnung wiederhergestellt. Doch bilden diese Romane keine Krimiserie im engeren Sinne. Vielmehr geht es dabei um eine Genremischung, deren Ziel eine romanhafte Auslegung der ukrainischen Geschichte und Kultur ist. Hierbei wird der komplexen Beziehung der Ukraine zu Russland besondere Aufmerksamkeit gewidmet: Historisch gewichtige Themen werden in belletristisch spannender Form gestaltet und

5

„Kiew“ ist die deutsche Transliteration russischer Benennung für die ukrainische Hauptstadt Kyjiw. Da die Texte von Lada Lusina in russischer Sprache verfasst sind, wird hier, um die Missverständnisse zu vermeiden und die Lesbarkeit nicht unnötig zu erschweren, stets auf die russische Variante, wie sie im Text steht, zurückgegriffen. Um die Lesbarkeit weiterhin zu erleichtern, werden alle Eigennamen im Fließtext in deutscher Transliteration geführt. In Literaturangaben wird stets wissenschaftliche Transliteration verwendet. Diese Wahl ist rein praktischen Gründen geschuldet und keine Stellungnahme.

6

http://korrespondent.net/showbiz/518506-korrespondent-nazval-luchshuyu-ukra inskuyu-knigu (O. A., 3.04.2012).

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präsentiert. Durch diese Kombination von anspruchsvollem Material und fesselnden Erzählstrukturen kommt sowohl Lusinas Position als Autorin der russischsprachigen Minderheit als auch ihr Profil als vielgelesene Schriftstellerin zutage. Zudem weiß sich Lusina in den Genrekonventionen der Unterhaltungsliteratur gut zu bewegen. Es ist schwer, die Gattung von „Die Hexen von Kiew“ zu bestimmen. Sieht man von den Krimielementen ab, ließe sich die Reihe problemlos unter mehreren Gesichtspunkten betrachten. Als Erstes wäre der Genderaspekt zu nennen, da die Romane von einer Frau geschrieben wurden, Hauptprotagonistinnen drei Frauen sind und ihre Gegnerinnen ebenfalls Frauen sind. Männer tauchen bis auf wenige Ausnahmen als Nebenfiguren auf, über die die ‚Kiewizen‘ nach Belieben verfügen können. Andererseits haben „Die Hexen von Kiew“ Züge eines Großstadtromans, wobei zunächst festgehalten werden soll, dass es auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen ist, ob die Stadt Kiew als Kulisse fungiert oder ob womöglich vielmehr dahintersteht. Eine historische Perspektive lässt sich ebenfalls nicht wegdenken, denn der größte Teil der Handlung spielt sich im Kiew der Jahrhundertwende zwischen dem 19. und 20. Jh. ab. Es wäre dann zu klären, ob die Romane mehr als historische Romane oder als historische Fantasy zu betrachten sind. Die Darstellung der erzählten Zeit erfolgt mit großer Präzision in Bezug auf die Kulisse und auch auf einen Großteil der Ereignisse. Im Roman wird jedoch der Versuch unternommen, den Gang der Geschichte mithilfe magischer Kräfte zu beeinflussen. Im Folgenden soll hinterfragt werden, auf welche Weise die Romane mit der ukrainischen Geschichte umgehen und was von ihr durch die Krimi- und fantasy-Struktur als verletzte und wieder zu etablierende Ordnung bzw. als Unheil, das wieder gut gemacht werden muss, inszeniert wird. In Bezug auf diese Fragestellung sollen die Stadt Kiew und ihre Darstellung in den Romanen eingehend fokussiert werden. Für den Leser sei zunächst eine kurze Einleitung in die Krimireihe, insbesondere die Handlung dreier Romane gegeben.

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D IE R EIHE „H EXEN

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VON

K IEW “

Die Reihe „Kiewskie wedmy“ („Die Hexen von Kiew“) war zunächst als eine Trilogie geplant, bis heute sind jedoch schon sieben Romane erschienen bzw. angekündigt worden. Der erste Teil der Reihe „Metsch i krest“ erschien 2005 ([Schwert und Kreuz], ersch. 2008 bei dtv unter dem Titel „Die Hexen von Kiew“), der zweite „Wystrel v opere“ [Schuss in der Oper] – 2007. Der Roman „Rezept mastera“ [Das Rezept des Meisters] sollte zunächst der dritte und letzte Roman der Reihe werden. Seine Veröffentlichung war für den Herbst 2011 angekündigt, jedoch ist er immer noch nicht erschienen. Seit mittlerweile zwei bis drei Jahren sind lediglich die ersten acht Kapiteln auf der Internetseite der Autorin zu lesen und werden in dieser Arbeit berücksichtigt. Dafür sind 2011 die Romane „Nikola Mokryj“ [Nikolaj der Nasse], „Prinzessa Gresa“ [Die Traumprinzessin], „Angel besdny“ [Engel des Abgrunds] sowie „Kamennaja gostja“ [Die steinerne Besucherin] erschienen.7 Handlung „Schwert und Kreuz“ Die drei Protagonistinnen des Romans – Mascha, Dascha und Katja – treffen sich zufällig in dem Augenblick, als Kylyna, die Haupthexe von Kiew, genannt Kiewiza, stirbt. Sie erben ihre Kraft und werden selbst zu Kiewizen. Die Tochter von Kylyna, Aknir beansprucht aber ebenfalls die Stellung einer Kiewiza und bringt andere Hexen von Kiew gegen die drei Frauen auf, was das Gleichgewicht der Stadt ins Schwanken bringt. Es geschehen zwei Ritualmorde; der Lindwurm, der seit Jahrhunderten mittels magischer Kräfte in Kiewer Höhlen gehalten wird, droht auszubrechen und die Stadt zu zerstören. Um die Morde aufzuklären und ihre Stadt zu retten, müssen Mascha, Dascha und Katja mehrere Reisen ins Kiew des ausgehenden 19. Jhds. unternehmen, was ihnen dank neu erlangter magischer Kräfte problemlos gelingt. Die Lösung versprechen sie sich durch das Bild „Drei Recken“ von Wiktor Wasnezow, das im Kiewer Museum für Russische Kunst hängt. Sie erhoffen sich auch die Hilfe des Malers Michail Wrubel, der

7

Diese Neuerscheinungen lagen mir noch nicht vor und werden deshalb in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.

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Ende des 19. Jhds. für die Kiewer Kyrillkirche Ikonen anfertigte. Schließlich gelingt es ihnen, die Katastrophe abzuwenden, die Morde aufzuklären und die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. „Schuss in der Oper“ Mascha, Dascha und Katja stehen vor einem Rätsel: Nach dem Roman „Die weiße Garde“ von Michail Bulgakow wurde kein gutes Buch mehr über Kiew geschrieben. Sie vermuten, dass der Grund dafür das Verschwinden der magischen Lyra aus der ukrainischen Hauptstadt ist. Die Lyra, die ursprünglich dem auf der Halbinsel Krim lebenden Volk der Amazonen gehörte, hat angeblich die Eigenschaft, Künstler zu hervorragenden Schöpfungen zu inspirieren. Nach Überzeugung der Kiewizen gehörte die Lyra um die Jahrhundertwende abwechselnd der Dichterin Anna Achmatowa, die in Kiew ihre ersten Gedichte verfasste, und dem jungen Schriftsteller Michail Bulgakow, der seine ersten Schreibversuche ebenfalls in Kiew unternahm. Aufgrund des Verschwindens der Lyra wurde die Stadt von Gott verlassen, was auch der Grund für die Oktoberrevolution von 1917 war, die nach Meinung der Kiewizen durch den Mord an Pjotr Stolypin 1911 ausgelöst wurde. Durch eine Reise in die Vergangenheit und die Bekanntschaft Katjas mit dem Stolypin-Mörder Dmitrij Bogrow gelingt es den Kiewizen, den Mord an Stolypin und somit die Oktoberrevolution abzuwenden. Dadurch retten sie 50 Millionen Menschen das Leben, die infolge der Oktoberrevolution, des Zweiten Weltkriegs und des totalitären Terrors starben. Dafür verzichten die jungen Frauen auf ihren Kiewizen-Titel und bleiben für immer in der Vergangenheit. „Das Rezept des Meisters“ (Die ersten acht Kapitel) 1917: Obwohl der Anschlag auf Stolypin verhindert wurde, ist er einige Jahre nach dem Eingriff der Kiewizen an Herzversagen gestorben. So blieb der Lauf der Geschichte unverändert: Die Februarrevolution fand statt und der Zar dankte ab. Die Oktoberrevolution scheint trotz aller Bemühungen der Kiewizen in naher Zukunft unabwendbar. Dascha und Katja wollen nun die Zarenfamilie befreien und den Zaren dazu bringen, seinem Sohn den Thron zu überlassen. Sie sind davon überzeugt, dass einen öffentlichen Mord an einem Zarenkind und seiner Familie nicht einmal Bauern und Soldaten zulassen würden. Mascha hält sich diesmal raus; sie ist Nonne geworden und möchte sich nicht mehr in den Lauf

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der Geschichte einmischen. Stattdessen taucht aber Aknir, die Tochter der verstorbenen Kiewiza Kylyna wieder auf, die um jeden Preis ihre Mutter wieder lebendig machen und das Vorhaben von Dascha und Katja boykottieren will.

‚ALTERNATIVER R EISEFÜHRER

DER

S TADT ‘

Alles in Allem können „Die Hexen von Kiew“ als alternativer Reiseführer für Kiew bezeichnet werden. Gleich das erste Kapitel beginnt mit einer Touristenführung über den Lieblingsplatz vieler Kiewer und vieler Touristen – den Andreassteg und die Andreaskirche. Eine Reiseführerin berichtet von den Sehenswürdigkeiten der Stadt und deren historischer und kultureller Bedeutung: Und wenn Sie nach rechts blicken, sehen Sie die Andreaskirche, eine Perle des ukrainischen Barock, entworfen von Bartolomeo Rastrelli. Sie wurde hier erbaut, weil auf dem Altkiewer Berg der Nestorchronik zufolge der Apostel Andreas als Zeichen der künftigen Bekehrung der Slawen zum Christentum sein Kreuz aufstellte. Neben der Kirche, in der ehemaligen Dreiheiligenstraße 10, lebte der Maler Michail Wrubel. Hier entstand die erste Variante seines berühmten Bildes „Der Dämon“. (Lusina 2008a: 6)8

Bereits der Beginn des Romans ist maßgebend für den weiteren Verlauf: Wichtigste Sehenswürdigkeiten, die im historischen Stadtkern liegen, werden hier mit Liebe zum Detail dargestellt und fungieren später als Handlungsorte: Die Wladimir-Kathedrale und der Wladimirhügel, benannt nach dem Fürsten Wladimir dem Heiligen (960-1015), die Straße Jaroslawowswall, benannt nach dem Großfürsten Jaroslaw dem Weisen (979/86-1054),

8

„ɉɨɫɦɨɬɪɢɬɟ ɧɚɩɪɚɜɨ: ɜɵ ɜɢɞɢɬɟ ɠɟɦɱɭɠɢɧɭ ɭɤɪɚɢɧɫɤɨɝɨ ɛɚɪɨɤɤɨ Ⱥɧɞɪɟɟɜɫɤɭɸ ɰɟɪɤɨɜɶ ɚɪɯɢɬɟɤɬɨɪɚ Ȼɚɪɬɨɥɨɦɟɨ Ɋɚɫɬɪɟɥɥɢ. ɐɟɪɤɨɜɶ ɛɵɥɚ ɩɨɫɬɪɨɟɧɚ ɧɚ ɝɨɪɟ, ɝɞɟ, ɫɨɝɥɚɫɧɨ ɇɟɫɬɨɪɭ-ɥɟɬɨɩɢɫɰɭ, ɚɩɨɫɬɨɥ Ⱥɧɞɪɟɣ ɉɟɪɜɨɡɜɚɧɧɵɣ ɜ 40-ɯ ɝɨɞɚɯ ɧɚɲɟɣ ɷɪɵ ɜɨɡɧɟɫ ɫɜɨɣ ɤɪɟɫɬ ɤɚɤ ɡɧɚɦɟɧɢɟ ɛɭɞɭɳɟɝɨ ɨɛɪɚɳɟɧɢɹ ɫɥɚɜɹɧ ɜ ɯɪɢɫɬɢɚɧɫɬɜɨ. Ɋɹɞɨɦ ɫ ɰɟɪɤɨɜɶɸ, ɜ ɞɨɦɟ ʋ 10 ɠɢɥ ɯɭɞɨɠɧɢɤ Ɇɢɯɚɢɥ ȼɪɭɛɟɥɶ. Ɍɭɬ ɨɧ ɧɚɩɢɫɚɥ ɩɟɪɜɵɣ ɜɚɪɢɚɧɬ ɫɜɨɟɣ ɡɧɚɦɟɧɢɬɨɣ ɤɚɪɬɢɧɵ ‚Ⱦɟɦɨɧ‘.“ (Luzina 2008c: 6)

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die bereits erwähnte Andreas-Kirche sowie der Andreassteg, die den Namen des Apostel Andreas tragen, das Goldene Tor, das im 11. Jh. auf den Befehl von Jaroslaw hin gebaut wurde, die Universität, deren rote und gelbe Gebäude in der Mitte des 19. Jhs. erbaut wurden, u. v. m. – alles in allem die Kiewer Pflichtadressen eines jeden Touristen. Weniger als Touristenattraktion bekannt und doch nicht weniger malerisch ist das Haus, in dem die Kiewizen ihr Hauptquartier haben: das Haus Nr. 1 in der Straße Jaroslawow Wal (Abbildung 1). Abbildung 1: Haus „Schloss des Barons“, Jaroslawow Wal 1, Kiew

Quelle: Privates Archiv Anna Olshevska

Dieses Haus, in Kiew unter dem Spitznamen „Schloss des Barons“ bekannt, wurde 1896-1897 von dem Architekten Mykola Dobatschewski gebaut und ist ein typisches Jugendstilgebäude: Zwischen weißen Zuckerwattewölkchen hervor sprühte die Julisonne ihren schmeichelnden Glanz über die eigentlich dringend renovierungsbedürftige korallenrote Fassade des Hauses Nr. 1, und mit ihren gotisch zierlichen Balkonen und dem hohen

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Turmerker, der von zwei grauen Fabelwesen mit spitzen Fledermausflügeln und Löwenköpfen gestützt wurde, wirkte sie auf Dascha verwunschen und wunderschön. (Lusina 20081: 100)9

Neben architektonischen Sehenswürdigkeiten sind in „Die Hexen von Kiew“ zahlreiche Künstler und Schriftsteller vertreten, die in Kiew lebten oder einen Bezug zur Stadt haben, wobei einige von ihnen sogar als Romanfiguren in Erscheinung treten, wie die Maler Wiktor Wasnezow und Michail Wrubel. In letzteren verliebt sich Mascha im zweiten Roman und wird von ihm schwanger. Die Schriftsteller Michail Bulgakow, Anna Achmatowa und Aleksandr Kuprin genauso wie historische Personen werden zu Romanfiguren, beispielsweise der Stolypin-Mörder Dmitrij Bogrow, der ein Geliebter Daschas wird, oder Wrubels Muse Emilija Prachowa. Bilder wie Wasnezows „Die drei Recken“ oder Wrubels „Madonna“ und „Der Dämon“ spielen eine entscheidende Rolle für die Handlung. Viele weitere Schriftsteller und Künstler werden erwähnt und ihr Bezug zu Kiew oder der Ukraine stets betont: die Schriftsteller Maximilian Woloschin, Nikolaj Gogol, Andrej Belyj, Alexander Blok, Wladimir Majakowski, Ossip Mandelstam, der Philosoph Nikolaj Berdjaew, der Theaterregisseur Alexander Tairow, der Sänger Alexander Wertinski, der Filmregisseur Sergej Paradshanov u. a. Auch Wissenschaftler mit Bezug zu Kiew findet man in den Romanen wieder; im Roman „Das Rezept des Meisters“ verliebt sich Dascha in den Flugzeugbauer Igor Sikorski, der in Kiew geboren wurde, hier 1912-1914 seinen ersten Helikopter baute und 1918 in die USA emigrierte. Ferner wendet sich die Romanreihe der Mythologie zu. Bei Kiew handelt es sich nicht nur um die Hauptstadt der heutigen Ukraine, sondern um das Zentrum des Kiewer Rus, das sowohl als Vorläufer des heutigen Russ-

9

„Ʌɟɝɤɨɦɵɫɥɟɧɧɨɟ ɢɸɥɶɫɤɨɟ ɫɨɥɧɰɟ, ɳɭɪɹɫɶ ɢɡ-ɩɨɞ ɫɚɯɚɪɧɨ-ɜɚɬɧɵɯ ɨɛɥɚɤɨɜ, ɩɨɞɫɥɚɫɬɢɥɨ ɞɚɜɧɨ ɠɚɠɞɭɳɢɣ ɪɟɦɨɧɬɚ ɮɚɫɚɞ ɞɨɦɚ ʋ 1, ɢ ɫɟɣɱɚɫ ɨɧ, ɤɨɪɚɥɥɨɜɨ-ɪɨɡɨɜɵɣ, ɫ ɝɨɬɢɱɟɫɤɢɦ ɤɪɭɠɟɜɨɦ ɛɚɥɤɨɧɨɜ ɢ ɜɵɫɨɤɨɣ ɛɚɲɧɟɣɮɨɧɚɪɟɦ, ɩɨɞɞɟɪɠɢɜɚɟɦɨɣ ɫɧɢɡɭ ɞɜɭɦɹ ɫɟɪɵɦɢ ɯɢɦɟɪɚɦɢ ɫ ɨɫɬɪɵɦɢ ɩɟɪɟɩɨɧɱɚɬɵɦɢ ɤɪɵɥɶɹɦɢ ɢ ɥɶɜɢɧɵɦɢ ɝɨɥɨɜɚɦɢ ɧɚ ɦɭɫɤɭɥɢɫɬɵɯ ɦɭɠɫɤɢɯ ɬɟɥɚɯ, ɩɨɤɚɡɚɥɫɹ Ⱦɚɲɟ ɜɨɥɲɟɛɧɨ-ɩɪɟɤɪɚɫɧɵɦ.“ (Luzina 2008c: 128) Das Haus steht heute unter Denkmalschutz, vor einigen Jahren haben es die letzten Bewohner verlassen. Eine Restaurierung ist geplant.

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lands, der Ukraine und Weißrusslands als auch als Ursprung des orthodoxen Glaubens gilt, wobei jede Seite für sich beansprucht, Erbe Kiews zu sein: Dem Chronisten Nestor zufolge […] kam im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung der Apostel Andreas nach Kiew, errichtete hier ein Kreuz und sagte: „Seht ihr diese Berge? Auf diesen Bergen liegt der Segen Gottes. Eine mächtige Stadt wird hier entstehen, und viele Häuser wird man dem Herrn erbauen.“ (Lusina 2008a: 155)10

Die Autorin übernimmt die Aussage aus der sowjetischen Historiographie (Kappeler 1994: 35) und bezeichnet Kiew als „Urmutter ganz Russlands. Die Stadt, aus der alles kam und in die alles zurückkehrte.“ (Luzina 2008d: 124, Übersetzung A. O.)

W IEDERHERSTELLUNG

DER

O RDNUNG

„Schwert und Kreuz“ – Gleichgewicht zwischen Gut und Böse Bereits im ersten Band wird die zerstörte Ordnung in der Stadt durch die ‚falsch‘ verlaufene Geschichte erklärt, wodurch das Böse in der Stadt zu Ungunsten der guten Kräfte verstärkt wurde. Nach Auffassung von Mascha war Kiew nicht nur die Stadt Gottes, sondern auch die des Teufels: Tausend Jahre lang wurde Kiew das russische Jerusalem genannt. […] Findest du es nicht seltsam, dass die Stadt, die als Hauptstadt des Glaubens gilt, zugleich auch

10 „ɋɨɝɥɚɫɧɨ ɩɪɟɩɨɞɨɛɧɨɦɭ ɇɟɫɬɨɪɭ-ɥɟɬɨɩɢɫɰɭ […] ɜ ɩɟɪɜɨɦ ɫɬɨɥɟɬɢɢ ɧɚɲɟɣ ɷɪɵ ɜ Ʉɢɟɜ ɩɪɢɲɟɥ ɚɩɨɫɬɨɥ Ⱥɧɞɪɟɣ ɉɟɪɜɨɡɜɚɧɧɵɣ ɢ, ɜɨɞɪɭɡɢɜ ɬɭɬ ɤɪɟɫɬ, ɫɤɚɡɚɥ: ‚ȼɢɞɢɬɟ ɝɨɪɵ ɷɬɢ? ɇɚ ɷɬɢɯ ɝɨɪɚɯ ɜɨɫɫɢɹɟɬ ɛɥɚɝɨɞɚɬɶ Ȼɨɠɶɹ. ɂ ɛɭɞɟɬ ɝɨɪɨɞ ɜɟɥɢɤɢɣ, ɢ ɦɧɨɝɨ ɰɟɪɤɜɟɣ Ȼɨɝ ɡɞɟɫɶ ɜɨɡɞɜɢɝɧɟɬ‘.“ (Luzina 2008c: 197)

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Hauptstadt der Hexen genannt wurde? […] Weil Hexen immer dort sind, wo der Teufel ist! (Lusina 2008a: 347)11

Das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wurde früher in Kiew durch die vielen Kirchen gesichert und der geheimnisvolle böse Lindwurm, der die Stadt zu zerstören drohte, wurde dadurch unschädlich gemacht. Nun ist die Situation eine ganz andere: Kirchen baut man immer dort, wo etwas Böses weggeschlossen, versiegelt werden muss. Es hat zweihundert Kirchen und tausend heilige Reliquien gebraucht, um ihn [den Lindwurm] unter der Erde zu halten... Aber die Kirchen wurden abgerissen, gesprengt, abgetragen, und die Stadt hat ihre einstige Kraft verloren. (Lusina 2008a: 349)12

Damit betont Mascha nicht nur ein weiteres Mal die – unbestreitbare – Tatsache, dass es sich bei Kiew um eine geschichtsträchtige Stadt handelt. Zunehmend betont sie die metaphysisch-religiöse Bedeutung Kiews für die Geschichte des Territoriums, das zunächst zur Kiewer Rus, dann zu Russland und der UdSSR gehörte und nun die unabhängige Ukraine bildet. Mit der Vernichtung der Kirchen in Kiew Anfang des 20. Jhds. wurden, so die Interpretation des Romans von Lusina, die Tore für das Böse geöffnet, wobei im ersten Roman der Serie zunächst nur angedeutet wird, dass das Böse in der Gestalt der Bolschewiki kam. Im zweiten Band wird explizit gesagt, wer oder was für die Zerstörung von Kirchen und das darauffolgende Unheil verantwortlich ist.

11 „Ɍɵɫɹɱɭ ɥɟɬ ɜɫɟ […] ɧɚɡɵɜɚɥɢ Ʉɢɟɜ ɪɭɫɫɤɢɦ ɂɟɪɭɫɚɥɢɦɨɦ. […] Ɍɟɛɟ ɧɟ ɤɚɠɟɬɫɹ ɫɬɪɚɧɧɵɦ, ɱɬɨ Ƚɨɪɨɞ, ɩɪɢɡɧɚɧɧɵɣ ɋɬɨɥɢɰɟɣ ɜɟɪɵ, ɛɵɥ ɨɞɧɨɜɪɟɦɟɧɧɨ ɢ ɩɪɢɡɧɚɧɧɨɣ ɋɬɨɥɢɰɟɣ ɜɟɞɶɦ? […] ɉɨɬɨɦɭ ɱɬɨ ɜɟɞɶɦɵ ɜɫɟɝɞɚ ɬɚɦ, ɝɞɟ Ⱦɶɹɜɨɥ!“ (Luzina 2008c: 429) 12 „Ⱥ ɰɟɪɤɜɢ ɜɫɟɝɞɚ ɫɬɪɨɹɬ ɧɚ ɬɨɦ ɦɟɫɬɟ, ɝɞɟ ɧɭɠɧɨ ɩɟɪɟɤɪɵɬɶ ɡɥɨ. ɂ ɩɨɧɚɞɨɛɢɥɨɫɶ ɞɜɟɫɬɢ ɰɟɪɤɜɟɣ ɢ ɬɵɫɹɱɢ ɫɜɹɬɵɧɶ ɜ ɧɢɯ, ɱɬɨɛɵ ɭɞɟɪɠɚɬɶ ɟɝɨ ɩɨɞ ɡɟɦɥɟɣ... ɇɨ ɰɟɪɤɜɢ ɪɚɡɨɛɪɚɥɢ, ɜɡɨɪɜɚɥɢ, ɫɧɟɫɥɢ, ɢ Ƚɨɪɨɞ ɥɢɲɢɥɫɹ ɩɪɟɠɧɟɣ ɫɢɥɵ.“ (Luzina 2008c: 431)

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„Schuss in der Oper“ – Verhindern der Oktoberrevolution Es ist die Oktoberrevolution, die das Gleichgewicht Kiews zerstörte, und es ist erneut Mascha, die eine These aufstellt: Revolution. Ihr selbst habt eure Kirchen zerstört und Kiew hörte auf, die Hauptstadt des Glaubens zu sein. Aber es blieb die Hauptstadt der Hexen. (Luzina 2008d: 142. Übersetzung A. O.)13

Alles Gute und Böse begann ihrer Auffassung nach in Kiew. So auch die Oktoberrevolution von 1917: Die Revolution ging in Kiew los! In der Hauptstadt der Hexen. […] Wenn Dmitrij Bogrow in der Kiewer Oper Stolypin nicht getötet hätte, hätte es keine Revolution gegeben! (Luzina 2008d: 195. Übersetzung A. O.)14

Hier kommt nicht nur die Frage auf, ob es die Oktoberrevolution zu verhindern gilt, sondern auch ob man die daraus resultierende Konsequenz in Kauf nehmen soll, dass ohne die Revolution, ohne die Entstehung und den Zerfall der Sowjetunion, die Ukraine weiterhin ein Teil Russlands bleibt und niemals unabhängig wird. In der Überzeugung, dass der Mord an Stolypin die Oktoberrevolution und als Folge 50 Millionen Toten verursachte, überlegen die Kiewizen, allen voran die eher als „russisch“ dargestellte Mascha, ob sie diesen Mord und alle damit zusammenhängende Opfer verhindern sollen. Die ‚Ukrainerin‘ Dascha ist entschieden gegen diese Idee:

13 „Ɋɟɜɨɥɸɰɢɹ. ȼɵ ɫɚɦɢ ɪɚɡɪɭɲɢɥɢ ɜɚɲɢ ɰɟɪɤɜɢ. ɂ Ʉɢɟɜ ɩɟɪɟɫɬɚɥ ɛɵɬɶ ɋɬɨɥɢɰɟɸ ɜɟɪɵ. ɇɨ ɨɫɬɚɥɫɹ ɋɬɨɥɢɰɟɸ ɜɟɞɶɦ.“ 14 „Ɋɟɜɨɥɸɰɢɹ ɩɪɢɲɥɚ ɜ ɦɢɪ ɢɡ Ʉɢɟɜɚ! ɂɡ ɋɬɨɥɢɰɵ ȼɟɞɶɦ. […] ȿɫɥɢ ɛɵ Ⱦɦɢɬɪɢɣ Ȼɨɝɪɨɜ [sic] ɧɟ ɭɛɢɥ ɋɬɨɥɵɩɢɧɚ ɜ ɤɢɟɜɫɤɨɦ ɬɟɚɬɪɟ, ɧɢɤɚɤɨɣ ɪɟɜɨɥɸɰɢɢ ɧɟ ɛɵɥɨ ɛ!“ Diese Auffassung wird nicht nur von Lada Lusina vertreten. Auch Alexander Solschenizyn war davon überzeugt, dass, wenn Stolypin 1911 nicht ermordet worden wäre, hätte er den Ersten Weltkrieg verhindert und somit die Niederlage zaristischen Russlands in diesem Krieg, d.h. auch die Machtübernahme durch Bolschewiki, Bürgerkrieg und Millionen Opfer. (Solženicyn 2006: 142-224)

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Wenn es keine Revolution, keine Sowjetunion geben wird, dann werden wir uns von Russland nicht trennen. Es wird keinen Grund dafür geben. (Luzina 2008d: 210. Übersetzung A. O.)15

Die eher neutrale ‚polnische‘ Katja wundert sich und fragt, ob Dascha eine Nationalistin ist, was diese zur Weißglut bringt: Ich bin eine Patriotin! Und ihr?!... Was kann man von dir erwarten, du armselige Polin! Aber von dir, Mascha, hätte ich das nicht erwartet. Obwohl, was hätte man sonst von dir erwarten können? Du mit deinen Russen – Bulgakow, Wrubel, Fürst Wladimir. Bulgakow ist ja gar kein ukrainischer Schriftsteller! Er war ein Russophil! Er sagte, dass es unsere „abscheuliche Sprache“ gar nicht gäbe! (Luzina 2008d. Übersetzung A. O.)16

Spätestens an dieser Stelle lässt es sich nicht mehr übersehen: Der eigentliche Fokus des Romans zielt nicht darauf, die Schönheit und Größe Kiews hervorzuheben, sondern viel mehr darauf, die Identität der Stadt zu hinterfragen. Was ist Kiew eigentlich? Zu welcher Kultur gehört es? Zur russischen oder zur ukrainischen? Aber zunächst zurück zum Text. Mascha hebt den Preis der Unabhängigkeit erneut hervor und stellt Dascha vor die Wahl: Wenn die Oktoberrevolution verhindert wird und wir, 50 Millionen ukrainischer Einwohner, infolge dessen unsere Unabhängigkeit einbüßen, bedeutet das, dass wir sie nur um diesen Preis hätten bekommen können. Um den Preis der Revolution und 50 Millionen Opfer. Überlege es dir, wärest du persönlich bereit, diesen Preis zu zahlen? (Luzina 2008d: 211. Übersetzung A. O.)17

15 „ȿɫɥɢ ɧɢ ɪɟɜɨɥɸɰɢɢ, ɧɢ ɋɨɜɟɬɫɤɨɝɨ ɋɨɸɡɚ, ɧɢɱɟɝɨ ɬɚɤɨɝɨ ɧɟ ɛɭɞɟɬ, ɦɵ ɬɚɤ ɢ ɧɟ ɨɬɫɨɟɞɢɧɢɦɫɹ ɨɬ Ɋɨɫɫɢɢ. ɍ ɧɚɫ ɤɚɤ ɛɵ ɧɟ ɛɭɞɟɬ ɩɨɜɨɞɚ.“ 16 „ə – ɩɚɬɪɢɨɬɤɚ! – ɜɡɨɪɜɚɥɚɫɶ Ⱦɚɲɚ ɑɭɛ. – Ⱥ ɜɵ!.. ɑɬɨ ɫ ɬɟɛɹ ɜɡɹɬɶ, ɩɨɥɶɤɚ ɧɟɫɱɚɫɬɧɚɹ! ɇɨ ɨɬ ɬɟɛɹ, Ɇɚɲɚ, ɹ ɷɬɨɝɨ ɧɟ ɨɠɢɞɚɥɚ. ɏɨɬɹ ɱɟɝɨ ɨɬ ɬɟɛɹ ɛɵɥɨ ɠɞɚɬɶ. Ɍɵ ɫɨ ɫɜɨɢɦɢ ɪɭɫɫɤɢɦɢ – Ȼɭɥɝɚɤɨɜɵɦɢ, ȼɪɭɛɟɥɹɦɢ, ɤɧɹɡɟɦ ȼɥɚɞɢɦɢɪɨɦ. Ȼɭɥɝɚɤɨɜ ɜɨɨɛɳɟ ɧɟ ɭɤɪɚɢɧɫɤɢɣ ɩɢɫɚɬɟɥɶ! Ɉɧ ɪɭɫɨɮɢɥ! Ɉɧ ɝɨɜɨɪɢɥ, ɱɬɨ ɧɚɲɟɝɨ ɝɧɭɫɧɨɝɨ ɹɡɵɤɚ ɧɟ ɫɭɳɟɫɬɜɭɟɬ ɧɚ ɫɜɟɬɟ.“ 17 „ȿɫɥɢ, ɨɬɦɟɧɢɜ ȼɟɥɢɤɭɸ Ɉɤɬɹɛɪɶɫɤɭɸ, ɦɵ, ɩɹɬɶɞɟɫɹɬ ɦɢɥɥɢɨɧɨɜ ɠɢɜɭɳɢɯ ɧɚ ɍɤɪɚɢɧɟ, ɩɨɬɟɪɹɟɦ ɫɜɨɸ ɧɟɡɚɜɢɫɢɦɨɫɬɶ, ɡɧɚɱɢɬ, ɦɵ ɦɨɝɥɢ ɩɨɥɭ-

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Angesichts der großen Opferzahl einigen sich die Kiewizen darauf, dass die Revolution und als Konsequenz daraus auch die künftige Unabhängigkeit der Ukraine verhindert werden sollen. „Schuss in der Oper“ – Lyra Dennoch ist nicht nur auf der politischen Ebene die Ordnung in Kiew zerstört worden. Parallel zur Vereitelung des Mordes an Stolypin beschäftigen sich die Kiewizen mit der Frage, warum in Kiew seit Langem kein großes Kunstwerk entstanden ist. Im ausgehenden 19. und Anfang des 20. Jhds. lebten und arbeiteten in Kiew viele Schriftsteller und Künstler von Weltrang. Später ist diese schöpferische Quelle versiegt. Auch hier ist es Mascha, die eine Erklärung dafür hat: Lyra, unser Talisman gab ihr [Achmatowa] die Kraft. Und diese Kraft hat uns verlassen. Durch ihr Verschwinden wurde unsere Literatur blutleer. […] Deshalb gab es in Kiew keinen Großen Schriftsteller. Keinen Großen Dichter! (Luzina 2008d: 52. Übersetzung A. O. H. i. O.)18

Dank der Lyra, die abwechselnd Achmatowa und Bulgakow gehörte, konnten diese Schriftsteller ihre großartigen Werke schaffen, und als sie verschwand, schwand auch die Schöpfungskraft aus dem Kiewer Boden: Alle, die nach Kiew kamen, gerieten in dieselbe Falle: Sie erlebten eine unglückliche Liebe und begannen zu schreiben und zu malen: Gedichte, Erzählungen, Bilder. (Luzina 2008d: 198. Übersetzung A. O.)19

Um Kiew seinen einstigen Glanz wiederzugeben, muss also die Lyra gefunden werden und die Kiewizen begeben sich auf die Suche nach ihr.

ɱɢɬɶ ɟɟ ɬɨɥɶɤɨ ɬɚɤɨɣ ɰɟɧɨɣ! ɐɟɧɨɣ ɪɟɜɨɥɸɰɢɢ ɢ ɩɹɬɢɞɟɫɹɬɢ ɦɢɥɥɢɨɧɨɜ ɠɟɪɬɜ. ɉɨɞɭɦɚɣ, ɫɨɝɥɚɫɢɥɚɫɶ ɥɢ ɛɵ ɬɵ, ɥɢɱɧɨ ɬɵ, ɡɚɩɥɚɬɢɬɶ ɷɬɭ ɰɟɧɭ?“ 18 „ɇɚɲ ɬɚɥɢɫɦɚɧ – ɥɢɪɚ – ɞɚɥ ɟɣ ɫɢɥɭ. ɂ ɷɬɚ ɫɢɥɚ ɭɲɥɚ ɨɬ ɧɚɫ. ȿɟ ɢɫɱɟɡɧɨɜɟɧɢɟ ɨɛɟɫɬɨɱɢɥɨ ɜɫɸ ɧɚɲɭ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɭ. […] ȼɨɬ ɩɨɱɟɦɭ ɜ Ʉɢɟɜɟ ɧɢɤɨɝɞɚ ɧɟ ɛɵɥɨ ɧɢ ɨɞɧɨɝɨ ȼɟɥɢɤɨɝɨ ɩɢɫɚɬɟɥɹ. ɇɢ ɨɞɧɨɝɨ ȼɟɥɢɤɨɝɨ ɩɨɷɬɚ!“ 19 „ȼɫɟ, ɤɬɨ ɩɪɢɟɡɠɚɥ ɜ Ʉɢɟɜ, ɬɨɱɧɨ ɩɨɩɚɞɚɥɢ ɜ ɨɞɢɧ ɢ ɬɨɬ ɠɟ ɤɚɩɤɚɧ – ɩɟɪɟɠɢɜɚɥɢ ɧɟɫɱɚɫɬɧɭɸ ɥɸɛɨɜɶ ɢ ɧɚɱɢɧɚɥɢ ɩɢɫɚɬɶ: ɫɬɢɯɢ, ɪɚɫɫɤɚɡɵ, ɤɚɪɬɢɧɵ.“

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„Das Rezept des Meisters“ – Die nationale Idee? In dem noch nicht vollendeten dritten Band, der bereits durch seinen Titel an Bulgakow erinnert, tauchen neue Motive auf. Da die Revolution erneut unausweichlich zu sein scheint, versuchen die Kiewizen die Geschichte zu verändern, ziehen aber neue Argumente in Betracht. So taucht hier die Frage nach dem ‚wie‘ der ukrainischen Abhängigkeit, nicht die nach dem ‚ob‘ auf. Zum ersten Mal wird hier von der Zeitspanne der unabhängigen Ukraine in den Jahren 1918-1921 gesprochen und darüber, ob in dieser Zeit Fehler gemacht worden sind, die die Kiewizen nun vermeiden könnten. In diesem Band tritt die einstige Lieblingsfigur der Autorin Mascha in den Hintergrund. Mascha, die allem Weltlichen abschwor, will sich nicht mehr in den Lauf der Geschichte einmischen. Dafür taucht hier Aknir, die Tochter der früheren Kiewiza Kylyna auf, und obwohl sie eigentlich ihr höchst persönliches Ziel verfolgt, die Macht an sich zu reißen, schließt sie sich Dascha und Katja an. Sie analysiert die Fehler der Zentralna Rada (der ukrainischen Regierung in den Jahren 1917-1918) sowie die des Hetman Skoropadsky und kommt zu dem Schluss: Rada erreichte eine furchtbare Popularität, weil sie die nationale Befreiungsidee verkörperte. […] Aber ihr fehlten zwei Dinge: […] die Armee und die reale Macht. […] Dann tauchte der General Skoropadskij auf. […] Ihm gelingt es, den Staatsapparat in Gang zu setzen, aber ihm fehlten die Idee und die Armee. […] Wir brauchen die Macht, die Idee und die Armee. Die Einen hatten die Macht, die Anderen die Idee, eine Armee hatte niemand. D.h. dass wir eine Armee bilden müssen. Und die Macht gehört uns. (Luzina 2008e: o. S. Übersetzung A. O.)20

Die Lösung des Problems liegt nah. Diesmal kommt die Formulierung nicht aus Maschas Mund, ihr Wortlaut ist nicht neu: Die Lösung aller Probleme liegt – in Kiew:

20 „Ɋɚɞɚ ɞɨɫɬɢɝɧɟɬ ɤɨɲɦɚɪɧɨɣ ɩɨɩɭɥɹɪɧɨɫɬɢ, ɩɨɬɨɦɭ ɱɬɨ ɛɭɞɟɬ ɧɨɫɢɬɟɥɟɦ ɧɚɰɢɨɧɚɥɶɧɨɣ ɨɫɜɨɛɨɞɢɬɟɥɶɧɨɣ ɢɞɟɢ. […] ɇɨ ɭ ɧɟɟ ɧɟ ɛɭɞɟɬ ɞɜɭɯ ɜɟɳɟɣ […] – ɚɪɦɢɢ ɢ ɪɟɚɥɶɧɨɣ ɜɥɚɫɬɢ. […] Ɉɧ ɫɦɨɠɟɬ ɧɚɥɚɞɢɬɶ ɝɨɫɭɞɚɪɫɬɜɟɧɧɵɣ ɚɩɩɚɪɚɬ, ɧɨ ɭ ɧɟɝɨ ɧɟ ɛɭɞɟɬ ɢɞɟɢ ɢ ɚɪɦɢɢ. […] ɇɚɦ ɧɭɠɧɵ ɜɥɚɫɬɶ, ɢɞɟɹ ɢ ɚɪɦɢɹ. ȼɥɚɫɬɶ ɛɵɥɚ ɭ ɨɞɧɢɯ, ɢɞɟɹ – ɭ ɞɪɭɝɢɯ, ɚɪɦɢɢ ɧɟ ɛɵɥɨ ɧɢ ɭ ɤɨɝɨ. Ɂɧɚɱɢɬ, ɦɵ ɞɨɥɠɧɵ ɫɮɨɪɦɢɪɨɜɚɬɶ ɚɪɦɢɸ. ɂ ɜɥɚɫɬɶ ɛɭɞɟɬ ɧɚɲɟɣ.“

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„Aber wirklich […]: Monarchisten, Nationalisten, Sozialisten, Anarchisten, Bauern, Arbeiter, womit kann man sie unter einen Hut bekommen?“ „Kann man, wenn wir uns darauf zurückbesinnen, wo wir sind.“ […] „Wo denn?“ „In Kiew. […] In der Hauptstadt des Glaubens und Heimat von ganz Russland.“ (Luzina 2008e: o. S. Übersetzung A. O.)21

Interessanterweise bricht an dieser Stelle die Handlung ab. Der dritte Roman der Reihe sollte ursprünglich der letzte sein. Die Autorin gibt zu, Schwierigkeiten mit der Fertigstellung des Romans zu haben, und nennt als einen Grund die Komplexität des historischen Materials (Majnaja 2010: o. S.). Trotzdem sind weitere Romane der Reihe bereits auf dem Markt, die die geplante Trilogie erweitert haben. Die Autorin scheint die Macht über das eigene Werk allmählich verloren zu haben. Der erste Roman der Reihe beginnt mit einer aus dem Krimigenre vertrauten Konstellation: Durch einen Mord wird die Ordnung in der Stadt zerstört und soll durch die Aufklärung wiederhergestellt werden. Dabei bedienen sich die Ermittlerinnen zwar magischer Kräfte und reisen in die Vergangenheit, aber ihre Hauptaufgabe bleibt zunächst die Aufdeckung der Mörder. Jedoch ist bereits in „Schwert und Kreuz“ zu beobachten, wie die für die Krimi-Struktur klassische Suche nach den Mördern allmählich aufgebrochen wird und die eigentlichen Ermittlungen immer mehr in den Hintergrund geraten. Dafür nimmt die Erzählung immer stärker fantastische Züge an; die Aufgabe der Kiewizen wird größer, sie kämpfen fortan in ihrer Stadt nicht gegen Verbrecher, sondern gegen das Böse schlechthin. Im zweiten Roman „Schuss in der Oper“ funktioniert das Schema eines Kriminalromans lediglich ansatzweise. Zwar geht es hier um die Vereitelung eines Mordes, was für eine Variante in der Struktur eines Kriminalromans sprechen würde, doch da es sich dabei um ein historisches Ereignis handelt, das zum Zeitpunkt der Romanentstehung fast hundert Jahre zurückliegt, lässt sich die Handlung dem Bereich des Fantastischen zuordnen. Im dritten Roman bzw. in seinen ersten acht Kapiteln wird das Krimi-Schema erst gar nicht aufgenommen,

21 „,ɇɨ, ɜ ɫɚɦɨɦ ɞɟɥɟ. […] Ɇɨɧɚɪɯɢɫɬɵ, ɧɚɰɢɨɧɚɥɢɫɬɵ, ɫɨɰɢɚɥɢɫɬɵ, ɚɧɚɪɯɢɫɬɵ, ɤɪɟɫɬɶɹɧɟ, ɪɚɛɨɱɢɟ – ɱɟɦ ɢɯ ɦɨɠɧɨ ɨɛɴɟɞɢɧɢɬɶ?‘ ,Ɇɨɠɧɨ, ɟɫɥɢ ɜɫɩɨɦɧɢɬɶ ɝɞɟ ɦɵ‘, – ɨɱɟɧɶ ɫɟɪɶɟɡɧɨ ɫɤɚɡɚɥɚ Ⱥɤɧɢɪ. ,Ƚɞɟ?‘ ,ȼ Ʉɢɟɜɟ.‘ ,ȼ ɋɬɨɥɢɰɟ ȼɟɞɶɦ?‘ – ɫɨɨɛɪɚɡɢɥɚ ɥɠɟ-ɩɨɷɬɟɫɫɚ. .ȼ ɋɬɨɥɢɰɟ ȼɟɪɵ ɢ ɪɨɞɢɧɟ ɜɫɟɹ Ɋɭɫɢ‘.“

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sondern von vornherein in der heterogenen Szenerie von fantasy und historischem Roman gegen das Böse gekämpft. Offenbar erweist sich die Problematik der konfliktreichen Geschichte Kiews als viel zu komplex, als dass sie von Lusina zu ergründen wäre. Und tatsächlich lassen sich beim aufmerksamen Lesen viele Themenbereiche wiederfinden, die in der heutigen Ukraine für reichlich Konfliktpotenzial sorgen. Alleine die Figurenkonstellation und die gemischte ethnische Zugehörigkeit der Kiewizen bieten eine Projektionsfläche für die ukrainische Heterogenität. Dieser Themenkomplex und die sich daraus ergebenden Interpretationsmöglichkeiten, sollen im Folgenden eingehender untersucht werden.

I DENTITÄTSKONFLIKT AUF DER P ROTAGONISTINNENEBENE Die drei Hauptfiguren weisen eine gemischte ethnische Zugehörigkeit auf. Mascha Kowalewa ist – wie auch ihrem Nachnamen zu entnehmen ist – als Russin markiert und spricht ausschließlich Hochrussisch. Dascha Tschub ist ukrainischer ethnischer Herkunft; sie spricht zwar auch Russisch, dennoch ist ihre Sprache oft mit Ukrainismen durchtränkt.22 Außerdem wird sowohl über Mascha als auch über Dascha an ein oder anderer Stelle erwähnt, dass sie eigentlich gemischter russisch-ukrainischer Herkunft sind und einer ihrer Elternteile jeweils anderer Herkunft ist als jene, zu der sie selbst sich bekennen. Katja Dobrashanskajas Eltern starben früh, insofern wird auf ihre Herkunft weniger eingegangen, allerdings lässt ihr Nachname polnische Wurzeln erahnen. Die Wahl der Nachnamen, sowie ihre ukrainische, russische und polnische Zugehörigkeit ist kein Zufall. So hieß die Großmutter der Autorin mit dem Mädchennamen Tschub, ihre Urgroßmutter Dobrashanskaja und Mascha Kowalewa hätte eigentlich Kutscherowa, wie die Autorin selbst, heißen müssen, bekam dann jedoch den Namen der ihrer besten Freundin.23

22 Z. B. „lyšen’ko“ (Pech, 1.20), „vybuchnula“ (explodieren 1.48), „telepaetsja“ (baumeln, 1.81), „progavili“ (verpassen, 1.120), „pasoþki“ (Sandförmchen, 1.125), „veštalas’“ (sich herumtreiben, 1.166) usw. 23 http://www.luzina.kiev.ua/index/kv (9.04.2012).

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Dafür gehen die Vatersnamen der Protagonistinnen auf die Schutzpatrone Kiews zurück: Wladimir den Heiligen, Apostel Andreas und Erzengel Michael.24 Ebenfalls lässt sich bei drei Figuren eine – bewusste oder unbewusste – Bestätigung gängiger nationaler Stereotypen bestätigen. So wird Mascha als Intellektuelle, Dascha als Robuste und Katja als geheimnisvolle Fremde dargestellt.

N ICHTAKZEPTANZ

DES

U KRAINISCHEN

IN

K IEW

Mascha – die Lieblingsfigur der Autorin im ersten Roman – ist zerrissen, weil sie sich nicht vorbehaltlos zu ihrer Stadt und ihrem Land bekennen kann, sich aber gezwungen fühlt, dies zu tun. Ihre Zerrissenheit beruht darauf, dass das Land, in dem sie heute lebt, Ukraine heißt, und Kiew als Hauptstadt dieses Landes demzufolge eine ukrainische Stadt ist. Ihr Dilemma ist die nationale Zugehörigkeit von Kiew: Man kann nicht sagen, dass Mascha ihr Land nicht liebte. Doch, sie liebte es… Nur das, was sie am meisten an ihrem Land liebte – Kiew, Bulgakow, Lawra, die von Wasnezow und Wrubel bemalte Wladimir-Kathedrale –, konnte man nicht von Russland trennen und deshalb, egal wie die politische Situation war, waren sie in Maschas Innerem unzertrennlich. Das ist das Problem. Verstehst du mich, Leser? (Luzina 2008d: 210. Übersetzung A. O.)25

Auffallend ist, wie wenig sich die Autorin der heutigen Stadt Kiew zuwendet und wie sehr sie in der Vergangenheit hängen bleibt. Lediglich einmal

24 Ebd. 25 „ɇɟɥɶɡɹ ɫɤɚɡɚɬɶ, ɱɬɨ Ɇɚɲɚ ɧɟ ɥɸɛɢɥɚ ɫɜɨɸ ɫɬɪɚɧɭ. Ɉɧɚ ɥɸɛɢɥɚ... ɉɪɨɫɬɨ ɬɨ, ɱɬɨ ɨɧɚ ɥɸɛɢɥɚ ɜ ɫɜɨɟɣ ɫɬɪɚɧɟ ɛɨɥɶɲɟ ɜɫɟɝɨ – Ʉɢɟɜ, Ȼɭɥɝɚɤɨɜɚ, ɋɜɹɬɨɉɟɱɟɪɫɤɭɸ Ʌɚɜɪɭ, ȼɥɚɞɢɦɢɪɫɤɢɣ ɫɨɛɨɪ, ɪɚɫɩɢɫɚɧɧɵɣ ȼɚɫɧɟɰɨɜɵɦ ɢ ȼɪɭɛɟɥɟɦ – ɛɵɥɨ ɧɟɨɬɞɟɥɢɦɵɦ ɨɬ Ɋɨɫɫɢɢ, ɢ ɩɨɬɨɦɭ, ɤɚɤ ɛɵ ɧɟ ɨɛɫɬɨɹɥɢ ɩɨɥɢɬɢɱɟɫɤɢɟ ɞɟɥɚ, ɜɧɭɬɪɢ Ɇɚɲɢ, ɨɧɢ ɛɵɥɢ ɧɟɨɬɞɟɥɢɦɵ. ȼɨɬ ɜ ɱɟɦ, ɩɪɨɛɥɟɦɚ. Ɍɵ ɩɨɧɢɦɚɟɲɶ ɦɟɧɹ, ɱɢɬɚɬɟɥɶ?“ Der letzte Satz ist ein geflügeltes Zitat aus „Meister und Margarita“ von Bulgakow. Es ist nur ein Beispiel von vielen, in denen sich Lada Lusina auf Bulgakow bezieht. (Luzina 2008d: 210)

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taucht im ersten Roman ein neuerer Stadtteil auf, aber selbst das geschieht, weil die Straße den Namen Anna Achmatowas trägt und die Protagonistinnen sich dorthin begeben müssen, um den Selbstmord einer Anna Golenko zu vereiteln. Anna Golenko ist Dichterin und ihr Name unterscheidet sich um lediglich einen Buchstaben vom Geburtsnamen Achmatowas – Gorenko. Verfangen in ihrer Angst vor Gegenwärtigkeit blendet Mascha gut hundert Jahre ukrainischer Geschichte aus. Sie kennt sich in der Geschichte Kiews sehr gut aus, allerdings nicht im Kiew von heute. Sie kennt alle Straßennamen von damals in- und auswendig, nur an die aktuellen Straßennamen kann (oder will) sie sich nicht erinnern. So gerät sie in einem Taxi in Schwierigkeiten: Der Taxifahrer wurde wieder fröhlich. „Gut. Wohin jetzt?“ „Zum Bibikow Boulevard“, erklärte Mascha nervös. „Wohin?“ „Himmel, wie heißt… Zum Nikolajpark an der Universität, also der Sankt Wladimir Universität. Der roten Universität!“ „Also zum Schewtschenko-Boulevard. Bist du nicht von hier?“ „Ich bin Kiewerin mit Leib und Seele!“ (Lusina 2008a: 137)26

Dabei ist es sehr bezeichnend, dass Mascha gerade die Namen entfallen, die auf die Zugehörigkeit Kiews zur Ukraine verweisen und umgekehrt. So wurde der frühere Bibikow Boulevard nach dem vormaligen russischen Generalgouverneur von Kiew Dmitrij Bibikow (Regierungszeit 1837-1852) benannt; heute heißt er Schewtschenko Boulevard. Der Nikolajpark an der Universität wurde nach der Statue des Zaren Nikolaj I benannt, die in der Parkmitte 1869 errichtet wurde. 1939 wurde anstelle von Nikolaj I eine Skulptur des größten ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko errichtet und der Park umbenannt. Auch die heutige Nationale Taras-Schewtschenko-Universität Kiew hieß früher anders. Ihr Namensgeber war Fürst Wladimir, eine der größten historischen Persönlichkeiten der früheren Kie-

26 „,Ɍɚɤ ɤɭɞɚ ɬɟɩɟɪɶ ɟɞɟɦ?‘ ɩɨɜɟɫɟɥɟɥ ɬɚɤɫɢɫɬ. ‚ɇɚ Ȼɢɛɢɤɨɜɫɤɢɣ ɛɭɥɶɜɚɪ‘, ɧɟɪɜɧɨ ɨɛɴɹɜɢɥɚ Ɇɚɲɚ. ‚Ʉɭɞɚ?!‘ ‚Ȼɨɠɟ, ɤɚɤ ɟɝɨ… Ʉ ɇɢɤɨɥɚɟɜɫɤɨɦɭ ɭɧɢɜɟɪɫɢɬɟɬɫɤɨɦɭ ɩɚɪɤɭ. Ʉ ɭɧɢɜɟɪɫɢɬɟɬɭ ɋɜɹɬɨɝɨ ȼɥɚɞɢɦɢɪɚ. Ʉ ɤɪɚɫɧɨɦɭ ɭɧɢɜɟɪɫɢɬɟɬɭ!‘ ‚ɇɚ ɛɭɥɶɜɚɪ ɒɟɜɱɟɧɤɨ? Ɍɵ ɱɺ, ɧɟ ɦɟɫɬɧɚɹ?‘ ɯɦɵɤɧɭɥ ɜɨɞɢɥɚ. ‚ə – ɤɨɪɟɧɧɚɹ ɤɢɟɜɥɹɧɤɚ!‘“ (Luzina 2008c: 173)

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wer Rus, zu dessen wichtigsten Taten die Taufe der bis dato heidnischen Kiewer Rus im Jahre 988 gehört. Mascha wünscht sich, dass eine ihrer Lieblingsstraßen nicht den Namen trüge, den sie immer wieder vergisst, sondern den, der ihr nach ihrer Meinung eher zusteht: Eigentlich hätte man den Boulevard nach Bulgakow benennen müssen! Er ist ihn schließlich tausendmal rauf und runter gegangen! (Lusina 2008a: 47)27

So grenzenlos Maschas Liebe zu Kiew ist, so wenig will sie mit Kiews ukrainischer Realität konfrontiert werden. Als sie sich im Kiew der Jahre 1894-1895 wiederfindet, verspürt sie Glück und denkt: „Meine Zeit. Mein Ʉiɟɜɴ, Kieff, Kiew, Kiev. Meine STADT!“ (Lusina 2008d: 82. Übersetzung A. O.)28 In diesem kurzen Zitat wird Kiew in der alten russischen Schreibweise sowie in französischer, deutscher und englischer Transliteration wiedergegeben. Dabei scheint die Reihenfolge nicht unwichtig zu sein. Zuerst wird die Stadt in der alten russischen Schreibweise genannt: „Ʉiɟɜɴ“, so wie sie im russischen Zarenreich vor der Oktoberrevolution 1917 hieß – so wie Kiew für Mascha ist. Danach folgen die Fremdbezeichnungen der Stadt in der Reihenfolge der Wichtigkeit der kulturellen und politischen Einflüsse Ende des 19. Jhds. Die ukrainische Bezeichnung „Ʉɢʀɜ“ taucht hier nicht auf. Doch warum? Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass in der Handlungszeit des historischen Teiles des Romans die ukrainische Sprache und Literatur in Russland verboten war. Nach Walujew Zirkular von 1863 und dem Emser Erlass von 1876 waren Publikationen in ukrainischer Sprache verboten. Der russische Staat sah sich nach dem polnischen Januaraufstand von 18631964, der auch Teile der Ukraine miteinbezog, durch mögliche weitere nationalistischen Ausschreitungen bedroht und verbot zunächst wissenschaftliche (1863) und dann auch populäre (1876) Publikationen in ukrainischer Sprache. Diese Dokumente gelten als Weichenstellung für die Unterdrückung der ukrainischen Kultur im 19. Jhd., wobei sich deren Auswirkungen bis ins 20. Jhd. erstrecken. Die 1845 ebenfalls in Kiew gegründete Kyrill-

27 „ȿɫɥɢ ɭɠ ɧɚ ɬɨ ɩɨɲɥɨ, ɧɚɞɨ ɧɚɡɜɚɬɶ ɛɭɥɶɜɚɪ Ȼɭɥɝɚɤɨɜɫɤɢɦ! Ɉɧ ɢɫɯɨɞɢɥ ɟɝɨ ɜɞɨɥɶ ɢ ɩɨɩɟɪɟɤ!“ (Luzina 2008c: 58) 28 „Ɇɨɟ ɜɪɟɦɹ. Ɇɨɣ Ʉɿɟɜɴ, Kieff, Kiew, Kiev...“

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und-Method-Gesellschaft, markierte das Aufkommen einer ukrainischen Nationalbewegung. Infolge ihrer Zerschlagung im Jahr 1847 wurde Taras Schewtschenko als eines der aktivsten Mitglieder verbannt. Diese schon in ihren Anfängen ausgelöschte Bewegung gab dem Staat Anlass zu glauben, dass die von der ukrainischen Intellektuellen ausgehende Gefahr nicht zu unterschätzen sei (Kappeler 1994: 129 f.). Somit konnte es zur Handlungszeit des Romans keine ukrainische Bezeichnung für Kiew geben. Andererseits stellt sich die Frage, warum die Autorin gerade diese Zeitspanne für ihre Handlung aussuchte. Offensichtlich liebt Lusina ihre Stadt über alles und versucht sie im bestmöglichen Licht darzustellen. Und tatsächlich waren jene Persönlichkeiten, die Kiew stolz seine Söhne und Töchter nennt, hier um die Jahrhundertwende tätig. Jedoch betont Lusina (nach Metzeltin 1998: 4) nicht die Idee einer gemeinsamen Volkskultur, sondern die einer Hochkultur, die in Kiew Ende des 19. Jhds. in russischer Sprache existierte; ukrainische bzw. ukrainischsprachige Werke bleiben dabei unberücksichtigt. Wie kommt es zu dieser Ausblendung von Allem, was mit der ukrainischen Vergangenheit und der Gegenwart Kiews zu tun hat?

