Das Spiel der Geschlechter und der Kampf der Generationen: Gruppenanalyse in Ost und West 9783666401695, 9783525401699, 9783647401690

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Das Spiel der Geschlechter und der Kampf der Generationen: Gruppenanalyse in Ost und West
 9783666401695, 9783525401699, 9783647401690

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© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Christoph Seidler/Irene Misselwitz/Stephan Heyne/ Harald Küster (Hg.)

Das Spiel der Geschlechter und der Kampf der Generationen Gruppenanalyse in Ost und West

Mit 5 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40169-9 ISBN 978-3-647-40169-0 (E-Book) © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Punkt für Punkt GmbH, Düsseldorf Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Einführung Editorial ..................................................................................

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Hans Bosse Gruppenanalyse – Spiritualität – Hoffnung .............................

18

Generationsfolgen und der Weg der IDG Michael Geyer Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe .......................................

39

Franz Jäkel Therapie der Therapeuten – Rückblick und Erinnerung ..........

52

Hans-Joachim Maaz Warum ich Publizist geworden bin und dennoch Gruppentherapeut geblieben bin ..............................................

57

Gundula Jung-Römer Die IDG als tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie mit Methoden-Integration in der ambulanten Kassenpraxis ............................................................................

71

Christoph Seidler Glossar für Gruppenanalytiker: Intendieren, Kippprozess, Phasenkonzept und Co. ........................................................... 84 Thomas Mies Von der Außenansicht zur Innenansicht. Persönlicher Bericht von einer Begegnung zwischen Gruppenanalyse und Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie ................. 103 Stephan Heyne Neue Wege der IDG – Die Geschichte geht weiter .................. 113

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Männer und Frauen in Gruppen Norbert Jung Wie wir uns finden … Zur Natur der Geschlechter und zum Geschlechterbild in der Psychotherapie ................................... 134 Henning Zimmermann Männer in Gruppen ................................................................ 169 Ingrid Stahmer Kulturpolitische Aspekte der Geschlechterdynamik. Männer und Frauen in der Politik ................................................................ 175 Ulrike Gedeon Die therapeutische Arbeit in Frauengruppen ............................ 180 Margit Dehne Frauengeleitete Männergruppen .............................................. 190 Horst Neumann und Sara Zimmermann Leitung als Paar in der analytischen Gruppentherapie .............. 197 Christoph Seidler und Irene Misselwitz Männer und Frauen in Gruppen – hier: ein Leiterpaar ............ 203 Michal Kaiser-Livne Hoffnung auf Tikkun. (Wiederherstellung) im gruppentherapeutischen Raum ............................................................. 211 Die Autorinnen und Autoren .................................................. 226

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Einführung

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Editorial

Fünfundsechzig Jahre sind seit der Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg vergangen. Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands erscheinen die Wunden und ihre Notversorgung in einem neuen Licht. Leid, Verstrickung und Elend wird in derart überwältigenden Details sichtbar, die vielleicht jetzt erst – Generationen später – aushaltbar scheinen. Damit kann Heilen langsam einsetzen. Zu den Wunden in unserem Fachgebiet gehören auch die Vernichtung und Vertreibung unserer jüdischen Lehrer und Kollegen, und damit der Psychoanalyse und der Gruppenanalyse. Die Psychoanalytiker, die in Deutschland geblieben waren, wurden später zumeist auch die Begründer der Gruppenpsychotherapie in Deutschland. Was für ein Erbe! Wie viel Schuld und wie viel Abwehr, wie viel Angst! Und wie viel Mut! Die Intendierte Dynamische Gruppentherapie war die in der DDR originär gewachsene Psychotherapiemethode. Deren federführender Kopf, Kurt Höck, war gleichwohl vernetzt, besonders mit dem Kreis um Annelise Heigl-Evers, so dass es keine Isolierung im engeren Sinne gab. Die Mauer war immer durchlässig, aber sie war da. Die vorliegenden Beiträge stammen von den »Kindern und Kindeskindern« dieser Gründergeneration, meist aus dem Osten Deutschlands. In der DDR hatten es Psychoanalyse und Gruppenpsychotherapie unter der SED-Diktatur schwerer als im Westen Deutschlands. So war auch die Gruppenpsychotherapie im Osten primär auf die klinische Tätigkeit und auf Therapiestrategien begrenzt. Der komplizierte Name »Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie« zeugt vom Bemühen, das Unbewusste zu bändigen, so kurz nach Nazizeit, Krieg und Stalinismus. Heute beginnen wir das zu verstehen. Diese Gruppenform hat eine bewegte Geschichte, und zwar schon in den zwanzig Jahren DDR-Zeit, erst recht in den zwanzig Jahren danach. Davon sprechen auch die Texte in diesem Band. Nach einer mehrjährigen Schreckstarre nach der »Wende«, dem »Anschluss«, dem »Beitritt«, wurde trotzig-stolz der Name beibehal© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Einführung

ten, obwohl ihn keiner mehr richtig aussprechen will. Deswegen benutzen die meisten nur noch die Abkürzung: »IDG«. Im Buchtitel erscheint dieser Name nicht, obwohl sich die meisten Texte damit befassen. Das hängt auch damit zusammen, dass mehrere Autoren »klassische« Gruppenanalytiker sind. Das Buch wendet sich vor allem an Gruppenanalytiker, und die »IDG« gehört schließlich zur Gruppenanalyse – das ist auch ein Teil dieses Heilungsprozesses. Nach dem Fall der Mauer hat die IDG – nunmehr als eigener Verein – kontinuierlich den Kontakt zu den anderen Gruppentherapieströmungen Deutschlands gesucht und dabei erfreuliche Gemeinsamkeiten und erfrischende Differenzen gefunden, ist aber auch auf den »Narzissmus der kleinen Differenz« gestoßen. Es war viel Mut nötig, um zu konkreter, praktischer Zusammenarbeit zu finden. Das war zunächst möglich mit dem Münsteraner Institut für Gruppenanalyse, das im Buch durch Thomas Mies vertreten wird. Seit 2003 gibt es das Berliner Institut für Gruppenanalyse (BIG), an dessen Gründung auch IDG-Kollegen aus Ostberlin beteiligt waren. Aus diesem Institut kommen neben Christoph Seidler und Stephan Heyne (ehemals Ostberlin) auch Michal Kaiser-Livne, Sara Zimmermann und Horst Neumann (ehemals Westberlin), die in diesem Buch mitwirken. Die Beiträge geben den Stand der Überlegungen zu Integration und Spezialisierung der IDG wieder. Sie sind der Versuch, ihre Position im aktuellen Entwicklungsprozess zu beschreiben. Dabei spielen historische und biografische Akzente eine zentrale Rolle. Immer wieder geht es um die Geschichtsschreibung zu DDR-Zeiten, es geht um die Anpassungsprozesse, die sich nur sehr langfristig zu erkennen geben. Es geht auch um Anpassungsprozesse, die aktuell laufen und die ebenfalls nur zu einem kleinen Teil reflektiert werden können: Das Ich ist eben nicht Herr im eigenen Haus. Bei der Geschichtsschreibung stellen sich Generationsunterschiede her. Typischerweise setzen historische Ereignisse von großer Bedeutung Kristallisationspunkte für das Verständnis einer Generation. Damit sind wir nicht nur einfach bei den geschichtlichen Zusammenhängen, sondern es stellen sich die Generationenfragen, und die stellen sich hier besonders krass: Ein Beispiel für die Gründergeneration ist Kurt Höck, Jahrgang 1920. Er war Kriegsteilnehmer und war in Kriegsgefangenschaft (nicht zu vergessen: Auch W. R. Bion war Panzerkommandant). »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«, sagt Brechts Galileo Galilei. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Editorial

Die folgende Generation der Jahrgänge 1935 bis 1945 hat eine andere Sicht auf die Dinge. Sie hat aber auch Spaltungen erfahren, nicht nur gesellschaftlicher, sondern höchst individueller Art. Sie ist eine andere Generation als die ihr nachfolgende, die in einem Deutschland ohne Krieg – zumindest ohne heißen Krieg – aufgewachsen ist. Die Ablösung der Kriegskindergeneration durch diese neue Generation hat eine andere Dimension. Diese Ablösung von der inzwischen verstorbenen Generation macht auch etwas anderes deutlich, nämlich dass sich die Vaterbilder eklatant wandeln. »Der Kipppvorgang« – das ödipale Drama in der Gruppe – ist bei männlicher Leitung an tapfere Vater- und Sohneshelden geknüpft. Die gab es noch, die gibt es vielleicht auch noch, aber die Nachkriegsgeneration hat andere Vaterbilder. Es sind die Vaterimagines des Scheiterns, der Demut, der Schuld, des moralischen Versagens. Aber diese Bilder sind nicht ohne Würde, sie tragen die Würde des Unglücks in sich. Die Erfahrungen von Einflusslosigkeit und Ohnmacht, die Einsichten in die Fragilität menschlicher Beziehungen und menschlicher Existenz überhaupt hat uns mit Demut erfüllt. Und Demut ist Hochschätzung. Die gute Nachricht: Es wächst eine neue Generation von Vätern heran, die Freude daran hat, Vater zu sein, ein Vater, nicht Diktator und nicht Halbgott, ein Vater, der dennoch auch Orientierung geben kann. Die schlechte Nachricht: Diese Väter sind selten. Ein Paradies wird es dennoch nicht, aber eine Konfliktfreudigkeit der Lebensnähe lässt sich erhoffen. Damit sind wir angelangt bei dem anderen Themenkomlex, hinter dem ebenfalls der Ödipuskonflikt lächelt, nämlich beim Spiel der Geschlechter. Die Feminisierung der Medizin und der Psychotherapie, insbesondere der Psychoanalyse, hat sowohl viele Kritiker als auch Befürworter gefunden. Tatsächlich ist aber unser Patientengut vorwiegend weiblich, die Ausbildungskandidatinnen überwiegen. Die ödipalen Dramen in der Psychoanalyse verlieren gegenüber dem Präödipalen an Bedeutung. Das Ideal einer unschuldigen, von ödipalen Leidenschaften unberührten Kindheit setzt sich durch. Die Veränderung der Geschlechterfrage verändert auch die Theorie und Praxis substantiell. Den Rahmen der vorliegenden Textsammlung setzen zwei Arbeiten, die den wirksamsten Heilfaktor in Gruppen betreffen: Hoffnung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Einführung

Hans Bosse eröffnet mit tiefgreifenden Betrachtungen über die dunkle Seite der Hoffnung. Persönliche Erinnerungen an das Kriegsende, die Fallvignette einer Gruppe, die Auseinandersetzung mit Bions Grundannahmen und Betrachtungen zur Religion und Spiritualität verknüpft er zur Erkenntnis, dass erst die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit Möglichkeiten zur Veränderung im Rahmen der eigenen Grenzen zulässt. Bisher Unbewegtes oder Unbewegliches an sich selbst oder an anderen zu bewegen suchen und die Erfahrung zu machen, dass es sich verändert, ist die Hoffnung, die die Gruppenanalyse vermitteln kann. Beginnt man bei den eigenen Spielräumen im Festgelegten, braucht man weder rettende Erlöser, noch muss man Richter fürchten oder benötigt ein böses Drittes, welches an allem Schuld ist. Den Band beschließt ein Geschenk der israelischen Kollegin Michal Kaiser-Livne: »Die Hoffnung auf Tikkun (Wiederherstellung) im gruppentherapeutischen Raum«. Die weiteren Beiträge gruppieren sich um zwei miteinander verwobene Themenkomplexe. Erstens wird über die nicht undramatische Geschichte und die Gegenwart der IDG berichtet, was auch »Kampf und Spiel« der Generationen beinhaltet. Zweitens wird davon erzählt, wie Männer und Frauen versuchen, miteinander auszukommen. Zunächst beschreibt Michael Geyer die wilden Anfänge. Es waren die Väter, die – zeitgleich in West und Ost – die Gruppenorganisationen ins Leben riefen, aber das Leben wurde dann – zeitgleich in West und Ost – von den Söhnen getragen. Natürlich wäre es ohne die Mütter und Töchter nicht gegangen. Geyer widmet sich der Frage »Wie viel äußere Freiheit braucht psychoanalytisches Denken und Handeln?« Vielleicht gelingt ihm eine der möglichen Antworten, obwohl er die Frage lieber offen halten möchte. Jedenfalls glaubt er, dass diese Frage nicht von Leuten entschieden werden sollte, deren eigener Horizont nie über den des Systems, in dem sie angepasst lebten, hinausging und die es nie gelernt haben, das eigene System in Frage zu stellen. Ungeeignet erscheinen ihm auch die sogenannten Ostalgiker, die ihre Resignation im neuen System durch Überidentifikation mit dem alten zu bewältigen versuchen. Am wenigsten geeignet zur Beantwortung dieser Frage sind aber doch wohl jene, die mit jedem Rückblick auf ihre eigene Rolle in der DDR nach Rechtfertigung suchen müssen, die am einfachsten mit der Antwort gefunden wird, es könne keine Psychoanalyse in der Dikta© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Editorial

tur geben. Optimale Anpassung an das jetzige System scheint dem Selbst unverträglich mit dem Bewusstsein allzu offensichtlicher früherer Anpassung. Wenn die Rückschau nicht Heldentaten zu Tage fördert, wird gern die prinzipielle Möglichkeit negiert, trotz Diktatur frei denken und – wenn auch in mitunter schmerzlich empfundenen Grenzen – handeln zu können. Franz Jäkel erzählt die abenteuerliche Geschichte einer Weiterbildung von Selbsterfahrungsgruppenleitern 1988 unter dem Dach der Diakonie unter der Leitung von Hans-Joachim Maaz und Heinz Benkenstein. Er blickt zurück auf diese Selbsterfahrungsgruppe, die einen Wendepunkt in der IDG markiert. In der Anfangsphase der Entwicklung der IDG überwog die dynamische Sicht- und Interventionsweise auf die Gruppe. Damit wurde es im autoritären, später nur noch pseudoautoritären, DDR-System möglich, wichtige Themen wie Auseinandersetzung mit Machtstrukturen, Autonomie und Ablösung zu forcieren. Mitte der 1980er Jahre begann der Prozess der stärkeren Betonung der analytischen Basis der IDG, der sich über die Wende fortsetzt und bis heute anhält. Hans-Joachim Maaz wurde um die Wendezeit berühmt mit seinem Buch »Der Gefühlsstau – ein Psychogramm der DDR« (1990), einem profunden kritischen Buch über die Missstände in der DDR. Nach der Wende wurde es nicht selten für psychopathologische Klischees für Menschen aus dem Osten missbraucht. Er richtet den Blick hauptsächlich auf die Frühstörungen der Menschen, im Wesentlichen durch die Qualität der Mütterlichkeit verursacht, die er wiederum auf ihre unterschiedliche gesellschaftliche Bedingtheit und Bedeutung untersucht. Kriege und aktuelle politische Verhältnisse werden als Ausdruck eines Rückfalls der Gesellschaft in »frühgestörte Verhaltensmuster« beschrieben. Gegen diesen anschreibend sieht der Autor sich in kritisch analytischer Tradition. Ein Erbe der IDG für die ambulante tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapie ist die Erfahrung mit der Kombination verschiedener Methoden. Darüber berichtet Gundula Jung-Römer. Traditionell wird die IDG schon immer in Verbindung mit nonverbalen Verfahren, der Kommunikativen Bewegungstherapie und dem Malen durchgeführt. Die Autorin integriert zusätzlich Methoden der Gruppenimagination (KIP), Symbolarbeit und auch gestalttherapeutische Aspekte. Auf Gefahren der Methodenvielfalt wird hingewiesen, wenn kein zugrunde liegendes tragendes Gruppenkonzept existiert. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Einführung

Nach der Wende haben sich die meisten IDG-Therapeuten psychoanalytisch nachqualifiziert. Das hat die IDG mindestens um die Sensibilität für die Gegenübertragungen bereichert. Die (erfolgreiche) Zusammenarbeit mit den Gruppenanalytikern veränderte die IDG ebenfalls substantiell. Was wird nun aus dem Vokabular der IDG, das es ja in sich hat? Da sich auch dort erhebliche Bedeutungswandel vollzogen haben, hat Christoph Seidler ein Glossar erstellt für Reizworte wie Intendieren, Kippprozess, Phasenkonzept und Co. Einen Blick von außen auf die IDG wirft Thomas Mies. Sein Beitrag heißt: »Von der Außenansicht zur Innenansicht«. Er teilt mit der IDG-Mannschaft wichtige Erfahrungen. Umgekehrt konnten die IDG-Trainer auch sehr innige Erfahrungen mit dem Münsteraner Förderverein für Gruppenanalyse machen, aus dem Thomas Mies kommt. Mit dem Untergang der DDR wurde vieles mitgerissen, auch Sinnhaftes wurde entwertet. Die IDG steckte in der Krise, wohin sie auch gehörte. Bei den vielen Enttäuschungen mit sich und anderen liegt Minderschätzung nahe, dennoch verhindert sie eine wissenschaftliche Betrachtung. Bei unserer Zusammenarbeit mit den Kollegen aus Münster half uns oft gerade deren Wertschätzung, unsere eigenen Entwertungstendenzen zu erkennen. Auf diese Weise konnten Unterschiede bestehen bleiben und fielen keinen Anpassungstendenzen zum Opfer. Für die Zusammenarbeit von Ost- und Westsozialisierten Gruppenpsychotherapeuten ergeben sich heute ganz neue Fragestellungen, die erst durch die Differenzen auftauchten. Einen Generationswechsel gab es 2001. Stephan Heyne übernahm den Vorsitz der Sektion IDG. Mit ihm beginnt eine neue Ära: Nicht nur, dass sich die Selbsterfahrungskommunitäten nach Lychen verlagerten, sondern es gibt seitdem auch eine konkrete Zusammenarbeit mit dem Münsteraner Förderverein für Gruppenanalyse in der Form, dass Trainer/Ost Gruppen/West trainieren und Trainer/West Gruppen/Ost trainieren. Erst die gemeinsame konkrete Arbeit konnte die gegenseitige Achtung, das Interesse und den Respekt füreinander wachsen lassen. Der Bericht von Stephan Heyne über die Zusammenarbeit mit »anderen« beginnt jedoch etwas früher. Er widmet sich zunächst der Zweiten Internationalen Kommunität, einer Zusammenarbeit »OstOst«, deren historischen Charakter man schon bei der Aufzählung der beteiligten Länder spürt, die es heute vielfach nicht mehr gibt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Editorial

Teilnehmer waren (damals) junge Gruppenpsychotherapeuten aus Polen, der DDR, der UdSSR, der ČSSR und Bulgarien. Diese »International Selfexperience Group« war ein Projekt, das kurz vor dem Mauerfall, in der Wende, begann, die Wiedervereinigung dann aber nicht sehr lange überlebte. Aus dem zweiten, oben schon erwähnten, Kooperationsprojekt mit dem Münsteraner Förderverein für Gruppenanalyse hat sich dagegen eine Basis für Zusammenarbeit entwickelt, die bis heute besteht. Ursprünglich – und zwar schon vor dem Mauerfall – angelegt als wissenschaftliche Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden beim Vergleich der Interventionsstile in Gruppenanalyse und IDG, hat es sich weiterentwickelt zur Untersuchung der Zusammenhänge von verbaler und nonverbaler Kommunikation, einer Besonderheit der gruppenanalytischen Arbeit in der IDG. Dieses Projekt war eingebettet in die Sektionen IDG und KuP im DAGG. Heyne berichtet über die gemeinsame Gründung des Berliner Instituts für Gruppenanalyse (BIG), bei der Mitglieder der Sektion IDG und der Sektion AG an einem Tisch saßen. Den zweiten Teil des Buches eröffnet Norbert Jung mit seinem Beitrag »Wie wir uns finden«. Irgendwie passen Männer und Frauen eben doch zusammen. Als Ausgangspunkt einer bio-psycho-sozialen Ergänzungsreihe dieses Wunders können die verhaltensbiologischen Gegebenheiten in deren genetischer Bedingtheit angesehen werden. Die Grundmuster von Partnerwahlprinzipien bei Mann und Frau schildert der Autor in anschaulicher Weise. Die damit verbundene persönliche und kollektive Kränkung, nicht göttlicher Widerschein durchweg freien Willens, sondern wunderbares Ergebnis einer in uns sinnvoll wirkenden Natur zu sein, wird benannt. Wie nötig es ist, dass die Männer sich endlich von ihren Rollenklischees emanzipieren, erklärt Henning Zimmermann sehr überzeugend. Bisher findet das »Männerthema« ja fast nur in Frauenzeitschriften statt. Ingrid Stahmer beschreibt, wie die gesellschaftlich-politischen Prozesse eine Biografie kreieren und wie sehr einzelne Personen gesellschaftliche Prozesse gestalten. Dass Frauen auch gut mit Frauen klarkommen können – und dass darin ein erhebliches emanzipatorisches Potential steckt –, beschreibt Ulrike Gedeon. Die dynamische Entwicklung von Frauengruppen unterscheide sich von der in einer gemischten Gruppe vor allem durch die besondere mütterliche Kraft, die von Frauen aus© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Einführung

geht. Wesentliche Gründe der Frauen, sich in einer Gruppe zu finden, sind der Wunsch nach mütterlicher, wohlwollender Zuwendung, sich zu solidarisieren und im Schutze der Frauen Antworten auf wesentliche Lebensfragen zu bekommen. Der Bericht stellt die Ergebnisse der Arbeit vor. 1995 überraschte eine Vergleichsuntersuchung aus Gießen und Leipzig damit, dass die Frauen aus der DDR selbstbestimmter, kamerad- schaftlicher, sexuell lebendiger, schlicht: kostbar sind. Michael Geyer, einer der Autoren, befürchtete, dass dann demnächst diese Frauen von den Westmännern »weggeschnappt« würden (Berliner Zeitung, 12./13.08.1995). Dazu kam es nicht. Vielmehr gingen diese Frauen – gebildet, aktiv, selbstbestimmt – von selbst dahin, wo es Arbeit gibt, nach Süden und Westen. Sie ließen die Männer zurück. Nun gibt es in den strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands einen Männerüberschuss von 25 bis 30 %. Diese Frauendefizite sind europaweit ohne Beispiel. Selbst Polarkreisregionen im Norden Skandinaviens, die seit langem unter der Landflucht, speziell von jungen Frauen, leiden, reichen an die ostdeutschen Werte nicht heran. Eine ganz besondere Dynamik ergibt sich, wenn Frauen Männergruppen leiten. Warum das – entgegen allen Annahmen – einen Sinn ergibt, beschreibt eindrucksvoll Margit Dehne. Frauengeleitete Männergruppen sind nicht nur dem Umstand geschuldet, dass in der Rehabilitation von alkoholkranken Patienten mehr Frauen als Männer therapeutisch arbeiten und mehr Männer als Frauen sich in der Therapie befinden. Anhand von Untersuchungen lässt sich belegen, dass Frauen als Modell für den Umgang mit Emotionen besonders geeignet sind. Das decke sich auch mit den praktischen Erfahrungen der Autorin. So wurde aus der Not eine Tugend. Man muss sich vielleicht vor der Feminisierung der Medizin doch nicht fürchten. Skepsis bleibt, nachdem die »Feminisierung« der Vorschulund Schulerziehung das empathische, sozial begabte Mädchen zum Ideal des Kindes gemacht hat und Männer, zumal Jungen, ihre Not haben. In Berlin (West!) gibt es eine Tradition, Gruppenanalyse, zumal Selbsterfahrungsgruppen, paarweise zu leiten. Davon berichten Horst Neumann und Sara Zimmermann. Die paarweise Leitung ist eines der Essentials der IDG, das alle ihre Veränderungen überlebt hat. Über die Entwicklung eines Leiterpaares schreiben Christoph Seidler und Irene Misselwitz. Anhand einer Gruppensequenz werden die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Editorial

Vorzüge und Schwierigkeiten dieser Leitungsform, insbesondere in tief regressiven Prozessen und bei der Bearbeitung von Frühstörungsanteilen, illustriert. Mögliche bewusste Aufgabenverteilung und unbewusste Rollenausgestaltung werden als Prozess der eigenen Biografie verstanden, aber auch im gesellschaftlichen Prozess verortet. Krieg und Wende haben durch den Zusammenbruch innerer Wertesysteme die Väterlichkeit erschüttert. Die Autoren sehen in der Komplexität des Leiterpaares eine kreative Antwort auf diesen Kulturwandel. Den Schlusspunkt setzt – wie angekündigt – Michal Kaiser-Livne: »Die Hoffnung auf Tikkun (Wiederherstellung) im gruppentherapeutischen Raum«. Der Tikkun-Mythos stellt nach Scholem einen Versuch dar, dem traumatischen historischen Ereignis der Austreibung der Juden aus Spanien 1492, dem Exil und der Fragmentierung der Existenz des jüdischen Volkes mit Hilfe der kabbalistischen Kosmologie transzendentale Bedeutung zu verleihen. Die Autorin betrachtet Bions Gruppengrundannahme des »Pairing« im Lichte des Tikkun-Mythos. In beiden Fällen geht es um eine kollektive unbewusste messianische Erlösungshoffnung. Ist Tikkun nun eine Reparatur oder geht es um die Entwicklung einer »erbarmenden Haltung gegenüber den eigenen Scherben«? Dann wäre die Errichtung eines dritten Ortes gelungen, im Kern des Selbst als gutes komplexes Objekt. Damit kann Verantwortung für die eigene Schuld übernommen werden, ohne sich von ihr verfolgt zu fühlen oder vor ihr zu fliehen, und es kann aus Mitleid Erbarmen werden. Und so könnte der Heilungsprozess weitergehen. Die Herausgeber

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Hans Bosse

Gruppenanalyse, Spiritualität und Hoffnung

Wie Hoffnung entsteht An einem sonnigen Maimorgen 1945 standen meine achtjährige Schwester, meine sechsjährige Zwillingsschwester und ich am weitgeöffneten Fenster im Hochparterre eines Vierfamilienhauses. Wir blickten gebannt, gespannt und erwartungsvoll auf die Hindenburgallee in einer Kleinstadt in der Nähe von Hannover. Wir hörten ein dumpfes Rollen aus der Ferne. Im Hintergrund des Zimmers standen meine Mutter und Großmutter in sich zusammengesunken und blickten ängstlich und gequält ins Leere. Wir Kinder hatten Bleistifte und Stöße von Papier vor uns auf dem Fensterbrett liegen. Von rechts stieß langsam ein großer amerikanischer Panzer auf der Straße vor. Eine lange Kette verschiedener Fahrzeuge schloss sich an. Aus dem ersten Panzer schaute ein Kopf hervor. Die Augen beobachteten die leere Straße. Mich beeindruckte sein Mut. Wir Kinder begannen in Arbeitsteilung, die vorbeifahrenden Fahrzeuge zu zählen – Panzer, Panzerspähwagen, Transporter, Krads. Wir machten auf unserem Papier nach jedem vierten Strich einen diagonalen Strich, wie wir es in der Schule gelernt hatten. Wir verglichen unsere Summen. Wer hatte am meisten. Ich war ein halbes Jahr zur Schule gegangen. Die Stadt war wie ausgestorben. Nur wir drei waren tätig, so schien es. Hinter uns standen die beiden Erwachsenen mit grauen und gequälten Gesichtern. Am nächsten Tag standen wir Kinder mit anderen an der Eisenbahnlinie, die hinterm Friedhof vorbeiführte, und sammelten die Weißbrotscheiben auf, die uns schwarze GIs aus den weit geöffneten Viehwaggons des vorbeirollenden Zugs zuwarfen, besonders unserer vierjährigen jüngsten Schwester, deren blonder Lockenkopf alle entzückte. Hoffnung kann entstehen, indem man sich ein Bild von einem Befreier oder einer Befreiung macht. Zu dieser mentalen Leistung waren wir Kinder noch nicht imstande. Es war eher Neugier auf das Unbekannte, Neue, das sich hier anbahnte. Wir machten uns ein ganz ge© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

H. Bosse · Gruppenanalyse, Spiritualität und Hoffnung

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naues Bild. Zur Entstehung von Hoffnung gehört auch eigene Hingabe und Tätigkeit. Dazu waren wir Kinder schon in der Lage. Wir machten eine »professionelle« Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation. Ich glaube, dass Hoffnung »by doing« entsteht. Hoffnung bildet sich aufgrund eigener Tätigkeit in einer Krise als ein Gefühl und Bewusstsein, dass sie zwar scheitern kann, dass es sich aber lohnt, etwas zu wagen und für die Hoffnung zu arbeiten. Experten unterstützen diese Sicht von der Notwendigkeit des eigenen Engagements und der gleichzeitigen Unverfügbarkeit über das Erhoffte. Ich habe jedoch an jenem Maimorgen, der die Schreckensherrschaft der Nazis und die Bombennächte beendete, noch etwas Anderes erlebt. Ich sah die Angst und das Entsetzen in den Gesichtern der beiden Frauen. Denn für die meisten Erwachsenen kamen die Befreier als mögliche Richter. Das führt zu meiner ersten These. Das Erhoffte ist nicht nur unverfügbar – trotz des eigenen Engagements; es ist auch ambivalent. Der erhoffte Erlöser ist nicht nur Heiland, sondern auch Richter. Und man weiß nicht im Voraus, in welcher Rolle er einem erscheinen wird.

»Hoffnung einflößen«? Der amerikanische Psychotherapeut Irvin Yalom (1975) hat mit dem Begriff »Hoffnung einflößen« einen wichtigen Wirkfaktor in der Gruppentherapie beschrieben. Yalom verwendet diesen Terminus, um auszudrücken, dass man etwa Patienten Wege zur Hoffnung eröffnen muss, indem man sie z. B. mit anderen Patienten zusammenbringt, bei denen erfolgreiche Heilungsprozesse sichtbar sind. Das soll einen Effekt des Nacheiferns schaffen. Yaloms Vorstellung, dass man Hoffnung einflößen kann, hat etwas Irritierendes. Ist Hoffnung nicht eher eine innere menschliche emotionale und mentale Fähigkeit, die im Subjekt selbst entsteht und die vielleicht von anderen Menschen unterstützt, aber nicht von außen implantiert werden kann? Auf der anderen Seite, aus der Sicht der Gruppenanalyse, ist das Ich jedoch immer auch ein Ich-im-Wir. Es braucht die lebendige Person des oder der Anderen neben ihm. Und ebenso braucht das Ich den Anderen und die jeweilige in der Situation relevante Bezugsgruppe; man benötigt den Anderen als innere Realität in sich selbst, um sich zurechtzufinden. Das gilt auch für die Entstehung von Hoffnung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Einführung

Yalom verwendet für das »Einflößen« das englische Wort »instill« und spricht von der »instillation of hope« (Yalom, 1975, S. 6). Er betont für die Heilung des Einzelnen die Notwendigkeit, dass der Andere oder die Anderen »awaken hope in the patients« (S. 100). Interessanterweise hat das englische Wort »instillment« zwei unterschiedliche Bedeutungen. Es bedeutet den Akt des »Einträufelns« (durch einen anderen), aber auch »Eingebung«1. Durch eigene Eingebung entsteht Hoffnung im eigenen Ich. Die Erweckung der Hoffnung geht – das unterstelle ich Yalom – sowohl vom Patienten selbst wie auch von den Therapeuten, dem gesamten Personal und den Mitpatienten aus. Beides ist »entscheidend« (vgl. »crucial« bei Yalom, 1975, S. 6) für einen Heilungseffekt.