P OSTKOLONIALITÄT

À LA

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Möglicherweise muss man der Autorin keine Sehnsucht nach Monarchie unterstellen. Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit fand sich die Ukraine in einer Situation wieder, in der sie sich auf die Suche nach einer eigenen nationalen Identität begeben musste – und dies in der Zeit des Post-Nationalen. Sie ging von der Romantik direkt in die Postmoderne über. Im Laufe der letzen zweihundert Jahre hat sich die ukrainische Kultur immer vehement verteidigt und war vor allem damit beschäftigt, die Ukrainizität ihrer Symbole zu bewahren (Pavlyšin 2005: 11). Heute befindet sich die Ukraine in einer „double-time“ Situation (Bhabha 1990: 160), in der sie sich einerseits im heutigen Kontext als Nation fortschreibt, sich aber gleichzeitig mit den eigenen historischen Narrativen auseinandersetzen muss. Es ist geradezu erstaunlich, wie genau das Zeitschema der Hexen-Reihe der Zeitspanne der historischen Nationsbildung entspricht und mit der double-time Perspektive von Bhabha übereinstimmt. Lusina versetzt den historischen Teil der Handlung ausgerechnet in die Zeit, in der in Europa

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die Nationsbildung stattfand. Sie setzt sich auf diese Weise mit der aktuellen ukrainischen Situation auseinander und sucht nach einer möglichen Lösung dafür. Dabei scheint der Grund für die schwierige Suche ihrer Protagonistinnen die komplizierte gemeinsame Vergangenheit der Ukraine und Russlands zu sein: Sie fühlen sich zudem dazu gezwungen, sich entweder zum Russischen oder zum Ukrainischen zu bekennen. Der russischsprachigen und russischethnischen ukrainischen Bevölkerung mag aktuell die Suche nach einem ukrainischen Selbstbewusstsein zuweilen bedrohlich erscheinen. Zum rinen, weil sie sich nach dem ethnischen und sprachlichen Prinzip ausgeschlossen fühlt und sich auf einmal als Minderheit in einem fremdgewordenen Land sieht, aber auch weil die antikolonialen Strategien, die sich durch Ablehnung und Ablegung früherer kolonialer Argumente und Werte auszeichnen (Pavlyšin 2005: 9), im ukrainischen Fall auch gegen das Russische richten können. Dieses wird – sehr vorsichtig – zumindest so wahrgenommen, weil durch das Russische die Einflussnahme der einstigen Kolonisatoren befürchtet wird. Durch die Existenz in einem plötzlich fremdgewordenen Kontext verweilt die kulturelle Minderheit (in diesem Fall die russische) im Zustand des Widerstandes und der Ungewissheit; sie führt einen permanenten Kampf, um kulturelle Hybriditäten zu ,autorisieren‘ (Huddart 2006). Kriminalliteratur eignet sich wie keine andere dazu, nach der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu suchen, denn „crime fiction is an early, often the first, voice to respond to new social and cultural encounters generated by the colonial situation.“ (Knight 2006: 25) Mehr als mit dem eigentlichen Fall sind die Ermittler – in den „Hexen von Kiew“ die drei Kiewizen – mit „insoluble mysteries of his own interpretation and his own identity“ konfrontiert (Merivale/ Sweeney 1999: 2). Der Hintergrund eines Kriminalromans im Allgemeinen, aber auch eines ,mystischen Krimis‘, wie im vorliegenden Fall, ermöglicht es, dass „power and authority can be investigated through the magnifying glass of other knowledges, against the local or global mainstream, past and present, or against potential projections of a dominant group.“ (Matzke/ Mühleisen 2006: 5) Im Fall von „Die Hexen von Kiew“ wird die komplexe Kulturgeschichte und die nationale Zugehörigkeit Kiews ermittelt. Untersucht wird, ob die Stadt in einem kolonieartigen Verhältnis zu Russland stand oder nicht. Dahingegen gerät die Suche nach den Mördern immer wieder in den Hintergrund. Als sie im ersten Roman gefunden werden, wird ihnen kaum

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Aufmerksamkeit geschenkt. Weder Mordmotive, noch die Personen der Täter werden dem Leser eingehend nahegebracht. Die eigentliche Suche findet längst in der Vergangenheit statt: in einer Epoche, die für die Entstehung eines ukrainischen kulturpolitischen Bewusstseins ausschlaggebend war. Die Kiewizen sind in der Weise postkolonial, als dass sie eine marginale Gruppe einerseits durch ihr Hexenwesen darstellen (Christian 2001: 1), andererseits als kulturelle Informanten agieren, die als wertvolle Mittler zwischen den Kulturen arbeiten (Christian 2001: 11). Ihr Interesse besteht in „an exploration of how these detectives’ approaches to criminal investigation are influenced by their cultural attitudes.“ (Christian 2001: 2) Sie ermitteln, in welchem Kiew sie leben. In einem Russischen? In einem Ukrainischen? In einem Gemischten? Und wie sie sich selbst dort fühlen (sollen), wohin sie selbst gehören. Die Spaltung der Gruppe der Protagonistinnen in eine polnische, eine russische und eine ukrainische Zugehörigkeit bietet die optimale Möglichkeit dafür, bei Bedarf Stellung entsprechend der jeweiligen Kultur zu nehmen, mit all den dazugehörenden Vorurteilen und Ängsten. Im ersten Roman der Reihe „Schwert und Kreuz“ ist es der Lindwurm, der die Gefahr für Kiew darstellt. Doch was verbirgt sich hinter diesem ungeheuren, unberechenbaren, irrationalen Wesen? Bereits in den ersten Werken der Kriminalliteratur, Erzählungen wie Poes „The Murders in the Rue Morgue“ und in Werken, die Elemente aus der Kriminalliteratur übernehmen wie Kiplings „Kim“, findet man Ungeheuer, deren Funktion darin besteht, „align mystery conventions with anxieties over contamination, irrationality, and the threat posed to imperial modernity by unassimilated racial and cultural difference.“ (Pearson/Singer 2009: 4) Dies legt die Interpretation nahe, dass im ersten Teil der „Hexen von Kiew“ der Lindwurm die unbekannte und deshalb gefährliche ukrainische Seite Kiews verkörpert. Im weiteren Verlauf verbalisieren die Protagonistinnen den inneren Konflikt, dem sie ausgesetzt sind, und weigern sich, sich irgendeiner Seite endgültig anzuschießen. Die in Kiew verliebte Mascha sagt im zweiten Band: Wir haben so viel Gemeinsames, dass man uns nicht in zwei Hälften teilen kann. […] Aber wir tun es! Wir sagen uns von Recken los, weil es russische Märchen sind. Wir erkennen Bulgakow nicht an, weil er Russisch schrieb. […] Warum, wenn man

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die Ukraine liebt, muss man unbedingt Russland hassen? (Lusina 2008d: 267. Übersetzung A. O.)29

Die etwas bodenständigere und lebenserfahrenere Dascha scheint den Ursprung aber auch die Lösung des Problems zu kennen und gibt eine etwas triviale aber dadurch nicht weniger aussagekräftige Erklärung ab: Das ist wie, wenn du z.B. jemanden sehr liebst […] und ihr euch trennt. Und das tut weh und lässt nicht los, weil euch so viel verbindet. Wie die Ukraine und Russland. […] Und erst wenn du ihn töten willst, wenn du vor Hass beinahe platzt, ist die Liebe hin und es geht dir besser. […] Man muss die Nabelschnur durchtrennen, die euch beide zusammenhält. Und dann, wenn die Zeit vergeht und du auch ohne ihn megaglücklich bist, kannst du mit ihm neutral umgehen. […] So ist es auch mit Russland. Irgendwann werden wir ganz normal Schewtschenko im russischen Original lesen und akzeptieren, dass deine Universität von einem Zaren erbaut wurde. Wir haben das Syndrom der verzögerten Trennung. (Lusina 2008d: 268. Übersetzung A. O.)30

Die Autorin nutzt die Möglichkeit, zwischen ihren drei Figuren die eine oder die andere vorzuziehen. Im Verlauf der Reihe findet ein Wechsel ihrer Präferenzen zugunsten der ein oder anderen Hauptfigur statt. Anfangs zieht

29 „ɍ ɧɚɫ ɫɬɨɥɶɤɨ ɨɛɳɟɝɨ! Ɍɚɤ ɦɧɨɝɨ, ɱɬɨ ɷɬɨ ɧɟɥɶɡɹ ɩɨɞɟɥɢɬɶ ɩɨɩɨɥɚɦ. […] Ⱥ ɦɵ ɞɟɥɢɦ! Ɇɵ ɧɟ ɩɪɢɡɧɚɟɦ ɛɨɝɚɬɵɪɟɣ, ɩɨɬɨɦɭ ɱɬɨ ɷɬɨ ɪɭɫɫɤɢɟ ɫɤɚɡɤɢ. Ɇɵ ɧɟ ɩɪɢɡɧɚɟɦ Ȼɭɥɝɚɤɨɜɚ, ɩɨɬɨɦɭ ɱɬɨ ɨɧ ɩɨ-ɪɭɫɫɤɢ ɩɢɫɚɥ. […] ɇɭ ɩɨɱɟɦɭ, ɟɫɥɢ ɬɵ ɥɸɛɢɲɶ ɍɤɪɚɢɧɭ, ɧɭɠɧɨ ɨɛɹɡɚɬɟɥɶɧɨ ɧɟ ɥɸɛɢɬɶ Ɋɨɫɫɢɸ?!“ 30 „ȼɨɬ ɹ ɤɨɝɨ-ɬɨ ɥɸɛɥɸ ɨɱɟɧɶ ɫɢɥɶɧɨ, […] ɚ ɦɵ ɫ ɧɢɦ ɪɚɫɫɬɚɥɢɫɶ. ɂ ɦɧɟ ɛɨɥɶɧɨ, ɩɨɬɨɦɭ ɱɬɨ ɥɸɛɨɜɶ ɧɟ ɩɪɨɯɨɞɢɬ. Ⱦɟɪɠɢɬ. ɇɟ ɩɭɫɤɚɟɬ. ȼɟɞɶ ɧɚɫ ɫɬɨɥɶɤɨ ɫɜɹɡɵɜɚɟɬ... ɇɭ, ɤɚɤ ɍɤɪɚɢɧɭ ɫ Ɋɨɫɫɢɟɣ. […] ɂ ɜɨɬ ɤɨɝɞɚ ɬɟɛɟ ɡɚɯɨɱɟɬɫɹ ɟɝɨ ɭɛɢɬɶ, ɤɨɝɞɚ ɬɟɛɹ ɧɭ ɩɪɨɫɬɨ ɪɜɚɬɶ ɛɭɞɟɬ ɨɬ ɧɟɧɚɜɢɫɬɢ, ɥɸɛɨɜɶ ɫɨɠɪɟɬɫɹ ɫɚɦɚ ɫɨɛɨɣ. ɂ ɬɟɛɹ ɩɨɩɭɫɬɢɬ. […] Ɍɭɬ ɜɚɠɧɨ ɪɚɡɨɪɜɚɬɶ ɫ ɧɢɦ ɫɜɹɡɶ, ɩɭɩɨɜɢɧɭ, ɱɬɨ ɬɟɛɹ ɨɬ ɧɟɝɨ ɧɟ ɨɬɩɭɫɤɚɟɬ. Ⱥ ɩɨɬɨɦ, ɤɨɝɞɚ ɩɪɨɣɞɟɬ ɜɪɟɦɹ ɢ ɬɵ ɧɚɭɱɢɲɶɫɹ ɨɮɢɝɟɧɧɨ ɠɢɬɶ ɛɟɡ ɧɟɝɨ, ɬɵ ɫɦɨɠɟɲɶ ɜɨɫɩɪɢɧɢɦɚɬɶ ɟɝɨ ɜɩɨɥɧɟ ɚɞɟɤɜɚɬɧɨ. […] Ɍɚɤ ɢ ɫ Ɋɨɫɫɢɟɣ. ɉɪɨɣɞɟɬ ɜɪɟɦɹ, ɢ ɦɵ ɛɭɞɟɦ ɫɩɨɤɨɣɧɨ ɱɢɬɚɬɶ ɒɟɜɱɟɧɤɨ ɜ ɨɪɢɝɢɧɚɥɟ – ɩɨ-ɪɭɫɫɤɢ. ɂ ɩɪɢɡɧɚɜɚɬɶ, ɱɬɨ ɬɜɨɣ ɭɧɢɜɟɪɫɢɬɟɬ ɩɨɫɬɪɨɢɥ ɰɚɪɶ. ɗɬɨ ɭ ɧɚɫ ɩɪɨɫɬɨ ɡɚɬɹɧɭɜɲɢɣɫɹ ɫɢɧɞɪɨɦ ɪɚɫɫɬɚɜɚɧɢɹ.“

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sie eindeutig die ‚Russin‘ Mascha vor, im unfertigen dritten Roman tritt mehr die ‚Ukrainerin‘ Dascha in den Vordergrund. In Interviews gibt die Autorin selbst zu, dass sie ihre eigene Persönlichkeit in drei Figuren aufgespalten habe, die zusammen eine perfekte Lada Lusina bildeten. Zurzeit ist ihre Lieblingsfigur die geheimnisvolle Katja (Balagula 2011: o. S.), die sich keiner der beiden Seiten eindeutig zuordnen lässt. Ich komme zum Schluss, dass die Reihe „Die Hexen von Kiew“ zunächst eine große Angst vor dem ‚Ukrainischen‘ in Kiew erkennen lässt, ohne dies allerdings explizit zu entwerten. Es geht eher um eine große Unsicherheit und den Versuch, auch das ‚Russische‘ in Kiew aufzuwerten und so eine Balance zu schaffen. Das ist m.E. ein Zeichen dafür, dass die Autorin selbst schwankt und die Frage nach der Zugehörigkeit Kiews vorerst nicht zu beantworten vermag. Es ist unklar, ob sie sich für die Dominanz des Russischen in der Ukraine oder für die Koexistenz und den Austausch beider Kulturen einsetzt. Klar ist jedoch, dass sie ihre Stimme dafür erhebt, auch den Einfluss der russischen Sprache und Kultur in Kiew nicht zu ignorieren. Eine Stimme, die für Toleranz und kulturelle Vielfalt plädiert, „especially among a group of readers not always eager to accept it.“ (Christian 2001: 4) Die Tatsache, dass ihre „Hexen von Kiew“ immer neue Bände hervorbringen, während andere nicht zu Ende gebracht werden, spricht dafür, dass sie selbst noch auf der Suche ist. Man darf gespannt sein, wie diese Suche weitergeht.

B IBLIOGRAPHIE Balagula, Svetlana, 16.09.2011: ýetyre „Ja“ Lady Luzinoj ili Nekotorye tajny skandal’noj kievskoj ved’my [Vier Ichs von Lada Lusina oder Einige Geheimnisse einer skandalumgebenen Kiewer Hexe]. In: HajVej. http://h.ua/story/339970/#ixzz1iPZpTVGz (03.04.2012). Bhabha, Homi K., 1994: DissemiNation: Time, Narrative and the Margins of the Modern Nation. In: The Location of Culture. London-New York, 139-170. Christian, Ed, 2001: The Postcolonial Detective. Basingstoke u. a. Hnatjuk, Ola, 2004: Zwischen Ost und West – Über die ukrainischen Identitätsdebatten, in: Huddart, David, 2006: Homi K. Bhabha. LondonNew York.

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Kappeler, Andreas, 1994: Kleine Geschichte der Ukraine. München. Knight, Steven, 2006: Crimes Domestic and Crimes Colonial: The Role of Crime Fiction in Developing Postcolonial Consciousness. In: Matzke, Christine/ Mühleisen, Susanne: Postcolonial Postmortems: Crime Fiction from a Transcultural Perspective. Amsterdam, 17-33. Lusina, Lada, 2008a: Die Hexen von Kiew. München. Aus dem Russischen von Christine Blum. Übersetzung von Lusina 2008c. Luzina, Lada, 2008b [2004]: Kak ja byla skandal’noj žurnalistkoj [Wie ich eine Skandaljournalistin war]. Char’kov. Luzina, Lada, 2008c [2005]: Kievskie ved’my. Meþ i krest [Die Hexen von Kiew. Schwert und Kreuz]. Char’kov. Luzina, Lada, 2008d [2007]: Kievskie ved’my. Vystrel v Opere [Die Hexen von Kiew. Schuss in der Oper]. Char’kov. Luzina, Lada, 2008e: Kievskie ved’my. Recept mastera [Die Hexen von Kiew. Das Rezept des Meisters]. Die ersten acht Kapitel: http:// www.luzina.kiev.ua/index/master (03.04.2012). Luzina, Lada 2008f [2004]: Seks i gorod Kiev [Sex und Kiew]. Char’kov. Luzina, Lada: Persönliche Internetseite: http://www.luzina.kiev.ua/ (03.04.2012) Majnaja, Nadežda, 22.10.2010: Lada Luzina: Kiev poražaet menja tem, þto ne perestaet poražat’. [Lada Lusina: Kiew beeindruckt mich, indem es niemals aufhört mich zu beeindrucken.] In: Glavred, http://glavred. info/archive/2010/12/22/130200-0.html (09.04.2012). Makarska, Renata/ Kerski, Basil (Hg.): Die Ukraine, Polen und Europa. Europäische Identität an der neuen EU-Ostgrenze. Osnabrück, 91-115. Matzke, Christine/ Mühleisen, Susanne, 2006: Postcolonial Postmortems. Issues and Perspectives. In: Dies. (Hg.): Postcolonial Postmortems. Crime fiction from a Transcultural Perspective. Amsterdam-New York. 1-16. Merivale, Patricia/ Sweeney, Susan Elisabeth (Hg.), 1999: Detecting Texts: The Metaphysical Detective Story from Poe to Postmodernism. Philadelphia. Metzeltin, Michael, 1998: Identität und Sprache: Eine thesenartige Skizze. In: newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, 1,1, 6-9. O.A.: Korrespondent nazval luþšuju ukrainskuju knigu [„Korrespondent“ nannte das beste ukrainische Buch] 10.07.2008. In: Korrespondent.net:

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Tod in Moskau oder Das Paradies der armen Frauen D ORIS B ODEN

P RODESSE

ET DELECTARE

Die in Moskau lebende Krimiautorin Aleksandra Marinina (eigentlich Marina Anatol’evna Alekseeva, *16.6.1957 in L’vov) ist eine bemerkenswerte Frau. Laut den auf ihrer Website (www.marinina.ru) präsentierten Informationen nicht nur musisch begabt und intelligent, stellt sie ihre Fähigkeiten zudem in den Dienst der Allgemeinheit: Als Kriminologin verfasste sie mehrere Studien zur Persönlichkeit von Verbrechern, zur Verbrechensprävention sowie zum Verhältnis von Verbrechen und Rechtsprechung und bekleidet inzwischen den Rang eines Oberstleutnants der Miliz. Kriminalgeschichten und -romane schreibt sie seit Anfang der 1990er Jahre und wurde für diese Werke u. a. als „Schriftstellerin des Jahres“ (1997) und als „Schriftstellerin des Jahrzehnts“ (2006) geehrt. Die (Selbst-)Darstellung auf ihrer Website wird durch Medienberichte ergänzt. So heißt es etwa, die Zeitschrift „Kul’t liþnosti“ [Personenkult] habe Marinina unter die 25 einflussreichsten Personen des Landes gewählt. Zitiert wird die Begründung der Zeitschrift – eine Würdigung der aufklärerischen Funktion der Autorin: [D]ie enormen Auflagen der Kriminalromane von Aleksandra Marinina (M. A. Alekseeva) verkaufen sich augenblicklich – was sie faktisch zur Herrscherin über Millionen von Köpfen macht. In unaufdringlicher Weise befestigt sie in diesen die Ideen der Demokratie, eines gemäßigten Feminismus und der Korrumpierbarkeit der Macht. (www.marinina.ru/about/ [20.5.2011]: o. S. Übersetzung D. B.)

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Eine solche Würdigung muss jeden an Literatur Interessierten freuen, wird deren Wirkmächtigkeit allgemein doch als eher gering angesehen. Andererseits ruft die hier beschriebene Infiltration von (aufgeklärten) Ideen in die Gehirne der dies bereitwillig akzeptierenden Leser unangenehme Erinnerungen hervor, werden Indoktrinationen dieser Art in der europäischen Geschichte des 20. Jh.s doch vielfach mit totalitären Regimen in Verbindung gebracht. Doch begegnen sie selbst in der Geschichte des Kriminalromans, wie Norbert Franz in seiner Arbeit über den russisch-sowjetischen Kriminalroman (1988) darlegte: In der Sowjetunion gab es seit den 1950er Jahren das Bestreben eine unter staatlicher Kontrolle stehende sowjetische Populärliteratur zu installieren. Den Prämissen des sozialistischen Realismus folgend, sollte diese vor allem eine Erziehungsfunktion erfüllen und dem Leser sozialistische Werte vermitteln. Seit den politischen Umwälzungen Ende der 1980er Jahre hat der russische Kriminalroman eine grundlegende Veränderung erfahren. Diese ist zunächst als eine Anpassung an die neuen ökonomischen Verhältnisse und als derart radikale Entwicklung beschrieben worden, dass man sie als Russian Reading Revolution bezeichnete (Lovell 2000). Stephen Lovells Untersuchung zufolge verdrängten seit der Deregulierung des russischen Buchmarkts seit 1991 zunehmend – anfangs aus dem Westen stammende – Kriminalromane, Ökonomie- und Managementlehrbücher sowie Erotika die traditionellen Genres (z. B. russische Klassiker), russische Produktionen – ebenfalls aus dem Bereich der Populärliteratur (besonders Kriminalromane, historische Romane, Liebesromane und Fantasy) folgten nach. Diese werden massenweise rezipiert und nehmen inzwischen eine Stellung innerhalb der russischen Literatur ein, die derjenigen in westlichen Ländern vergleichbar ist. Marinina ist die erfolgreichste Autorin in einer ganzen Riege von Krimiautorinnen, die sich seit Beginn der 1990er Jahre in der russischen Literatur etablieren konnten.1 Während sowjetische Kriminalromane ausschließlich von Männern verfasst wurden und ihre Protagonisten vor allem Männer waren (vgl. z. B. Franz 1988), begannen in den 1990er Jahren Frauen – allen voran Marinina – Kriminalromane zu schreiben und ihre Figuren waren ebenfalls weiblich. Entsprechend wurde die Detektivin in Marininas Krimiserie, Anastasija Kamenskaja, auch in der slawistischen

1

Zu diesen Autorinnen zählen u. a. Polina Daškova, Viktorija Platova und Darija Doncova.

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DER ARMEN

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Forschung unter Genderaspekten diskutiert: u. a. als emanzipierte Frau, deren provokationslose Haltung eine Normalisierung im Geschlechterverhältnis erlaube2. Hartmute Trepper fasst die russische Literaturkritik zusammen: Im Konzept dieser Figur [= Kamenskaja], die als selbst genügende und zugleich geachtete Frau jenseits des ‚traditionellen Frauenprogramms von Ehe, Kindern und heimischem Herd‘ gezeichnet wird, soll eine Art ‚neurussischer Popularfeminismus‘ zum Ausdruck kommen. Darüber hinaus wird Kamenskaja als Neuauflage der sowjetischen ‚Heldin der Arbeit‘ gesehen, bewußt dem von der Werbung forcierten Bild der ‚privatisierten‘ post-sowjetischen Frau, deren Selbstwertgefühl von den Erfolgen ihres Ehemanns abhängt, gegenübergestellt. (Trepper 2000: 244 f.)

Trepper selbst schließt sich dieser Einschätzung zumindest teilweise an.3 Birgit Menzel konstatiert Marininas emanzipativen Impetus als Fakt, den zu belegen oder argumentativ zu begründen, sich zu erübrigen scheint (Menzel 2000: 239). Dieser positiv gedachten Zuschreibung werden weitere an die Seite gestellt. Am häufigsten begegnet die Feststellung, Marininas Romane tendierten zu einer Relativierung der Vorstellung von Freund und Feind oder könnten, wie Menzel es ausdrückt, „zu einer differenzierten Betrachtung ethischer Wertmaßstäbe von Gut und Böse“ verhelfen (Menzel 2000,

2

So schreibt beispielsweise Elena Trofimova: „her [Marinina’s] protagonist – a woman detective, Anastasia Kamenskaya, ignores many patriarchal gender taboos, practically executes a pro-feminist way of life, rejecting totalitarian masculine control. Kamenskaya’s personality probably attracts readers because she symbolizes a new stage of the ,feminist revolution‘ which is under way in contemporary Russia.“ (Trofimova 2002: 35)

3

„Verallgemeinernd kann an dieser Stelle nur soviel gesagt werden, daß die Protagonistinnen der ersten erfolgreichen Autorinnen Marinina, Daškova und Poljakova jede auf ihre Weise ‚starke Frauen‘ darstellen: Frauen, die selbstkritisch gegenüber ihren ‚schwachen Seiten‘ und in der Auseinandersetzung mit äußeren Herausforderungen neue Kräfte und eine neue Eigenständigkeit entwickeln. Dabei ist ihre Kollision mit Konventionen und Rollenvorstellungen der patriarchalischen Gesellschaft unvermeidlich; sie wird in den schon genannten Romanen konstitutives Element der den Texten zugrundeliegenden Phantasie, der ‚Moral der Geschichte‘.“ (Trepper 2000: 245)

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vgl. auch Engel’-Braunšmidt 2002: 109, Olcott 2001: 81 f., Koreneva 2005: 98).4 Diese Auffassung basiert darauf, dass in Marininas (und anderen russischen) Kriminalromanen der 1990er Jahre die Mörder vielfach selbst getötet werden, wodurch die Differenz zwischen Opfer und Täter verwischt werde. Auch wird ihnen nachgesagt, dass sie eine Beispielfunktion hätten, die dem Leser die Fähigkeit vermittle zu unterscheiden, was richtig und was falsch sei (Schlüchter 2005). Die Unterstützung, die der Leser durch das Lesen russischer Kriminalromane erhalte, reiche bis hin zu praktischen Tipps für alle Lebenslagen (Mencel’ 2000, Menzel 2000, Petrova 2002). Vor allem aber wird den Romanen ein aufklärerischer Impetus attestiert: Marinina treats her readers just as a good and kind teacher would treat her students who need support, advice and guidance. Marinina, who holds an optimistic and practical worldview, attempts to answer such questions as: „What is to be done?“ and „How is one to live?“ She strives to show that a better life in the modern world is possible, and tries to help her reader achieve it. Marinina writes a contemporary Bildungsroman with the elements of a soap opera – she aims to educate while entertaining. (Viševskij 2002: 152)5

Marininas Romane repräsentieren demnach im Grunde eine (Spät-)Form des in der Rede von prodesse et delectare zum Ausdruck kommenden bürgerlichen Bildungsideals. Die Hervorhebung dieser Spezifik russischer Kriminalromane im Vergleich zu ihren westlichen Pendants findet ihren Niederschlag auch in der Gattungsdiskussion. So wehrt sich beispielsweise Marina Koreneva gegen die Adaptation der allgemeinen Gattungsdefinition für den russischen Kriminalroman und schlägt ein eigenes Modell vor (Ko-

4

„Besonders im Frauen-Detektivroman werden traditionelle, auch sowjetische weibliche Rollenschemata nicht selten ironisch-spielerisch unterlaufen: Detektivinnen sind häufig ehemalige Profis aus künstlerischen Berufen, Schauspielerinnen oder Musikerinnen. Schematische Vorstellungen von Verbrechern und Außenseitern, Guten und Bösen werden teilweise aufgebrochen […]. Diese Romane können somit im postsowjetischen Kontext zur Individualisierung und rationalen Bewältigung der neuen Wirklichkeit, aber auch zu einer differenzierten Betrachtung ethischer Wertmaßstäbe von Gut und Böse beitragen.“ (Menzel 2000: 239)

5

Vgl. z. B. auch Menzel (2000: 239).

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DER ARMEN

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reneva 2005). Aber auch jenseits solch weitgehender Ideen, wird die Charakteristik des russischen Kriminalromans der 1990er Jahre gegenüber nichtrussischen Produktionen betont (Olcott 2001: 114 f.). Und in der Tat erscheint zweierlei als Spezifikum dieser Texte: einerseits die ausgeprägte thematische Fokussierung auf Verbrechen im Umkreis der Mafia, der sogenannten Neuen Russen, auf Korruption und politische Intrigen, andererseits die überwiegende Situierung der Handlung in Moskau. Dabei legt die Konzentration auf Moskau als Ort, an dem politische Verbrechen verübt und aufgeklärt werden, die Frage nahe, inwieweit eine Parallele zwischen Marinina und westlichen Autoren zu ziehen wäre, die sich verstärkt mit politischen und/oder sozialen Thematiken auseinandersetzten. Man denke etwa an Friedrich Glauser und Friedrich Dürrenmatt 6 oder das schwedische Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö.7 Dass die Spezifik der Romane Marininas in diesem Bereich zu sehen sein könnte, legen zumindest die erwähnten slawistischen Einschätzungen nahe. Im Folgenden soll es daher darum gehen, die evidente Fokussierung auf Moskau und die thematische Spezifik von Marininas Verbrechen und Verbrechern einer zweiten Befragung hinsichtlich ihrer emanzipativen Implikationen zu unterziehen – und zwar vor dem Hintergrund ihrer massenhaften Rezeption. Dazu sollen drei Romane Marininas herangezogen werden: „Igra na þužom pole“ ([Spiel auf fremdem Feld] 1994; dt.: „Auf fremdem Terrain“) ist zugleich Anastasija Kamenskajas 1. Fall, „Ubijca ponevole“ ([Mörder wider Willen] 1995; dt.: „Der Rest war Schweigen“) ihr 2. und „Ne mešajte palaþu“ ([Stören Sie den Henker nicht] 1996; dt.: „Die Stunde des Henkers“) ihr 5. Fall.

M ARININAS R OMANE In „Igra na þužom pole“ fährt Anastasija Kamenskaja, die in Moskau lebt und als Polizistin arbeitet, zu Erholung in ein Sanatorium, das in unmittelbarer Nähe einer nicht namentlich genannten Stadt liegt. Deren Wohlstand wird nicht von städtischen Organen, sondern von dem Kriminellen Ơduard Petroviþ Denisov gesichert, dem es gelungen ist, alle seine Konkurrenten

6

Hierzu vgl. Gasser/ Pellin/ Weber (2009).

7

Hierzu Brönnimann (2004).

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auszuschalten. Allerdings hat er schon seit einiger Zeit bemerkt, dass in der Stadt etwas vorgeht, was sich seiner Kontrolle entzieht. Einer seiner Männer wird umgebracht und im Sanatorium geschieht ein weiterer Mord. Damit ist allerdings Denisovs ‚System‘ bedroht: Um seine Position zu halten, d. h. aufsässige oder aufstrebende ‚Kollegen‘ zum Schweigen zu bringen, schreckt Denisov auch vor drastischen Mitteln nicht zurück – einschließlich der Beseitigung unliebsamer Konkurrenten. Solche Morde dürfen selbstverständlich nicht mit Denisov in Zusammenhang gebracht werden, in der Regel bleiben sie unaufgeklärt. Wenn jedoch die Mordaufklärungsrate in der Stadt zu sehr sinkt, wird das Innenministerium in Moskau aufmerksam, was Denisov um jeden Preis vermeiden will. Seiner Erfahrung nach sind maximal vier unaufgeklärte Morde pro Jahr in der Stadt unauffällig. Da Denisov in diesem Jahr bereits drei solcher Morde ‚verbraucht‘ bzw. ‚verplant‘ hat, beginnt er, zusammen mit der örtlichen Polizei die Aufklärung der Morde im Sanatorium voranzutreiben. Über die Polizei kommt der Kontakt zu Anastasija zu Stande und Denisov bittet sie, für ihn zu ermitteln. Obwohl sie von Denisovs Machenschaften weiß, lässt sie sich auf die Zusammenarbeit ein, mit dem Argument, einen Mord aufzuklären, sei etwas Gutes und darin bestehe sozusagen Denisovs moralische Integrität. Im Zuge ihrer Ermittlungen stellt sich heraus, dass im Sanatorium Männern mit abartigen sexuellen Neigungen von einer Gruppe scheinbar ehrbarer Personen gegen Bezahlung Minderjährige oder Frauen zugeführt werden, um diese zu misshandeln und/oder zu töten. Diese Personen werden als eigentliche Verbrecher identifiziert, festgenommen bzw. im Zusammenhang mit der Befreiung der Opfer getötet. Die Handlung von „Ubijca ponevole“ ist mit derjenigen von „Igra na þužom pole“ insofern verknüpft, als Anastasija sich hier für die Lösung eines privaten Falls der Hilfe Denisovs bedient, die er ihr offensichtlich als Kompensation für ihre Unterstützung angeboten hatte. In „Ubijca ponevole“ kommt es zu einer Überlagerung mehrerer Verbrechen. Einerseits bringt ein General zwei Männer um, die vor 10 Jahren noch minderjährig und daher noch nicht straffähig seinen Sohn getötet hatten. Einem dritten, der in den Mord involviert war, ist er auf den Fersen. Dieser dritte Mann gehört einer Gruppe von Kriminellen an, die mehr oder weniger legale, vor allem aber illegale Waren verkaufen und, um sich ihre Marktdominanz zu sichern, auch vor Gewaltverbrechen nicht zurückschrecken. Als Anastasijas zukünftige Schwägerin durch ein Missverständnis ins Visier dieser Organi-

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sation gerät, bittet Anastasija Denisov, die Kriminellen beschatten zu lassen. Der am Tod des Generalssohns Mitschuldige dritte realisiert, dass er verfolgt wird, und beschließt seinem potenziellen Mörder zuvorzukommen. Er tötet den General und einen von Denisovs Leuten, der dem General zu Hilfe kommen wollte. Am Ende wird noch mitgeteilt, dass die Polizei dabei ist, die Bandenmitglieder zu fassen. Anastasijas Sympathien liegen einerseits auf Seiten Denisovs sowie seiner Leute, besonders des Mannes, der am Ende getötet wird, andererseits zeigt Anastasija Verständnis für das Handeln des Generals. Dass dieser stirbt, scheint im Roman eher seinem Schutz, praktisch um zu verhindern, dass er sich eines weiteren Mordes schuldig macht, zu dienen. Auch werden seine Verbrechen nach seinem Tod öffentlich nicht weiter thematisiert. Die Bandenmitglieder dagegen werden eindeutig negativ dargestellt, sie sind die Art von Verbrechern, die der schonungslosen Härte des Gesetzes auszuliefern sind. Die Handlung dieses Romans ist vollständig in Moskau situiert, wobei einzelne Orte meist nicht herausgehoben werden, sondern eher den Handlungshintergrund abgeben. Die Stadt bleibt jenseits der beim Rezipienten vorauszusetzenden topographischen und sozialen Kenntnisse weitgehend unspezifisch. In „Ne mešajte palaþu“ sind zwei Gruppen von Figuren zu unterscheiden. Die einen gehören zur hart arbeitenden Bevölkerung, die unter schwierigen Bedingungen leben. Zu ihnen zählen in erster Linie Anastasija selbst, die mit den Banalitäten und Problemen des russischen Alltags konfrontiert ist: Sie wird nicht pünktlich bezahlt, hat finanzielle Probleme und einen geringen Lebensstandard. Die zweite Gruppe ignoriert soziale Normen und Werte. Aus ihr rekrutieren sich sowohl die Verbrecher als auch ihre Opfer. Sie gehören entweder Regierungskreisen an oder wurden von diesen engagiert: Die eigentliche Handlung besteht darin, dass einige Regierungsmitglieder versuchen, die Regierung, vor allem den Präsidenten, unter ihre Kontrolle zu bringen. Hierfür heuern sie eine Gruppe von Auftragskillern an, die andere Regierungsmitglieder töten soll. Die Auftragskiller, eine ehemalige Sonderheit des KGB, bedient sich hierfür der Hypnose: Die von ihnen hypnotisierten Personen bringen entweder sich selbst oder eine andere Person um. Als jedoch einer der Auftragskiller im Fernsehen die Verwandten einiger seiner Opfer sieht, realisiert er seine Schuld und beginnt in einem Wiedergutmachungsfeldzug seine Auftraggeber zu töten. Als er die Sinnlosigkeit seines Unternehmens begreift – es gibt schlicht zu viele Schuldige, die zu töten wären –, begeht er Selbstmord. Durch diesen Selbst-

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mord klären sich alle zuvor begangenen Verbrechen (mehr als ein Dutzend Morde!) praktisch von selbst auf. Die zentralen Handlungselemente auch dieses Romans sind auf Moskau fokussiert. Zwar werden hier auch andere russische Städte thematisiert, in ihnen wird die eigentliche Handlung, d. h. hier die Verbrechen und ihre Aufklärung, jedoch eher nur vorbereitet, zudem sind sie Durchgangsstationen der Protagonisten auf dem Weg nach Moskau. Die Darstellung Moskaus wie auch die der anderen Städte bleibt auch hier weitgehend unspezifisch.

F UNKTIONEN

VON

R AUMDARSTELLUNG

Betrachtet man die narrative Repräsentation des Raums in Marininas Romanen so fällt auf, dass konkrete Raumdarstellungen wenig greifbar bleiben. In den dieser Untersuchung zugrundegelegten Texten wird die Handlung durchweg in einem städtischen Raum verortet. Einerseits ist dieser durch die Nennung konkreter realer Städte (Moskau, Samara, Ekaterinburg, Uralsk) oder durch die allgemeine Bezeichnung ‚Stadt‘ gegeben, wie im Fall der namentlich nicht näher bezeichneten Stadt in „Igra na þužom pole“. Andererseits sind die einzelnen von den Figuren aufgesuchten Räume weitestgehend urban: Erwähnt werden Flughäfen, Bahnhöfe, Straßen, städtische Verkehrsmittel sowie städtische Wohnhäuser, daneben finden sich Ämter, Hotels, Restaurants, Kaufhäuser, Theater, Rathäuser etc. Eine Binnenstrukturierung der Stadt ist mittels dieser urbanen Raumelemente angedeutet, ohne dass sie en detail ausgeführt wäre. In „Ubijca ponevole“ beispielsweise werden die Stadtteile genannt, in denen drei der Figuren wohnen, um deutlich zu machen, dass zwischen den Wohnorten eine größere Distanz liegt. Die einzelnen Orte, welche die Figuren aufsuchen, sind kartographisch nicht zu erfassen. Zumindest wären auf einer entsprechenden Karte nur sehr wenige konkrete Orte verzeichnet und beispielsweise die Bewegung der Figuren dennoch nicht nachvollziehbar. Oft wird nicht einmal mitgeteilt, wo sich eine Person befindet. Das Sanatorium in „Igra na þužom pole“ weist eine vage Binnenstrukturierung auf, die ebenfalls eher urbane, zumindest aber hotelartige Züge trägt: Schwimmbad, Bar, Kinosaal, Speisesaal, Zimmer und Suiten, zudem hat das Gebäude mehrere Etagen und ist von einem Park umgeben.

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Durch die in den Texten nur genannten urbanen Elemente und die angedeutete Binnenstrukturierung wird insofern keine Stadt beschrieben, ein Eindruck von Stadt wird jedoch evoziert. Es wird auf eine hinter den Texten liegende Raumstruktur rekurriert, die explizit nicht realisiert ist. Die Raumdarstellung bei Marinina geht damit auf eine Alltagsvorstellung von Raum zurück, womit Katrin Dennerlein meint, dass im Alltag „so kommuniziert [wird], als ob es einen Raum gäbe, der den Lebewesen und Gegenständen vorgängig sei – die Frage, ob es sich tatsächlich so verhält, bleibt davon unberührt.“ (2009: 71) Entsprechend der Studie von Dennerlein kann Raumvorstellung in narrativen Texten modifiziert werden. Ihre wesentlichen Merkmale sind: Wahrnehmungsunabhängigkeit, Diskretheit und eindeutige Zuordnung von Menschen und Gegenständen zu einem bestimmten Raum. Mit anderen Worten wird in narrativen Texten auf Alltagsvorstellungen von Raum zurückgegriffen. Der Raum muss nicht explizit dargestellt werden, d. h. er ist wahrnehmungsunabhängig und wird als dem konkreten Rezeptionsakt vorgängig gedacht. Seine Darstellung ist ‚diskret‘, d. h. es wird weder explizit auf den Raum noch auf dessen Darstellung hingewiesen. Das Konzept einer auf Alltagsvorstellungen zurückgehenden Raumdarstellung ist hier insofern relevant, als es mit Bedingungen für die Bildung von Illusion in narrativen Texten korreliert werden kann: Werner Wolf beschreibt in seiner Arbeit zur „Ästhetischen Illusion und Illusionsdurchbrechung“ Illusion als Erleben einer Quasi-Realität, als äquivalent zu lebensweltlicher Wahrnehmung (z. B. Wolf 1993: 31). Als wichtigstes illusionsbildendes Element bestimmt er die Heteroreferenzialität: das „allgemeine […] Verweisen des Textes über sich hinaus“ (Wolf 1993: 203), womit er die Schaffung des Eindrucks einer vom Text unabhängigen Wirklichkeit oder Scheinrealität meint. Wenn also in Marininas Romanen von einer in Dennerleins Sinne ‚diskreten‘ Darstellung der Stadt gesprochen werden kann, so hat dies unter anderem die Funktion, beim Rezipienten auf der Ebene der Raumdarstellung eine narrativ konstituierte Illusion zu erzeugen. Zur geographischen Festlegung auf Moskau ist wie bereits angesprochen festzustellen, dass für die postsowjetischen russischen Kriminalromane nicht nur die Situierung in Moskau, sondern auch die Konzentration auf Verbrechen in einem bestimmten Umfeld typisch ist: Dabei wird im Besonderen auf die Mafia, neuen Reichtum, Korruption, Machtgier, politische Intrigen, Prostitution und Pornographie abgehoben. Mit dieser Kombi-

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nation scheint das Moskau der russischen Kriminalromane durchaus auf das reale Moskau mit einem realen gesellschaftspolitischen Hintergrund zurückzugehen: In Moskau ist der größte Teil des russischen Kapitals konzentriert – man findet die Information, dass dies etwa 80 % des Finanzpotenzials des Landes betrifft. Moskau ist eine der weltweit teuersten Städte. Die 1990er Jahre sind das Jahrzehnt der Oligarchen, der durch unternehmerische Aktivitäten und Verbindungen mit der korrupten russischen Regierung auf Kosten weiter Teile der einfachen Bevölkerung unsagbar reich gewordenen russischen Elite. Die ‚Realität‘ Moskaus in den Romanen Marininas als reine Reduplizierung der immer gleichen Thematik erscheint allerdings fraglich. Das möchte ich kurz erläutern: Kriminalromane werden nicht für die Superreichen geschrieben. Der Durchschnittsrusse war in den 1990ern durch den Zusammenbruch der Planwirtschaft mit einer problematischen wirtschaftlichen Situation individuell konfrontiert: Löhne, Gehälter und Renten wurden nicht mehr ausgezahlt, der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sank, es kam zu landesweiten Demonstrationen und Streiks (Fischer Weltalmanach 1997: 605 f.). Aber das soziale Ungleichgewicht wurde nicht einfach in dem Maße größer, wie man es aus Westeuropa kennt, sondern der Zwiespalt besteht zwischen einer von existenziellen Ängsten geplagten Bevölkerung und den über Privatvermögen in Milliardenhöhe (Dollar) verfügenden Angehörigen der Oberschicht. Man muss daher davon ausgehen, dass mit Moskau in den Kriminalromanen nicht nur das reale Moskau angesprochen ist, sondern die Stadt zur geographischen Chiffre für einen gesellschaftlichen Prozess wird. In Moskau konzentriert sich nicht nur das russische Kapital, vielmehr wird mit dieser Stadt die Vorstellung von sozialem Aufstieg, Reichtum und einem sorgenfreien Leben stereotyp assoziiert. Die Kriminalromane greifen dabei gleichzeitig auf dieses Stereotyp zurück und, indem sie dies tun, bestätigen es. Ulrich Suerbaum beschreibt in seiner Gattungsanalyse des Kriminalromans ein vergleichbares Phänomen, wenn er davon spricht, dass in solchen Texten neben Verbrechen, Ermittlung und Lösung weitere Informationen vermittelt werden. Diese Zusatzinformationen sind meist mit dem Protagonisten verknüpft und implizieren soziale Normen und Haltungen einer bestimmten Epoche. So weist er beispielsweise auf die Darstellung eines Wandels sozialer Werte anhand der Figur des Sherlock Holmes hin, der als Vertreter eines neuen Bildungsideals mit dem klassischen Bildungsideal der

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Mittelklasse bricht (Suerbaum 1984: 54 f.). Darüber hinaus gehören laut Suerbaum die Figuren häufig entweder den höchsten oder niedrigsten sozialen Schichten an, sodass sie für einen Durchschnittsleser einerseits nicht greifbar, andererseits aber interessant sind (Suerbaum 1984: 71). Solche Sekundärinformationen haben grundsätzlich zwei Funktionen: Erstens reproduzieren sie soziale Fakten und zweitens entsprechen diese lediglich einem kleinen Teil einer weitaus komplexeren Realität: Das heißt, nur bestimmte soziale Schichten werden überhaupt betrachtet und die Funktion dieser Betrachtung liegt nicht in der Repräsentation einer Realität, in der Information über soziale Fakten oder dergleichen, sondern dient im Schema des Romans der Erzeugung von Interesse und von Identifikationspotenzial und ist somit eine Manipulation des Lesers. Bezogen auf Marininas Kriminalromane ist hier zunächst der Aspekt der Interessantheit und Fremdheit der handelnden Figuren anzusprechen: Die ‚Neuen Reichen‘, Politiker und die Mafia, in deren Umfeld die Verbrechen sämtlich angesiedelt sind, gehören aus der Perspektive eines Durchschnittslesers einer anderen sozialen Schicht an. Darüber hinaus beinhaltet die mit Moskau in Verbindung zu bringende Bereicherung einiger Weniger auf Kosten der breiten Masse, die in einem Zeitraum von nur wenigen Jahren erfolgte, sozialen Sprengstoff. Wenn hier also gerade Angehörige der Gruppe im Fokus des Erzählens stehen, die das russische Staatsvermögen mit wahrscheinlich unlauteren Mitteln unter sich aufgeteilt haben und sich damit den Status einer gesellschaftlichen Elite über Jahre und Jahrzehnte hinaus sichern wollten, ist dies damit zu erklären, dass ihr unvorstellbarer Reichtum Neid und Hass erzeugte. Die Ungerechtigkeit, die in dieser spektakulären Umschichtung von Vermögen lag, verlangt jedoch nach Kompensation. Moskau als prototypisches Bild der Verknüpfung eines sozialen Status mit einem konkreten Ort scheint daher als Plattform für entsprechende Geschichten geradezu prädestiniert zu sein. Die Interessantheit des fremden Milieus wird hier also mit der affektiven Besetzung der Figuren, die auf reale Erfahrungen der russischen Leser rekurriert, verknüpft. Insgesamt wird damit die Intensität der emotionalen Komponente des Rezeptionsakts noch einmal gesteigert. Illusionstheoretisch gesehen ist die Interessantheit (der Figuren) ein in starkem Maße illusionsfördendes Element (Wolf 1993: 175). Der Illusion selbst schreibt Wolf ganz elementar eine vorwiegend nichtrationale, sinnliche Qualität zu (1993: 42). Mit anderen Worten: Illusionsbildung greift ganz grundsätzlich auf affektbesetzte

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inhaltliche Elemente zurück (Wolf 1993: 180). Diese illusionsfördernden Elemente in Marininas Texten lassen sich wiederum mit den oben bereits diskutierten illusionsbildenden Elementen der diskreten Raumdarstellung in Verbindung bringen und zwar insofern, als sich hinsichtlich der vagen Darstellung städtischen Raums ebenso wie hinsichtlich der Konzentration der Handlung auf Moskau als Stereotyp gesellschaftlichen Aufstiegs konstatieren lässt, dass hier jeweils vorwiegend solche Elemente zum Tragen kommen, die Illusionsbildung fördern.

O PFER

UND

T ÄTER –

ETHISCHE

D IMENSION

Über den Mord durch den Biss einer mittels einer Pfeife gerufenen Schlange in Arthur Conan Doyles „The Adventure oft the Speckled Band“ schreibt Suerbaum: Ähnlich paradox verhält es sich mit dem Eindruck der Plausibilität. Die Mehrzahl der Leser akzeptiert beim ersten Lesen den ermittelten Tathergang ohne das Gefühl der Ungereimtheit oder Unwahrscheinlichkeit, obwohl es absurd ist, wenn man ihn im Lichte der Realität betrachtet. Dr. Roylotts Schlangennummer ist nicht nur eine aberwitzige umständliche Mordmethode, sondern auch ein zoologisch unmöglicher Dressurakt. Schlangen können keine Pfeife hören und trinken keine Milch. Sowohl die Glaubwürdigkeit als auch das Beieinander von Überraschung und Bestätigung sind Phänomene der sprachlichen Kommunikation. Ihre Begründung liegt nicht in den fingierten Fakten der Geschichte, sondern in ihrer Konstruktion als Text. (1984: 65)

Übertragen auf Marininas Romane und ihren Rückgriff auf Angehörige der Oberschicht bedeutet dies, dass es hier ebenfalls nicht um die Darstellung sozialer Realität geht, sondern um die Erzeugung von Interesse und damit von Illusion, was allerdings nicht heißt, dass die ‚Anwesenheit‘ solcher Figuren in den Texten keine weitere Funktion hätte. Welche dies sein kann, soll im Zusammenhang mit den Texten selbst geklärt werden. Wie sich bereits in der kurzen Wiedergabe der Texte angedeutet hat, liegt in allen drei hier vorgestellten Romanen eine Parallelität von Verbrechen vor. Es gibt nicht den einen Mord oder eventuell die Mordserie eines Täters, die aufgeklärt würden, vielmehr überlagern sich die Verbrechen

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verschiedener Täter, die jedoch mit unterschiedlichen Wertungen versehen werden: Offensichtlich gibt es ‚böse‘ und ‚gute‘ – oder zumindest weniger ‚böse‘ – Verbrecher. Die Bösen müssen bestraft werden, entweder indem sie gefasst und mit einer negativen moralischen Wertung versehen oder indem sie selbst Opfer eines Verbrechens werden. Der Mord an ihnen erscheint dabei als gerechte Bestrafung für ihre Verbrechen. Die Verbrechen der ‚guten‘ Verbrecher dagegen werden entweder nicht thematisiert oder legitimiert. Denisovs geplante Morde werden in „Igra na þužom pole“ zwar erwähnt, im Roman allerdings weder ‚begangen‘ noch weiter beachtet. Die Morde des Generals in „Ubijca ponevole“ sind Taten, die der General selbst nicht begehen will – wie der Titel des Romans verdeutlicht: Sie sind quasi unvermeidbare Selbstjustiz, da die Justiz bei der Verfolgung der Mörder seines Sohns versagt hatte. Nach dem Tod des Generals, den einer der (eigentlichen) Verbrecher verursacht hatte, folgt eine ausführliche öffentliche Würdigung des Generals bei seiner Trauerfeier: Seine Ehre bleibt unangetastet, sein Tod ist keine Bestrafung, sondern eine Rettung aus einer unerträglichen Situation: Er bewahrt ihn davor, weiter zu morden. Besonders in „Ne mešajte palaþu“ kommt es zur vollständigen Überschneidung von Opfern und Tätern. Die Auftraggeber der Morde werden zu Opfern des von ihnen selbst gedungenen Mörders. Lediglich dieser Mörder findet im Text aufgrund seiner moralischen Wandlung ein gewisses Verständnis: Zumindest ein Teil seiner Morde sühnt die zuvor begangenen Verbrechen. Der Mörder wird hier zwar nicht in dem Maße positiv gesehen wie der General in „Ubijca ponevole“, aber sein Selbstmord enthebt seine Verfolger seiner moralischen und realen Verurteilung – er wird dieser mit einem Kunstgriff entzogen. Diese textimmanente Bewertung der Figuren nach jeweils anderen moralischen Maßgaben, diese Doppelmoral Marininas zeigt sich auch in der Beschreibung der ‚Stadt‘ in „Igra na þužom pole“. Im Gegensatz zu Moskau herrscht hier Ruhe und Ordnung, quasi ein geregeltes Leben:

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In der STADT […] herrschte Frieden, Ruhe und Ordnung. Die Wirtschaft florierte, die Preise in den Geschäften hielten sich in Grenzen, die Verbrechensrate war im Vergleich zu den gesamtrussischen Zahlen lächerlich niedrig. Auf die öffentlichen Verkehrsmittel war Verlaß, die Straßen wurden instand gehalten, der Bürgermeister machte der Bevölkerung Versprechen und hielt sie auch. (Marinina 2000: 17. H. i. O.)8

Diese implizite Kritik an den Moskauer Zuständen wird allerdings durch die Art und Weise, wie die Ordnung in der Stadt herbeigeführt wurde, konterkariert. Die Moskauer Zustände sind hier auf die Spitze getrieben. Es sind ja nicht die mafiösen Strukturen, die kritisiert werden, sondern bestenfalls ihre zu wenig konsequente und zu wenig zentralisierte Ausführung. Nur scheinbar wird die Moskau beherrschende Korruption und Gewalt angeprangert. Die Stadt ist eine Art Insel der Kriminellen im Meer der Korruption. Mittels der Stadt wird die Realität zur harmlosen Idylle verklärt. In Marininas Romanen werden Verbrechen zur Herstellung von ‚Recht und Ordnung‘, als Selbstjustiz oder Vergeltung legitimiert. Dabei erfolgt eine Bestrafung der ‚Neuen Reichen‘, korrupter Politiker und des organisierten Verbrechens. Diese ist in den Texten so omnipräsent, dass nicht mehr nur von einer Bestrafung für ein konkretes begangenes Verbrechen gesprochen werden kann, die Bestrafung erfolgt vielmehr aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht. Dabei wird natürlich die Höchststrafe gefordert – besonders deutlich in „Ne mešajte palaþu“, wo Angehörige dieser Schicht dutzendweise hingerichtet werden. Aus illusionstheoretischer Sicht habe ich bereits auf die Heteroreferenzialität des Raums, die potenzierte Interessantheit der Geschichte aufgrund der Situierung des Verbrechens in einem bestimmten sozialen Milieu, die über den Rückgriff auf das reale Moskau erfolgt, sowie die extrem zu nennende Affektbesetzung, die auf eine extreme soziale Ungerechtigkeit zurückzuführen ist, hingewiesen. Die so hergestellte Illusion ist die Bedingung dafür, dass der Rezipient die Bestrafung der Reichen und Mächtigen

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„ȼ Ƚɨɪɨɞɟ […] ɰɚɪɢɥɢ ɦɢɪ, ɫɩɨɤɨɣɫɬɜɟ ɢ ɩɨɪɹɞɨɤ. ɑɚɫɬɧɨɟ ɩɪɟɞɩɪɢɧɢɦɚɬɟɥɶɫɬɜɨ ɩɪɨɰɜɟɬɚɥɨ, ɰɟɧɵ ɜ ɤɨɦɦɟɪɱɟɫɤɢɯ ɦɚɝɚɡɢɧɚɯ ɛɵɥɢ ɭɦɟɪɟɧɧɵɟ, ɩɪɟɫɬɭɩɧɨɫɬɶ ɧɚ ɨɛɳɟɪɨɫɫɢɣɫɤɨɦ ɮɨɧɟ ɜɵɝɥɹɞɟɥɚ ɞɨ ɫɦɟɲɧɨɝɨ ɧɢɡɤɨɣ. Ɍɪɚɧɫɩɨɪɬ ɯɨɞɢɥ ɢɫɩɪɚɜɧɨ, ɞɨɪɨɝɢ ɫɨɞɟɪɠɚɥɢɫɶ ɜ ɩɨɪɹɞɤɟ, ɦɷɪ Ƚɨɪɨɞɚ ɞɚɜɚɥ ɧɚɫɟɥɟɧɢɸ ɨɛɟɳɚɧɢɹ ɢ ɜɵɩɨɥɧɹɥ ɢɯ.“ (Marinina 2008a: 17)

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in den Texten als Quasirealität miterleben kann und damit zugleich die Bedingung dafür, dass die Texte eine narzisstische Befriedigung für den Leser entfalten können. Metaphorisch gesprochen ist der Textraum dieser Romane insofern ein symbolischer Raum, ein narzisstischer Bedürfnisraum. Die Quasirealität in Marininas Romanen greift den Wunsch nach Bestrafung der ungerechtfertigt reich Gewordenen auf. Er ist in nicht unbeträchtlichem Maße als Wunsch nach deren Tod realisiert und spricht damit die niedrigsten Instinkte der Rezipienten an. Dadurch wird zugleich verdeutlicht, wie stark das Bedürfnis nach einer Tröstung für erlittene soziale Ungerechtigkeit in Russland sein muss. Die Tröstung erfolgt auf die immer gleiche stereotype Weise und bewirkt so zugleich eine Befriedigung verbreiteter Ressentimentstrukturen. Die einfachen Leute der Textwelt und, über die Identifikation mit diesen, die Durchschnittsleser sind den verbrecherischen Reichen, den korrupten Politikern und den von ihnen angeheuerten Mördern in einem System gegenübergestellt, dessen reale Unhintergehbarkeit im Textraum bestätigt wird. Doch wird – wie gesagt – der Undurchdringlichkeit der Grenzen zwischen diesen beiden Figurengruppen die Hoffnung auf eine zumindest fiktionale Wiedergutmachung zugesellt. Derart eskapistische Tendenzen werden unterschiedlich bewertet: Die Autoren selbst äußern sich eher positiv dazu, so beispielsweise J. R. R. Tolkien, wenn er die individuelle Funktionalität imaginierter Welten als Kompensation für die Unzulänglichkeit der Realität, und damit als eine Form von Alltagsbewältigung auffasst („Why should a man be scorned if, finding himself in prison, he tries to get out and go home? Or if, when he cannot do so, he thinks and talks about other topics than jailers and prisonwalls?“ [Tolkien 1975: 55]). Dies genau scheint in Marininas Fall ebenfalls gegeben zu sein. Zielt das Lob an Marinina aber tatsächlich hierauf? Zur Erinnerung: Man bescheinigt ihr (moderat) feministische Züge, eine differenzierte Betrachtung ethischer Werte bis hin zur Hilfestellung in allen Lebenslagen und bezeichnet ihre Texte als moderne Bildungsromane. Kann man Marininas Romane als Kritik an einem korrupten System lesen? Marininas Doppelmoral hinsichtlich ‚guter‘ und ‚böser‘ Verbrecher lässt eher auf ein Fehlen von Sozialkritik in ihren Texten schließen. Intellekt und Gewissen werden auf eine reine Bestrafungsmechanerie abgestellt. Eine Reflexion der psychischen, ethischen, sozialen oder gesellschaftlichen Bedingungen von Verbrechen erfolgt nicht. Auch die Möglichkeit einer Distanzierung vom Text wird dem Rezipienten textimmanent nicht gege-

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ben: Im Gegensatz beispielsweise zu den Gewaltapologien Vladimir Sorokins und Viktor Erofeevs, deren Konkretisierung von Gewalt und Verbrechen mit ausführlichen Beschreibungen hinsichtlich Ausführung und Ergebnis Ekel und Abwehr beim Leser hervorrufen, damit die Affirmation des Verbrechens verunmöglichen und zugleich eine Reflexionsebene in den Text einbringen (vgl. z. B. Boden 2008), begegnet der Tod bei Marinina zwar häufig, er ist jedoch schnell und sauber und bleibt in seiner Unkonkretheit und Diskretheit abstrakt. Ihn zu affirmieren ist leicht und somit eignet er sich hervorragend zur Befriedigung sublimierter Todeswünsche. Mit ihrer Thematisierung von Verbrechen in der russischen Oberschicht scheinen Marininas Romane dennoch ein kritisches Potenzial zu beinhalten. Auch die feministischen Züge lassen sich unterschiedlich bewerten. Es ist durchaus möglich, diese als bloße Adaptation oder Umkehrung männlicher Rollenzuschreibung zu sehen (Boden 2011: 270-272), wie sie sich in der Populärliteratur häufig findet (Frizzoni 2009: 132, vgl. 138). Elemente weiblicher Emanzipation wären demnach in den Texten präsent, wenn auch in einer eher generalisierten und wenig differenzierten Weise, die sich auch als indirekte Bestätigung etablierter Stereotypen lesen ließen: Die Stereotypen selbst blieben unhinterfragt und werden lediglich von einer Person realisiert, der dies bis dato nicht zugestanden wurde (Boden 2009). Aber Zweifel an Marininas Feminismus kommen auch von anderer Seite: Leonid Geller etwa bestreitet ganz grundsätzlich, dass in Marininas Texten feministische Züge auszumachen seien. Im Vergleich mit Texten anderer russischer Autorinnen (Ljudmila Ulickaja, Ljudmila Petruševskaja, Tat’jana Tolstaja) sei die Rolle von Frauen in Marininas Romanen traditionell – gekennzeichnet durch Selbstaufopferung, Liebe als Freundschaft, Sympathie und Arbeit (Geller 2002). Irina Savkina kommt im Grunde zu dem gleichen Ergebnis, wenn sie meint, dass feministische Implikationen in Marininas Romanen nur vor dem Hintergrund eines patriarchalen Feminismusdiskurses als solche herausgestellt werden könnten.9 Negative Rollenzuschreibun-

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„Interessanterweise wird das für Schemaliteratur elementare Gesetz, dass der Protagonist positiv markiert sein muss, um dem Leser die Identifikation mit dem idealisierten Bild des ‚Ich‘ zu erleichtern, im Fall einer Autorin als Narzissmus verstanden. In Studien über von Frauen verfasste Texte kann man häufig unmissverständliche Andeutungen darüber finden, dass die Schönheit und Schlankheit der Protagonistin aus dem Wunsch der unattraktiven und fülligen

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gen, auch wenn sie nicht als emanzipativ in einem feministischen Sinn gelesen werden können, erhöhen dennoch das Identifikationspotenzial der Leser mit der Figur Anastasija Kamenskaja, der unromantischen Alpha-Frau, der Einzelkämpferin gegen Verbrechen und Gewalt, der genialen Überfliegerin mit ihrer Arbeitswut, ihrer Zigaretten- und Kaffeesucht, die unfähig ist, die tägliche Hausarbeit zu erledigen oder morgens früh aufzustehen. Dies gilt im besonderen Maße für weibliche Rezipienten, die mittels der Identifikation mit Kamenskaja die eigene reale Rolle zumindest im Fiktionstext hinter sich lassen können. All diese Beobachtungen lassen vor allem den Schluss zu, dass sich der moderne Bildungsroman vom klassischen ganz beträchtlich unterscheiden muss oder dass in Marininas Romanen mehrere Interpretationsoptionen angelegt sind, die das seltsame Auseinandertreten der Lesarten erklärten. Zumindest aber kann anhand der Romane Marininas eine Überlagerung von heterogenen Elementen beobachtet werden. Diese liegt zum einen in einer anderen Sichtweise auf die russische Realität (Darstellung der Verbrechen von Angehörigen der Oberschicht, Umkehrung tradierter Geschlechterrollen) und zum anderen in deren konformistischer Umsetzung (Doppelmoral, Bestätigung von stereotypen Vorstellungen, narzisstische Befriedigung von Bedürfnissen). Durch diese Überlagerung möglicher Lesarten und die fehlende Eindeutigkeit wird dem Leser die Identifikation mit den vermittelten Inhalten nochmals erleichtert: Die Todesstrafe für die reichen Verbrecher bedarf keiner Legitimierung, da sie von scheinbar positiven Werten verdeckt wird. Der Zweck heiligt die Mittel. In diesem Sinne tarnen sich Marininas Romane als Kritik an einem korrupten System, dass sie jedoch zugleich in verklärter Form als unhintergehbar präsentieren. Genau hierin liegt der Unterschied zwischen Marininas Romanen und denen westlicher sozialkritischer Krimi-Autoren, denen es gerade um das Gegenteil geht, nämlich um das Erkennen gesellschaftlicher Strukturen:

Schriftstellerin entsprungen sein soll. Zugleich habe ich keinerlei Reflexion darüber gefunden, dass Macht, Kampfkraft und sexuelles Durchhaltevermögen des Protagonisten in Kriminalromanen und Thrillern von Männern die Schwäche, Ängstlichkeit and Impotenz ihrer Schöpfer belegten.“ (Savkina 2002: 9. Übersetzung D. B.)

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Die besondere Leistung von Matto regiert (und in minderem Maß auch anderer Glauserscher Prosastücke) besteht in der diskursanalytischen Dimension, das heißt in der Erkenntnisermöglichung des Macht-Wissens der eigenen Zeit, einer Erkenntnisermöglichung, die von keinem anderen Punkt aus und auf keine andere Weise zu haben ist. (Thüring 2009: 20)

Verbindungen zwischen gesellschaftlich vorhandenen Bedürfnissen und Affekten auf der einen Seite und Illusionsangeboten auf der anderen haben auch andere schon gesehen. Die (temporäre) Befriedigung der Bedürfnisse des Rezipienten oder, mit Tolkien gesprochen, die Befreiung von seinen irdischen Fesseln kann mit Herbert Marcuses Kritik am affirmativen Charakter der bürgerlichen Kultur korreliert werden. Hier ging es nicht um eskapistische Tendenzen in der Literatur, sondern um die Betrachtung der Seele. Das nichtkörperliche Sein des Menschen betrachtet Marcuse als dessen eigentliche Substanz, als grundlegende Akzeptanz der ‚irdischen‘ Verhältnisse, die zwar nicht idealisiert, jedoch mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod erduldet werden. Dabei bestehe die Funktionalität des Konzepts einer unsterblichen Seele darin, Elend, Martyrium und Knechtschaft des Leibes zu entschuldigen und der ideologischen Auslieferung des Daseins an die Ökonomie des Kapitalismus zu dienen. Durch diese Selbstentmündigung des Bürgertums werde die kritische Reflexion der Wirklichkeit überflüssig (Marcuse 1937: 77 f.). In dieser Hinsicht werden Marininas Romane zu einem Paradies der armen Frauen. Zu einem imaginären Reich sozialer bzw. gesellschaftlicher Gerechtigkeit, in dem sich besonders Frauen aus den breiten Bevölkerungsschichten wiederfinden können und in innerer Freiheit all das erleben, was ihnen die russische Realität definitiv verweigert.

B IBLIOGRAPHIE Aleksandra Marinina. Liþnoe delo. Biografiþeskaja spravka. [Aleksandra Marinina. Zur Person. Biographische Angaben]. In: http://www.marini na.ru/about (20.5.2011). Boden, Doris, 2011: The Perception of Russian Popular Literature in Literary and Cultural Studies. In: Fabula 52, 3-4, 267-279.

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T OD IN M OSKAU ODER DAS P ARADIES

DER ARMEN

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Einblick: Erinnerungskultur bzw. Breslau-Krimi

Die Kriminalromane von Marek Krajewski Von der Ästhetik zur Anästhetik oder Wie man die Geschichte manipuliert1 M AŁGORZATA S MORĄG -G OLDBERG

Die ‚Normalisierung‘ des polnischen Buchmarktes, d.h. die seit 1989 stattfindende Aufwertung wirtschaftlicher Faktoren zu ultimativen Beweisen literarischen Erfolgs, hat ein Phänomen hervorgebracht, das dringend einer eingehenden Auseinandersetzung bedarf. Wie kann es sein, dass eine Literatur, die der „Pflicht zur Erinnerung“ eine zentrale Rolle einräumt, ein intellektuelles Klima ausbeutet, das aus Diskussionen und erbitterten Auseinandersetzungen um eine Rekonfiguration und (Re-)konstruktion von Identitäten für ein neues Mitteleuropa entstanden ist? Bevor ich aber dazu übergehe, den konkreten Fall der Krimiserie des polnischen Autors Marek Krajewski zu untersuchen, der im wahrsten Sinne des Wortes vor dem pittoresken Hintergrund eines Zwischenkriegs-Breslau angesiedelt ist, empfiehlt es sich, die Rahmenbedingungen dieser Analyse, sowie die hier zu diskutierenden Fragen näher zu erläutern. Es ist von besonderer Bedeutung, die hier zur Diskussion stehenden literarischen Werke innerhalb eines von spezifischen kulturellen und gesell-

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Dieser Aufsatz ist die für den vorliegenden Band aufgearbeitete Version von „Breslau/ Wrocław dans le miroir de la paralittérature ou le recours à l’archaïsme décoratif“ (in: Lelait, Florence, Niewiedział, Agnieszka, Smorąg-Goldberg, Małgorzata (Hg.), Mémoire(s) de Silésie. Terre multiculturelle: Mythe ou Réalité [Cultures d’Europe Centrale. Hors-série 6]. Paris, 2009, 255-265).

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schaftlichen Problemen bestimmten politischen Kontextes zu analysieren, ihre Rolle in der öffentlichen Diskussion sowie ihr Verhältnis zu den Erwartungen des Publikums zu berücksichtigen und über die Haltung desjenigen nachzudenken, der eine Geschichte erzählt und darüber, wie diese sich zu den gesellschaftlichen Problemen verhält und diese gegebenenfalls manipuliert. Welche Rolle spielen die Bilder in diesen Geschichten, die die Vergangenheit beschwören; und wovon wird die Auswahl der verwendeten Bilder beeinflusst? Von den sepiafarbenen Fotografien auf dem Bucheinband (Abbildung 1), von ihrer Symbolik, ihrer Instrumentalisierung oder von den nostalgischen Strategien des Erinnerungsfotos? Welche Rolle spielt in diesem Kontext die Fiktion und welche Arten von Fiktion treten auf? Abbildung 1: Cover der polnischen Originalausgabe von Krajewskis „Der Kalenderblattmörder“

Quelle: „Mémoire(s) de Silésie. Terre multiculturelle: Mythe ou Réalité“ (siehe Fußnote 1)

Unter diesen Prämissen werde ich das Phänomen der mittlerweile äußerst erfolgreichen Krimiserie von Marek Krajewski untersuchen. Es erscheint vielversprechend, folgende Hypothese auf sein Werk anzuwenden: Inwiefern können wir in diesem Fall mit Régine Robin von einem „übersättigten Gedächtnis“ („mémoire saturée“ Robin 2003) und dessen Gefahren spre-

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chen, also der indirekten und ausschließlich dekorativen Verwendung der Erinnerungs-Obsession? Es ist ein Produkt unserer Kultur der letzten 20 Jahre und es birgt die Gefahr, sich aufgrund seiner literarischen Omnipräsenz in sein Gegenteil zu verkehren – nämlich indem es die lange Liste der Vermeindungsstrategien um eine Form des Vergessens erweitert. Ehe wir jedoch mit der Analyse beginnen, werfen wir noch einen Blick auf Georges Perec und sein Misstrauen gegenüber einem Phänomen, das er als „littérature muséographique“ [museographische Literatur] bezeichnet und in seinem Roman „La vie mode d’emploi“ beschreibt: Ce sera quelque chose comme un souvenir pétrifié, comme un de ces tableaux de Magritte où l’on ne sait plus très bien si c’est la pierre qui est devenue vivante ou si c’est la vie qui s’est momifiée, quelque chose comme une image fixée une fois pour toutes, indélébile, morte. (Perec 1978 : 159)

Perec ist in seinem eigenen Schreiben sorgsam darauf bedacht, all jenes zu meiden, was er als in Stein gemeißelte Erinnerung empfindet – konserviert und auf den stetigen Fluss des lebendigen Gedächtnisse aufgepappt, im Stande, jede seiner Bewegungen zu behindern. Mithilfe seines Zitats können wir zwei Kategorien der ErinnerungsErzählung unterscheiden, zwei einander entgegengesetzte narrative Systeme, die jeweils auf ihre Weise Gedächtnis so in Literatur übersetzen, als werde es auf einer Bühne inszeniert. Während sich erstere als im schlimmsten Sinne des Wortes ‚museographisch‘ beschreiben lässt, stellt die zweite historische Nachforschungen an. Ausgangspunkt dieser Untersuchung sind also zwei entgegengesetzte Mechanismen des Schreibens, die sich jedoch beide darauf gründen, dass sie die Vergangenheit in Literatur übersetzen. Wo die eine Objekte, Stimmungen und Kulissen allein deshalb ausgräbt, um sie ausstellen zu können, studiert die andere historische Quellen, stellt Verbindungen her, legt Verwerfungen frei und zeigt deren grundlegende Bedeutung für die Mechanismen des historischen Erzählens und dessen inhärente Unvollständigkeit auf. Erstere ist vor allem die Angelegenheit eines ‚Sammler-Erzählers‘ der Gegenstände einbalsamiert, um sie auszustellen und den materiellen Fundstücken den Vorzug gibt. Ganz anders beschaffen ist dagegen die zweite Herangehensweise – jene der historischen Nachforschung – bei welcher sich

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der Erzähler in ein komplexes Netz aus Zeichen und Bedeutungen einschreibt, deren Verbindungen und Brüche er gleichermaßen hervorhebt. Während die eine Methode also konserviert, dekonstruiert die andere und schafft so eine lückenhafte Erzählung, in der sie die die Falle falscher Kohärenz umgeht. In der Auseinandersetzung mit Pierre Noras „lieux de mémoire“ ist die Geschichte nach 1989 zweifellos wieder ins Zentrum der polnischen Literatur gerückt. Aber das Verhältnis der Literatur zu dieser Geschichte hat sich gewandelt. Mit Blick auf die für diesen Teil Europas im 20. Jahrhundert so einschneidenden Ereignisse, nämlich die Shoah und die in Jalta beschlossenen ethnischen Säuberungen und darauffolgenden Bevölkerungsverschiebungen, gehören die führenden Schriftsteller der heutigen polnischen Literatur-Szene zur sogenannten „dritten Generation“. Die Literatur älterer Generationen, also der Akteure und Augenzeugen des Geschehenen, war von diesen Ereignissen in hohem Maße beeinflusst. Sie oszillierte zwischen einem Schreiben der Zeugenschaft und einer Art dokumentarischem, der Reportage nahestehendem Erzählen. Für die Generation hingegen, die erst nach dem Fall der Berliner Mauer zu schreiben begonnen hat, sind sie bereits zu Bestandteilen des kulturellen Erbes geworden, zu einer Art Erinnerungs-Vermächtnis, in dem sich die Geschichte mit der Kindheit und der „Körnung der Stimme“ (le „grain de la voix“, wie Roland Barthes es nennt) des Erwachsenen vermischt, der ihnen von den Ereignissen erzählt hat. Vor allem aber sahen sich die Angehörigen dieser Generation mit einem Verschwinden konfrontiert. Das Verwinden früherer Bewohner, die sie niemals kennen gelernt hatten: Juden, Deutsche, Schlesier, getötet, deportiert oder vertrieben, Opfer der „Endlösung“ oder endgültig evakuiert bzw. deportiert, jedenfalls für immer verschwunden von den Orten, an denen diese Autoren aufwuchsen und an denen noch immer ihre Spuren zu finden waren. Aber die Wahrnehmung dieser amputierten, von Hitler bis Stalin exzessiven ethnischen Säuberungen ausgesetzten Orte ist notwendigerweise immer subjektiv und gehorcht den Mechanismen des Suchens, des Entzifferns und des Nachhorchens. Dieser literarische Diskurs wird von keinerlei kategorischem Imperativ der Treue eingeschränkt, der zur Treue gegenüber den erzählten Fakten verpflichtete. Es handelt sich um eine Poetik der Spur, der zu entziffernden Hieroglyphen. Und so hat in den Werken dieser Autoren die Fiktion – oder besser: die Auto-Fiktion – die Zeugenschaft abgelöst. Die fiktionale Literatur hat den Beigeschmack des

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Betrügerischen verloren, den ältere Generationen mit ihr verbanden. Im Gegenteil: sie ist es, die die gähnende Leere des Verschwindens auszufüllen vermag. Neben Olga Tokarczuk, die in ihren Werken Niederschlesien, seine Mythen und Phantome erforscht, findet sich eine ganze Generation von Schriftstellern2, die in den frühen 1960er Jahren geboren wurden und in ihren Werken ihre individuelle Vergangenheit in Orte einschreiben, die von einer Geschichte gezeichnet wurden, die sie selbst nicht miterlebt, doch aber geerbt haben, eine Geschichte, die lange Zeit von offiziellen Diskursen manipuliert wurde und die sie sich nunmehr selbst aneignen wollen. Sie erforschen diese Orte, übersetzen sie in ihr Erzählen und bringen sie wieder ein in die öffentliche Diskussion – aber sie tun dies auf eine vollkommen andere Art und Weise als Historiker und Soziologen. Im Windschatten dieser Literatur und im Widerspruch zu ihr wird ein anderes Phänomen sichtbar, das die Codes dieser Texte entstellt und manipuliert und so eine andere Art des Schreibens über Orte hervorbringt, die von der Vergangenheit heimgesucht wurden. Es handelt sich um ein ‚pittoreskes‘, im Stil einer altmodischen Postkarte gehaltenes Schreiben, das mithilfe des Anästhetikums der Nostalgie eine Vergangenheit beschwört, derer man sich vergleichsweise leicht entledigen kann. Ein in einer symbolischen Stadt angesiedelter Kriminalroman – symbolisch gerade aufgrund des für sie emblematischen Verschwindens – ist meines Erachtens ein treffendes Beispiel für diese Art von Literatur. Krajewski ist ein Meister dieser Gattung: seine Krimireihe umfasst inzwischen sechs

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Tokarczuk, Olga,: „E.E.“ (1995), „Prawiek i inne czasy“ (1996, dt. „Ur- und andere Zeiten“ 2000b), „Dom dzienny, dom nocny“ (1998, dt. „Taghaus Nachthaus“ 2001), „Szafa“ (1997, dt. „Der Schrank“ 2000a); Pawel Huelle: „Weiser Dawidek“ (1987, dt. 1990), „Mercedes-Benz. Z listów do Hrabala“ (2001, dt. „Mercedes Benz. Aus den Briefen an Hrabal“ 2003), „Opowiadania na czas przeprowadzki“ ([Erzählungen zur Umzugszeit] 1991, 1996: „Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdansk“) , „Pierwsza miloĞü i inne opowiadania“ ([Erste Liebe und andere Erzählungen] 1996, dt. 2000 „Silberregen: Danziger Erzählungen“), Stefan Chwin: „Hanemann“ (1995, dt. „Tod in Danzig“ 1997), „Esther“ (1999, dt. „Die Gouvernante“ 2000), Artur Daniel Liskowacki: „Ulice Szczecina“ ([Stettiner Straße] 1998), „Eine Kleine“ (2000, dt. „Sonate für S.“ 2003).

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Bände, die alle im Breslau der Jahre 1919-1945 spielen. Der 1966 in Wrocław geborene Autor ist Altphilologe, er unterrichtet klassische Rhetorik und ist sich der literarischen Codes, die er manipuliert, gerade deshalb in hohem Maße bewusst. Die Romane sind wahre Verkaufsschlager und bedienen auf perfekte Weise die Erwartungen ihrer Leserschaft. Sie wurden allein in Polen 150.000 Mal verkauft, werden derzeit verfilmt und wurden u. a. ins Deutsche, Niederländische, Englische, Spanische, Russische, Litauische (insgesamt in 12 Sprachen) übersetzt. In Frankreich werden sie vom renommierten Verlagshaus Gallimard herausgegeben, in Deutschland erscheinen sie mittlerweile im Deutschen Taschenbuchverlag. Der Zyklus beginnt mit „ĝmierü w Breslau“ (1999, dt. „Tod in Breslau“ 2002), gefolgt von „Koniec Ğwiata w Breslau“ ([Das Ende der Welt in Breslau] 2003, dt. „Der Kalenderblattmörder“ 2006a) und „Widma w mieĞcie Breslau“ (2005, dt. „Gespenster in Breslau“ 2007b) und kommt mit dem vierten Band der Serie, der unter dem Titel „Festung Breslau“ (2006b, dt. 2008) erschien und dessen Filmrechte noch vor dem Erscheinen des Buches verkauft wurden, zu einem vorläufigen Ende. Offenbar bedauerte Krajewski, eine derart erfolgreiche Serie so leichtfertig beendet zu haben und fügte einen fünften Band hinzu: „DĪuma w Breslau“ (2007a, dt. „Pest in Breslau“ 2009b) versetzt den Leser in die 1920er Jahre zurück, also in die, für den Autor zweifellos ‚postkarten-hafteste‘ und offenbar als Ausgangspunkt der Serie gedachte Zeit. Danach – warum auch aufhören, wenn es gerade so schön ist? – erschien 2009 ein weiterer Band mit dem reißerischen Originalitel „Głowa Minotaura“ ([Der Kopf des Minotaurus], dt. „Finsternis in Breslau“ 2012). Diesmal erweckt der Roman neben Breslau noch eine andere Stadt zum Leben, welche die Nostalgie der Leserschaft (vor allem derjenigen in Wrocław) bündelt, nämlich das Lemberg der späten 1930er Jahre. Die Romane erzählen die Abenteuer des Polizisten Eberhardt Mock und bilden voneinander unabhängige narrative Einheiten. Jeder Text ist eine eigenständige Erzählung und kann unabhängig von den anderen gelesen werden, wodurch der Leser nicht auf die jeweils nächste Episode warten muss und sich jeder Gedanke an ein großes historisches Panorama erübrigt. Der erste Band handelt vom Zeitraum 1933-34 und spielt in erster Linie in Breslau, mit einigen Abstechern in der Nachkriegszeit, die jedoch sehr gekonnt dosiert sind. Genau genommen beginnt die Erzählung zur Hochzeit

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des Stalinismus, mit Anspielungen auf den Gulag und die Zensur in Ostdeutschland; wir befinden uns im Dresden des Jahres 1950, mitten im Kalten Krieg. Dann unternimmt die Handlung eine Rückblende und versetzt uns in den Mai des Jahres 1933, vier Monate nach Hitlers Machtergreifung und in die Zeit des aufsteigenden Nationalsozialismus, eine Zeit, die (seit Günther Grass’ „Blechtrommel“ und seinem Danzig-Porträt) zum Klischeerepertoire deutsch-polnischer Städte gehört. Danach springen wir vor bis zum Juli 1934, in die Nachwehen der ‚Nacht der langen Messer‘ vom 29. auf den 30. Juni, wo wir wieder auf Mock treffen, der, nachdem er mit Unterstützung der SA befördert wurde, nun ins Fadenkreuz Hitlers geraten ist und Schutz vor der allmächtig gewordenen SS sucht. Kein einziges historisches Ereignis wird erwähnt und dennoch wird mithilfe eines Minimums an Geschichtswissen, das im Zusammenhang mit dieser Zeit aufgerufen wird, die Illusion eines präzisen zeitlichen Rahmens geschaffen. Alsdann kehrt die Handlung ins Dresden des Jahres 1950 zurück, wo wir Mock, wie zu erwarten, als Stasi-Beamtem wiederbegegnen. Ein auf eine Handvoll Klischees reduziertes Geschichtswissen über die betreffende, der Handlung als Rahmen dienende Zeit, etwas Sex, Verbrechen und Okkultismus – das ist Krajewskis Rezept. Die drei darauffolgenden Bände sind nach demselben Prinzip aufgebaut. Wir dringen tiefer ein in die Vergangenheit der Stadt und verfolgen den Lebensweg Mocks. Der Band „Widma w mieĞcie Breslau“ spielt 1919, als Mock verwundet aus dem 1. Weltkrieg zurückkehrt und unter Schlaflosigkeit und mit seinen Erinnerungen an die Schützengräben zusammenhängenden Alpträumen leidet, gespickt mit ein paar Anspielungen auf Arbeitslosigkeit und revolutionäre Unruhe in Deutschland, die auch diesmal nur ein Mindestmaß an historischem Wissen aufrufen. Der ursprünglich letzte Band der Reihe ist an einem anderen klischeehaften Datum angesiedelt, nämlich im Jahre 1945. Die in eine Festung verwandelte Stadt wird von den Sowjets belagert: auch hier erübrigt das gewählte Datum jeden weiteren Kommentar und handelt in eigener Sache, indem es die anti-kommunistische Stimmung anheizt, die von populistischen Parteien, Meistern dieser Art der Manipulation, zum Zeitpunkt des Erscheinens des vierten Bandes geschürt wurde.3

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Der Band „Festung Breslau“ erschien erstmals 2006, als unter der Führung Lech Kaczynskis und seiner aus den Wahlen 2005 hervorgegangenen populistischen

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Gewissermaßen umgekehrt proportional zum Fehlen einer echten historischen Verankerung, herrscht in Krajewskis Büchern ein fast obsessives Bemühen um Präzision: Daten, Uhrzeiten, Minute für Minute; es ist, als studiere der Leser ein Protokoll der Stadt. Die ganze Serie hindurch gründet sich das Vergnügen des Lesers auf die systematische Befriedigung seines Erwartungshorizonts; von Band zu Band trifft er auf ein Wechselspiel zwischen Bekanntem (derselbe Ort: Breslau, dieselbe Hauptfigur: Mock) und dem vergleichsweise Neuen, das der jeweilige zeitliche Rahmen zulässt, stets gekrönt von einer vollendeten Beherrschung der Gattung. Die Wiederholung der immer selben narrativen Strukturen, ein äußerst verwickelter Fall, ein omnipräsenter hermeneutischer Code aus Elementen von Okkultismus, Sekten-Symbolik und Verschwörungstheorien. Selbstverständlich wird für alles am Ende des jeweiligen Romans eine Erklärung geliefert, die dem Plot ein eindrucksvolles Ende beschert und so die Konvention erfüllt, gemäß derer jedes Rätsel auch gelöst werden muss: All diese narrativen Rezepte garantieren Vergnügen auf Seiten des Lesers. Die Bücher bauen auf einem einfachen erzählerischen Prinzip auf: einer Ermittlung, die auf die Lösung eines Geheimnisses zusteuert, das durch einen anfänglichen und immer spektakulären Mord entstanden und vor dem Hintergrund eines postkartenhaften Breslau angesiedelt ist. Immer kreist die Handlung um eine dämonische Instanz, die die Stadt in Atem hält – ein Serienmörder, eine geheime Bruderschaft, ein Fluch oder eine Racheerklärung, die den Fortgang der Erzählung beeinflusst. Die Handlung basiert auf der Opposition von Verbrechen und Gerechtigkeit, wird begleitet von einer langsamen und komplexen Aufklärung und in jedem Abenteuer unterbrochen von Situationen, die die Handlung ankurbeln: Flucht oder Entführung, ein Verschwinden, Morde in rascher Folge, Vorhersagen, usw. Beachtung verdient auch der Familienname „Mock“, der zweifellos eine Verbindung zu dem englischen Wort „to mock“ für „fälschen, nachahmen“ aufweist, oder mit der Redewendung „to make a mock of something“ – „etwas ins Lächerliche ziehen“, als handele es sich bei dem ganzen Unterfangen um einen lächerlichen Versuch, das Gesicht zu wahren, und

Koalition in Polen ein Klima der Hexenjagd auf die kommunistische Vergangenheit geschürt wurdeǤ

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um ein selbstironisches Spiel, einen netten Scherz des Autors an die Adresse seiner akademischen Freunde. Der Rhythmus der Lektüre – eine der grundlegenden Reize von Paraliteratur und der wichtigste Schlüssel zu ihrem Erfolg bei einem breiten Publikum – wird dabei von der Wiederholung einfacher narrativer Strukturen bestimmt. Im Zentrum der scheinbaren Komplexität des Textes (obsessive exakte Datierung: 2. September 1919: 8.45 Uhr; 2. September 1919: 9 Uhr; 2. September 1919: 9.15 Uhr, Rückblenden, Auszüge aus Zeitungen des jeweiligen Jahres) ist eine Bewegung zweier einander ablösender zeitlicher Qualitäten am Werk, bestehend aus einem Moment dramatischer Spannung (einem ‚Wendepunkt‘) und deren anschließendem Abflauen – ein Verfahren, das im Laufe des Romans immer wieder und häufig äußerst artifiziell wiederholt wird. Dieser Rhythmus entspricht Ebbe und Flut der ‚Kräfte des Bösen‘ (der Erfolg von Umberto Ecos „Il nome della rosa“ [Der Name der Rose] aus dem Jahr 1980 oder von Dan Browns „The Da Vinci Code“ von 2003, der darauf beruht, das jeweilige Geheimnis in einem Buch der Bücher selbst zu dechiffrieren – in ersterem in der Bibel, im zweiten in Dantes „Divina Commedia“ [Göttliche Komödie] –, bestätigt die Effizienz dieser narrativen Rezeptur). Anhand dieser strukturellen Prinzipien lässt sich diese Form des Erzählens zweifelsfrei der Gattung der Paraliteratur zuordnen (Boyer 1992, siehe auch Couégnas 1994). Denn wenn sich die Paraliteratur durch etwas auszeichnet, dann dadurch, dass sie eine spezifische Form der Lektüre erzeugt und in Szene setzt. So wie Philippe Lejeune beweisen konnte, dass die Autobiographie sich auf einen Pakt gründet (Lejeune 1976), so ließe sich analog behaupten, dass auch das Schreiben und die Lektüre von Paraliteratur ihrem Wesen nach den Charakter eines Vertrags zwischen Text und Leser haben. Die Konventionen, denen das Buch gehorcht, werden offen zur Schau gestellt und die begleitenden metatextuellen Elemente verorten es automatisch innerhalb eines Systems des Konsums. Dabei handelt es sich um eine Art Code, der an der Peripherie des Romans angesiedelt ist, alle vorhandenen Informationen über dessen Status bündelt und die Erzählung vorwegnimmt, indem er – noch ehe der Akt des Lesens beginnt – auf den zugrundeliegenden ‚Vertrag‘ verweist: im Fall von Krajewskis Serie ist es ein Schutzumschlag mit einem sich aus Blutspuren zusammensetzenden Logo (Abbildung 2).

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Abbildung 2: Detail aus dem Cover der polnischen Originalausgabe von Krajewskis „Festung Breslau“

Quelle: „Mémoire(s) de Silésie. Terre multiculturelle: Mythe ou Réalité“ (siehe Fußnote 1)

Um es noch einmal ganz deutlich zu machen: der Gegenstand dieser Untersuchung ist ein spezifisch kommerzielles Produkt, das aufgrund seines kulturellen Charakters ins Zentrum eines Widerspruchs rückt. Die Käufer/ Leser sind sowohl auf der Suche nach Neuem, als auch nach Vertrautem. Ihr breiter Zuspruch ist konditioniert durch die Wiederkehr und garantierte Wiederholung einer bestimmten Anzahl von Eigenschaften, die von den gewählten Konventionen vorgegebenen werden; gleichzeitig aber auch durch die Hoffnung, etwas vergleichsweise Neues zu finden. Hierin besteht der grundlegende Unterschied zu anspruchsvoller Literatur. Doch wie groß ist der Spielraum für Neues überhaupt? Was lässt sich in einen solchen Rahmen an Unbekanntem hineinschmuggeln? Die Paraliteratur verfolgt grundsätzlich ein subversives Ziel. Wie also kann eine Beschäftigung mit ihren Randgebieten Wege zum Nachdenken über die Literatur als Ganzes eröffnen? Hier liegt der Ursprung der in literarischen Debatten wiederholt thematisierten Ansteckung zwischen anspruchsvoller und Paraliteratur. Wie lässt sich die Vergangenheit am wirkungsvollsten zum Leben erwecken? Und was wird damit eigentlich bezweckt? Welche Kategorie des Erzählens ist hierbei am häufigsten anzutreffen: Zeugenbericht oder fiktionale Literatur und, wenn ja, welche literarische Gattung? Aus dem Blickwinkel narrativer Effektivität ist der Kriminalroman sicherlich der geeignetste Kandidat: er montiert auf Spannung basierendes Lesevergnügen mit historischen Stereotypen. Es fehlt dann nur noch die systematische Bedienung einer fetischistischen Ästhetik und etwas Stillleben – und fertig. Ist dies nicht das ideale Rezept, um ein Publikum anzusprechen, das mit schwer zugänglicher, von subjektiven Windungen und lückenhafter Suche

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dominierter Prosa, von der bestenfalls fünftausend Exemplare verkauft werden, nicht zu erreichen ist? Das Phänomen ist umso interessanter, als es sich bei dem polnischen Beispiel beileibe nicht um einen Einzelfall handelt. In Russland findet sich die gleiche Art historischer Thriller. 1998 veröffentlichte der 1957 geborene Schriftsteller Boris Akunin „AzazeĐ“ (dt. „Fandorin“, 2001) das erste Buch einer Reihe, die aus einem Dutzend Kriminalromane um die Figur des Inspektors Erast Fandorin besteht und im Russland des ausgehenden 19. Jh.s angesiedelt ist, genauer zwischen 1876 und der ersten russischen Revolution von 1905. Auch in diesem Fall handelt es sich beim Autor der Reihe um einen Intellektuellen, nämlich den Chefredakteur der Zeitschrift „Inostrannaja Literatura“, Orientalist und Übersetzer japanischer Literatur, der u. a. so namhafte Autoren wie Yukio Mishima übertragen hat. Auch er ist sich also der literarischen Codes, die er verwendet, überaus bewusst. In dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Le premier quinquennat de la prose russe du XXIe siècle“ bringt Hélène Mélat dieses Phänomen mit den typischen intertextuellen Spielen der Postmoderne in Verbindung (Mélat 2006: 14); einer der Autoren des Sammelbandes spricht gar von „Instrumentalisierungs-Romanen“ und dem Phänomen der Hybridisierung, das die Grenze zwischen sogenannter ernster Literatur und Unterhaltungsliteratur zurückdrängt (Possamai 2006: 32-33). Wie also soll man diese Art literarischer Phänomene beurteilen? Allzu häufig ist ihre Zuordnung zum Postmodernismus und zum gezielten Spiel mit literarischen Konventionen zur Schaffung neuer Schreibweisen Ausdruck einer positivistischen Sichtweise, für die jede Bewegung gleichbedeutend mit Fortschritt ist. Auf der anderen Seite birgt die hier stattfindende Distanzierung durch das Museographische, dieses literarische trompe-l’oeil auf lange Sicht die Gefahr, dass die Geschichte glattgebügelt wird, als gehöre der Prozess des Fragens und Infragestellens längst der Vergangenheit an. Als stünden Polen und Russland mit ihrer heroischen Aura, um mit Adorno zu sprechen, plötzlich außerhalb der Geschichte, als verspürten sie das Bedürfnis, wieder ein Element des Kitsches einzuführen, um sich ihres lähmenden Verhältnisses zur Vergangenheit zu entledigen; als gäben sie, statt Fragen zu stellen, vor, sich mit ihr auseinanderzusetzen – aber nur, um sie am Ende doch ins Museum zu verbannen.

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Die Fragen, die jedoch wirklich diskutiert werden müssen, sind folgende: das Phänomen der Massenkultur und seine Bedeutung im post-heroischen Kontext der ehemals kommunistischen Länder, die Brüchigkeit der Grenzen zwischen elitärer und populärer Literatur sowie deren Kontamination, die Vermengung von Codes, der Krieg der Symbole und dessen Auswirkungen. Zwanzig Jahre (also fast eine Generation) nach 1989 ist es an der Zeit, über die zyklische Wiederkehr des Kitsches in der polnischen Literatur nachzudenken. Ist sie Teil eines Kriegs der Symbole? Schreiben sich der Kitsch und seine bricolage, die sich gerade bei Mythen und Archetypen bedient4, nicht in die fortgeschrittenen Phasen der Wiederaneignung einer „Normalität“ innerhalb der polnischen Literaturszene ein? Handelt es sich bei der Verschiebung in einen anderen stilistischen Bereich (Paraliteratur und ihre narrativen Stereotypen) und auf eine andere gesellschaftliche Ebene (eine radikal veränderte Leserschaft) nicht um eine äußerst wirkungsvolle Methode der Wiederaneignung von Geschichte? Sehr viel effektiver als etwa den künstlerischen und wissenschaftlichen Eliten vorbehaltene Diskussionen? Verspricht sie nicht viel breitere Aufmerksamkeit und ein sehr viel größeres Publikum? Und worin besteht die Gefahr all dessen? Das Thema der Multikulturalität erfährt eine Umdeutung seitens eines literarischen Diskurses, der nicht mehr die individuelle Dimension der Beziehung zu bestimmten Orten zum Gegenstand hat, sondern statt dessen ein Stillleben schafft, ein trompe-l’œil, dessen Einzelelemente sorgfältig abgewogen werden, um den Erwartungen des Publikums zu entsprechen. Ein paar schlesische Namen wie jener von Smolorz, die treue rechte Hand Mocks; einige jüdischen Namen wie Kleinfeld, der Gerichtsschreiber; einige polnischen Namen, wie derjenige der Frau des Direktors der Universitätsbibliothek in „Koniec Ğwiata w Breslau“; die obsessive Nennung von Markenprodukten der Vorkriegszeit; die endlos heruntergebeteten Auflistungen von Gerichten und Vorspeisen – all das verspricht Vergnügen auf Seiten des Publikums.

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In einem inzwischen klassischen Kapitel von „Pensée sauvage“ (Paris, 1990 [1962]), charakterisiert Claude Lévi-Strauss das mythische Denken als eine Art intellektuelles „bricolage“. Die Regel des bricolage kann man wie folgend definieren: „toujours s’arranger avec les moyens du bord.“ (Lévi-Strauss 1990: 31) Demnach sollen die Überreste alter Strukturen in neue eingebunden werden.

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Das endgültige Verschwinden der Nachbarn, die über Jahrhunderte hinweg fester Bestandteil der Landschaft gewesen sind, wird nun zum literarischen Topos. Doch genau hier liegt das Problem: Was bedeutet diese Verschiebung des zuvor erzählenden Subjekts auf die Ebene eines nunmehr narrativen Objekts? Die Texte von Schriftstellern wie Tokarczuk, Huelle und Chwin stellen dem geschlossenen, ungebrochenen und glatten Erzählen der Krimihandlungen Krajewskis eine diskontinuierliche Narration entgegen, die sich aus subjektiven Windungen und individueller, lückenhaften Suche zusammensetzt, die ihre Bruchstellen offenlegt. Während diese Autoren den Orten, die ihnen keine Ruhe lassen, zuhören, sie zu Wort kommen lassen und ihnen Leben einhauchen, indem sie sie zu den wahren Figuren ihres Erzählens machen, bedient Krajewski nur einige Klischees. Sein Breslau ist eine Filmkulisse. Es werden lediglich einige Straßennamen beschworen und penibel dem alten deutschen Stadtplan entsprechend zurückbenannt (jeder Band der Reihe verfügt im Anhang über ein Verzeichnis der deutschen Straßennamen und dessen polnischer Pendants aus der Nachkriegszeit), jedem Roman eine Landkarte vorangestellt (natürlich im Retrostil, wie es sich gehört um den Erwartungen des Publikums zu entsprechen); ein sepiafarbenes Foto auf dem Umschlag vervollständigt das Produkt (Abbildung 1). Doch diese Topographie verbleibt an der Oberfläche, sie wird mit der Erzählung nicht verbunden und vom Erzähler nicht wieder aufgegriffen. Worum geht es hier also? Geht es um das Erkennen? Oder aber um das Wiedererkennen (also eigentlich die Freude des Wiedererkennens) einiger auf Klischees reduzierter Orte? Wo Tokarczuk, Huelle und Chwin das Geschehene und die Erinnerungen hinterfragen, um zu verstehen, wie sie in ihnen weiter wirken und wo sie die Diskrepanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzeigen, bietet Krajewski geronnene Bilder und einbalsamierte Sequenzen, die wie in einer Filmdose konserviert wirken. Eine – wenn auch unbeabsichtigte – Folge dieser Art von Literatur besteht darin, dass die Geschichte durch den Kitsch entsakralisiert und ihrer ‚Aura‘ beraubt wird. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in dem Walter Benjamin die ästhetische Krise am Ende des 19. Jh.s untersucht, spricht er vom Verfall der Aura, die er als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ definiert (Benjamin 1990: 440). Lässt sich dies nicht auch auf die ästhetische Krise des

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Postkommunismus übertragen? Stellt nicht die historische Dimension der deutschen Besatzung und des Verlustes der nationalen Souveränität, die in der Vergangenheit in Polen selbst mittelmäßigen literarischen Werken eben jene Art von Aura verliehen hat, die heute so sehr fehlt und gerade deshalb die Unzulänglichkeit der literarischen Szene nach dem Ende des Kommunismus enthüllt, einen tragischen Bruch dar? Krajewskis „Tod in Breslau“ könnte ebenso gut den „Tod Breslaus“ zur Folge haben. Der Titel ist ein Paradebeispiel wirkungsvoller Symbolverwendung. Durch die Hinwendung zum dekorativen Archaismus wird die Geschichte aufgehoben. Risse werden durch die Produktion eines Übermaßes an ungebrochener Bedeutung ausgelöscht. Am Ende steht das Vergessen der ihrer Aura beraubten Geschichte. Übrig bleiben klischeehafte Bilder, die letztlich alles erdrücken und einebnen: Ereignisse, Geschichte und Leid. Auf diese Weise ist Krajewskis Schreiben im wahrsten Sinne des Wortes museographisch; es exhumiert alte Stimmungen und Schauplätze, um den Leser hineinzuziehen. Witold Gombrowicz (vgl. Gombrowicz 1986: 52-64) schrieb in Hinblick auf den Geschichtskitsch eines Henryk Sienkiewicz5 von einem „Schönheitssalon“, in dem man sich ein Bild anfertigen lasse, das den eigenen Vorstellungen vollkommen entspricht. Krajewskis Musealisierung einer nunmehr toten, nicht mehr handlungsfähigen Vergangenheit dient einzig und allein der Schaffung einer nostalgischen Kulisse, welche die Angst vor der Zukunft in den Hintergrund drängt und es ermöglicht, den komplexen Problemen des Postkommunismus zu entfliehen. Aber ist es nicht gerade eine konservierende Literatur, die einen fruchtbaren Boden für den Konservatismus bereitet, einen zaudernden Rückzug vor den Herausforderungen der Komplexität? Denn das, was durch das Einbrechen des literarischen Kitsches und der Paraliteratur in die Literaturen des postkommunistischen Europa allzu häufig zu Tage gefördert wird, sind die Probleme ihrer jeweiligen fortgeschrittenen ‚Normalisierungs-Phasen‘. Wenn, wie Guy Scarpetta sagt, die Postmoderne das Ende der Avantgarden bedeutet (1985: 29), also ein Geltendmachen von eklektizistischen

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Henryk Sienkiewicz (1846-1916), Autor trostspendender Historischer Romane und großer Spezialist des historischen Kitsches. Siehe seinen 1895-1896 erschienenen Roman „Quo vadis. PowieĞü z czasów Nerona “ [Quo vadis. Roman aus der Zeit Neros].

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Praktiken bar jeder Verpflichtung, Neues hervorzubringen, dann ist die Gefahr groß, dass der postmoderne Diskurs von rückwärtsgewandten und konservativen Ideologien vereinnahmt wird. Die Kehrseite dieser Art literarischer Vereinnahmungsversuche ist der passive Rückzug gegenüber den neuen Herausforderungen dieser Welt. Die wirklich entscheidende Frage, die es sich zu stellen gilt, lautet folgendermaßen: Wie können wir verhindern, dass der Post- in einen Antimodernismus umschlägt? Oder, anders gesagt: endet die alle Bereiche vereinnahmende political correctness damit, dass sie sich selbst die Maske des Horrors überstülpt, um attraktiver zu werden? Im Gegensatz zu den Rissen und Lücken, wie sie beispielsweise die Werke von Imre Kertész aufweisen, passt diese Art von Literatur, die fertige Produkte, geschmeidige, ungebrochene und vorgefertigte Erzählungen liefert, äußerst gut zum Konsumverhalten: Kaufen. Konsumieren. Vergessen. Aus dem Französischen von Anna Förster

B IBLIOGRAPHIE Akunin, Boris, 2001 [1998]: Fandorin. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin. Benjamin, Walter, 1991 [1937]: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. I. 2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main, 43-469. Boyer, Alain-Michel, 1992: La paralittérature. Paris. Brown, Dan, 2003: The Da Vinci Code. New York u. a. Chwin, Stefan, 2000 [1999]: Die Gouvernante. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin. Chwin, Stefan, 1997 [1995]: Tod in Danzig. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin. Couégnas, Daniel, 1994: Introduction à la paralittérature. Paris. Eco, Umberto, 1982 [1980]: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München. Gombrowicz, Witold, 1986: Dziennik 1953-56 [Tagebuch 1953-56]. Kraków.

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Grass, Günther, 1959: Die Blechtrommel. Darmstadt-Berlin Spandau. Huelle, Paweł, 2003 [2002]: Mercedes Benz. Aus den Briefen an Hrabal. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. München. Huelle, Paweł, 2000 [1997]: Silberregen: Danziger Erzählungen. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin. Huelle, Paweł, 1996 [1991]: Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdansk. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Frankfurt am Main. Huelle, Paweł, 1990 [1987]: Weiser Dawidek. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Frankfurt am Main. Krajewski, Marek, 2012: Finsternis in Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2009a. Krajewski, Marek, 2009a: Głowa Minotaura [Der Kopf des Minotaurus] . Warszawa. Krajewski, Marek, 2009b: Pest in Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2007a. Krajewski, Marek, 2008: Festung Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2006b. Krajewski, Marek, 2007a: DĪuma w Breslau [Pest in Breslau]. Warszawa. Krajewski, Marek, 2007b: Gespenster in Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2005. Krajewski, Marek, 2006a: Der Kalenderblattmörder. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2003. Krajewski, Marek, 2006b: Festung Breslau. Warszawa. Krajewski, Marek, 2005: Widma w mieĞcie Breslau. [Gespenster in Breslau]. Warszawa. Krajewski, Marek, 2003: Koniec Ğwiata w Breslau [Das Ende der Welt in Breslau]. Warszawa. Krajewski, Marek, 2002: Tod in Breslau. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. München. Übersetzung von Krajewski 1999. Krajewski, Marek, 1999: ĝmierü w Breslau [Tod in Breslau]. Wrocław. Lejeune, Philippe, 1976: Le pacte autobiographique. Paris. Lévi-Strauss, Claude, 1962: La pensée sauvage. Paris. Liskowacki, Artur Daniel, 2003 [2000]: Sonate für S. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. München Liskowacki, Artur Daniel, 1995: Ulice Szczecina [Stettiner Straße]. Szczecin.