Die gruppenanalytische Sicht. Vergiftete Hoffnung – Eine Fallstudie Ich möchte meine These von der Hoffnung, die immer mit einem Gericht enden kann statt mit ihrer Erfüllung, mit einer kurzen gruppenanalytischen Fallstudie erhellen, anhand der ersten vier eineinhalbstündigen Sitzungen einer vierjährigen gruppenanalytischen Gruppe, die ich leitete. Ich verwende in dieser gerafften Vignette dabei zentrale Äußerungen verschiedener Gruppenteilnehmer ausschließlich dazu, den roten Faden der Dynamik der ganzen Gruppe herauszuarbeiten und nicht, um einzelne Individuen darzustellen. Die Ankunft des fremden Helden (das erste Gespräch) Im ersten Gruppengespräch wird der Gruppenleiter unisono und mit Bestimmtheit gebeten, etwas von seiner Tätigkeit »außerhalb der Praxis« zu erzählen. Ich habe den Eindruck, die Teilnehmer wissen bereits, wer ich bin, dass und was ich forsche und schreibe – wollen es aber trotzdem aus meinem Munde hören. Als ich ihrem Wunsch kurz nachgekommen bin und berichtet habe, dass ich in Frankfurt an der Universität unterrichte und in Westafrika und Papua Neuguinea Forschungen betreibe und dort auch gruppenanalytische Gespräche mit Jugendlichen führe, scheint die Gruppe befriedigt. Die Einzelnen stellen sich nun ihrerseits entspannt vor. Schlagartig ändert sich dann das Klima, als die Gruppe Leo, einen der Männer, angreift, der sich in 1 Cassel’s German & English Dictionary (1962). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

H. Bosse · Gruppenanalyse, Spiritualität und Hoffnung

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dem zurückliegenden Gruppenvorgespräch in den Mittelpunkt gestellt habe. Ihm wurde vorgeworfen, als Einziger auf der Anrede »Sie« zwischen den Teilnehmern untereinander bestanden zu haben. Außerdem habe er eine Kaffeekanne mit Tasse neben sich gestellt und sich damit in den Mittelpunkt gerückt. Dem folgen Geständnisse. Wie gern auch die anderen hier und jetzt im Mittelpunkt ständen, dass sie sich aber zu ohnmächtig fühlten, um etwas Entsprechendes zu unternehmen. Ein bedeutender Fortschritt in dieser allerersten Stunde ist, dass Clara ihren Neid auf Leo spürt, der sich erfolgreich in den Mittelpunkt gestellt hat. Sie spricht die Ohnmachtsgefühle aus, nicht selbst in den Mittelpunkt zu gelangen, wo ich sie sehen und »befruchten« soll.

Damit sich ein tragfähiges Arbeitsbündnis bilden kann, muss jede Gruppe im Anfangsstadium eine innere Bindung untereinander und an den Leiter entwickeln und so Kohäsion erzeugen. Dazu gehört auch ein ausreichendes Maß an Homogenität der Interessen, Fähigkeiten, Phantasien und Übertragungen. In der Vorstellung vom exotischen Helden nun, der aus fernen Ländern bei ihnen anlandet und sie mit seiner exotischen Großartigkeit befruchten wird (die sie phantasieren), hat die Gruppe eine erste gemeinsame Gruppenphantasie gefunden – eine Phantasie der Hoffnung. Ihre Befriedigung über den guten Fang, den sie da gemacht zu haben scheinen, eint die Gruppe und bindet sie aneinander und an ihren Leiter. Aber der Inhalt ihrer Phantasie bedroht zugleich Kohäsion und Homogenität, denn es scheint, als könne sich nur bei einem Einzigen die Hoffnung erfüllen: Nur einem von ihnen kann es gelingen, den Gruppenleiter an sich zu binden. Deshalb der erbitterte, lang andauernde Konkurrenzkampf der gesamten Gruppe um den einen Platz beim Leiter, den Leo im Vorgespräch scheinbar an sich gerissen hatte. Im Mittelpunkt des zweiten Gruppengesprächs stehen Aussagen darüber, wie die Teilnehmer die gruppenanalytische Situation und Tätigkeit erleben. Max empfindet das Austauschen von Intimem hier in der Gruppe wie »Fremdgehen«. Zu Hause bei seiner Frau könne er das fast nie. »Fremdgehen« wird zur Leitmetapher dieses Gespräches. Leo ergänzt, was er sich vom »Fremdgehen« verspricht. Er möchte dadurch in dieser Gruppe ein großer Mann sein und von mir angenommen werden. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Die Paarphantasie von der Erlösung durch Vereinigung mit dem Leiter verdichtet sich. Der Gründungsmythos vom exotischen Helden, den man anschauen will, hat sich erweitert zum Mythos vom Helden, den sie anfassen, den sie sexuell verführen, um dadurch selbst großartig zu werden. So wird der Gründungsmythos vom Gruppenleiter als Erlöser gleichzeitig zur Metapher von Abwehr und Widerstand wie auch von Progression und erster Erkenntnis. Thea eröffnet die dritte Sitzung mit der Bemerkung, ich hätte versprochen, ihnen, wie im Therapievertrag vorgesehen, mehrere Jahre zur Verfügung zu stehen. Aber, sagt sie: »Vielleicht sterben Sie ja schon vor Ablauf von vier Jahren.« Sie sagt das ganz tadelnd und fast hämisch, als sei ich ein unverantwortlicher Leichtfuß. Eine andere Teilnehmerin – Edelgard – beginnt daraufhin heftig zu weinen. Sie habe sich heute an den längst vergessenen Tod ihres drei Jahre älteren Bruders erinnert, der mit acht Jahren starb. Sie habe ihn auf den Tod gehasst, weil er ihr von den Eltern immer vorgezogen wurde, und fühle sich deshalb schuldig an seinem Tod. Sie habe große Angst vor ihrer Aggression in der Gruppe.

Kaum hat die Vereinigung mit dem Erlöser stattgefunden, ist er also quasi schon tot. Dass hier Mordphantasien Theas gegenüber dem Gruppenleiter vorliegen, darauf verweist die unmittelbar anschließende Erinnerung Edelgards, vielleicht mit ihrem Leid und Hass und ihrer Eifersucht ihren achtjährigen Bruder umgebracht zu haben. Mit Foulkes lesen wir diese Erinnerung als »unbewussten Kommentar« zur Äußerung der Vorsprecherin. In der vierten Therapiesitzung – und damit möchte ich die kleine Fallvignette schließen – sprechen Alice und Aida von Sterbephantasien, die sie vor Beginn der Gruppe hatten und die jetzt verschwunden sind. Theo will der Sexualität entsagen und wie ein Stein oder Wald werden. Thea erinnert sich daran, wie anders das in ihrer Kindheit war, als sie ihren Bruder in der Kinderkarre den Berg herunterstieß, um ihn umzubringen, und wie der sich später rächte und seinerseits den Leiterwagen den Berg herunterstieß, auf dem sie während der Weinlese stand. Wie durch ein Wunder überlebte sie diese Talfahrt. Traugott, der in den ersten drei Sitzungen geschwiegen hatte, beginnt zum ersten Mal zu sprechen. Er habe die ganze Stunde nur ein einziges Bild vor sich gesehen und an nichts anderes denken können: ein großes © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Feuer. Ob Menschen darin gewesen seien, wisse er nicht. Rudi möchte als Kosmonaut im Weltall herumfliegen.

Ich sehe in dieser vierten Sitzung einen großen Entwicklungsschritt. Die Einzelnen haben begonnen, zu ihrer eigenen Endlichkeit zu stehen. Sie erkennen sich als verwundbar und als aggressiv und destruktiv. Sie wollen mit mir daran arbeiten, in der Hoffnung, ihren Trieben weniger ausgeliefert zu sein. Und sie wollen nicht mehr wie zuvor durch einen geplanten phantasierten Inzest mit dem Therapeuten – dem »Erlöser« – unendlich werden. Stattdessen ist ihre Hoffnung nun, dass sie sich weiter verändern.

Ein gruppenanalytisches und religionswissenschaftliches Konzept, das sich auch der immanenten Aggressivität von Hoffnung annimmt Der englische Psychoanalytiker Bion, der gleichzeitig wie der deutsche Psychoanalytiker Foulkes die Gruppenanalyse in England begründete, entwickelte drei Szenarien, mit dem sich eine Patientengruppe aus ihrem Elend befreien will. Eines davon ist das Szenario der Hoffnung (Bion, 1961/dt. 1971). Bion beschreibt es so: Zwei Mitglieder einer von ihm geleiteten Patientengruppe kommen miteinander ins Gespräch. In manchen dieser Fälle drückt sich die Intensität ihrer Beziehung nicht in Worten aus. Erkennbar ist jedoch, dass beide aufeinander eingestimmt sind und dass die übrigen Teilnehmer dies wahrnehmen. In solchen Fällen pflegt die Gruppe in aufmerksamem Schweigen dazusitzen, ein Verhalten, das Bion überrascht, weil in anderen Fällen die übrigen Gruppenmitglieder dieses Zusammenspiel rasch beenden, um selbst wieder im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Was diese schweigende Aufmerksamkeit auslöst, sind nicht die gesprochenen Worte, sondern vielmehr ein sich ausbreitendes Gefühl der Hoffnung. Es herrscht eine erwartungsvolle Atmosphäre – das diametrale Gegenteil von Hass, Destruktivität und Verzweiflung. Bion glaubt, dass sich dieses Gefühl hoffnungsvoller Erwartung mit einer spezifischen Gruppenphantasie verknüpft. Diese scheint ihm notwendig, damit die Gefühle der Hoffnung sich aufrechterhalten lassen. Es ist die Phantasie eines noch ungeborenen Führers der Gruppe, eines Messias. Dieser kann ein Mensch oder ein Gedanke sein, der die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Gruppe eines Tages von ihrem Leiden befreien wird. An dieser »Gruppenannahme« von Bion ist zentral, dass sie in der Gegenwart ein Klima der Hoffnung schafft. Mit dem Erscheinen des Messias wäre das ersehnte Gefühl, dieser erwünschte Zustand vernichtet. Deshalb darf sich die Hoffnung nie erfüllen. Bion hat meines Erachtens jedoch die Funktion von Hoffnung in der Gruppe an einem wesentlichen Punkt nicht verstanden. Er glaubt, dass die in eine unerreichbare Zukunft projizierte Helferfigur dazu dient, die Hoffnung auf Heilung, auf Selbstverstehen etc. aufrechtzuerhalten. Er glaubt, dafür müssen Hass, Destruktivität und Verzweiflung, die er hinter dem euphorischen Gefühl der Gruppe sieht, abgewehrt werden. Bions Konzept von Hoffnung in der analytischen Gruppe scheint mir weder religionswissenschaftlich noch von der gruppenanalytischen Dynamik der Messiasphantasie her gesehen richtig erkannt. Die obige Fallvignette von den vier Erstsitzungen einer vierjährigen Gruppenanalyse zeigt nämlich erstens, dass der Messias in Gruppen nicht erst am Ende aller Zeiten erwartet wird, sondern jetzt im Moment der Gruppenarbeit erscheinen soll und dass er von der Gruppe dazu verwendet wird, bereits jetzt die Liebe, die Erfüllung und den Triumph zu erleben, vom Retter gerettet zu werden. Die Vignette zeigt außerdem, dass die Messiasphantasie gleichzeitig dazu verwendet wird, den Hass auf die Rivalen auszudrücken, destruktiv gegen andere vorzugehen und andere zur Verzweiflung zu bringen, statt ihr selbst anheimzufallen. Die Destruktivität, die zur Hoffnung gehört, ist von Anfang an am Werk, und sie bleibt immer präsent. Hoffnung, die sich auf einen erwünschten Messias stützt, das heißt auf eine mit Allmacht aufgeladene Figur, ist auch auf dem Hintergrund latenter oder manifester Bilder aus der Religions- und Herrschaftsgeschichte immer voller Erwartung und gleichzeitig auch voller Aggression auf den Rivalen der eigenen Hoffnung. Hoffnung enthält immer auch einen Kern von aggressivem Narzissmus: »Verschon mein Haus, zünd andere an!« Die Aufgabe der Gruppenanalyse ist also, die Destruktivität in der Gruppe so zu bearbeiten, dass sie als ungeliebte Schwester der Hoffnung erkennbar wird. Die innere Verbindung der Hoffnung mit der Destruktivität muss deutlich werden. Bion hat dagegen den Messias zu einem freundlichen, gütigen Herrn stilisiert. Er hat dabei übersehen, dass es die Aufgabe des Messias ist, am Tag des Jüngsten Gerichts zu erscheinen und »zu richten die Lebendigen und die Toten«. So heißt es im christlichen Glau© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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bensbekenntnis und ähnlich in den andern monotheistischen Religionen. Die einen werden mit unendlicher Seligkeit belohnt, die anderen mit unendlichen Qualen bestraft.2 In der normalen Hoffnungsvariante der Religionen wird erst in der Endzeit die Entscheidung gefällt, wer die Strafe des Horrors und wer die Belohnung mit Glückseligkeit empfängt. Im bewussten kulturellen Gedächtnis wie im unbewussten kollektiven Gedächtnis der Gesellschaften, die durch den Monotheismus geprägt sind, ist die Hoffnung auf eigene Errettung also immer infiziert mit der Erwartung der Gewalt an anderen und der Furcht vor eigener Bestrafung am Tage der Abrechnung. Im Übrigen wird der Messias, um den sich seine Jünger scharen, in der christlichen Religionsgeschichte erst zum Richter, nachdem er aus seiner Jüngergruppe heraus verraten und dann getötet wurde. Auf dieses Muster passt meine obige Fallvignette. Der Gruppenleiter wird zunächst vergottet, um dann umgebracht zu werden. Es ist eine Ironie der Theoriegeschichte des Hoffnungskonzepts in der Gruppenanalyse, dass Bion durch die Schriften der englischen Psychoanalytikerin Melanie Klein (1935/dt. 1975) auf das Thema der Hoffnung kam, aber den zentralen Gedanken Kleins dabei so verkürzt und verzerrt hat, dass er den immanenten Zusammenhang von Erlöser- und Richterphantasie nicht erkannte. Bion gewinnt seine These von der Hoffnungsphantasie der Gruppe aus einer gruppenanalytischen Erweiterung oder Übersetzung der von Klein herausgearbeiteten innerpsychischen Leistung des Kleinkindes, durch die das frühkindliche Ich Größen-»Phantasien«3 entwickelt, um sich aus der Abhängigkeit von inneren guten Objekten und dem Gefühl der Bedrohtheit durch innere böse Objekte und durch Triebimpulse zu befreien (vgl. Klein, 1935/1975, S. 277). Kleins Erkenntnis ist dabei, dass die Größenphantasien selbst von äußerst destruktiver Natur sind, sich 2 Assmann hat in seinem Buch »Die Mosaische Unterscheidung« (2003) Moses’ Befehl an seine Anhänger zitiert. Der Befehl heißt, die eigenen Kinder, Brüder und Schwestern und Eltern eigenhändig umzubringen, die dem neuen Glauben, den er verkündet, nicht folgen. Nur als Mörder dürfen sie hoffen, zu den Auserwählten zu gehören. Von Moses und seinen Anhängern wird das Jüngste Gericht schon jetzt vollzogen. 3 Ich setze das Wort »Phantasien« in Anführungszeichen, weil man im Lichte der neueren Säuglingsforschung nicht mehr davon ausgeht, dass der Säugling in den ersten Lebensmonaten Fähigkeiten zur Symbolbildung, also Phantasien, entwickelt. Klinisch nachweisbar ist stattdessen ein »Gefühl der Wirkmächtigkeit« (Dornes, 1993), das sich erst nach Monaten zu der Fähigkeit weiterentwickelt, sich von sich selbst als Motor von Handlungen eine Vorstellung zu machen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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also nicht auf das Bild der Hoffnung eigener Großartigkeit reduzieren lassen. Sie legt dar, dass sich die Größenphantasie in einer Position »manischer Abwehr« entwickelt. Das Ziel von Allmachtsphantasien ist es demnach, innere Objekte kontrollieren zu können, die das Ich als bedrohlich empfindet. Das sind zum einen gute innere Objekte, die beim Ich das Gefühl einer erdrückenden Abhängigkeit wachrufen, sodann schlechte innere Objekte und Triebimpulse, die als innere Verfolger des Ich erlebt werden. Klein (S. 277) zeigt, dass die Phantasie eigener Allmacht mit Verleugnung der Bedeutung und Macht der inneren Objekte einhergeht. In der Allmachtsphantasie werden innere Objekte zerstört oder mit Geringschätzung ihrer Bedeutung und mit Verachtung vom Ich behandelt (S. 278). Gruppenanalytisch gedacht, gilt die von Klein erkannte Destruktivität des Ich nicht nur eigenen inneren Objekten, sondern auch äußeren Objekten – also etwa Teilnehmern in einer Gruppe. Als destruktives Ich-im-Wir wirkt sie gegen die andern Ich oder ein anderes Ich-im-Wir. Tatsächlich finden wir in Paarbildungsgruppen nicht nur die Entwertung innerer Objekte, sondern auch anwesender »Realobjekte« – Gruppenteilnehmer, die den für die grandiose Paarbildung notwendigen abgespaltenen Teil der Gefühle von Wertlosigkeit, Verächtlichkeit und Bösartigkeit übernehmen müssen. Mit Hilfe des von Foulkes (1968) entwickelten Modells der verschiedenen Erlebnisebenen der Gruppe können wir uns diese Doppelseitigkeit der Hoffnungs- und Destruktivitätsphantasie auf verschiedenen Ebenen des Gruppenlebens vorstellen: auf der Ebene der frühen Teilobjekte und IchFunktionen als Geringschätzung, Verachtung, Zerstörung und Verfügbarmachung innerer Teilobjekte guten und bösen Inhalts; auf der Ebene kollektiver archaischer Symbole und Rituale etwa in Gestalt eines nebulösen Retters, der zugleich Richter ist, und schließlich auf der Ebene, auf der die Gruppe als Gesellschaft und Öffentlichkeit erlebt wird, als Phantasie einer mit zeitgenössischen Attributen von Macht und Mächtigkeit ausgestatteten Idee oder Person, die ebenfalls zugleich errettend und vernichtend auf den Plan tritt. Die These ist also: In einer gruppenanalytischen Gruppe geht die fiktive Gleichheit der Partner im kreativen Akt der Entwicklung einer Zukunftsperspektive der gemeinsamen Grandiosität einher mit der Konstruktion eines minderwertigen dritten Objekts. Dritte dienen als Objekt der Enttäuschung, die sich nur so aus den Grandiositätsphantasien vertreiben lässt. Geringschätzung und Verachtung, Zerstörung und Verfügbarhaltung des Dritten scheinen im Innern notwen© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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dig, um die Grandiosität aufrechtzuerhalten. Die Paarbildungsgruppe ist voller destruktiver Phantasien, die sich gegen Personen oder Ideen innerhalb oder außerhalb der Gruppe richten. Die freudige Gestimmtheit und Erregung, die in der Paarbildungsgruppe herrscht und die Bion in der Frühphase seiner Theorieentwicklung dazu verleitete, in ihr den Vorläufer und einen Bestandteil von Sexualität zu sehen (1961/1971, S. 110), geht einher mit Gefühlen des Triumphes, der Besonderheit, des Herausgehobenseins aus einer Welt anderer Ich-im-Wir oder anderer Individuen und Gruppen außerhalb des Wir, auf die man mit Verachtung und Geringschätzung herabblickt als einen des Paares und seines Anhanges in der Gruppe unwürdigen »Dritten«. Die Paarbildungsgruppe enthält damit selbst ein implizites Modell von Ungleichheit, Aggression, Gewalt und Destruktion, die sich gegen andere – etwa gegen Mitpatienten, ärztliches und betreuendes Personal u. a. – richtet. Dadurch erhält Hoffnung immer eine dunkle Seite, die in der Arbeit mit Klienten oder Patienten durchgearbeitet werden muss.

Krise und Hoffnung. Ethische Tätigkeit als liebevolle Schwester der Hoffnung in den Weltreligionen und in der Philosophie In der neuzeitlichen Philosophie seit Pascal und Spinoza, Kant und Hegel bis hin zu Bloch, Gehlen und Plessner ist Hoffnung immer an eine jeweils spezifische menschliche ethische Fähigkeit und Tätigkeit oder an den Vernunftgebrauch geknüpft. Die moderne Philosophie betont, dass Hoffnung einen Zustand der Wahrnehmung von Unverfügbarkeit des Erhofften darstellt. Das fügt sich zu meiner Interpretation, nach der Hoffnung immer auch die Möglichkeit des Scheiterns, ja der Katastrophe enthält. Man hofft, aber fürchtet, dass man zu den Verlorenen gehört. Dies Unverfügbarkeit zu definieren scheint mir eine Hauptrichtung der modernen Philosophie von Pascal und Spinoza über Kant, Hegel bis zu den modernen Philosophen Marx, Bloch, Gehlen und Plessner (Sandkühler, 1999). In den Weltreligionen fällt auf, dass Hoffnung sich jeweils auf eine spezielle Ethik stützt, deren Befolgung erst Hoffnung ermöglicht. Im Judentum ist es Gerechtigkeit, im Christentum die Nächstenliebe, im Islam der Gehorsam. Es sind innerweltliche Ethiken, wie Max Weber sie in seiner »Ethik der Weltreligionen« beschrieben hat. Die jeweilige ethische Grundhaltung geht dabei mit Enthaltsam© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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keit einher. Bei den drei monotheistischen Religionen spricht Weber von »innerweltlicher Askese«. Das heißt, die tätige Liebe gilt dem Nächsten, die Gerechtigkeit und der Gehorsam ebenfalls – und im Übrigen auch in allen drei Fällen dem unsichtbaren Gott, den man verehrt. Im Buddhismus gibt es den Begriff der »Hoffnung« im Sanskrit nicht. Auch der Sache nach gibt es weder die Hoffnung auf einen (göttlichen) Retter noch die damit unlöslich verbundene Angst vor einem Richter (Essler und Mamat, 2006). Der Buddhismus, dessen Lehre sich auf die Sanskrit-Texte stützt, spricht stattdessen vom Vertrauen darauf, dass die Stufe der vollen Erleuchtung – das Nirwana – durch Selbstverantwortung erreichbar ist. Das erfordert eine Kontrolle über Körper, Rede und Geist. In einem gewissen Sinn entsteht beim Individuum eine selbstbezügliche Hoffnung darauf, dass die Folgen seines Lebens vor Beginn des Erlernens von Selbstkontrolle (Karma) nicht zu schwer wirken, denn das vergangene Tun erzeugt Leiden auch im erlangten Zustand der Erleuchtung. Anders gesagt: Die eigene Endlichkeit wird nicht durch einen Retter abgestellt, sondern bleibt als Folge der eigenen Vergangenheit.4

Endlichkeit und die Hoffnung auf Unendlichkeit in den Weltreligionen In den monotheistischen Weltreligionen hofft der Gläubige auf die Vernichtung der Endlichkeit durch den Gott: »Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg«. In dieser Hoffnung liegt auch die oben erwähnte Aggression: »Lass mich unendlich werden und verschiebe meine Endlichkeit auf den Sünder.« 4 So verweisen Essler und Mamat (2006, S. 174) darauf, dass Buddha Sakiamuni gelegentlich davor gewarnt hat, das Gesetz von den Handlungen und ihren Auswirkungen auf eine »allzu billige Weise zu verstehen: Es geschieht nämlich durchaus dann und wann, dass eine Person ihr Leben lang gut gehandelt hat, dass ihr Weg nach dem Tod aber trotzdem zur Schattenseite im Samsara führt. Denn es können Umstände eintreten, die das sofortige Wirksamwerden jener Ursachen verhindern; dazu gehören insbesondere die beiden folgenden: (1) Diese Person hat aus ihrem früheren Leben noch hinreichend viele Eindrücke von zerstörenden Handlungen mitgeführt, die sich bisher noch nicht ausgewirkt haben, für die aber nun die Umstände zu ihrer Reifung vorliegen. (2) Diese Person ist in der Zeit ihres Sterbens auf eine verkehrte Anschauung abgeglitten, sei es in eine von Begehren geleitete oder sei es in eine von Hassen geleitete oder sei es eine von Irrung geleitete.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Im Buddhismus vertraut der Gläubige auf die Möglichkeit – nicht Garantie –, die Leerheit der eigenen Existenz erreichen zu können.

Spiritualität und Hoffnung Der modische und verbreitete Begriff der Spiritualität ist meines Wissens bisher nicht einschlägig definiert. Seine Verbreitung und Beliebtheit dürfte die Folge der Wende zur Neuzeit und Moderne sein, mit der nicht länger kollektive Weltauffassungen das geistige, moralische und soziale Leben der Individuen durch äußeren und inneren Zwang regeln. Mit der tendenziellen Individualisierung der Lebensentwürfe in der späten Moderne individualisiert sich auch das nicht abstellbare anthropologische Paradox, das vor der Moderne durch Institutionen aufrechterhalten und durch vorgeschriebenen Glauben und entsprechendes Handeln »aufgelöst« wurde. Ich spreche vom Paradox der im eigenen Leben erfahrenen Endlichkeit und der gleichzeitigen Hoffnung auf Unendlichkeit. Unendlichkeit tritt, anthropologisch gesehen, als nicht auslöschbare geistige Erfahrung des Menschen auf. Elementar ist diese Erfahrung bereits aufgrund der menschlichen Sprache und des menschlichen Vorstellungsvermögens, das erlaubt, die Differenz von Ich und Wir zu denken. Als »Ich« weiß ich um meine Sterblichkeit. Als »Wir« bin ich auch nach meinem Tod lebendig in einer Gruppe, die sich an mich erinnert. Spiritualität in ihrer weitesten Fassung ist nicht vor allem durch Lehre und Glauben bestimmt, ist nicht vor allem eine kognitive Leistung, sondern eine Haltung, sein Leben in einer ganz bestimmten Weise einzusetzen auf eine Hoffnung und auf ein Ziel hin, sei es Weisheit, Gesundheit, das Vollbringen eines bestimmten Werkes oder Auftrags, sei es eine Existenz nach dem Tod etc. Spiritualität ist eine Lebensführung, die Weber mit dem Wort »seinem Dämon folgen« bezeichnet hat. In diesem Verständnis gehören Fundamentalisten wie etwa die US-amerikanischen evangelikalen »Wiedergeborenen« ebenso zu den Spiritualisten wie Yoga-Anhänger. In der Ausprägung der Spiritualität zeigt sich dabei ein tiefer Graben, der sich durch die Religionsgemeinschaften hindurchzieht und ebenso durch private Initiativen. Ich sehe diesen Graben zwischen einer introspektiven und einer aggressiven Variante der Spiritualität. In der aggressiven Variante wird das Erhoffte erreichbar durch die letztliche und endgültige Aufhebung der eigenen Endlichkeit. Das © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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gilt in den traditionellen Religionsgemeinschaften – von den magischen Religionen in ethnischen Gesellschaften bis zu den Hochreligionen als erreichbar. Spiritualität bedeutet dabei einen zielvollen Weg mit der Hoffnung und Aussicht auf die Abschaffung der eigenen Endlichkeit. Die drei Hauptformen der aggressiven (und regressiven) Spiritualität lassen sich leicht in den drei gruppenanalytischen Annahmen Bions (in der von mir vorgeschlagenen Präzisierung) beschreiben: – Hoffnung auf Unendlichkeit durch gemeinsame Hervorbringung eines Erlösers (für einen selbst) und Richters (für andere), – Kampf zwischen Gut und Böse, – Hingabe an eine spirituelle Macht, von der man abhängig ist. Im Kampf zwischen Gut und Böse geht es darum, das Böse oder den Bösen und damit die Endlichkeit auf ewig zu vernichten. In der Situation einer absoluten Abhängigkeit von einer rettenden Kraft kann nur die Wiedergeburt helfen, die durch sich selbst Endlichkeit abschafft. In der gemeinsamen Hervorbringung des Erlösers und Richters kommt alles darauf an, in die Arme des Erlösers und nicht in die Hände des Richters zu fallen. In den Erlöserarmen wird man unsterblich, wie er selbst es bereits ist. Diese drei spirituellen Szenarien einer Hoffnung begegnen uns in der Gegenwart vor allem in fundamentalistischen Varianten, zu der ich auch die Sekten des »higher knowledge« zähle. Diese Sekten gewinnen Mitglieder, indem sie die Hoffnung auf eine höhere Einsicht des künftigen Mitgliedes wecken. Sie appellieren an einen erreichbaren Status, der nur Eliten vorbehalten ist. In derartigen Sekten bringen die alten Mitglieder und die Novizen zusammen mit ihren exorbitanten Beitragszahlungen selbst den Erlöser und Richter hervor – die Institution. Durch hohe Zahlungen und Inanspruchnahme teurer Kurse erschaffen und erhalten sie selbst die Erlöser und damit gleichzeitig ihre eigene Erlösung. Wollen sie sich jedoch wieder abwenden, tritt plötzlich die Institution als Richter und Verfolger hervor. Sie rettet nicht länger, sondern richtet. Für fundamentalistische Sekten besteht die Hoffnung auf eigenes Heil im erfolgreichen Kampf zwischen Gut und Böse sowie zwischen Guten und Bösen. Der Kampf gilt Areligiösen oder Anhängern anderer Religionen. Das zeigt sich an den evangelikalen Flügeln der christlichen Großkirchen und an den fundamentalistischen Flügeln der jüdischen und islamischen Religion. Hier zielt die Hoffung darauf, das Böse und damit die eigene Endlichkeit zu vernichten. Dazu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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wird, gruppenanalytisch gedacht, das eigene Böse nach außen verlagert in die Feinde Gottes. Der Fundamentalismus benötigt solche Feinde Gottes; er ist auf sie angewiesen. Die Vernichtung seiner Rivalen vor dem Thron Gottes sichert dem Fundamentalisten erst den Platz bei Gott. Hoffnung entsteht durch die Aussicht, das Böse und die Bösen zu vernichten. Die Grundannahme dieser Richtung zielt auf eine quasi religiöse Müllverbrennung und Abfallbeseitigung. Die Luft ist erst wieder rein, wenn das und die Bösen vernichtet sind. Die dritte spirituelle Grundannahme geht von der eigenen Schwachheit und daher von der unbedingten (»schlechthinnigen«) Abhängigkeit von einer rettenden Kraft (Schleiermacher) aus. Wir finden sie etwa bei deutschen Pietisten und amerikanischen »Wiedergeborenen«. Hier wird die Wiedergeburt von Gott geschenkt. Die bösartige menschliche Substanz verwandelt sich in Charisma. Aus dem Abfall der Menschheit wird in einer Art religiösem Recycling ein neuer Mensch. Im Unterschied zu diesen magischen und gewalttätigen Verwandlungen gibt es eine Art heilender Spiritualität. Als Religionssoziologe und Gruppenanalytiker sehe ich hier drei Formen. 1. Dem Lebensgefühl einer unbedingten Abhängigkeit von einer rettenden Kraft, die in der traditionellen Religion von einer Gottheit ausgeht, entspricht in der introspektiven spirituellen Variante eine Hoffnung, von einer anderen Person, einer Gruppe oder einer spirituellen Kraft eine Gabe zu empfangen, die sich der Hoffende nicht selbst besorgen kann. Ich glaube, dass die Rolle des Anderen dabei, nicht religiös definiert, darin besteht, die Selbstheilungskräfte des Hoffenden zu unterstützen, ihn auf sie aufmerksam zu machen – auf das, was er/sie an Kräften hat, was ihm jedoch verborgen und noch nicht entdeckt ist. In dieser Beziehung von Hoffendem und demjenigen, auf den sich die Hoffnung richtet, scheint mir das Schwierigste darin zu liegen, dass der Hoffnungsträger nichts geben darf, sondern etwas finden können muss im Anderen, das bereits heilt. Es ist seine Aufgabe, seine Freude so auszudrücken, dass der Andere mit ihm die Freude teilt. Die gruppenanalytische Erfahrung, dass in Gruppen eine Hoffnung auf radikale Veränderung durch die Phantasie entsteht, dass ein künftiger Messias (und Richter) von Mitgliedern der Gruppe gezeugt und empfangen wird, der die Gruppenteilnehmer von ihrem Elend, ihren Schwächen und Leiden erlösen wird, ist der traditionellen Religion abgeschaut. Wie kann man sich im tradi© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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tionellen religiösen Rahmen jedoch vergewissern, dass man erlöst und nicht einst gerichtet wird? Dem Gerichtet werden vorzubeugen dienen vor allem Rituale. Gebetsformeln und -routinen wie auch die religiöse Durchritualisierung des Alltagslebens wie im nachexilischen orthodoxen Judentum sollen den neuen Menschen bereits erschaffen, ehe der Erlöser und Richter auf den Plan tritt. Die Routinen des Gott wohlgefälligen Lebens sollen den Richter vor vollendete Tatsachen stellen, so dass es zu keiner Verurteilung kommt. Diese Rituale müssen ständig wiederholt werden, damit eine unumstößliche Kette des Gehorsams und der Achtung der göttlichen Gesetze sichtbar wird. Das Ritual wird so zu einem Modus des Selbst-Erzeugens oder Gebärens heilender Kräfte. Erlösung und Verschonung werden im traditionellen Rahmen von Religion so über die rituelle Verwandlung des Subjekts wirksam, die wieder und wieder wiederholt werden muss. 2. In einer milderen Variante gehen die selbstgeschaffenen oder von anderen übernommenen, individuellen oder mit Andern geteilten Ritualisierungen, an die sich Hoffnungen der Erlösung knüpfen, nicht von der Idee aus, dass ein kontinuierlicher Gehorsam die Erlösung quasi erzwingt und ein Eintreffen des Erhofften garantiert. Die Hoffnung richtet sich vielmehr darauf, dass im Akt der Ritualisierung selbst eine Erfüllung von Hoffnung eintritt, dank des Vollzugs einer selbstgewählten Form und eines selbstbestimmten Inhalts der Ritualisierung. Im Unterschied dazu entwickeln in der kreativen spiritualistischen Variante Individuen und Gruppen autonom eigene Ritualisierungen wie Yoga, Tanz, Wandergruppen etc. Sie entwickeln individuelle, nicht vorgeschriebene Tätigkeiten; diese stärken die eigene gewünschte Lebensweise und erzeugen Lust am Leben. In diesem Modus entstehen autarke Ritualprogramme, oft mit professioneller Unterstützung und Gruppenbindung. Nicht Verwandlung, sondern Selbstveränderung durch stetige Übung ist das Ziel. Die Yogaübung erzeugt selbst noch durch eine unvollkommene Konzentration auf den eigenen Körper und durch die Entleerung des eigenen Denkens ein Glücksgefühl und eine Verinnerlichung ethischer Werte. Dabei richtet sich Hoffnung nicht auf einen Erlöser. Sie entsteht vielmehr laufend neu durch die Erinnerung an das Glücksempfinden, ausgelöst durch eine Übung in der unmittelbaren Vergangenheit des Augenblicks. Das Geheimnis dieser Form einer ritualisierten Spiritualität ist vielleicht die Entdeckung, dass © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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die Endlichkeitserfahrung, die mit jeder Übung einhergeht, weil Geist und Körper an ihre Grenzen von Konzentrationsfähigkeit und Körperbeweglichkeit stoßen, nicht in eine Endlichkeitserfahrung der Stagnation mündet, sondern mit einem Erleben von Veränderung und Veränderungsfähigkeit einhergeht. Die aufgeklärte spirituelle Hoffnung hängt also von der Erfahrung ab, dass Eigenveränderung durch ritualisierte, das heißt ständig wiederholte Übung ohne Aufhebung der eigenen Endlichkeit möglich ist. Im Gegenzug lebt die fundamentalistische Hoffnung vom Glauben an die Möglichkeit einer magischen Ausschaltung der eigenen Endlichkeit. 3. Der dritte Modus, durch den Hoffnung entsteht, liegt bei der traditionellen Religion im Kampf um die alleinige Macht der Definition des Heils – der Unendlichkeit. Anhänger anderer Heilsdefinitionen müssen vertrieben oder ausgeschaltet werden. Dieser Kampf um die Deutungshoheit vor allem zwischen den monotheistischen Religionen und auch ihren Unterabteilungen und Richtungen führt zur Vergötzung dogmatischer Unvernunft durch die Vergötzung von (Heiliger) Schrift und selbst ihrem einzelnen Wort. Der amerikanisch-evangelikale Kreationismus, der die biblische Darstellung der Erschaffung der Welt nach Inhalt und Zeitdimension wörtlich nimmt, ist ebenso wie die Unantastbarkeit des einzelnen Buchstabens des Korans ein Beispiel dafür. Demgegenüber zeichnet sich der aufgeklärte Spiritualismus durch Toleranz gegenüber Andersgläubigen und sogenannten Nichtgläubigen aus, ebenso durch die Bereitschaft, zwischen den Religionen gemeinsame Grundannahmen zu finden – wie etwa die Annahme der eigenen Endlichkeit, und das heißt: Irrtumsfähigkeit, Lernfähigkeit und Respekt. Man kämpft weder, noch flieht man.