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Mélat, Hélène, 2006: De l’exclusif à l’inclusif : la prose russe du début du XXIe siècle en quelques oppositions binaires. In: Dies. (Hg.): Le premier quinquennat de la prose russe du XXIe siècle. Institut d’Études Slaves. Paris, 11-24. Perec, Georges, 1978: La Vie mode d’emploi. Paris. Possamai, Donatella, 2006 : Quelques réflexions au sujet de la situation littéraire russe actuelle. In : Mélat, Hélène (Hg.): Le premier quinquennat de la prose russe du XXIe siècle. Institut d’Études Slaves. Paris, 2735. Robin, Régine, 2003: Mémoire saturée. Paris. Scarpetta, Guy, 1985: L’impureté. Paris. Sienkiewicz, Henryk, 2005 [1895/1896]: Quo vadis. Roman aus der Zeit Neros. Aus dem Polnischen von Hugo Reichenbach. Köln. Smorąg-Goldberg, Małgorzata, 2009: „Breslau/ Wrocław dans le miroir de la paralittérature ou le recours à l’archaïsme décoratif“. In: Lelait, Florence, Niewiedział, Agnieszka, Smorąg-Goldberg, Małgorzata (Hg.), Mémoire(s) de Silésie. Terre multiculturelle: Mythe ou Réalité [Cultures d’Europe Centrale. Hors-série 6]. Paris, 255-265. Tokarczuk, Olga, 2001 [1998]: Taghaus Nachthaus. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Stuttgart. Tokarczuk, Olga, 2000a [1997]: Der Schrank. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Stuttgart. Tokarczuk, Olga, 2000b [1996]: Ur und andere Zeiten. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Berlin. Tokarczuk, Olga, 1995: E. E. Warszawa.

Retrokryminał – Breslau als Erinnerungsort in den Kriminalromanen von Marek Krajewski D IRK K RETZSCHMAR

In der polnischen Gegenwartsliteratur können zwei Verfahren erinnerungskultureller Semantisierung urbaner Räume unterschieden werden. Das eine, exemplarisch vertreten durch die ,Danzig-Texte‘ Paweł Huelles und Stefan Chwins, basiert vorwiegend auf dem Motiv der Stadt als Palimpsest (Chwin 1995; Huelle 1996; 2000). Relikte, die den „Urbizid“ (Assmann 2009: 19) des Krieges und die baulichen Neuordnungen der Nachkriegszeit überdauert haben, bleiben dem Stadttext palimpsestartig eingeschrieben – beispielsweise in Form verblasster, die deutsche Vergangenheit Danzigs in Erinnerung rufender Schriftzüge auf Häuserfassaden: In einem Zustand der Inspiration machte ich mich auf den Heimweg. [...] an manchen Häusern hielt ich an, da, wo unter der Schicht des Putzes eine Schrift sichtbar wurde – „Butter – Milch – Brot“ oder „Tabakhandlung“. (Huelle 1996b: 99, H. i. O.)1

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„Wracałem do domu w stanie natchnienia. [...] a ja zatrzymywałem siĊ przy niektórych domach, tam gdzie spod warstwy tynku wyłaniał siĊ napis ,Butter Milch – Brot‘ albo ‚Tabakhandlung‘.“ (Huelle 1991: 39. H. i. O.)

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Die spurensuchenden Protagonisten, und mit ihnen der Leser, können diese Präsenz der Geschichte nur noch momenthaft, zufällig und episodisch erfahren. Marek Krajewskis ,Breslau-Texte‘ repräsentieren den zweiten Modus erinnerungskultureller Sinnaufladung urbaner Szenerien. Im Genre des historischen Kriminalromans operieren sie – die polnische Bezeichnung retrokryminał stellt dies paratextuell deutlicher aus, als das deutsche Pendant ,historischer Kriminalroman‘ – mit einer elaborierten ,Retro–Ästhetik‘, die das historische Breslau der Jahre 1919 bis 1945 nicht fragmentiert, palimpsestartig und verfremdet, sondern so vollständig und realistisch wie möglich wiedererstehen lassen soll. Zur Erzeugung entsprechender „Realitätseffekte“ (sensu Barthes 1968) bedient sich Krajewski eines umfangreichen Verfahrensrepertoires. An erster Stelle stehen – in jedem der Romane und so häufig wie möglich – Darstellungen realer topographischer Gegebenheiten der historischen Stadt: Mock […] verließ die Kaiserbrücke, fuhr vorbei an der städtischen Turnhalle, dem Park mit dem Denkmal des Gründers des botanischen Gartens Heinrich Göppert, ließ die Dominikanerkirche rechts und die Hauptpost links liegen und bog in die schöne Albrechtstraße ein, an deren Anfang der riesige Klotz des Hatzfeldpalastes stand. Er fuhr bis zum Ring und dann nach links in die Schweidnitzer Straße. Er ging vorbei an der Dresdner Bank, an Speiers Geschäft, wo er immer seine Schuhe kaufte, und am Bürogebäude von Woolworth in der Karlsstraße, wo er einen kurzen Blick auf das Volkstheater und das Galanteriewarengeschäft von Dünow warf. Hier lenkte er den Wagen in die Graupenstraße. Über der Stadt ruhte eine fast sommerliche Hitze, und vor dem italienischen Eissalon standen die Menschen Schlange. Nach fast hundert Metern bog er in die Wallstraße ein, wo er vor einem ziemlich heruntergekommenen Haus mit der Nummer 27 anhielt. (Krajewski, 2002: 44, H. D. K.)2

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„Mock [...] zjechał z Mostu Cesarskiego, minął miejską salĊ gymnastyczną, park, w którym stał postument z popiersiem załoĪyciela Ogrodu Botanicznego Heinricha Göpperta, po prawej stronie zostawił koĞciół dominikanów, po lewej PocztĊ Glowną i wjechał w piĊkną Albrechtstrasse, zaczynajacą siĊ potĊĪną bryłą pałacu Hatzfeldtów. Dojechał do Rynku i skrĊcił w lewo w Schweidtnitzer Strasse. Minął Dresdner Bank, sklep Speiera, gdzie zaopatrywał siĊ w obuwie, biurowiec Woolwortha, wjechał w Karlstrasse, kątem oka zerknął na Teatr Ludowyy, sklep galanteryjny Dünowa i skrĊcił w Graupnerstrasse. Nad mias-

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Bewegt sich der Leser hier mit der Figur sukzessive durch den kartographisch repräsentierten Stadtraum, bezieht er in der folgenden Passage gemeinsam mit dem Erzähler eine Beobachterposition, von der aus sich eine panoramatisch-simultane, tableauartige Sicht auf Breslauer Genreszenen an unterschiedlichen Schauplätzen eröffnet: Die Hitze in Breslau hielt an. […] Die verschwitzten Menschen saßen in den Kaffehäusern und Konditoreien an der repräsentativen Gartenstraße und fächelten sich unablässig Kühle zu. Auf der Liebichshöhe, wo das Großbürgertum unter den ausladenden Platanen und Kastanienbäumen vom trockenen Staub der Innenstadt Erholung suchte, spielten sonntags erschöpfte Musikanten ihre Märsche und Walzer, in den Grünanlagen und Parks saßen die Alten beim Skat zusammen, und entnervte Kindermädchen versuchten, ihre erhitzten Zöglinge im Zaum zu halten. Die Gymnasiasten, die nicht in die Sommerfrische gefahren waren, hatten längst Sinuskurven und ,Hermann und Dorothea‘ vergessen und veranstalteten am städtischen Flusswerder ihre Schwimmwettbewerbe. Das Proletariat aus den ärmlicheren Gassen rund um den Ring und den Blücherplatz leistete sich Humpen von Bier, so dass viele schon am frühen Morgen betrunken in den Haustoren und Rinnsteinen lagen. Und die Jugend blies zur Jagd auf die Ratten, von denen es in der Umgebung der Müllbehälter jetzt nur so wimmelte. Träge flatterten in den Fenstern angefeuchtete Leintücher. Breslau atmete schwer. (Krajewski 2002: 70, H. D. K.)3

tem zalegał prawie letni upał, toteĪ nie zdziwił go widok długiej kolejki ustawionej pod sklepem z lodami włoskimi. Po kilkudziesiĊciu metrach skrecił w Wallstrasse i zajechał przed doĞü zaniedbaną kamienicĊ oznaczoną numerem 27.“ (Krajewski 1999: 33 f. H. D. K.) 3

„We Wrocławiu niepodzielnie zapanował upał. [...] Wachlujący siĊ nieustannie, spocony tłum wypelniał kawiarnie i cukiernie przy reprezentacyjnej Gartenstrasse. Zlani potem musykanci wygrywali w niedziele marsze i walce na Liebichshöhe, gdzie pod rozłoĪystymi kasztanowcami i platanami oddychało suchym kurzem zmiĊczone mieszczaĔstwo. Skwery i parki zaludniali staruszkowie grający w skata i rozłoszczone bony usiłujące uspokoiü zgrzane dzieci. GimnazjaliĞci, którzy nie wyjechali na wakacje, dawno zapomnieli o sinusach czy o Hermannie i Dorothei i urządzali pływackie zawody na KĊpie MieszczaĔskiej. Lumpenproletariat z biednych, brudnych uliczek wokół Rynku i Blücherplatz wypijał cysterny piwa i zalegał nad ranem pod bramami i w rynsztokach. MłodzieĪ urządzała polowania na szczury, które nadzwyczaj rojnie buszowały

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In ihrer Ausführlichkeit und Massierung erfüllen diese authentischen Reproduktionen der historischen städtischen Topographie am nachdrücklichsten eine der zentralen erinnerungskulturellen Intentionen der Romane Krajewskis: das Erinnern an die deutsche Vergangenheit Breslaus. Der Erwähnung der ehemaligen deutschen Straßennamen im Text sowie der jedem Roman als Anhang beigefügten Dokumentation ihrer Umbenennungen nach 1945 nehmen dabei eine Schlüsselfunktion ein, die aus der besonderen memorialkulturellen Relevanz gerade dieser Dimension urbaner Raumordnung und Sinnstiftung resultiert (vgl. dazu Kohlstruck 2004; Sänger 2006; Verheyen 1999). Demnach besteht die Spezifik von Straßennamen darin, dass sie „als semiotische Kernelemente des nationalen Gedächtnisses“ einerseits „ostentativ […] auf eine unendliche Dauer ausgerichtet [sind], zugleich aber ihre Existenz infolge von System- und Regierungswechseln äußerst begrenzt“ sein kann (Assmann 2009a: 4). Daraus resultiert „eine Zweigleisigkeit zwischen offiziellem und inoffiziellem Gedächtnis […]. Unter den monumentalen Deklamationen und Zeichensetzungen des Staates erhält sich das Netz eines sozialen Gedächtnisses, das eine kognitive Dissonanz produziert, damit aber auch eine kritische Distanz zur offiziell verordneten Gegenwartsdeutung ermöglicht.“ (ebd.) Krajewskis minutiöse Rekonstruktion der historischen Stadttopographie Breslaus setzt ebendiesen Prozess der Dekonstruktion eines zur Entstehungszeit der Romane noch stabilen, bzw. erst ansatzweise im Wandel begriffenen offiziellen Geschichtsbildes von einer rein polnischen Identität Breslaus in Gang – offensichtlich mit nachhaltiger Wirkung. So kann man Weblog-Debatten über Krajewskis Romane entnehmen, dass viele seiner polnischen Leser sich vor allem für die deutschen Straßen- und Gebäudenamen interessieren und die entsprechenden Schauplätze aufsuchen.4 Eine in der empirischen Realität

po Ğmietnikach. W oknach smĊtnie zwieszały siĊ namoczone przeĞcieradła. Wrocław ciĊĪko dyszał.“ (Krajewski 1999: 52 f., H. D. K.) 4

Siehe z.B. http://mojahistoriaczytania.blox.pl/2009/01/retro-kryminal-po-raztrzeci.html. Auch Stefan Chwin widmet in „Hanemann“ (1995, dt. „Tod in Danzig“ 1997) dem Akt des Umbenennens von Straßen und Orten als massiver Intervention in das kulturelle Gedächtnis der Stadt eine eigene Szene: „Im Steffensweg sah sie, wie zwei Arbeiter am Haus der Familie Horowitz ein Emailleschild mit der Aufschrift ‚ul. Stefana Batorego‘ anbrachten. Der Mirchauer Weg hieß jetzt Ulica Partyzantow, der Hochstrieß hieß Slowackiego. Zu Langfuhr

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vermeintlich ausgelöschte Signatur des kollektiven Gedächtnisses wird im Medium der Literatur rekonstruiert und über die Zwischenstufe des kurzfristigen kommunikativen Gedächtnisses allmählich auch dem längerfristigen kulturellen Gedächtnis der Stadt wieder zugeführt. Ausgehend von Astrid Erlls Typologie narrativer und rhetorischer Modi erinnerungskulturell orientierter literarischer Texte, lassen sich Krajewskis Romane primär dem „antagonistischen Modus“ zuordnen (Erll 2005). Mit seinen thematischmotivischen, erzähltechnischen und stilistischen Verfahren dient dieser Texttypus der literarischen Auseinandersetzung mit Erinnerungskonkurrenzen innerhalb einer Gesellschaft in historischen und sozio-kulturellen Umbruchsituationen. Daneben weisen Krajewskis Texte auch Anteile weiterer Modi auf, die später im Zusammenhang mit den ihnen zugehörigen literarischen Verfahren noch erörtert werden. Zunächst seien weitere Motive und Strategien zur authentischen Rekonstruktion historischer Breslau-Settings besprochen. Krajewski verarbeitet zudem zeittypische Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster von Urbanität. So rekurriert die folgende Passage auf die Simultan- und Montagetechnik literarischer und filmischer Großstadtdarstellungen der 1920er Jahre, denen es vor allem um adäquate ästhetische Repräsentationsformen von ,Betriebsamkeit‘ als einer alle Sinne affizierenden Form moderner Großstadterfahrung ging (vgl. Marx 2009): Sie kamen am Sonnenplatz an. […] In der Straßenbiegung kreischte die Trambahn, mit der die Arbeiter zur zweiten Schicht in die Fabriken von Linke, Hofmann und Lauchhammer fuhren […]. Sie bogen nach rechts in die Gartenstraße ein: Vor der Markthalle drängten sich die Fuhrwerke […], der Wächter des großen Jugendstilgebäudes an der Ecke Theaterstraße reparierte schimpfend die Lampe über dem Ein-

sagte man Wrzeszcz, zu Neufahrwasser Nowy Port, zu Brösen Brzezno.“ (Chwin 1999: 25 H. D. K.) „Na Steffensweg widziała, jak dwóch robotników przybijało do Ğciany domu Horovitzów emaliowaną tabliczkĊ z napisem ‚ul. Stefana Batorego‘. Mirchauer Weg nazywało siĊ teraz Partyzantów, a Hochstriess - Słowackiego. Na Langfuhr mówiono Wrzeszcz, na Neufahrwasser Nowy Port, a na Brösen BrzeĨno.“ (Chwin 1995: 75, H. D. K.) Und ähnlich wie im Fall Krajewskis stößt dieses Motiv auf ein besonders reges Rezipienteninteresse; vgl. dazu Lars (2008).

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gang […]. Sie passierten den Autosalon Kotschenreuther und Waldschmidt, den schlesischen Landtag und einige Hotels. […] Der Wagen hielt an der Rückseite des Hauptbahnhofs, in der Teichbäckerstraße, gegenüber der öffentlichen Badeanstalt. (Krajewski 2002: 16 f. H. D. K.)5

Die folgende Szene zeichnet hingegen, unter Rückgriff auf das paradigmatische Fensterblick-Motiv, ein eher romantisches Stadtpanorama: So ging Frenzel ans Fenster, und was er sah, nahm ihm beinahe den Atem: die orangenfarbene Herbstsonne beleuchtete die Konturen der plumpen Silhouette der Johanneskirche und der Hohenzollernstraße, ihre Strahlen glitten über die kunstvollen Gesimse der Oberpostdirektion und des Juventus-Palais und ließen die reichen Jugendstilhäuser, die in einem Bogen um den Kaiser-Wilhelm-Platz standen, im weichen Schatten versinken. Weiter hinten erhob sich die Caroluskirche und die ärmlichen Häuser des Arbeiterviertels. Frenzel wollte noch weiter schauen, nach Osten, zu den parkähnlichen, dicht bewachsenen Friedhöfen hinter der Lohestraße, doch plötzlich vernahm er ein Geräusch hinter sich. (Krajewski 2007b: 196 f. H. D. K.)6

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„DojeĪdzali do Sonnenplatz. […] Zazgrzytał na zakrĊcie tramwaj wiozący robotników drugiej zmiany z fybryki Linkego, Hofmanna i Lauchhammera […]. SkrĊcili w prawo, w Gartenstrasse: pod halą targową tłoczyły siĊ furmanki […] stróĪ secesyjnej kamienicy na rogu Theaterstrasse złorzecząc naprawiał lampĊ przy bramie […]. MinĊli salon samochodowy Kotschenreuthera i Waldtschmidta, budynek Ğłaskiego Landtagu i kilka hoteli. […] Adler zatrzymał siĊ z drugiej strony Dworca Głównego, przy Teichäckerstrasse, naprzeciw łaĨni natryskowych.“ (Krajewski 1999: 14, H. D. K.)

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„Frenzel poszedł do okna i zaparło mu w dech w piersi. Jesienne pomaraĔczowe słoĔce podkreĞlało przysadzisty budynek koĞcioła Jana Chrzciciela na Hohenzollernstrasse, Ğlizgało siĊ na kunsztowych gzymsach poczty i pałacyku Juventusu, zostawiając w miĊkkim cieniu okazałe kamienice otaczające secesyjnym wieĔcem Kaiser-Wilhelm-Platz. Dalej wznosił siĊ koĞciół Karola Boromeusza i skromne kamienice robotniczej dzielnicy Gajowice. Frenzel chciał teraz spojrzeü na wschód w stronĊ zalesionych cmentarzy za Lohestrasse, ale nie uczynił tego, poniewaĪ doszły do niego nowe dĨwiĊki.“ (Krajewski 2005: 184, H. D. K.)

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Einer möglichst realitätsnahen Vergegenwärtigung der historischen Stadt dienen ferner detaillierte Deskriptionen von Zeit- und Lokalkolorit: In den feuchten Ecken, aus denen nicht einmal die warme Septembersonne den modrigen Geruch vertreiben konnte, bauten die Kesselflicker ihre provisorischen Stände auf, es zischten und funkelten die rotierenden Schleifräder, und die Drehorgelspieler stellten ihre klingenden Kisten auf, auf denen sie romantische oder freche Balladen der Großstadt spielten. […] Erich Frenzel, der Hausmeister des Häuserkarrees zwischen der Garten-, Agnes-, Tauentzien- und der Neuen Schweidnitzer Straße, saß in dem von ihm verwalteten Hof und zerbrach sich seinen nicht gerade klugen Kopf über die nicht minder schlichte Frage, wo er nun den heutigen Abend verbringen sollte: hier im Wirtshaus von Bartsch, mit ein paar Bier und einer Schüssel Graupensuppe mit Erbsen und Speck, oder aber im Hinterhof des Lokals von Orlich in der Gartenstraße 51, über einem Glas Nussschnaps und einem Teller Kohl mit Grieben. […B]ei Bartsch trat seit kurzem ein Akkordeonspieler auf, der genau wie Frenzel aus Schwaben kam und schöne Heimatmelodien zum Besten gab. […I]n Orlichs Hinterzimmer versammelten sich jeden Samstag starke Männer, die sich im Armdrücken maßen. […] Frenzel erinnerte sich an den neuen Kraftprotz aus Polen und an seine peinliche Niederlage von letzter Woche. (Krajewski 2007b: 188, 192 H. D. K.)7

7

„W ciemnich zaułkach, gdzie nawet upalne wrzeĞniowe słoĔce nie mogło wypraĪyü zatĊchłej wilgoci, rozstawiali swe prowizoryczne kramy sprzedawcy patelni, tam koła szlifierskie Ğwistały w syku iskier, a kataryniarze ustawiali swe skrzynki i wygrywali na nich miejskie ballady, które miały charakter albo łotrzykowski, albo romansowy. [...] Erich Frenzel, dozorca kwartału domów, zamkniĊtego pomiĊdzy Gartenstrasse, Agnesstrasse, Tauentzienstrasse i Schweidtnitzerstrasse, siedział na administrowanym przez siebie podwórku i wysilał cały swój nieskomplikowany mózg nad równie nieskomplikowanym problemem: czy sobotni wieczór spĊdziü właĞnie tutaj, w gospodzie Bartscha przy kuflu i misce kaszanki z grochem i boczkiem, czy teĪ na tyłach kawiarni Orlicha przy wódce orzechowej i kapuĞcie ze skwarkami. Pierwsza ewentualnoĞü wydawała mu siĊ kusząca ze wzglĊdu na obecnoĞü u Bartscha nowego akordeonisty, który – podobnie jak Frenzel – pochodził ze Szwabii i grał piĊkne ojczyste melodie, za drugą natomiast moĪliwoscią przemawiało zamiłowanie Frenzla do hazardu. Oto bowiem z zakamuflowanym pomieszczeniu, na tyłach kawiarni Orliche pry Gartenstrasse 51, zbierali siĊ siłacze, którzy krzyĪowali na

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Zudem haben einige der begangenen Verbrechen einen authentischen Hintergrund. Die Morde des im Jahr 1927 spielenden Romans „Der Kalenderblattmörder“ erinnern beispielsweise an die ,großen‘ Serienkiller der 1920er Jahre Fritz Haarmann und Peter Kürten. Die folgende Passage aus dem gleichen Roman verweist mit der Figur des Alexej von Orloff und den im Spiritistenmilieu angesiedelten Delikten auf die Ereignisse um den berühmten Berliner Hellseher Erik Jan Hanussen: Mock stellte sich vor das Haus und betrachtete gedankenverloren den um die Zeit beachtlichen Straßenverkehr. […] Draußen stieß er beinahe mit einem Zeitungsjungen zusammen, der auf der Straße herumlungerte. Er drückte ihm ein paar Pfennige in die Hand und wurde ihn damit los. Mit der Zeitung unter dem Arm ging er über die Westseite des Rings. […] Er vertrieb sich die Zeit mit der Lektüre der „Breslauer Neuesten Nachrichten“. Auf einer der Anzeigenseiten fiel ihm ein ungewöhnliches Bild auf: ein Mandala […], in welches die Figur eines alten Mannes mit erhobenem Zeigefinger eingezeichnet war. […] „Der geistige Vater Alexej von Orloff beweist, dass das Ende der Welt naht. Eine weitere Drehung des Rades der Geschichte steht uns bevor – Verbrechen und Katastrophen vergangener Zeiten wiederholen sich. Wir laden zu einem Vortrag des Weisen vom Sepulchrum Mundi ein. Sonntag, 27. November 1927, Grünstraße 14-16“. (Krajewski 2006a: 24, H. D. K.)8

stolach swe mocarne ramiona [...] Przypomniawszy sobie o przyjeĨdzie do Wrocławia siłacza z Polski i o swojej zeszłotygodniowej sromotnej przegranej, powoli siĊ przychylał ku temu drugiemu rozwiązaniu.“ (Krajewski 2005: 175 f; 179f. H. D. K.) 8

„Mock stanął przed domem i obserwował bezmyĞlnie duĪy juĪ o tej porze ruch uliczny. [...] Pod nogami zaplątał mu siĊ jakiĞ gazeciarz. Mock pozbył siĊ go, wciskając mu kilka fenigów i dzierĪąc gazetĊ pod pachą, przeciął na skos zachodnią pierzejĊ Rynku. [...] Czas skracał sobie czytaniem ‚Breslauer Neueste Nachrichten‘. Na jednej ze stron ogłoszeniowych jego wzrok przykuł niezwykły rysunek. Mandala, koło przemian, otaczała ponurego starca z wzniesionym do góry palcem. ‚Ojciec duchowy ksiąĪĊ Aleksiej von Orloff udowadnia, Īe koniec Ğwiata jest bliski. Oto nastĊpuje kolejny obrót Koła Historii – powtarzają siĊ zbrodnie i kataklizmy sprzed wieków. Zapraszamy na wykład mĊdrca z Sepulchrum Mundsi. Niedziela 27 listopada, Grünstrasse 14-16‘.“ (Krajewski 2003: 25 f. H. D. K.)

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Neben einer Vielzahl semifiktiver Figuren treten in jedem Roman auch historisch verbürgte Personen auf. Die in dieser Hinsicht größte Realitätsdichte erreichen die in den frühen 1930er Jahren bzw. 1945 handelnden Romane „Tod in Breslau“ und „Festung Breslau“, in denen nahezu die gesamte nationalsozialistische Führungsschicht Schlesiens und Breslaus auf Partei-, Polizei- und SS-Ebene erwähnt und in die Handlung einbezogen wird. An dieser Stelle kann – in Form einer definitorischen Präzisierung des Begriffs ,Erinnerungsort‘ – eine erste Zwischenbilanz gezogen und die eingangs entwickelte These von den zwei Verfahren memorialkultureller Konstruktionen urbaner Räume in der polnischen Gegenwartsliteratur weiter validiert werden. Die aktuelle kulturwissenschaftliche Raumtheorie unterscheidet zwischen den Kategorien Raum und Ort; um einen prospektiven von einem retrospektiven Umgang mit räumlichen Entitäten abzugrenzen. So definiert Aleida Assmann den Raum als „Gegenstand des Machens und Planens“, als „Dispositionsmasse“ für jede Art „intentionale[r] Akteure“, die die „Zukunft im Blick [haben]“ und „eingreifen, verändern, umgestalten“ wollen (Assmann 2009: 16 f.). Orte sind demgegenüber „dadurch bestimmt, das an ihnen bereits gehandelt, bzw. etwas erlebt und erlitten wurde.“ An Orten „hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen. Orte […] bergen Vergangenheit; […] [sie] haben eine Geschichte, die an ihnen haftet und weiterhin ablesbar ist.“ (ebd.) Die ,Danzig-Texte‘ von Huelle und Chwin führen beide Perspektiven zusammen. Die Vergangenheit der Stadt als Raum, das heißt, als Objekt permanenter Eingriffe und Umgestaltungen wird präsent gehalten, indem die Protagonisten Spuren dieser Interventionen auffinden, um so ihre Stadt als Ort wahrnehmen und reflektieren zu können, an dem Demontagen und semiotische Umwertungen stattgefunden haben. Krajewskis ,Breslau-Texte‘ führen hingegen synchrone Längsschnitte durch die Stadtgeschichte zu jeweils einem Zeitpunkt ihrer Entwicklung zwischen 1919 und 1945. Erst der letzte Roman, „Festung Breslau“, handelt von der völligen Zerstörung der Stadt in den Endkämpfen des Krieges und damit von ihrer finalen Zurichtung als Raum. Ein nach 1945 spielender Roman müsste Breslau, bzw. dann Wrocław, analog zur Darstellung Danzigs bei Chwin und Huelle, als Ort präsentieren, der ebenso palimpsestartig von den Spuren dieses ‚Urbizids‘ gezeichnet ist. Einen solchen Text hat Krajewski (bislang) nicht geschrieben. Narrative

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Prolepsen in die 1950er Jahre deuten diese Perspektive in „Festung Breslau“ lediglich an. Dabei tritt allerdings ein Geschichts- und Erinnerungskonzept zutage, dass weniger die Katastrophen und radikalen Brüche der (deutsch-polnischen) Geschichte als vielmehr ihre längerfristigen Kontinuitäten in den Blick nimmt. Diese spezielle Beobachtung der Historie hängt wiederum eng mit den erinnerungskulturellen Funktionen der gattungspoetischen und narrativen Strukturen der Texte Krajewskis zusammen, die daher zunächst erörtert werden müssen. Krajewskis Romane kombinieren verschiedene Subgenres des Kriminalromans mit Versatzstücken des historischen Romans, des Gesellschaftsromans und des Schauerromans und stellen damit nahezu mustergültige Exempel postmoderner Gattungshybridität dar.9 Historische Romane und Gesellschaftsromane sind sie aufgrund der realistischen Darstellung jeweils eines Zeitraums der Breslauer Stadtgeschichte mitsamt der jeweils zeitkonstitutiven Sozialstrukturen. Zugleich werden das Erinnern, das Vergessen und die Suche nach historischen Spuren selbst wiederholt zum Thema. So reflektiert der Hauptheld der Romane, Kommissar Eberhard Mock wiederholt über Raum und Zeit und recherchiert, wie der Autor Krajewski selbst beim Verfassen seiner Romane, in den Breslauer Stadtarchiven, um möglichen historischen Wurzeln der aufzuklärenden Verbrechen nachzuspüren. Krajewski verbindet also Genrekonventionen des klassischen historischen Romans mit Elementen des postmodernen, metanarrativen und metafiktionalen historischen Romans, der Historie nicht nur darstellt, sondern Prozesse des Erinnerns, Fixierens und Erzählens von Geschichte mit reflektiert.10 Insofern sind seine Romane auch dem reflexiven Modus erinnerungskultureller Literatur zuzuordnen, der immer dann vorliegt, wenn die Texte zugleich mit der Bezugnahme auf historische Ereignisse ihre eigene Bedeutung als Medien des kollektiven Gedächtnisses mit reflektieren. Was das Genre ,Kriminalroman‘ betrifft, folgen Krajewskis Texte dem whodunit-Muster der klassischen Detektivgeschichte. Die Verbrechen selbst werden nicht nur durch die Psychopathologie des Täters, sondern auch durch die jeweiligen politischen und sozialen Verhältnisse motiviert. Sind die Tatorte und Verbrechermilieus in den unteren sozialen Schichten

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Zu entsprechenden Hybridisierungstendenzen in der englischen Kriminalliteratur siehe Spekat (1997).

10 Zum postmodernen englischen historischen Roman siehe Nünning (1995).

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angesiedelt, nähern sich Krajewskis Beschreibungen den Elendsszenerien der Stadtphysiologien des 18. Jh.s nach dem Muster Eugene Sues. Bei der Beschreibung der Taten und Tatorte kommen zudem reihenweise Motive des Schauerromans zum Einsatz: Mörderische Geheimbünde, unterirdische Gewölbe und Verliese, Friedhöfe, parapsychologische Phänomene oder schaurige Albträume. Hinzu kommt die Ausgestaltung ekelerregender Details im Zusammenhang mit Leichen, Leichenteilen und Verwesungsstadien: Die siebzehnjährige Marietta von der Malten lag, von der Taille abwärts entblößt, auf dem Boden. Ihr […] Haar war blutdurchtränkt wie ein Schwamm. Das Gesicht war in einer Weise verzerrt, als sei es mitten in einem heftigen Anfall plötzlich von einer Lähmung ergriffen worden. Aus ihrem aufgeschnittenen Leib quollen die Gedärme heraus. Auch der Magen war aufgerissen, man konnte in ihm noch Reste von halbverdauter Nahrung erkennen. Mock hatte kurz den Eindruck, als bewege sich etwas in der Bauchhöhle. Er überwand seinen Ekel und beugte sich tiefer über den Körper des Mädchens. Der Gestank war unerträglich. Mock schluckte. Mitten in Blut und Schleim krabbelte ein kleiner flinker Skorpion. Forstner erbrach sich heftig in der Toilette. (Krajewski 2002: 19)11 Der wohlbekannte Geruch kam aus der Richtung der vierten [Tür]. In dieser Wand prangte ein unregelmäßiges Loch […] Mock hielt sich die Nase zu und schaute hinein. Das Licht der Taschenlampe offenbarte ihm einen haarlosen, mit verwesender Haut bedeckten Schädel. Arme und Beine waren an Haken befestigt […]. Der Kri-

11 „Siedemnastoletnia Marietta von der Malten leĪała na podłodze obnaĪona od pasa w dół. GĊste, popielate, rozpuszczone włosy nasiąkły krwią jak gąbka. Twarz wykrzywiona była jakby gwałtownym atekiem paraliĪu. Girlandy jelit walały siĊ po bokach rozciĊtego ciała. Rozdarty Īoładek pokazywał nieprzetrawione resztki jedzenia. Mockowi zdawało siĊ, Īe coĞ dostrzega w jamie brzusznej. Pokonując wstrĊt, pochylił siĊ nad ciałem dziewczyny. Fetor był nie do znieszienia. Mock przełknął ĞlinĊ. WĞród krwi i Ğluzu poruszal siĊ mały, ruchliwy skorpion. Forstner wymiotował gwałtownie w ubikacji.“ (Krajewski 1999: 15)

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minalrat schaute der Leiche ins Gesicht und sah einen dicken Wurm, der aus einer blinden Augenhöhle kroch. (Krajewski 2006a: 22)12

Häufig werden solche Szenen im Milieu der Gerichtsmedizin verortet: Mock hatte noch nie einen zerteilten Menschen gesehen. Er hatte keine Ahnung, dass die Halsmuskeln so eng an der harten, in mehrere Segmente aufgeteilten Luftröhre anlagen, dass menschliche Gelenke eine gelbliche Flüssigkeit enthielten, dass ein aufgesägter Knochen so entsetzlich stank. Er hatte bisher keine abgetrennten Finger gesehen, die in einer mit Blut gefüllten Schüssel schwammen, oder einen weit offenen Brustkorb, oder das Fleisch der Waden, die man von den Schienbeinen abgetrennt hatte, oder zertrümmerte Kniescheiben, in die eine Stahlklinge hineingeschoben worden war. (Krajewski 2006a: 41)13

In diesen Fällen bedient Krajewski offensichtlich die Bedürfnisse eines multimedial sozialisierten Publikums, das derlei bereits aus populären TVSerien wie CSI, Crossing Jordan, Post Mortem, Silent Witness oder den Romanen von Patricia Cornwell oder Kathy Reichs kennt und schätzt. Die zentrale Ermittlerfigur, Kriminalrat Eberhard Mock, ist ebenfalls äußerst hybrid angelegt. Er ist Vertreter des offiziellen Polizeiapparats und zynischer hard-boiled-detective zugleich; letzteres aber auch nur partiell, da er ebenso Züge des Gegentypus – des melancholischen Ermittlers – trägt.

12 „Od czwartej [drzwi] bił ów znany policjantom smród. W Ğcianie tej wyrąbany był nieregularny otwór metr na metr. [...] Mock, zatykając nos, zajrzał do Ğrodka. Latarka wyłowiła z ciemnoĞci małej niszy bezwłosą czaszkĊ obciągniĊtą rozkładającą siĊ skórą. RĊce i nogi przywiązane były do haków na przeciwległej Ğcianie komory. Radca spojrzał jeszcze raz na twarz trupa i zobaczył tłustego robaka, który usiłował siĊ wkrĊcic w zalane bielmem oko.“ (Krajewski 2003: 23) 13 „Mock jeszce nigdy nie widział poüwiartowanego człowieka. Nie zdawał sobie sprawy, Īe miĊĞnie szyj tak ciasno Ğciskają z trzech stron sztywną i podzieloną na segmenty rurkĊ krtani, Īe w ludzkich stawach zawarty jest Īółtawy lepki płyn, Īe rozpiłowana koĞü wydziela przeraĨliwą woĔ. Nie widział dotąd odciĊtych palców pływających w wypełnionej krwią balii, otwartej na oĞcieĪ klatki Īeber, miĊsa łydek, które odskrobano od goleni, ani potrzaskanych głowic kolana, w które wepchniĊto stalowy przecinak.“ (Krajewski 2003: 43)

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Mock ist zudem exzessiver Trinker, Gourmet und Gourmand, Dandy sowie manischer Frauenheld mit entsprechend ausschweifendem Sexualleben – allerdings wiederum ohne die ansonsten den klassischen hard-boiledTypus à la Philippe Marlowe auszeichnende Misogynie. Zudem neigt Mock zu Gewalttätigkeit – auch bei seiner Ermittlungsarbeit. Im Roman „Tod in Breslau“ lässt Krajewski ihn gar an einem Folterverhör der Gestapo teilnehmen. Gleichzeitig verfügt er – wie sein Autor – über eine altphilologisch-humanistische Bildung. Weiterhin ist er fähig zu rational-wohlüberlegter Selbstreflexion und Selbstkritik, gleichzeitig aber ein radikaler Gerechtigkeitsfanatiker, der selbst vor eigenhändige Lynchjustiz nicht zurückschreckt. Auch die Milieus der Verbrecher, der Täter und der übrigen Ermittler sind durch vielfältige Übergänge und Grauzonen miteinander verknüpft. Auf Seiten der ‚Guten‘ wie der ‚Bösen‘ herrschen gleichermaßen Korruption sowie der Hang zu sexuellen Ausschweifungen, Alkoholismus, Drogensucht und Dekadenz: Wachtmeister Kurt Smolorz arbeitete beim Vierten Dezernat des Polizeipräsidiums Breslau, das sich im Wesentlichen mit Sittlichkeitsverbrechen befasste. Würden die Mitarbeiter dieser Abteilung allerdings, einschließlich des Chefs, Doktor Josef Ilssheimer, durch die Berliner Geheimpolizisten aus der Kommission für interne Angelegenheiten eingehend überprüft, würde sich schnell herausstellen, dass ihr Privatleben keineswegs den guten Sitten entsprach. Nur Kurt Smolorz bildete eine Ausnahme. Weder nahm er die kostenlosen Dienste der Prostituierten in Anspruch, noch war er für Schutzgelder von ihren Zuhältern empfänglich, noch betrank er sich auf Kosten des Hauses in Lokalen mit illegalem Ausschank. Auch erwartete er von den in geheimen homosexuellen Klubs in flagranti erwischten Beamten keine Gefälligkeiten im Austausch für sein Schweigen. Und die Liebesdienste von Damen aus höheren Kreisen, die er in den Armen von Verbrechern oder Fuhrmännern ertappt hatte, interessierten ihn ebenfalls nicht. (Krajewski 2009: 16)14

14 „Wachtmistrz Kurt Smolorz pracował w decernacie IV Prezydium Policji w Breslau, zajmującym siĊ głównie sprawami obyczajowymi. Gdyby jednak nieliczni pracownicy tego wydziału, włącznie z jego szefem, doktoren Josefem Ilssheimerem, zostali nagle poddani wnikliwej inwigilacji przez berliĔskich tajniaków z policyjnej komisji spraw wewnĊtrznych, okazałoby siĊ, Īe ich Īycie prywatne jest zgoła nieobyczanjne. Jednym wyjątkiem był Kurt Smolorz. On nie

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Als weitere Zwischenbilanz kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass Krajewski auf den Ebenen der Gattungstypologie, der Motivik sowie der Figurenzeichnung ausgiebig mit Hybriditäten, Uneindeutigkeiten und Grenzüberschreitungen arbeitet. Diese Verfahren verweisen auf eine weitere erinnerungskulturelle Intention der Texte, die darin besteht, offizielle, kanonisierte und monovalente Sinnzuschreibungen des (deutsch-polnischen) kulturellen Gedächtnisses multiperspektivisch zu dekonstruieren. Der letzte Roman der Reihe, „Festung Breslau“, treibt durch seine fast schon krude zu nennende Handlung und seine überzeichneten Charaktere dieses Spiel der Umwertungen vermeintlich feststehender Werte und eindeutiger Urteile über ,Schwarz und Weiß‘, ,Gut und Böse‘ auf die Spitze. Zu Beginn wird der Eindruck erweckt, als sei das Verbrechen, die Vergewaltigung und Ermordung eines jungen Mädchens in den Tagen der Entscheidungsschlacht um Breslau, von den vorrückenden Sowjetsoldaten begangen worden. Krajewski bringt also zunächst eine Lesart ins Spiel, die deutschen Lesern aufgrund des im hiesigen Kollektivgedächtnis ebenso tief verankerten wie offiziell lange tabuisierten Bildes vom vergewaltigenden Rotarmisten höchst plausibel erscheinen muss. Ebenso bedient die negative Zeichnung der Sowjetarmee die polnischen Ressentiments. Die dann präsentierte Option lässt diese basalen Konstituenten eines verfestigten Geschichtsbildes kollabieren. Durch Hinweise der deutschen Gräfin Gertrud von Mogmitz – die zunächst geradezu zu einer Heiligenfigur hochstilisiert wird und deren Kammerzofe das Mordopfer war – gerät der SS-Offizier und KZ-Kommandant Hans Gnerlich in den Fokus der Ermittlungen. Nun kommt es zur Aufspaltung der deutschen und polnischen Perspektive. Aus deutscher Sicht stimmt das Weltbild insofern, als der deutsche ,Ostadel‘, der dann zu einem der Hauptopfer der Vertreibungen nach 1945 wurde, eindeutig auf der Seite des ,Guten‘ verortet wird – eine Darstellung also, die der offiziellen polnischen Geschichtsversion zuwiderläuft. Zusammengeführt werden beide Sichtweisen wieder in der Charakterisierung Gner-

korzystał z darmowych usług prostytutek, nie Īądał od alfonsów czĊĞci zarobków, nie upijał siĊ za darmo w lokalach z nielegalnym wyszynkiem, a w zamian za milczenie nie domagał siĊ wsparcia od zdemaskowanych w tajnym homoseksualnym lokalu urzĊdników miejskich ani nie wymagał cielesnych usług od arystokratek złapanch w ramionach rzezimierzka lub furmana.“ (Krajewski 2007a: 15 f.)

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lichs, der von Krajewski mit den üblichen, vor allem aus Filmen sattsam bekannten Klischees des prototypischen SS-Mannes ausgestattet wird – in dieser Prototypik allerdings auch wieder überzeichnet wirkt. Bald stellt sich heraus, dass Gnerlich tatsächlich der Täter ist, er aber im Auftrag der Gräfin mordete, deren Kammerdiener er vor dem Krieg war und mit dem sie seit dieser Zeit ein masochistisches Liebesverhältnis verbindet. Ein dem offiziellen Geschichtsbild anhängender polnischer Leser kann mit dieser Lösung zufrieden sein, denn die deutsche Seite ist nun vollkommen diskreditiert. Dabei bleibt es allerdings nicht, denn am Schluss des Romans erfährt der Leser, dass die Gräfin zugleich zu den Verschwörern des 20. Juli gehört und deshalb in dem von Gnerlich kommandierten KZ einsitzt. Für den deutschen Leser ist damit die Welt wieder zurechtgerückt, allerdings auch nicht vollständig, denn aufgrund ihres moralisch anrüchigen Lebensstils taugt die Gräfin keinesfalls zur positiven Heldin. Am Ende bleibt als einzige negative Figur, relativiert zwar durch seine karikaturhaften Züge, aber immerhin, der SS-Offizier Gnerlich. Damit kann sich sowohl der polnische als auch der deutsche Leser zufriedengeben. Gänzlich rehabilitiert bleibt die Sowjetarmee zurück – und das wiederum widerstrebt sowohl der deutschen wie der polnischen Sicht. Dieses Aufbrechen festgefügter erinnerungskultureller Ordnungen auf Motiv- und Sujetebene wird flankiert und weiter gesteigert durch die besondere narrative und chronotopische Struktur der Texte. Jedes Romankapitel ist mit einer exakten – und, wie die Überprüfung in einem ewigen Kalender ergibt, auch zutreffenden – Angabe von Ort, Datum, Wochentag und Uhrzeit des Geschehens überschrieben. Hier liegt zum einen ein weiterer Realitätseffekt vor. Die damit zugleich verbundene Erwartung eines erzählerischen ordo naturalis, einer linear-chronologischen Narration, erfüllt sich allerdings nicht. Die ausgeprägte A(na)chronizität der Ereignisfolge lässt vielmehr einen komplexen ordo artificialis entstehen. Darstellungen von synchron an verschiedenen Schauplätzen ablaufenden Handlungssträngen finden sich ebenso häufig wie Zeitdeckungen, -raffungen und -dehnungen sowie Prolepsen und Analepsen. Diese dezentrale Anordnung von Handlungsorten und -zeiten zeigt die folgende tabellarische Zusammenschau am Beispiel der Kapitelfolge zweier Romane.

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Tabelle 1: Übersicht über die Kapitelfolge zweier Romane Tod in Breslau Dresden, 17. 7. 1950 Breslau, 13. 5. - 16. 5. 1933 Berlin, 4. 7. – 6. 7. 1934 Breslau, 7. 7. – 12. 7. 1934 Zoppot, 13. 7. 1934 Breslau, 12. 7. 1934 Breslau, 14. 7. 1934 Kanth bei Breslau, 15.7. 1934 Breslau, 15. 7. 1934 Mesopotamien, im Jahr 601 nach der Hedschra • Breslau, 16. 7. 1934 • Posen, 17. 7. 1934 • Breslau, 17. 7. - 19. 7. 1934 • Oppeln, 13. 11. - 14. 11. 1934 • Breslau, 12. 10. 1934 • Dresden, 17. 7. 1950 • Berlin, 17. 7. 1950 • Berlin, 19. 7. 1950 • New York, 14. 3. 1951 • • • • • • • • • •

Der Kalenderblattmörder • New York, 20.11. 1960 (Tod von Eberhard Mock) • Breslau, 27.11. 1927-2.12. 1927 • Breslau, 5.12. 1927 • Breslau, 9.12.-12.12. 1927 • Breslau, 15.12.-17.12. 1927 • Breslau, 19.12. 1927 • Breslau, Weihnachten 1757 • Breslau, 19.12.-24.12. 1927 • Breslau, 27.12. 1927 • New York, 21.11. 1960 • Breslau, 16.1. 1928 • New York, 21.11. 1960

Neben der für Kriminalromane genrekonstitutiven Funktion der Spannungserzeugung trägt die nichtlineare Zeit- und Raumordnung der Texte Krajewskis vor allem zu ihrer weiteren erinnerungskulturellen Semantisierung bei. Denn die textimmanente narrative Ordnung der Nichtlinearität basiert auf einem ebenso nicht linearen, dezentralen und a-teleologischen Zeit- und Geschichtsmodell, das gerade im Kontext der deutsch-polnischen Erinnerungsproblematik und insbesondere in Hinblick auf die Bedeutung Breslaus als doppeltem Erinnerungsort seine volle Relevanz und Brisanz entfaltet. Die Betonung zyklischer Strukturen, Kontinuitäten und einer ,longue-duree-Geschichte‘ – im Sinne von Fernand Braudel (1977) – korrespondiert mit der erinnerungskulturellen Appellstruktur der Texte. Demnach soll sich auch das deutsch-polnische Kollektivgedächtnis eher an den zeitresistenten und vor allem verbindenden Aspekten orientieren als an den

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von kurzfristigen und trennenden Ereignissen markierten Zäsuren. Auf diese Weise, so die erinnerungskulturelle Aussage in „Festung Breslau“, kann selbst die Epochenschwelle des Jahres 1945 überwunden werden: Wrocław, Dienstag, den 25. April 1950, neun Uhr morgens Hauptmann Władysław Baniak […] wandte seine vor Müdigkeit blutunterlaufenen Augen zur sonnenüberfluteten Łąkowa-Straße, auf der drei Mercedes-Wagen standen […]. Auf dem leeren Platz, auf dem einst eine riesige Synagoge (oder wie es einmal ein Mitarbeiter von Baniak, ein Autochthoner, formuliert hatte: „eine Perle der jüdischen Architektur“) gestanden hatte, die in der Reichskristallnacht von den Nazis angezündet worden war, spielten nun ein paar Jungs […]. Der Gedanke an die Juden und die Synagoge half ihm nicht dabei, den Kater loszuwerden, den er sich gestern zugezogen hatte; er hatte im Restaurant „U Fonsia“ mit einer Flasche Wodka angefangen und in seiner Wohnung am Platz der Schlesischen Aufständischen weitergemacht, wobei ihm tapfer sein Chauffeur und zwei Mädchen aus dem Bahnhofsviertel zur Seite standen. […Sein Vorgesetzter] Fridman hatte ihm [heute] die Akte [eines] Falls auf den Schreibtisch geworfen, mit den Worten, man könne diese Untersuchung nicht erst „ad calendas graecas“ abarbeiten […]. Zum wiederholten Male sichtete jetzt Baniak den Inhalt der Mappe […]. Außer einer kurzen Notiz über das Auffinden einer Leiche und dem Bericht des Pathologen steckte ein mit Bleistift beschriebener Zettel darin, dessen Inhalt Baniak unbekannt war, obwohl er in einer Sprache formuliert war, die er immer wieder in der kleinen Kirche in Uhow gehört hatte: Latein. […] Und plötzlich hatte Baniak eine Erleuchtung […] Es war das schwierige Wort „Autochthon“, das in den fünfziger Jahren in Wrocław an der Tagesordnung war und das sich auch die weniger klugen Vertreter der neuen Regierung aneignen mussten, welches die Gedanken des Hauptmanns in eine neue Richtung lenkten – zu einem in Wrocław geborenen Halbdeutschen, den Baniak allein deswegen hasste, weil er vor seinem Namen den frisch erworbenen Doktortitel führte. (Krajewski 2008: 11 f.; 14 f.)15

15 „Kapitan Wacław Baniak [...] zwrócił przekrwione od niewyspania oczy na zalaną słoĔcem ulicĊ Łąkową, gdzie stały trzy mercedesy [...] Na pustym placu, gdzie niegdyĞ ‚pyszniła siĊ perła Īydowskiej architektury‘ – jak siĊ wyraził pewien wspołpracujący z Banakiem autochton – czyli ogromna synagoga, podpalona przez hitlerowców w Noc Kryształową, kilku chłopców [...] strzelało do siebie z drewnianych karabinów. [...] MyĞl o synagodze i ĩydach nie pomagała

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Diese im nunmehr polnischen Wrocław des Jahres 1950 spielende Szene verweist einerseits – durch die explizite Erwähnung des Holocaust und der vom Krieg in den Stadtraum geschlagenen Lücken – auf den katastrophalen Tiefpunkte der deutsch-polnischen Geschichte des 20. Jh.s. Eingelassen sind diese Motive jedoch in die Darstellung des Arbeitsalltags im ehemaligen Polizeirevier von Eberhard Mock. Die Figuren und die Atmosphäre werden dem Leser nun als absolut identisches Spiegelbild der Zustände im deutschen Polizeirevier Breslau vor 1945 präsentiert. Auch die polnischen Ermittler zitieren – wie einstmals Kriminalrat Mock – griechische Sentenzen und zeigen eine ähnlich ausgeprägte Neigung zu Alkohol und Frauen. Die Ermittlungsakte, die dem polnischen Hauptmann Baniak mit der Anweisung zur abschließenden Bearbeitung vorgelegt wird, dokumentiert Mocks letzten Fall des Jahres 1945. Baniak zitiert daraufhin den Universitätsdozenten Manfred Hartner zu sich, der ihm lateinische Notizen übersetzen soll, die sich in der Akte befinden: Der Hauptmann […] holte seine Zigarettendose hervor und schob sie seinem Gesprächspartner unter die Nase. Als dieser ablehnte, spürte Baniak ein Aufwallen vor Wut. Dieser deutsche Hurensohn ist sich zu fein für meine Zigaretten! dachte er bei sich.

mu bynajmniej w leczeniu kaca, jaki sprowokował wczoraj w restauracji ‚U Fonsia‘ trzema setkami wódki i który utrwalił w swym apartamencie przy placu PowstaĔców ĝląskich, w czym dzielnie sekundował mu jego szofer i dwie sprowadzone przez niego dworcowe dziewczyny. […] Major Antonin Fridman [...] rzucając dziĞ na jego biurko akta pewnej sprawy, o której wyraził siĊ, Īe ‚nie moĪna jej odłoĪyü ad Kalendas Graecas‘ [...]. Baniak po raz kolejny przejrzał zawartoĞü teczki [...]. Poza krótkaą notatką o znalezieniu zwłok i raportem medyka sądowego leĪała tam zapisana ołówkiem kartka, której treĞü była kapitanowi nieznana, mimo Īe sformułowano ją w jĊzyku, który wielokrotnie słyszał w koĞciółku w Uhowie, a mianowicie po łacinie. [...] I nagle Baniak olĞniło. [...] Trudny wyraz ‚autochton‘, który w roku 1950 był we Wrocławiu na porządku dziennym i musiał natychmiast zostaü przyswojony przez mniej Ğwiatłych przedstawicieli nowej władzy, skierował myĞli kapitana ku innemu urodzonemu we Wrocławiu pół-Niemcowi, którego nienawidził juĪ tylko za to, Īe ten poprzedzał swoje nazwisko ĞwieĪo otrzymanym tytułem doktora.“ (Krajewski 2006a: 12 f.; 14 f. H. i. O.)

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„Vollständiger Name?“, fragte er und konnte nur mühsam seine Empörung verbergen. „Dr. Manfred Hartner“, erwiderte der Verhörte im reinsten Polnisch, ohne eine Spur des deutschen „r“. „Beruf?“ „Universitätsdozent.“ „Wo arbeitet er?“ „An der Universität Wrocław; am Institut für Klassische Philologie“ […] „Welcher Herkunft ist er?“ „Ich komme aus einer Intelligenzija-Familie. Mein Vater hieß Leo Hartner und war Direktor der Universitätsbibliothek in Wrocław, meine Mutter ist Polin, Teresa, geborene Jankiewicz, Hausfrau.“ […] „Du bist also Halbdeutscher, Halb-Nazi, richtig, du faschistische Sau?“ „Die Tatsache, dass ich deutscher Abstammung bin, bedeutet nicht dass ich ein Nazi wäre“, gab Hartner in leiser Tonlage zurück. „Herr Hauptmann, Sie hören doch, wie ich Polnisch spreche. Ich fühle mich als Wrocławer, in dieser Stadt möchte ich leben, wohnen, arbeiten…“ „Wir entscheiden, ob du hierbleiben darfst“, unterbrach ihn Baniak. „Und die Erlaubnis bekommst du erst dann, wenn du deinen Nazi-Vornamen änderst. Zum Beispiel in ‚Marcin‘.“ […] Baniak suchte nach etwas […], als er aus dem Fenster auf das alte deutsche Gründerzeithaus starrte, in dem ehemals eine Kredit-Anstalt untergebracht gewesen war, wovon noch eine verblasste Aufschrift zeugte, die durch die abblätternde Farbe zu sehen war. […] Hartner erinnerte sich plötzlich an Spaziergänge mit seinem Vater, auf dem Ring, in den dreißiger Jahren, und dessen Versprechen: „Wenn du erst einmal volljährig bist, lade ich dich in den ‚Schweidnitzer Keller‘ auf ein Bier ein!“ […] Der Philologe dachte an den „Schweidnitzer Keller“, wo er sich eines Tages hinsetzen würde, ein Bier bestellen und auf seinen toten Vater trinken […] würde, so wie es sein Vater getan hatte, als er auf das Seelenheil des Großvaters trank. […]. (Krajewski 2008: 19 f.)16

16 „Kapitan [...] wyjął papieroĞnicĊ i przysunął ją swojemu rozmówcy do nosa. Kiedy ten odmówił, w Baniaku wezbrał gniew. Ten szwabski skurwysyn, pomyĞlał, gardzi moimi cygaretami. ‚Nazwisko i imiĊ?‘, powiedział, ledwo tłumiąc gniew.

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Diese Szene führt noch einmal die zentralen motivischen und implizit appellativen Elemente des ,longue-duree‘ Geschichts- und Erinnerungskonzeptes der Romane Krajewskis zusammen. Eingebunden in die Darstellung einer Kooperation zwischen einem Deutschen und einem Polen, die sich im Jahr 1950 mit einem Kriminalfall von 1945 befassen, gerät das individuelle Gedächtnis Hartners zum Idealmodell für ein zukünftiges, Diskontinuitäten zwar nicht ignorierendes, doch Kontinuitäten betonendes deutsch-polnisches Erinnern. Es geht um Hartners allgemeine Erinnerungen an das deutsche Breslau der 1930er Jahre und um seine konkreten Erinnerungen an den ,Schweidnitzer Keller‘, der zugleich ein Ort des kollektiven Gedächtnisses aller Breslauer ist. Dieser Ort existiert auch im polnischen Wrocław weiter, sodass die untrennbar mit ihm verbundenen Familientraditionen Hartners

‚Doktor Manfred Hartner‘, odpowiedział przesłuchiwany naczystszą polszczyzną, bez Ğladu niemieckiego ‚r‘. ‚Zawód?‘ ‚Nauczyciel akademicki.‘ ‚Gdzie pracuje?‘ ‚Uniwersytet Wrocławski, Instytut Filologii Klasycznej. [...]‘ ‚Pochodzenie‘ ‚Inteligenckie. Ojciec Leo Hartner, dyrektor Biblioteki Uniwersyteckiej we Wrocławiu, matką moją jest Polka, Tereza z Jankiewiczów, pani domu. [...]‘ ‚JesteĞ zatem pół-Szwabem, czyli półhitlerowcem, co? Prawda, Szkopiec?‘ ‚To, Īe jestem pół-Niemcem‘, powiedział jeszcze ciszej Hartner, ‚nie znaczy, Īe jestem hitlerowcem. Slyszy pan kapitan, jak mowiĊ po polsku? CzujĊ siĊ wrocławianinem i w tym mieĞcie chcĊ Īyü, mieszkaü i pracowaü...‘ ‚Zostaniesz tu, jak ci na to pozwolimy‘, przerwał mu Baniak. ‚A przede wszystkim wtedy dostaniesz pozwoleĔstwo, kiedy zmienisz to faszystowskie imiĊ, rozumiesz? Na przykład na „Marcin“ [...]‘ Nie o to chodziło Baniakowi, kiedy wytrzeszczał oczy na poniemiecką kamienicĊ, w której niegdyĞ mieĞciło siĊ towarzystwo kredytowe, o czym informował wytarty napis ‚Credit-Anstalt‘, przebijający spod łuszczącej siĊ farby [...]. [Hartner] pomyĞlał o ‚Piwnicej Swidnickiej‘, gdzie kiedyĞ usiądzie przy stole, zamówi piwo, a duch jego ojca bĊdzie szybował nad stolami. Wtedy wzniesie symboliczny toast. CzĊĞciowo wypije, a kilka kropel uleje pod stół – uczyni tak, jak czasem robił ojciec, kiedy wypijał za spokój duszy dziada [...].“ (Krajewski 2006a: 20 f.)

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dort fortgesetzt werden können. Das nun auch von Krajewski verwendete Motiv der palimpsestartigen Geschichtsspuren im urbanen Raum ist, anders als in den ,Danzig-Texten‘ von Chwin und Huelle, Bestandteil ebendieser übergreifenden Reflexionen über die Kontinuitäten der deutsch-polnischen Geschichte, sodass es hier eher ein Fortbestehen der gemeinsamen Geschichte konnotiert, als ihr Ende oder ihr zunehmendes Verblassen. Selbst die Zäsur von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Breslau – die in der zitierten Passage außergewöhnlich drastisch thematisiert wird – relativiert sich vor dem Hintergrund dieser historischen ,longue-duree‘. Dies umso mehr, als sich am Ende des Romans zwischen Banjak und Hartner so etwas wie eine Freundschaft anzubahnen scheint. Schließlich wird auch das Spiel mit ambivalenten Konstellationen noch einmal aufgenommen. In diesem Fall betrifft es die Figur Hartners, die in die Reihe der zahlreichen hybriden Figuren des Zyklus gehört: Zum einen ist er deutsch-polnischer Abstammung, zum anderen lässt Krajewski ihn als Altphilologe an der Universität Breslau tätig sein, wodurch er, wie auch Eberhard Mock, zu einem weiteren alter ego des Autors wird. Bleibt noch die Frage offen, warum Krajewski zur Verbreitung seiner populärkulturell aufbereiteten Reflexionen alternativer deutsch-polnischer Erinnerungskultur und a-teleologischer Geschichtsmodelle sowie zur Darstellung Breslaus als doppeltem Erinnerungsort statt auf konventionelle historische Romane auf historische Kriminalromane setzt. Eine mögliche Antwort kann unter Rückgriff auf Foucaults Theoreme der Heterotopie und literarischen Konterdiskursivität versucht werden (vgl. Foucault 1992; Warning 2009). Heterotopien als (Schwellen-)Räume, in denen die kategorialen Ordnungen und Normen der Gesellschaft in Frage gestellt und subvertiert werden, finden sich in der Moderne vor allem im Raum der Großstadt (vgl. Albert 2009). Auch Krajewskijs Breslau ist eine von heterotopischen Fixpunkten durchzogene Metropole: Unten bewegten sich Automobile und Straßenbahnen durch die Stadt. Männer versteckten sich in Spelunken, Frauen stellten ihre Körper unter den Laternen und in Hauseingängen zur Schau; es waren zuverlässige Orientierungspunkte, Wegweiser in die feuchten, syphilitischen Regionen, die Tore in das Inferno. An den Litfaßsäulen hingen Plakate, die Unterhaltung und Zerstreuung versprachen, ein ewiger

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Kreuzzug gegen die Langeweile. Die Stadt war clever, gewieft und erschöpft. (Krajewski 2009: 232)17

Krajewskis Schauplätze und Tatorte rufen zudem das gesamten Arsenal Foucault’scher Heterotopien auf: Neben psychiatrischen Kliniken, Gefängnissen und Friedhöfen kommen besonders häufig Vergnügungslokale, Separees, Bordelle, oder zu Bordellen umfunktionierte Privatwohnungen vor. Aus diesem Grund kommt auch keiner der Romane ohne krasse Darstellungen (devianter) Sexualität aus: Mock […] erinnerte sich […] an die Ratschläge des alten Kommissars Otto Vyhlidal. […] „Mock, stell dir vor, dass diese Frau mal ein kleines Mädchen war, das mit seinem Teddybären geschmust hat, auf einem Schaukelpferdchen geritten ist. Und heute reitet dieses ehemalige süße Kind auf irgendwelchen syphiliskranken Schwänzen und reibt sich an ungewaschenen Schamhaaren voller Filzläuse.“ […] Vyhlidals brutale Worte waren auch heute noch aktuell […]. „Ich habe dir gesagt, wer ich bin… […] Nun hätte ich gern, dass du mir deinen Namen verrätst.“ „Erika Kiesewalter, Orgienassistentin“ […] „Witzig, witzig. […] Du scheinst ja verbale Spielchen zu mögen.“ „Orale Spielchen mag ich noch viel lieber“, sagte sie und schob sich die Zigarette zwischen die Lippen […]. (Krajewski 2007b: 208)18

17 „Miasto w dole poruszało siĊ automobilami i tramwajami. MĊĪczyĨni chowali siĊ po spelunkach, kobiety wystawiały swe ciała w bramach i pod latarniami. Były to niezawodne drogowskazy, punkty orientacyjne, jasno oĞwietlone bramy do inferno, do miĊkkich i wilgotnych syfilitycznych krain. Słupy z ogloszeniami oferowały rozrywki. Zapowiadały wieczną krucjatĊ przeciwko nudzie. Miasto było przebiegłe, cwane i zmĊczone.“ (Krajewski 2007a: 219) 18 „Mock [...] przypomniał sobie rady starego komisarza Ottona Vyhlidala [...]. ‚VyobraĨ sobie, Mock, Īe ta kobieta była kiedyĞ dzieckiem, które tuliło do piersi pluszowego misia, wyobraĨ sobie, Īe skakała kiedyĞ na bujanym koniku. Potem wyobraĨ sobie, Īe to niegdysiejsze małe dziecko tuli do piersi zĪartego przez syfilis kutasa i skacze po tłustych, mokrych i zawszonych włosach łonowych.‘ Drastyczne słowa Vyhlidala były teraz ostrzeĪeniem […]. ‚Powiedziałem ci, kim jestem [...]. A teraz proszĊ mi siĊ odwzajemniü.‘

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In diesem Zimmer waren immer sechs Leute anwesend: der Herr, der mich für seine Dienste bezahlte, eine junge Frau in einem Rollstuhl und vier Matrosen. […] Ich zog mich hier aus […] Dann beschäftigte sich einer der Matrosen mit mir. Mein Klient trug dann die Frau vom Rollstuhl ins Bett, und dann beschäftigten sich die drei anderen Männer mit ihr. Und sie sah uns dabei zu, mir […] und dem Mann, der sich mit mir beschäftigte. Das schien sie sehr zu erregen, denn – nachdem sie genug gesehen hatte, beschäftigte sie sich sehr intensiv mit allen drei Männern. So lief es jedes Mal ab. (Krajewski 2007b: 212)19

In Interviews weist Krajewski Kritik an der Drastik seiner Sex- und Gewaltszenen sowie an der ,Düsternis‘ seines Breslaubildes stets mit dem gängigen Verweis auf die Fiktionalität seiner Romane zurück. Zudem nimmt er Bezug auf literarische Vorbilder wie Raymond Chandler und dessen gleichfalls wenig ,lichte‘ Los-Angeles-Szenerien. Damit spricht er aber bereits jene spezifischen Potenziale an, die das Genre ,Kriminalroman‘ für Heterotopisierungen urbaner Settings bereithält und die er ausgiebig nutzt.20 Auf mögliche erinnerungskulturelle Lesarten seiner Breslau-Heterotopik geht Krajewski allerdings nicht explizit ein. Es wäre indes wenig plausibel, wenn eine derart signifikante motivische Isotopie des gesamten Textzyklus nicht ebenfalls entsprechend funktionalisierbar wäre. Sie könnte konterdiskursiv gegen jene Erinnerungssemantik gerichtet sein, die auf deutscher wie auf polnischer Seite ein nostalgisch-verklärendes Bild des vergangenen Breslau zeichnet, das wenig mit der banalen Realität gemein hat. Dem setzt

‚Erika Kiesewalter, Orgienassistentin [...].‘ ‚Dowcipna jesteĞ. [...] Lubisz zabawy jĊzykowe? [...]‘ ‚Tak‘. ZaciągnĊła siĊ mocno papierosem. ‚LubiĊ zabawy jĊzykiem‘.“ (Krajewski 2005: 194) 19 „W pokoju było szeĞü osób. Pan, który mnie wynajął, młoda dziewczyna na wózku inwalidzkim i czterech młodych marynarzy. [...] rozbieralem siĊ. Zajmował siĊ mną jeden marynarz. Mój klient przenosił dziewczynĊ z wózka na łóĪko, a potem trzej pozostali merynarze siĊ nią zajmowali. Dziewczyna patrzyła na mnie i mojego...Tego, który był ze mną, i najwidoczniej mocno to na nią dzialało, bo – kiedy juĪ siĊ napatrzyła – z wielką ochotą zajmowała siĊ trzema marynarzami naraz. Tak było zawsze.“ (Krajewski 2005: 197 f.) 20 http://www.marekkrajewski.pl/img/wywiady/poprawki_w_mundurze_esesmana. pdf.

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Krajewski seine Version entgegen, die Breslau dezidiert als ‚Sin City‘ zeigt, in der Verbrechen, Korruption und Dekadenz zu Hause sind – und die sich ebendarin in nichts von den anderen Großstädten ihrer Zeit unterscheidet. Eine solche Darstellung subvertiert sowohl, mit Blick nach Deutschland, einseitige Erinnerungsdiskurse über die ‚gute, alte‘ Zeit in der verlorenen Heimat als auch, mit Blick nach Polen, eine offizielle Gedächtniskultur, die die deutsche Vergangenheit entweder ignoriert bzw. kleinredet, oder die sich im liebevollen Restaurieren von historischen Häuserfassaden im Stadtbild erschöpft. Sicherlich nicht zufällig wählt Krajewski im „Kalenderblattmörder“ eines der bekanntesten und schönsten Gebäude am Breslauer Markt, das sogenannte Greifenhaus, zum Tatort, dessen dunkle Geschichte im Roman aufgedeckt wird und hinter dessen schneeweißer Fassade sich alle möglichen Gewalttätigkeiten und Obszönitäten abspiel(t)en. So geraten dieses Gebäude sowie das metaphorische Spiel mit den Farben ,schwarz‘ und ,weiß‘, deren Durchmischung die Frage ,grau‘ hervorbringt, ebenfalls zu Symbolen jener Ambivalenzen, Übergänge und Grautöne, die das deutsch-polnische Verhältnis prägen und die dementsprechend auch das Erinnern an die gemeinsame Geschichte bestimmen sollten.

B IBLIOGRAPHIE Albert, Mechthild, 2009: Zur (De-)Konstruktion von Außen- und Innenräumen in der Literatur. Die Pariser Passagen in Louis Aragons Paysan de Paris. In: Csáky, Moritz/ Leitgeb, Christoph (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“. Bielefeld, 93-111. Assmann, Aleida, 2009: Geschichte findet Stadt. In: Csáky, Moritz/ Leitgeb, Christoph (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“. Bielefeld, 13-28. Assmann, Aleida, 2009a: Soziales und kollektives Gedächtnis. In: http:// www.watzlawickehrenring.at/loadfile.php?f=6808 (5.4.2012). Barthes, Roland, 1968: L’Effet de Réel. In. Ders.: Œvres complètes. Tome 2: 1966-1973. Paris 1994, 479-484. Braudel, Fernand, 1977: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée. In: Honegger, Claudia (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte.

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Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse. Frankfurt am Main, 47-85. Chwin, Stefan, 2000: Stätten des Erinnerns. Dresdner Poetikvorlesung 2000. Dresden. Chwin, Stefan, 1999: Tod in Danzig. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Reinbek bei Hamburg. Poln. Übersetzung von Chwin 1995. Chwin, Stefan, 1995: Haneman. GdaĔsk 1995. Erll, Astrid, 2005: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart-Weimar. Foucault, Michel, 1992: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig, 34-46. Huelle, Paweł, 2000: Silberregen: Danziger Erzählungen. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin, 2000. Übersetzung von Huelle 1996a. Huelle, Paweł, 1996a: Pierwsza miłoĞü i inne opowiadania [Erste Liebe und andere Erzählungen]. London-Warszawa. Huelle, Paweł, 1996b: Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdansk. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Frankfurt am Main. Übersetzung von Huelle 1991. Huelle, Paweł, 1991: Opowiadania na czas przeprowadzki [Erzählungen aus der Umzugszeit]. London-Warszawa. Kohlstruck, Michael, 2004: Erinnerungspolitik: Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie. In: Schwelling, Birgit (Hg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft: Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden, 173-194. Krajewski, Marek, 2009: Pest in Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2007a. Krajewski, Marek, 2008: Festung Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. 2008. Übersetzung von Krajewski 2006b. Krajewski, Marek, 2007a: DĪuma w Breslau [Pest in Breslau]. Warszawa. Krajewski, Marek, 2007b: Gespenster in Breslau. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2005. Krajewski, Marek, 2006a: Der Kalenderblattmörder. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. München. Übersetzung von Krajewski 2003. Krajewski, Marek, 2006b: Festung Breslau. Warszawa.

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Krajewski, Marek, 2005: Widma w mieĞcie Breslau [Gespenster in Breslau]. Warszawa. Krajewski, Marek, 2003: Koniec Ğwiata w Breslau [Das Ende der Welt in Breslau]. Warszawa. Krajewski, Marek, 2002: Tod in Breslau. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. München. Übersetzung von Krajewski 1999. Krajewski, Marek, 1999: ĝmierü w Breslau [Tod in Breslau]. Wrocław. Lars, Krystyna, 2008: Gdansk wedlug Stefana Chwina [Gdansk nach Stefan Chwin]. Gdansk. Marx, Sebastian, 2009: Betriebsamkeit als Literatur. Prosa der Weimarer Republik zwischen Massenpresse und Buch. Bielefeld. Nünning, Ansgar, 1995: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Trier. Poprawki w mundurze esesmana. Z Markiem Krajewskim rozmawiał Wojciech 2UOLĔski 2008-02-25 [Änderungen in der SS-Uniform. Wojciech 2UOLĔski im Gespräch mit Marek Krajewski]. In: http://www.marek krajewski.pl/img/wywiady/poprawki_w_mundurze_esesmana.pdf (5.4. 2012). Retro kryminał po raz trzeci [Retro-Krimi zum dritten Mal]. In: http:// www.mojahistoriaczytania.blox.pl/2009/01/retro-kryminal-po-raz-trze ci.html (5.4.2012). Sänger, Johanna, 2006: Heldenkult und Heimatliebe. Strassen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR. Berlin. Spekat, Susanne, 1997: Postmoderne Gattungshybriden: Peter Ackroyds Hawksmoor als generische Kombination aus historical novel, gothic novel und detective novel. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, XXX, 183-199. Verheyen, Dirk, 1999: Straßennamenpolitik und städtische Identität in Berlin. In: Viehoff, Reinhold/ Segers, Rien (Hg.): Kultur, Identität, Europa. Frankfurt am Main, 333-369. Warning, Rainer, 2009: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. München.

Krimi als Zeitmaschine Realitätseffekte in Marek Krajewskis Eberhard-Mock-Roman „Festung Breslau“ W OLFGANG D. B RYLLA

W IRKLICHKEITSEFFEKTE DER K RIMI -S TRUKTUR

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Die Komposition fast aller Kriminalromane beruht auf einem facettenreichen Gebrauch von Gegenständen innerhalb der Narration, die nicht nur für den Spannungsaufbau genutzt werden; in den meisten Fällen kommen sie auch bei der Rekonstruktion des Verbrechens und den Aufklärungsversuchen des Mordes – des zentralen Rätsels jeden Krimis – zum Einsatz und zur Geltung. Aber nicht immer wird die Funktion der Gegenstände nur auf diese zwei Anwendungen beschränkt. Im Anschluss an Kingsley Amis registriert Manfred Smuda in James-Bond-Romanen eine interessante und für Ian Fleming spezifische Darstellungsstrategie, deren Grundlage eine besondere, bis zu diesem Zeitpunkt keinesfalls übliche Methode der Handlungsskizzierung bildet (Smuda 1998: 135). Nach Smuda werden in den BondSpionageromanen Effekte erzielt, die die Absurdität und Realitätsfremdheit dieser Romane rechtfertigen. Amis nennt diese Effekte „Fleming-Effekte“ (Amis 1966: 109) und unter dieser Benennung fasst er alle Gegenstände und Motive innerhalb der Handlung der Bond-Romane zusammen, die der Leser aus seinem Alltag heraus wiedererkennen und über die er sich so mit dem Helden identifizieren könne.

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Der über die Gegenstände in Anschlag gebrachte Konsumfaktor hat zudem die wichtige Aufgabe, das Übliche und Öffentliche in der dinghaften Zwecklosigkeit der Bond-Geschichte zu präsentieren, wie es Umberto Eco resümiert (Eco 1998: 202). Mit dem Hinweis auf diese Zwecklosigkeit, die auch Redundanz impliziert, lässt sich eine Brücke zu den Überlegungen von Roland Barthes zu literarischen Realitätseffekten schlagen. Auch Barthes hat in seiner berühmt gewordenen Programmschrift „L’Effet de Réel“ (1968) auf die literarischen/narrativen Dimensionen von auf den ersten Blick redundant und funktionslos erscheinenden Motiven aufmerksam gemacht und jene Annahme von einer fehlenden Funktion dieser in den Texten auftretenden Details und Gegenständen relativiert. Alle Erzählelemente, die im Handlungsgestrüpp platziert werden und dem primären Anschein nach keine Rolle im Ganzen des Erzählkomplexes spielen1, sind ebenso wie die kausal oder auch final motivierten Erzählnuancen von Belang.2 So heißt es bei Barthes: Die ‚unnützen Details‘ scheinen unvermeidlich, selbst wenn sie nicht zahlreich sind: Jede Erzählung [...] besitzt einige solche. [...] Die Wahrheit dieser [referentiellen – W.B.] Illusion lautet: das als Signifikat der Denotation aus der realistischen Äußerung vertriebene ‚Wirkliche‘ hält als Signifikat der Konnotation wieder in ihr Einzug; denn in dem Augenblick, in dem diese Details angeblich direkt das Wirkliche denotieren, tun sie stillschweigend nichts anderes, als dieses Wirkliche zu bedeuten. (Barthes 2005: 165, 171)

Barthes spricht in diesem Punkt von Realitätseffekten – auch Wirklichkeitseffekte genannt –, die, das ist hier das Zentrale der These, eben durch ihre Funktionslosigkeit im Erzählrahmen funktionalisiert werden, denn sie

1

Martinez/ Scheffel sprechen in Bezug auf diese Details von einer semantischen Funktion, die „gerade ihrer narrativen Funktionslosigkeit“ entspringe: „Die Schwierigkeit, die ihre Funktionalisierung macht, imitiert die alltagsweltliche Erfahrung der Widerständigkeit des Faktischen.“ (Martinez/ Scheffel 2005: 117)

2

Alle Erzähltexte sind mehr oder minder durch eine Verkettung von Motiven gekennzeichnet. In der Erzähltheorie differenziert man zwischen drei Motivierungstypen. Es wird unterschieden zwischen der kausalen, der finalen und der kompositorischen Motivierung. Die letztere Variante kann die Gestalt von Gegenständen, Dingen etc. annehmen. Siehe: Martinez/ Scheffel (2005: 111-119).

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verleihen dem Erzählhabitus ‚Gesicht‘. Ein ‚Gesicht‘, das auf die Realität referiert und demzufolge auch dem Leser die Chance bietet, sich in die Realität der Erzählung hineinzuversetzen, sie zu verstehen und den fiktionalen Erzählfluss nachzuvollziehen. Solche Dinge, Gegenstände und Motive – kleinste Einheiten der Erzählung – rücken jedoch nicht ins Rampenlicht der zu vermittelnden Handlung, sondern werden in gewisser Hinsicht in den Schatten gestellt und aus dieser Position heraus nehmen sie Einfluss auf das ganze Erzählpandämonium. Durch sie wird die Fiktionalität der story plausibilisiert, weil Wirklichkeitseffekte zum einen auf ein reales und nachweisbares Motiv-Fundament Bezug nehmen und auf diesem Wege die Wirklichkeit imitieren. Zum anderen sind sie für die direkte Handlung insignifikant, weil sie die action nicht stören und von den elementaren und zentralen Dreh- und Angelpunkten der dem Leser vor Augen geführten Handlung nicht ablenken. Der so konzipierte ‚Nebenbei‘-Charakter dieser Motive ist auch jenen Krimis nicht fremd, die vielleicht wie kein anderes Genre von der Präsenz der Gegenstände und Sachverhalte profitieren und sie in die gesamte Handlungsdekoration mit einflechten (Nusser 2003: 6465). Ähnlich wie die Romane von Fleming und andere Thriller bzw. Rätselkrimis sind auch Marek Krajewskis Mock-(Breslau)-Krimis durch die erhebliche Präsenz von Wirklichkeitseffekten gekennzeichnet. Allerdings muss von Anfang an konstatiert werden, dass im Unterschied zu den Realitätseffekten aus den Bond-Spionagegeschichten, die Wirklichkeitseffekte in den Mock-Texten eine völlig andere semantische Dimension haben. Es gilt hier, sich nicht mehr in einer gegenwärtigen Konsumwelt wiederzuentdecken, die in Bond-Romanen von Rolex-Armbanduhren, Aston Martins und Wodka Martini geprägt wird, sondern eine Art Zeitreise in eine Vergangenheit zu unternehmen, die von anderen Faktoren determiniert wurde als die der 1960er und 70er Jahre. Mit dieser Zeitreise verändern sich nicht nur die Gegenstände, auch die Ebene des Konsums muss einer Transformation unterliegen. Es ist kaum zu bestreiten, dass, wenn Konsumartikel zum Tragen kommen, auch Markennamen, etablierte Produzenten und Ikonen der Zeit präsentiert werden müssen. Moderne Konsumwaren wie die schicken maßgeschneiderten Anzüge von Bond, seine Lamborghinis, BMWs, Marlboro-Zigaretten oder die allerneuste Technik finden ihr Pendant in der Zeit von Greta Garbo und Marlene Dietrich in Horsch, Kübelwagen oder Virginia-Zigaretten. Im Endeffekt heißt dies: Konsumembleme

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werden transponiert und in der Zeit zurückversetzt. Es lohnt sich deswegen, nicht nur die vergangene Konsumwelt bei Krajewski in Augenschein zu nehmen, nach ihrer ‚Attitüde‘ und Darstellungsweise zu fragen, sondern auch die Funktion der (Konsum-)Gegenstände und den Inszenierungsmodus der Realitätseffekte – der „Grundlegung“ des „uneingestandenen Wahrscheinlichen“ (Barthes 2005: 171) – im Sinne Barthes’ präziser zu beleuchten.

H ISTORISIERENDE W IRKLICHKEITSEFFEKTE IN K RAJEWSKIS B RESLAU -R OMANEN Schon die Titel der einzelnen Bücher aus der Mock-Serie können als immanente Realitätseffekte bezeichnet werden, die einen sehr hohen Grad an Referenzialisierbarkeit und Realitätsreferenz erreichen. Die Mock-Reihe beginnt mit dem Roman „ĝmierü w Breslau“ („Tod in Breslau“, 1999, dt. 2009), dem weitere auf eine ähnliche Art und Weise kreierte Titel folgen wie „Koniec Ğwiata w Breslau“ („Der Kalenderblattmörder“, 2003, dt. 2008), „Widma w mieĞcie Breslau“ („Gespenster in Breslau“, 2005, dt. 2009), „Festung Breslau“ (2006, dt. 2009) und „DĪuma w Breslau“ („Pest in Breslau“, 2007, dt. 2009).3 Allerdings deckt sich die Titelabfolge nicht mit der Chronologie der Handlung. Krajewski wechselt willkürlich die Zeitebenen und changiert zwischen Zeiträumen. So spielt sich bspw. die Handlung von „ĝmierü w Breslau“ 1933 ab, in „Festung Breslau“ versucht Mock einen Fall im von den Sowjets im Zweiten Weltkrieg belagerten Breslau zu lösen. Und in „DĪuma w Breslau“ also dem letzten Mock(Breslau)-Roman4 agiert er als Polizist des Morddezernats im Jahre 1923/24. Diese Zeitreisen weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf, die alle Romanen von Krajewski verbindet: Es geht nämlich um die Stadt Breslau, die im Paratext der Überschrift auftaucht und so beim Leser eine bestimmte Assoziation bzw. Vorstellung initiiert. Da Breslau ein historischer Name

3

Alle fünf Breslau-Krimis sind in deutscher Sprache im Münchner dtv-Verlag erschienen.

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Ausgenommen wird der Mock-Krimi „Głowa Minotaura“, der überwiegend im polnischen Lwów (Lemberg) spielt. Der Roman ist 2012 im dtv-Verlag u. d. T. „Finsternis in Breslau“ herausgekommen.

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der heutigen polnischen Stadt Wrocław in Niederschlesien ist, weist er auf die Vergangenheit hin; konkret auf den Zeitraum, in dem sich das jetzige Wrocław unter deutscher Regentschaft befand. Der historische Status des deutschen Breslau kann dementsprechend als Wirklichkeitseffekt eingestuft werden, weil er zwei Komponenten präsupponiert. Erstens zementiert er die historische Ebene der Romane und versetzt die Handlung in die Vergangenheit, und zweitens wird schon durch den Rückbezug auf den nicht mehr aktuellen Stadtnamen ein historisches Kolorit entwickelt. Doch Krajewski schreibt keine historischen Romane, sondern vor allem historische Krimis (Retrokrimis), und so lenkt das historische Arrangement der Mock-Texte nicht ab vom wesentlichen Kern seiner Krimis, also von dem plot der Ermittlungsgeschichte. In den Vordergrund rücken weder der historische Schauplatz noch die historische Handlungskulisse, sondern der (überhistorische) Fahndungs-Erzählstrang. Die Zeitspanne, über die sich die Handlungen der fünf Mock-Krimis Krajewskis erstrecken, beträgt fast 30 Jahre und kann mit den Jahresangaben 1913 und 1945 flankiert werden. (Dies betrifft nur die Haupterzählungen, denn fast alle Mock-Krimis beginnen mit einer Erzählklammer von einer Gegenwartsplattform aus, von der erst der Rückblick in die Breslauer Verbrechensgeschichte gestartet wird). Der dreißigjährige Handlungsraum ist selbstverständlich im Laufe dieser 30 Jahre Veränderungen ausgesetzt. Wenn im ersten Buch aus der Reihe Mock noch mit einer gemieteten Pferdekutsche durch die Straßen Breslaus unterwegs ist, stehen ihm in „Festung Breslau“ schon ein Auto und ein Motorrad zur Verfügung. Außerdem wandeln sich auch Mock selbst und die Gegenstände, die er benutzt. Von diesen Veränderungen bleibt nur die Stadt Breslau verschont, d. h. nur der Großstadtname selbst, denn auch das urbane Breslau ist den zeitlichen Umwälzungen unterworfen. Breslau verändert sich im Hinblick sowohl auf seine topologischen, als auch topographischen und semantischen Attribute. Besonders ist diese Umwandlung und Neuprädikatisierung im Krimi „Festung Breslau“ zu sehen, der im Weiteren unter die Lupe genommen wird. Hier kommt nicht mehr das wunderschöne Breslau an der Oder, sondern das Breslau unter der Erde, die unterirdische Kriegsstadt mit all ihren Tücken und Geheimnissen zum Vorschein.

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S IGNIFIKATION DER G EGENSTÄNDE IN F ESTUNG B RESLAU Mock bewegt sich in „Festung Breslau“ sowohl unterirdisch als auch an der Oberfläche der Metropole Breslau. Hauptsächlich an dieser Oberfläche wird er mit Gegenständen und Dingen konfrontiert, deren Substanz und Materialität in nuce auf einer Zeitachse positioniert und wahrgenommen werden kann. Alle Gegenstände, die Mock zu Gesicht bekommt, sind Markenprodukte der Zeit und demnach auch in den 1940er Jahren jedermann bekannt. Meist haben sie einen sehr großen Statuswert und symbolisieren den Elitarismus ihrer Besitzer. Über Markenwaren kann sich die bessere Gesellschaftsschicht von der gewöhnlichen Masse abheben. Jedoch nicht immer sind diese Markenwaren ausschließlich für die gehobene Schicht wie den Adel reserviert. Auch die ‚Otto-Normalverbraucher‘ – und Mock ist Vertreter dieser Gruppe schlechthin – können es sich ab und zu leisten, von der Qualität der Edelprodukte zu profitieren. Der Zugang zu solchen Konsumgütern ist während des Krieges massiv erschwert, weil Nahrung sowie alle möglichen Waren, z.B. Brennstoff, rationiert werden. Unter Schwierigkeiten erworbene Produkte werden deshalb mit Bedacht ge- oder verbraucht und innerhalb der Familie geteilt. Mock und seine Ehefrau – bedroht vom ständigen Bombenalarm und aufgefordert, ihre Wohnung so schnell wie möglich zu verlassen – gönnen sich in dieser Gefahrensituation einen „Machwitz“-Kaffee (Abbildung 1), der auf dem schwarzen Markt gekauft wurde (Krajewski 2007: 71), und den sie aus dem teuren Mannheimer Kaffeeservice, mit den Initialen R.P.M. (Rheinische Porzellanfabrik Mannheim), trinken (ebd.: 22-23). Die Kaffeerösterei „Machwitz“ wurde 1883 in Danzig gegründet und ist seit 1919 in Hannover ansässig; bis in die 1970er Jahre gehörte „Machwitz“ zu den berühmtesten Kaffeesorten Deutschlands. Dahingegen hat das Mannheimer Porzellan zwar nicht solch einen hohen Statuswert wie das Meißner Porzellan, aber es wurde vor allem in den 1920er und 30er Jahren gerne Neuvermählten zur Hochzeit geschenkt. Schon dank dieser nur ‚nebenbei‘ auf der Handlungsebene genannten Gegenstände, die den Handlungsverlauf überhaupt nicht unterbrechen, wird die Leserschaft in die Konsumwelt der Zeit vor 60 und 70 Jahren versetzt.

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Abbildung 1: Logo des Kaffeeunternehmens Machwitz mit den berühmten drei Mohren

Quelle: W. Machwitz GmbH

„Festung Breslau“ ist gespickt mit solchen Realitätseffekten, die die zeitliche Versetzung belegen. Neben den normalen Produkten, die im Deutschland der 1930er und 40er Jahre jedermann vertraut waren wie die „Singer“Nähmaschine (ebd.: 41), die seit 1896 hergestellten „Laurens“-Zigaretten (ebd.: 214) oder die amerikanischen „Lucky Strikes“ (ebd.: 259), die „Havana“-Zigarren (ebd.: 114), die Frauenkleidung aus dem Salon Coco Chanel (ebd.: 130), die Marseiller Seife (ebd.: 62) und die von Mock getragene prestigeträchtige Schweizer Armbanduhr „Schaffhausen“ (ebd.: 75) – dieses Unternehmen wurde 1868 unter dem Namen „IWC International Watch Co.“ gegründet – , die allesamt auf die finanzielle und wirtschaftliche Bonität des Konsumenten verweisen, kommen im Roman auch Waren aus lokaler Produktion ins Spiel, die nicht zuletzt den Regionalbezug der Handlung und ihre Ansiedlung in Schlesien betonen sollen. Zu erwähnen sind das Danziger Goldwasser (ebd.: 55), das tatsächlich von der Danziger Likörfabrik „Der Lachs zu Danzig“ destilliert wurde so wie der Kräuterlikör „Rübezahl“ (ebd.: 63) und das Haase-Bier (ebd.: 181) – es wurde in dem Schweidnitzer Keller seit 1904 an den Mann gebracht – die Mock allzu gerne trinkt. Die schlesischen bzw. Danziger Alkoholgetränke wechseln mit Produkten sowohl aus anderen deutschen Bezirken als auch aus dem Ausland ab und bereichern die Warenpalette des Textes. Durch den Bezug auf Konsumgüter wie den rheinischen Hattenheimer-Wein (ebd.: 116), den Mosel-Wein (ebd.: 184) oder den originalen amerikanischen Whisky wird die gute Prosperität der Firmen und Winzer verzeichnet und ihre Expansion

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in den und ihre Verbreitung auf dem niederschlesischen Markt verdeutlicht. Dabei scheint es so, als seien Krajewski bei der Implantierung von Realitätseffekten in die Krimihandlung einige Fehler unterlaufen, die jedoch erst beim fokussierten Lesen entdeckt und ans Tageslicht gebracht werden können.5 Diese Realitäts(d)effekte tun jedoch der Handlung keinen Abbruch und haben keinen Interruptionscharakter, weil sie eben – und das ist eines der elementarsten Merkmale der Wirklichkeitseffekte – nicht den Mittelpunkt der Handlung ausmachen und sie daher auch nicht unterbrechen. Ihre Funktion besteht vielmehr darin, das Lesepublikum in die Zeitepoche, das politische Klima und das Flair der 1940er Jahre zu versetzen, wozu eben die Aufführung und Aufzählung der Markennamen und Produkte aus dem ganzen Gebiet des Dritten Reiches dient. Allerdings werden durch die Inszenierung und Referenz auf lokale Waren und Gegenstände die Grenzen der Wahrnehmung auf die territorialen Grenzen Schlesiens und die Stadt Breslau limitiert. Solch eine Funktionspluralität hinsichtlich der Gegenstände kann im Verlaufe der Handlung so auch im Umgang mit Zeitungen resp. Zeitschriften in der Fahndungsarbeit Mocks bemerkt werden. Zum einen ist hier der „Wiener Kurier“ (ebd.: 281) zu nennen, zum anderen ist auch die Rede von der „Schlesischen Zeitung“, d. h. dem Lokalblatt der Provinz Schlesien (ebd.: 24), das in allen Mock-Romanen auf den Plan tritt (Abbildung 1). In der „Schlesischen Zeitung“ wird über Morde berichtet, die sich in Breslau ereignet haben. Dort werden die Leser auch über den Aufklärungsvorgang informiert. Abbildung 2: Logo der „Schlesischen Zeitung“

Quelle: Privatsammlung

5

Das Kölnisch Wasser, das angeblich von der Firma „Royal“ produziert werden sollte (Krajewski 2007: 239) ist nichts anderes als eine Royal-Version des „4711 Echt Kölnisch Wasser“; das Breslauer Bierfestival, das 1935 stattgefunden haben soll (ebd.: 243), wurde stattdessen in Berlin organisiert.

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Analog zu den damals typischen Konsumartikeln und Alltagsgegenständen können in „Festung Breslau“ auch andere veritable Referenzinstitutionen und Referenzpersonen ausfindig gemacht werden, die in den 1930er und 40er Jahren in Hitler-Deutschland bekannt waren und aufgrund deren die Fiktionalität der Handlung mit der Faktualität verschmilzt und die Grenzlinie zwischen Realität und Fiktion quasi kaschiert wird. Unter den Referenzinstitutionen lässt sich der Hahn-Verlag (ebd.: 193) subsumieren, in dem Professor Knopp – Bibelexperte und Theologe, der in den Fall indirekt verwickelt ist – seine wissenschaftliche Abhandlung angekündigt hat. Er hat zudem in der Zeitschrift „Wörter und Sachen“ einige Artikel publiziert (ebd.: 263). Die Fachzeitschrift „Wörter und Sachen“, die sich die Untersuchung von kulturhistorischen Aspekten auf die Fahne geschrieben hat, deren erstes Heft tatsächlich 1909 in Heidelberg erschienen ist, spezialisierte sich vordergründig auf Sprach- und Sachforschung. Mit vergleichbaren wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte sich ebenfalls der HahnVerlag in Hannover, der jedoch mit vollem Namen „Verlag Hahnsche Buchhandlung“ hieß und von 1792 bis heute existiert (Abbildung 2). Eine ähnliche Bewandtnis hat es mit Referenzinstitutionen wie Korporationen, staatlichen Ämtern oder privaten Betrieben in der Region, die sich vorrangig in der nächsten Umgebung einen Namen gemacht haben. Abbildung 3: Logo von „Verlag Hahnsche Buchhandlung“

Quelle: Verlag Hahnsche Buchhandlung

Die nebenbei in den Mock-Text mit einbezogene Deutsche Bank (ebd.: 120) oder das Photo-Atelier von Elise Dorn „Photo-Waage“ (ebd.: 227), das in der Gartenstraße lag und das Mock besuchen muss, um die Indizien im Fall des brutalen Mordes an einem jungen deutschen Zimmermädchen

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zu bestätigen und die Spuren sicherzustellen – alle diese geschichtlich zu verortenden Komponenten insistieren einerseits auf Referenzialisierbarkeit des Textes. Andererseits evozieren sie ein entsprechendes Zeit-Raum-Fluidum, das nicht zuletzt durch Referenz auf wichtige Personen vervollständigt wird, also auf die ‚VIPs‘ und ‚Promis‘ der 1930er Jahre bzw. der 50er Jahre (denn die erzählte Zeit von „Festung Breslau“ reicht bis 1954). Aus heutiger Sicht ist es zwar nicht mehr selbstverständlich das von General von Rodewald – dem Vorgesetzten von Mock – angestimmte Lied „Lili Marlene“ (ebd.: 238) als eine Anspielung auf eine prominente reale Figur der Vorkriegszeit aufzufassen. Dennoch steht es außer Frage, dass Lili Marlene als lebender Weltstar wahrgenommen und gefeiert wurde (Koch 2003: 296-303), obwohl sie nur eine Erfindung von Hans Leip war (Leip 1979: 79), der sein Gedicht vertonen ließ, was wesentlich zur Entstehung der Legende um Lili Marlene beigetragen hat. Auch die Bezugnahme auf Medienikonen (wenn man in den 1950ern von solchen sprechen kann) wie die polnische Schlagersängerin Maria Koterbska, deren Song sich ein Breslauer Polizist anhört (Krajewski 2007: 15) und die schwedische Schauspielerin Ingrid Bergmann (ebd.: 14), die ihre Haare eigenartig schneiden ließ – die Frisur à la Bergmann beeinflusste jahrelang die Modeszene und wurde von Frauen in der ganzen Welt nachgeahmt (mehr zu Bergmann als Filmikone siehe: Bergmann/ Burgess 1999) – trägt zur zeitlichen Verortung des Narrativs bei und untermauert die referentielle objektbezogene Authentizitätsfiktion.

F UNKTIONSLOSE F UNKTIONALISIERUNG ODER K ONSUM ALS F UNKTION Unter Rekurs auf die letzte Variante der Realitätseffekte – d. h. sowohl auf die Referenzpersonen und -gegenstände als auch auf die Promi-Figuren, die in der Story vorkommen – kann dem Mock-Roman auch eine intertextuelle Dimension attestiert werden (zur Intertextualität vgl. Martinez 2005: 430445), die allerdings nicht so explizit ausgeprägt ist, wie die homogene Struktur der demonstrierten Wirklichkeitseffekte. In der Konsumwelt des Breslaus der 1940er-Jahre wurden intertextuelle Verweise verankert, die aber weniger auf die Regionalität der Handlung, als vielmehr auf die gesamtdeutsche ‚Draperie‘ der Roman-Fassade hindeuten. Theodor Fontanes

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„Effi Briest“ und Theodor Storms „Der Schimmelreiter“ (Krajewski 2007: 93) verleihen der „Festung Breslau“ diese nötige deutsche Kontur, dank der die Handlungsverortung sowohl mit Blick auf die zeitliche als auch topographische Lokalisierung auf der einen Seite begründet, und auf der anderen Seite noch verstärkt wird. Dabei scheinen sowohl die intertextuellen Verweise als auch die Realitätseffekte für den Mock-Zusammenhang per se ‚funktionslos‘ – aber nicht irrelevant. Ihre Funktionslosigkeit kommt in ihrer eigenen Substanz zum Ausdruck, denn sie sind weder für die Chronologie des Erzählten noch für das Erzählte selbst von großem Wert. Ohne diese Wirklichkeitseffekte könnte der Mock-Roman auch ‚funktionieren‘, jedoch ohne einen so hohen Grad an Referenzialisierbarkeit, wie er durch das Einfügen von Details, Produkten oder Institutionen in das Erzählgewebe bewirkt wird, zu erreichen. Erst durch die Einbeziehung dieser Parameter profilieren und charakterisieren sich die Mock-Romane. Infolge dieser Realitätseffekte wird die Wiederauferstehung einer alten Konsumwelt suggeriert, die durch genuine Markenwaren und -produkte fundiert wurde. Denn parallel zur Re-Aktualisierung des Mock-Tathergangs und somit zur Überführung des Schuldigen – dies sind die basalen Kennzeichen des Krimis (Nusser 2003: 24) – verläuft eine Re-Figuration eines durch die Vergangenheit kodierten Konsum-Mosaiks. Und die Wiederherstellung dieser Kulisse wird eben durch die proklamierten Wirklichkeitseffekte ermöglicht und potenziert, was eine Porträtierung der Konsumwelt der 1930er und 40er Jahre – der Mock- und Breslauer-Jahre – zur Folge hat. Der Imperativ des Krimis von Krajewski gleicht der Funktion einer Zeitmaschine; einer Zeitmaschine in die Zeiten des materialisierten Konsums und des deutschen Breslau.

B IBLIOGRAPHIE Amis, Kingsley, 1966: Geheimakte 007 James Bond. Frankfurt am MainBerlin. Barthes, Roland, 2005: Der Wirklichkeitseffekt. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Frankfurt am Main, 164-172. Bergmann, Ingrid/ Burgess Alan, 1999: Mein Leben. Autobiographie. Berlin.

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Eco, Umberto, 1998 [1964]: Die Erzählstrukturen bei Ian Fleming. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte. München, 181-207. Koch, Hans-Jörg, 2003: Das Wunschkonzert im NS-Rundfunk. Köln. Krajewski, Marek, 2007 [2006]: Festung Breslau. Warszawa. Leip, Hans, 1979: Das Tanzrad oder die Lust und Mühe eines Daseins. Frankfurt am Main-Wien. Martinez, Matias, 2005: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis. In: Arnold, Heinz Ludwig/ Detering, Heinrich: Grundzüge der Literaturwissenschaft. München, 430-445. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael, 2005: Einführung in die Erzähltheorie. München. Nusser, Peter, 2003: Der Kriminalroman. Stuttgart. Smuda, Manfred, 1998 [1970]: Variation und Innovation. Modelle literarischer Möglichkeiten der Prosa in der Nachfolge Edgar Allan Poes: In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte. München, 121-141.

‚Außenblick‘: Westeuropas Osten

Dienstreisen. Budapest in den Kriminalromanen von Sjöwall/ Wahlöö und Viktor Iro D IRK H OHNSTRÄTER

Im Gegensatz zu einer Vielzahl anderer Länder ist Ungarn kaum als Krimischauplatz bekannt. Weder wurde ungarischsprachige Kriminalliteratur in größerer Zahl übersetzt1, noch lassen sich viele nicht-ungarische Krimiautoren anführen, deren Werke in Ungarn spielen.2 Zwei Ausnahmen bil-

1

Ausnahmen bilden P. Howards (das ist JenĘ ReijtĘ) Genreparodie „Piszkos Fred, a kapitány“ [Ein Seemann von Welt] aus dem Jahr 1940, die in einer Übersetzung von Anna von Lindt 2004 im Elfenbein Verlag Berlin erschien, sowie Vilmos Kondors historischer Kriminalroman „Budapest Noir“ aus dem Jahr 2008, der unter dem Titel „Der leise Tod“, übersetzt von Hans Skirecki, 2010 bei Knaur in München herauskam. „Budapest Noir“ ist der Auftakt einer auf fünf Bände angelegten Reihe; weitere Übersetzungen sind angekündigt. Zu den Verfassern ungarischer Kriminalromane zählt beispielsweise der Schriftsteller und Übersetzer DezsĘ Tandori alias Nat Roid. Eher der Verbrechensliteratur zuzuschreiben ist Sándor Tars „Szürke galamb“ [Die graue Taube] aus dem Jahr 1996, dessen deutsche Übersetzung von Krisztina Koenen 1999 bei Eichborn in Frankfurt am Main erschien. Ob bzw. inwieweit Imre Kertész’ „Detektívtörténet“ [Detektivgeschichte] von 1977 der Kriminalliteratur zuzuordnen ist, diskutiert Wörtche (2008: 37 f.).

2

Zur in Ungarn situierten Spannungsliteratur aus der Feder von Ausländern gehören Katrin Kremmlers Bücher „Blaubarts Handy“ (2001) und „Pannonias Gral“

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den „Mannen som gick upp i rök“ [Der Mann, der sich in Luft auflöste] des schwedischen Autorenpaars Maj Sjöwall und Per Wahlöö aus dem Jahr 1966 und „Tödliche Rückkehr. Kommissar Peringer ermittelt“ von Viktor Iro, erschienen 2010. Weder Sjöwall/ Wahlöö noch Iro waren bzw. sind Ungarn oder haben ungarische Vorfahren. Der Name Iro klingt ungarisch, denn ‚író‘ ist das ungarische Wort für Schriftsteller, aber es handelt sich um das literarische Pseudonym eines Deutschen, der von 2004 bis 2009 in Budapest lebte und arbeitete.3 Das Ehepaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö verfasste nach ausgiebigen Reisen zwischen 1964 und 1975 zehn Kriminalromane, die von vornherein als Zyklus angelegt waren (Nusser 2003: 129-131). Gewissermaßen die Eltern des sogenannten Schwedenkrimis, schickten Sjöwall/ Wahlöö ihren Kommissar Martin Beck im 1966 erschienenen zweiten Band nach Budapest, um den dort auf Reportagereise verschwundenen Journalisten Alf Matsson aufzuspüren. Sowohl im Roman von Iro, als auch in dem von Sjöwall/ Wahlöö haben wir es mit dem Blick von Verfassern zu tun, die nicht gebürtig aus jenem Land stammen, in dem der Krimi spielt. Das ist bekanntlich nichts Ungewöhnliches, denkt man etwa an Veit Heinichens Triest-Romane oder Donna Leons Venedig-Bücher. Muss ein Autor den Schauplatz seiner Romane aus eigener Anschauung kennen? Sicher nicht. Bekannt ist die Anekdote, dass Eric Ambler in seinem Roman „Cause for Alarm“ Schmuggelpfade an der italienisch-jugoslawischen Grenze so plastisch beschrieb, dass das britische Foreign Office ihn um die Preisgabe seiner Quellen bat, doch Ambler antwortete, er habe beim Schreiben nicht mehr benutzt als eine Landkarte (Kaiser 1989: 171). Ob Sjöwall/ Wahlöö Ungarn bereist haben, lässt sich anhand der mir zugänglichen Forschungsliteratur nicht herausfinden, die Korrektheit ihrer literarischen Topografie legt den Schluss jedoch nahe. Iro hat die Richtigkeit seiner räumlichen Bezüge vor Ort überprüft; das Buch enthält zudem

(2004) sowie Adam LeBors „The Budapest Protocol“ (2009). Nach Fertigstellung dieses Aufsatzes erschien „Verlassenschaften“ (2011) von Ana Vasia. 3

Es handelt sich um den Verfasser dieses Aufsatzes. Die Unbescheidenheit, über das eigene Werk zu schreiben, hoffe ich wettzumachen durch den Reiz einer doppelten Perspektive. Denn während ich auf Sjöwall/ Wahlöö naturgemäß als literatur- und kulturwissenschaftlich geschulter Leser blicke, betrachte ich Iro zwangsläufig immer auch aus der Autorperspektive.