Schlussbemerkungen Die gruppenanalytische Praxis und die introspektive Variante von Spiritualität verfolgen ein ähnliches Ziel: die drei »Gruppen(Grund-) annahmen« hinter sich zu lassen – Kampf und Flucht, Abhängigkeit sowie die »Paargruppe der Hoffnung« von Erlöser und Erlösten ebenso wie die »Paargruppe des Grauens« von Richter und Gerichteten. Hoffnung entsteht, ohne dass man kämpft oder flieht; ohne dass man als hilfloses Wesen einen mächtigen Retter hat und ohne dass man selbst zum Retter der Welt wird. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Einführung

Wir dürfen ruhig etwas buddhistischer werden. Wenn wir auch nicht gleich die Leerheit der eigenen Ich-Existenz annehmen können oder wollen, so können wir doch die Rettungs- und Selbstrettungsphantasien aufgeben, die uns die Gewissheit eigener Unendlichkeit verschaffen sollen. Die Hoffnung gilt dem nächsten Tag. Max Weber rät dem Politiker, dicke Bretter zu bohren. Dieser Rat gilt allen Hoffenden. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass wir diese Bretter auch durchbohren müssen oder können. Hoffnung kann unter zwei grundsätzlich verschiedenen und unvereinbaren Grundannahmen entstehen. Im ersten Fall entsteht Hoffnung auf Unendlichkeit durch Aufhebung der erfahrenen eigenen und fremden Endlichkeit. Dieser Hoffnungstyp verkörpert sich in den Weltreligionen und spiegelt sich in den klassischen gruppenanalytischen »Grundannahmen«, die aufzuheben Ziel der gruppenanalytischen Selbsterfahrung und Veränderung ist. Ein anderer Hoffnungstyp entsteht aus einer Endlichkeitserfahrung, die nicht als aufhebbar gilt, aber Möglichkeiten der Veränderbarkeit im Rahmen der eigenen Endlichkeit zulässt. Veränderungen entstehen dadurch, dass man etwas Körperliches, Emotionales oder Mentales, Unbewegtes oder Unbewegliches an sich selbst oder an Anderen zu bewegen sucht und die Erfahrung macht, dass es sich verändert. Aus dieser Erfahrung entsteht Hoffnung weiterer Veränderbarkeit, die die eigene Endlichkeit und die des Anderen nicht negiert, sondern voraussetzt. Diesen Hoffnungstyp vertritt die Gruppenanalyse. Sie setzt die jeweilige Geprägtheit und biografische Festgelegtheit der individualen und Gruppenidentität voraus. Ihre Arbeit beruht jedoch auf der Hypothese, dass die Auseinandersetzung mit der gewordenen Biografie durch Erinnerung und Durcharbeitung in der Gruppe Veränderungen ermöglicht, ohne die Gewordenheit des Einzelnen zu verleugnen. Ihre Arbeit besteht darin, dass sie die ursprüngliche Hoffnung des Patienten, jedes Gruppenteilnehmers, durch magische, rituelle oder argumentierende Mittel das Ich und Wir zu verwandeln, in die Erfahrung überführt, dass autobiografische Erinnerung, Einfühlung in den Anderen, Spiegelung durch die Anderen etc. eine neue Sicht und einen neuen Umgang mit dem eigenen Selbst ermöglichen. Diese gruppenanalytische Erfahrung besteht vor allem in der doppelten Erkenntnis des eigenen Selbst als sowohl festgelegt und damit endlich wie auch gleichzeitig durch die neue Erfahrung verändert und veränderbar und in diesem Sinne nichtendlich. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

H. Bosse · Gruppenanalyse, Spiritualität und Hoffnung

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Gruppenanalyse ist insofern eine Praxis, die zentral mit der Entstehung von Hoffnung verbunden ist. Denn die Hoffnung des Ich auf Veränderung entsteht gerade durch die gruppenanalytische Erfahrung der eigenen Gewordenheit und Geprägtheit des Charakters, des Selbst. In der Anerkennung dieser Gewordenheit verändert sich das Selbst. In der Kommunikation mit der Gruppe verändert sich das alte, in den früheren Gruppenerfahrungen (Familie, Schule, Beruf etc.) entstandene Ich-im-Wir. Die Erfahrung der Veränderung der einzelnen Gruppenmitglieder und der gesamten Gruppenkommunikation erweckt nicht nur im Einzelnen die Hoffnung auf ähnliche Veränderungen in seinen anderen Lebensräumen, sondern färbt auch auf andere Gruppensituationen des Einzelnen ab. Die Selbsterfahrungs- oder therapeutische Gruppe wird für den Einzelnen selbst zu einem Modell, wie man in anderen Gruppen erfolgreich zusammenarbeiten, wie man etwas verändern und Neues schaffen kann. Auch in diesen künftigen Gruppenzusammenhängen des Einzelnen gilt, was für die gruppenanalytische Gruppe galt: Kreative Veränderung der Gruppe gelingt nicht durch Hoffnung auf Magie, sondern durch Hoffnung, die von den Festgelegtheiten und Unveränderbarkeiten ausgeht – der Anerkennung der eigenen Endlichkeit – und die die Spielräume der Endlichkeit auslotet und ausweitet. Beginnt man bei den eigenen Spielräumen im Festgelegten, braucht man weder rettende Erlöser, noch muss man Richter fürchten.

Literatur Assmann, J. (2003). Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München: Hanser. Bion, W. R. (1961/1971). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett. Cassel’s German & English Dictionary (1962). London: Cassell. Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M.: Fischer. Essler, W. K., Mamat, U. (2006). Die Philosophie des Buddhismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Foulkes, S. (1968/1971). Dynamische Prozesse in der gruppenanalytischen Situation. In A. Heigl-Evers (Hrsg.), Psychoanalyse und Gruppe. Göttingen u. Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht. Klein, M. (1935/1975). A contribution to the psychogenesis of manic-depressive states. In: The writings of Melanie Klein, vol. 1 (pp. 262–289). London: Hogarth Press. Sandkühler, H.-J. (Hrsg.) (1999). Hoffnung. In: Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: F. Meiner Verlag. Yalom I. D. (1975). The theory and practice of group psychotherapy (2nd edition). New York: Basic Books, Inc. Publishers. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Generationsfolgen und der Weg der IDG

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Michael Geyer

Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe5

Zu unserem Thema gehört eine Erinnerung an die besondere gesellschaftspolitische Situation in Ostdeutschland zwischen 1945 und dem Ende der 1960er Jahre. Als junge angehende Psychiater, die wir in erster Linie psychotherapeutisch arbeiten wollten, interessierte uns die Psychoanalyse als Grundlage für eine Psychotherapie, wie wir sie uns vorstellten. Im Osten waren jedoch die Voraussetzungen für die Entwicklung einer psychoanalytisch begründeten Psychotherapie sowohl in personeller und organisatorischer als auch in politischer Hinsicht besonders ungünstig. Nach einer kurzen Zeit der Liberalisierung an den Universitäten zwischen 1945 und 1947, als beispielsweise in Leipzig, Greifswald und Berlin zunächst durchaus vielversprechende Bestrebungen in Gang kamen, psychoanalytische Lehrbereiche und Professuren zu etablieren, versuchte die SED als herrschende Regierungspartei spätestens Anfang der 1950er Jahre insbesondere diejenigen Fachbereiche und Wissenschaften an den Hochschulen unter Kontrolle zu bringen, die eine gewisse Nähe zu Fragen der Weltanschauung und des Menschenbildes besaßen. Das galt auch für die Psychoanalyse. In den 1930er Jahren war sie in der Sowjetunion brutal verfolgt worden und es ist nicht verwunderlich, dass sie spätestens ab 1947 auch in Ostdeutschland als bürgerliche Pseudowissenschaft denunziert wurde, die zum historischen Materialismus von Karl Marx in Konkurrenz gesehen wurde. Sie galt zudem als erhebliches Hindernis bei der Anfang der 1950er Jahre im Osten versuchten Sowjetisierung der Psychotherapie in Form der Übernahme Pawlow’scher reflexologischer Methoden. Es besitzt eine eigene Tragik, dass besonders diejenigen Psychoanalytiker, die führende Positionen im Staatswesen der DDR einnahmen, ich nenne nur Müller-Hegemann, Mette oder Hollitscher, sich auf besondere Weise mit ideologischen Angriffen gegen die Psychoanalyse hervortaten (Geyer, 2003). 5 Überarbeitete Version eines Vortrages auf dem Symposium der Sektion IDG des DAGG aus Anlass des 65. Geburtstages von Heinz Benkenstein, Berlin, 8. April 2006. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Generationsfolgen und der Weg der IDG

Selbst Begriffe wie »Psychoanalyse«, »Psychosomatik« oder »Unbewusstes« wurden eine gewisse Zeit geächtet. Der Begriff »psychoanalytisch« kam erst über den Umweg »psychodynamisch« bzw. »dynamisch« in den 1970er Jahren wieder in Gebrauch. Der Begriff des »Unbewussten« wurde in den Höck’schen Schriften zur Gruppendynamik auf dem Umweg über die sowjetischen – eigentlich georgischen – Persönlichkeitstheorien Usnadses und Galperins, insbesondere deren ganzheitlichen Begriff der »Einstellung«, reimportiert (Höck, 1981). Die Psychoanalyse war in der Zeit, in der wir unsere Ausbildung absolvierten, immer noch eine hochpolitische Angelegenheit. Ein in unserer heutigen hochbürokratisierten Bildungslandschaft sozialisierter Psychotherapeut kann kaum nachvollziehen, dass wir uns mit diesen Konzepten in erster Linie aus tiefer Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen Verhältnissen beschäftigten und von großer Hoffnung erfüllt waren, die Welt um uns herum – nicht nur unsere berufliche Tätigkeit – damit verändern zu können. In den ersten Jahren unserer frühen beruflichen Sozialisation – ich war seit 1964 Doktorand der Erfurter Nervenklinik und in Kontakt mit der »Psychoszene« – hatten wir kaum Möglichkeiten, Psychoanalytiker bei der Vermittlung von Theorie oder in Supervision und Behandlung zu erleben. Trotzdem waren wir im Bilde. Wir lasen die wesentlichen westlichen Fachzeitschriften, die fast lückenlos in der Klinikbibliothek vorgehalten wurden und deren aktuelle Ausgaben in Mappen von Station zu Station wanderten. Wie wir standen alle Europäer vom Ural bis an den Atlantik damals mit dem Gesicht nach Westen. Die Westdeutschen schauten auf die USA, die Ostdeutschen auf Westdeutschland und die USA. Unser Blick suchte besonders die Alternative zur ideologisch kontaminierten Fachwissenschaft. Das Bekenntnis zu Freud war für uns gleichzeitig die Zurückweisung Pawlows, dessen »Schlaftherapie« als therapeutischer Ansatz schon durch die Praxis desavouiert war. Und Pawlow stand damals nicht zuletzt für die Sowjetisierung der Psychiatrie. Allerdings mussten wir uns die psychoanalytische Theorie und Praxis zunächst durch Literaturstudium, Kongressbesuche und Selbstversuche aneignen und auf diese Weise eine eigene psychoanalytische Kultur entwickeln. Wir waren angewiesen auf Identifikationsfiguren und Kontakte mit einigen Psychoanalytikern, die noch da waren oder zu den spärlichen Kongressen kamen. Ein in diesem Sinne entscheidendes Ereignis war das von Kurt Höck vom 20. bis 22.1.1966 in Ostberlin veranstaltete Internationale © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

M. Geyer · Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe

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Symposium über Gruppenpsychotherapie, auf dem sich erstmals nach dem Mauerbau Gruppenpsychotherapeuten aus Ost und West trafen.6 Ich befand mich am Ende des Medizinstudiums und es war das erste Mal, dass ich überhaupt einen internationalen Kongress besuchen konnte. Jürgen Ott, damals bereits Stationsarzt der Erfurter Nervenklinik, hatte diese Reise organisiert und wir waren nachhaltig beeindruckt von Psychoanalytikern wie Annelise Heigl-Evers7, Helmut Enke oder Raoul Schindler und der Art und Weise ihres Umgangs mit uns Anfängern (Ott und Geyer, 2003). Dies war für uns der wesentliche Anstoß, ebenfalls gruppenpsychotherapeutisch zu arbeiten. In zahlreichen Gesprächen mit gleichgesinnten Kollegen der Klinik reifte in den folgenden Monaten der Plan, selbst analytische Gruppen durchzuführen. Als Voraussetzung sollte ein gemeinsames Literaturstudium und eine Gruppenselbsterfahrung absolviert werden. Im Mai 1968 bildete sich dann unter Leitung von Jürgen Ott eine erste Gruppe, die sich anfänglich jeden Donnerstag in der Klinik, nach dem Verbot der Gruppentreffen in der Klinik dann abwechselnd in der Wohnung jedes Gruppenmitgliedes traf und zunächst 6 Anwesend waren aus der ČSSR F. Knobloch, J. Knoblochova, J. Rubes, J. Skala, aus Polen St. Leder, Z. Miniewski, aus Ungarn Böszörményi-Nagy, aus Jugoslawien O. Horetzky, V. Hudolin, aus England M. Jones, aus Österreich R. Schindler, aus der Bundesrepublik Deutschland U. Derbolowsky, H. Enke, E. Ferchland, A. Heigl-Evers, G. Wittich und aus der DDR J. Burkhardt, K. Höck, G. Israel, W. König, D. Müller-Hegemann, D. Vater, H. Wendt, die ihre jahrelangen Erfahrungen über die Anwendung der Gruppenpsychotherapie in Klinik und Praxis austauschten. 7 Es sei am Rande erwähnt, dass außer der wissenschaftlichen Diskussion der Gruppenexperten aus Ost und West Annelise Heigl-Evers in vielen Einzelgesprächen bemüht war, ihren Plan voranzubringen, einen Deutschen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik (DAGG) ähnlich dem 1959 von Raoul Schindler initiierten »Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik« (ÖAGG) und eine gleichnamige Zeitschrift zu gründen. Der Deutsche Arbeitskreis war dann bald gegründet, aber aus den bekannten politischen Gründen ohne Gruppenpsychotherapeuten der DDR. Erst im Jahre 2000, 34 Jahre später, 10 Jahre nach der Wende, wurde nach langwierigen Verhandlungen schließlich die Nachfolgeorganisation der Ostdeutschen Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie, der Deutsche Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG – heute formal Sektion IDG) als sechste eigenständige Gruppierung gleichberechtigtes Mitglied des DAGG. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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nur die psychoanalytische Literatur referierte und diskutierte. Nach einem mehrmonatigen Übergangsstadium, in dem sich herausstellte, dass alle – trotz erheblicher Schwierigkeiten – ernsthaft an der Arbeit interessiert blieben, formierte sich 1969 die Gruppe zu einer psychoanalytisch orientierten Selbsterfahrungsgruppe. Der formale Ablauf eines solchen Gruppenabends widersprach einigen heute in Selbsterfahrungsgruppen geltenden Regeln: Nach einem mehr oder weniger deftigen Dinner, bei dem nicht selten gewaltige Mengen Fleisch verzehrt wurden, wurde ein psychoanalytisches Thema im Rahmen eines langfristig festgelegten Planes referiert und diskutiert. Gegen 22:00 Uhr begann dann der Selbsterfahrungsteil, der den Charakter eines gruppendynamischen Prozesses mit extrem geringer Leiterzentrierung hatte und entsprechend »dynamisch« verlief. Von diesem eigentlichen Gruppenselbsterfahrungsteil wurde ein Tonbandmitschnitt angefertigt. In der Regel ging die Gruppe nach eineinhalb Stunden in eine Reflexionsphase über, in der wir uns über das Erlebte zu verständigen versuchten. Auch unsere Praxis veränderte sich. Parallel zur Gruppenselbsterfahrung begannen wir (siehe z. B. Ott, Geyer und Schneemann, 1972) mit unterschiedlichen Gruppen aus der Psychiatrie und Kinderpsychiatrie zu experimentieren, die wir überwiegend auf der Grundlage des analytischen Gruppenkonzeptes von Annelise HeiglEvers (Heigl-Evers, 1966, 1967a, 1967b) mit guten Ergebnissen durchführten. Ich konnte 1971 bereits kurz nach meiner Facharztprüfung mit dem Aufbau einer ambulant, tagesklinisch und stationär arbeitenden Psychotherapieabteilung beginnen, die entsprechende institutionelle Möglichkeiten der praktischen Umsetzung unserer gewonnenen Erfahrungen bot. Im Gegensatz zu den meisten Berichten über die Vergangenheit verfügen wir in diesem Fall über eine schriftliche Berichterstattung direkt aus dieser Zeit in Form einer Publikation in der Fachzeitschrift der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie und der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, die zwar durch unsere Vorgesetzten ziemlich entschärft wurde, jedoch immer noch unsere Ziele und Absichten deutlich werden lässt (Ott und Geyer, 1972). Der 1972 publizierte Bericht bezieht sich auf die ersten 16 Monate von insgesamt neun Jahren, die die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe dauerte. Zunächst bestand sie aus neun Mitgliedern, die ausschließlich aus der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt stammten. Es handelt sich um Rolf Abendrot (gestorben 1997), Sieg© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

M. Geyer · Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe

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fried Endler (gestorben 2007), Michael Geyer, Roland Küstner, Eckehard Müller (gestorben 1998), Jürgen Ott (gestorben 2003), Karin Schneemann, Günther Witzenhausen und Wilfried Zeuke. Im Zeitraum zwischen 1970 und 1972 verließen sechs Mitglieder die Gruppe, da sie sich beruflich anders orientierten (Abendrot, Endler, Müller, Schneemann, Witzenhausen, Zeuke), dafür wurden fünf neue Mitglieder aus Leipzig und Bernburg aufgenommen: Hermann Fried Böttcher, Anita Kiesel (später Wilda-Kiesel), Renate Lindt und Christoph Schwabe aus Leipzig sowie Hans-Joachim Maaz aus Bernburg. Kurzzeitig gehörten der Gruppe Gisela Garms (Mühlhausen, später Erfurt) und ab 1975 Paul Franke (Magdeburg) an. Insgesamt hatte sie im Laufe der Zeit also 16 Mitglieder, vier Frauen und zwölf Männer. Im Laufe der Zeit änderten sich die zeitlichen und inhaltlichen Abläufe. Ab 1972 konzentrierten wir uns nur noch auf die Selbsterfahrung. Nach der Aufnahme der auswärtigen Kollegen wurden die Treffen zunächst 14-tägig, später – ab 1974/75 – meist im vierwöchigen Rhythmus durchgeführt, da wir durch eigene Weiterbildungsaufgaben nicht zuletzt in den Ausbildungskommunitäten stark beansprucht waren. In der Publikation (Ott und Geyer, 1972) wird nach 16 Monaten folgendes Resümee über unsere Arbeit gezogen: »Bei der Bearbeitung des Tonbandmaterials konnten wir deutlich sich abgrenzende Themenniveaus beobachten. Besonders in der ersten Etappe war zu erkennen, dass sich ähnlich wie bei den Therapiegruppen, wo als Widerstand gegen angst- und spannungssteigernde Situationen oberflächliche Konversation, Besprechung von organisatorischen Problemen, Mitteilung von Symptomen und das Vortragen der eigenen Somatogenie-Theorie sich bemerkbar machen, in der SEG [Selbsterfahrungsgruppe, Anm. d. Autors] häufig ein Abgleiten in Fachsimpelei stattfand. Psychologische Kenntnisse wurden dann benutzt, um Themen zurückzuhalten, die die Mitglieder als unvereinbar mit ihrer professionalen Identität und ihrem sozialen Status erachteten. So benötigte z. B. eine sexuelle Problematik mehrere Stunden, bis sie von der Gruppe nicht mehr abgewehrt wurde. Leichter gelang die Durcharbeitung von Geltungsproblematik und Autoritätskonflikten. Die Bevorzugung von Angeboten aus diesem Bereich ergab sich häufig aus aktuellen persönlichen Schwierigkeiten im Rahmen der täglichen Arbeit in der Klinik. Es erwies sich immer wieder als schwierig, den ›therapeutischen‹ vom ›didaktischen‹ Aspekt zu trennen. Auch in der Literatur wird immer wieder auf die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Gefahr hingewiesen, dass man die SEG als Therapiegruppe handhabt. Aufgrund der ungenügenden Erfahrungen mit Selbsterfahrungsgruppen wurde der didaktische Aspekt der Gruppenfunktion in diesen Situationen durch den Gruppenleiter nicht immer genügend in den Vordergrund gerückt.« Als wir die Gruppe ins Leben riefen, ging es uns keineswegs nur um die Verbesserung unserer therapeutischen Kompetenz, obwohl im Artikel als wesentliches Motiv der Wunsch nach Ausbildung genannt wird und insofern die Gruppe den Charakter einer Selbsthilfegruppe hatte. Es ging uns um eine andere Orientierung, als sie uns von den Autoritäten um uns herum angeboten wurde. Das, was wir uns als Wissen aneigneten, und das Erleben des Gruppenprozesses selbst legten schonungslos die Defizite unserer bisherigen Ausbildung bloß. Für die meisten von uns war das Erleben eines in allen Einzelheiten besprechbaren, fast naturgesetzlich anmutenden Gruppenstrukturierungsprozesses ein enormer Gewinn, der sich unmittelbar auf Selbstverständnis und therapeutische Arbeit auswirkte. Wir verstanden unsere Patienten und uns selbst auf eine neue Weise und erlebten einen starken Kontrast sowohl zur Unangemessenheit als auch Banalität herkömmlicher Konzepte und Erklärungsmuster, wie sie von unseren Vorgesetzten vertreten wurden. Unser Klinikchef, Richard Heidrich8, war uns prinzipiell wohlgesonnen, stand jedoch unter starkem Druck einiger seiner der SED 8 1958 wurde Richard Heidrich auf den Neuropsychiatrischen Lehrstuhl in Erfurt berufen. Nach dem Studium der Medizin (Berlin) und Philosophie/ Psychologie (Berlin/Würzburg) begann er seine nervenärztliche Ausbildung zunächst bei Lemke in Jena und führte sie ab 1950 an der Charité bei Thiele zu Ende. Obwohl er sich früh seinem eigentlichen Spezialgebiet der Neuroradiologie und Neuropathologie widmete und konsequent seine wissenschaftliche Position in der Neurologie ausbaute, beschäftigte er sich ebenfalls frühzeitig mit den suggestiven Methoden, hielt den Studenten der Medizin und der Psychologie bereits 1951 die erste Spezialvorlesung über Autogenes Training, die an einer deutschen Universität gehalten wurde, bot kontinuierlich Studenten ein klinisches Psychotherapie-Praktikum an allen Sonnabenden des Semesters an, das weithin bekannt war. Ihn faszinierte besonders die Psychoanalyse. Folgerichtig wurde er Kandidat des Westberliner Instituts für Psychotherapie (H. Schultz-Hencke), absolvierte eine Lehranalyse und besuchte die Lehrveranstaltungen des Instituts. Auf diese Weise gehörte er, gemeinsam mit Höck, Burkhardt, Beerholdt und auch Wendt, zu jener kleinen Gruppe ostdeutscher Fachkollegen, die immerhin dafür sorgten, dass die Traditionslinie der deutschen Psychoanalyse im Osten nicht völlig abbrach, als die Psychoanalyse in den 1950er Jahren ideologisch unter Verdikt geriet (Geyer, 1991). In Erfurt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

M. Geyer · Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe

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nahestehenden Oberärzte und Abteilungsleiter, von denen einige als IM mit dem speziellen Auftrag meiner Bespitzelung in meiner Stasiakte auftauchen. Die geschilderten Konflikte trugen wir in erster Linie mit diesen Mitarbeitern aus, während unser Klinikchef Heidrich Jürgen Ott und mir große Freiräume einräumte. Unsere direkten Vorgesetzten spürten unser Anderswerden, reagierten teils misstrauisch, teils anerkennend. Es entwickelte sich eine eigene Kultur, eine gemeinsame Identität, wie sie nur in speziellen Gruppen als Ergebnis tiefgreifender regressiv-identifikatorischer Prozesse entsteht. An dieser Stelle muss ich etwas zur Geschichte des obengenannten Artikels einfügen. Es handelte sich bei dieser Publikation um die abgespeckte – man könnte auch sagen zensierte – Fassung eines Vortrages, den Ott und ich geschrieben hatten und den ich auf dem Magdeburger Kongress 1971 der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie hielt. In diesem Vortrag war der Konflikt genauer geschildert worden, den die Gruppe mit einem Teil der Klinikhierarchie hatte, die sich gegen Innovationen (z. B. die Einführung psychotherapeutischer Methoden in die psychiatrische Versorgung) stemmte und gegen einzelne Mitglieder dienstrechtliche Schritte angedroht hatte. Zunächst bekam unsere Gruppe Hausverbot in der Klinik. Einzelne Gruppenmitglieder wurden teilweise offen schikaniert, wurden gezielt donnerstags zu Diensten eingesetzt usw. Konflikte mit jungen Mitarbeitern, die ihre Vorgesetzten für nicht besonders fähig halten, gab und gibt es in jeder beliebigen Klinik, nur im Westen wäre es niemandem in den Sinn gekommen, sie zu politisieren. Die SED-Gruppe des Kongresses jedoch, die in einer Kongresspause zusammengetreten war, witterte in unserer Initiative und Gruppenbildung die »Infragestellung der führenden Rolle der sorgte er für den Aufbau einer reichhaltigen Bibliothek in der Nervenklinik, wo neben den wichtigsten Büchern und Zeitschriften der Psychiatrie, Neurologie, Neuropathologie, Neuroradiologie, Psychologie und Medizinischen Psychologie auch die Standardliteratur der Psychotherapie vorhanden war: Gesamtausgabe S. Freud, Zeitschrift »Psyche«, Standardwerke von C. G. Jung, A. Adler, Schultz-Hencke, Nunberg, Rapaport, M. Boss, Heidegger, Zutt, Dührssen, A. Freud, Handbuch der Neurosenlehre (Schwidder) und vieles andere. Er hielt Vorlesungen und Seminare über Medizinische Psychologie, Hypnose, Autogenes Training und Neurosenlehre, die später von Ott und ab 1973 von mir übernommen wurden. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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SED«. Veränderungen durften nicht von Außenstehenden kommen! Wie mir Christa Kohler, meine Vorgängerin im Direktorat der Leipziger Uniklinik für Psychosomatik und Psychotherapie und damalige starke Frau in Partei und Fachgesellschaft, viele Jahre später mitteilte, hätten Harro Wendt und sie, die uns eher wohlgesinnt waren, in dieser Versammlung eine politische Verurteilung unseres Vortrages nicht verhindern können, wenn sie nicht im zufällig anwesenden Mailänder Kommunisten und Psychiater Galli, einem Weggefährten des Psychiatriereformers Basaglia, vehemente Unterstützung gefunden hätten. Unsere Hochschulkarriere hätte leicht an dieser Stelle ihr Ende finden können. Die Ironie dieser Geschichte: Offenbar wurde das Ausbleiben einer verurteilenden Stellungnahme von unseren Gegnern als Billigung von höherer Stelle interpretiert, was uns eher mehr Freiraum bot, den wir auch nutzten. Die Gruppe war nicht zuletzt durch diesen Konflikt bekannt geworden und Kurt Höck, dessen Experimente mit einer institutionellen Gruppenselbsterfahrung im Haus der Gesundheit Berlin als wenig vielversprechend abgebrochen worden waren, kündigte einen Besuch gemeinsam mit Helga Hess in Erfurt an. Dieser Besuch hatte bemerkenswerte Resultate. Zunächst schärfte er unser Misstrauen gegenüber Autoritäten. Höck hatte um Erlaubnis gebeten, direkt an der Selbsterfahrungsgruppe gleichsam als stiller Beobachter teilzunehmen. Das wurde auch gestattet. Unerwartet mischte er sich jedoch nach wenigen Minuten in das Gespräch ein und übernahm die Führung der Gruppe, die er bis zum Ende der Sitzung nicht mehr abgab. Dieses Verhalten ging als der »große Gruppenklau« in die Geschichte der Erfurter Gruppe ein und diente später als warnendes Beispiel für eine falsch verstandene Rücksicht der Gruppenmitglieder und des Leiters gegenüber Usurpatoren. (Als in einem späteren Stadium Jürgen Ott ähnliche Machtansprüche geltend machte, wurde er kurzerhand für ein Jahr aus der Gruppe ausgeschlossen.) Trotzdem verbrachten wir nach einer entsprechenden Auswertung des Geschehens den Rest der Nacht noch recht fröhlich. Das wichtigere Ergebnis dieses Besuches war jedoch, dass Höck in uns potente Mitstreiter beim Aufbau seines Ausbildungssystems der Kommunitäten erkannte, uns ein entsprechendes Angebot machte und die Gruppe nach monatelanger Diskussion beschloss, Höck zukünftig zu unterstützen. Darüber hinaus wurden auch der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie auf uns aufmerksam und beauftragte unsere © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

M. Geyer · Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe

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Gruppe mit organisatorischen Aufgaben, beispielsweise bei der Vorbereitung des Kongresses mit internationaler Beteiligung 1973 in Erfurt. Schon 1973 kamen mit Böttcher und Ott zwei Gruppenmitglieder in diesen Vorstand. Wir wollten Einfluss gewinnen und unsere Situation verändern und glaubten vermutlich, es könnte sich auch am System etwas ändern. (Renate Lindt, Jürgen Ott und Eckehart Müller resignierten erst Anfang der 1980er Jahre und nutzten Gelegenheiten zum Verlassen der DDR.) Die Gruppe gab uns damals auch Zugehörigkeit, Hoffnung und Sicherheit. Keines unserer Mitglieder hat jemals mit der Stasi paktiert oder sonstigen Verrat geübt. Die fachlich/fachpolitische Potenz der Gruppe wird anhand folgender Statistik deutlich: Von den acht Personen, die zwischen 1970 und 1973 den Gruppenkern bildeten (Böttcher, Geyer, Kiesel, Küstner, Lindt, Maaz, Ott und Schwabe), waren sieben in den ersten Selbsterfahrungskommunitäten, die von Höck organisiert worden sind, als Trainer tätig. Böttcher und Ott waren seit 1973, ich selbst seit 1976 gewählte Mitglieder des Vorstandes der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Ott war bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik 1985 leitend in den Sektionen Gruppenpsychotherapie und Medizinische Psychologie sowie in der Psychiatrischen Gesellschaft engagiert. Maaz, der zunächst in der Sektion Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie tätig war, baute später mit Kulawik und Wendt ein Ausbildungssystem in analytisch orientierter Einzeltherapie auf (Maaz, 1984). Anita WildaKiesel vervollständigte in dieser Zeit das der Konzentrativen Bewegungstherapie im Westen ähnliche Konzept der Kommunikativen Bewegungstherapie und bildete innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie zahlreiche Physiotherapeutinnen, Psychologen und Ärzte in dieser Methode aus, die praktisch in allen Psychotherapieeinrichtungen der DDR angewendet wurde (Wilda-Kiesel, 1987). In ähnlicher Weise ist die Rolle Christoph Schwabes einzuschätzen, der seit 1969 die Sektion Musiktherapie als Institution zur Ausbildung von Musiktherapeuten aufbaute und sein System der auch heute noch breit angewendeten musiktherapeutischen Methoden entwickelte (Schwabe, 1969, 1979). Fried Böttcher war in mehreren Sektionen der Gesellschaft aktiv und kümmerte sich besonders um die Beziehung zwischen psychologischer und ärztlicher Psychotherapie (Ott, Geyer und Böttcher, 1980). Mehrere Gruppenmitglieder (Geyer et al., 1989) waren aktiv bei der Etablierung von Balint© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Generationsfolgen und der Weg der IDG

Gruppen im System der psychotherapeutischen Weiterbildung. Ich selbst wurde 1982 zum Vorsitzenden der Gesellschaft gewählt und konnte in dieser Funktion die ersten großen Ost-West-Tagungen organisieren, so z. B. die Tagung 1984 in Dresden mit Teilnahme des Vorstandes der DGPT, die den Beginn eines langen Prozesses der institutionellen Anschlusssuche an den »Mainstream« der Psychoanalyse markierte, der erst Mitte der 1990er Jahre mit der Aufnahme der ostdeutschen Institute in die DGPT endete; erwähnenswert auch die Tagung 1987 in Erfurt mit 300 Teilnehmern aus Westdeutschland, die sogenannte »vorgezogene Wiedervereinigungsfeier der Psychotherapeuten«, auf der viele ostdeutsche Psychotherapeuten zweieinhalb Jahre vor der Wende Beziehungen zu Personen und Institutionen knüpften, die ihnen halfen, in das wiedervereinigte Deutschland zu finden. Mit Hilfe des überwiegenden Teils des Vorstandes gelang es, bereits lange vor der Wende prinzipiell mit dem westlichen Weiterbildungssystem kompatible Weiterbildungsstrukturen aufzubauen (Geyer, 1985, 1987, 1991). 1985 waren mit Böttcher, Maaz, Ott und mir immerhin vier Mitglieder der Gruppe Vorstandsmitglieder dieser fachpolitisch entscheidenden Institution im Osten. Betrachtet man diese Entwicklung, muss sich der Verdacht erhärten, dass eine Gruppierung durchaus politischen Charakters entstanden war, die offizielle Institutionen der Medizin und Psychotherapie unterwanderte und schließlich übernahm, um die ursprünglichen Gruppenziele zu allgemeinverbindlichen zu machen. Das Verhandeln und Taktieren mit den Mächtigen gehörte auch dazu. So war es auch ein wenig ernst gemeint, wenn ich im Kreise zuverlässiger Freunde behauptete, mit der Verbreitung unserer Art von Psychotherapieverständnis würden »befreite Zonen« im Sinne Che Guevaras geschaffen. Am Beispiel dieser Gruppe enthüllt sich damit jene Seite von Selbsterfahrung, die starke Bindungen an Institutionen, Werte und Ziele erzeugt. Insofern haben uns unsere Gegner in der SED und Stasi schon zu Beginn unserer Aktivitäten Recht gegeben, wenn sie uns der politischen Plattformbildung beschuldigten (meiner Stasiakte ist zu entnehmen, dass zwischen 1973 und 1989 neun IMs versucht haben, meine Aktivitäten unter Kontrolle zu behalten; siehe auch das IM-Protokoll einer Vorstandsitzung unserer Gesellschaft anlässlich der Freud-Tagung in Leipzig im Juli 1989 von IM »Manfred Wolke«, publiziert bei Süß, 1998, S. 320 ff.). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

M. Geyer · Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe

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Aber beweist die Paranoidie dieses kranken Systems wirklich etwas? Es war für uns eine enorme Versuchung, so zu tun, als ob wir mit unserer Methode dem politischen System etwas anhaben könnten. Für mich war es seinerzeit ein Trojanisches Pferd, mit dem wir das Regime von innen her bekämpfen konnten. Dass wir uns damit auch etwas vorgemacht haben und vermutlich diese fachpolitische Auflehnung gegen das Establishment als Feigenblatt für unsere Zurückhaltung beim wirklich gefährlichen politischen Kampf gegen das Regime benutzt haben, muss ich heute eingestehen. So bleibt allein die Hoffnung, vielleicht doch einen kleinen Beitrag zum Untergang des Regimes »DDR« geleistet zu haben. In einem früheren Kommentar zum 1972 publizierten Artikel über die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe (Geyer in Bernhardt und Lockot, 2000) habe ich die Frage gestellt, mit der auch diese Betrachtung abgeschlossen werden soll: Wie viel äußere Freiheit braucht psychoanalytisches Denken und Handeln? Vielleicht hat dieser Artikel eine der möglichen Antworten gegeben, obwohl ich die Frage lieber offen halten möchte. Jedenfalls denke ich, dass diese Frage nicht von Leuten entschieden werden sollte, deren eigener Horizont nie über den des Systems, in dem sie angepasst leben, hinausging und die es nie gelernt haben, das eigene in Frage zu stellen. Ungeeignet scheinen mir auch die sogenannten Ostalgiker, die ihre Resignation im neuen System durch Überidentifikation mit dem alten zu bewältigen versuchen. Am ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage sind aber doch wohl jene, die mit jedem Rückblick auf ihre eigene Rolle in der DDR nach Rechtfertigung suchen müssen, die am einfachsten mit der Antwort, es könne keine Psychoanalyse in der Diktatur geben, gefunden wird. Optimale Anpassung an das jetzige System scheint dem Selbst unverträglich mit dem Bewusstsein allzu offensichtlicher früherer Anpassung. Wenn die Rückschau nicht Heldentaten zu Tage fördert, wird gern die prinzipielle Möglichkeit negiert, trotz Diktatur frei denken und – wenn auch in mitunter schmerzlich empfundenen Grenzen – handeln zu können. Eines scheint mir gewiss: Die Selbsterfahrungsgruppe hat uns geholfen, nicht nur unsere innere Freiheit zu bewahren.

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Generationsfolgen und der Weg der IDG

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M. Geyer · Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe

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Ott, J., Geyer, M. (2003). Psychoanalyse und Gruppenpsychotherapie in Ostdeutschland und der DDR. In M. Geyer, G. Plöttner, T. Villmann (Hrsg.), Psychotherapeutische Reflexionen gesellschaftlichen Wandels (S. 53–76). Frankfurt a. M.: VAS. Ott, J., Geyer, M., Schneemann, K. (1972). Mehrdimensionale stationäre Psychotherapie einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen nach Suizidversuch. Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 24, 104–110. Ott, J., Geyer, M., Böttcher, H. F. (1980). Die Persönlichkeit des Therapeuten – Zielstellung und Realisierungsmöglichkeiten auf den verschiedenen Ebenen der psychotherapeutischen Ausbildung. In H. Hess, W. König, J. Ott (Hrsg.), Zur Integration der Psychotherapie in die Medizin (S. 46–57). Leipzig: Barth. Schwabe, C. (1969). Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen. Jena: Fischer. Schwabe, C. (1979). Regulative Musiktherapie. Jena: Fischer. Süß, S. (1998). Politisch mißbraucht. Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Berlin: Links Verlag. Wilda-Kiesel, A. (1987). Kommunikative Bewegungstherapie. Leipzig: Barth.

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Franz Jäkel

Therapie der Therapeuten – Rückblick und Erinnerung

Erinnert werden soll an einen Ausbildungsschritt, eine Selbsterfahrungsstrecke und Trainerqualifikation, die im Jahre 1988 im Rahmen der »Therapie der Therapeuten« in Halle durchgeführt wurde. Für mich ist das Gelegenheit, noch einmal einzutauchen in diese für meine Entwicklung als Psychotherapeut so bedeutsame und reiche Zeit. Ich habe in der Vorbereitung mit fast allen Freunden aus der damaligen Gruppe abendfüllende Telefongespräche genossen, in denen mir viele Erinnerungen und Sichtweisen zur Verfügung gestellt wurden, die ich dankenswerterweise für meine Ausführungen verwerten darf. Meines Wissens, und so haben es mir verschiedene Kolleginnen und Kollegen, die ich fragte, bestätigt, ist über dieses Ereignis bislang weder berichtet noch geschrieben worden, obwohl es in der Geschichte der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie sicherlich als ein einschneidendes Ereignis, mit Auswirkungen auf das weitere Gesicht der Kommunitäten, gesehen werden muss.

Zunächst zu den Fakten Im April 1988 fand in den Räumen der Psychotherapeutischen Klinik des Diakoniewerkes Halle eine vierwöchige, vertiefte, körperorientierte Gruppenselbsterfahrung mit dem Ziel statt, neue Trainerpaare und neue Wege in den Selbsterfahrungskommunitäten der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie zu finden. Geleitet wurde diese Gruppe von Hans-Joachim Maaz und Marlit Maaz als Ko-Trainerin. Die Supervision übernahm Heinz Benkenstein. Gruppenteilnehmer waren: Sabine Höck aus Berlin, Agathe Israel aus Berlin, Irene Misselwitz aus Jena, Angelika Löffler aus Rostock, Gerdi Zeller aus Berlin, Paul Franke aus Magdeburg, der Autor selbst (Franz Jäkel aus Wismar), Christoph Seidler aus Berlin und Hartmut Tschersich aus Halle. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Das Setting dieser vertieften Selbsterfahrung lässt sich beschreiben als dynamische Gruppe unter Einbeziehung körperorientierter Methoden und der Nutzung von zusätzlichen Verfahren wie Musik-, Gestaltungs- oder Bewegungstherapie. Die Teilnehmer waren in den Patientenzimmern der Klinik untergebracht und unterlagen den Bedingungen, Regeln und damit auch allen Abstinenzgeboten, wie sie für die psychotherapeutische Klinik Halle unter Chefarzt HansJoachim Maaz üblich waren. Das heißt, für den Zeitraum der Selbsterfahrung waren sämtliche Kontakte zur Außenwelt gekappt. Es gab keine Telefonate, keine Briefe, abgesehen von zwei Gruppenausgängen gegen Ende der Zeit, kein Entfernen aus der Klinik. Von den Teilnehmern war ein umfassend abstinentes Verhalten gefordert, das sich u. a. auf Alkohol, Zigaretten, Radio, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften bezog. Gearbeitet wurde an sieben Tagen in der Woche, von morgens 8:30 Uhr bis häufig abends 21:00 Uhr, unterbrochen durch eine etwas längere Mittagspause. Die Idee für das Unternehmen entsprang einem ganz praktischen und verständlichen Bedürfnis, qualifizierte und funktionierende Trainerpaare zusammenzustellen. Aber auch methodentheoretische Überlegungen im Vorstand der Sektion, im Trainerkreis der Kommunitäten und in den Behandlungseinrichtungen, die sich auf die Entwicklung und die Vermittlung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie bezogen, haben im Vorfeld eine Rolle gespielt.

Was konnte über diese recht aufwendige Therapie der Therapeuten erreicht werden? Einig sind sich alle Beteiligten, mit denen ich mich darüber verständigen konnte, dass der individuelle Gewinn für jeden Einzelnen, der sich auf diese anspruchsvolle Selbsterfahrungsstrecke eingelassen hat, beträchtlich war. Allen Teilnehmern bot die Arbeit in Halle Gelegenheit, sich tiefergehend mit der eigenen innerseelischen Konflikthaftigkeit auseinanderzusetzen und im Umgang mit emotional belastenden oder beanspruchenden Abläufen angstfreier und sicherer zu werden. Die besonderen Wirkfaktoren dieser Selbsterfahrung erklären sich zum einen sicherlich aus der besonderen Klausur- und Abstinenz© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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situation, mit der wir anfangs durchaus unsere Probleme hatten, die als ungewohnt, schwierig, belastend empfunden wurde, letztlich aber eine ungewöhnliche Dichte und Tiefe des Miteinanders und des Mit-sich-selbst ermöglichte. »Es war wie bei einem gemeinsamen Aufenthalt in einem Kloster, man war durch nichts von außen abgelenkt, alle Bezüge nach draußen waren unterbrochen. Man konnte sich ganz auf sich besinnen, ganz auf die anderen einlassen, sich nur mit Wesentlichem und Wichtigem befassen«, so ein Gruppenmitglied. Ein weiterer besonderer Wirkfaktor war die Kombination von Gruppen- und Körperarbeit mit Fokussierung auf die wesentliche Konflikthaftigkeit des Einzelnen unter Einbeziehung unterschiedlicher methodischer Zugänge und das über einen langen Zeitraum hinweg. Auch für Teilnehmer, die bereits vor dieser Gruppe in Halle intensive Selbsterfahrung in der Gruppe oder in der Dyade mit sprachlichen Mitteln gesammelt hatten, erschloss sich auf diese Weise Neues, Anderes oder Tieferes. Von einigen wird Halle als Fortsetzung oder Vertiefung von bereits Begonnenem, von anderen als die Eröffnung einer völlig neuen Ebene erlebt, die dann vielleicht noch in einem anderen Setting, z. B. im Rahmen einer Lehranalyse, intensiv bearbeitet wurde. Die Zeit in Halle gab Gelegenheit, auch die anderen Gruppenteilnehmer intensiv zu erleben und mit ihren unterschiedlichen Seiten bestens kennen zu lernen. Hieraus erwuchs die Chance, sich verstehende, akzeptierende, sich unterstützende und damit funktionierende Trainerpaare zusammenzustellen. Erinnert sei an dieser Stelle daran, welche Schwierigkeiten sich von Beginn der Kommunitäten immer wieder bei der Auswahl der Trainer, bei der Zusammenstellung der Trainerpaare und dann natürlich bei der gemeinsamen Gruppenleitung ergeben hatten. Die Kolleginnen und Kollegen, die bereits in den frühen Kommunitäten bzw. deren Umfeld tätig waren, werden das bestätigen. Ich erinnere nur daran, welche Belastungen für die Trainerpaare gegeben waren, wenn sie parallel zur Gruppenleitung in den Kommunitäten, quasi nach Feierabend, eigene Selbsterfahrungsstrecken bzw. Beziehungsklärungen bewältigen mussten. Das nach Halle zusammengestellte Trainerteam hatte es da leichter. Es konnte darauf zurückgreifen, was die einzelnen Kolleginnen und Kollegen von sich und den anderen erfahren und mit bewegender emotionaler Beteiligung bearbeitet hatten. Die schon erlebten, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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verstandenen und gemeisterten Beziehungsprobleme und Krisen mussten nicht wiederholt oder konnten zumindest schneller erkannt und mit weniger Widerstand bearbeitet werden. Jeder kannte die Stärken und Schwächen des Anderen, versuchte damit umzugehen und konnte sich auf das in Halle geschmiedete Wir-Gefühl, das mit viel Wohlwollen, Akzeptanz und freundschaftlichem Zugewandtsein bewehrt war, verlassen. Statt in Rivalitäten oder auch Enttäuschungen, bezogen auf den Trainerpartner, zu verbleiben und sich damit den Umgang mit der Gruppe zu erschweren, fiel es leichter, den Anderen vertrauensvoll gewähren zu lassen oder unterstützend zur Hilfe zu kommen, wo es benötigt wurde. Damit war nicht alles eitel Sonnenschein, das war auch nicht zu erwarten; die Paare funktionierten in unterschiedlichen Zusammenhängen durchaus unterschiedlich gut und waren nicht immer nur glücklich miteinander. Für die Gruppenleiter waren nach getaner Arbeit aber weniger Nacharbeit und Kriseninterventionen notwendig und damit gab es mehr Platz für gutes Beieinandersein im Trainerkreis, persönlichen Austausch, Erholung und auch das eine oder andere gesellige Beisammensein. Auch Heinz Benkenstein sieht das als Leiter der nachfolgenden Kommunitäten so, indem er mir in einem Gespräch bestätigte: »Es war ein leichtes Arbeiten mit den Trainerpaaren, zwischen allen war mehr Empathie und Vertrauen, das sich auszahlte. Parallele Selbsterfahrung der Trainer war nicht notwendig und fiel so als zusätzliche Belastung weg.«

Wie wirkte das auf die Intendierte Dynamische Gruppentherapie? Die schon vor Halle eingeleitete Veränderung in der Praxis der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie und bei der Gestaltung der Kommunitäten wurde über die vertiefte Selbsterfahrung der Trainer fortgesetzt und forciert. Diese Veränderungen bestanden in einer Ergänzung der recht konfrontativen Momente der Methode, die sehr stark auf Auseinandersetzung, Klärung, Ablösung und Selbstständigkeit ausgerichtet waren durch eine verstärkt empathische und gewährende Haltung. Damit war auch der Weg frei für einen anderen Umgang mit der Regression, die lange Zeit, obwohl laut Theorie angestrebt und für © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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wichtig erachtet, in der methodischen Umsetzung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie eigentlich verpönt geblieben war. In den nachfolgenden Kommunitäten konnte mehr Regression zugelassen werden, worüber die Teilnehmer zu einem intensiven Erleben des gesamten Gefühlsspektrums und zu individuell bezogener Selbsterfahrung einschließlich der Wahrnehmung früher Anteile fanden. Insgesamt konnten damit die Inhalte der Arbeitsphase bereichert und vertieft werden. Hans-Joachim Maaz sieht in der Hallenser Selbsterfahrung einen Beitrag zur qualitativen Erweiterung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie von der Behandlung der neurotischen Störung auf »ödipalen« Niveau zu den »Frühstörungen« auf »präödipalem« Niveau und damit eine verstärkte Zuwendung zu den frühen Mütterlichkeitsstörungen. Die Teilnehmer in Halle sollten durch vertiefte Selbsterfahrung drauf vorbereitet werden, Themen und Gefühle der Frühstörungen zu erkennen, anzunehmen und bei ihrer emotionalen Verarbeitung behilflich zu sein. Das könnte so zutreffend sein, auch wenn das recht große Worte sind. Auf alle Fälle sind die Wochen bei der vertieften, körperorientierten Selbsterfahrung in Halle ein Ereignis, das seinen Platz in der interessanten, mitreißenden Geschichte der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie verdient, sind ein Teil unseres Weges, an den ich hier gerne erinnert habe.