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einen Stadtplan mit zentralen Schauplätzen im Anhang. In beiden Romanen befindet sich beispielsweise das Polizeipräsidium an der richtigen Adresse – einmal dort, wo es vor dem politischen Umbruch 1989 war, und einmal dort, wo es heute ist. Allerdings patzen beide Autoren oder zumindest ihre deutschen Übersetzer bzw. Lektoren bei der korrekten Schreibung ungarischer Wörter, ironischerweise sogar beim Wort für Polizei (Sjöwall/ Wahlöö 2005: 113 und Iro 2010: 11, 155, 211) – rendĘrség. Um das narrative Potential zu nutzen, das im Blick desjenigen liegt, der ein Land von innen kennt oder es zumindest gesehen hat, aber gleichwohl von außen kommt, haben sich die Verfasser einen erzählerischen Kniff ausgedacht. Martin Beck, der schwedische Kommissar, reist zum ersten Mal nach Budapest und kommt wie so viele Besucher mit Deutsch und Englisch gut zurecht. Er darf die Stadt also gewissermaßen für sich und die Leser entdecken. Antal Peringer, der Europol-Kommissar in Iros Roman, kehrt für den zu lösenden Fall zum ersten Mal seit seiner Emigration 1956 nach Ungarn zurück. Er ist ein alter Mann, der zwar Ungarisch spricht, aber das heutige Ungarn nicht mehr aus eigenem Erleben kennt. Deshalb darf auch er auf stadtkundliche Entdeckung gehen. Beiden Protagonisten werden Inländer an die Seite gestellt: Vilmos Szluka begleitet Beck, die junge Viki Kiss assistiert Peringer. Auf diese Weise spiegelt sich in der Figurenwahl die doppelte Perspektive von innen und außen, die auch den Autoren zueigen ist. Wie wird nun die mitteleuropäische Umgebung, wie wird die Stadt Budapest in diesen beiden Kriminalromanen erzählerisch erfasst und evoziert? In ihrer nach wie vor instruktiven Arbeit über den literarischen Raum hat Elisabeth Bronfen 1986 eine hilfreiche Typologie vorgeschlagen. Sie unterscheidet zwischen drei Kategorien. Erstens dem begehbaren, also dem physischen Raum und seiner Darstellung. Zweitens dem metaphorischen Raum, worunter sie räumlich semantisierte Abstrakta begreift. Schließlich dem textuellen Raum, also der räumlichen Dimension von Textualität, wie sie etwa in der Typografie zum Ausdruck kommt. Wichtig ist in unserem Zusammenhang auch ihre Differenzierung zwischen dem Raum als bloßem Hintergrund, vor dem eine Handlung stattfindet, und dem Raum als Umgebung, worin sich Ereignisse abspielen (Bronfen 1986: 5, 54). Mir scheint, dass sowohl der textuelle als auch der metaphorische Raum in beiden Büchern keine besondere Rolle spielen, da sich diese Krimis weitgehend an formale Genrekonventionen halten, linear erzählen und –

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von einem Traum Peringers abgesehen – auch keine psychischen Räume aufmachen. Die Kategorie des begehbaren Raumes in seiner doppelten Rolle als Kulisse oder aber organischer Teil des Geschehens lässt sich dagegen für die Analyse von Sjöwall/ Wahlöö und Iro fruchtbar machen. In Weiterführung von Bronfens Kategorientafel möchte ich vier Typen der Ortsdarstellung vorschlagen, die zwei verschiedenen Funktionen dienen. Die ersten beiden haben die Funktion der Ortspräsentation, während die beiden letzten bereits bekannte Orte so sehr mit spezifischer Stimmung und Handlung aufladen, dass diese Räume dann nicht mehr bloße Kulisse sind. Handlung, Stimmung und Ton einer Erzählung verschmelzen untrennbar mit dem Schauplatz und lassen ihn in neuem Licht erscheinen. Kafkas Prag wäre das klassische Beispiel dafür. Den ersten Typ erzählerischer Raumdarstellung nenne ich den informativen. Hier wird gewissermaßen touristisches Wissen mitgeteilt. Kommissar Beck beispielsweise liest Prospekte über Budapest und informiert sich und die Leser auf diesem Weg über Einwohnerzahl, Sprache und Geschichte des Gastlandes (Sjöwall/ Wahlöö 2005: 41, 48). Aber auch als personal vermittelte Aussagen bekommen wir Informationen dargeboten: „Jetzt fiel ihm ein, dass diese Untergrundbahn die älteste von Europa war“ (ebd.: 83), heißt es etwa an einer Stelle. Oder: „Die Ungarn waren ganz offensichtlich ein Kaffee trinkendes Volk.“ (ebd.: 75) Es ist klar, dass solche Textpassagen einem zumindest vermeintlich unwissenden Westpublikum kulturräumliche Kenntnisse vermitteln sollen. Auch Iro geht von Wissensdefiziten des nicht-ungarischen Lesepublikums aus und bietet Informationen an, beispielsweise wenn die wechselvolle Geschichte des Hotels Astoria, in dem Peringer übernachtet, skizziert wird: „Hier erklärte Ungarn 1918 seine Unabhängigkeit von Österreich.“ (Iro 2010: 29) Allerdings ist der erzählerische Preis dafür hoch: Gerade wer schon ein wenig Wissen mitbringt, empfindet solche Passagen schnell als belehrend und unliterarisch – kein leicht zu lösendes Problem für einen Autor. Den zweiten Typ nenne ich den kolorierenden. Dabei wird die Handlung an prototypischen Schauplätzen der Stadt situiert, etwa der Donau mit ihren Brücken, Inseln und der Uferbebauung, den Kaffeehäusern oder Straßenbahnwagen. Unvermeidbar scheinen hier Essen und Trinken zu sein. Beck lässt kein klassisches ungarisches Gericht aus, genießt paprizierte Fischsuppe und Aprikosenbrand. Peringer trinkt während eines jeden seiner Fälle drei Flaschen Wein: anfangs einen weißen, um in Schwung zu kom-

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men; wenn er gar nicht mehr weiterkommt, einen roten; zur Belohnung am Ende schließlich einen edelsüßen. Solche Stellen schaffen Lokalkolorit, durchaus auch zeitgeschichtliches. So raucht Beck die sozialistische Zigarettenmarke „Terv“ (Sjöwall/ Wahlöö 2005: 62), während der nach Österreich emigrierte Peringer, die österreichische Marke „Smart“ (Iro 2010: 22) vorzieht. Ergiebiger sind freilich jene beiden Arten der Raumbeschreibung, die nicht bloß Hintergründe bereitstellen, sondern vielmehr den literarischen Raum mit der Krimihandlung so eng verknüpfen, dass literarischer Raum und Verbrechen auseinander hervorzugehen scheinen. Dazu gehört als dritter Typ die atmosphärische Raumdarstellung. Hier werden, bei Sjöwall/ Wahlöö etwa durch die brütende Hitze und die daraus resultierende Langsamkeit, eine spezifische Stimmung und ein eigener Rhythmus erzeugt. Iro legt seine erste Leiche in ein Thermalbecken, das blutgetränkte Wasser durchdunstet die stickige Luft, Beklemmung legt sich über die Szenerie. Viertens gehört hierzu schließlich das, was ich mangels besserer Begriffe den Handlungsraum nennen möchte. Hier lässt sich der Krimi nicht vom lokalen Bezug trennen; der Ort wird zum Tatort. Das kann sich auf eine ermittlungsrelevante Ortskenntnis beziehen, etwa wenn Beck zur Lösung seines Falls wissen muss, von welchem der Budapester Bahnhöfe die Züge nach Wien abfahren (Sjöwall/ Wahlöö 2005: 189). Das meint aber darüber hinaus auch den historisch-politischen Raum, der die Fälle mitprägt. Beide Bücher lassen die für Ungarn so kennzeichnende Mischung aus überwältigend schöner Landschaft und schicksalssatter lieux de mémoire (Pierre Nora) erahnen. Beide Kommissare lesen die Stadt entsprechend als Erinnerungstext.4 So erblickt Beck Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg (Sjöwall/ Wahlöö 2005: 58) und erinnert sich an die Verbrechen der Pfeilkreuzlerfaschisten, die ihm durch sein Wissen um das Schicksal des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg bekannt sind (ebd.: 25 f., 42). Peringer entdeckt ebenfalls Einschusslöcher, die jedoch aus der Zeit des Aufstandes 1956 stammen (Iro 2010: 136), an dem er selber teilnahm und der sich als Schlüssel zu seinem Fall erweisen wird.

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Vgl. Butor (1992) und Assmann (1992: 60). Bei Iro ist es besonders der wiederholte Blick auf die Donau, der die Ambivalenz des Erinnerungsortes offenbart.

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Der grundlegende Unterschied in der Raumdarstellung beider Texte ist folgender: „Der Mann, der sich in Luft auflöste“ spielt größtenteils in einem geschlossenen Raum, „Tödliche Rückkehr“ hingegen in einem offenen. Dass Alf Matsson verschwinden konnte ist gerade deshalb so rätselhaft, weil er in den gut überwachten Ostblock ein-, aber nicht wieder ausreiste. Wohin also soll er verschwunden sein? So bildet die Bipolarität der ideologischen Blöcke die räumliche Folie, vor der sich der Fall überhaupt erst entfalten kann. Erwähnt werden der Eiserne Vorhang (Sjöwall/ Wahlöö 2005: 23), Spionage (ebd.: 27) und die Spannungen zwischen den Systemen. Ich möchte die These wagen, Sjöwall/ Wahlöös Roman als eine Spätform der klassischen locked-room-mystery zu bezeichnen. Waren es traditionellerweise das englische Landhaus, ein Club oder ein Eisenbahnabteil, in dem sich der Täter aufhalten musste, so ist es hier der zwar große, aber prinzipiell als überwacht und unentrinnbar konzipierte Ostblock. Sjöwall/ Wahlöö geben dieser Raumkonzeption jedoch eine gesellschaftskritische Wendung. Sie beschreiben die Polarität zwischen den Systemen als eine überschätzte. Polizisten, erfahren wir, haben diesseits und jenseits der Systemgrenze denselben Habitus (ebd.: 75, 114 f.), und die Observation, der sich Beck in Budapest ausgesetzt sieht, erfolgte gar nicht durch Staat oder Staatssicherheit, sondern durch eine Verbrecherbande. Überhaupt ist die ungarische Polizei kooperativ: Beck darf an Verhören teilnehmen, Passund Zollformalitäten beschränken sich auf ein Minimum (ebd.: 43). Gezeigt wird ein ‚Gulaschkommunismus‘, dem der Genuss wichtiger ist als die Revolution (ebd.: bes. 79). Kurzum: das aus dem blockfreien Schweden stammende Autorenduo bemüht sich, Kommunismusklischees zu korrigieren und die Räume durch kooperierende Ermittler einander anzunähern. Anders bei Iro. „Tödliche Rückkehr“ spielt in einem postkommunistischen Ungarn, das seine Vergangenheit nie richtig aufarbeitete. So kehrt sie denn auch auf tödliche Weise zurück. Die Opfer, beispielsweise, heißen Német und Orosz, übersetzt: Deutscher und Russe, jene beiden Mächte, unter denen Ungarn im 20. Jahrhundert am meisten litt. Der Schlüssel zum Fall liegt im Jahr 1956 und beim bereits erwähnten Aufstand, an dem Peringer selbst teilnahm. Der Showdown findet an einem symbolisch aufgeladenen Ort statt, der unterdessen auch in der Realität zum Schauplatz ikonoklastischer Randale geworden ist: dem sowjetischen Ehrenmal auf dem Freiheitsplatz, dem einzigen, das sich noch in Budapests Innenstadt befindet (Iro 2010: 189 f.).

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Aber nicht nur die Vergangenheit gefährdet den jungen Rechtsstaat. In den offenen Raum des Nachwendeungarn dringt die neuartige Bedrohung durch den globalen Terror ein. Während Kommissar Peringer noch damit beschäftigt ist, gegen das Gift der Vergangenheit zu kämpfen, durchkreuzt ein Terroranschlag seine Ermittlungen (Sjöwall/ Wahlöö 2005: 175 f.). Der offene Raum der Gegenwart ist bei Iro also doppelt gefährdet: durch Vergangenheit und Zukunft. „Immer wieder“, schreibt Nusser, „ist die Entstehung des Kriminalromans mit der Entwicklung und Konsolidierung des bürgerlichen Rechtsstaates in Verbindung gebracht worden.“ (2006: 67) So auch in Iros „Tödliche Rückkehr“. Das Kernthema des Krimigenres, die Zerbrechlichkeit ziviler Ordnung, und eine seiner Kernfunktionen, die Selbstvergewisserung rechtsstaatlicher Normen durch eine Gesellschaft, bekommen vor dem Hintergrund global geöffneter Räume eine potenzierte Brisanz. Auf einmal lauert auch vor Ort die überregionale Bedrohung, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die eigene Geschichte noch nicht genügend verarbeitet wurde, um ein stabiles gesellschaftliches Fundament zu schaffen. Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmtes Diktum, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“ (1976: 60; im Original kursiv) bewahrheitet sich bei Iro in der doppelten Gefährdung des ungarischen Rechtsstaates durch die unbewältigte Geschichte und den Problemimport im Zeichen offener Grenzen. Iros Roman verneigt sich vor dem schwedischen Klassiker, indem Alf Matsson, der Mann, der sich in Luft auflöste, einen kleinen intertextuellen Gastauftritt bekommt (Iro 2010: 136 f.). Aber zugleich versucht er zu zeigen, dass die übersichtlichen Zeiten des Jahres 1966 vorbei sind und das Nachwirken ihrer Schattenseiten den Weg in die Zukunft erschwert.

B IBLIOGRAPHIE Assmann, Jan, 1992: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, 1976: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Ders.: Staat Gesellschaft Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main, 42-62.

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Bronfen, Elisabeth, 1986: Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage. Tübingen. Butor, Michel, 1992: Die Stadt als Text. Graz-Wien. Iro, Viktor, 2010: Tödliche Rückkehr. Kommissar Peringer ermittelt. München. Howard, P., 2004 [1940]: Ein Seemann von Welt. Roman. Aus dem Ungarischen von Anna von Lindt Berlin. Kaiser, Johannes, 1989 [1988]: Hier ist jemand, der lügt. In: Haffmanns, Gerd (Hg.): Über Eric Ambler. Zürich, 155-178. Kertész, Imre, 2004 [1977]: Detektivgeschichte. Aus dem Ungarischen von Angelika und Peter Máté. Hamburg. Kondor, Vilmos, 2010 [2008]: Der leise Tod. Kriminalroman. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. München. Kremmler, Katrin, 2004: Pannonias Gral. Hamburg. Kremmler, Katrin, 2001: Blaubarts Handy. Hamburg. LeBor, Adam, 2009: The Budapest Protocol. London. Nusser, Peter, 2003 [1980]: Der Kriminalroman. Stuttgart-Weimar. Sjöwall, Maj/ Wahlöö, Per, 2005 [1966]: Der Mann, der sich in Luft auflöste. Deutsch von Johannes Carstensen. Reinbek bei Hamburg. Tar, Sándor, 1996 [1999]: Die graue Taube. Aus dem Ungarischen von Krisztina Koenen. Frankfurt am Main. Vasia, Ana, 2011: Verlassenschaften. Bünde. Wörtche, Thomas, 2008: Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbegleiter durch die Welt der Kriminalliteratur. Lengwil.

Die Grube als Topos des Sozialismus oder Archäologie der Gegenwart „Stalin’s Ghost“ von Martin Cruz Smith und „Nasses Grab“ von Helena Reich M ARINA D MITRIEVA

Gleb asked, „What if the grave runs under the entire court?“ „That’s always the problem, isn’t it? Once you start digging, when to stop?“ MARTIN CRUZ SMITH

Im Spätsommer 2009 kam es in Russland zum Eklat: Nach einer aufwendigen Restaurierung der Moskauer Metro-Station „Kurskaja“ wurde dort die ursprüngliche Inschrift wieder angebracht: eine Stalin-Huldigung aus der Sowjethymne von 1944, verfasst, wie auch die aktuelle Hymne, vom gerade zu diesem Zeitpunkt verstorbenen Dichter Sergei Michalkov. Die Aktion rief in der Öffentlichkeit kontroverse Reaktionen hervor. Kurz vorher hätte es das Stalinkonterfei beinahe geschafft, bei Internet-Umfragen den ersten Platz als „Gesicht Russlands“ zu gewinnen. So gesehen ist der Plot des 2007 erschienenen Romans des amerikanischen Krimiautors Martin Cruz Smith, des sechsten aus der Serie seiner „russischen Krimis“, sehr aktuell. Stalins Geist zeigt sich in diesem Roman zwar nicht in der KurskajaStation, aber in der „ýistye prudy“ (ehemals Kirovskaja), – spät in der

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Nacht und umgeben vom Heiligennimbus – den Passagieren der U-Bahn und ruft große Verwirrung hervor. Ebenfalls in der Metro verbirgt sich der Schlüssel der Erzählung von Helena Reichs Roman „Nasses Grab“ von 2008. Auch hier dringt, obwohl nicht so spektakulär wie bei Smith, die sozialistische Vergangenheit in die Gegenwart ein. Die Schatten der Geschichte kommen zu Tage und richten vielerlei Unheil an. Obwohl mit unterschiedlicher Subtilität, registrieren beide Romane die Vielschichtigkeit des Lebens einer post-sozialistischen Stadt. Unter dem schönen Glanz der heutigen Konsumgesellschaft versteckt sich die scheinbar untergegangene Welt von gestern – hässlich, bedrohlich und erstaunlich lebendig. Die Überlappung von Alt und Neu, die Transformation aller Lebensformen, bilden die Instabilität der post-sozialistischen Ordnung ab und die eigentliche Spannung der Romane aus. Daraus entsteht auch ein moralisches Dilemma der Hauptfiguren, die ihre Verbundenheit mit der Vergangenheit nicht zu lösen vermögen, was auch die Enträtselung der KrimiSpannung in beiden Romanen als unbefriedigend erscheinen lässt.

D ER

FREMDE

B LICK

Beide Autoren sind Fremde in den von ihnen beschriebenen Städten. Smith kam zuerst 1973 mit einer Touristengruppe nach Russland und verbrachte nur wenige Tage in Leningrad und Moskau. Als ein Ergebnis entstand „Gorky-Park“ mit dem unerschrockenen, obwohl menschlich verletzbaren Ermittler Arkady Renko, der ein Kampf gegen das Böse, verkörpert vom KGB und den mit ihm verbündeten Amerikanern, führte (verfilmt 1983, gedreht in Finnland, mit William Hurt und Joanna Pacula in den Hauptrollen).1 Schon damals frappierte es, wie genau der Autor die äußeren Umstände des Lebens in der Sowjetunion in den Zeiten des Kalten Kriegs festhielt. Das wurde auch von den russischen Behörden so gesehen, mit der Folge eines Einreiseverbots in die Sowjetunion für Smith. Smith, wie man es aus Interviews entnehmen kann, sieht sich selbst allerdings nicht als Entertainer, sondern als Aufklärer. Seine selbstprokla-

1

Der letzte Renko-Roman „Three Stations“ (2010) hat ebenfalls eine toponymische Verankerung und spielt am Platz der „Drei Bahnhöfe“ in Moskau.

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mierte Aufgabe sei es, Russland den Amerikanern näher zu bringen. Er betonte mehrfach seine besondere emotionale Nähe zu diesem Land sowie das Überraschungspotenzial das Russland birgt. Fast ‚benjaminisch‘ klingt seine Behauptung, Russland hätte ihn maßgeblich verändert und dazu gebracht, die Dinge anders zu sehen als bisher (Smith: 1986).2 Auch Helena Reich ist in gewisser Weise eine Fremde in Prag. Sie stammt aus einer Familie tschechischer Emigranten, wurde als Kind aus dem Land gebracht und lebte in Deutschland und Kanada, bis sie als Reporterin einer englischsprachigen Zeitung nach Prag kam. Auch sie hat eine emotionale Bindung zu dieser Stadt, die eine wichtige Rolle in ihrem Roman spielt.

D IE P LOTS „Stalin’s Ghost“ Stalins Geist wurde in einer U-Bahn-Station gesehen. Renko soll ermitteln, obwohl er an mystische Erscheinungen nicht glaubt. Es wird auch nicht klar, was dahinter steckt. Es könnte sich um eine bewusste Manipulation der Bevölkerung handeln, eine Strategie, mittels der eine Gruppe amerikanischer Polittechnologen die stalinistische Vergangenheit beschwören und ,unangebrachte‘ patriotische Gefühle schüren will, um das Land zu destabilisieren (Smiths fiese Amerikaner!). Es könnte aber auch einfache Massenpsychose gewesen sein. Neben diesem Erzählstrang gehört zum Plot auch die Aufklärung eines Verbrechens im Tschetschenienkrieg, das von einem, von den Amerikanern zu einer neuen politischen Ikone aufgebauten, ehemaligen Offizier begangen wurde. Die Motivation des Massenmordes ist irgendwie lächerlich: Korruption des Militärs und der höheren Milizangestellten, gemeinsam verwickelt in Handel mit teuren Orientteppichen. Zudem ist da auch ein Liebesdreieck zwischen Renko, dem falschen Hel-

2

Vgl.: „Es ist mir mit dem Bilde der Stadt [Moskau] und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geistigen Zustände: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafte Ertrag eines russischen Aufenthaltes.“ (Benjamin 1980: 163)

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den und einer Frau, das für emotionale Spannung sorgt. Die Schauplätze des Romans sind zwei Städte – die Metropole Moskau und die Provinzstadt Tver’, aus der die meisten ‚Bösen‘ kommen. „Nasses Grab“ Während des Hochwassers in Prag 2002 wurde ein Sarg mit einer einbalsamierten Leiche herausgeschwemmt. Die Mumie ist nicht tausend Jahre alt, wie man zunächst annahm, sondern erst einige Jahrzehnte. Der Sarg stammt aus einem Versteck in der U-Bahn im Zentrum der Stadt, Eingang MĤstek. Die Aufklärung des Verbrechens, die gleichzeitig von mehreren Ermittlern aber vor allem vom alter ego der Autorin, der Reporterin der englischsprachigen Zeitung Prague Post, Larissa Khek, vorangetrieben wird, ergibt zunächst, dass es sich um die Leiche einer bekannten, vermeintlich vor zwanzig Jahren gestorbenen Schauspielerin handelte. In einer ziemlich verwinkelten und nicht immer logisch geführten Erzählung mit zu vielen Figuren stellt sich heraus, dass es um eine Doppelgängerin ging. Eine Liebesgeschichte wird angedeutet und mit ihr als Lösung der Leser getröstet. Was zeichnet einen fremden Blick auf die Stadt aus? Worin besteht die „Krimitauglichkeit“ einer ost(mittel)europäischen Stadt?

D IE S TADT , EN

PASSANT

In beiden Romanen spielt die Stadttextur eine zentrale Rolle. Den Vorsatz des Buches von Helena Reich bildet, nach Gattungsregeln, ein Stadtplan mit angezeigten Ereignisorten. Die Stadt wird eingeführt, nicht nur als malerische Szenerie der Handlung. Die „toponymic indicators“ ermöglichen eine „Immersion“ ins Geschehen und verleihen der Narration Glaubwürdigkeit. Als zeitlich-räumliche Versinnbildung der Sequenzen des Sujets (Chronotop im Bachtin’schen Sinne) geben sie dem Leser eine „Tür“, durch die der Einzug in die Sphäre der Bedeutungen möglich wird (Bachtin 1973: 406). Manche der beschriebenen Orte sind zugleich lieux de mémoire verschiedener historischer Epochen und bekannte touristische Stätten; gerade sie bilden oft Knotenmomente der Handlung und geben zudem dem Autor eine Möglichkeit zu Äußerungen über die Geschichte des Landes.

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Die anderen sind Unorte, oder mit Augé, non-lieux de surmodernité – transitorische, unpersönliche und deplatzierte Räume wie in jeder beliebigen Großstadt: etwa Einkaufszentren, Casinos, Büros oder Bars (Augé 2010: 81-114; Däumer u. a. 2010: 1-27). Sie bilden einen kontrastierenden fremdartigen Einschnitt in die historisch gewachsene Stadttextur. Der Held von Smiths Roman, der Ermittler Arkady Renko, ist ein geborener Moskovit. Er durchquert die Stadt in seinem heruntergekommenen Žyguli und gewährt so dem Leser einen Einblick in verschiedene Schauplätze – von zentralen Orten bis in die urigen Spelunken und stinkenden Pennerunterkünfte am Stadtrand. Die beiden Städte – Moskau und Tver’ – werden mit seinen Augen gesehen. Es ist Winter, voller Schnee und Matsch, und meistens Nacht. Beides gibt den Stadtausschnitten, von denen viele aus dem Autofenster erfasst werden, etwas verschwommenes, flüchtiges, aber auch gruseliges, gefährliches. Es entstehen fast poetische Bilder, in denen der Blick des Ermittlers mit dem des Autors verschmilzt: Winter was what Muscovites lived for. Winter knee-deep in snow that softened the city, flowed from golden dome to golden dome, resculptured statues and transformed park paths into skating trails. Snow that sometimes fell as a lacy haze, sometimes thick as down. Snow that made sedans of the rich and powerful crawl behind snowplows. Snow that folded and unfolded, teasing the eye with glimpses of illuminated globe above the Central Telegraph Office, Apollo’s chariot leaving the Bolshoi, a sturgeon sketched in neon at a food emporium [ …] And, in Arkady’s experience, when the snow melted, bodies would be discovered. (Prologue; Smith 2007: 1)

Moskau wird von Smith als eine surreale Collage aus nächtlichen Szenen dargestellt. Die Szenerie schaltet von der Heiratsagentur „Cupido“ auf der Touristenmeile Arbat zur Unterwelt an den „Drei Bahnhöfen“, zu einer heruntergekommenen blutverschmierten Wohnung, einem wie eine orientalische Fantasie mit Minaretten und Kuppeln aussehenden Casino an der Stadtausfahrt, die der rasende Held alle in seinem schäbigen Auto abklappert. Wie auf der Homepage des Autors zu sehen ist3, arbeitet Smith mit Fotos, macht Zeichnungen, fixiert dadurch den Weg seines Helden durch die Stadt. Er gebraucht konkrete Realien, um die Stadt im Roman festzu-

3

http://www.wiredforbooks.org/martincruzsmith (27.2.2012).

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halten. Mal sind es Gebäude, wie etwa das berühmt-berüchtigte Wohnhaus der Stalin-Elite, „Haus am Kai“, das von seinen Einwohnern infolge von Säuberungen nach und nach geleert und in der post-sowjetischen Zeit zu einem gespenstischen Erinnerungsort des stalinistischen Regimes wurde (in der komplett leer geräumten Wohnung seines Vaters, eines Generals Stalins, wohnt Renko). Mal die menschenleere und dadurch nicht wie ein „Palast für das Volk“, sondern „wie ein Kloster“ aussehende Metro-Station Park Kul’tury; mal ein grotesker Roulettesaal mit „mural of a dreamlike Xanadu“ und einer absurden Statue eines Schützenreiters, die über muskelbepackte Bodyguards wacht. Die Molochstadt, diese menschenfeindliche kapitalistische Metropole, wird dem Rest des Landes entgegengesetzt: On the way to Tver, Arkady left Moscow and entered Russia. No Mercedes, no Bolshoi, no sushi, no paved-over world; instead mud, geese, apples rolling of a horse cart. No townhouses in gated communities, but cottages shared with cats and hens. No billionaires, but men who sold vases by the highway because the crystal factory they worked at had no money to pay them, so paid them in kind, making each man an entrepreneur holding a vase with one hand and swatting flies with the other. (Smith 2007: 240)

Diese Schnappschuss-Details zeichnen den Autor als einen Ethnographen, einen teilnehmenden Beobachter aus. Gleichzeitig ist hier ein neugieriger Touristenblick zu erkennen, der das Exotische, das Fremde registriert und oft verklärt (etwa die Babuschkas in der Metro, die wie Gottesmütter aussehen) und das Banale nicht vermeiden kann. Das sind Impressionen, die man en passant aus dem Fenster eines Autos oder Touristenbusses aufnimmt, flüchtige Beobachtungen, die man auf der Straße, auf dem Markt oder in der U-Bahn macht (Abbildungen 1-4).

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Abbildungen 1-2: Haus am Kai/ Metrostation Taganskaja

Quelle: Private Photographien von Gasan Gusejnov

Abbildungen 3-4: Markt/ Zug

Quelle: Private Photographien von Gasan Gusejnov

Auch im Roman von Helena Reich spielt die Stadt eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu Smiths monoperspektivischer Sicht wird Prag von verschiedenen Figuren wahrgenommen, die unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Die „Fremden“ wie etwa die jungen Exiltschechen, sehen die Stadt mit einem Touristenblick: Das manifestiert sich in solchen Bezeichnungen wie „schön“, „prächtig“, „ein Juwel von Renaissancegarten“ (über den Burggarten). Es werden auch überwiegend touristische Orte beschrieben, etwa der Altstädter Ring mit seiner berühmten Aposteluhr „Orloj“, oder der Wenzelsplatz, gesehen vom Büro des Radio Free Europe, dem Arbeitsplatz einer der Figuren des Romans. Das „Arbeiterviertel Žižkov“, wo einige Protagonisten wohnen, wird dem „viel zu teuren“ Jugendstilviertel „Vinohrady“, in dem sie gerne wohnen möchten, entgegengesetzt. Im Gegensatz dazu wird diese ‚Stadtpracht‘ von den Stadtbewohnern gar nicht wahrgenommen. Ein echter Prager ignoriert die Touristenattraktionen und reagiert nur auf das Denkmal Jan Hus’,

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das an sein Gewissen als Tscheche appelliert. Das ist der Blick des früheren Geheimdienstagenten, Spitzels und Betrügers Jan Krasnohorský, der unter dem Namen Jean Beaumont als falscher Ausländer in der Stadt lebt: Er fuhr mit der Straßenbahn zum Wenzelsplatz, stieg dort aus und machte sich auf den Weg hinunter zum Altstädter Ring. Touristen aus aller Herren Länder strömten durch die Straßen und Gassen, schwatzten fröhlich, reckten die Köpfe nach oben zu den wunderschön restaurierten Häusern und stießen ein Oh! und Ah! nach dem anderen aus. Blind für die Schönheit der mittelalterlichen Stadt schlängelte er sich zwischen den Menschen hindurch bis zu dem großen Platz, der das Zentrum der Altstadt bildete. Von der anderen Seite des Altstädter Rings mahnte ihn das Denkmal von Jan Hus, für seine Taten geradezustehen. (Reich 2008: 208)

Die wichtigsten Handlungsorte des Romans sind angenehme Orte – wie etwa Cafés, Restaurants, ein italienisches Feinschmeckerlokal, das Foyer des Nationaltheaters – wahrscheinlich von der Autorin selbst frequentierte Lokalitäten, da die Beschreibungen äußerst detailreich sind. Dort treffen sich die Figuren, von dort wird die Entwicklung des Sujets gesteuert. Auch Reich ist angetan vom großstädtischen urbanen Flair, dessen Zeichen vielleicht nicht Sushi sondern Tomaten mit Mozzarella sind, die besonders gern gegessen werden. Oft wird der Blick auf das Stadtpanorama gewährt, wie etwa das nächtliche Lichtspiel der Großstadt, gesehen von der Wohnungsterrasse in Vinohrady oder die Aussicht vom Hochhaus des ehemaligen Parlamentsgebäudes auf den Wenzelsplatz.

M ETROPOLE

UND

P ROVINZ

In beiden Romanen gibt es eine deutliche Opposition zwischen der Hauptstadt und der Provinz. Die provinziellen Städte steuern die Handlung, weil sie Heimatorte vieler wichtiger Figuren sind. Bei Reich ist es die kleine Kurstadt Franzensbad an der deutschen Grenze, wo die Zeit stehen geblieben war: Franzensbad. Was für ein Zufall. Dana Volná stammte aus seiner Heimatstadt. Und dieser Ort war klein, knappe fünftausend Einwohner, jeder kannte dort jeden. Die Kurgäste kamen und gingen, und die Bewohner blieben unter sich. Als nach dem

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Zweiten Weltkrieg die deutsche Bevölkerung vertrieben worden war, waren aus dem ganzen Land Menschen dorthin gezogen – manche freiwillig, manche zwangsweise. Es hatte billigen Wohnraum im Überfluss gegeben. Aber in den folgenden Jahrzehnten wollte kaum mehr jemand freiwillig in das Grenzgebiet an der deutschen Grenze ziehen. So weit weg von der alles überragenden Hauptstadt, so nah an einer unüberwindbaren Grenze. Er selbst war nach dem Abitur auch nach Prag gegangen. Wohin sonst? Bloß weg aus der Provinz. (Reich 2008: 242 f.)

Während Franzensbad bei Helena Reich eigentlich nur als öde Verortung der Vergangenheit wahrgenommen und lediglich ab und zu erwähnt wird, spielt Tver’ eine wichtigere Rolle in Smiths Roman. Dort findet die Auflösung der Handlungslinie statt, die ihren Anfang in Moskau genommen hat. Diese Stadt ist nur oberflächlich ruhig, verschlafen und provinziell. In Wirklichkeit aber ist sie – und nicht die Hauptstadt – die Brutstätte des Verbrechens. Die Beschreibung der Stadt (gesehen wiederum vom Hauptstadtbewohner Renko, der von seinen Vorgesetzten in die Provinz, nach Tver’, verbannt wurde) differiert in ihrer verkürzten Form und dem ironischen Ton von einprägsamen Bildern Moskaus: Tver had been an elegant city with an imperial palace and, in the Volga, a river that was an inspiration to poets. Then came the revolution, the war, Soviet implosion and economic pillaging, and, it seemed to Arcady, Tver became a couple of boulevards of classical architecture – the drama theatre was a Greek temple trimmed in pink – surrounded by desultory shops, idle factories and gray postwar housing. (Smith 2007: 245)

Anders als Moskau, besteht die Stadt in den Augen des Protagonisten nur aus skurrilen und gefährlichen Orten, ist innerlich verseucht, feindselig und schließlich viel stärker von der sowjetischen Vergangenheit geprägt als die Hauptstadt.

D IE G RUBE In beiden Romanen spitzt sich der Konflikt dann zu, wenn sozialistische Restposten plötzlich zu Tage treten, bzw. ausgegraben werden. So bildet

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die Grube, das Unterirdische, der Underground in beiden Werken den Mittelpunkt des Geschehens. Bei Smith erscheint Stalin den Passagieren in der U-Bahn und „gives them a wink“, was sich als reine Manipulation und Fata Morgana entpuppt. Stalins Gespenst wird im Roman eher als eine Metapher für alle Schatten der Vergangenheit genutzt (inklusive dem Vater von Renko, einem StalinGeneral). Nicht zufällig erscheint es in der Metro, da diese ein zentraler Erinnerungsort des Sozialismus ist, der nicht nur symbolträchtig sondern zugleich auch geheimnisvoll ist (Ryklin 2003: 87-133). Der Überlieferung nach, soll es eine geheime „Zweite Metro“ gegeben haben, gebaut als Bunker für Politbüro-Mitglieder. Geschaffen wurde die Metro außerdem aus Knochen von Gefangenen und politischen Häftlingen und war somit mit den Gespenstern des Regimes und dessen Verbrechen eng verbunden.4 In Smiths Auffassung wird die U-Bahn gemäß ihres Rufs als Ort des kollektiven Gedächtnisses und auch des kollektiven Traumas dargestellt: Stalin erscheint nämlich dort vor einer Gruppe von Passagieren, die aus Vertretern verschiedener Schichten und Altersgruppen besteht, also für die gesamte Bevölkerung stehen kann. In seiner Repräsentation der Metro geht der Krimiautor erstaunlicherweise ähnlich vor wie der französische Wissenschaftler Marc Augé in seinen „ethnologischen Untergrundreflexionen“ (Krebs 2005) über die Pariser Metro (Augé 2002). Wie für Smith ist die Metro auch für Augé kein Un-Ort der Moderne, obwohl sie auch, wie Flughäfen oder Einkaufszentren, etwas Transitorisches, Flüchtiges in sich hat. Vielmehr bildet die Metro einen Raum der kollektiven Erfahrung, eng verbunden mit dem historischen Gedächtnis einer Stadt. Das Mystische, Erhabene des sowjetischen Metro-Diskurses wird in „Stalin’s Ghost“ durch beobachtete Details verfremdet und damit entsakralisiert: „The Moscow Metro is the underground palace of the people.“ Platonov limped, one boot on and one off, as he pointed at the walls. „Milk white limestone from the Crimea. Now that the riffraff is gone, you can see it properly.“

4

Wie Dietmar Neutatz es in seiner fundamentalen Studie gezeigt hat, verstellt hier allerdings die Propaganda die soziale Realität (Neutatz 2001: 509-567).

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With its arches and tunnels, the hall of the Park Kultury station looked more like a monastery than a palace. A cleaning woman shuffed on towels across a wet section of the floor at about the same speed Platonov was moving. (Smith 2007: 65)

Die Metro ist der Ort, an dem die Geister schlummern oder plötzlich aktiv werden. Bei Reich geschieht es in dem unterirdischen Bunker unter der Station MĤstek. Dort war dem Roman nach in der Zeit des Kalten Krieges ein geheimes Krankenhaus untergebracht und dort wurden für alle Eventualitäten auch Särge aufbewahrt. Die ganze U-Bahn in Prag war, so Reich, ein einziger Bunker, vorbereitet für einen Atombombenangriff. Das Bunker-Thema in beiden Büchern entspricht der aktuellen BunkerRenaissance in den postsozialistischen Ländern, wo sich die Trivialisierung des Sozialismus und seine Entsakralisierung u. a. in der Umfunktionierung von Bunkern in Kneipen, Diskotheken oder unterhaltsame und interaktive Kommunismusmuseen bemerkbar machen.5 Aber die Baugrube ist auch eine Metapher – Metapher des Gedächtnisses, aus dessen Tiefen verdrängte Gedanken und Erinnerungen ausgegraben werden. Dafür gibt es auch in der russischen sozialistischen Literatur namhafte Beispiele wie die Novelle „Kotlovan“ [Die Baugrube] von Andrej Platonov, die durch die Geschichte einer Grabung für das Fundament eines Kolossalbauten den unausgesprochenen und unaussprechlichen Gedanken der Stalin-Zeit versinnbildlicht: die Möglichkeit, dass die sozialistische Utopie scheitert. (Platonov 1929/30; Middeke 2006) Auch „Stalin’s Ghost“ spielt mit der Metapher der Grube als Gedächtnisarbeit. Dort werden beim Graben die Leichen politischer Gefangener sowie polnischer Offiziere entdeckt, die auf Stalins Befehl durch Kopfschuss getötet wurden. Diese Entdeckung ist in der Handlung von besonderer Wichtigkeit, weil diese neuen Beweise für die Verbrechen des stalinistischen Regimes in den Medien und der Bevölkerung Entsetzen über

5

In Prag war im Jahr des Erscheinens von Reichs Roman, 2008, in einem Bunker im ParurkáĜka-Park in Žižkov eine modische Musikkneipe eröffnet worden. In Russland sind die sog. Stalin-Bunker Touristenattraktionen der post-sozialistischen Zeit, wie etwa ein 37 m tiefer Bunker in Samara, der als Museum zugänglich ist (http://www.warface.narod.ru/bunker2.htm, 27.02.2012). Stalins Bunker in Moskau bietet interaktive Spiele wie Verhaftung oder „Imitation einer Atombombenexplosion“ inklusive Mahlzeiten an (http://www.neopresent.ru/catalog/ 10/165,27.02.2012).

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die Vergangenheit hervorrufen. Sie zerschlagen so das Komplott der Amerikaner, die sozialistische Vergangenheit zu rehabilitieren, um die Politik im Lande zu destabilisieren. All die Vorkommnisse im Roman laufen darauf hinaus, dass die Ausgrabung von Erinnerungen eine gewaltsame, explosive Tat sein kann: Die Bomben explodieren am Ende des Romans wortwörtlich in einer Grube und töten die Bösen, wobei auch einige der Guten den Tumult nicht überleben. Es können jedoch nicht alle Rätsel und Gespenster der Vergangenheit und der Gegenwart, mit denen sich Renko in der Handlung auseinanderzusetzen hat, auf rationale Weise erklärt werden. Das Böse ist nicht ganz zu besiegen und verkriecht sich wieder in den Underground, was den Leser neugierig auf die Fortsetzung macht. Der Schluss bei Reich ist nicht so groß angelegt. Nur ein alter Geheimdienstoffizier, der gleichzeitig Vater der ermordeten Frau war, wird entlarvt und aus dem Verkehr gezogen, während die angebliche Tote, die Schauspielerin (die unter einer falschen Identität lebte) zum Schluss wirklich getötet wird. Die anderen Figuren bleiben mit ihren Schatten am Leben.

D IE ARCHÄOLOGIE

DER

G EGENWART

Die Frage „Wer ist schuld?“ kann im klassischen Kriminalroman nur auf rationale Weise, durch Zusammenstellung von Beweismitteln, gelöst werden. Archäologie ist dabei eine der Methoden der Ermittlung. Aber: „Once you start digging, when to stop?“ Bei Bauarbeiten am Obersten Gericht in Moskau wird in „Stalin’s Ghost“ durch Zufall ein Massengrab entdeckt, bei dem es sich, laut Untersuchung, um Opfer Stalins handelte. In Tver’ sind es die „Digger“, eine patriotische Jugendbewegung, die, angespornt von amerikanischen Polittechnologen, am Rande der Stadt, wo während des Zweiten Weltkriegs heftige Kämpfe stattgefunden haben, nach Überresten von sowjetischen Soldaten suchen, um patriotische Gefühle zu schüren. In Wirklichkeit entdecken sie aber wieder einen Massengrab – diesmal von polnischen Opfern des Stalinismus. Nur die wissenschaftlichen Methoden – die der Archäologie und forensischen Medizin – bringen in beiden Romanen die endgültige Sicherheit, um Verbrechen aufzuklären. In Reichs Roman wird die in der Metro gefundene Mumie zunächst im archäologischen Institut untersucht und nachher der Forensik übergeben. Gefundene Beweise, und nicht die Erleuchtung

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oder deduktive Methode des Ermittlers, führen auf die richtige Spur. Die Leichen der polnischen Opfer bei Smith werden von einer Pathologin geprüft, die sich selbst als Polin offenbart (im Buch wird sie wegen der Aufklärung der Wahrheit erschossen). Durch unwiderlegbare Beweise werden die Ermittler in beiden Büchern mit schmerzhaften Erkenntnissen über die Vergangenheit konfrontiert: Es handelt sich nicht nur um die Taten einer konkreten Person, sondern vielmehr um Verbrechen des vergangenen Regimes, das heute noch seine Opfer fordert. Dabei wird die zeitliche Überlappung von gestern und heute sowie die persönliche Betroffenheit der Ermittler, die verwandtschaftliche oder emotionale Beziehungen sowohl zu den Opfern, als auch zu den Tätern haben, thematisiert. Gerade die emotionale Involvierung der Detektive, deren Gefühle und Gedanken die unpersönliche Erzählstimme meistens verfolgt, lässt beide Krimis am erinnerungskulturellen Diskurs der post-sozialistischen Länder teilnehmen. In beiden Geschichten wird die kommunistische Ära nicht historisch objektivierend dargestellt, sondern subjektiv aus der Perspektive der Figuren gezeigt. Diese verbinden mit der Vergangenheit bestimmte Ängste, Wünsche und Erfahrungen, die bis in die Gegenwart stark fortwirken. Durch die Figuren entsteht in den Texten von Smith und Reich eine Art erlebte Beschwörung des Vergangenen, die mit der gestrigen und heutigen Alltagskultur der Metropolen Moskau und Prag eng verstrickt ist. Inmitten dieser Kultur stehen die tiefe Zäsur der Wende und Bruchteile der sozialistischen Vergangenheit, die in Form von Gespenstern und Leichen beide Städte heimsuchen. Die von den Ermittlern ausgeführte archäologische Ausgrabung dieser Erscheinungen wirkt in diesem Zusammenhang als eine positive Strategie, um die Traumata der Vor- und Nachwendezeit zu bewältigen. „Archaeologies of contemporary past“ nennen Victor Buchli und Gavin Lucas die von ihnen vertretene Richtung der „Anthropoarchäologie“, bei der es sich um die Anwendung archäologischer Methoden auf die Untersuchung der materiellen Kultur der Gegenwart oder der nicht weit zurückliegenden Vergangenheit handelt (Buchli/ Lukas). Bei der Fokussierung auf Alltagskultur, Konsumpraktiken, Kriminologie und Garbarologie (d. h. Untersuchung der Müllproduktion) bietet diese Forschungsrichtung wichtige Quellen und Materialien für eine differenzierter verstandene Geschichte der Gegenwart. Die Rolle des Archäologen sei dabei, so die Autoren, mit der Position eines Detektivs zu vergleichen. Sie ist zwiespältig: „We are situ-

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ated, both as actors in the present and as observer of the past, at the heart of the production of archaeological materials.“ (Olivier 2001: 180) Sie verlangt nach Distanz und kann doch die emotionale Involvierung in das untersuchte Verbrechen gar nicht verhindern. Zudem schließen sowohl die Archäologie, als auch die Forensik den Akt des Voyeurismus mit ein. Die Herausforderung für die Wissenschaft bei der archäologischen Untersuchung solcher Objekte, die es mit Kriegsverbrechen oder Militäraktionen zu tun haben, bei denen es neben den materiellen Evidenzen auch lebendige Zeugen noch gibt, wie etwa KZs oder Massengräber im ehemaligen Jugoslawien, ist explizit Gegenstand der Reflexion innerhalb des Faches geworden (Theune 2011; Olivier 2001). Die Helden beider hier analysierten Romane, aber vor allem des Romans von Smith, stellen sich zum Einen als hartgesottene Ermittler über das Geschehen. Als Vertreter des Staates oder einer abstrakten Gerechtigkeit müssen sie eine Distanz zu ihrem Untersuchungsgegenstand bewahren. Zum Anderen sind sie selbst Teil dieser Geschichte. Die forensische Pathologin in Reichs Roman erfährt im Laufe der Ermittlung, dass sie die leibliche Tochter eines Spitzels ist. Renkos Vater war vielleicht für die Massenmorde verantwortlich, die sein Sohn aufzuklären vermochte. Sein Trauma besteht im inneren Dialog, den er sein ganzes Leben lang mit dem Vater führt.

D ER H ELD

UND DAS

B ÖSE

Raymond Chandlers Beschreibung des Chicagos der 1930er in seinem berühmten Essay „The Simple Art of Murder“ (Chandler 1950) zeigt erstaunlich viele Parallelen mit dem, was man im post-sozialistischen Moskau, Baku oder Kiew finden könnte. Auch dort gibt es eine malerische Szenerie mit Mafia-Bossen, die die Stadt regieren, Casinos, in denen illegale Geschäfte abgewickelt werden, Richtern, die in korrupte Machenschaften verwickelt sind. Es sind dies alles Zeichen urbaner Modernität, aber auch Zeichen einer Schwellenzeit, der totalen Umwertung aller ästhetischen, ideologischen und ethischen Paradigmen. Der Autor, der diese Welt für sich entdeckt hat und einen Blick von außerhalb auf sie wirft, ist fasziniert von den Veränderungen in der post-sozialistischen Gesellschaft, von neuen Bösewichten und Kriminellen, von der neuen Bedeutung der Gewalt und

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den neuen Orten und Un-Orten, die er erkundet und die er zu seinen Schauplätzen macht. Der Held in dieser Welt ist vielleicht nicht – wie in manchen Klassikern des Rätselkrimis – ein säkularisierter Priester, der den Verbrechern die Beichte abnimmt (Kracauer 1979: 54), er bezieht aber nach wie vor eine moralische Position in diesem Reich des Bösen. Arkady Renko ist so ein Held: tugendhaft auf seine Weise, tapfer, pessimistisch aber nicht resigniert, ein romantischer obwohl oft brutaler Kämpfer gegen die mit der Mafia verwickelten Staatsstrukturen. Er ist verletzbar aber unzerstörbar – schließlich soll es weitere Folgen geben. Auch der Detektiv bei Reich gehört in diese Kategorie, obwohl die Figur nicht ganz überzeugend gelungen ist. Der Inspektor mit dem Namen David AndČl [Engel] ist einfach zu perfekt – schön, makellos gekleidet in einem keinesfalls verknitterten Leinenanzug, mit blauen Augen und Sonnenbräune und einem geschmeidigen „Raubkatzengang“. Er studierte Mathematik am MIT in den USA, kehrte aber aus inneren Überzeugung in die Heimat zurück, um in der Mordkommission in Prag zu arbeiten. AndČl scheint die Erfolgsgeschichte eines Menschen aus dem ehemaligen politischen Osten zu verkörpern, der all die (durchaus idealisierten) positiven Werte der westlichen Kultur verinnerlicht und umgesetzt hat. Doch ist das Böse nicht nur Teil der sozialistischen Vergangenheit, die, wie bei Reich, zufälligerweise aus einem unterirdischen Verlies zu Tage kommt und in die heutige heile Welt einbricht; das ewig Böse passt sich – so Smith – an die neuen Umstände erfolgreich an. Die Umwertung aller Werte verwischt klare Oppositionen aus den Zeiten des Kalten Kriegs. In Ländern mit „unvorhersehbarer Vergangenheit“6 wird die Geschichte immer wieder neu gelesen und bietet Spannungspotenzial für den Krimi-Leser.

B IBLIOGRAPHIE Augé, Marc, 2002 [1986]: In the Metro. Minneapolis-London. Augé, Marc, 2010 [1992]: Nicht-Orte. München.

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Ein Satz, der sich auf Russland bezog und in der russischen Presse der Perestroika-Zeit kursierte. Die Autorschaft ist nicht zu identifizieren. Siehe Dušenko (1997: 471).

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Bachtin, Michail, 1973: Formy vremeni i chronotopa v romane. Oþerki po istoriþeskoj poetike 1937-38 [Fragen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Aufsätze zur historischen Poetik 1937-38]. In: Bachtin: Voprosy literatury i estetiki [Fragen von Literatur und Ästhetik]. Moskva. Benjamin, Walter, 1980: Moskauer Tagebuch 1926-27. Mit einem Vorwort von Gershom Scholem. Frankfurt am Main. Buchli, Victor/ Lucas, Gavin (Hg.), 2001: Archaeologies of the Contemporary Past. London-New York. Chandler, Raymond, 1950: The Simple Art of Murder. In: http://www. en.utexas.edu/amlit/amlitprivate/scans/chandlerart.html (27.2.2012). Däumer, Matthias/ Gerok-Reiter, Annette/ Kreuder, Friedemann (Hg.), 2010: Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld. Dušenko, Konstantin V., 1997: Slovar’ sovremennych cytat [Modernes Zitatenlexikon]. Moskau. Kracauer, Siegfried, 1979 [1925]: Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat. Frankfurt am Main. Krebs, Stefanie, 2005: Mitnichten ein Nicht-Ort? Ethnologische Untergrundreflexionen. In: Book Review – DISP 160, 1 (2005). In: http:// www. nsl.ethz.ch/disp/reviews/160/160_auge.pdf (27.2.2012). Middeke, Annegret, 2006: Polyglog der Utopien und Utopieverlust in Andrej Platonovs Kotlovan (Die Baugrube). In: Bernáth, Árpád/ Hárs, Endre/ Plener, Peter (Hg.): Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien. Tübingen 2006, 125-137. In: http://www. kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/AMiddeke1.pdf (26.2.2012). Neutatz, Dietmar, 2001: Die Moskauer Metro: von den ersten Plänen bis zur Grossbaustelle des Stalinismus (1897-1935). Köln. Olivier, Laurent, 2001: The archaeology of the contemporary past. In: Buchli, Victor/ Lucas, Gavin (Hg.): Archaeologies of the Contemporary Past. London-New York, 175-188. Reich, Helena, 2008: Nasses Grab. München. Ryklin, Michail, 2003: Metrodiskurs I; Metrodiskurs II. In: Ryklin, Michail: Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Essays. Frankfurt am Main, 87-133. Smith, Martin Cruz, 2010: Three Stations. New York. Smith, Martin Cruz, 2007: Stalin’s Ghost. New York.

D IE G RUBE

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Ausblick: Postmoderne bzw. Prag im (Anti-)Krimi

Krimi, Raumerfahrung und Tourismus Perspektivwechsel in den Krimis „Sedmikostelí“ und „Stín katedrály“ von Miloš Urban N ORA S CHMIDT

Die deutschen Übersetzungen der Romane von Miloš Urban werden als Krimis vermarktet: „Die Rache der Baumeister“ (dt. 2001; org. „Sedmikostelí“ 1999), „Im Dunkel der Kathedrale“ (dt. 2008a; org. „Stín katedrály“ 2003) und „Mord in der Josefstadt“ (dt. 2010, org. „Lord Mord“ 2008b). Der Rowohlt-Verlag arbeitet dabei mit den Untertiteln „Ein Kriminalroman aus Prag“ bzw. „Ein Kriminalroman aus dem alten Prag“, wodurch die Untertitel der Originale „gotický román z Prahy“ [ein gotischer Roman aus Prag] und „pražský román“ [Prager Roman] zu Leseanweisungen nach dem Gattungsmuster des Krimis vereindeutigt werden.1 Beim einzigen auch im Original als „Božská krimikomedie“ [Göttliche Krimikomödie] bezeichneten „Im Dunkel der Kathedrale“ (dtv) geschieht die Gattungszuordnung (nur!) über das schaurige Cover und den Klappentext, der von einer „blutigen Hand“ und einem „riesigen Zirkel“ als Mordwerkzeug berichtet. Doch nicht umsonst ist der Verweis auf Prag in den tschechischen Untertiteln stärker als der auf den Krimi: Durch die explizite Referenz ist das ‚reale‘ Prag als Handlungsort ausgewiesen und zudem eine Beziehung zum wenig

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In den Romanen Urbans finden sich deutliche Elemente des Krimis, v. a. viele Morde, dennoch ist das Spiel mit dem Muster des Kriminalromans ein Gattungsbezug unter mehreren (vgl. Schmidt 2011).

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bestimmten ‚Prager Text‘2 hergestellt. Doch mehr noch: Die Stadt und ihre Architektur sind wichtiger Bestandteil des Geschehens. Für den deutschen Markt wird Prag dahingegen zum bloßen Tatort. Mit der Übertragung auf den deutschen Buchmarkt wird der Stadtbezug modifiziert. Nun wird mit dem Namen Prag nicht mehr die eigene, sondern die fremde, ferne Stadt aufgerufen, eine Sehnsuchtsstadt für Touristen, ein mit Nostalgie besetzter Ort.3 Über den Handlungsort als ‚Pragromane‘ definiert, bieten sich die Romane als Urlaubslektüre an, womit sich das Genre Krimi gut vereinbaren lässt, zumal sich über die deutsche Prager Literatur jener delightful horror des Schauergenres mit diesem Ort verbindet.4 Zwei der Romane, „Sedmikostelí“ und „Stín katedrály“, sind Gegenstand dieser Analyse. Ihre Handlungen sind in der Gegenwart situiert, doch weisen sie eine signifikante Verschiebung innerhalb des Handlungsortes Prag auf, die aufschlussreich ist in Bezug auf die Modifikation des Ortes Prag in der Übertragung auf den deutschen Buchmarkt. Zu fragen ist, wie sich die jeweiligen Perspektiven auf die Stadt unterscheiden und welche Auswirkungen auf die Imagination der die Romane lesenden Touristen damit einhergehen. Eine Vermarktung in Bezug auf das Reiseziel Prag und unter dem publikumsstarken Genre Krimi, provoziert die Frage nach einem dem (deutschen) Leser vermittelten Pragbild bzw. einer spezifischen Perspektive auf Prag. In „Sedmikostelí“ finden sich neben Krimielementen auch Elemente der ‚klassischen‘ Fantastik, die gern das Motiv des Blicks bemüht. Mit der fantastisch-visuellen Wahrnehmung wird der Stellenwert von visueller

2

Den Begriff des ‚Prager Textes‘ verwende ich mit Bezug auf das Konzept des ‚Petersburger Textes‘, das auch Susanne Fritz in ihrem „Versuch einer Definition“ des ‚Prager Textes‘ zitiert (Fritz 2005: 15 f.).

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Es soll keine verallgemeinernde Aussage über Prag als touristischen Raum getroffen, sondern nur darauf hingewiesen werden, dass mit dem Phänomen des Tourismus eine Verknüpfung von „einem geographischen Ort mit spezifischen Imaginationen“ (Karentzos/ Kittner 2010: 281) einhergeht.

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Diese mit Prag verbundenen „spezifischen Imaginationen“ ließen sich anhand einer Analyse der durch die Prager Literatur evozierten Pragbilder näher bestimmen. (Zum Schauergenre vgl. Fritz 2005:142 f.; zum delightful horror und der gothic novel vgl. Schwarz 2001, 51 f.)

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Erkenntnis5 in „Sedmikostelí“ verhandelt: Einerseits ganz im Sinne der Fantastik durch Visionen als Vermittler einer anderen Wahrheit, andererseits durch die Bewegungen der Erzählerfigur und ihre dadurch beeinflusste Wahrnehmung der Stadt. An dieses Motiv und seine Verbindung zum Motiv der Bewegung in der Stadt knüpfen zentrale Überlegungen zum Verhältnis von Tourismus und Krimi an. Nach der Jahrhundertwende und der Blütezeit der Fantastik schreibt Johann von Uexküll6 über die Entdeckung der Funktionen der Bogengänge des Ohres für die Orientierung im Raum7. Zu dieser Zeit vollzieht sich eine Richtungsänderung innerhalb der Physiologie von der Suche nach einem allgemeinen Raumsinn zu Fragen nach einem Richtungs- bzw. Orientierungssinn. Demnach basiert die Raumwahrnehmung nun nicht mehr primär auf visuellen Eindrücken, sondern sie wird von diesem neuentdeckten „Sinnesorgan übernommen, das ganz spezifische zum Ordnen geeignete Empfindungen zu erzeugen vermag.“ (Uexküll 2008: 89) Diese Auffassung löst die kantische Erklärung des Raumes als apriorische Bildungskraft der Seele ab und der Blick büßt seine erste Stellung in der rationalistisch geprägten Hierarchie der Sinne ein. Die neue egozentrische Ordnung bestimmt die Lage der Gegenstände im Raum in Bezug auf das Subjekt, dessen Bewegung für deren relationale Bestimmung ausschlaggebend ist und umgekehrt. „Durch den Raumsinnesapparat sind wir über die Lage der Gegenstände im Raum orientiert und in diesen Raum hinein beschreiben wir unsere Bewegungen“ (ebd. 91). Leibliche, bzw. körperliche Kategorien werden damit gestärkt. Im Übergang von einer abstrakt-logischen Ordnung

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Eine Fokussierung auf den ‚Blick‘ als leitender Sinn der Wahrnehmung steht in engem Zusammenhang mit dem Bezug auf das 19. Jahrhundert, in dem Fantastik auch als Rationalismuskritik fungiert.