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Hans-Joachim Maaz

Warum ich Publizist geworden bin und dennoch Gruppentherapeut geblieben bin

Die Ursprünge meines Lebens sind eingebettet in eine extrem pathologische und destruktive Umwelt. Ich wurde geboren, als in Stalingrad der Nationalsozialismus und die deutsche Wehrmacht ihre verdiente Niederlage erfuhren und eine menschen- und lebensfeindliche Ideologie vernichtend geschlagen wurde. Aber es waren unsere Väter, die in den Krieg gezogen sind und sich geopfert haben. Warum handelten sie so verblendet, irrwitzig und verbrecherisch? Mein ganzes Berufsleben hat mich die Frage beschäftigt, ja nahezu gequält, wie es sein kann, dass die Mehrheit eines Volkes einem Rassenwahn verfallen, eine Kriegsbegeisterung entwickeln und sich an einem Völkermord beteiligen kann. Aus welchen psychodynamischen Quellen wird diese destruktive Pathologie gespeist? Ich fand mit der Metapher vom »Gefühlsstau« (Maaz, 1990a) eine Erklärung: Unterdrückte, verbotene und somit »aufgestaute« Gefühle aus entwicklungspsychologisch frühen psychosozialen Verletzungen, Kränkungen und Defiziten – wie ich sie als Folge von Mütterlichkeitsund Väterlichkeitsstörungen in »Die Liebesfalle« (Maaz, 2007) beschreibe – speisen später die Affekte von Wut und Hass, die entweder destruktiv nach innen (Krankheit) oder nach außen (Streit, Gewalt) abgeführt werden. Und wenn unter belastenden sozialen Bedingungen politisch-ideologische Argumente Hoffnung auf Verbesserungen wecken und mit autoritären und suggestiven Mitteln praktisch umgesetzt werden, verfallen viele Menschen den Verheißungen. Praktisch wird damit von der tiefen Not der »Frühstörungen« auf Erlösung in der Gegenwart oder Zukunft abgelenkt. Im Krieg manifestieren und reinszenieren sich kollektiv die erlittene Frühbedrohung und der erlittene Liebesmangel und die berechtigte Angst, die Empörung und der Schmerz werden irrational am falschen »Objekt« (am »Feind«) ausagiert und abreagiert. Aus diesem Grund müssen immer wieder auch Feindbilder aufgebaut werden. In das pervertierte Energiefeld des Zweiten Weltkrieges, das sich auch im familiären System abbildete, wurde ich hineingeboren. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Mein in seiner Lebendigkeit gebremster Vater – obwohl kein Nazi – verhängte auf seine Art ein »Rassenurteil« über mich, dass ich so vital und expansiv, wie ich war, eben kein »richtiger Maaz« sei, ohne dass die Merkmale für die Familienzugehörigkeit eindeutig definiert gewesen wären. Ich war also Vaters »Jude«. (Mit diesem Vergleich will ich nicht das furchtbare Schicksal des jüdischen Volkes bagatellisieren, aber auf einen psychologischen Feindbildmechanismus aufmerksam machen, der ganz klein im Privaten beginnt und sich unter bestimmten sozialen Bedingungen bis zu mörderischen Verbrechen entwickeln kann. Der Rassenwahn, dem viele Deutsche verfallen waren, hat eben auch eine wesentliche Quelle in frühen, ganz persönlichen narzisstischen Verletzungen. Deshalb halte ich die Verhinderung von schweren Frühstörungen als eine ganz wesentliche soziale Aufgabe für die Gesellschaftsentwicklung.) Für Mutter dagegen war ich willkommen, um sie als »Sonnenschein« in ihrem von ihr nie verstandenen und reflektierten Lebensunglück aufzuheitern. Aber sie übermittelte auch die bedrohliche Botschaft: »Wenn du das tust (irgendetwas, was ihr nicht gefällt), dann bist du für mich gestorben.« Ausgerüstet mit dieser väterlichen Kränkung war der Weg des Widerstandes, des Protestes, des »Revolutionärs« vorgezeichnet und der mütterliche Missbrauch hat mich zum Versteher, Helfer und Bediener konditioniert. So war die Dreieinigkeit von entfesselter Destruktivität, Vaterablehnung und Muttervergiftung die nahezu zwingende Voraussetzung, im Sinne der Selbsthilfe Psychotherapeut zu werden. Die gesellschaftliche Destruktivität forderte meine Liebesfähigkeit nahezu heraus, gegen die väterliche Abwertung war für mich Leistung ein wichtiger Beweis seines Unrechts und der mütterliche Missbrauch beförderte mein Empathietalent. So kann ich mein Leben im Spannungsfeld von Destruktivität, Ablehnung und Vergiftung auf der einen Seite und Liebe, Anstrengungsbereitschaft und Einfühlen auf der anderen Seite verstehen, was sich in meiner praktischen Lebensausgestaltung wiederfinden muss. So erkläre ich mir die Ambivalenzkonflikte meines Lebens: Der Psycho-Funktionär und Liebes-Revolutionär, der unsicher bleibende Erfolgreiche und der bedienende Genussmensch. Die DDR war ein hervorragendes System, um frühe Kränkungen unendlich ausagieren zu können. Beide elterlichen Einstellungen: Du bist nicht richtig, nicht im richtigen Bewusstsein, du gehörst nicht zu uns (Vater) und ordne dich unseren Regeln unter, tue, was © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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wir dir sagen, sonst können wir dich nicht akzeptieren (Mutter), waren nahezu prototypisch für die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR. Die Enge, die Verlogenheit, die Unterdrückung boten ideale Verhältnisse, um den Protest gegen elterliche Repression auf den Staat, die Partei abzulenken. Ich »verdanke« der DDR ein erfolgreiches Einüben in neurotische Abwehrmuster. Es war nicht allzu schwer, die repressive, bornierte, verlogene und kleinbürgerliche Welt der DDR-Gesellschaft abzuwerten – und damit die Schuld der Eltern zu verbergen. Im offenen, mehr noch im versteckten Kampf gegen Lehrer, Funktionäre, Chefs konnte ich meine Ablehnungs- und Abwertungserfahrung nach Bedarf reinszenieren und dabei die frühe bedrohliche Gefühlsqualität in harmlosere Bedrohungsaffekte der DDR-Realität verwandeln und dabei narzisstisch getönte moralische Überlegenheit phantasieren. Selbst reale Bedrohungen im Erwachsenenleben sind zumeist in ihrer seelischen Bedeutung das kleinere Übel gegenüber der Hilflosigkeit und dem Ausgeliefertsein bei Frühbedrohungen. Damit war eine Karriere im gesellschaftlichen System der DDR ausgeschlossen, aber auch ein narzisstischer Höhenflug kaum möglich. Es war wie eine Sackgasse: In dieser Zeit habe ich viel somatisiert, sexualisiert und politisch ausagiert. Ich war ein sogenannter Rädelsführer des Bernburger »Aufstandes« der Nervenärzte 1972/73 gegen das repressive System »Psychiatrie«. Damals glaubten wir an unsere Gut-Mensch-Ideologie, wollten natürlich die sozialen Verhältnisse der Psychiatrie-Patienten verbessern, die entrechtet, eingeschüchtert, mit Medikamenten vollgestopft, ja sogar vom Pflegepersonal bestohlen wurden und ohne wesentliche sozial- oder sogar psychotherapeutische Begleitung auskommen mussten. Unser Protest war mutige Pioniertat und zugleich naiv, ohne wahrnehmen zu wollen, dass das System »Psychiatrie« ja nur ein Abbild des Systems »DDR« sein konnte, und so war es folgerichtig, dass wir als »staatsfeindliche Gruppe« denunziert und diskriminiert wurden und mehrere Monate gegen Inhaftierung zu kämpfen hatten. Das war das Ende meiner Psychiatrie-Laufbahn und der Übergang zur Psychotherapie. Es musste eine Möglichkeit in der DDR geben, ein anderes Leben als das geforderte zu finden. Bernburg war für mich der erste Aufstand – vordergründig noch politisch motiviert – gegen den »Vater«, der mein Anderssein nicht bestätigen wollte. Im damaligen Ärztlichen Direktor fand ich den idealen autoritären Ersatzvater, der mich hatte wissen lassen, dass ich, solange er mein Chef © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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sei, nicht mehr das Wort »Psychotherapie« als eine erwünschte und notwendige Behandlungsform in den Mund nehmen dürfe. Als Strafe für meine diesbezüglichen Ambitionen war ich abkommandiert in die Forschungsabteilung, beauftragt, Ratten an der Niere zu operieren, um eine künstliche Hypertonie zu erzeugen. Ich reinszenierte also die väterliche Ablehnung, allerdings mit einem ersten wesentlichen Befreiungsschritt, die Klinik und damit die Abhängigkeit von Vaters Gnaden zu verlassen und den eigenen, selbstbestimmteren Weg zu beginnen. Den Mut für diesen Schritt verdanke ich im Grunde genommen Jürgen Ott. 1969 hatte ich Anschluss an die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe – die erste dieser Art in der DDR – gefunden und in Ott einen Mann kennen gelernt, der mich mütterlich annahm und gewähren ließ, trotz – oder auch wegen – aller meiner Schwierigkeiten und Eigenheiten, und mir half, mich allmählich verstehen zu lernen. Da war sicher auch etwas »mütterliche Vergiftung« dabei: Ich handelte auch im Dienst seiner Interessen und Bedürfnisse, ich war sozusagen sein freches Sprachrohr, ein Triebanteil seiner kultivierten Seele. Aber durch seine väterlichen Forderungen und Angebote zur Auseinandersetzung erfuhr ich erstmals ernsthafte männlich-väterliche Bestätigung und Bedeutung. Mit und durch Jürgen Ott machte ich die ersten Gruppenerfahrungen mit Selbsterfahrung, psychoanalytischer Weiterbildung und Beziehungskultur. Die Offenheit, die Internalität, die psychoanalytischen Theoreme leibhaftig mitzuerleben – das waren Erfahrungen für eine andere Lebensform, in der ich meine persönlichen Probleme verstehen lernte, aber auch wesentliche Antworten für die Psychotherapie und ein sinnvolles Leben in der DDR fand. Der Pioniergeist, das Alles-selbst-erfinden-Können, keine institutionellen Regeln und Vorgaben erfüllen zu müssen, haben mir die Gruppe zu einer unverzichtbaren Lebensform werden lassen und eine Abneigung gegen alle institutionellen Einengungen begründet. Die väterliche Annahme, die mir Ott gewährte, erfuhr ich noch zweimal: Einmal, als der Frankfurter Bezirksarzt mich nicht zur Facharztprüfung »Psychotherapie« zulassen wollte – ich sei kaderpolitisch dafür nicht geeignet und vorgesehen – und Kurt Höck mich dennoch prüfte und als Facharzt bestätigte. Das war eine große Genugtuung, dass der Bezirksarzt dann die Prüfung bestätigen musste und mir die Urkunde aushändigte. Zum ersten Mal hatte sich ein »Vater« gegen die »Hexenmutter« Partei durchgesetzt. Und ein ande© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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res Mal erfuhr ich väterlichen Beistand, als Harro Wendt sich schützend vor mich stellte, als die Partei mich mit der psychodynamischen Einzeltherapie (PdE) verhindern wollte. Wir hatten 1984 begonnen, mit der PdE eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie theoretisch und praktisch in den sogenannten »Choriner Kursen« zu vermitteln (Maaz, 1997). Das besondere an diesen Lehrgängen ist, dass wir Theorie, Selbsterfahrung und konkrete Fälle aus der jeweils eigenen Praxis integriert vermitteln und erfahrbar machen. Zu DDRZeiten war das die erste systematische Aus- und Weiterbildung in einer psychoanalytisch begründeten Einzeltherapie – später eine wesentliche Grundlage für die Anerkennung von DDR-Psychotherapeuten in der Richtlinien-Psychotherapie des vereinten Deutschland. Von diesen drei Männern (Ott, Höck, Wendt) habe ich väterliche Annahme und Bestätigung erfahren, so dass ich mein Vaterdefizit nicht mehr gegen »Vater Staat« richten und im nörgelnden Protest ausagieren musste. Ich konnte Hass, Entwertung, Verachtung gegen Väter bearbeiten und zugleich Sehnsucht und Zuneigung leben lassen. Ich verstehe das nicht als »ödipales Geschehen«, weil ich die triebtheoretische Auslegung des sogenannten »Ödipuskomplexes« für eine Fehldeutung halte. Nach meiner Meinung ist im Ödipusmythos die doppelte Schuld von Eltern aufgezeigt, die ihr Kind lieber dem Tod aussetzen, als die Vergänglichkeit und abzugebende Macht ihres Lebens zu akzeptieren. Der schuldige Vater-König provoziert den Kampf mit dem jungen Mann (dem Sohn): Geh mir aus dem Weg! Und die schuldige Mutter heiratet ihren Sohn, von dem nur sie wissen konnte (erkennend an den »Schwellfüßen«), dass es ihr Sohn sein könnte. Statt eines libidinösen Entwicklungskonflikts des Sohnes sehe ich einen Vater-(Laios-)Komplex und einen Mutter-(Iokaste-)Komplex, der für den Vater tödlich und für die Mutter im Inzest endet als die symbolischen Spätfolgen (Gewalt und Beziehungsdestruktivität) von elterlicher Frühschuld. Damals wusste ich noch nicht, wie sehr der Vaterkonflikt vor allem auch eine Abwehr gegen die Auseinandersetzung mit dem Mutterthema war. Aber erst musste gute Väterlichkeit erlebt werden, um den Mut und den Zugang zu den Frühstörungsanteilen zu finden. Jürgen Ott und Kurt Höck haben in meinem Herzen einen festen Platz für die gute Väterlichkeit und die Befreiung von der projektiven Abwehr, allein im politischen System der DDR die wesentliche Schuld an Enge, Angst und Fehlentwicklung suchen zu wollen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Die Auseinandersetzung mit der väterlichen Autorität in unseren damaligen Therapiegruppen war natürlich auch politisch subversiv. Die Entmachtung des Gruppenleiters in seiner dynamischen Macht, die Überwindung der autoritären Struktur zu einer basisdemokratischen Gruppe mit dynamischer Rollenverteilung, das war einfach »geil« – dafür lohnte es, sich zu engagieren und eine andere Beziehungskultur zu leben, als in den DDR-Verhältnissen üblicherweise möglich war. Den soenannten »Kippvorgang« in der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie (Höck, 1981) gab es tatsächlich: die Abkehr von der Hoffnung auf den Leiter und das Ende des enttäuschten Protestes gegen ihn. Erst in den letzten Jahren müssen wir leider auf dieses großartige Erlebnis, auf den befreienden Qualitätssprung in der Gruppe bzw. zur Gruppe immer mehr verzichten, da der Anteil an Patienten mit Frühstörungen immer größer geworden ist. Diese Klientel kann nur begrenzt – abhängig von der Anzahl der reifer Strukturierten in der Gruppe – den Schritt zur größeren Selbstregulation einer Gruppe mitmachen. Aber es bleibt auch erstaunlich, wie schwer strukturschwache Menschen mit erheblichen Regulationsstörungen in einer Gruppe mit gewachsener positiver Sozialenergie integriert und stabilisiert werden können. Das damalige »Kippen« in die Gruppen-Arbeitsphase blieb inhaltlich noch schwach, unklar in der Zielrichtung, ohne wirkliche Vertiefung auf die Frühstörungsebene: Das frühe Mutterthema blieb noch weitgehend unberührt. Erst durch meine körpertherapeutische Selbsterfahrung – vor allem mit Eva Reich, David Boadella und Ulrike Beyer – bekam ich emotionalen Zugang zu meiner »Muttervergiftung«. Dies war für mich die Voraussetzung, in der Arbeitsphase die Gruppe zu einem »Mutterkörper« intendieren zu können, um frühe – auch präverbale – Mütterlichkeitsstörungen in der Gruppe körpertherapeutisch emotional eröffnen und durcharbeiten zu können. Als einen Höhepunkt für die Weiterentwicklung der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie und für die persönliche Beziehung zu Heinz Benkenstein sehe ich die damals von mir durchgeführte und von ihm supervidierte »vertiefte Selbsterfahrung für Therapeuten« (an der auch Paul Franke, Sabine Höck, Agathe Israel, Franz Jäkel, Irene Misselwitz, Christoph Seidler, Hartmut Tschersich und Gerdi Zeller teilnahmen). Die Trainer der nächsten Kommunität sollten und wollten mehr Offenheit für die Frühstörungsebene gewinnen, also neben der Gruppendynamik das analytische Arbeiten © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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befördern und auch Strukturdefizite emotional erfahrbar werden lassen und entsprechend integrieren lehren. Auf die Entwicklung in der DDR projiziert darf die »friedliche Revolution« von 1989 als Kippvorgang verstanden werden, aber leider haben wir uns die »Arbeitsphase« vom Westen abkaufen bzw. dann durch die marktwirtschaftlichen Verführungen betören lassen, um den frühen Schmerz zu vermeiden. Wir haben die Macht nicht übernommen, haben die psychodynamischen Mechanismen von Täterschaft und Mitläufertum nicht wirklich erhellt, die eigene Schuld nicht bekannt, unsere Defizite und Fehlentwicklungen nicht erkennen wollen und vor allem keine eigenen sozialen Strukturen etablieren können. Die meisten sind einfach übergelaufen, vieles grenzt an Verrat, naiv-hoffnungsfroh wurden die »Väter« ausgetauscht, ohne wahrnehmen zu wollen, sich nur neuen Herren dabei anzudienen. In meiner Deutung stehen sowohl der geordnete, unblutige Systemwechsel wie auch die weitgehend kritiklose Anpassung an die neuen Verhältnisse im Dienste der Abwehr des frühen Mutterthemas. Und Bundeskanzler Kohl konnte deshalb mit verlogener Verheißung von den blühenden Landschaften – hexenmütterlich – voll zuschlagen. Ich bin erinnert an die Symbolik von »Hänsel und Gretel«, von der Hexe ins Pfefferkuchenhaus gelockt, hungrig und bedürftig, wie viele waren, doch um den Preis, gefangen genommen und am Ende »verspeist« werden zu sollen. Wie das Märchen ausgeht, wissen wir, der Befreiungsakt heißt »Hexenverbrennung« – psychodynamisch wären dies die Anerkenntnis der frühen Mütterlichkeitsstörungen und ihre emotionale Verarbeitung gewesen. Die Realität allerdings folgt nicht der Brüder Grimm’schen Version, sondern schreibt eine andere Geschichte: Hänsel wird »abgewickelt«, Gretel wird zum Hexenlehrling und zur Übernahme und Fortführung der Hexenmacht gebraucht. Indem Angela Merkel an die Macht kommt, wird die Mutterschuld ganz aktiv und nachhaltig tabuisiert und verleugnet. Als Bundeskanzlerin bleibt »Mutti« mit allen Fehlern und Schwächen für lange Zeit geschont, bis mit der realen Enttäuschung auch die frühen Affekte der Mütterlichkeitsdefizite sich austoben werden. Gegen diese schwer zu akzeptierende Abwehrrealität, habe ich als Klinikchef und Gruppentherapeut die Frühstörungs-Wahrheiten aufzuzeigen versucht. Damit war und bin ich um ein authentischeres Leben bemüht und immer wissend, dass dies nur eine sehr schwache und gefährdete Option sein kann, bin ich auch Publizist geworden. Praktisch als Anwalt der frühen Not, um die therapeutischen Erfah© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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rungen und Erkenntnisse zur öffentlichen Diskussion zu bringen. Dabei zentriere ich zurzeit auf die Mütterlichkeitsstörungen in der Gesellschaft (Maaz, 2003). Mütterlich ist die Fähigkeit und Bereitschaft, zuzuhören, sich einzufühlen, Gefühle gelten zu lassen, zu gewähren, zu versorgen, zu beschützen – also durchaus grundlegende menschliche Haltungen, die auch für jeden Mann und die Politik von hohem Wert sein sollten. Mit dem Lilith-Komplex (Maaz, 2003) teile ich die Mütterlichkeitsstörungen ein in 1. Mutterbedrohung, 2. Muttermangel, 3. Muttervergiftung.

1. Mutterbedrohung als Grundlage der Borderline-Störung Mutterbedrohung mit der mütterlichen Botschaft: Sei nicht! Lebe nicht! Die Mutter als »böses«, traumatisierendes Objekt. Die zentrale Angst des Patienten ist Vernichtungsangst bei existenzieller Bedrohung. Die spätere Lebensorganisation hat Existenzberechtigung als zentrales Konfliktthema. Die frühe Ablehnung macht das Leben eines Menschen grundsätzlich unsicher, gefährlich, bedrohlich. Der Mensch bleibt orientierungslos, er findet keinen Sinn für sein Leben, er braucht äußere Bestätigung, Führung und Antworten auf seine Fragen. Er bleibt sein ganzes Leben lang halt- und schutzbedürftig. Psychotherapie muss diesen Menschen Halt, Rat und Antwort geben, Deutungen sind nicht hilfreich. Klinisch gesehen führt Mutterbedrohung zu Angst, Panik, Depressivität, Suizidalität, Destruktivität als Folge schwerster Strukturschwäche der Persönlichkeit – wie wir sie als Borderline-Syndrome zusammenfassen. Wir finden die nichtgewollten Kinder später unter den Aussteigern, den Obdachlosen, den Süchtigen, den Selbstmördern und Selbstverletzern, den Gewalttätern, Amokläufern und Kriminellen, den Fundamentalisten, Radikalen und Terroristen – aber auch, wenn sie ihre tiefe Not auf die Bühne bringen können, unter Künstlern und »Superstars« und, wenn sie ihre Existenzangst politisch ausagieren, unter den Machtmenschen, ganz sicher aber als Revolutionäre und Diktatoren. Die früh erlittene Existenzbedrohung – das nicht gewollte oder abgelehnte Kind – überlebt meist nur deshalb, weil es die tiefe Selbst© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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wertstörung durch besondere soziale »Aufblähungen« kompensieren lernt. So wird seelische Ohnmacht und Existenzangst in politische Macht und Militanz verwandelt und erlittene Kränkung und Abwertung sollen durch Ruhm und Erfolg ausgeglichen werden. Tragisch ist, dass großartige soziale Leistungen eine Fassade bleiben und keine wirkliche innerseelische Entspannung und Stabilisierung schaffen können. Die Gefahr liegt darin, dass die erlittene intrapsychische Bedrohung durch die seelischen Abwehrvorgänge der Spaltung und paranoiden Projektion Feindbilder schafft, die bekämpft werden müssen, ohne je inneren Frieden zu ermöglichen. Dies ist die psychologische Wurzel eines jeden Krieges. Mutterbedrohung wird massenpsychologisch im Völkermord, Rassenwahn, Fremdenhass, Feindbildern und Verfolgung von Andersdenkenden ausagiert.

2. Muttermangel als Grundlage der narzisstischen Persönlichkeitsstörung Muttermangel mit der mütterlichen Botschaft: Du darfst leben, aber ich kann dich nicht wirklich lieben! Ich habe keine Zeit für dich! Ich bin mit meinen Problemen und Bedürfnissen voll ausgelastet. Die zentrale Angst des Patienten ist Objekt-Verlustangst. Die spätere Lebensorganisation hat Wertschätzung als zentrales Konfliktthema. Muttermangel verursacht Selbstunsicherheit, Selbstwertzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, soziale Hemmungen mit der Tendenz, sich »Liebe« verdienen zu wollen durch Anstrengungen, Leistungen und Gehorsam. Das Kind fürchtet in der Regel, dass es selbst daran schuld sei, nicht geliebt zu werden, dass es wegen irgendwelcher Eigenschaften oder Begrenzungen nicht liebenswert sei. Das Kind kann noch nicht erfassen und verstehen, dass seine Mutter liebesgestört ist. Die Mutter muss zwangsläufig ein idealisiertes Objekt bleiben, trotz jeder real schlechten Erfahrung mit ihr, um die Tragik des Liebesmangels durch Illusionen abzumildern. Nicht selten ist frühe Lieblosigkeit ein späterer Antreiber für enorme Leistungen. So werden Leistungsträger, Olympiasieger, Weltmeister, Karrieristen und Erfolgsmenschen nahezu »gezüchtet«, was gesellschaftlich meistens gut ausgebeutet wird, aber für den Einzelnen nach langer Anstrengungs- und kurzer Erfolgszeit häufig zu seelischen Einbrüchen führen kann, wenn die Scheinwerfer erloschen und der Beifall verrauscht © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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sind. In der klinischen Ausformung führt der Muttermangel zu den narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. Die massenpsychologische Ausformung des Muttermangels erkennt man in sozialer Benachteiligung von Kindern, Frauen, Kranken, Alten, Behinderten, Homosexuellen und immer mehr in der wachsenden Zahl der Arbeitslosen, letztlich also in der Qualität der Sozialsysteme.

3. Muttervergiftung als Grundlage der neurotischen Strukturstörung Muttervergiftung mit der mütterlichen Botschaft: Du darfst leben, du bist mir auch etwas wert, aber nur, wenn du meine Erwartungen erfüllst. Die zentrale Angst des Patienten ist Liebesverlustangst. Die spätere Lebensorganisation hat (Liebes-)Sehnsucht und das Ringen um Autonomie als zentrales Konfliktthema. Für das Kind hat es zunächst den Anschein, dass es gern gehabt und gut versorgt wird, aber die daran geknüpften Bedingungen bleiben verborgen und werden verschleiert. Das Kind bekommt dann vielleicht gesagt: »Das tue ich nur aus Liebe für dich« – aber es kann diese »Liebe« nicht empfinden, stattdessen spürt es den Erwartungsdruck, wie es sich verhalten soll. Allmählich wird die Anpassung an Mutters Wünsche so selbstverständlich, dass die Entfremdung gar nicht mehr wahrgenommen wird. Erst später, wenn es darauf ankommt, für sich selbst zu sorgen und eigene Entscheidungen zu treffen, wird die Verbiegung an der Rat- und Hilflosigkeit gegenüber den Fragen deutlich: Was soll ich tun? Was ist richtig? Was will ich wirklich? In der klinischen Ausformung entstehen aus dieser frühen Konstellation die neurotischen Strukturstörungen mit vor allem abhängigen, depressiven, hysterischen und zwanghaften Abwehrformen gegen den berechtigten Zorn des erlittenen mütterlichen Missbrauchs. Die massenpsychologische Ausformung der Muttervergiftung äußert sich marktwirtschaftlich in der Umwerbung von Kunden und Klienten, die nur solange hofiert werden, solange sie zahlungskräftig sind und Profit versprechen. In den letzten siebzig Jahren hat die deutsche Gesellschaft eine borderlineartige (Nationalsozialismus) und eine narzisstische Phase © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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kollektiv ausgestaltet (Typ Ost: die größte DDR bei kollektiver Minderwertigkeit und offizieller Abwertung anderer Lebensformen und heimlicher Sehnsucht nach besseren Befriedigungsverhältnissen – Typ West: materialisiertes Größenselbst im »Wirtschaftswunder« mit süchtiger Vergnügungskultur, deren Idealisierung die Zerstörung von Umwelt, Solidargemeinschaft und Zukunft hartnäckig leugnet). 1968 gab es durch die Studentenrevolte den Kampf um eine höher strukturierte Störung (neurotische Strukturpathologie) mit der illusionären Hoffnung einer basisdemokratischen Auflösung der autoritären Strukturen. Aber es blieb eine kämpferische, intellektualisierende Auseinandersetzung (also »ödipal«) ohne Zugang zu den vorliegenden massenhaften Frühstörungsanteilen. Ich kann keinen wirklichen gesellschaftlichen Reifeprozess, getragen von weniger Frühstörungsanteilen, erkennen, sondern sehe nur unterschiedlich dominierende Aktivitäten der Störungsqualitäten – abhängig von materiell-sozialen Kompensationsmöglichkeiten. Die Gefahr einer kollektiven Regression auf Borderline-Niveau ist bei kritischer sozialer Bedrohung jederzeit wieder möglich. Dies hat der vorherige amerikanische Präsident G. W. Bush vorgeführt: Wie mit erlogenen Behauptungen über die Gefährdungspotentiale Saddam Husseins ein Krieg gerechtfertigt und damit, wenn auch nur zeitweise und mit beschränktem Erfolg, von den innerseelischen Bedrohungen eben jenes Präsidenten und der Bürger abgelenkt wurde. Es ist auch äußerst unwahrscheinlich, dass sich der Übergang vom amerikanischen Weltreich zum chinesischen Weltreich friedlich vollziehen wird. Die Bedrohung der Besitzstände, die bisher der Kompensation der bedrohten seelischen Strukturen dienten, wird die unbewältigten frühen Mütterlichkeitsstörungen reaktivieren und so zwangsläufig mörderischen Hass auslösen, der neue kollektive Impulsdurchbrüche verursachen wird. Die früheren Feindbilder »Kommunismus« und »Imperialismus« sind zurzeit nur ersetzt vom Feindbild »Terrorismus«. Dass wir fortgesetzt eine Kanzlerin haben, verstehe ich als Symptom des kollektiven Unbewussten, das auf das unbewältigte Mutterthema hinweist und zugleich dessen Bearbeitung nahezu unmöglich macht. Einerseits mag die Sehnsucht nach der »guten Mutter« das Wahlverhalten mitbestimmen, andererseits bleiben die Schwächen der Kanzlerin im Dienste des idealisierten Mutterbildes und im Sinne des »Mutterschutzes« verleugnet. Die »Mutter« Kanzlerin rackert sich ab, moderiert, will sich nach allen Seiten beliebt machen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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und harmonisieren, aber für notwendige bittere und schmerzliche Erkenntnisse und Einschnitte fehlt ihr die Führungskraft. Und gerade deshalb steht sie auch an der Spitze der Macht, um für die Mehrheit in der gewohnten (Mutter-)Verleugnung falsche Hoffnungen zu nähren. Das »Mütterliche« wird im Lilith-Komplex idealisiert und heroisiert, um die Mütterlichkeitsstörungen wie in einer Reaktionsbildung zu verleugnen. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Kanzlerin, wäre sie wirklich eine gute mütterliche Frau, nicht an die Macht gekommen wäre, weil sie zu sehr schmerzlich unerfüllte Sehnsüchte aktivieren würde. Aber der Hass und die Wut, die bei zu erwartender Enttäuschung wegen des Lilith-Tabus eben nicht auf die »Mutter« geworfen werden können, die werden im »Geschwisterstreit« und im Feindbilddenken im Ausmaß der vorhandenen inneren Bedrohungen destruktiv ausagiert. Meine Selbsterfahrung hinsichtlich der eigenen Frühstörungsanteile, die therapeutischen Erfahrungen mit der Strukturpathologie, die Überzeugung davon, dass Strukturstörungen ein Massenphänomen sind (also nahezu »Normalität« bedeuten) und die Gesellschaften danach ausgestaltet werden, das macht mir Angst, macht mich wütend und ohnmächtig zugleich. In den drei phänotypisch grundlegend verschiedenen Gesellschaftssystemen, in der für mich überschaubaren und miterlebten Zeit, hat sich an der Ätiopathogenese der möglichen Persönlichkeitspathologie – nämlich an den frühen Mütterlichkeitsstörungen – nichts Wesentliches verändert. Ich sehe verschiedene Formen der Abwehr und Kompensation, aber die kollektive Reinszenierung der frühen Dramatik kann sich jeder Zeit wieder ereignen. Publizistik ist eine Antwort darauf. Ich glaube nicht, dass das irgendetwas wirklich bewirken oder verändern könnte. Aber es ist für mich eine Frage der Würde und Verantwortung, Wissen, Erfahrung und Überzeugung, die wir ja auf besondere, ungewöhnliche Art gewinnen, zur Verfügung zu stellen. Das ist notwendiger und selbstverständlicher Vollzug erwachsenen Lebens und zugleich Symptom meiner narzisstischen Verletzung. Es gibt das Thema für mich: Schreiben oder Weinen. Ich bemühe mich zu schreiben und zu weinen. Ich weiß auch um die Gefahr der Reinszenierung von früher Bedrohung. So gab es bereits auf einen kritischen Essay über das Merkel-Phänomen Beschwerden, die im Halle’schen analytischen Institut aufgegriffen wurden mit der Frage, ob man als Analytiker sich © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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mit analytischen Kategorien in der Öffentlichkeit kritisch äußern dürfe. Ich meine: Man darf nicht nur, man muss. Wer soll denn sonst der Gesellschaft einen psychodynamischen Spiegel vorhalten und Verstehensangebote unterbreiten, wenn nicht wir mit den Erfahrungen und Erkenntnissen, die nur uns anvertraut werden? Wer weiß denn sonst noch etwas von den ungeheuren Wahrheiten der frühen Verletzungen, der Liebesdefizite und der quälenden Verbiegungen in ganz durchschnittlichen Verhältnissen, jenseits von Trauma, sexuellem Missbrauch und asozialen Verhältnissen? Wenn ich schreibe, schreie ich praktisch hinaus, was nicht wahrgenommen werden will, um der Ohnmacht zu entkommen, um Verantwortung zu übernehmen und Schuld zu verringern. Und um Würde zu ringen gegen den Druck der Anpassung, der Verleugnung und des Verrats. Beruflich habe ich die Arbeit an den frühen Mutterthemen mehrfach weiterentwickelt. In der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie durch die Ausgestaltung der Arbeitsphase als »Mutterkörper«, in der über körperbezogen-regressive Arbeit die frühen Affekte durchgearbeitet werden können (Maaz, 1990b). In der psychodynamischen Einzeltherapie – als unsere Form der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie – haben wir die fokussierte Regression methodisch weiterentwickelt: Symptomfokus, Beziehungsfokus, Strukturfokus bis zum affektmotorischen Fokus (Maaz, 2004). Damit kann in einem konfliktorientierten Setting evtl. bis auf Frühstörungsebene regressiv begrenzt gearbeitet werden. Mit der Integration des Körpers in analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bemühe ich mich um ein methodisches Konzept, die Mütterlichkeitsstörungen angemessen auf präverbaler Ebene unter Nutzung senso-affektmotorischer Interaktionsrepräsentanzen durchzuarbeiten. Ich glaube, auf die schwierigen Fragen, wann, warum und wie der Körper einbezogen werden kann, darf oder muss, mittlerweile praktikable Antworten gefunden zu haben, bei denen das Strukturniveau des Patienten und die ÜbertragungsGegenübertragungs-Dynamik über die Methoden und Techniken der körpertherapeutischen Interventionen entscheiden (Maaz, 2001, 2007). Ohne diese praktische Arbeit, ohne das Ringen um die Therapie der Frühstörungen hätte ich weder Motivation noch Inhalte für meine publizistische Tätigkeit. Die Gruppe als Ort der Selbsterfahrung, der Therapie und der Beziehungskultur ist für mich die Le© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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bensform, mit der ich in der DDR gut überleben konnte und auch heute Struktur und Sinn erfahre. Die Offenheit, die Internalität, die Emotionalität, die Bezogenheit und die Dynamik haben für mich heilsame Wirkungen, sind Schutz gegen die entfremdenden digitalisierten, globalisierten und virtuellen Verführungen gegen die Wahrheit meiner wirklichen Bedürftigkeit. Ich bin Publizist geworden, weil ich Gruppentherapeut bin. Der Lebensraum Gruppe hat mir sehr geholfen, mit meinen Frühstörungsanteilen gut zu leben. Für das erreichte Rentenalter, lieber Heinz Benkenstein, und für meines, wünsche ich uns das Getragenwerden und Gewürdigtsein durch die Energien, die wir über Jahrzehnte in Gruppen befreit, geordnet und kultiviert haben, um die wachsenden Gebrechlichkeiten und die unvermeidbare Vereinsamung, die das Altwerden mit sich bringen, auch in Würde annehmen zu können.

Literatur Höck, K. (1981). Konzeption der intendierten dynamischen Gruppentherapie. K. Höck, J. Ott, M. Vorwerg (Hrsg.), Theoretische Probleme der Gruppenpsychotherapie, Psychotherapie und Grenzgebiete 1. Leipzig: Barth. Maaz, H.-J. (1990a). Der Gefühlsstau. Berlin: Argon. (Erweiterte Neuauflage: München: C. H. Beck, 2010) Maaz, H.-J. (1990b). Zu Konzept der Körperzentrierten dynamischen Gruppenpsychotherapie. Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin. Maaz, H.-J. (Hrsg.) (1997). Psychodynamische Einzeltherapie. Lengerich: Pabst. Maaz, H.-J. (2001). Integration des Körpers in analytische Psychotherapie. In H.-J. Maaz, A. H. Krüger (Hrsg.), Integration des Körpers in analytische Psychotherapie. Lengerich: Pabst. Maaz, H.-J. (2003). Der Lilith-Komplex. München: C. H. Beck. Maaz, H.-J. (2004). Der Fokus und seine Anwendung. In R. Klüwer, R. Lachauer (Hrsg.), Der Fokus – Perspektiven für die Zukunft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Maaz, H.-J. (2006). Körperpsychotherapie bei Frühstörungen. In G. Marlock, H. Weiss (Hrsg.), Handbuch der Körperpsychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Maaz, H.-J. (2007). Die Liebesfalle. München: C. H. Beck.

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Gundula Jung-Römer

Die IDG als tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie mit MethodenIntegration in der ambulanten Kassenpraxis

Vorbemerkung In meiner ambulanten Gruppenpsychotherapie arbeite ich tiefenpsychologisch. Dabei nutze ich psychoanalytische Grundannahmen und Modelle für Verständnis und Bearbeitung von individuellen und Gruppenprozessen mit Einbeziehung sozialpsychologischer Aspekte. Diese Prinzipien geben mir als Therapeutin Sicherheit und Orientierung im Handeln. Im komplexen Gruppengeschehen ist es mir damit möglich, durch Selbstwahrnehmung, Wahrnehmung des einzelnen Gruppenmitglieds und des Gruppenprozesses eine Atmosphäre von Annahme und Offenheit und damit einen Veränderungsraum zu gestalten. Bestätigung in meinem Tun finde ich in den von Yalom (2007) erforschten Wirkfaktoren der Gruppentherapie, die vor allem auch Raum und Zeit für Veränderungs- und Entwicklungsprozesse ermöglichen sollten. Für mich ist das ein Anstoß zu weiterer fachlicher Auseinandersetzung.

Das Warum meines Tuns im Zusammenhang mit meiner Ausbildungsgeschichte Vor dreißig Jahren lernte ich bei Kurt Höck die Intendierte Dynamische Gruppentherapie (IDG). Ich kam zu jener Zeit zu der Überzeugung, dass effektive therapeutische Gruppenarbeit nur erfolgen kann, wenn die Gesamtgruppe den viel diskutierten Kippprozess durchläuft. Das Leiterpaar hatte die Aufgabe, einen gruppendynamischen Prozess aus der Abhängigkeits- in die Arbeitsphase zu ermöglichen und zu steuern. Dies galt für geschlossene Gruppen. Trotz Kritik waren wir ausgebildeten Gruppentherapeuten der Überzeugung, jetzt den »Gral« zu besitzen (Seidler, 2003, 2006). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Gelernt habe ich als »Basics«: gruppendynamisches und sozialpsychologisches Denken und Wahrnehmen, die Wechselwirkung auf bewusster und unbewusster Ebene zwischen Therapeutenverhalten und Gruppe sowie zu den Einzelnen der Gruppe. Das schätze ich bis zum heutigen Tag. »Dynamisch« kaschierte dabei in der DDR analytisches Gedankengut. Für die gezielte Beeinflussung von Gruppenprozessen wurden zusätzlich nonverbale Methoden wie Kommunikative Bewegungstherapie (KBT), Malen, Gestaltung genutzt. Inzwischen gab es auch Therapeuten, die mitunter eine Verbissenheit in der »richtigen« Anwendung der Methode entwickelt hatten. Eine intensive Gruppenprozessforschung unter Kurt Höck beschäftigte sich immer wieder mit dem optimalen Therapeutenverhalten. Klar, welcher Gruppenleiter wollte eine »nicht gekippte Gruppe« (Arbeitsfähigkeit) haben? Das ging an die fachliche Ehre. Zehn Jahre später erhielt ich in der Psychotherapeutischen Klinik des Fachkrankenhauses Berlin-Lichtenberg als Gruppentherapeutin die Aufgabe, das IDG-Konzept »nur moderat« anzuwenden. Was war »moderat«? Von meiner damaligen Chefärztin, Dr. Monika Haas, erhielt ich Ende der 1980er Jahre einen Freiraum für kreatives Tun, für den ich sehr dankbar bin. Der »Gral« durfte und sollte von mir überprüft werden. Indem ich mein Gruppenleiterverhalten weniger für die strenge Einhaltung vorgegebener Gruppenphasen einsetzte, konnte ich mich mehr auf den Prozess der Gruppe konzentrieren und damit auch Einzelbedürfnissen besser gerecht werden. Dieses formale Leiterverhalten war ja oft Kritikpunkt von Außenstehenden an der IDG, denn es verursachte nicht selten unnötige und erschwerende Kränkungen. Es entstand in mir ein größerer Freiraum, die individuelle Entwicklung eines jeden in der Gruppe zu berücksichtigen. Der innere Druck, ein verlangtes Verhalten perfekt auszuführen, konnte von mir aufgegeben werden. Die erworbenen Gruppenkenntnisse behielten ihre Gültigkeit und brachten auch weiterhin fachliche Sicherheit. Entscheidend jedoch war für mich meine Erfahrung, dass ich mit meinem Vertrauen in die Gruppe, in ihre Entwicklung sowie mit meiner Zuversicht kreativ Prozesse fördern und begleiten kann. Im Team arbeiteten wir unter stärkerer Einbeziehung nonverbaler Techniken, mit Supervision von nonverbalem Verhalten. Bis Mitte der 1990er Jahre erfolgte eine paarweise Gruppenleitung, mit Anleitung der Kommunikativen Bewegungstherapie (KBT) durch eine ausgebildete Schwester. Umstrukturierungen in den Kliniken erforderten eine © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

G. Jung-Römer · Die IDG mit Methoden-Integration

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weitere Modifikation des ursprünglich gelernten Konzepts der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie: Arbeit in halboffenen Gruppen, Einzelleitung, Anleitung der KBT durch die Therapeutin selbst. Die Symbolarbeit nach M.-E. und G. Wollschläger (1998) bezog ich in dieser Zeit in meine Gruppentherapie bereichernd ein. Meine fachliche Neugier führte mich nach dem Mauerfall zu Ausbildungen in Symbolarbeit bei M.-E. und G. Wollschläger, zur Methode der Katathym-Imaginativen Psychotherapie (KIP), der Gruppentherapie mit KIP nach dem Göttinger Modell und Traumatherapie mit KIP. Ich konnte jetzt vergleichen, musste aber auch entscheiden und prüfen, warum ich welche Therapiemethode in meine Arbeit aufnehme. In der kritischen Anmerkung von Yalom, dass wir Gruppentherapeuten gern den Erfolg einer Technik oder Methode zuschreiben, finde ich mich verstanden. Natürlich kenne ich die Verführung, als Therapeut einer Methode die Hauptwirkung in der Therapie zuzuschreiben oder Therapie im Schrotschuss-Verfahren anzuwenden. Yalom gibt zu bedenken: »In der Geschichte der Psychotherapie gibt es eine große Zahl erfolgreicher Heiler, die aus völlig anderen Gründen Erfolg hatten, als sie selbst annahmen« (Yalom, 2007, S. 25).

Darstellung meiner ambulanten gruppentherapeutischen Arbeit Ich stelle hier eine ambulante tiefenpsychologisch fundierte Gruppentherapie in einer Kassenpraxis vor, die von den Grundansätzen der IDG ausgeht und in Abhängigkeit von der Gruppensituation verschiedene Methoden einbezieht. Damit soll es in diesem Beitrag nicht vordergründig um die selbstverständlichen zentralen therapeutischen Aufgaben der Ermöglichung von Entwicklung multipler Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehungen und deren Bearbeitung gehen, sondern um die Begründung, warum ich ergänzende Techniken bzw. Methoden einbeziehe.

Setting, Diagnosen Die methodischen Schwerpunkte der IDG sind in Selbsterfahrungskommunitäten entwickelt worden. Dies ähnelt dem Setting von © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Blockseminaren in der heute üblichen gruppenanalytischen Ausbildung. Davon unterscheidet sich der Rahmen einer ambulanten Gruppentherapie erheblich, wie schon in anderen Veröffentlichungen der IDG beschrieben (Bomberg, 2002; Grunert, 2003). Die seit fünf Jahren laufende Gruppe umfasst sechs bis acht Mitglieder und wird im halboffenen Setting in Einzelleitung geführt. Damit gibt es Abweichungen von der sonst in der IDG üblichen Leitung geschlossener Gruppen durch ein Leiterpaar. Die Gruppe trifft sich wöchentlich einmal für 100 Minuten. Eine 15- bis 20-minütige Pause ermöglicht den Gruppenmitgliedern kurze Entspannung, Wahrnehmung des Anderen in eher lockerer Atmosphäre mit Vergleich zum Verhalten in den Therapieeinheiten sowie Entlastungsmöglichkeit. Als Therapeutin nutze ich die Zwischenzeit zur Reflexion des Gruppenprozesses. Zwei- bis dreimal jährlich finden Wechsel in der Gruppenzusammensetzung statt. Die meisten Gruppenmitglieder haben zuvor eine Einzeltherapie absolviert, sind nun hoch motiviert für eine persönlichkeitszentrierte Arbeit anhand der Spezifik ihrer Beziehungsgestaltung. Diagnostisch sind es zumeist Patienten mit Selbstwertproblematik, Unsicherheit im Kontakt, mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, Depression, Panik- oder Zwangssymptomatik, psychosomatischen Störungen, Traumatisierungen mit vorangegangener Traumatherapie.

Die ergänzenden Methoden Kommunikative Bewegungstherapie (KBT) Die KBT ist schon von Anfang an das begleitende Verfahren der IDG, durch das die Teilnehmer über spezifische Aufgabenstellungen an die Gruppe veranlasst werden, sich nicht mit Worten, sondern durch Bewegung und Körperausdruck mitzuteilen. Die Therapie wurde ab 1960 von Anita Wilda-Kiesel und Christa Kohler in Leipzig entwickelt (Wilda-Kiesel, 1986) und später modifiziert. In den letzten Jahren gab es speziell in den Ausbildungskommunitäten eine Entwicklung zur Minimalstrukturierung. Hier beschränken sich die therapeutischen Vorgaben eines der beiden Gruppenleiter auf eine Intervention zu Beginn der Stunde (Küster, 2006). Dieses Verfahren schätze ich sehr in der Gruppenarbeit, auch wenn es für die Mitglieder mit dem Aushalten höherer Unsicherheit © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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verbunden ist. Sie beschreiben, dass sie sich nicht durch Worte oder Schweigen verstecken können, der Körper sehr deutlich ihnen signalisiere, was sie spüren. Eigenwahrnehmung, Auseinandersetzung, Entscheidungsfähigkeit, Vertrauen, Kreativität werden durch die Übungen aktiviert und auch herausgefordert. Dabei findet die KBT etwa alle sechs Wochen statt. Ich wende eine etwas mehr strukturierte Variante an, um das Maß der geförderten Themen in einem bearbeitbaren zeitlichen Rahmen zu halten. Katathym-Imaginative Psychotherapie 9 (KIP) Unbewusste Prozesse stellen sich auch bildhaft dar. Das halte ich in Gruppensituationen für sehr hilfreich – nicht nur für die Gruppenmitglieder, sondern gerade auch für den Therapeuten. Das Verfahren der KIP ist von den Krankenkassen als tiefenpsychologisches Verfahren anerkannt. Es wurde in den 1950er Jahren von Leuner begründet und kontinuierlich weiterentwickelt, z. B. hinsichtlich Störungsspezifik, Traumatherapie mit KIP, Gruppen-KIP u. v. a. (Leuner, 1994). Grund meiner Anwendung ist hier wieder die Nutzung einer Methode zur Sichtbarmachung unbewusster individueller und Gruppenprozesse. Plastisch erlebbar werden innere Objektbeziehungen, Beziehungskonflikte, Wünsche, Ressourcen, deren Abwehr. Autound fremdaggressive Tendenzen können von der therapeutischen auf die Bildebene abgespalten werden, primäre Bedürfnisse probeweise befriedigt werden (Bahrke und Nohr, 2005). Imaginationen können in der Gruppe auf zwei Arten durchgeführt werden: 1. Stille Imagination Jeder Einzelne entwickelt im entspannten Zustand ein inneres Bild zu einem vom Therapeuten vorgeschlagenen Motiv. Anschließend malt jeder zu seiner Imagination. Inzwischen gibt es zahlreiche Literatur, was die Motivvorgaben bei Einzelnen anregen können. Beispielsweise kann das Motiv »mein liebstes Kinderspielzeug« eher regressionsfördernd wirken als das Motiv »ein Haus«. Dieses Verfahren wird von allen Gruppenmitgliedern eher angstfrei aufgegriffen, jeder kann sich (scheinbar) um sich selbst kümmern und darf alles, was Gruppenbeziehung betrifft, zumindest bewusst außen vor lassen. 9 kata – »gemäß«, thymos – »Seele« (griech.) © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Anschließend findet eine Bearbeitung über Malen und Malauswertung in der Gruppe statt. 2. Gruppenimagination Die Gruppe bekommt die Aufgabe, sich zunächst auf ein Motiv zu einigen, was dann von allen Mitgliedern im entspannten Zustand gleichzeitig imaginiert und verbalisiert wird (Kottje-Birnbacher und Sachsse, 1986). Zum besseren akustischen Verständnis liegen die Gruppenmitglieder meist sternförmig auf dem Boden. Es entstehen häufig Motive wie »Spaziergang«, »Besichtigung eines alten Gemäuers«, »Bootsfahrt«, »Leben in einem Haus«, »Maskenball« u. a. m. Der Therapeut hat dabei eine beobachtende Aufgabe und sollte nur in ganz seltenen Ausnahmefällen, wie z. B. Angstreaktionen, Dissoziationen, intervenieren. In den Imaginationen spiegelt sich zusätzlich zur individuellen Dynamik besonders der Gruppenprozess wider, wenn die einzelnen Teilnehmer zunächst ihre unterschiedliche Ausgangslage beschreiben und später abgebildet wird, wie weit das Bestreben nach Nähe, Kooperation oder Abgrenzung vorhanden ist. Eine Nachbearbeitung erfolgt wieder im Gruppengespräch, bei ausreichender Zeit werden die Erlebnisse entweder als Einzelbilder oder als gemeinsames Gruppenbild gemalt (siehe Abb. 4, S. 82). Symbolarbeit Die Psychotherapie mit konkreten Symbolen (Bildern und Gegenständen) wurde von M. E. und G. Wollschläger entwickelt und seit ca. zwanzig Jahren für Diagnostik und Therapie im Bereich der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie angewandt. Ein spezifisch wirksames Element der Symbolarbeit ist die Bedeutungsbelegung eines Gegenstands oder eines Bildes für die persönliche Geschichte und Entwicklung. Die Grundlage für diese Arbeit ist ein gezielt angelegter Fundus von Fotos, Kunstpostkarten und Gegenständen im Therapiezimmer, die die verschiedensten Lebens- und Erlebnisbereiche abbilden können. Je nach therapeutischer Vorgabe wählen die Gruppenmitglieder ein oder mehrere Bilder oder Gegenstände aus und breiten sie vor ihrem Platz aus. Auf dieser Basis erfolgt dann eine gezielte Bearbeitung (Wollschläger und Wollschläger, 1998). Die Symbole ermöglichen recht schnell und direkt die Wahrnehmung von Gefühlen jenseits der sprachlichen Ebene, Themen wer© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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den schnell sichtbar, die sowohl innerhalb der eigenen Person wichtig sind als auch zwischen sich und anderen Personen. Der oder die Betreffende ist meist verblüfft über die plötzliche Klarheit und fühlt sich besser angenommen. Dieses Verfahren wurde von KIP und Psychodrama stark beeinflusst. Methodisch kann mit tiefenpsychologischer, lösungsorientierter, systemischer, körperorientierter und hypnotherapeutischer Herangehensweise gearbeitet werden. In Gruppen bevorzuge ich die Vorgabe von relativ einfachen Auswahlkriterien, etwa in einer Kennenlernrunde: »Was gefällt mir – was gefällt mir nicht«, »ein Symbol für meine Vorlieben – eins für meine Angst«, »Selbstbild – vermutetes Fremdbild« (Römer, 1998). Hierdurch kann z. B. die individuelle Konflikthaftigkeit deutlicher fokussiert werden (siehe Abb. 2 und 3, S. 80 f.). Gruppenmalen Als eigenständige ergänzende Methode verwende ich Gruppenmalen zur Verdeutlichung von Einzel- und Gruppenwahrnehmung und resultierender Umsetzung in Aktion. So ist es ein Unterschied, ob sich die Gruppe vorher auf ein Motiv einigt und alle dazu an dem Bild arbeiten, ob sie dafür alle oder nur eine vorher ausgesuchte Farbe nehmen können oder ob kein Motiv abgesprochen werden konnte und auf dem Papier ein Beziehungsmuster sichtbar wird. Gestalttherapeutische Elemente, Rollenspiel Selten, bei plötzlichen akuten Einzelkonflikten, die weniger im Zusammenhang mit dem Gruppenkontext stehen, arbeite ich einzeltherapeutisch vor der Gruppe. Gestalttherapeutische Elemente nutze ich zur Darstellung und Bearbeitung innerer Konflikte, Rollenspiel im Sinne des Probehandelns. Die Gruppenmitglieder werden alle einbezogen und ein Bezug zwischen Protagonistenarbeit und Gruppe hergestellt.

Auswahlkriterien für den Einsatz ergänzender Methoden Die Entscheidung für ergänzende therapeutische Methoden wird in der jeweiligen Eingangsrunde getroffen, in Abhängigkeit vom aktuellen Befinden und dem Gruppenprozess, unter Einbeziehung von Übertragung und Gegenübertragung zur Gruppe und zu den Themen der Einzelnen (Vorschlag der Therapeutin mit kurzer Begründung). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Kriterien für die Wahl ergänzender therapeutischer Methoden setze ich durch die von mir (a) wahrgenommenen und (b) angestrebten Fokusse der jeweiligen Gruppensitzung (in Abb. 4, S. 82, verdeutlicht). Wenn es beispielsweise um die Einbeziehung eines neuen Mitglieds geht, werde ich eher leiterzentriert vorgehen. Sind Prozesse der Kohäsionsbildung gefragt, stehen Abwehr von Aggression oder z. B. Ängste vor Nähe an, dann sehe ich gruppendynamisch ausgerichtete ergänzende Verfahren für indiziert. Insgesamt sehe ich den Einsatz in Abhängigkeit davon, ob eher die Gruppe als Ganzes angesprochen wird oder der Einzelne zunächst in seiner Selbstwahrnehmung gefördert werden soll. Bei einem akuten Einzelproblem findet ab und zu eine Einzelarbeit in der Gruppe statt. Dies halte ich insgesamt rar, aus der Sorge heraus, dass eine Einzelarbeit nicht in passive Versorgungshaltung aller mündet. IndividuumIndiv iduum Orienti erung Orientierung

Ein zel -KIP

Einzel-KIP Symb ola r beit Symbolarbeit Roll ens piel Rollenspiel Psychodrama Ps ycho dr am a Kommunikative Kommu nik ative Bewegungstherapie B ewegun gs th er apie Gruppenmalen Gr uppen mal en Gruppen-KiP Gr uppe n-K i P

GruppenGruppenOrienti erung Orientierung

Abbildung 1: Methodenausrichtung in ambulanter Gruppenpsychotherapie mit ergänzenden Verfahren

Dabei sehe ich die Anwendung einzelner Methoden nicht als den entscheidenden Weg zur Heilung an, wovor auch Yalom warnt. Die eigentliche therapeutische Arbeit ist die Arbeit mit dem Erleben. Die Methoden können nur das Medium sein.

Vor- und Nachteile der Methodenvielfalt Aus meiner Erfahrung dienen die ergänzenden Methoden dem einzelnen Gruppenmitglied als Medium, um sich besser zu spüren (Be© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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wegung) und Spiegelungserfahrungen zu erhalten (Malen, Symbole, Imagination). Ich verwende sie, weil ich sehe, dass hierdurch Gefühle von Individualität und Bezogenheit in einem haltenden, kohäsionsfördernden Rahmen direkt gefühlt und gestärkt werden können. Die Einbeziehung anderer Methoden hilft mir aber auch als Therapeutin, Gruppen- und Individualprozesse besser differenzieren zu können. Es ermöglicht mir, eine schnelle Übersicht z. B. über die Gruppenstruktur und Entwicklung sowie den individuellen Stand des Einzelnen zu erhalten. Dies ist für mich gerade in der Einzelleitung sehr hilfreich. Andererseits liegen gerade in der Einzelleitung einer Gruppe bei der Anwendung vielfältiger Methoden Gefahren. Man kann leicht als »Trick-Künstler« idealisiert werden und so unreflektiert eine verwöhnende Haltung bedienen. Aus diesem Grund muss ich die Methoden im Zeitpunkt des Einsatzes und in ihrer Wirkungsweise ständig reflektieren. Gruppendiagnostische Verfahren helfen dabei zur Einschätzung des Gruppenstands und des Einzelnen in der Gruppe.

Beispiele Symbolarbeit Gruppensituation: 2. Stunde nach einer Gruppenumstrukturierung mit der Instruktion, dass sich jeder etwas aussuchen möge nach den Kriterien »Was gefällt mir – was gefällt mir nicht«. Zwei Beispiele für Ergebnisse aus der Symbolauswahl und der Nachbearbeitung: Patientin M., 40 Jahre, wählte ein Kaleidoskop und ein Buch aus (siehe Abb 2, nächste Seite). Das Kaleidoskop verbinde Sie mit dem negativem Erleben im Elternhaus, immer beobachtet und analysiert zu werden. Das habe sie als ganz schrecklich empfunden. Deshalb sei ihre Flucht in Geschichten und Phantasien mit einem positivem Erleben verbunden, symbolisiert durch das Hobbit-Buch von Tolkien. Durch diese Arbeit wurde speziell ihre Fragmentisierungsangst bei einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung sichtbar. Sie beschrieb spaltungsphänomene, um sich zu stabilisieren. Im weiteren © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Gruppenverlauf wurde genau ihre Angst vor Gesehenwerden bei hoher Entwertungstendenz zum Arbeitsthema. Patientin T., 24 Jahre, wählt ebenso ein Kaleidoskop aus, jedoch mit anderer Bedeutungszuschreibung, sowie ein Foto von einem Kindergeburtstag (siehe Abb. 3). Das Kaleidoskop findet sie toll, man könne alles im Detail sehen, so habe sie viele Varianten der Betrachtung, nicht nur eine. Durch die vorangegangene Einzeltherapie habe sie mehr innere Freiheit bekommen, fühle sich nicht mehr so als Opfer festgelegt. Das verbinde sie damit. Sie könne Teilaspekte ihrer Gesamtperson sehen, was ihr guttue. Was sie nicht leiden könne, sei das Spiel der heilen Familie oder künstlich aufgesetztes Verhalten. Das kenne sie von ihren Eltern, die z. B. ihren jahrelang erlittenen familiären Inzest leugnen. Mit dem Foto von ihrem Kindergeburtstag verbinde sie Rollen, die sie von den Erwachsenen zugewiesen bekommen hätten. Im weiteren Gruppenverlauf wird die Patientin wegen der Klarheit und Schärfe ihrer Wahrnehmung sehr geschätzt. Es fällt ihr allerdings schwer, eine Beziehung aus eigenem Antrieb heraus zu gestalten.

Abbildung 2: Symbolauswahl Patientin M.

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Abbildung 3: Symbolauswahl Patientin T.

Gruppenimagination Gruppensituation: Gruppe in Übergangsphase, in der 3. Stunde nach Abschied zweier Mitglieder, Aufnahme einer Neuen Von der Gruppe gewähltes Motiv: Gruppen-Haus mit anschließendem Gruppenmalen (siehe Abb. 4). Aspekte aus der Nacharbeit: Ein eher schlicht wirkendes Gruppenmitglied zeigte eine Sehnsucht nach Gediegenheit in Form der großen Freitreppe, ein männliches Gruppenmitglied projiziert seine Aggression auf elterliche Bürgerlichkeit und auf großbürgerliches Leben seiner Ex-Schwiegereltern. Er setzt einen Kothaufen auf die Treppe. Die jüngeren Mitglieder scheinen sich wie bei einem Elternstreit zu »verkrümeln« und lassen es sich auf dem Dachgarten mit Schwimmen und Hängematten gutgehen. Allerdings fühlen sich alle noch nicht so verbunden. Diese Gruppenimagination und die Nacharbeit verdeutlichte u. a. die Angst vor wirklichem Einlassen und gab damit ein zusätzliches »Messinstrument« für die Gruppeneinschätzung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Abbildung 4: Bild zur Gruppenimagination

Fazit Vorgestellt wurde eine ambulant durchgeführte Gruppentherapie in Einzelleitung mit Integration von ergänzenden Therapiemethoden in das Konzept der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie. Traditionell wird diese Gruppentherapie schon immer in Verbindung mit nonverbalen Verfahren der Kommunikativen Bewegungstherapie und dem Malen durchgeführt. Methoden der Gruppenimagination (KIP), Symbolarbeit, auch gestalttherapeutische Aspekte werden einbezogen. Diese ergänzenden Verfahren werden hinsichtlich der Sichtbarmachung von Gruppen- und Individualprozessen diagnostisch und therapeutisch bereichernd eingesetzt. Auf Gefahren der Methodenvielfalt wird hingewiesen, wenn kein zugrunde liegendes tragendes Gruppenkonzept existiert.

Literatur Bahrke, U., Nohr, K. (2005). Katathym Imaginative Psychotherapie: Eine Positionsbestimmung. Imagination, 27 (2), 5–23. Bomberg, K.-H. (2002). Probleme in der ambulanten Gruppenpsychotherapie. In C. Seidler, H. Benkenstein, S. Heyne (Hrsg.), Kunst und Technik der Gruppenpsychotherapie (S. 89–93). Berlin: Edition Bodoni. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Grunert, M. (2003). Die intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie in der ambulanten psychotherapeutischen Praxis. In C. Seidler, H. Benkenstein, S. Heyne (Hrsg.), Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie im Dialog (S. 122–132). Berlin: Edition Bodoni. Kottje-Birnbacher L., Sachsse, U. (1986). Das gemeinsame Katathyme Bilderleben in der Gruppe. In H. Leuner, L. Kottje-Birnbacher, U. Sachsse, M. Wächter. Gruppenimagination. Bern u. a.: Huber. Küster, H. (2006). Kommunikative Bewegungstherapie und intendierte dynamische Gruppenpsychotherapie. In R. Heinzel, C. Seidler (Hrsg.), Gruppenprozess zwischen Struktur und Chaos. Opladen: Barbara Budrich. Küster, H., Bahn, C. (1997). Kommunikative und konzentrative Bewegungstherapie. In E. Fikentscher, U. Bahrke, (Hrsg.), Integrative Psychotherapie – ausgewählte Methoden. Lengerich: Pabst. Leuner, H. (1994). Lehrbuch der katathym-imaginativen Psychotherapie (3. Aufl.). Bern u. a.: Huber. Leuner, H. (1994). Katathym-imaginative Psychotherapie (K.I.P.): »katathymes Bilderleben«. Einführung in die Psychotherapie mit der Tagtraumtechnik (5. Aufl.). Stuttgart und New York: Thieme. Römer, G. (1998). Arbeit mit psychosomatischen Patienten. Vierstufenprogramm zur Erhöhung der Introspektions- und Assoziationsfähigkeit. In M.-E. Wollschläger, G. Wollschläger, Der Schwan und die Spinne (S. 83–86). Bern: Huber. Seidler, C. (2003). Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie im Dialog. In C. Seidler, H. Benkenstein, S. Heyne (Hrsg.), Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie im Dialog (S. 25–42). Berlin: Edition Bodoni. Seidler, C. (2006). Das Phasenkonzept der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie. In R. Heinzel, C. Seidler (Hrsg.), Gruppenprozess zwischen Struktur und Chaos (S. 47–61). Opladen: Barbara Budrich. Wilda-Kiesel, A. (1986). Kommunikative Bewegungstherapie. Barth: Leipzig. Wollschläger, M. E., Wollschläger, G. (1998). Der Schwan und die Spinne. Huber: Bern. Yalom, I. D. (2007). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Christoph Seidler

Glossar für Gruppenanalytiker: Intendieren, Kippprozess, Phasenkonzept und Co.

Vorbemerkung Eigentlich ist »Intendieren« als Interventionsmethode in Form der situativen Beeinflussung leicht zu übersetzen. In der Psychoanalyse wird ja auch über das Setting dosiert: Es ist ein Unterschied, wie viele Sitzungen in der Woche stattfinden und in welcher Dichte. Aber Intendieren ist mehr als Dosieren. Es geht um die Kombination mit anderen Therapieverfahren und um ein Phasenkonzept, das unter dem berechtigten Verdacht eines Vorhersage-Prozessmodells steht. Dann wäre die Tendenzlosigkeit in Gefahr und damit eine Voraussetzung der Psychoanalyse. Lange Zeit waren die IDG und das Intendieren idealisiert worden, nicht nur im Osten. Nach der Wende geriet die IDG in die Krise, wohin sie auch gehörte. Aber sie wurde nun auch mit dem ganzen negativen Bedeutungshof Ost identifiziert, damit dämonisiert – und das nicht nur im Westen. So musste 1998 eine Tagung des Vereins »Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie« das endlich thematisieren: »Was ist eigentlich Intendieren?« war der Tagungstitel (Seidler, 2002). Anfang 1990 gab es viele Ost-West-Berliner Begegnungen, bei denen die West-Kollegen nämlich genau diese Fragen stellten: »Was ist das eigentlich: Intendieren?« Daraufhin entsponnen sich heftige Diskussionen unter den Ostberliner Gruppentherapeuten, denn jeder setzte andere Schwerpunkte. Tatsächlich ist der Begriff nie definiert worden, obwohl die Methode bereits seit 1973 die originär in der DDR unter Federführung von Höck gewachsene Psychotherapiemethode darstellt. Der Bedeutungswandel von »Intendieren« war schon bis 1990 erheblich, und in den letzten zwanzig Jahren veränderte er sich noch mehr. Davon nun handelt dieser Beitrag.

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Vorbehalte gegen die Intentionalität Ausgangspunkt für den Terminus »Intendieren« war der Begriff der »Intentionalität«, der über Schultz-Hencke in die Neopsychoanalyse kam. Er reicht somit in die Zeit des NS-»Reichsinstitutes« zurück. Mit der Abkehr von Schultz-Hencke ist auch »Intentionalität« ins Abseits geraten. Sowohl für Kurt Höck als auch für Ehrig Wartegg blieb die Neo-Psychoanalyse Schultz-Henckes eine wichtige Lehre. Höcks Lehranalytiker war Werner Schwidder, über den auch die Beziehung zum Landeskrankenhaus Tiefenbrunn und zu den Heigls gegangen sein dürfte. »Intentionalität« heißt, dass Wahrnehmen und der Akt des Erkennens keine passiven, sondern aktive Vorgänge eines erkennenden Subjektes darstellen. Wartegg, der bei der methodischen Grundlegung der Gruppentherapie beteiligt war, meinte, dass sein ZeichenTest deswegen anderen projektiven Tests überlegen sei (z. B. dem Rorschach-Test), weil er auch die intentionale Seite zur Darstellung bringe. Trotz der historischen und ideologischen Einwände gegen den Begriff der Intentionalität steht seine Sinnhaftigkeit außer Frage. Über die Selbstpsychologie kam er ohnehin wieder ins Bild. Der narzisstische Kokon ist sozusagen die intentionale Hemmung schlechthin. Der schizoide Rückzug, die Isolierung, das unterentwickelte Gefühlsleben stellen in der moderneren Entwicklungspsychologie (z. B. der Mentalisierungstheorie oder der Theory of Mind, im Asperger-Syndrom oder im Autismus) ein ganz wesentliches soziales Kompetenzproblem dar. Höcks Algorithmus, dass Gruppentherapie von einer selbstunsicheren, umweltabhängigen und ichbezogenen Einstellung der Persönlichkeit hin zu einer selbstbewussten, eigenständigen und umweltbezogenen Einstellung führen müsse, heißt gewissermaßen: »Werde, der du bist«, aber auch: »Du wirst an der Gruppe zum Ich«. Und schließlich sollte zur Rehabilitation der »Intentionalität« die Überlegung beitragen, dass das Unbewusste voller Intentionen steckt. Man denke an die abgründige Dialektik Brechts: »Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt, »wenn Sie einen Menschen lieben?« »Ich mache einen Entwurf von ihm«, sagte Herr K., »und sorge, dass er ihm ähnlich wird« »Wer? Der Entwurf?« »Nein«, sagte Herr K., »Der Mensch.« »Intentionalität« ist ursprünglich ein scholastisches Konzept, das heißt, es stammt aus dem Bemühen, z. B. rationale Begründungen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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für die (Glaubens-)Wahrheit zu finden. Diese Betonung des Rationalen, also des Bewussten, gibt es auch beim Intendieren und der IDG. Den Gipfel dieser Entwicklung stellt aber Müller-Hegemanns »Rationale Psychotherapie« in Leipzig dar. Sie war der Versuch, Neopsychoanalyse und Pawlows Reflexologie zu verbinden. Das musste scheitern, weil während der »Pawlow-Welle« in der Psychologie und Psychotherapie der frühen 1950er Jahre in der DDR die Ideologie bestimmend war und nicht die Wissenschaft. Vor dieser »Rationalen Psychotherapie« sind Harro Wendt und Infried Tögel nach Uchtspringe geflohen, wo sie innerhalb einer großen psychiatrischen Anstalt auf dem Lande eine kleine psychoanalytisch orientierte Psychotherapiestation betrieben – mit DDR-weiter Ausstrahlung. Es ist zu bedenken, dass es das Problem der impliziten Bevorzugung des Rationalen auch schon bei Freud gibt. Wir verdanken Hans Loewald (1980) die Einteilung der Freud’schen Positionen in offizielle und inoffizielle. »Er [Freud] postuliert eine Reihe lose miteinander verbundener Begriffspaare – Lustprinzip vs. Realitätsprinzip, Primärprozesse vs. Sekundärprozesse, Unbewußtes vs. Bewußtsein, präödipal vs. ödipal, Phantasie vs. Realität, fortgeschritten vs. primitiv, Ich vs. Es. Offiziell sieht Freud das Ziel sowohl der Entwicklung als auch der psychoanalytischen Behandlung in der fortschreitenden Überwindung des jeweils ersten dieser Begriffe durch den zweiten. Die inoffizielle Position dagegen nimmt die Herstellung eines neuen Zusammenhanges zwischen den beiden Begriffen in den Blick: nicht die Unterwerfung des ersten durch den zweiten, sondern die Integration beider zu einer höheren Synthese, die reicher, weil umfassender, differenzierter und flexibler ist« (Whitebook, 2009, S. 838). Auch wir haben in der IDG lange die sogenannten »Vorarbeitsphasen« nicht so geschätzt wie die »Arbeitsphase«. Chaos- bzw. Selbstorganisationstheoretiker sehen das aber so: »Im Mittelpunkt jeder Wertinteriorisation stehen individuelle Entscheidungssituationen, so gesetzt, dass sie zur notwendigen kognitiven Dissonanz und emotionalen Labilisierung führen und damit die intendierte emotional-motivationale Veränderung ermöglichen« (Erpenbeck, 2002, S. 20). Diese labilisierenden Momente veranlassen uns als Gruppenleiter oft zum Eingreifen, wirklich hilfreich sind wir dann aber nicht. Aber © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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warum tun wir es dann? Meine Hypothese lautet: Je schlimmer die Zeiten, desto größer die Angst vor dem Unbewussten. Und das meine ich auch im historischen Sinne: Schultz-Henckes Misstrauen gegen das Unbewusste ist sehr wohl bekannt, und wie mir scheint, durchaus berechtigt bei den Katastrophen und Verbrechen, die um ihn herum passierten. Dass Höck Sorgen hatte, das Unbewusste überschwemme ihn, wenn er es nicht konzeptionell domestiziert, leuchtet mir sofort ein. (Er erzählte mir, wie er während einer Heimreise von einer Kommunität ununterbrochen weinen musste, nachdem er eine Großgruppe geleitet hatte. Und er habe nicht gewusst, warum.) Mit solchem (Nicht-)Wissen traut man dem eigenen Unbewussten nicht über den Weg und auch nicht jeder Form von Andersdenken. Vielmehr ist dann die Mobilisierung aller Abwehrbatterien überlebenswichtig. So wurde es auch bei den Kriegstraumatisierten und bei deren Kindern beschrieben (Seidler, 2006).