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Auf den Überlegungen Johannes von Uexkülls in „Umwelt und Innenwelt der Tiere“ (1909) basiert Ernst Cassirers Definition des Menschen als animal symbolicum (Cassirer 2007: 48-51). Die Biologie ist außerdem Ideengeber für die Entwicklung der Semiosphäre in Analogie zur Biosphäre bei Jurij M. Lotman (Lotman 1990: 289). Semiotik und Kulturwissenschaft positionieren sich über diese Bezugnahmen bereits zu Körperlichkeit.

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Nach der Entdeckung in den 1870er Jahren gab es verschiedene Versuche diese in theoretische Beschreibungen des Raumempfindens einzubetten (Wagner 2010: 237 f.).

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des Raumes zu einer am Subjekt orientierten sinnlich erfahrenen Raumordnung wird der Primat des Sehsinns durch eine umfassendere sinnlichkörperliche Erfahrung abgelöst. Eine physiopsychologische Raumerfahrung ist als Kombination von visuellen und haptischen Stadtwahrnehmungen sowohl in „Sedmikostelí“ als auch in „Stín katedrály“ zu finden, die beide eine subjektive, individuelle Wahrnehmung und Imagination der Stadt thematisieren. Zu diesem Komplex gehört auch das Routenwissen8 der Erzählerfiguren, das über deren Bewegungen in der Stadt vermittelt wird. Der subjektive Zugang zum Raum und zu Prag wird in beiden Romanen durch eine Vervielfältigung der Perspektive aufgebrochen. Darüber hinaus gibt es jedoch auch einen interessanten kompositionellen Unterschied, den die literaturwissenschaftliche Beschreibung in einem Übergang von einer subjektivistischen Raumbeschreibung in „Sedmikostelí“ (das in Doppelgänger aufgespaltene Ich – s.u.) zu einer kultursemiotischen Raumbeschreibung in „Stín katedrály“ (sich gegenüberstehende Figuren in einem intersubjektiv erfahrbaren Raum – s.u.) fassen kann. Der ästhetisch gefasste Raum hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung Prags durch den Helden bzw. auf die Vorstellung des Lesers und/ oder Touristen von Prag. Die Analyse wird das Verhältnis von Raumerfahrung bzw. Raumvorstellung und Bewegung in den Romanen „Sedmikostelí“ und „Stín katedrály“ untersuchen.

„S EDMIKOSTELÍ “ In „Sedmikostelí“ stehen nicht die Morde im Vordergrund des Geschehens, sondern eine Polemik zwischen Barock und Gotik, in der die Regotisierung Prags im 19. Jhd. als kriminelle Machenschaft erscheint. Auf der Folie der oppositär verstandenen Baustile entwickelt der Roman dann sein grundlegendes „Kulturmodell“ (Lotman 1972: 313). Anhand verschiedener gotischer Kirchen und über die Wege des Erzählers baut sich eine spezifische Topographie Prags auf. Der auf die obere Prager Neustadt begrenzte Handlungsort wird zu Prag als Ganzem situiert durch den Erzähler, der zu-

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Michel de Certeau differenziert in „Die Kunst des Handelns“ Routen- und Kartenwissen, worauf auch die Unterscheidung von Raum und Ort gründet, der ich hier folge (De Certeau 1988: 220-226; vgl. auch Wagner 2010: 240 f.).

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nächst von einer Wohnsiedlung am Stadtrand startend, den Veitsdom ansteuert: An einem klaren, windigen Tag […] trieb es mich jedoch weiter, bis auf den Hradschin. Ich machte mich mit der Absicht auf den Weg, mir vom großen Turm des St.Veits-Doms das Panorama auf die Stadtteile anzusehen, die zu einer Zeit entstanden waren, als im Wohnungsbau der Begriff der Schönheit noch nicht verpönt war. Deswegen nahm ich mein Fernglas mit; den ganzen Weg ging ich zu Fuß. Auf den Turm hinauf bin ich an dem Tag nicht mehr gekommen. (Urban 2001: 45)9

Der Weg zum Zentrum der realen Stadt ist mit einem rationalen, zum Erkennen einer Ordnung geeigneten, aber nicht realisierten Vorhaben verbunden: dem Aufstieg auf den Turm, von dem aus das Labyrinth der Straßen als Muster erkennbar und entzifferbar wäre.10 Den Turm zu besteigen, würde bedeuten, „auf eine zugleich elementarere und tiefere Weise zu einer Aussicht [zu] gelangen und das Innere eines […] Objekts [d.h. der Stadt] erforschen, den touristischen Ritus in ein Abenteuer des Blicks und der Intelligenz verwandeln.“ (Barthes 1970: 38; H. N. S.) Die Übersicht wird jedoch verweigert, genau wie sich der Roman dem Ordnungsimpetus des

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„Jednoho jasného vČtrného dne [...] jsem však musel dál, až na Hradþany. Vydal jsem se tam s úmyslem rozhlédnout se z velké svakovítské vČže po mČstských þtvrtích vzniknuvších v dobách, kdy stavitelé lidských obydlí ještČ nepohrdali pojmem Krása. Vzal jsem si pro tu pĜíležitost dalekohled a celou cestu šel pČšky. Na vČž jsem toho dne nevylezl.“ (Urban 1999: 56)

10 „Die Vogelperspektive [vom erhöhten Ausblick eines Turmes aus] bietet die Welt zum Lesen und nicht nur zum Wahrnehmen dar. […] Die Vogelperspektive […] ermöglicht es, über die unmittelbare Wahrnehmung hinauszugelangen und die Dinge in ihrer Struktur zu sehen. […] Jeder Besucher des Eiffelturms [betreibt] Strukturalismus, ohne es zu wissen. […] Paris bietet sich ihm dar wie ein virtuell präpariertes Objekt, das der Intelligenz vorgelegt wird, das er jedoch selbst durch eine letzte Anstrengung des Geistes konstruieren muß: […] Diese Tätigkeit des Geistes, ausgeübt durch den bescheidenen Blick des Touristen, hat einen Namen: das Entziffern.“ (Barthes 1970: 43)

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Krimis verweigert. Der Erzähler wird der Labyrinthgänger11 bleiben, derjenige, der nicht um seine Wege und Ziele weiß. Statt den Turm des Doms zu besteigen, betritt der Erzähler den Innenraum: Ich setzte mich in eine Bank im hinteren Teil des Hauptschiffs und beobachtete die Touristen, wie sie mit der ihnen eigenen Dumpfheit an diesem heiligen Ort herumstolzierten, ohne ihre Mützen abzunehmen. Wie sie die Hälse reckten und die Köpfe in den Nacken legten, erinnerten sie an exotische Vögel. Ich rief mich zur Räson – schließlich war ich an diesem Ort genau wie sie ein Fremder – und wandte meinen Blick vom niederen Treiben hinauf in die Erhabenheit des Kirchengewölbes. (Urban, 2001: 45)12

In der gleichzeitigen Distanzierung und Identifizierung mit den Touristen kommt das Hadern mit dem touristischen Blick zum Ausdruck, der einen Ausblick vom Turm als „Aufnahmeritus“ und Wissen von der Stadt fordert und dem der Einwohner nicht bedarf (Barthes 1970: 50). Im Inneren des Doms macht ihn die Exotik der unbekannten Gotik zum detailversessenen Beobachter und animiert ihn als Einwohner Prags zu touristischem Verhalten. So sind Gotik und Vergangenheit als Fremdes erfahrbar.13 Ich sah die Vergangenheit: Steinerne Maßwerke fügten das Glas zu sonderbaren Mustern zusammen, den Pfeilern vorgelegte Dienste schwangen sich an ihnen empor

11 Schmeling analysiert labyrinthisch erzählte Texte in Hinblick auf den ‚Theseischen Helden‘ (Labyrinthgänger) und den ‚Dädalischen Helden‘ (Labyrintherbauer) (Schmeling 1987, vgl. auch Schmidt 2011, 58 f.). 12 „Usedl jsem do lavice v zadní þásti hlavní lodi a pozoroval cizozemce, jak s tupostí sobČ vlastní špacírují po svatostánku s þepicemi na hlavách. S vykroucenými krky a zaklonČnými hlavami pĜipomínali strakaté ptáky. Napomenul jsem se, že stejnČ jako oni i já jsem tu cizí, a odvrátiv pohled od jejich pĜízemní kratochvíle, zahledČl jsem se k výšinám chrámové klenby.“ (Urban 1999: 56) 13 Über das Verhältnis von Fremdheit/ Exotik und touristischem Raum schreiben Karentzos/ Kittner: „Das Fremde scheint im Zeitalter der abgeschlossenen Weltentdeckungen und des Eurozentrismus kaum mehr erfahrbar zu sein. Während demnach der Reiseraum immer kleiner geworden ist, die Erde zu einem Dorf geschrumpft ist, dehnt sich laut der These der Touristisierung der touristische Raum immer mehr aus.“ (Karentzos/ Kittner 2010: 281)

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und gingen hoch über mir in Gewölberippen über. […] Ich hob das Fernglas an die Augen und richtete es schräg nach oben. Sofort verwandelte es sich in ein Spielzeugkaleidoskop: Geblendet von der Flut von Lichtstrahlen und allen Farben des Regenbogens in den hohen Fenstern, musste ich die Augen zukneifen – Zauberfenster, die das Tageslicht neu deuten, das uns außerhalb der Kirchenmauern doch nur weiß erscheint. (Urban 2001: 45-46)14

Hier manifestiert sich der Zwiespalt zwischen dem touristischen Verhalten im Gebrauch des Fernglases und der sarkastischen Kommentierung des touristischen Blick-‚Rituals‘, den Kopf in den Nacken zu legen. Die Faszination, die vom gotischen Maßwerk im Inneren ausgeht, wandelt sich in ein kindlich-verspieltes Imaginieren von Licht und Farben: Der Erzähler muss – in einer paradoxalen Reaktion – die Augen zukneifen, um die „Zauberfenster“ zu sehen. Es ist ein Übergang vom rational-distanzierten Betrachten zu jener anderen Wirklichkeit, die der Roman schafft und damit gerade ein zum Verhalten des Touristen umgekehrtes Fortschreiten. „Die Nutzung optischer Medien“ zur Erzeugung von Bildausschnitten durch den Touristen verweist v.a. darauf, dass „der touristische Raum sich zwar aus imaginären Quellen [speist], jedoch performativ im Auge des Betrachtenden [entsteht]“ (Karentzos/ Kittner 2010: 285; H. N. S.) Der Erzähler, anders als der Tourist15, antizipiert den Ort nicht: Weil er das Innere ohne Absicht betritt, ist er in einer Weise ‚unschuldig‘16, so dass hier die Wahrnehmung den Raum erst entstehen lässt. Was folgt, oszilliert zwischen Bericht und Deutung:

14 „VidČl jsem minulost: kamenné kružby protínaly sklo v roztodivných obrazcích, pĜípory šplhaly po sloupech a vysoko nade mnou pĜecházely v klenební žebra, […] Pozvedl jsem dalekohled a namíĜil jej šikmo vzhĤru. Rázem se promČnil v dČtský krasohled, musel jsem pĜimhouĜit oþi pĜed oslnČním, záplavou zábleskĤ a duhových barev ve vysokých oknech, bájivých vykladaþích svČtla dne, jež je vnČ kostelních zdí pouze bílé.“ (Urban 1999: 56) 15 Der touristische Blick („tourist gaze“) wird durch Wunschvorstellungen antizipiert und mittels nicht-touristischer Handlungen und Medien vorgeprägt (Urry 1990: 3). 16 Der Erzähler ist als ‚unschuldige‘ Figur anzusehen, was sich u.a. darin zeigt, dass ihm mehrfach ein Einhorn begegnet (z.B. Urban 1999: 324).

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Um die Ergriffenheit abzuschütteln, blickte ich woandershin, ins Fenster der ThunKapelle, und dort sah ich einen Menschen um sein Leben kämpfen. […] Ich habe mich selbst in ihm erkannt – die Erkenntnis traf mich mit solcher Wucht (sic!), dass ich mich ängstlich in meiner Bank zusammenkauerte. […] Und abermals vernahm ich deutlich eine Botschaft: Rette dich, solange noch Zeit ist. In einem Anfall von plötzlicher Panik riss ich den Kopf herum, um diesem Anblick zu entgehen, ich stemmte meine Füße fest auf die Kniestütze, lehnte mich in der Bank zurück und ließ meinen Blick über die Gewölberippen schweifen, die sich wie Totenknochen überkreuzten; man brauchte nur die Hand auszustrecken, um seine eigene Sterblichkeit zu berühren. Ich drückte meinen Rücken ganz durch, da verharrte mein Blick unten an der Rosette über dem Westportal, und ich erstarrte vor Schreck. Hier war der Anfang allen Seins zu sehen, die Erschaffung der Welt. Und die Schöpfung stand Kopf. Dieses umgedrehte Bild, so begriff ich damals, sagte mehr über den Menschen aus als alle Bücher der Welt. (Urban 2001: 46-47)17

Jenes Oszillieren zwischen einem berichteten, scheinbar objektiven visuellen Eindruck und einer subjektiv interpretierten Wahrnehmung wird in „Sedmikostelí“ aufrechterhalten. Die sich hier offenbarende Unzuverlässigkeit des Erzählers und seine Nähe zum Wahnsinn brechen mit jener Konvention der Kriminalliteratur, wonach die ermittelnde Erzählerfigur zumindest in einer basalen Weise vertrauenswürdig und verlässlich sein sollte, um ein fair play zu ermöglichen (Sayers 1998: 19). Zudem ist der Erzähler Verfolgter und Ermittelnder zugleich. Im Abrücken von diesen basalen ‚Übereinkünften‘ innerhalb der Krimiliteratur, gibt der Roman eine andere Leseanweisung: Nach ihr werden die von der Erzählerfigur empfun-

17 „Abych se ubránil dojetí, pohlédl jsem jinam, do okna Thunovské kaple, a spatĜil tam þlovČka zápasícího o život. […] Poznal jsem se v nČm dokonale – až jsem se v lavici schoulil úzkostí.[...] I ten ke mnČ promluvil jasným hlasem: zachraĖ se, dokud je þas. V náhlé panice jsem od nČj odtrhl zrak a zapĜen nohama o klekátko, zvrátil jsem se v lavici dozadu a pĜeletČl pohledem klenbová žebra zkĜížená jako umrlþí kosti; staþilo natáhnout ruku a dotknout se své kĜehké smrtelnosti. Zlomený v zádech jsem zastavil pohled až v hlubinách rĤžice nad západním portálem, a tu jsem strnul úlekem. HledČl jsem na samý zaþátek, na stvoĜení svČta. A bylo to stvoĜení postavené na hlavu. Ten otoþený obraz, jak jsem tehdy pochopil, Ĝíká o þlovČku víc než všechny knihy svČta.“ (Urban 1999: 56-57)

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denen Stadtwahrnehmungen zum ‚Gegenstand der Ermittlungen‘. Die subjektive Interpretation der Wahrnehmung geht mit der Körperwahrnehmung eine enge Verbindung ein. Die eindringlich körperbetonte Darstellung lässt eine Unmittelbarkeit entstehen, indem die erzählten Bewegungen des Erzählers dessen Körper wahrnehmbar machen, ihn in den Vordergrund rücken und den Fokus von der Beobachtung des Erzählers auf seine Körperwahrnehmungen verlagern. Die Distanz zum Leser wird durch dieses performative Erzählen aufgehoben, der Leser vollzieht die Körperwahrnehmung des Erzählers imaginativ am eigenen Körper nach.18 Die (affektive) Wahrnehmung überlagert hier den Versuch einer interpretativen Rezeption.19 „Die Materialität des Vorgangs wird nicht in einen Zeichenstatus überführt, verschwindet nicht in ihm, sondern ruft eine eigene, nicht aus dem Zeichenstatus resultierende Wirkung hervor.“ (Fischer-Lichte 2004: 21) Zugleich vollzieht auch der Erzähler in der performance seiner Bewegungen das zuvor kommentierte touristische ‚Ritual‘20 nach: Auch er legt den Kopf in den Nacken. War aber zuerst eine Distanz gegenüber den beobachteten Touristen dominant, ist diese nun ganz durch das performative Nachempfinden aufgehoben. Das Oszillieren zwischen objektivierter Beobachtung und subjektiver Wahrnehmung setzt sich in einer unklarer werdenden Grenze zwischen der Körperlichkeit, bzw. dem Körperempfinden von Erzähler und Leser fort. So wird dem Leser eine „Möglichkeit [eröffnet], an

18 Eine performance kann bewirken, dass Zuschauer die zugeschriebenen Körperempfindungen des Künstlers „am eigenen Körper imaginieren.“ (Fischer-Lichte 2004: 21) In ihrer Begründung einer Ästhetik des Performativen im Begriff der Aufführung führt Fischer-Lichte mit Bezug auf Max Herrmann aus: „Die Aktivität des Zuschauers wird nicht nur als eine Tätigkeit der Phantasie, der Einbildungskraft begriffen, wie es bei flüchtiger Lektüre vielleicht den Anschein haben mag, sondern als ein leiblicher Prozeß. Dieser Prozeß wird durch die Teilnahme an der Aufführung in Gang gesetzt und zwar durch die Wahrnehmung, die nicht nur Auge und Ohr, sondern das ‚Körpergefühl‘, der ganze Körper synästhetisch vollziehen.“ (ebd. 54) 19 „Interpretationen, […] bleiben jedoch dem Ereignis der Performance inkommensurabel“ schreibt Fischer-Lichte, weil die performance unendlich viele, jedoch keine vorgeprägten Angebote für Interpretationen an den Rezipienten bereitstellt (Fischer-Lichte 2004: 18). 20 Zu Ritual und Performance vgl. Fischer-Lichte: 2004, 13 f. und 44 f.

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bzw. mit dem Wahrgenommenen ganz neue Bedeutungen zu erzeugen, zum ‚Schöpfer eines neuen Sinns‘ zu werden.“ (ebd. 138) Bemerkenswert ist, dass der Erzähler ein Werkzeug benutzt, das seinen Sehsinn unterstützt, obwohl er seherische Fähigkeiten besitzt: Wenn er bearbeiteten Stein berührt, erlebt er in Visionen Episoden aus dessen Geschichte. Doch bewertet diese äußerst komplexbeladene Figur ihre Fähigkeit nicht positiv. Das Fernglas ist ein Mittel der Rationalisierung, das mit seiner Technik menschliche, als unzulänglich empfundene Fähigkeiten ausgleicht und eine Objektivierbarkeit des Gesehenen suggeriert. Genau das Gegenteil ist aber der Fall, weil er sein Werkzeug nicht im intendierten Sinn gebraucht. Er verzichtet auf den Überblick und fokussiert stattdessen Details des Innenraums: Das Licht wird zum kaleidoskopartigen Farbspiel, das in seiner Uneindeutigkeit immer weitere Imaginationen provoziert. Die betrachteten Details interpretiert der Erzähler in existentiell subjektivierender Weise. Er setzt eine Semiose in Gang, in welcher aus den Details der Raum allererst konstituiert und gleichzeitig semantisiert wird. Die Überschneidung von berichtenden und vergleichenden Beschreibungen modifiziert einen rationalen Raum zu einem individuell bedeutenden Raum. Der existentielle Charakter dieses Prozesses wird durch die bereits angesprochene Körperlichkeit unterstrichen. Der Veitsdom wird in diesem Prozess zum Zeichen wie es Barthes am Eiffelturm entwickelt, das aber subjektiv angeeignet und gerade nicht leer ist. Angeregt dadurch sucht der Erzähler andere Kirchen auf und etabliert auf diesem Weg die Topographie des Romans: Woche um Woche wanderte ich mit dem Fernglas im Rucksack die Prager Kirchen eine nach der anderen ab, wobei ich mir nur die mit den farbenprächtigsten Fenstern vornahm. Die in den Reiseführern gepriesenen Orte mied ich eher, ich überließ die Kleinseite und die Altstadt den Touristen und orientierte mich vor allem zur Neustadt Karls IV. hin. […]. Besonders mochte ich die ruhige Umgebung des Krankenhauses – schmale Straßen, in denen der Tod umgeht und nur selten unverrichteter Dinge wieder abzieht. (Urban 2001: 47)21

21 „Týden co týden jsem s dalekohledem v batohu obcházel pražské kostely a vybíral si ty s nejbarevnČjšími vitrážemi. MístĤm zvýraznČným v bedekerech jsem se spíše vyhýbal, Malou Stranu a Staré MČsto jsem pĜenechal turistĤm a zamČĜil se pĜedevším na Karlovo Nové MČsto. […] a za srdce mČ vzala též ztichlá oblast

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Der Erzähler verlässt das Zentrum und bewegt sich fortan in der oberen Prager Neustadt. So wie dieser einzige Besuch des Veitsdoms als Etappe einer Wanderung von der äußeren Peripherie zum Zentrum und weiter zum Ziel in der Neustadt dargestellt ist, etabliert sie den Handlungsraum von „Sedmikostelí“ als einen peripheren Raum. Die Prager Neustadt als Peripherie zu bezeichnen ist möglich durch die Wahl einer Perspektive, für welche die Touristen die entscheidende Rolle spielen: Die Prager Neustadt wird als der Raum beschrieben, den der Baedeker nicht erfasst. Tatsächlich liegt das Gebiet an den Rändern jener Ausschnittkarten, die Touristen den ‚wichtigen‘ Teil der Stadt zeigen, wobei gerade der Veitsdom die wichtigste Sehenswürdigkeit ist und aus dieser Perspektive das Zentrum22 bildet. Der Besuch im Veitsdom und die Vergleichbarkeit mit Touristen, die durch den Nachvollzug der touristischen Handlungen entsteht, machen diese Perspektivik zu einem „spürbaren Element“, weil die Möglichkeit eines anderen Blickpunktes impliziert wird (Lotman 1972: 374). Mit dem Rückzug an die Peripherie ist auch jene Distanzwahrung verbunden, die das ästhetische Empfinden gerade erst ermöglicht (Karentzos/ Kittner 2010: 284). Trotz der Schlagworte ‚Prag‘ und ‚Krimi‘ ist „Die Rache der Baumeister“ keine ergänzende Lektüre zum Baedeker: Denn es führt auf Wege, die abseits der Touristenrouten liegen. Mit dem peripheren Handlungsort geht eine Ungenauigkeit der ‚mentalen Geographie‘ (ebd. 282) einher, mit der „Sedmikostelí“ spielt. Für die deutsche Ausgabe wurde dieses Spiel durch Karten im Buch unterbrochen (Abbildung 1).

kolem špitálu, uliþky, kterými obchází smrt a málokdy odejde s prázdnou.“ (Urban 1999: 57) 22 Ein einziges Zentrum lässt sich für Prag eigentlich nicht ausmachen, da durch die Lage von Altstädter Ring und Hradschin, jeweils auf einer Uferseite, Prag eher durch (mindestens) zwei Zentren geprägt ist. Zudem müsste man den Zentren der Prager Städte Rechnung tragen, die erst 1920 zur Großstadt Prag zusammengefasst wurden (Lichtenberger 1993: 50). Die Opposition von Zentrum und Peripherie wird durch den Text konstituiert.

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Abbildung 1: Karte von Prag aus dem Vorsatz von „Die Rache der Baumeister“

Quelle. Karte: Peter Palm

Während das Buch, gelesen als Krimi, jenes genrespezifische Versprechen nicht einlöst, dass ein Rätselraten um den Mörder das Geschehen in eine kausale und nachvollziehbare Ordnung bringt, wird mit der beigefügten Karte suggeriert, eine Ordnung für die literarische Topographie könnte entschlüsselt werden und unterstützt eine kognitive Raumvorstellung23. Ein wichtiger Bestandteil ist hier das (mentale) Kartenwissen24, das der Tourist

23 „Tolmans Purposive Behaviorism trug maßgeblich zur kognitiven Wende in der Psychologie bei, und er führte mittelbar dazu, dass das Richtungs- und Orientierungsverhalten weniger von den Leistungen der Sinnesorgane her betrachtet wurde, sondern zunehmend als mentaler Prozess. An die Stelle des physiopsychologischen trat in den 1950er und 1960er Jahren ein kognitiver Begriff der Orientierung.“ (Wagner 2010: 241) 24 Die kognitive Raumvorstellung wird als Kombination von Routen- und Kartenwissen begriffen (Wagner 2010: 241).

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durch Stadtkarten substituiert. Das durch die Karte vorgetäuschte25 Kartenwissen kollidiert mit der physiopsychologischen Raumwahrnehmung des Erzählers. Das Leitmotiv von imaginären Achsen scheint in Kombination mit der Karte auf ein Muster hinzudeuten26, doch werden solche Achsen hauptsächlich vom Erzähler imaginiert, der als Labyrinthgänger nicht verbürgen kann, dass deren intendierte Richtungen auch stimmen. Weiter verkompliziert wird der Versuch, das im Text beschriebene Routen- bzw. Kartenwissen mit der Karte in Beziehung zu setzen, durch die Verdopplung der Perspektive auf der Figurenebene. Dem Erzähler ist eine Doppelgängerfigur gegenüber gestellt, die des Urhebers der im Roman erneut und mit kriminellen Mitteln durchgeführten Regotisierung Prags. Sie ist im Gegensatz zum Protagonisten als Labyrintherbauer zu bezeichnen, weil sie eine überblickende Perspektive einnimmt. Diese Figur ist die dem Kartographen, vor allem aber dem Stadtplaner vergleichbar. Beide Erzählperspektiven vermischen sich und interferieren in der Doppelgängerverbindung, durch die eine psychopathologische Charakterisierung der Erzählerfigur verstärkt wird. Aufgrund der vermischten Perspektiven des suchenden Erzählers und der des wissenden Doppelgängers ist ein sukzessiver Fortschritt in der Lösung des Kriminalfalls unmöglich. Der Handlungsort Prag in „Sedmikostelí“ ist kein karthographierbarer Tatort, sondern ein Labyrinth, das nicht nur aus verwinkelten Straßenzügen – als Topos des ‚Prager Textes‘ –, die jene imaginierten Achsen des Erzählers parodieren, sondern vor allem auch mittels der verschlungenen Perspektivik gebildet ist. Der Handlungsort widersetzt sich einer entwirrenden Ermittlungsarbeit, die eine Ordnung etablieren sollte. Das vermittelte Pragbild ist ein existenzielles und psychotisches, keineswegs verallgemeinerbares, objektivierbares Bild. Der Leser muss sich ganz der Raumerfahrung des Erzählers überlassen, sie annehmen, ohne sie an eigenen antizipierten Vorstellungen von Prag verifizieren zu können.

25 Die beigefügte Karte ist eine mental map, in der keine Wege eingezeichnet sind. Sie vermittelt so nur eine vage Vorstellung von der Anordnung bestimmter Orte innerhalb eines grob durch den Flusslauf skizzierten Prags. 26 Diese imaginierte Stadt wird sogar narrativ vermessen. Der Roman greift das Verfahren der Triangulation auf: Er berichtet davon und fordert dann den Leser immer wieder auf, in seiner Vorstellung Achsen zu ziehen: von einem zum anderen Fixpunkt der erzählten Topographie (vgl. Schmidt 2011: 92f.).

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Die Ermittlungsarbeit des Lesers wird überführt in ein Nachempfinden der Raumwahrnehmung des Erzählers und produziert so eine diffuse Stadtimagination, ein ‚verzaubertes‘ Pragbild, die dem touristischen Ort, der besucht und so entzaubert werden kann, entgegensteht.

„S TÍN KATEDRÁLY “ Ganz anders scheint das Pragbild des zweiten Krimis „Stín katedrály“: Der lesende Tourist kann die Handlung entlang der benannten Straßen nachvollziehen, die sich auf das relativ kleine Areal der Prager Burg (Pražský hrad) beschränkt. Zugleich ist dieser Roman von Beginn an in einem hortus conclusus, einem durch Bebauung begrenzten Raum angesiedelt, während ein solcher in „Sedmikostelí“ erst im Epilog erbaut wird: Radims Stadt (sic!) erstreckte sich vom Schwarzen Turm im Osten des Burgbergs bis zum Gittertor mit den kämpfenden Giganten im Westen. Im Zentrum jener Stadt lag ihr steinerner Kern, die Kathedrale. Wahrhaftig, Prag war weit. (Urban 2008a: 43)27

Dementsprechend sind Figurenbewegungen durch Prager Stadtgebiete nicht ausgeprägt. Räumliche Oppositionen wie oben/ unten oder draussen/ drinnen werden dagegen funktionalisiert, sodass auch hier (s.o.) ein Modell „zur Deutung der Wirklichkeit“ gebildet wird, in dem Wertungen vorgenommen werden können (Lotman 1993: 313).28 Waren die Erzählperspektiven in „Sedmikostelí“ mitunter sehr subtil ineinander verwoben, so wird hier eine Opposition der Blickwinkel durch kapitelweise Erzählpassagen der beiden Protagonisten betont: Die Erzählperspektive des Kunsthistorikers und ersten Tatverdächtigen Roman Rops wechselt sich mit jener der ermittelnden Polizistin Klára Brochová ab. Daraus ergeben sich Wiederholungen bestimmter Ereignisse und Zeiträume. Die Narration kennzeichnet sich durch Überlappungen oder doppelte Angebote an den Leser, was nun

27 „MČsto Hrad se táhlo od ýerné vČže na východČ až po mĜížová vrata se zápasícími titány na západČ. UprostĜed Hradu stálo jeho kamenné jádro, katedrála. Vskutku, Praha byla daleko.“ (Urban 2003: 47) 28 Krimi ist überhaupt eine solche oppositäre Struktur (vgl. Lotman 1993: 397).

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die erzählte Wirklichkeit sei. „Die Wahrheit […] entsteht außerhalb des Textes als die Möglichkeit, jeden der Helden und jeden der in der ersten Person abgefassten Texte vom Standpunkt eines anderen (der anderen) Helden und der anderen Texte zu betrachten.“ (ebd. 383) In den Text eingeschrieben ist neben den beiden Protagonisten auf diese Weise nicht nur, wie Lotman an dieser Stelle ausführt, eine übergeordnete Autoreninstanz, sondern noch ein drittes Wahrnehmungssubjekt: die Touristen. Mit dem Wechsel des Schauplatzes von der touristischen Peripherie in „Sedmikostelí“ zum touristischen Zentrum in „Stín katedrály“ bricht der ‚Leser‘ als Tourist in den Text ein.29 Konnte die Erzählung in „Sedmikostelí“ weitestgehend ohne die Erwähnung anonymer (touristischer) Passanten auskommen, so gibt es in „Stín katedrály“ immer wieder Erwähnungen von Touristen. Diese sind einfach anwesend, sie machen eine spezielle Gegebenheit des Ortes aus, wie sie in der Veitsdom-Szene aus „Sedmikostelí“ schon anklang und mit der die Erzähler, hier Rops, umgehen: Ich betrat den Dom. Unter dem Gewölbe herrschte kühles Halbdunkel, vor der Wenzelskapelle drängelte sich eine Menschenmenge. Ich flüchtete ins Triforium hinauf und war mit einem Schlag allein. (Urban 2008a: 43)30

29 Ich verwende hier den Plural und spreche doch von einem Wahrnehmungssubjekt, um zwar generalisierende Aussagen über den Typus des Touristen zu machen, zugleich aber zu betonen, dass diese Aussagen sich nicht auf einzelne Touristen beziehen. Darin folge ich Mac Cannell (1999: 15). Es muss zudem unterschieden werden zwischen der generalisierenden Rede vom Touristen und dem Konstrukt eines Lesers, der im Zusammenhang mit der Gattungszuordnung hier Anwendung findet. In dem hier erörterten Zusammenhang fallen allerdings der abstrakte Leser und die abstrakte Touristenmenge weitestgehend in eins. Mit meiner Lesart der Romane, in der ich die „Ästhetik des Performativen“ von Erika Fischer-Lichte und die Studien von Mac Cannell und John Urry zum Tourismus zur Analyse literarischer Texte heranziehe ist die partielle Gleichsetzung eines nicht näher bestimmten Lesers mit dem gleichermaßen nicht näher bestimmten Touristen und Zuschauer verbunden. 30 „Vstoupil jsem. Pod klenbami byl chládek a pĜítmí, pĜed svatováclavskou kaplí natČsnaný dav. Unikl jsem na triforium a rázem jsem byl sám.“ (Urban 2003: 47)

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Die Romanfiguren vollziehen gegenüber den Touristen eine Abgrenzung, die der Text auf verschiedene Weise aufnimmt, z.B. indem er den touristischsten Ort Prags, die Prager Burg, als einen von der Stadt weit entfernten Ort entwirft (s.o.). Der Text baut eine Grenze zwischen dem „Bühnenraum“, dem Raum der Figuren und dem „Raum hinter den Kulissen“, dem Raum der Touristen, auf, die unüberwindlich erscheint (Lotman 1991: 34). Hier wird eine Bühnensituation aufgerufen, wie sie Lotman für die Charakteristik des ‚Petersburger Textes‘31 beschreibt.32 In der Dichotomisierung der beiden Räume wird ein Oszillieren der „Realitäten“ dieser Räume erreicht, und damit eine besondere Theatralik, denn der jeweils andere Raum erscheint den Akteuren bzw. Touristen als Illusion (vgl. ebd.). Dem Leser muss der Raum der Figuren als Fiktion erscheinen, gleichzeitig erfährt er sich lesend aus der Perspektive der Figuren selbst als unwirklich. Diese Spiegelung des Lesers bzw. Touristen durch die Figuren erzeugt eine unüberwindliche Distanz zum Raum der Figuren33. Gleichwohl erhält der lesende Tourist Einblick in den Raum hinter den Kulissen, in eine „back region“34 (Mac Cannell 1999: 92):

31 Mit dem Anklang an einen nicht näher bestimmten ‚Prager Text‘ wird die Frage nach der Vergleichbarkeit mit dem Konzept des ‚Petersburger Textes‘, wie es von Toporov und Lotman entworfen wurde interessant. Ungeklärt bleibt in dieser Einzelstudie allerdings, inwiefern der Bühnencharakter auch als ein Kriterium für den ‚Prager Text‘ gelten kann. 32 „Die Theatralik des Petersburger Raumes drückte sich in der deutlichen Unterscheidung zwischen einem szenischen und einem hinter den Kulissen befindlichen Teil aus, im dem ständigen Bewußtsein, daß ein Zuschauer anwesend ist und, was besonders wichtig ist, daß die Existenz durch eine ‚Als-ob-Existenz‘ ersetzt ist: Der Zuschauer ist ständig anwesend, aber für die an der Bühnenhandlung beteiligten ist es, als ob er nicht ‚existiert‘: Seine Anwesenheit zu bemerken bedeutet, die Spielregeln zu verletzen.“ (Lotman 1991, 34) 33 In einer ähnlichen Weise entsteht eine Potenzierung in der Fiktionalität der Figur; sie ist Figur und Schauspieler zugleich (vgl. Fischer-Lichte 2004: 130). 34 Dean Mac Cannell unterscheidet eine front region und eine back region der für Touristen produzierten Räume, die in Analogie zu dem von Lotman für den Stadttext Petersburgs verwendeten Theaterbild gesehen werden kann (Mac Cannell 1999: 92).

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In einer Nische des nordwestlichen Turms hatte ich [Rops] eine Aluminiumleiter deponiert. Jetzt trug ich sie zu der Büste Josef Mockers auf der Ostseite und lehnte sie gegen die Wand. Ich hakte die metallenen Sicherheitsösen ein und kletterte fünf Sprossen bis zu der Büste hinauf. Josef Mocker hatte in seiner Kindheit Walter Scott gelesen. […] Den Ursprung für die Gestalt seiner Bauwerke musste man in der Literatur suchen. […] Über die mittlere Fensterreihe drang weiches Licht ins neue Triforium, und deshalb war ich gekommen. Ich zog meine Kamera aus der Ledermappe und fotografierte den Dichter der steinernen Worte von vorne, im Profil und im Halbprofil. Ich wollte das Gesicht im Detail untersuchen und herausfinden, wie es dem Bildhauer Jan Štursa gelungen war, es so wie die Parler’schen Büsten im alten Triforium zu gestalten. […] Ich steckte den Fotoapparat wieder in meine Ledermappe und zog mein Diktiergerät aus der Jackentasche. Ich […] begann mit detektivischem Blick die Büste in Stichpunkten zu beschreiben, die ich dann nachts am Computer für die englischen Leser in passende Sätze umwandeln würde. […] Ich tätschelte die steinerne Schulter des Baumeisters. […]. (Urban 2008a: 43 f.)35

Dem Wunsch nach Abgrenzung zum Raum der Touristen auf Seiten der Figuren steht der Wunsch der Touristen gegenüber, den vermeintlich ‚authentischen‘ Raum des Fremden zu betreten, mit neugierig detektivischem Blick zu durchforsten und zu erfahren. Von besonderem Interesse sind dabei jene back regions einer „staged authenticity“, da allein ihre Existenz ein zu lüftendes Geheimnis verspricht (Mac Cannell 1999: 93). Der Status dieser back regions ist paradox: Es scheinen diese Räume dem

35 „V severozápadní vČži jsem mČl ve výklenku uložené hliníkové štafle. Nyní jsem je donesl k portrétu Josefa Mockera na východní stranČ a jako žebĜík je opĜel o stČnu. Zahákl jsem bezpeþnostní kovová oþka a vylezl po pČti pĜíþlích až k bustČ. Josef Mocker v dČtství þetl Waltera Scotta. [...] Podoba jeho staveb má prapĜíþinu v literatuĜe. […] ProstĜední Ĝada oken propouštČla na nové triforium mČkké svČtlo, kvĤli nČmuž jsem pĜišel. Vytáhl jsem z brašny fotoaparát a vyfotografoval básníka kamenných slov z anfasu, z profilu a z poloprofilu. Šlo mi o detailní prozkoumání tváĜe, o to, jak se sochaĜi Janu Štursovi podaĜilo pĜizpĤsobit se tvaru parléĜovských bust na starém triforiu. […] Schoval jsem fotoaparát do brašny a vytáhl z kapsy diktafon. PĜepnul jsem nahrávání na hlasový kód a okem detektiva zaþal bustu popisovat v bodech, které pak v noci u poþítaþe rozvinu do vČt urþených anglickým þtenáĜĤm. […] Poplácal jsem stavitele po kamenném rameni. […].“ (Urban 2003: 47-48)

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Touristen ‚realer‘, gleichzeitig ist ihnen aber die Möglichkeit inhärent, selbst wieder für den Touristen produzierte Räume zu sein, also ihre Authentizität nur vorzutäuschen (ebd.). Aus der Sehnsucht nach diesen trügerischen back regions erwächst das paradoxale Wesen des Touristen selbst, der sein Ziel einer (wahren) Ko-Präsenz mit dem Anderen nicht erreichen kann (ebd. 94) und vielleicht sogar die Täuschung vorzieht. Die ‚Flucht aus dem Alltag‘ ist eine der Krimilektüre und dem Tourismus gemeinsame Motivation. Ähnlich einer mise en abyme-Struktur, wird die Authentizität im Textbeispiel durch die Verwendung verschiedener Archivierungsmedien immer wieder aufgeschoben. In der Archivierung verliert sich die Authentizität36, die wiederum in der Performativität der Passage erzeugt wird. Denn auch hier drängen sich die Körpererfahrungen und Bewegungen des Protagonisten in den Vordergrund. Über die Performativität wird der Leser, wie in „Sedmikostelí“, zum Teilhaber an den Körperempfindungen des Erzählers, erfährt er Ko-Präsenz als Effekt des Performativen (Fischer-Lichte 2004: 49) und erhält über den Erzähler als Stellvertreter Zugang zum Raum hinter den Kulissen. Ein Antrieb für das Reisen, so Urry, sei jener ‚Zwang zur Nähe‘ und ‚Ko-Präsenz‘, der als Sehnsucht nach Unmittelbarkeit beschrieben werden kann (Urry 2001: o. S.). Der touristische Blick, der „tourist gaze“, der touristische Blick, ist daher nur ein Aspekt der touristischen Raumerfahrung, die sich aus der visuellen Wahrnehmung des Raumes und der Bewegung im Raum zusammensetzt: Touristen erfahren den Raum über körperliches Reisen, also über die Bewegungen und über Sinneseindrücke (ebd.). Temperaturempfindungen, Gerüche, Geschmäcker und Geräusche gehören ebenso zu den Eindrücken des Touristen wie das Sehen. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Berührung ein. Techniken wie Fotografie und Video erscheinen als Mittler verweigerter Berührungen (ebd.). Der Erzähler Rops in „Stín katedrály“ als Stellvertreter des Lesers ist privilegiert, weil er Zugang zum Triforium des Doms hat, wo sich die erwähnten Büsten befinden. Touristen ist das Triforium nicht zugänglich und

36 Anders betrachtet: In der technischen Reproduktion bzw. Reproduzierbarkeit wird die Skulptur, stellvertretend für den Veitsdom, entsakralisiert (vgl. Benjamin 2003). Die erzeugte Spannung (s.u.) ist dann eine zwischen dem Versuch der Entsakralisierung und der Rettung der Sakralität.

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vom Kirchenschiff aus auch kaum einsehbar, allerdings wird in Baedekern das Triforium als besondere Sehenswürdigkeit im Veitsdom angepriesen.37 Außerdem ist dem Erzähler das Fotografieren zu jeder von ihm selbst gewählten Zeit erlaubt, er kann sehr nah an die Kunstobjekte heran und kann sie berühren. Die Touristen dagegen sind durch vielfältige Restriktionen daran gehindert, sich die Kunstobjekte und den Dom anzueignen. Ihnen bleibt nur das Beobachten des bewegten Körpers als einer „spectacular corporeality“ (ebd.) in diesem theatralen Raum der Sehenswürdigkeit, das den Wunsch nach Ko-Präsenz und auch den nach Archivierung nicht stillt. Dieser Wunsch macht die Touristen innerhalb des Romans zu bedrohlichen Figuren und erzeugt eine neue Theatralik, die die Möglichkeit des Eingreifens dieser auf Distanz gehaltenen Menge beinhaltet. Es ist diese Spannung, die das Bühnengeschehen in eine performance wandelt und einer für die Lösung des Mordes unwichtigen Passage einen besonderen Effekt verleiht: Aber von unten, aus dem Hauptschiff, drang ein immer lauter werdendes Geräusch zu mit herauf. Ich stützte mich mit der Hand auf die Skulptur und neigte mich vorsichtig über die Brüstung des Triforiums. Unter den steinernen Stämmen sah ich eine Ansammlung von Menschen. Sie standen im Kreis um einen Mann. […] Es war Erzdiakon Urban. Offenbar war er gerade in die Kirche gekommen, als ein Bursche die Fenster fotografierte. Das war verboten, und so hatte der Priester auf seine Weise eingegriffen. Auf dem Boden lag eine Mütze. Sie gehörte dem jungen Mann. […] Ich musste schmunzeln; der Junge konnte froh sein, dass nicht sein Fotoapparat auf dem Boden gelandet war. In dem Augenblick rutschte die Leiter unter meinen Füßen weg, und die Kirchenbänke, die zankenden Touristen und der gottgleiche Pater Urban flogen mir entgegen. Ich fiel Mocker um den Hals, und die Leiter traf laut scheppernd auf dem Steinfußboden auf. Die Köpfe unten drehten sich nach oben. Die Menschen konnten mich nicht sehen, sie sahen nur das Diktiergerät, das zwischen sie fiel und auf dem Kirchenboden in tausend Stücke zersprang. Ich hing an Josef Mocker und suchte mit meinen Füßen einen Halt, den es nicht gab. Es bestand jedoch keine Gefahr, dass ich über die Brüstung fiel. Ich ließ den steinernen Kopf los und sprang ins Triforium hinunter. […]

37 Im ersten eigenständigen „Baedeker Prag“ sind die Büsten mit zwei Sternchen versehen (Baedeker 1978: 70). Auf die Zugangsbeschränkung für das Triforium wird in der 6. Auflage von 1991 hingewiesen (Baedeker 1991: 75).

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Ich kehrte zur Brüstung zurück und sah hinunter. Die Scharen strömten durchs Westportal und ergossen sich über das Kirchenschiff bis zum Hauptaltar. Sie umflossen den hageren Mann mit dem Kollar, der breitbeinig über den Trümmern des elektronischen Diktiergeräts stand. […] Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er die Mikrokassette. (Urban 2008a3: 45 f.)38

In diesem Ausschnitt ist die Bedrohung durch die Menge der beobachtenden Touristen deutlich, die auf jenen Zufall lauern, der ihnen einen Einblick hinter die Kulissen offenbart (Mac Cannell 1999: 97). Der gefährliche Unfall des Protagonisten erzeugt Spannung wie eine vermeintlich ungewollte Abweichung vom vorherbestimmten Schauspiel, die eine Aufführung zum besonderen Erlebnis macht. In dieser Konstellation wird auf dramatische Weise der Moment deutlich, der für die performance wesentlich ist: Ihre „flüchtige – Materialität […wird] durch die Körper der Schauspieler konstituiert, die sich im und durch den Raum bewegen.“ (Fischer-Lichte 2004: 49) Hier findet sich neben der eindringlichen Thematisierung von Körperbewegungen wie sie in der Analyse von „Sedmikostelí“ zur Sprache kamen, eine besondere Betonung der Gegenwärtigkeit des Geschehens.

38 „Ale zespoda, z hlavní lodČ chrámu, ke mnČ dolehl jakýsi hluk, který postupnČ sílil. OpĜel jsem se rukou o sochu a opatrnČ se vyklonil pĜes zábradlí triforia. Pod kamennými kmeny jsem uvidČl shluk lidí. Stáli v kruhu kolem jednoho muže, o nČco se s ním handrkovali. […] Byl to arcijáhen Urban. Podle všeho vstoupil do chrámu ve chvíli, kdy si nČjaký hoch fotografoval vitráže. Je to zakázáno, a tak jáhen zasáhl po svém. Na dlažbČ ležela þepice. […] Usmál jsem se; kluk mĤže být rád, že na zemi neskonþil fotoaparát. V tu chvíli mi žebĜík ujel pod nohama a kostelní lavice, rozvadČní turisté a bohorovný pater Urban mi vylétli vstĜíc. Popadl jsem Mockera kolem krku a štafle zarachotily na kamenné podlaze. Hlavy dole se obrátily vzhĤru. Nemohly mČ vidČt, ale vidČly nahrávaþ, který sletČl mezi nČ a roztĜíštil se o chrámovou dlažbu. Visel jsem na Josefu Mockerovi a nohama hledal oporu, která tam nebyla. PĜepadnutí pĜes zábradlí ale už nehrozilo. Pustil jsem se kamenné hlavy a seskoþil na triforium. [...] Vrátil jsem se k zábradlí a vyhlédl pĜes nČj. Do kostela proudily západními dveĜmi zástupy a putovaly lodí k hlavnímu oltaĜi. Obcházely hubeného muže s kolárkem, rozkroþeného nad troskami elektronického diktafonu. […] Mezi palcem a ukazovákem držel mikrokazetu.“ (Urban 2003: 49-51)

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Die Möglichkeit einer Grenzüberschreitung zwischen den traditionell getrennten Sphären von Zuschauer und Schauspieler, bzw. hier von Leser/ Tourist und Protagonist ist für die performance-Kunst essentiell. Hier kann sich etwas „zwischen Akteuren und Zuschauern ereignen“ (ebd. 27). Für eine solche Überschreitung im Medium des Textes muss diese Konstellation für diese Kunstform erst modifiziert werden. Das erreicht der Text mittels des Diktiergerätes als Stellvertreter und thematisiert dadurch gleichzeitig seine eigene Medialität. Es ist gerade nicht der Fotoapparat, der herunterfällt und so gefährlich nah an den Bereich der Touristen heranreicht, sondern das Diktiergerät. Es ist also nicht ein Foto, von der Aura der Objektivität umgeben, was als Teil des technischen Geräts herunterfällt. Es ist ein Bericht, bzw. ein narrativer Text, der als Bestandteil des Diktiergerätes auf dem Boden des Veitsdoms aufkommt und nicht zerspringt wie das Gerät. Der Text auf dem Tonband wird durch den Aufprall frei – aber ‚gerettet‘ von einer Figur des Romans. Dieser gesprochene Text (im Textbeispiel gekürzt) zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er eine unbearbeitete Vorstufe jenes Textes darstellt, der als Produkt der wissenschaftlichen Tätigkeit des Protagonisten dem „englischen Leser“ zugänglich wird.39 Auch hier also wieder eine Aufsplitterung einer scheinbaren Authentizität in immer weitere Vorstufen. Im Wechsel vom zuerst verwendeten Fotoapparat zum Diktiergerät kann nun ähnlich wie in „Sedmikostelí“ ein Übergang vom visuellen Eindruck zum narrativen Eindruck gesehen werden. Die Apparate verweisen auf das Thema dieser Gegenüberstellung und es wird deutlich, dass es sich nicht mehr nur um Bilder von etwas, sondern um Geschichten von etwas handelt. Der Veitsdom als Sehenswürdigkeit ist nicht mehr bloßer Gegenstand eines Bildes (Fotos), sondern wird als Produkt eines Diskurses erfahrbar (Urry 2001: o. S.). Der Veitsdom ist mehr als der Gegenstand, er umfasst auch Geschichten und Geheimnisse.

39 Die Besichtigung der Touristen muss im Vergleich zur wissenschaftlichen Tätigkeit des Erzählers als oberflächlich erscheinen (vgl. Mac Cannell 1999: 102). Die in einem didaktischen Modus erzählten Passagen nähren so die Illusion, dass der lesende Tourist ein ‚besserer‘ weil informierterer und weniger oberflächlicher Tourist sei (vgl. ebd. 10).

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Diese Geschichte auf dem Tonband ist eine individuelle, subjektive: Die des Erzählers, der einen ganz eigenen privilegierten Blickwinkel einnimmt, wenn er sie aufs Band spricht. Sie ist gegenüber jener universalisierten Geschichte der Touristen40 von besonderem Interesse, denn sie verspricht jenen Einblick in das Leben der Anderen (Mac Cannell 1999: 91) und zugleich einen Zugang zum Raum hinter den Kulissen. In einer solchen Lesart wird die vom Text etablierte Opposition von Figuren und Touristen aufrechterhalten. Doch wie in „Sedmikostelí“ lassen sich auch hier Analogien in den Tätigkeiten des Erzählers und der Touristen feststellen: Der Wunsch nach Nähe, das Fotografieren und Archivieren, der angedeutete Hass auf die jeweils andere Gruppe („Tourists dislike tourists“ (ebd. 10)). Die frappanteste Ähnlichkeit von Touristen und Figuren besteht jedoch in ihrer Tätigkeit des Entschlüsselns. Wie die Figuren auf den Spuren des Kriminalfalls den Geheimnissen des Domes Zeichenstatus zuschreiben und sich in der unabschließbaren Lektüre der mythischen und sakralen Bedeutungen verlieren, so versucht auch der Tourist Zeichen zu entschlüsseln. Wie dem Touristen, dem alles zum Zeichen wird, so wird den Figuren des Textes alles zu Zeichen. Eine Spur, die zum Täter führt, lässt sich in dieser Bedeutungsfülle nicht mehr finden. Die performance ist in ihrer Bedeutung nicht fassbar, eine Semiose ist hier unabschließbar und individuell: „Auf dem Balken hier über uns ist die Kalvariengruppe. Lukomski hing zusammen mit Jesus am Kreuz.“ Er starrte mich ziemlich stumpf an. […] „Und hat irgendetwas davon Ihrer Meinung nach eine Bedeutung?“ „Genau weiß ich es nicht. Ich würde sagen, die wollen zeigen, dass er eigentlich unschuldig ist. Aber Rops behauptet, dass in dieser Kirche hier einfach alles Bedeutung besitzt.“ (Urban 2008a: 149)41

40 Ähnlich den master narratives der Geschichtsschreibung, könnte man von einer Art „Meistererzählung“ des Tourismus sprechen, die sich aus images zusammensetzt, deren Zirkulation „the very idea of the globe“ hervorbringt (Urry 2001: o. S.). 41 „‚Na tom bĜevnČ nad náma je kalvárie. Lukomski visel na kĜíže spolu s Ježíšem.‘ Koukal na mČ fak tupČ. [...] ‚A má nČco z toho podle vás význam?‘ ‚JistČ to nevim. ěekla bych, že chtČli dát najevo, že je vlastnČ úplnČ nevinnej. Ale Rops tvrdí, že tady v tom kostele má význam všechno.‘“ (Urban 2003: 164)

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Das touristische Ritual des sightseeing wird aufgeführt, so Mac Cannell, um die Differentialität der modernen Gesellschaft zu überwinden (Mac Cannell 1999: 13). Das Ritual bringt Attraktionen hervor, die, von ihrem Ursprung entfremdet, zu neuen leeren Zeichen werden. Sie können die Semiosen des Einzelnen aufnehmen und sind zugleich in ihrer Universalität jedem (Touristen) zugänglich. Mac Cannell und Urry sehen in diesem Ritual eine Reflexivität am Werk, in der sich diese Zeichen zu einer globalen Ordnung fügen (Mac Cannell 1999: 15; Urry 2001: o. S.). Das Ritual ist Teil einer touristischen Diskursivität, die global icons hervorbringt42, wie den Eiffelturm. Das Weltbild des Touristen orientiert sich an diesen global icons und dementsprechend treten in einer umgekehrten Bewegung Orte und Gesellschaften in ihrer Eigenheit über global icons in diese Ordnung wieder ein. Daraus folgt, dass „national identity is increasingly conceived of in terms of a location within, and on, a global stage.“ (Urry 2001: o. S.) Das touristische Ritual, das der Text in seiner Perfomativität für den Veitsdom vollzieht, wäre insofern als ein Ritual zu lesen, das den Veitsdom als global icon produziert. Der Text trägt somit dazu bei, den Veitsdom selbst als global icon zu positionieren. Die deutsche Übersetzung mit der Einengung auf das massentaugliche und verkaufsfördernde Krimi-Genre verstärkt diesen Prozess und trägt dazu bei, dass der Roman von Pragtouristen gelesen wird.43 Die eigentümliche Trennung zwischen den Romanfiguren und den implizit anwesenden Touristen wäre mit Groys als eine „Grenze der Monumentalisierung“ zu lesen, die nicht überwunden, sondern immer nur aufgeschoben werden kann, als ein „Spiel [von] De-Monumentalisierung und ReMonumentalisierung“ (Groys 2000: 73). Auf dieser Ebene und auf jener der sich abwechselnden Erzähler produziert der Text das Erlebnis der eigenen kulturellen Identität und die Einsicht in eine Struktur [, die sich dabei erst] aus der völligen inneren Dissoziation von dieser Identität durch die

42 Die Diskursivität des Tourismus produziert in den verschiedenen Medien „visual images“, die quasi als Landmarken des Tourismus funktionieren. In einer vereinheitlichenden Tendenz bilden sich aus diesen „images“ zuletzt „global icons“. Als ein solches icon für Prag steht sicherlich der Postkartenblick auf den Hradschin, mit dem jeder Tourist in Prag überall konfrontiert wird. 43 Zur Verlagspolitik vgl. Hlinka (2001: 13).