Cliquenwirtschaft, Kulturkampf, Kalter Krieg »Kulturkampf« klingt viel zu euphemistisch für den »Kalten Krieg«, der sich z. B. während der Pawlow-Welle abspielte: Walter Hollitscher (1911–1986), ein kommunistischer Wiener Psychoanalytiker, wurde 1949 aus dem Londoner Exil an die Humboldt-Universität zu Berlin als Professor für Philosophie gerufen. 1951 schreibt er in einem Aufsatz zur Psychoanalyse: »Es ist, als wären Freuds Arbeiten auf dem Gebiete der Neurosenlehre nicht erschienen, als seien psychische Konflikte, die zur Krankheit führen, durch ein paar freundliche oder strenge Worte wegzublasen, als wäre der Nachweis unbewusster psychischer Reaktionen nicht geführt worden, [...] Es ist grotesk, so zu tun, als wären sie nicht durch Freud zum Gegenstand wissenschaftlicher Problemstellungen geworden« (Bernhardt, 2000, S. 179 ff.). Darauf folgte die ideologische Zurechtweisung in der »Einheit – Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Kommunismus«: »Aber obwohl er sich in Worten einer Kritik Freuds anschließt, verfolgt Hollitscher unverkennbar die Tendenz, von Freud zu retten, was zu retten ist [...] Es ist kaum übertrieben, wenn man feststellt, dass in dieser Kritik das ganze Programm der Psychoanalyse als große wissenschaftliche Entdeckung gefeiert wird [...] erkennt der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Genosse Hollitscher heute, dass die Psychoanalyse grundsätzlich nichts mit Wissenschaft zu tun hat, sondern im Gegenteil nur ein Beispiel dafür ist, wie die barbarische Ideologie des Imperialismus eine noch unentwickelte Wissenschaft – die Psychologie – mit einem Schlage zu zerstören sucht. Die Psychoanalyse ist eine antihumanistische, barbarische Ideologie, denn sie macht die tierischen Triebe zur Grundlage der menschlichen Psychologie und verleugnet die Beherrschung des Tierischen in uns durch die Kraft des Bewusstseins [...] In der Sowjetunion wurde Anfang der 30er Jahre die Diskussion über die Psychoanalyse abgeschlossen und ihr reaktionärer, unwissenschaftlicher und mystischer Charakter nachgewiesen« (Bernhardt, 2000, S. 180). So schwang Robert Havemann 1951 die stalinistische Keule. Der Dissident Havemann, dessen Vorlesungen über »Dialektik und Dogma« 1963/64 ich zwei Semester miterleben durfte und den ich danach hoch verehrte, war auch ein Kind seiner Zeit, einer teuflischen Zeit: Havemann verdingte sich als KGB- und Stasi-Mann und wurde später doch »Gerechter unter den Völkern« in Yad Vashem. Solche Brüche im Lebenslauf verstehe, wer will, aber nur, wer es wirklich will. Dass unter dem Einfluss solcher Kampagnen Psychoanalytiker das Weite suchten, ist unmittelbar einzusehen, zumal die wirtschaftlichen Unterschiede schon überdeutlich waren. Aber: Nicht alle gingen, irgendwo gab es immer Psychoanalytiker (in Berlin, Leipzig, Dresden, Uchtspringe), die sich nicht an der Cliquenwirtschaft unter »kommunistischem« Etikett beteiligten. Und die Geschichte der DDR ist auch eine Geschichte der Öffnung. Doch in den frühen 1950er Jahren Gruppenprozesse minimal strukturiert, quasi ungesteuert laufen zu lassen, erscheint ganz unmöglich – es gab auch keine Gruppentherapie in dieser Zeit. Es brauchte fünfzehn Jahre, bis Höck 1964 in Berlin-Hirschgarten die Psychotherapie-Klinik eröffnen konnte. Der erste Klinikleiter Burghardt – auch er Absolvent des Schultz-Hencke-Instituts in Westberlin – übernahm später die Psychotherapie-Klinik am »Weißen Hirsch« in Dresden. Überhaupt haben die in der DDR verbliebenen Psychoanalytiker damals keine Ausbildungsinstitute gründen können, vielmehr haben sie Psychotherapieabteilungen in Kliniken aufgebaut, vorzugsweise in der Psychiatrie. In Kliniken gibt es immer Gruppenprozesse, mit denen umgegangen werden muss. Das ist ein Grund für das Überwiegen der Grup© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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penpsychotherapie vor der Einzelpsychotherapie. So trat die Psychoanalyse schließlich 1973 im Gewand der IDG wieder aus dem Schatten. Und sie hat den Befreiungsgedanken ernst genommen, die Revolution der Gruppe gegen den Leiter, die Einübung des »Wehrt euch«, und sie hat damit die Brücke geschlagen zu Freuds und auch Slaters »Vatermord«. Genau damit stellte die Intendierte auch das Gegenmilieu zur DDR-»Cliquenwirtschaft« dar.

Geschichte und Praxis des Intendierens Bereits 1969 gründete sich die Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, aus ihr ist schließlich der DADG hervorgegangen. In ihr wurden viele der »wilden« Gruppenaktivitäten (in Berlin, Erfurt, Leipzig, Uchtspringe) koordiniert, und die Gruppenausbildung – insbesondere die Gruppenselbsterfahrung – wurde begründet. In der BRD war der Deutsche Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG) zwei Jahre zuvor entstanden. Diese zeitliche Koinzidenz war nicht zufällig. Festzuhalten ist: Es waren hüben wie drüben die wenigen Väter, die die Gruppentherapie ins Leben riefen, und nicht die revolutionären 1968er Söhne. Allerdings verstärkte die 1968er Bewegung die Gruppenbewegung. Eine Gruppenbewegung gab es fast zeitgleich auch im Osten. Probleme mit den Formen einengender, kontrollierender, unterdrückender Autoritätsausübung waren überall im Osten und auf andere Weise im Westen gegenwärtig. Es lag damals nahe, die Entwicklung in den Gruppen zentral mit der Aufhebung autoritärer Unterdrückungsverhältnisse in Verbindung zu bringen. Die Überwindung des Autoritären feierte in der Gruppenbewegung in ganz Deutschland fröhliche Urstände, beim Kippprozess nach Höck, Vatermord nach Freud, Angriff auf den Leiter nach Slater (1966/dt. 1970). Trauma – Abwehr – Latenz – Wiederkehr des Verdrängten lautet Freuds Algorithmus von der Vaterbeseitigung durch die Brüder. Das hat Philip Slater für die Gruppenanalyse ausgearbeitet: Er beschrieb den Sturz des »vergotteten« Gruppenleiters durch die Brüdergemeinde. Nach 1968 habe das die Gruppenanalyse (West) später anders gesehen: Der Gruppenleiter sei »Diener« der Gruppe, so wie es Foulkes vorschlägt. Aber das ist ein weites Feld … © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Unser zu DDR-Zeiten berühmt-berüchtigtes Phasenkonzept jedoch, dessen zentraler Punkt der Kippprozess ist, welches bewiesen, beforscht, differenziert und ausgebaut wurde, hatte schon fast den Charakter einer anthropologischen Konstante bekommen. Und doch fiel es in sich zusammen, als die DDR zusammenbrach. So gesehen hat die Geschichte des Untergangs der DDR nicht bloß Höck und Co., sondern auch Slater und Freud erheblich relativiert. Es handelt sich also um eine spannende Geschichte. Sie soll am Beispiel der Kommunität X (September 1989 bis 1991) erzählt werden: Der zweite Durchgang (September 1990) fand in einem ehemaligen Stasi-Hotel in Dranse statt – das stellte sich erst dort heraus. Die Kellnerinnen funktionierten flott, die Atmosphäre unter dem Personal war sehr autoritär. Das mag (neben der Zeitgeschichte) mitgewirkt haben bei der Überlegung, die Kommunikative Bewegungstherapie (KBT) ganz der Gruppe zu überlassen. Intendieren bestand von nun an also nur noch im Zur-Verfügung-Stellen eines Möglichkeitsraumes. Das führte zu einer erheblichen Verdichtung der Kohäsion der Gruppe, einer vertiefenden Regression, damit zum Anschluss an sehr frühe Beziehungserfahrungen. Es ging viel mehr um Zugehörigkeit als um Autorität. Vielleicht weil die Trainerpaare bereits eine Beziehungssicherheit erworben hatten, war es auch möglich, intensive ödipale, besonders erotische Erfahrungen in der Gruppe zu machen und zu besprechen. Am Ende dieses Durchganges haben wir wieder mehr strukturiert. Die Kommunität X war auch die erste Kommunität, in der ich den Kippvorgang nicht erlebte, das Kernstück unseres Phasenmodells. Das ist aus heutiger Sicht von 2010 einige Erwägungen wert. Das war der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist und zurzeit etwa folgenden Zwischenstand hat: Nach einem Tag mit vier Gruppensitzungen trifft sich die Gruppe ohne Leiter für eine Stunde zum Malen (Themen sind Gruppenbild 1, 2, 3 usw.). Mit diesen Bildern gibt die Gruppe ja auch eine eigene Gruppendeutung. Danach findet noch eine Großgruppe statt. In der nachfolgenden Trainerbesprechung wird der Tag ausgewertet und im Dialog mit dem jeweiligen Gruppenbild eine gemeinsame Gruppendeutung gesucht, die dann als Instruktion für die nächste KBT festgehalten wird, z. B.: »Jedes Gruppenmitglied hat jetzt die Möglichkeit, sich Raum zu nehmen und das zu probieren, was ihm wichtig ist und möglich erscheint« – an diesem Abend hatte die Gruppe eine »Jugend-WG« gemalt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Phasenkonzept, Kippvorgang, Intendieren – Versuch einer Übersetzung für Gruppenanalytiker Was so lange Bestand hatte, sollte nicht gedankenlos abgeschafft, aber auch nicht gedankenlos fortgeschleppt werden. Und es sollte auch der Frage nachgegangen werden, welchen Sinn die Idealisierung des Befreiungsgedankens in diesen Zeiten hatte. Damals arbeiteten wir uns durch die internationale Literatur, in der nach Phasenkonzepten gesucht wurde. Besonders Philip Slaters »Mikrokosmos« (dt. 1970) stand hoch im Kurs. Nicht nur Gruppendynamiker, auch Gruppenanalytiker hatten Phasenkonzepte, die heute keiner mehr kennen will. Eine Ausnahme stellt Josef Shaked dar: »Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, die Auseinandersetzung mit der Autorität als einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Gruppe von der Abhängigkeit zur Autonomie [anzusehen], ähnlich der gesellschaftlichen Entwicklung von autoritären Strukturen zur Demokratie« (2003, S. 8). Jedenfalls bescheinigt Enke (2001) der IDG »[d]ie konzeptuelle Ehrlichkeit, bezogen auf das Therapeuten/Therapeutinnen-Verhalten (speziell in der »Anwärmphase«). ›Operatives‹ Therapeutenverhalten ist in jeder guten Gruppenpsychotherapie unerlässlich. Das sollten Abstinenzillusionisten nicht als Manipulation verunglimpfen« (S. 10).

Das Verhältnis von Macht und Liebe in der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie »Die Bagatellisierung des Liebeslebens gehörte zum kommunistischen Credo« (Walter Benjamin). Fragt die Psychoanalyse: »Wie hältst du es mit der Liebe?«, oder genauer: »Wie hältst du es mit der Sexualität?«, so fragt die »intendierte« Konzeption: »Wie hältst du es mit der Macht?« Es ist unverkennbar, dass Macht- und Autoritätsverhältnisse im gesellschaftlichen Alltag eine große Rolle spielten, nicht bloß im real existierenden sozialistischen Apparat. Die Schriftstellerin Monika Maron hat gemeint, dass sie unter der Stasi weniger gelitten hätte als unter den Kellnern, denn jeder Kellner war eine »Autorität«. Der allgegenwärtige Mangel schuf massenhaft »Autoritäten«. Und so war auch der Autoritätsvorschuss, den Ärzte, also auch Psychotherapeuten, hatten, immens groß. Es wäre irreal zu glauben, dass diese Dimension keine Rolle gespielt hätte. So musste © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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die Konzeption – mindestens bis zur Arbeitsphase – Autoritäts- und Machtverhältnisse bearbeiten. Vielleicht bezeichnend für den Theorie- und Praxiswiderspruch ist jene kleine Episode: Während einer theoretischen Diskussion zur Arbeitsphase macht eine Kollegin gewissermaßen das »Geständnis«, dass in ihrer Gruppe während der ambulanten Nachbehandlung fast nur über Sexualität gesprochen werde. Daraufhin erwidert Höck nach langem Überlegen: »Wovon sollen sie denn sonst reden?« Das Divergenztheorem von Hofstätter besagt, dass jede Gruppe zwei Führer hat. »In der Regel teilen sich zwei Partner die fünf Spitzenpositionen, wobei die Leistungsprädikate auf einen von ihnen zu entfallen pflegen, während der andere die Sympathie der Gruppe besitzt« (1957, S. 131). Bei Hofstätter bilden die beiden, nämlich der Liebling und der Tüchtige, ein Paar innerhalb der Gruppe, das relativ engen Kontakt hat. In der IDG ist der Kippprozess durch folgende soziographische Positionen der Hauptperson charakterisiert: Sie erhält die meisten Alphastimmen, Betastimmen und die meisten Beliebtheitsstimmen. Das ließ sich regelhaft nachweisen, so dass die IDG das Hofstätter’sche Divergenztheorem außer Kraft setzte, was Höck mit Stolz erfüllte. Damit war der Tüchtige endlich auch der Beliebte. So gesehen ahnt man auch schon etwas bei dem Terminus »Arbeitsphase«: Da wäre vielleicht das Nicht-Konzeptualisierte in der Konzeption das Wichtigere, nämlich die Frage nach Liebe und Beliebtsein. Das könnte auch heißen: Mit der Konzeption lassen sich die Machtfragen klären, dahinter wartet das Reich der Liebe. Das »Liebesleben« ist in der Konzeption fraglos bagatellisiert. Das ist sehr schade, und es ist an der Zeit, der Kraft der Liebe in der Kraft der Gruppe zu ihrem Recht zu verhelfen.

Konzepte und Konzeptschicksale Angesichts des Chaos in Gruppenprozessen, im Leben überhaupt, können Konzepte und Theorien das Leben sehr erleichtern  … Je näher die Konzeptionen der Wirklichkeit sind, desto länger haben sie Bestand. Es ist natürlich ein dialektischer Entwicklungsprozess, was von Gruppenprozesskonzepten aufgehoben wird und auf welche Weise. Wenn schon die Gruppenpsychotherapie in der Krise ist, so sind es die Prozesskonzepte und Modelle noch sehr viel mehr. Insbe© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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sondere der »Angriff auf den Leiter« hat seine zentrale Rolle im Gruppenbildungsprozess verloren. Wenn man nach Ursachen dafür fragt, dann hat das zu tun mit dem Untergang der strukturellen Basis der intensiven Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse, z. B. dem Schließen psychotherapeutischen Kliniken, und ist insoweit ein institutionelles Problem. Das Phasenkonzept jedenfalls ist an Bedingungen geknüpft, mindestens an geschlossene Gruppen. Gruppenleiter und Gruppenverfechter haben erheblich an Autorität verloren. Es geht offensichtlich um ein kulturelles bzw. gesellschaftliches Problem: »Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass der Verlust der Autoritäten mit dem Verlust verbindlicher Wertesysteme einhergeht. Im Zeitalter der Indifferenz haben sich die Machtstrukturen verflüchtigt, die Gesellschaft erscheint wie atomisiert, nichts ist mehr greifbar, die Kommunikation bleibt aufgrund ihrer weltweiten Vernetzung kaum noch durchschaubar, das Gefälle zwischen Befehlen und Gehorchen wird immer unsichtbarer« klagt Shaked (2003, S. 16). Tatsächlich stimmt es, dass die Verbindlichkeit der Wertesysteme nachgelassen hat. Dennoch gibt es natürlich Wertesysteme, und die neue Generation führt einen mühsamen Kampf darum, der von Shaked offensichtlich unterschätzt wird: »Die Entwicklung von der konfliktfreudigen, ödipal geprägten Generation der siebziger Jahre hin zur narzißtischen, gleichgültigen, teils resignativen und depressiven Generation der neunziger Jahre, ließ sich auch in unseren Gruppen beobachten [...], im Vergleich zu früher als weniger lebendig und lustvoll, als ernsthaft bemüht, narzisstisch beschäftigt mit ihrem Kleinkram und weniger rebellisch gegen Autoritäten. Auch wenn wir die Gegenübertragungsreaktionen der Beobachter nicht als objektive Befunde nehmen, so stimmen sie mit dem Urteil der Kulturkritiker überein« (Shaked, S. 19). Raoul Schindler bemerkt dazu: »Der Trend des Marktes wird immer vom Widerstand gegen Aufklärung diktiert werden. Gesucht wird die möglichst billige Harmonie mit dem Ganzen [...] Du gleichst der Welt, die du begreifst, nicht mir, sagt der Erdgeist zu Faust, der diesen zu beschwören sucht, also zur Realität seines gleichnishaften Schwärmens machen will« (2002, S. 50). Offensichtlich sind dem aber auch die Therapeuten unterworfen. Und noch einmal Schindler im Zusammenhang damit, dass er den Übergang der Gruppenpsychotherapeuten zur Einzeltherapie kritisch würdigt: »Nach meiner Einschätzung handelt es sich dabei nämlich um © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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eine Erscheinung, die nicht dem Nutzen, sondern dem Widerstand des Patienten entspricht und deren Anerkennung einem Minderwertigkeitsgefühl der Gruppentherapeuten in ihrem Metier gleichkommt« (S. 49). Und Thomas Mies (2003, S. 66) hält die verbreitete Ansicht für eine Illusion, »nach der autoritärer Kollektivismus in westlichen Gesellschaften nur ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten und nicht mehr eine ständige mehr oder weniger latente Gefahr darstellt.« Was ist von den Prozesskonzepten geblieben? Fraglos die Anwärmphase. Fraglos eine Abschlussphase. Fraglos auch die Erfahrungen, wie aus einer regressiven Gruppe mit brachliegenden intellektuellen Funktionen durch eine Gruppendeutung eine Gruppenatmosphäre mit hoher Selbstreflexion in herzlicher Atmosphäre zustande kommen kann. Dass es nie nur um das Phasenkonzept ging, hat bereits Höck 1986 festgestellt: »[...] wir sollten nicht mehr weiter diskutieren, ob man Phasen im Gruppenverlauf unterscheiden sollte oder nicht. Oder ob wir den Prozess in drei, fünf oder sieben Phasen zerteilen oder so oder so benennen sollen, sondern überprüfen, ob und wie weit sie mehr oder weniger nützlich geeignet sind, eine situationsadäquate Wahrnehmung und Bewertung des manifesten und latenten Geschehens in dem komplexen und komplizierten Therapieprozess zu fördern, zu unterstützen und damit dem Therapeuten die notwendige kommunikative Übersicht und die emotionale Sicherheit vermitteln helfen« (Höck, 1988, S. 12 f.). Melanie Klein sah die »paranoid-schizoide Position« und die »depressive Position« als Stufen eines aufeinanderfolgenden Entwicklungskonzeptes. Heute beschreiben die Neo-Kleinianer diese Positionen als Seinsweisen des Menschen. Auf diese Weise wurde der reiche Erfahrungsschatz, der sich an diesen Positionen festmacht, fruchtbar gehoben. Ähnlich könnte der Erfahrungsschatz des Phasenkonzeptes fruchtbar gemacht werden für die Wahrnehmung und den Umgang mit unterschiedlichen Zuständen in Gruppen. Geblieben sind fast nur Fragen, Suchbewegungen und Hypothesen ...

Faszinosum Kippvorgang im Spiel der Generationen von Gruppenleitern und Gruppenmitgliedern (Kandidaten, Patienten, andere Klienten usw.) Wie Gruppenprozesse ablaufen, hängt in hohem Maße von den Mitgliedern ab, keineswegs nur von den Leitern. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Realistischerweise müssen natürlich Utopien, die wir im Osten und vom Westen hatten, gegen das Licht gehalten und es muss das Nichteingelöste auch realistisch betrachtet werden. Und da ist der emotional hoch besetzte Kippprozess am deutlichsten relativiert. 1989 schrieb ich noch: »Die ›Befreiung‹ aus ›neurotischer‹ Erstarrung, die ja immer auch als erstarrter Protest verstanden werden kann, ist in der intendiert dynamischen Gruppenpsychotherapie an eine ›Revolution‹ der Gruppe dialektisch verknüpft. Damit wird eine Dimension dieser ›Befreiungstherapie‹ deutlich: Der Aufstand des Subjekts hat Konsequenzen nicht nur für Primärgruppen, sondern auch im sozialen Raum. Vielleicht ist es dieser – auch jugendtypische – Grundgedanke, der gemeinsame Zuversicht von Adoleszenten und Therapeuten mit ausmacht« (Seidler, 1995, S. 53) Und: »Dass die intendierte dynamische Gruppenpsychotherapie unverkennbar einen Reflex auf die DDR-Wirklichkeit darstellt, sei nur am Rande bemerkt. Das gilt sowohl für den Therapeuten-zentralistischen Ansatz ›patriarchalischen‹ Gepräges als auch für den Befreiungsgedanken« (S. 54). Diesen Befreiungsgedanken gab es – quod erat demonstrandum – nicht nur in der DDR, wie auch. Heute stellt sich die Frage, was mit dieser Idealisierung auch abgewehrt wurde. Offensichtlich war es ja ein Thema der Kriegskindergeneration. Für die war es nicht leicht, gegen die wenigen und meist verletzten Väter aufzubegehren. In alles war Schuld eingewebt. Vielleicht war es in einer Diktatur leichter und notwendiger, ein psychotherapeutisches Gegenmilieu zu schaffen, in dem dieses Aufbegehren möglich ist, als zentrale Dimension im Gruppenbildungsprozess (vgl. den Beitrag von Stephan Heyne in diesem Band). Hinter dem ganzen patriarchalischen Kampfgetöse könnte außerdem die Abwehr der Mütterlichkeit stecken, des präödipalen Unbewussten, denn das Ungeheuerliche, das sich dort verbirgt, muss am meisten abgewehrt werden. Bereits 1978 habe ich mit der Gruppenarbeit mit Adoleszenten begonnen. Eine neue Patientengeneration erschien: nicht fleißig, zwanghaft, autoritätshörig, sondern verloren, autoritätslos, auf irgendeiner Sinnsuche. Bei ihnen war das ödipale Drama besonders laut, und doch ging es letztlich darum nicht. Der Kippvorgang – das ödipale Drama in der Gruppe – ist bei männlicher Leitung an tapfere Vater- und Sohneshelden geknüpft. Die gab es noch, Benkenstein gehörte dazu, ich auch: Beziehungen knüpfen über aggressive © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Auseinandersetzung, Mutproben, kämpferische Konfliktfreudigkeit. Das Patriarchalische ist an das Heldenhafte gekoppelt. Im Nachhinein stellt sich die Frage, ob es vielleicht nur einfacher war, so zu tun, als ob es sie noch geben würde, die autoritären Strukturen – die Erbärmlichkeit und hoffnungslose Überforderung »unserer« »Eliten« war ja unübersehbar (»Kennst du den kürzesten Witz? – Dr. Honecker!«). Die gegenwärtige Vaterlosigkeit oder besser die Vaterimagines des Scheiterns, der Demut, der Schuld, des moralischen Versagens verändern diese Dimension substantiell. Diese Vaterimagines sind nicht ohne Würde. Der in Warschau um Vergebung bittende Willy Brandt hat es uns vorgemacht. Aber dafür ist eine andere Art von Tapferkeit nötig. Zur aggressiven Auseinandersetzung fordert diese nicht auf, aber doch zur Auseinandersetzung. Aber der Kippprozess war auch immer mehr als nur Rebellion im Mikrokosmos Gruppe. Wolfgang Kruska hat schon 1976 darauf hingewiesen, »dass dem Kippvorgang innere Prozesse im Therapeuten vorausgehen müssen, die der Gruppe den ›Kippvorgang‹ mit dem Therapeuten, ihn also eingeschlossen, ermöglicht« (Kruska, 2001, S. 99). »Die Geburt einer Gruppe erfolgt aus der gemeinsamen Ohnmacht der Einzelnen. Hier ist ihre Stunde Null, wenngleich der nachfolgende kräftige und triumphierende erste Schrei auch sehr schön anzuhören ist« (S. 101 f.). Einen weiteren Gesichtspunkt hat Stephan Heyne herausgearbeitet: »›Kippen‹ ist nicht nur Erleben und Ertragen von alle vereinender Ohnmacht und dadurch entstehender Mut, wirklich Neues wachsen zu lassen. ›Kippen‹ ist nicht nur ein Emanzipationsprozess, der das Ende der Hilflosigkeit markiert. Zu diesem Qualitätssprung zählen auch die ersten tiefergehenden Erfahrungen des Auflösens von Übertragungen« (2002, S. 99; Hervorhebung von C. S.). Und hier wird die analytische Dimension noch einmal deutlich: Befreiung im Mikrokosmos Gruppe zeigt fraglos Wirkung. Aber erst die Befreiung von der Macht der inneren Objekte heilt und ermöglicht Begegnung mit der Wirklichkeit. Jenseits der institutionellen, sozialökonomischen und sozialpsychologischen Gründe für den Untergang dieses Befreiungsgedankens in Gesellschaft und Gruppe scheint das Phantasma der Autorität auch in der inneren Objektwelt an Bedeutung zu verlieren. Andere Selbst- und Objektrepräsentanzen gewinnen die Oberhand, darunter ein Autonomiewahn und eine © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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– wie Chris Jaenicke (2002) sagt – »defensive Grandiosität«, um die »unerträgliche Eingebettetheit des Seins« abzuwehren. Anders formuliert: Es schieben sich neue beziehungsfeindliche Phantasmen in den Vordergrund. Wenn auch nur ein Gruppenmitglied aus seinem narzisstischen Kokon heraustritt und einem anderen Gruppenmitglied – es kann auch der Leiter sein – begegnet, verändert das die Gruppensituation fundamental. Das wäre ein Beispiel für einen Kippprozess, und der wäre im Zeitalter des Narzissmus gekennzeichnet durch schlichte zwischenmenschliche Begegnung. Bei der Untersuchung des Kippvorgangs nach Art einer Spektralanalyse wird das Licht auf viele unterschiedliche Elemente geworfen: auf Fragen von Autorität und Rahmen, auf das Problem Aggressionen, auf das Thema Solidarität und Verbundenheit der Gruppenmitglieder untereinander und auf die Rollen, welche die einzelnen Gruppenmitglieder während dieses Prozesses einnehmen, und was diese Rollen über diese Teilnehmer sagen. Autorität und Rahmen Vor dem Kippprozess ist der Gruppenleiter in der IDG der Vertreter des Gesetzes. So gibt es zunächst eine Rechtssicherheit durch Autorität. Während des Kippprozesses entstehen Normendiskussionen; Grenzen und Normen werden neu definiert. Damit tritt in der Gruppe eine verbindlichere, demokratische Rechtssicherheit ein, die den Rahmen sichert und auch den Gruppenleiter an diesen Rahmen bindet. Dieser Rahmen muss sich im Verlauf immer verändern, auch unumgängliche Rahmenverstöße und Grenzereignisse bestimmen ihn jeweils neu. Die Gesetze werden von allen gemacht, verworfen und neu entwickelt. Es handelt sich um eine »dynamische Administration« (Pines, 1995), der auch der Gruppenleiter unterworfen ist. So geht die Containerfunktion vom Gruppenleiter auf den Rahmen über. Eine solche Vorstellung ist anders als die oft in der Psychoanalyse vertretene, dass nämlich die Gruppe die Mutter symbolisiere und der Gruppenleiter bzw. die Gruppenleiterin den Vater und damit das Gesetz. Leiterzentralismus und Abstinenzillusion In der IDG hat der Leiter bzw. das Leiterpaar in den Vorphasen eine zentrale Rolle, konzeptionell nur in diesen (s. a.: »Alles Gesagte gilt dem Leiter«). Dass diese Rolle eine erhebliche narzisstische Gratifi© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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kation für den Leiter bedeutet, ist mehrfach nachgewiesen worden. Das macht den Abschied von dieser zentralen Rolle in eine unspektakuläre Moderatoren- oder Dienerrolle auch schwer. Das gilt natürlich nicht nur für IDG-Gruppenleiter, sondern es gilt auch für die Gruppen, die sich in einem solchen rechtssicheren, aufgeklärten Fürstentum gut einrichten können. Der Gruppenleiter – eine Art aufgeklärter, weiser Fürst? Aber auch Abstinenz kann zur Ideologie werden. Problem der Aggressionen Die notwendige Versagung der Wünsche an den Gruppenleiter muss zu Frustrationsaggression führen. Der Zeitpunkt des Auftauchens dieser Aggressionen bestimmt den Beginn des Kippprozesses. Während dieser Phase geht es also ganz vordergründig um Aggressives. Die Enttäuschungsaggression führt idealtypisch zur »revolutionären Situation« in der Gruppe. Für die Gruppenmitglieder ist die Erfahrung unerhört wichtig, aggressiv sein zu dürfen, ohne von der Gruppe abgelehnt zu werden. Das Erleben, das sagen zu können, was man denkt – wie auch immer –, ist eben heilsam. Das wissen auch Gruppentherapeuten von Schulen, die den Kippprozess nicht kennen. Solidarität und Verbundenheit Der Kippprozess war nie Selbstzweck, wenn ihn auch vorübergehend eine Gloriole umgab. Er ist so etwas wie eine Hebamme bei der Geburt der Gruppe. Es geht um die Bezugswürdigkeit der Gruppe und darum, das Risiko von Verbundenheit in der Gruppe einzugehen. Es kommt zu einer horizontalen solidarischen Vergesellschaftung, innerhalb derer dann die narzisstische defensive Grandiosität aufgegeben werden kann. Die Rollen Während des Kippprozesses gibt es Führer, Mitstreiter, Mitläufer und Gegner. Es gibt Ideologen, Schreibtischtäter, Kriegsberichterstatter und andere rückwärtige Dienste. Es gibt auch Kollaboration und geschlechtsspezifische Fraternisierungen usw. Wir haben also keineswegs nur Bions Kampf- und Fluchtgruppe oder Lenins revolutionäre Massen vor uns. Die Rollen, die das Gruppenmitglied in dem ödipalen Machtkampf einnimmt, sind sicherlich nicht zufällig, und für den Einzel© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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nen wird eine Menge bewusstseinsfähig. Das kann gegen Ende des Kippprozesses in der Gruppe auch reflektiert werden, nämlich dann, wenn der Klimawandel eingetreten ist und die Gruppe gewissermaßen von der paranoid-schizoiden in die depressive Position übergegangen (»gekippt«) ist. Dem Vernehmen nach spielte dieser Kippprozess oder diese Revolte in der Gruppenanalyse vor 1968 eine bedeutende Rolle, seither nicht mehr. Es könnte sein, dass das Autoritäre seitdem aus der Gruppentherapie und aus der Soziologie verschwunden ist. Das könnte mit den gesellschaftlichen Umbrüchen in dieser Zeit zusammenhängen. Unsere Erfahrungen seit der Wendezeit 1989 würden diese Hypothese bestätigen. Zweifel bleiben. Jedenfalls beklagt Shaked in Österreich erst Mitte der 1990er Jahre den Verlust der Konfliktfreudigkeit in Gruppen im Zusammenhang mit der narzisstischen Kultur. In den letzten Jahren ist aber eine solche klassische Kippphase nicht mehr zu sehen. Die beschriebenen Prozesse, die in allen analytischen Gruppenformen auftreten müssen, können zu verschiedenen Zeitpunkten – also desynchron – realisiert werden. Allein die Tatsache, dass auch nur Einer aus seinem Kokon heraustritt und mit einem Zweiten Beziehung aufnimmt, verändert die Gruppensituation schon erheblich und stößt den Gruppenbildungsprozess an. Der Gruppenleiter hat hier sogar eventuell noch Schutzfunktion. Seine Relativierung kann später erfolgen. So ist erklärbar, dass es im narzisstischen Zeitalter den Kippprozess nicht mehr gibt, wohl aber »gekippte« Gruppen.