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Aneignung des fremden Blicks auf sich selbst und auf die eigene unmittelbare Umgebung – des Blicks aus der Perspektive des internationalen Tourismus [ergeben]. (ebd.)

Als global icon ist der Veitsdom von seinem Ursprung und seiner Zugehörigkeit zu einem (national) bestimmten Raum entfremdet. Indem alles zum Zeichen wird und so doch nichts bedeutet, wird der Veitsdom seiner Historizität und Sakralität entleert. Damit wird er, wie es der Eiffelturm schon immer war, zu einer „Form, die die Menschen unablässig“ wieder „mit Bedeutung erfüllen.“ (Barthes 1970: 28) Als eine neue Bedeutungszuweisung positioniert der Roman den Veitsdom daher nicht nur als touristische Attraktion, als global icon, sondern lässt ihn in der globalen Perspektive zum Zeichen für Prag (als touristisches pars pro toto) wahrnehmbar und sogar erfahrbar werden. Mit der Aneignung des fremden Blicks setzt eine Selbstreflexion ein, um den „dadurch entdeckten eigenen touristischen Wert zu fixieren.“ (Groys 2000: 73) Es geht dabei nicht mehr um ein Deuten des Zeichens, sondern um die performative Erfahrung in der KoPräsenz von lesendem Touristen und Erzähler. Das Oszillieren zwischen Körperlichkeit bzw. Materialität und Semiose bzw. Spurensuche bleibt als Spannung erhalten, die eine vollständige Identifikation des lesenden Touristen mit den Protagonisten ständig aufschiebt und so die Erfahrbarkeit wieder infrage stellt. „Stín katedrály“ nimmt die Struktur dieser touristischen Prozesse in der Strukturierung der Krimihandlung auf. Ein klassisches Krimimuster, das eine Ordnung und ein Fortschreiten zur Lösung impliziert, ist außer Kraft gesetzt. Stattdessen gibt es eine ständige Bewegung von neuen Hinweisen zu neuen Verdachtsfällen, immer neue Zeichen tauchen auf und provozieren neue Interpretationen, der Kriminalfall verstrickt sich in einer Fülle von Geheimnissen um zuletzt eine ganz unvermittelte Lösung zu erfahren, die nicht mehr wichtig ist. Die Entwicklung der Krimigeschichte erinnert an die „unendliche horizontale, touristische Reise von einem Monument zum anderen“ (ebd. 74).

K RIMI , RAUMERFAHRUNG

UND

TOURISMUS BEI M ILOŠ U RBAN | 285

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Jáchym Topols „Výlet k nádražní hale“ oder „The Difficult Art of Murder“ D ARINA P OLÁKOVÁ

Im Fokus dieses Beitrags steht Jáchym Topols erster Prosatext „Výlet k nádražní hale“ [Ein Ausflug zur Bahnhofshalle]. Wie bereits der Titel verrät, geht es in dieser kurzen Erzählung aus dem Jahr 1993 um einen Ausflug durch die Stadt, ein fiktives Prag, mit dem Ziel eine Bahnhofshalle zu erreichen. Dieser Stadtspaziergang ist kein Krimi im klassischen Sinne, hier geht es nicht primär um einen Mord oder um die detektivische Aufklärung eines Verbrechens. Es ist eher ein literarischer Spaziergang, in den Elemente aus dem Krimigenre aufgenommen und spielerisch eingebaut werden. Die durch den Text versprengten Krimisignale deuten dennoch auf ein Rätselspiel hin – auf ein literarisches. Sie laden förmlich dazu ein, diesen Text als einen Krimi zu lesen. Dieser Versuch soll hier unternommen werden.

D IE ‚K RIMISTIMMUNG ‘ IN DER POSTSOZIALISTISCHEN S TADT Die Erzählung beginnt mit der atmosphärischen Dramatik eines Schauerromans. Topol führt uns in eine kriminell gestimmte Welt, er lässt Prag zu einer schaurigen Stadt mutieren, die trotz der Veränderung, die die hier angespielten Umbrüche von 1989 mit sich brachten, in eine Art fingierten gothic-Schrecken gehüllt wird:

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Die Stadt veränderte sich. In der Nacht hing zwar genauso selbstverständlich, wie im 10. Jahrhundert und wie zu jeder anderen Zeit, der Mond im dunklen Tor über ihr, manchmal voll und aufgedunsen wie das Gesicht eines Säufers, ein andermal schwamm er in den Wolken und war nicht zu sehen, gläserner Tand, er glühte nicht, aber dennoch brachte er die streunenden Hunde zum Wahnsinn. In diesem Schein, wann immer der Mond seine kalte Intensität erreichte, tranken die Liebespaare die Flasche leer und stürzten übereinander, die Mundwinkel aus lauter Liebe ausgenagt, der Mörder drehte das Messer in der Wunde und grinste, in diesem Licht hatte die gute Mutter ihrem kleinen Schwimmer aus dem Nichts etwas Entsetzliches angetan und die gelbe Kraft floss nach unten und ergoss sich über die Straßenbahnschienen und Bahngleise und diese glänzten in der Lichtflut… (Topol 2007: 101. Übersetzung D. P.)1

Wie in einem Nachtstück, in einem theatralisierten, erzählerisch inszenierten Chiaroscuro gezeichnet, hebt sich der leuchtende Mond vom dunklen Hintergrund der Nacht ab, sein schwaches Licht ergießt sich über die Stadt und lässt sie gelblich glänzend erscheinen. Die Nacht, der (stereotype) Repräsentant des Bösen, wird zur unveränderlichen Kulisse und zum steten Speichervorrat krimineller Energien, die über die Stadt herrschen und in diese mitunter auch unverhofft angreifen. Im Theatralisieren der erzählten Wirklichkeit, in der dem Bösen eine metaphysische Allgegenwart zugesprochen wird, steckt eine parodistische Anspielung auf den Schauerroman, die sich in der deutlichen Überzeichnung bemerkbar macht. Und dennoch: Auch wenn die Überzeichnung ihren lächerlich-pathetischen Beigeschmack nicht leugnet, führt uns der dramatische Anfang der Erzählung, wenn auch vielleicht nur auf Zeit, in eine kri-

1

„MČsto se mČnilo. V noci nad ním sice stejnČ samozĜejmnČ jako v desátým století a jako kdykoli jindy visel mČsíc v tmavý bránČ, nČkdy plný a oteklý jako tváĜ opilce, jindy plaval v mracích a nebyl vidČt, sklenČná cetka, nežhnul, ale stejnČ dohánČl zparchantČlé mČstské psy k šílenství. V tomhle svitu, kdykoli mČsíc dosáhl svý chladný intenzity, milenci dopili láhev a vrhli se na sebe, koutky vykousaný z velký lásky, vrahoun otoþil kudlou v ránČ a zašklebil se, v tomhle svČtle hodná máma zniþehonic provedla svýmu plaváþkovi nČco údČsnýho a žlutá síla tekla dolĤ a stékala na koleje tramvají a vlakĤ a ty se v té záplavČ svČtla leskly…“

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minell gestimmte fiktive Welt. Er stimuliert unsere genregeprägten Leseerwartungen und stellt uns auf die Krimilektüre ein. In der Krimiforschung sieht man die Ursprünge des Kriminalromans in der (Schauer-)Romantik. Die Grundlage hierfür bietet auch die Erzählspannung, die wesentlich auf der Dualität basiert, die das Motiv der Dichotomie von „hell“ und „dunkel“ in sich trägt. Sie lässt sich auffassen im Sinne einer erzählerischen Strategie der Verdunkelung oder Verrätselung der fiktionalen Welten, auf die im Anschluss eine erlösende Erhellung, Aufklärung oder Enträtselung des Verdunkelten folgt (Bremer 1999: 183).2 Topol arbeitet sehr gerne mit Dualitäten oder Kontrasteffekten, indem er inhaltliche Antithetik als Grund- oder Stimmungsornament in seinen Texten einsetzt. In diesem frühen Text wählt er das Dunkel der Nacht als Kontrasthintergrund und lässt unmittelbar nach dem einleitenden Schauerambiente der Nacht das grelle Sonnenlicht in einer spektakulären Sonnenaufgangsszene auftreten: Der Weltherr hatte die Nacht in der Mitte der Finsternis gepackt und wendete sie wie frisch abgezogene Haut, am Himmel brannte die Sonne. Sie schlug an die Stadtmauern und auf die Bürgersteige und erst jetzt wurde der Dreck zum Dreck und die Fäulnis zur Fäulnis und sie waren sichtbar. (Topol 2007: 101, Übersetzung D. P.)3

Die nächtliche Finsternis wird hier wie ein Skalp, wie eine Siegestrophäe vom Himmel gerissen, wodurch das Sonnenlicht enthüllt wird und die Stadt durchdringt. In dem pathetisch anklingenden Siegeszug des Lichtes über die Nacht schwingt auch eine Allusion an die aufklärerische Tradition der Romantik mit, in der die Ankunft des Lichtes der Ratio zur Erhellung des Schauders führen soll. Das Licht, das in einem Schauerroman motivisch die Erhellung der verrätselten Welt herbei- und den Schuldigen überführen soll, wird hier zu einem grellen Spotlight, das lediglich „Dreck und Fäulnis“ beleuchtet und

2

Siehe auch: Horváth (2006).

3

„Pán svČta chytil noc ve stĜedu temnoty a obrátil ji naruby jako þerstvČ staženou kĤži, na nebi hoĜelo slunce. Bilo do mČstských zdí a chodníkĤ a teprv teć byla špína špínou a hniloba hnilobou a byly vidČt.“

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den Leser nah an Schauplätze heranführt, die jetzt vielleicht mehr an den Film Noir und weniger an die schaurige Romantik eines Nachtstücks erinnern. In der Manier eines hard-boiled Krimis wird eine raue Realität in einer postsozialistischen Nachwende-Stadt erzählt. Nicht nur dem Mond wird ein Säufergesicht angehängt. In dieser Stadt wimmelt es nur so von verderbten Realitäten, von Dieben, Erpressern, Mafiosi oder Gangstern, die sich die Stadt „der Größe ihrer Verkaufsbuden nach“ untereinander aufteilen. Dem Leser werden Orte vor Augen geführt, die „nach verbranntem Fleisch“ riechen, so der Klub „Nightland“, in dem die „Abgesandten eines VerbrecherClans“ herrschen, nur um hier den „Goldregen“ heranzuzüchten (Topol 2007: 102). Das Genre des hard-boiled Krimis fügt in der Geschichte der Detektivliteratur eine Korrektur ein: Die Welt besteht hier nicht mehr aus der klar definierter Dualität von Gut und Böse. Das Verbrechen erweist sich als gesellschaftliche Normalform des Handelns: Das Böse ist nicht länger mehr vom Guten zu unterscheiden, vielmehr ist das Verbrechen die Realität par excellence (Bremer 1999: 91).4 Topol bedient sich ausgiebig beim Genremuster des hard-boiled Krimis und übertreibt regelrecht mit seinem melodramatischen Duktus und seinem Hang zur Agonalität. Bei ihm ist das Böse, die „böse Kraft“, die Vorbestimmung und im Grunde die Basis des Handelns. Das Böse ist in überzeichneter Dramatik der „Herr“, der gekommen ist, um alles in Beschlag zu nehmen: Ganz einfach, der Herr ist in die Stadt gekommen, um dir den Stuhl unter deinem Hintern, die Suppe unter deinem Löffel, weg zu nehmen, den sollst du dir ins Auge rammen. Dieser Herr macht aus deinen Söhnen Sklaven, und noch mehr, er macht sie zu seinen Anhänger, deine Töchter und Frauen verkauft er auf der Straße, Geld nimmt er kiloweise. (Topol 2007: 101. Übersetzung D. P.)5

4

Siehe auch: Földvári (2009: 108) und Pfeiffer (1998: 369).

5

„ProstČ Pán pĜišel do mČsta vzít ti židli pod zadkem, polívku zpod lžíce, tu si vraž do oka. Ten Pán z tvých synĤ nadČlá otroky, a co víc, svý vyznavaþe, tvý dcery a ženy bude prodávat na ulici, peníze veme za kila.“

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Wie für Topols Poetik kennzeichnend, herrschen auch hier der Ernst und die Melodramatik eines hard-boiled Krimis und dessen sozialkritischer Ton nicht lange in Reinform vor. Sein Erzählen bewegt sich stets an der Grenze zur Ironie und kippt nicht selten ins Groteske, wie beispielsweise gleich zu Beginn, wenn uns Topol einem Mafiaboss beim Frühstück begegnen lässt, das er auf der Motorhaube seines BMWs von besoffenen Lakaien serviert bekommt: Gegen sechs Uhr morgens bin ich auf dem Weg zu meinem Loch am Nightland vorbei getaumelt und Dunar hat grade auf der Motorhaube seines BMW gefrühstückt. Um ihn drehten sich drei, vier angetrunkene Diener und servierten ihm mit der Bravour einer Wachablösung, auf der Motorhaube goldknusprige Hähnchen, Salate, vergoldete Zahnstocher, Körbchen und Tellerchen, Schnapsgläser und Flaschen, in der Luft hallte die alte gute ABBA. (Topol 2007: 103. Übersetzung D. P.)6

Die Stadt, die hier nach dem schauerromantischen Anfangsambiente ans Tageslicht kommt, bekommt eine eigene Gestalt verpasst, in der, wenn auch deutlich überzogen, eine weitere spielerische Analogie mit dem hardboiled Genre gefunden werden kann. Denn, wie Ludwig Pfeiffer ausführt, ist „bei Hammett von der Stadt und ihrer Semiotik selbst kaum mehr die Rede. Die Stadt ist im Wesentlichen die Verkörperung politisch-korrupter Macht.“ (Pfeiffer 1998: 369) Bei Topol wird die Stadt zum geistlosen „Hampelmann“ erklärt, der die kriminell anmutenden Narben der Vergangenheit und ihre „faulenden“ Graustufen auf die Schnelle mit clownesk bunten Masken überdecken will. Der Stadt wird die groteske Gestalt eines alkoholsüchtigen, stinkenden und sich verstellenden Zirkusclowns oder eines Škrhola, des Dorfprimitiven aus dem alten tschechischen Puppentheater, angehängt. Diese lächerliche Figur biedert sich in den aussortierten Kulissen der postsozialistischen „Rumpelkammer“ an wie eine Prostituierte den Erwartungen der herbeiströmenden Touristen, was sie ihnen jedoch bieten kann, ist nur ein Spiegelgesicht:

6

„Kolem šesté ráno jsem vrávoral kolem Nightlandu do své díry a Dunar na kapotČ svého BMW zrovna snídal. Toþili se okolo nČj tĜi þtyĜi pĜiopilí sluhové a s bravurou hodnou stĜídání stráží mu na kapotu servírovali propeþené kuĜátko, saláty, pozlacená párátka, košíþky a talíĜky, panáky a láhve, vduchem znČla stará dobrá ABBA.“

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Die Stadt warf ihr einstiges Gesicht ab, das finstere und harte, diese Maske des faulenden Bolschewismus, und setzte sich jetzt ihrer Tausende auf. Einige waren angemalte lustige Clownsgesichter, und wen würde es schon stören, wenn diese alternden alkoholabhängigen, nach Sägemehl und Viehmist stinkenden Säcke in der Manege unter ihrer Schminke ab und zu auch Pocken- und Stichnarben versteckten? Diese buntfarbigen Clownsmäuler schminkten sich für die stürmische Jugend, für die Touristinnen aus verschiedensten Ländern, […] hinter den Fingernägeln ein Einschnitt vom eisernen Vorhang, und hinter ihm ist …endlich! Anstatt Panzerparade nur noch das Theater der Škrholas, für die Söhne und Töchterchen aus guten Familien mit ihren wunderbaren Reisepässen, sie sind gekommen, um in Osteuropa etwas aufzudrehen, sie haben eine Tiermenagerie erwartet und haben den Dschungel gefunden, ein Lager aussortierte Kulissen, sie suchten nach dem Geist und erwischt hat sie der Hampelmann mit dem Spiegelgesicht… (Topol 2007: 104. Übersetzung D. P.)7

V ON

DER

‚K RIMISTIMMUNG ‘

ZUR

‚K RIMIHANDLUNG ‘

Aber nicht nur die Schauplätze zu diesem Spaziergang weisen durch ihre Stimmung auf einen Krimi hin – die schaurige Atmosphäre erahnter Verbrechen, die durch Genremarkierungen erzeugte Lesespannung, das typische örtliche und zeitliche Setting und das nötige Personal – hier entfaltet sich auch eine Handlung, die Qualitäten eines klassischen Krimis hat. Ein klassischer Krimi, um mit Dorothy L. Sayers ein Standardwerk der Krimiforschung zu zitieren:

7

„MČsto shodilo tu bývalou tváĜ, tu pochmurnou a pĜísnou, tu masku hnijícího bolševismu, nasadilo jich teć tisíce. NČkteré byly nalíþenými veselými obliþeji klaunĤ, a komu by vadilo, že ti staĜí alkoholiþtí cvoci z manéže páchnoucí pilinami a zvíĜecím trusem pod šminkou ukrývají sem tam neštoviþku, jizviþku po bodnutíþku? Tyhle pestrobarebné šaškovské tlamy se šminkovaly pro bouĜlivé mládíþko, pro turistky z nejrĤznejších zemí, […] za nehtama rez ze železný opony, za kterou je koneþnČ! Místo tankový parády už jen divadýlko škrholĤ, pro syny a dcerky z dobrých rodin s tČmi skvČlými pasy, pĜijeli si zabláznit do východní Evropy, þekali zveĜinec, a našli džungli, a našli sklad vyĜazených kulis, hledali Ducha a dostal je Panák se zrcadlovým ksichtem…“

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beginnt gewöhnlich mit dem Mord; die Mitte wird von der Aufdeckung des Verbrechens und den daraus resultierenden vielfältigen Peripetien oder Wechselfällen des Glücks eingenommen; das Ende ist die Entlarvung […] des Mörders – ein Schluß, der an Endgültigkeit nicht mehr zu übertreffen ist. (Sayers 1998: 15)

Der klassische Krimi hat den Charakter eines Rätselspiels, der Leser kann auf dem Weg der Aufdeckung beliebig getäuscht, oder wie Sayers es nennt, „an der Nase herumgeführt“ werden (Sayers 1998: 19). Das Ende des Lesespiels im klassischen Krimi besteht jedoch darin, dass sein Rätsel gelöst wird – wie bereits zitiert, der Schluss ist „an Endgültigkeit nicht mehr zu übertreffen“. Für Umberto Eco besteht das, was einen Krimi ausmacht und wieso er Gefallen findet, nicht primär darin, dass es um Mord und Todschlag geht, auch nicht darin, dass Krimis „den Triumph der (intellektuellen, sozialen, rechtlichen oder moralischen) Ordnung über die Unordnung feiern.“ Das Fesselnde an einem Krimi sei der Vorgang der Aufdeckung, Krimis fänden ihr Publikum, weil sie eine „Konjektur-Geschichte im Reinzustand darstell[en].“ Also eine „Geschichte, in der es um das Vermuten geht, um das Abenteuer der Mutmaßung, um das Wagnis der Aufstellung von Hypothesen angesichts eines scheinbar unerklärlichen Tatbestandes“, so Eco (Eco 2003: 63). Der ermittelnde Detektiv geht wie ein Arzt oder ein Jurist vor, er stellt Hypothesen auf, die er schrittweise prüft, bis er zur kompletten Aufklärung des Krimi-Rätsels gelangt. Jáchym Topols Erzählung ist in diesem Sinne kein klassischer Krimi. Topol lädt zwar seinen Leser zu einer krimiähnlichen Geschichte ein, er bedient das Textspiel mit lockenden Spuren, baut Krimistrukturen ein und verwickelt uns in ein Spiel der Mutmaßungen und Vermutungen. Im Vergleich zum klassischen Krimi jedoch scheint es ihm weniger um ein Rätselspiel für den Leser zu gehen, sondern vielmehr um ein Spiel mit dessen Leseerwartung. Der Erwartungshorizont lässt sich an den Signalen erkennen, die auf einen Krimi verweisen, und die ein durch das Krimigenre und seine Gesetze „vorprogrammierter“ Leser als solche erkennt und entsprechend zu lesen versucht. Tomáš Horváth spricht in diesem Sinne von einem Pakt des Genres mit dem Leser (Horváth 2006). Nicht allein die überzeichnete, düstere „kriminelle“ Stimmung signalisiert in Topols Text, dass es sich um einen Krimi handeln könnte. Bereits im zweiten Satz der Erzählung wird direkt von einem Mord gesprochen: „der Mörder drehte das

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Messer in der Wunde und grinste.“ (Topol 2007: 101. Siehe Fußnote 1) Dieser Satz beschreibt im Prinzip die Formel eines klassischen Krimis: Es gibt einen Mörder, eine Tatwaffe und eine Leiche. Die Rolle des Detektivs muss hier allerdings der Leser übernehmen. In seiner Studie über Raymond Chandler sieht Frederic Jameson im Mord das Leitprinzip jeder klassischen Detektivgeschichte. In Vergleich zu Eco, der die Betonung auf die Konjekturen-Geschichte legt, erklärt er den Mord zum Mittelpunkt, zum Sinn- und Verbindungsträger aller Konjekturen: Die klassische Detektivgeschichte ordnet den Mord – allein schon durch ihre formale Perspektive – stets einem Zweck zu. Der Mord ist […] eine Art abstrakter Punkt, der durch die Konvergenz aller Linien, die in ihm zusammentreffen, Sinn und Bedeutung trägt. In der Welt der klassischen Detektivgeschichte geschieht nichts, was nicht in Beziehung zum zentralen Mord steht: deshalb ist der zweckgerichtet, und sei es nur, um das ganze Rohmaterial um ihn herum zu organisieren. (Jameson 1998: 396)

Wenn wir Topols Mordindizien folgen und über die verwirrenden Konjekturen des Textes hinaus die nächste Spur ausfindig machen, die eine mögliche Verbindung zum anfänglichen Mord herstellt, gelangen wir direkt zum nächsten Opfer. Es handelt sich um eine, zunächst noch nur durch einen Messerstich verletzte, bereits aber sterbende Person, auf die der IchErzähler auf seinem Spaziergang am Bahnhof trifft. Der Ich-Erzähler scheint diese Person zu kennen, es ist ein Freund aus der Jugend, er nennt ihn Miþinec. Der Hauptgrund, wieso der Ich-Erzähler zu der Bahnhofshalle geht, und der uns eventuell ein weiteres mit dem Mord in Verbindung stehendes Indiz liefert, sind „die bunten Titelblätter der Groschenromane, Detektivstories und Pornohefte“, die der Erzähler hier erforschen will und deren Titel in seinem „verlangsamten Gehirn widerhallen“: Hier sind die Löwen, und hier sind die Tausend Morde aus Wolllust und hier die Schwarze Mary und hier das Spinnenhaus und hier der Aufstand der Roboter […] Nebenan ist ein Kiosk mit Gemüse und das schwere unbekannte asiatische Aroma und Dill und auch Oregano und Zimt und pikante Oliven und Zitronen und Rosinen,

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ein einzigartiger Duftfilter für den König der Mutanten, für Sexgier, und nebenan stinkende Klos. (Topol 2007: 105. Übersetzung D. P.)8

In diesem Kioskambiente trifft der Ich-Erzähler auf den verletzten Miþinec. Die Beschreibung seines Sterbens hat einiges an durchaus trivial wirkender Dramatik zu bieten, die beträchtlich – vielleicht noch durch zusätzliche Anleihen beim Italo-Western – an die Inhalte von Groschenheften erinnert, deren Titelblätter den Ich-Erzähler so zu faszinieren scheinen: Er saß verdreht auf der Bank, er murmelte etwas vor sich hin, und presste seine Seite an die Bank, er drehte sich zu mir und dann riss er die Augen auf, er warf den Kopf nach hinten, zum Himmel, spannte sich an und wurde still. Seine Hand rutschte von der Bank ab, seine Seite war voller Blut. (Topol 2007: 108. Übersetzung D. P.)9

An dieser Stelle wird in den Textfluss eine weitere Handlung eingeschoben, in der ein Perspektivwechsel stattfindet. Nun taucht eine Person namens „ýinþa“ auf, die auf ihrem Weg durch die Stadt von einem auktorialen Blick begleitet wird. Das Ziel dieses ýinþa ist, wie der Leser im Nachhinein erfährt, eine bestimmte Wohnung, in der er einen Auftrag ausführen soll. Diese Binnengeschichte scheint ein weiteres Indiz zu bieten. ýinþa trägt ein Messer in seiner Manteltasche versteckt: Er atmete auf und vielleicht schon zum hundertsten Mal tastete er mit dem Daumen die Messerschneide ab. Das Messer war aufgeklappt, er trug es den ganzen Weg so,

8

„Tady jsou lvi a tady je Tisíc vražd z vilnosti a tady ýerná Máry a tady Pavouþí dĤm a tady Vzpoura robotĤ […] Vedle je stánek se zeleninou a tČžká vĤnČ asijský neznámý a kopr a taky oregáno a skoĜice a pikantní olivy a citróny a rozinky vytváĜej jedineþnou þichovou clonu ke Králi mutantĤ, Sexuální požíraþce, vedle páchnoucí záchody.“

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„SedČl zkroucený na laviþce, nČco si bruþel, leviþku tisknul k boku, otoþil se po mnČ a pak vytĜeštil oþi, hodil hlavou k obloze, napjal se a ztichnul. Ruka mu sklouzla z laviþky, mČl zakrvácený bok.“

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in der Tasche eines langen Mantels, den er extra für diesen Abend besorgt hatte. (Topol 2007: 110. Übersetzung D. P.)10

ýinþa schleicht sich in die gesuchte Wohnung und ermordet dort zwei Personen. Eigentlich sollte er einen Mann, einen „Jugo“ namens Stano, alleine treffen. Da sich Stano aber nicht an die Absprache hält und sich in der Wohnung noch eine zweite Person befindet, tötet er ihn, indem er ihm die Kehle durchschneidet. Der anderen Person in der Wohnung sticht er das Messer ins Herz: Er sollte allein sein, ging es ihm durch den Kopf, er sollte allein sein, aber das ist jetzt auch schon egal, seine Hand schoss blitzartig in die Höhe, er konnte es noch nicht mal mit Gedanken fassen, das Messer ging in der Luft auf und strich über Stanos Hals wie folgt: ein Schnitt und noch ein Schnitt und noch einmal, der Mann fiel zu Boden, er räusperte sich kurz und war tot. Aber plötzlich war der zweite da, er rannte auf ihn zu? ýinþa drehte sich um, wie im Traum wich er aus, stürzte sich mit seinem Körper auf den zweiten Mann und stach ihm das Messer ins Herz. (Topol 2007: 111. Übersetzung D. P)11

Während dieses Gemetzels fällt ýinþa in das offene Messer des Gegners und wird verwundet: In der Seite fühlte er einen Stich, er hat mich erwischt, er hat mich bestimmt erwischt, sagte sich ýinþa, er warf den blutverschmierten Mantel ab, ließ das Messer

10 „Nadechl se a už snad posté zkoumal palcem ostĜí nože. MČl ho otevĜený, mČl ho tak celou cestu, v kapse dlouhého kabátu, který si opatĜil zvlášĢ pro tenhle veþer.“ 11 „MČl být sám, projelo mu hlavou, mČl být sám, ale to už je jedno, ruka mu bleskem vyjela vzhĤru, ani to nestaþil zachytit myšlenkou, nĤž se ve vzduchu otevĜel a projel Stanovi krkem zespoda takhle: Ĝíz a Ĝíz a ještČ jednou, muž padl na zem, zachroptČl a byl mrtvý. Ale vtom tu byl ten druhý, bČžel. ýinþa se otoþil, jako ve snách uhnul, padl na druhého chlapa tČlem a vrazil mu nĤž do srdce.“

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fallen […] Die blutverschmierten Hände steckte er in die Taschen. (Topol 2007: 111. Übersetzung D. P)12

Die Beschreibung dieses Kampfes evoziert eine relativ primitive Groschenheft-Verbrecherstory und verweist, ähnlich wie die Beschreibung des Todes von Miþinec, auf die Hefte, die sich der Ich-Erzähler am Kiosk im Bahnhof anschauen will. Die ýinþa-Story suggeriert, sie sei eine Geschichte aus einem Groschenheft, die sich der Ich-Erzähler selbst erzählt und die als ein Intermezzo in den Erzählfluss eingeschoben ist. Beide Handlungsstränge, der Ausflug des Ich-Erzählers zum Bahnhof und die groschenheftähnliche Story vom Auftragskiller ýinþa, scheinen in einem Spiegelverhältnis zueinander zu stehen. Sie haben eine motivische Verbindung und sie ergänzen sich: In der zweiten Story gibt es einen Mörder, nämlich ýinþa, dem eine Messerstichverletzung verpasst wird. Die erste Handlung beginnt mit einem Indiz auf einen Mord und endet, kurz vor dem Einschub der Verbrechensgeschichte, mit einer an einem Messerstich sterbenden Person. Es wäre naheliegend zu schlussfolgern: Der Ich-Erzähler trifft in der ersten Handlung auf den sterbenden Hauptdarsteller aus der Killerstory, zugleich könnte aber auch der unbekannte, in einer Wunde stochernde Mörder vom Anfang der Geschichte der Killer ýinþa sein. Dies wäre eine mögliche Zwischenlösung, die eine retrospektive Lesedetektion ergeben könnte. Der Kreis schlösse sich folgendermaßen: Der Ich-Erzähler trifft in der ersten Handlung auf den sterbenden Mörder der zweiten Handlung. Vergleicht man dies mit einem klassischen Krimi, könnte hier der Handlungsstrang der Binnengeschichte der wechselseitigen Erhellung dienen. Vereinfacht gesagt, wäre die Binnengeschichte die Aufklärungsgeschichte, die eine retrospektive Klärung des Verbrechens bietet. Selbst die etwas verwirrende Namensunstimmigkeit, die störend für diese Schlussfolgerung ist – die sterbende Person der ersten Handlung heißt Miþinec, der verletzte Killer dagegen ýinþa – bestätigt diese Lesedetektion, denn im Fortlauf der Geschichte werden beide Namen für dieselbe Person verwendet.13

12 „V boku ucítil píchnutí, on mČ bodnul, on mČ urþitČ taky bodnul, Ĝíkal si ýinþa, shodil zakrvácený kabát, upustil nĤž, [...] ruce od krve vrazil do kapes.“ 13 Denn als der Ich-Erzähler mit seinem Vorgesetzten (P) über den Tod von Miþinec spricht, den er vor dem Bahnhof getroffen hat, wird er mal Miþinec und

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Die Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Die Handlung kehrt von der zweiten Handlungsebene zu der des Ich-Erzählers zurück. Da dieser die neue Folge seines Lieblingsgroschenromans „Der Planet der Schaben II“ am Bahnhof nicht finden kann, sucht er in einem Buchladen weiter, wo er des Buchdiebstahls beschuldigt und von der Polizei vernommen wird. Während der Vernehmung findet die Polizei in seiner Tasche – ein Messer. Statt der Lösung des Rätsels eröffnet sich eine nächste Handlungsverwicklung, die sich wie ein Knick in der Handlungslogik verhält: Ein Messer taucht am Anfang der Geschichte in noch metaphorisch anmutender Weise zur Beschreibung der urbanen Nachtszenerie auf, seine Messerspur zeichnet die Verletzung von Miþinec aus, der Killer ýinþa hat ein Messer in der Tasche, tötet mit ihm, wird dann von einem Messer verletzt und lässt es am Tatort liegen, und ein Messer findet sich unerklärter Weise und scheinbar rein zufällig in der Tasche des Ich-Erzählers. Ein kausaler Zusammenhang fehlt jedoch. Das Messer ist ein Indiz, das uns einen roten Faden zur Ordnung der Sujetelemente zu bieten scheint. Der Leser versucht hier eine signifikante Bedeutungsverbindung herzustellen. Das Messer vermittelt jedoch nur den Anschein einer verlässlichen Sinngenerierung. Denn dieses Motiv erweist sich nur als Köder, der den Deutungszwang des genreorientierten Lesers bedient – sich jedoch im Endeffekt einer kohärenten Eindeutigkeit entzieht. Angenommen, wir lassen uns trotz der logischen Sinndiskontinuität auf die nachgezeichnete Interpretationsmöglichkeit ein und gehen davon aus, dass es in der Geschichte nur ein Messer gibt, dann führt uns seine Verfolgung dieser Spur am Schluss der Erzählung zwangsläufig zum letzten Besitzer dieses Messers, dem Ich-Erzähler, von wo aus von neuem der Blick auf die Geschichte und auf alle anderen am Verbrechen beteiligten Figuren fallen muss.

mal ýinþa genannt: „Ich: Erinnerst du dich an Miþinec? […] Ich hab ihn vorm Bahnhof gefunden, auf der Bank, er ist gestorben. Wahrscheinlich ist er erstochen worden oder so. […] P.: Die ehemalige Freunde aus dem alten Viertel schwinden ja massig dahin. Aber dieser ýinþa war ja immer aalglatt.“ (Topol 2007: 115. Übersetzung D. P. „Já: „Vzpomínáš na Miþince? […] Našel sem ho pĜed nádražím na laviþce, umĜel. Asi byl probodlej nebo co. […] P.: Bejvalejch kamaradĤ ze starý þtvrti valem ubývá. Ale tenhle ýinþa byl vždycky kluzkej.“)

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Daher zurück zu den drei Personen – die über das Messer und ein eindeutiges Täter-Opfer-Verhältnis verbunden sind und die ich vorübergehend als eine Person gedeutet habe: Zum unbekannten Mörder vom ersten Satz der Geschichte, dem sterbenden Miþinec und dem Auftragskiller ýinþa, zu denen nun eine vierte Person hinzukommt: der Ich-Erzähler. Also eine Figur, so lässt sich annehmen, die den Tod von Miþinec begleitet und die Killerstory von ýinþa erzählt. Es drängt sich nun die Frage auf: Wer aber ist der Ich-Erzähler? Wir erfahren von ihm, dass er ein Schriftsteller ist, noch mehr, er bezeichnet sich als ein „Söldner des Druckbuchstabens“, als ein „Geschäftsmann, der mit Wörtern handelt“ und der sein Geld im Boulevardjournalismus verdient. Dabei macht er sich sogar selbst zum Untersuchungsgegenstand, da er analysieren will, wie er „seinen gesunden Geist im geschäftlichen Unternehmertum ausmerzen könnte.“ (Topol 2007: 105)14 Der Ich-Erzähler gibt sich zudem als ein erfolgreicher Plagiator zu erkennen, der sich an den Plots von Groschenheften bedient. Denn auf der Grundlage von Groschenheftstorys kreiert er neue Geschichten, die er gut zu verkaufen weiß. Hier ein kleiner Ausschnitt seiner Arbeitsweise: Mit dem „Planeten der Schaben I“ habe ich eine wunderbare Erfahrung gemacht. In einem Arbeitsanfall habe ich dieses Heft umgeschrieben, aus den Erdenbürgern, die diesen Planeten eroberten, habe ich Cowboys gemacht und aus den Schaben Indianer. Die Transportinsekten habe ich gestrichen und Mustangs dazugeschrieben. Aus der sechsäugigen Schönheit Moi habe ich eine rothaarige Marianne kreiert, aus dem superintelligenten Professor Akis einen etwas depperten Revolverhelden Benny Brets. Aus der Hauptschabe Ribis, dem Fleischschlucker, ist eine ziemlich erträgliche Apachen-Abart geworden: der Irrsinnige Mokassin. Das gläserne unterirdische Schloss in eine Ranch und das Strahlengewehr in eine ehrliche Flinte zu verändern, war für mich ein Kinderspiel. Der Titel „Der Herbst in der Ranch des karierten Q-s“ war aber von mir. (Topol 2007: 118. Übersetzung D. P.)15

14 „Zkoumal jsem, jak umoĜit svýho zdravýho ducha v obchodním podnikání. Dotáhl jsem to na žoldáka litery, obchodníka se slovy, vypráskaného nádeníka.“ 15 „S Planetou ŠvábĤ I jsem mČl bájeþnou zkušenost. V záchvatu pracovitosti jsem tuhle knížku pĜepsal, z PozemšĢanĤ, kteĜí planetu dobývali, jsem udČlal kovboje a ze ŠvábĤ Indiány. Vyškrt jsem pojízdní ritony a dopsal mustangy. Z šestioké krasavice Moii jsem vytvoĜil rusovlasou Marianne a ze superinteligentního pro-

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Die Tatsache, dass sich der Ich-Erzähler zum unermüdlichen plagiatorischen und an der Schemaliteratur orientierten Fabulieren bekennt, könnte uns in der Annahme bestärken, dass die Geschichte vom Killer ýinþa aus der Werkstatt des Ich-Erzählers stammt. Man könnte annehmen, dass sich der Ich-Erzähler nach dem er den sterbenden Miþinec antrifft, sofort eine verkaufssichere Story über seinen Tod ausdenkt, und ihr das Format einer Groschenheftstory verpasst. Angenommen, dieser Aspekt wäre geklärt, bleibt neben der Frage, wer der Ich-Erzähler ist, eine weitere Frage offen: Wieso lenkt er die Aufmerksamkeit auf sich selbst und entwirft sich nicht nur als Autor dieser Geschichten, sondern legt zudem eine letzte Spur, die auf ihn verweist und ihn zum (Mit-)Täter macht? Heißt das, er ist seiner Groschenheftversessenheit soweit verfallen, dass er zwischen seiner Realität und der Fiktion nicht mehr unterscheiden kann und sich gern in die Crime-Welt der Groschenhefte imaginiert? Oder ist ihm sein „gesunder Geist“ durch das Geschäft des Boulevardjournalismus abhanden gekommen, dass er nun alles um ihn herum nur noch über das Raster der pulp-Welt von Groschenheften wahrnehmen kann? Aber führt die letzte Spur dieses paradoxen Täter-Opfer-Labyrinths nicht letztlich doch nur direkt zu der zuerst erwähnten Wunde zurück, in der hier am meisten rumgebohrt wird? Ist diese Wunde nicht eigentlich die Stadt selbst, genauer die Referenzstadt Prag und die sich in ihr etablierende „Ordnung“ der Nachwendezeit? Wenn wir die Lesedetektion in diese Richtung genauer verfolgen, führt sie uns zwangsläufig direkt zu Topol und seiner Schreibintention. Er bedient sich parodistisch parasitär am Genre des hard-boiled, indem er die Poetik des hard-boiled Realismus auf die postsozialistischen Verhältnisse überträgt und sie zum pulp-artigen Schematismus übertreibt. Ist aber diese Zweckentfremdung nicht sogar auf einer doppelten Weise parasitär? Will er nicht in seinem, durch die Wahl der Form, ziemlich vernichtenden Urteil über die Stadt letztendlich genauso auch die Intention der hard-boiled

fesora Akise trošku natvrdlého pistolníka Bennyho Bretse. Z hlavního Švába, Ribise, polykaþe masa, se stal celkem ucházející apaþský degenerát Šílený mokasín. PĜedČlat kopulovitý sklenČný zámek v podzemí na ranþ a paprskomety na pocttivé šestiraĖáky byla hraþka. Název Podzim ranþe Kárované Q byl mĤj.“

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Schule einsetzen und mitwirken lassen? Denn die parasitäre Anleihe scheint auch für Topol ein ähnlich „willkommener Anlass“ zu sein, um im Grunde auf das Gleiche hinaus zu wollen wie die hard-boiled Schule: Nämlich darauf, die Verhältnisse, in seinem Fall die postsozialistischen, zu denunzieren, mit Kornel Földvári: Bei Chandler oder Hammett rückt der eigentliche Fall in den Hintergrund, die Fahndung nach dem Verbrechen ist vor allem ein willkommener Anlass, um die Gesellschaft zu überführen, und die Aufdeckung des Mörders passiert dann irgendwie nur nebenbei. (Földvári 2009: 108. Übersetzung D. P.)

Die Ordnung der Welt eines klassischen Krimis ist eine „paranoide“. Alle Personen in einem Krimi kommen als potentielle Täter in Betracht, jede erwähnte Kleinigkeit lässt sich sofort als eine mögliche Spur deuten. Das Ende eines klassischen Krimis führt durch die Lösung des Kriminalrätsels aus dieser „Paranoia“ heraus, indem der Täter gefunden und die Unschuldigen vom Verdacht befreit werden. Aus der ganzen Auswahl der Verdachtsfälle, die ein Krimi liefert, erweist sich zum Schluss immer nur die eine Lösung als die richtige (Bremer 1999: 183). Bei Topol hingegen, wie es auch in zahlreichen anderen postmodernen (Anti-)Krimis der Fall ist, treffen wir auf einen Text, der uns keine Befreiung aus dem „paranoiden“ Lesezustand bietet. Er liefert keine singuläre Lösung, hier ist nichts richtig und nichts falsch, aber vieles möglich. Topols Textspiel mit dem hard-boiled Krimi eröffnet ein Labyrinth der Mutmaßungen, er bietet uns jedoch letztlich keinen verlässlichen Faden, wie es in einem (klassischen) Krimi der Fall wäre, sondern belässt den Leser in der Verwirrung der ungeklärten Ausgangs- und Lesemöglichkeiten. Topols Text bewegt sich entgegen der sukzessiven Enträtselung des Sinns hin zu einem offenen Spiel der Deutungsvarianten: „Výlet k nádražní hale“ ist ein Topol-boiled Verwirrspiel oder einfach, mit Anleihe bei Raymond Chandler, „The Difficult Art of Murder“.

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B IBLIOGRAPHIE Bremer, Alida, 1999: Kriminalistische Dekonstruktionen. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane. Phil. Diss. Würzburg. Chandler, Raymond, 1995 [1950]: The Simple Art of Murder. In: Later Novels and Other Writings. New York, 977-992. Eco, Umberto, 2003 [1983]: Nachschrift zum „Namen der Rose“. München. Földvári, Kornel, 2009: O detektívke [Über den Krimi]. Levice. Horváth, Tomáš, 2011: Tajomstvo a vražda. Model a dejiny detektívneho žánru [Geheimnis und Mord. Modell und Geschichte des Krimigenres]. Bratislava. Horváth, Tomáš, 2006: Zrod detektívky z duchov fantastiky [Die Geburt des Krimis aus den Geistern der Phantastik]. In: Slovenská literatúra 5, 329-368. Hühn, Peter, 1998 [1987]: Der Detektiv als Leser. Narrativität und Lesekonzepte in der Detektivliteratur. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München, 239-254. Jameson, Frederic, 1998 [1970]: Über Raymond Chandler. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München, 378-397. Kemmer, Wolfgang, 2001: Hammet – Chandler – Fauser. Produktive Rezeption der amerikanischen hard-boiled school im deutschen Kriminalroman. Köln. Pfeiffer, Ludwig K., 1998 [1988]: Mentalität und Medium. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. München, 357-377. Sayers, Dorothy L., 1998 [1935]: Aristoteles über Detektivgeschichten. Vorlesung in Oxford am 5. März 1935. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman: Poetik – Theorie – Geschichte. München, 13-22. Topol, Jáchym 2007 [1993]: Výlet k nádražní hale [Ein Ausflug zur Bahnhofshalle]. In: Ders.: Supermarket sovČtských hrdinĤ [Supermarkt sowjetischer Helden]. Praha, 99-131.

Autorinnen und Autoren

Boden, Doris: Slawistin und Narratologin. Sie studierte Ostslawistik, Bohemistik/ Slowakistik und Deutsch als Fremdsprache in Leipzig, Odessa und Prag (Promotion 2005 mit einer Arbeit zur Rezeptionssteuerung in den Romanen Milan Kunderas). 2001-06 war sie am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig im Projekt zur Lyrik der Nachavantgarde beschäftigt, seit 2007 ist sie Redaktionsmitglied der „Enzyklopädie des Märchens“ an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, seit 2009 Mitherausgeberin von „Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung“. Sie arbeitet zur tschechischen und russischen Narrativik, besonders im Bereich der Populärliteratur, sowie zur Erzähltheorie. Sie publizierte u. a.: „Irritation als narratives Prinzip: Untersuchungen zur Rezeptionssteuerung in den Romanen Milan Kunderas“ (2006) und „Kunst am Ende des Realsozialismus. Entwicklungen in den 1980er Jahren“ (zusammen mit U. Schorlemmer; 2008). Bremer, Alida: Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Kulturvermittlerin. Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik in Belgrad, Rom, Saarbrücken und Münster studiert und in Vergleichender Literaturwissenschaft mit der Arbeit „Kriminalistische Dekonstruktion: Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane“ (Würzburg 1999) promoviert. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lektorin an den Universitäten Münster und Gießen tätig. Alida Bremer ist Herausgeberin zahlreicher Sammelbände südosteuropäischer und insbesondere kroatischer Literatur: „Jugoslawische (Sch)Erben: Probleme und Perspektiven“ (Osnabrück 1993), „Literarisch Reisen: Istrien“ (Klagenfurt/ Celovec 2008), „Südliches Licht. 20 Liebeserklärungen an Kroatien“ (hg. mit Silvija

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Hinzmann und Dagmar Schruf, Berlin 2008), „Kroatische Literatur der Gegenwart in 6 Bänden“ (hg. mit Hermann Wallmann, Münster 2008). Sie selbst hat mehrere Gedichtbände, Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Essays aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen übersetzt. Gemeinsam mit dem ungarischen Autor György Dalos war sie Kuratorin des Programms „Kroatien als Schwerpunktland zur Leipziger Buchmesse 2008“. Im gleichen Jahr hat sie das Grenzgänger-Stipendium der RobertBosch-Stiftung erhalten. Sie ist freie Mitarbeiterin der S. Fischer Stiftung und Projektleiterin des Netzwerks TRADUKI sowie Mitglied des kroatischen PEN Zentrums. Brylla, Wolfgang: Germanist mit Schwerpunkt Narratologie, ‚Trivialliteratur‘ und Heimatdichtung Schlesiens. Er studierte an der Universität Zielona Góra (Polen) und der Justus-Liebig-Universität Gießen. Derzeit ist er Doktorand im Rahmen der Admoni-Doktorandenschule und promoviert zum Werk von Hans Fallada im Kontext von Raum- und Stadttheorie, auch in Hinblick auf narratologische Fragestellungen. Mit Kriminalliteratur beschäftigte er sich in Aufsätzen zu den Werken von Jakob Arjouni, Friedrich Dürrenmatt, Harry Kemelman, G. K. Chesterton und Andrea Maria Schenkel. In seinem Buch „Layout des Rätsels oder: Wie das Geheimnis inszeniert wird. Narratologische Annotationen zu klassischen Detektivgeschichten“ (Zielona Góra, 2011) setzte er sich mit den Krimitexten von A. C. Doyle, Chesterton und E. A. Poe auseinander. Colombi, Matteo: Slawist und Komparatist. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig. Er hat Lettere Moderne in Bologna und Bohemistik in Leipzig studiert und zum Thema „Multiethnizität und Multikulturalität in Prag und Triest 1919-1939. Historischer und literarischer Raum im typologischen Vergleich“ an den Universitäten L’Aquila (Komparatistik) und Leipzig (Westslawistik) promoviert. Er war an beiden Universitäten als Dozent tätig. Seine Forschungsbereiche sind die deutschböhmische, die slowenische, die Triester italienische und die tschechische Literatur. Matteo Colombi hat verschiedene Aufsätze über Ethnizität und Literatur sowie flânerie und Literatur veröffentlicht. Er ist Mitherausgeber von „L’immagine ripresa in parola. Letteratura, cinema e altre visioni“ (mit

AUTORINNEN UND AUTOREN | 305

Stefania Esposito, Rom 2008). Sein aktuelles Projekt heißt „,Gegen-denStrich-lesen‘. Partisanenbild und alternative Kultur in Slowenien“. Dmitrieva, Marina: Kunsthistorikerin. Sie hat Kunstgeschichte und Geschichte an der Lomonosov-Universität in Moskau studiert und mit „Antike Themen in der deutschen Renaissancegrafik“ promoviert. Sie hat als leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte in Moskau gearbeitet, hat an den Universitäten Freiburg i. Breisgau, Basel, Hamburg und Bremen unterrichtet und ist seit 1996 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die urbane visuelle Kultur in Zentral- und Osteuropa sowie Kunsthistoriographie und Kunst der Renaissance nördlich der Alpen. Zu ihren letzten Publikationen zählen „The Post-socialist City“ (hg. zusammen mit Alfrun Kliems, Berlin, 2010) und „Zwischen Stadt und Steppe. Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er bis 1930er Jahren“ (Berlin, 2012). Hohnsträter, Dirk: Kulturwissenschaftler und Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. Er hat Germanistik und Philosophie in Tübingen sowie Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert, wo er mit der Arbeit „Ökologische Formen. Die ökologische Frage als kulturelles Problem“ promovierte. Es folgten Tätigkeiten als Teaching Assistant an der University of Notre Dame (USA) sowie als DAAD-Lektor an der Eötvös Loránd Universität in Budapest. Dirk Hohnsträter hat an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zur Darstellung von Schreibprozessen in Spielfilmen geforscht und veröffentlichte unter dem Pseudonym Viktor Iro das essayistische Reisebuch „Gebrauchsanweisung für Budapest und Ungarn“ sowie den Kriminalroman „Tödliche Rückkehr. Kommissar Peringer ermittelt.“ Keunen, Bart: Komparatist. Er ist Professor für Europäische Literaturgeschichte, Soziologie der Literatur und Vergleichende Literatur an der Universität Gent in Belgien. Zu seinen Forschungsbereichen gehören urban studies, Gattungstheorie und -geschichte sowie Literaturgeschichte und -soziologie. Seine Doktorarbeit ist unter dem Titel „De Verbeelding van de

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Grootstad: Chronotopen en wereldbeelden in het proza van de moderniteit 1850-1930“ (Brüssel, 2000) erschienen. Er ist seit 2000 Kodirektor des Ghent Urban Studies Team (GUST). Zu seinen neueren Publikationen zählen u. a: „Time and Imagination: Chronotopes in Western Narrative Culture“ (Evanston, 2011); „Literature and Society. The Function of Literary Sociology in Comparative Literature“ (hg. mit Bart Eeckhout, Brüssel u. a., 2001) und „The Urban Condition: Space, Community, and Self in the Contemporary Metropolis“ (hg. v. GUST, Rotterdam, 1999). Kretzschmar, Dirk: Komparatist und Slawist. Er hat in Bochum mit der Dissertation „Die sowjetische Literaturpolitik 1970-1985“ (Bochum, 1993) promoviert und mit der Studie „Identität statt Differenz: zum Verhältnis von Kunsttheorie und Gesellschaftsstruktur in Russland im 18. und 19. Jahrhundert“ über gesellschaftliche Funktionsdifferenzierung und ästhetische Theorie in Russland und Deutschland habilitiert (Frankfurt am Main u. a., 2002). Von 2003 bis 2008 war er Gastprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaft in Breslau und Stettin und von 2008 bis 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department Germanistik und Komparatistik der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, wo er seit 2011 den Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft vertritt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Literatur- und Kulturtheorie, Interkulturelle Literaturwissenschaft, Kulturkomparatistik, Gedächtnisdiskurse in europäischen Literaturen und Kulturen, Epochentheorien und Epochenprofile im europäischen Vergleich sowie Vergleichende Mediengeschichte und Medientheorie. Olshevska, Anna: Romanistin, Slawistin und Film- und Fernsehwissenschaftlerin. Sie hat an den Universitäten Kiew und Bochum studiert. In den Jahren 2001-2006 war sie am Promotionskolleg „Ost-West“ tätig, wo sie u. a. als Herausgeberin und Redakteurin der Schriftenreihe „Ost-West Perspektiven“ mitwirkte. Zwischen 2001 und 2006 unterrichtete Anna Olshevska Russisch, Ukrainisch, Spanisch und Deutsch als Fremdsprache an der Ruhr-Universität Bochum sowie im Rahmen des Ukrainicums in Greifswald und war außerdem als Dolmetscherin und Übersetzerin tätig. Aktuell unterrichtet sie Russisch als Herkunftssprache im Primärschulbereich in Dortmund und betreut Propädeutika für berufserfahrene Studenten im Rahmen des Projektes inSTUDIES an der Ruhr-Universität Bochum.

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Poláková, Darina: Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat Germanistik, Ästhetik und Europastudien in Bratislava und Leipzig studiert. Von 2007 bis 2011 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig tätig. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind Pop-Phänomene in der tschechischen und slowakischen Kultur, sowie alternative Projekte kollektiver Selbstverwaltung. Sie arbeitet als freie Mitarbeiterin bei Polykult.West. e.V. Leipzig. Schmidt, Nora: Slawistin mit Schwerpunkt Bohemistik, Stipendiatin des Erfurter Promotions- und Postdoktoranden-Kolloquiums „Forum: Texte. Zeichen. Medien.“ und Lehrbeauftragte an der Universität Erfurt. Sie hat in Erfurt, Prag und Leipzig Literaturwissenschaft, Philosophie und Westslawistik studiert. Das Thema Kriminalliteratur behandelte sie auch in ihrer Arbeit „Subtile Differenzen. Fantastik, Krimi und Geschichte in Miloš Urbans Roman ‚Sedmikostelí‘“ (Berlin, 2011). Sie promoviert zum Flaneur und zum flanierenden Schreiben in der tschechischen Gegenwartsliteratur und behandelt darin Werke von Michal Ajvaz, Miloš Urban und Jaroslav Rudiš. Smorąg-Goldberg, Małgorzata: Slawistin. Sie ist maître de conférence am Institut für Slawistik der Universität Paris-Sorbonne und wissenschaftliche Mitarbeiterin am CIRCE (Centre Interdisciplinaire de Recherche Centre-européenne). Sie studierte an der Ecole Normale Supérieure in Paris, an der Yale University und an der Sorbonne. Ihre Forschungsgebiete sind die polnische und ostmitteleuropäische Literatur, insbesondere in Bezug auf urbane Multikulturalität zur Zeit der gesellschaftlichen Modernisierung im 19. Jh. und in der Nachwendezeit, speziell Erinnerungskultur in der zeitgenössischen polnischen Literatur. Sie erforscht außerdem den polnischen avantgardistischen Roman der 1930er Jahre und hat zu diesem Thema die Monographie „Witold Gombrowicz, une gueule de classique? Bilan d’un demi-siècle d’enquête critique“ (Paris, 2007) veröffentlicht. Derzeit arbeitet Małgorzata Smorąg-Goldberg an einer Studie über Bruno Schulz: „Constructions identitaires des artistes juifs centre-européens: cas de Bruno Schulz“. Sie hat Marek Edelman, Henryk Grynberg, Krzysztof Kieslowski, Jarosław Iwaszkiewicz u. a. aus dem Polnischen ins Französische übersetzt.

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Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung Juni 2012, 248 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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