Ausweichen in Geringschätzung Beim Untergang der DDR wurde vieles mitgerissen, auch Sinnhaftes wurde entwertet. Die IDG steckte in der Krise. Bei den vielen Enttäuschungen liegt Geringschätzung nahe. Auch die verhindert wissenschaftliche Betrachtung. Bei unserer Zusammenarbeit mit den Kollegen aus Münster half uns oft gerade deren Wertschätzung, unsere eigenen Entwertungstendenzen zu erkennen. Auf diese Weise konnten Unterschiede bestehen bleiben und fielen keinen Anpassungstendenzen zum Opfer. Auch bei mir selbst haben die letzten Jahre Argwohn gegen alles »Idealtypische« hinterlassen. Das hat mit vielen Erlebnissen zu tun, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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mit einer politischen Wende, sehr viel Selbsterfahrungen in Gruppen, einer Lehranalyse und mit vielen kontroversen Diskussionen in den Trainerteams der Selbsterfahrungskommunitäten. Die Erfahrungen von Einflusslosigkeit und Ohnmacht, die Einsichten in die Fragilität menschlicher Beziehungen und menschlicher Existenz überhaupt haben uns mit Demut erfüllt. Aber Demut ist Hochschätzung. Einen Generationswechsel gab es 2001. Stephan Heyne übernahm den Vorsitz der Sektion. Mit ihm beginnt eine neue Ära: Die Ausbildungskommunitäten werden nach Lychen verlagert und es beginnt eine konkrete Zusammenarbeit mit dem Münsteraner Förderverein für Gruppenanalyse in der Form, dass Trainer/Ost Gruppen/ West und Trainer/West Gruppen/Ost trainieren. Erst die gemeinsame konkrete Arbeit konnte die gegenseitige Achtung, das Interesse und den Respekt füreinander wachsen lassen. Dadurch entstanden bei den Leuten aus dem Osten auch wieder Respekt und Achtung vor den eigenen Erfahrungen, die zwischenzeitlich in Defensive und Minderschätzung versunken waren. Eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit ergibt sich für Berliner IDG-Kollegen seit 2003 im Rahmen des »Berliner Instituts für Gruppenanalyse« (BIG). Durch die Zusammenarbeit von Ost- und West-sozialisierten Gruppenpsychotherapeuten entstehen heute ganz neue Fragestellungen, die erst durch die Differenzen auftauchten.

Von der Reichweite des Mitgefühls »Der moralische Fortschritt ist davon abhängig, dass die Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird. Er ist nicht davon abhängig, dass man sich über die Empfindsamkeit erhebt und zur Vernunft vordringt«, und Solidarität »ist zu denken als die Fähigkeit, immer mehr zu sehen, dass traditionelle Unterschiede (zwischen Stämmen, Religionen, Rassen, Gebräuchen und dergleichen Unterschiede) vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und Demütigung – es ist die Fähigkeit, auch Menschen, die himmelweit verschieden von uns sind, doch zu ›uns‹ zu zählen«, sagt der amerikanische Philosoph Richard Rorty (1992, S. 310). So gesehen scheint Spaltung in der Welt, in Deutschland und in Berlin überwindbar. Es gibt keine Alternative. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Das Berliner Institut für Gruppenanalyse besteht seit 2003. Es ging aus einer Intervisionsgruppe von Ost- und West-Gruppentherapeuten hervor. In ihm ist ein kontinuierlicher Such- und Wachstumsprozess entstanden. Nach längeren Phasen von paranoiden und anderen Fremdheitserleben sind wir inzwischen zu einer konstruktiven Auseinandersetzung gelangt, was für alle Beteiligten von Vorteil ist. Auch hier arbeiten Gruppenanalytiker und IDG-Trainer gemeinsam als Lehrgruppenanalytiker bei der Leitung von Selbsterfahrungsgruppen. Nicht ohne Erfolg – und mit Freude. Erfreulicherweise fand der Humanforscher Michael Tomasello (2006) heraus, dass es eine »shared intentionality« oder »Wir-Intentionalität« gibt und dass diese eine genetische Voraussetzung hat. Und diese genetische Grundlage unterscheidet den Menschen von allen anderen Primaten, weil sie die kulturelle Entwicklung menschlichen Denkens, menschlicher Kultur, ja des Menschseins überhaupt, ermöglicht. Als »Wir-Intentionalität« bezeichnen wir die Fähigkeit von uns Menschen, mit anderen zusammen kooperativ, mit unterschiedlichen Zielen, mit gemeinsamen Absichten und eben mit Freude etwas zu vollbringen. So etwas haben wir uns mit der »Intendierten« und mit »Intendieren« immer vorgestellt. Jetzt wissen wir, dass auch die Evolution es so meint: »Mensch, werde, der du bist!« und »Du wirst an der Gruppe zum Ich«.

Literatur Bernhardt, H. (2000). Mit Sigmund Freud und Iwan Petrowitsch Pawlow im Kalten Krieg. In H. Bernhardt, R. Lockot (Hrsg.), Mit ohne Freud (S. 172–203). Gießen: Psychosozial. Enke, H.(2001). Geleitwort. In C. Seidler, C., I. Misselwitz (Hrsg.), Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (S. 9–11). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Erpenbeck, J. (2002). Die Gruppe im Zeitalter des Narzissmus. In C. Seidler, H. Benkenstein, S. Heyne (Hrsg.), Ausbildung in Gruppentherapie und Gruppenanalyse. Berlin: Edition Bodoni. Heyne, S. (2002).Wattwürmer im Thüringer Wald. Kohäsion und Kippprozess in der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie im Bild. Weinheim. Höck, K. (1988): (Gruppen-)Psychotherapie in der Bewährung. PsychotherapieBerichte HdG Berlin, 39, 7–15. Hoffstätter, P. R.(1957). Gruppendynamik. Reinbek: Rowohlt. Jaenicke, C. (2002). Einführung in die Intersubjektivitätstheorie. Selbstpsychologie. Europäische Zeitschrift für psychoanalytische Therapie und Forschung, 3, 165–188. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Thomas Mies

Von der Außenansicht zur Innenansicht Persönlicher Bericht von einer Begegnung zwischen Gruppenanalyse und Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie

Von der Außenansicht zur Innenansicht. Als ich diesen Titel zum ersten Mal gelesen habe, fand ich ihn plausibel; zumindest meinte ich gleich, genau zu wissen, was damit gemeint war: vom Austausch über unterschiedliche gruppentherapeutische Konzepte zur Erprobung dieser Konzepte in einer gemeinsamen Praxis; von einer Kooperation in dem mir vertrauten Setting der gruppenanalytischen Blockveranstaltungen des Fördervereins Gruppentherapie in Münster zur Kooperation im Setting der Kommunität, das für die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie paradigmatisch ist; von der Position des Leiters einer Beobachtungsgruppe in der Blockveranstaltung zur eigenen Leitung einer Kleingruppe in der Kommunität. Dennoch sind mir bei der Konzipierung des Beitrags leichte Zweifel gekommen, ob der Titel dem, was ich mitzuteilen habe, ganz gerecht wird. Die Zweifel beziehen sich vor allem auf zwei Punkte: Zum einen habe ich ein wenig mehr von innen nur den Bereich der professionellen Selbsterfahrung, also das Setting der Kommunität kennen gelernt. Den Bereich der Gruppenarbeit mit Patienten kenne ich nach wie vor so gut wie gar nicht aus eigener Erfahrung. Das betrifft sowohl die ambulante Gruppenarbeit als auch die mit Gruppen in der Klinik. Zum anderen bleibt mein Blick der eines Gastes, der sich über die Einladung in ein Nachbarhaus freut, vieles, was er zu sehen bekommt, anregend und bedenkenswert findet, der aber dennoch in einem anderen Haus beheimatet ist. Es ist damit natürlich ein anderer Blick als der Blick derjenigen, die das Haus bewohnen und in ihm dauerhaft heimisch sind, und insofern nach wie vor ein Blick von außen. Meine Kontakte zur Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie gehen auf die zweite Hälfte der 1980er Jahre zurück. Damals waren Christoph Seidler und Monika Kneschke bei uns zu Besuch, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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um eine unserer Blockveranstaltungen zu beobachten, und wir hatten intensive Diskussionen im Anschluss an die Gruppensitzungen. Es gab einen Gegenbesuch von Kollegen unseres Instituts in der Klinik in Berlin-Hirschgarten, um die Gruppenarbeit dort vor Ort kennen zu lernen, an dem ich aus Termingründen nicht teilnehmen konnte. Bei allem wechselseitigen Respekt schienen die Konzeptionen damals doch schwer vereinbar. Dies betraf vor allem die Beziehung von Leiter und Gruppe und die damit zusammenhängende Frage nach dem Stellenwert von Ko-Leitung. In der Gruppenanalyse ist Ko-Leitung eher die Ausnahme von der Regel der Einzelleitung, während für die IDG sicher die Umkehr dieser Aussage zutrifft. Wichtige Differenzen zeigten sich auch in der Auffassung des Verhältnisses von Lebensgeschichte und dem Hier und Jetzt des Gruppenprozesses. Eine Kooperation in einer gemeinsamen Gruppenleitung schien – allein schon wegen der politischen Rahmenbedingungen im geteilten Deutschland – damals schwer vorstellbar. Immerhin gab es, wenn ich mich richtig erinnere, schon bei diesem ersten Kontakt die Entdeckung einer wichtigen Gemeinsamkeit: die Überzeugung, dass das Blocksetting auch für Patienten einen Rahmen für wichtige Veränderungsprozesse bieten kann. Dieses Setting wird in der gruppentherapeutischen Landschaft vor allem als Setting für Professionelle gesehen. Die nächste Station in dieser Geschichte einer Begegnung ist dann der Kongress der IDG, der im September 1990 kurz vor der Wiedervereinigung stattfand. Ich war eingeladen, einen Vortrag zu Foulkes zu halten, und beeindruckt von der Mischung aus Aufbruchstimmung und Zukunftsangst, die ich dort wahrzunehmen meinte. Der Anpassungsdruck, der mit der Integration in die westdeutsche Psychotherapieszene verbunden war, schien unverkennbar; in eine Szene, die durch die eindeutige Dominanz des Einzelsettings geprägt ist und in der ein tiefer Graben zwischen Klinik und ambulanter Psychotherapie besteht: In der Klinik ist die Gruppe als Therapieform nach wie vor stark verbreitet, während sie in der ambulanten Psychotherapie nur ein Schattendasein fristet. Der Kontakt war dann danach für längere Zeit auf gelegentliche Begegnungen reduziert. Im Rückblick wird deutlich, dass wir uns auch im Münsteraner Institut für Gruppenanalyse in dieser Zeit mit den Problemen herumgeschlagen haben, die sich aus den Tendenzen einer Marginalisierung der Gruppenpsychotherapie ergeben: mit dem Widerspruch, dass für eine analytisch orientierte Gruppenpsychotherapie ein lebendiger © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Kontakt zur Psychoanalyse von elementarer Bedeutung ist, dass aber ihre Unterordnung unter die Psychoanalyse als bloße Anwendungsform ihr weder konzeptionell noch praktisch gut bekommt; mit neuen Vorstellungen einer Komplementarität von Einzel- und Gruppensetting statt ihrer Polarisierung und wechselseitigen Entwertung; aber auch schlicht mit dem Festhalten an eigenen Zielvorstellungen, auch wenn die gesellschafts- und fachpolitischen Konjunkturen sie im Moment überhaupt nicht begünstigen. Aber die Ausgangspunkte, von denen aus wir mit diesen Tendenzen konfrontiert waren, waren in dieser Zeit doch offenbar noch zu unterschiedlich, als dass diese Gemeinsamkeit der Probleme uns zusammengeführt hätte. Wir haben mit Respekt den Eigensinn der IDG-Kollegen wahrgenommen, sich nicht schnell in die in der Bundesrepublik etablierte Fachverbandsstruktur einzupassen und zunächst an der organisatorischen Autonomie festzuhalten, um eigene Erfahrungen unter radikal veränderten Bedingungen überprüfen, weitergeben und in die Fachdiskussion einbringen zu können. Wir haben es begrüßt, dass die IDG schließlich in einer eigenen Sektion ihren Platz im DAGG als Fachverband für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik gefunden hat. Es ist sicher kein Zufall, dass die nächste Etappe einer Zusammenarbeit mit einer Tagung der IDG beginnt, die unter dem Titel »Gruppe in Not« im März 2000 stattfand. Ich war zu dieser Tagung eingeladen, um zum Thema »Gruppenpsychotherapie als Beruf« zu referieren. Am Rande dieser Tagung und unter ihrem Eindruck kam es dann zu den ersten Gesprächen, in denen das Projekt eines exemplarischen Kooperationsversuchs in einem gemeinsam geleiteten Gruppenprozess begann, Gestalt anzunehmen. Was hatte sich verändert? Offenbar trat für uns die gemeinsame Wahrnehmung einer Krise der Gruppentherapie und der gruppentherapeutischen Ausbildung gegenüber der Unterschiedlichkeit der Ausgangspunkte, von denen aus wir mit dieser Krise konfrontiert waren, in den Vordergrund. Aber noch wichtiger waren Annäherungen auf der Ebene der inhaltlichen Konzepte, neue Erfahrungen sowie die deutlichere Wahrnehmung von ungelösten Problemen, mit denen diese Konzepte in der praktischen Arbeit konfrontiert waren. Die modifizierten Auffassungen, die in der IDG zum Kippprozess, zum Intendieren und zum Phasenmodell entwickelt wurden, ließen den Graben, der Gruppenanalyse und Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie in ihren Standpunkten zur Beziehung © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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zwischen Leitung und Gruppe trennte, als sehr viel weniger tief erscheinen, als alle Beteiligten in der Vergangenheit gedacht hatten. Am Münsteraner Institut hatten wir in der Zwischenzeit einige Experimente mit Ko-Leitung unternommen, an denen ich selbst beteiligt war, und ich selbst würde zwar nicht so weit gehen wie eine Kollegin, die sich die eigene Leitung einer Blockveranstaltung nur in der Form von Ko-Leitung vorstellen kann, aber ich habe sie als eine Leitungsform kennen gelernt, die ihre speziellen Vorzüge hat und durchaus in das gruppenanalytische Denken und eine gruppenanalytische Leitungspraxis integriert werden kann. Nicht zuletzt wurde uns durch diese Experimente stärker bewusst, dass wir in der Form der sogenannten Kombinierten Blockveranstaltung über ein Ausbildungssetting verfügen, in dem Ko-Leitung seit jeher praktiziert wird. Im Rahmen einer Kombinierten Blockveranstaltung leitet eine Kollegin oder ein Kollege unseres Teams die Gesamtgruppe in einer Sitzung am Morgen, während am Nachmittag zwei Kleingruppensitzungen stattfinden, die von Ausbildungskandidaten geleitet werden. Der Gesamtprozess wird von einer gemeinsamen Supervisionsgruppe begleitet und reflektiert. Genau dieses Setting haben wir dann als Rahmen für das Experiment einer gemeinsamen Gruppenleitung mit IDG-Kollegen zur Verfügung gestellt, mit der Modifikation, dass auch in der Gesamtgruppe von einem IDG-Kollegen und einer Kollegin von uns Ko-Leitung praktiziert wurde. Weiterhin waren bei uns in der kollegialen Intervision deutliche Meinungsunterschiede zu Tage getreten, die die konkrete Ausgestaltung der Leiterposition im Gruppenprozess betrafen. Ich möchte an der Stelle nur für mich sprechen. Mir waren zunehmend Zweifel gekommen, ob das Foulkes-Modell des Crescendos der Gruppe und des Decrescendos des Leiters sich in der Gruppenleitung auf der ganzen Linie bewährt; ob es nicht auch in fortgeschrittenen Phasen des Gruppenprozesses wichtig sein kann, als Leiter für die Gruppe und einzelne Patienten als Protagonisten der Gruppe im Hier und Jetzt zur Verfügung zu stehen, und das nicht nur in der Übertragung. Nun sind Einschränkungen des Geltungsbereichs dieses Modells der gruppenanalytischen Tradition durchaus nicht fremd. Sie zeigen sich in der Aufmerksamkeit, die in der Gruppenanalyse das erfordert, was Malcolm Pines die dynamische Administration der Gruppe nennt (vgl. Pines, 1995), oder auch im aktiven Schutz von Gruppenmitgliedern, die in Sündenbockpositionen geraten. Aber auch wenn diese Einschränkungen Konsens sind, kann nach meinem Eindruck das © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Prinzip der nichtdirektiven Leitung in der Gruppenanalyse aus Abwehrgründen genutzt werden, um die Beziehung zur Leitung in Situationen zu tabuisieren, in denen sie für die Vertiefung des Gruppenprozesses von zentraler Bedeutung ist. Diese Zweifel verbanden sich bei mir mit einer wachsenden Unzufriedenheit mit einer Haltung, die dauerhaftes Schweigen von Gruppenmitgliedern in der stillen Hoffnung hinnimmt, dass sie auch ohne eigenes Sprechen vom Gruppenprozess profitieren. All das hat zu den guten Ergebnissen beigetragen, mit denen wir nach Meinung aller Beteiligten unser erstes Kooperationsexperiment im November 2002 in Tecklenburg-Brochterbeck am Fuße des Teutoburger Waldes abschließen konnten. Wir hatten einen intensiven Diskussionsprozess über diese Ergebnisse, sowohl während der Veranstaltung als auch bei den beiden Auswertungswochenenden, die nach gründlicher Vorbereitung durch Holger Brandes stattfanden, der die wissenschaftliche Begleitung übernommen hatte. Wir haben über diese Ergebnisse ausführlich informiert (vgl. Arbeitshefte Gruppenanalyse, 2006). Zu den wichtigen Ergebnissen gehört sicher die Entdeckung der Parentifizierung als eines wichtigen und in seiner Bedeutung von uns oft unterschätzten Abwehrmusters der Gruppe. Dass wir darauf gestoßen sind, hat aber sicher mit dem gemeinsamen Setting und der Präsenz der IDG-Leiter – Stephan Heyne und Harald Küster – zu tun, die die Beziehung der Gruppe zur Leitung akzentuierten. Dabei lief nichts nach dem IDG-Lehrbuch, soweit es ein solches noch gibt. Die Gruppe tat alles, um die Beziehungsangebote der Leiter zu ignorieren; keine Spur von offenem Aufstand gegen die Leitung weit und breit. Es ging nach meinem Eindruck vor allem um die Auseinandersetzung, ob die Leitung nicht vielleicht doch wichtig sein könnte und gebraucht wird. Es schlossen sich daran in unseren Diskussionen viele Fragen an, die teilweise auch heftig umstritten waren: nach dem Verhältnis von Familie und Gruppe; nach dem Stellenwert der Parentifizierung im Spektrum der Abwehrformen von Gruppen; nach der Bedeutung des Hier und Jetzt und der Regeln, die im Blocksetting, in dem die Teilnehmer ja nicht nur während der Gruppensitzungen miteinander im Kontakt sind, für das Zusammenleben der Gruppe gelten; nach der Balance zwischen Selbsttätigkeit der Gruppe und Leiterintervention etc. Dabei verliefen die Diskussionsfronten teilweise quer zu den tatsächlichen oder vermeintlichen Grenzen zwischen den gruppentherapeutischen Schulen. Wir hatten ein Problem, an dem wir alle etwas © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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lernen konnten und für das wir über keine fertige Antwort verfügten. Wenn man das Problem, auf das wir bei der Veranstaltung gestoßen sind, versuchsweise verallgemeinert, könnte man es in einer ersten Annäherung so formulieren: Was wird aus unseren gruppentherapeutischen Konzeptionen der Leitung, wenn nicht mehr autoritäre Bevormundung, sondern soziale Anomie, die Abwesenheit von Eltern bzw. die Verwischung oder auch massive Verletzung von Generationengrenzen zum vorherrschenden Sozialisationsproblem werden? Was die IDG-Kolleginnen und -Kollegen – auch jenseits von Kippprozess und Phasenmodell – in die Diskussion dieses Problems einbringen können, ist meines Erachtens ihre hohe Sensibilität für verdeckte Versuche von Gruppenmitgliedern, mit der Leitung Kontakt aufzunehmen, und ihre Expertise für Beziehungsklärungen im Hier und Jetzt. Was die Gruppenanalyse einbringen kann, ist das Denken in Beziehungsnetzwerken und multipersonalen Beziehungsmustern. Zu den erfreulichen Erfahrungen dieser ersten Kooperationsrunde gehörte es, dass sich trotz aller Meinungsunterschiede in der Diskussion eine große Gemeinsamkeit in der Sicht auf den Gruppenprozess herausbildete, schon – dort allerdings noch deutlich eingeschränkt durch den aktuellen Problemdruck der Gruppe und den Handlungsdruck der Leitung – während der Besprechungen, die den laufenden Gruppenprozess begleiteten; aber erst recht während der Auswertungswochenenden, die sich mit größerem zeitlichen Abstand an die Blockveranstaltung anschlossen. An dieses Heimspiel sollte sich dann für uns Münsteraner zeitnah das Auswärtsspiel im Rahmen einer Kommunität der IDG anschließen. Das hat sich dann wegen der in der gruppentherapeutischen Ausbildungslandschaft bekannten Rekrutierungsprobleme erst Anfang 2006 realisieren lassen und fand in Lychen am südlichen Rand der Mecklenburgischen Seenplatte statt. Geplant war, dass von unserem Institut Beate Rasper, die in Brochterbeck die Gesamtgruppe zusammen mit Stephan Heyne geleitet hatte, diesmal mit Herrn Benkenstein zusammen die Großgruppe leiten sollte und ich mit Beate Grunert zusammen eine Kleingruppe. Die Vorbereitung der Kommunität stand unter keinem guten Stern. Herr Benkenstein wurde durch einen Fußbruch an der Teilnahme gehindert; für ihn sprang Stephan Heyne ein. Auch bei mir stand die Teilnahme bis kurz vor Veranstaltungsbeginn auf der Kippe, weil ich mir bei einem Fahrradunfall eine Oberschenkelfraktur zugezogen hatte, mich nur mit Krückstöcken bewegen und nur © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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unter der Bedingung anreisen konnte, dass während der Veranstaltung in der Mittagspause in einer nahegelegenen Klink eine regelmäßige Krankengymnastik gewährleistet war. Angesichts dieser alles andere als günstigen Ausgangsbedingungen ist es mir erstaunlich leicht gefallen, mich in dem neuen Setting zurechtzufinden und die Spielräume zu nutzen, die es anbietet. Ich habe einen sehr intensiven Gruppenprozess erlebt und mitgestalten dürfen. Ich hatte das Gefühl einer neuen Freiheit in der Gestaltung meines Leitungsstils. Die Brochterbeck-Erfahrung und die anschließenden Diskussionsprozesse hatten offenbar bei mir ihre Spuren hinterlassen, was auch von meiner Kollegin Beate Rasper mit freundlicher Kritik registriert wurde. Was die Zusammenarbeit in der Ko-Leitung betrifft, hatte ich den Eindruck, dass ihre Hindernisse nur partiell in der Differenz der Schulen begründet waren, aus denen wir herkommen. Da war zunächst das praktische Handicap, dass es für uns durch die Folgen meines Unfalls nicht möglich war, wie geplant in der Vorbereitung ausführlicher miteinander zu sprechen, um uns ein Stück weit miteinander und mit unseren unterschiedlichen Auffassungen von Leitung vertraut zu machen. Und wir hatten auch während der Veranstaltung wenig Zeit, um uns außerhalb der Besprechungen des gesamten Leitungsteams auszutauschen. Wir waren als Leitungspaar weitgehend auf ein Learning by doing angewiesen und das hat den Druck, unter dem wir bei der gemeinsamen Arbeit standen, sicherlich erhöht. Daneben spielten Unterschiede des Alters, der – wenn auch nicht die Gruppentherapie direkt betreffenden – beruflichen Sozialisation und des persönlichen Leitungsstils eine erhebliche Rolle. Es gab in der Mitte des Gruppenprozesses eine sehr kritische Grenzsituation, in der wir – sicher nicht zufällig – in eine ausgeprägte Disharmonie gerieten, die wir zunächst nicht zum Verstehen der Gruppensituation nutzen konnten und die mich sehr beunruhigt hat. Aber nachdem wir uns an dieser Stelle trotz der Enge des Zeitplans den Raum für ein klärendes Gespräch genommen hatten, ist es uns gelungen, sowohl ein hinreichend großes Einverständnis wiederherzustellen als auch zunehmend souveräner mit unseren Unterschieden in der Gruppe umzugehen. Auch unsere Meinungsverschiedenheiten in der Grenzsituation betraf den Schulenunterschied nur bezüglich eines, allerdings wichtigen Aspekts: den der Verknüpfung einzelner Gruppenmitglieder bzw. an sie gerichteter Leitungsinterventionen mit dem Gruppenprozess und seinen Beziehungsmustern. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Auch bei den Diskussionen im Gesamtteam schienen mir die Schulenunterschiede nur von relativ marginaler Bedeutung. Es gab zwei kritische Grenzereignisse, die im Gesamtteam vor allem umstritten waren: das oben schon erwähnte Grenzereignis in der Kleingruppe von Beate Grunert und mir und ein weiteres früheres Grenzereignis in einer der ersten Großgruppensitzungen. Beim Grenzereignis in unserer Kleingruppe lagen die Standpunkte von Beate Rasper, die in der entsprechenden Sitzung als Beobachterin dabei war, und mir am weitesten auseinander. Beate Rasper brachte den an dieser Stelle unverzichtbaren psychiatrischen Blick ein und drängte darauf, auch die sich aus diesem Blick ergebenden Optionen ernsthaft zu prüfen. Ich bestand mit Beate Grunert zusammen dagegen darauf, das Grenzereignis aus dem Gruppenprozess zu verstehen und seine Integration in den Gruppenprozess anzustreben. Heraus kam ein tragfähiger Kompromiss, den wir aber wiederum ohne die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen der IDG, insbesondere von Irene Misselwitz, nicht gefunden hätten. Bei dem Grenzereignis in der Großgruppe fand die Kontroverse vor allem zwischen Stephan Heyne auf der einen Seite und Christoph Seidler und Irene Misselwitz auf der anderen Seite statt. Es ging um eine von einigen Gruppenmitgliedern initiierte Inszenierung, die die Sitzordnung der Großgruppe gravierend veränderte. Den Standpunkt, den Christoph Seidler und Irene Misselwitz in ihrer Kritik einnahmen und der im Rückblick auf den gesamten Gruppenprozess noch mehr Plausibilität gewinnt, hätten auch Gruppenanalytiker/ -innen einnehmen können, die die Sicherheit des Settings sehr hoch bewerten. Umgekehrt stand hinter der Sympathie, die Beate Rasper und ich für den Standpunkt von Stephan Heyne artikulierten, die gruppenanalytische Überzeugung, dass Settinggrenzen zwar hinlänglich stabil, aber nicht unbeweglich sein dürfen, wenn die Bearbeitung von Konflikten in der Gruppe voranschreiten soll. Gegenüber der Blockveranstaltung in Brochterbeck, bei der die Auseinandersetzung über die Parentifizierung als Abwehrmuster von Gruppen und der angemessene Umgang der Leitung mit dieser Abwehrform im Mittelpunkt standen, trat in den Diskussionen in Lychen ein anderes Thema in den Vordergrund: die Verknüpfung des Verbalen mit dem Nonverbalen im Gruppenprozess. Die für mich als feste Bestandteile eines Blocksettings neuen Elemente der morgendlichen Bewegungstherapie und der abendlichen Gestaltung eines Gruppenbildes trugen sehr zur Verdichtung des Gruppenpro© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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zesses bei. Ich war überrascht, wie viel Material aus der Bewegungstherapie und den gemeinsamen Bildern in die Gruppengespräche einfloss und wie umgekehrt sich gerade auch in den nonverbalen Sitzungen durch die Klarheit des Rahmens und die Zurückhaltung der Leitung der Raum öffnete für die Selbsttätigkeit der Gruppe. Die nonverbalen Sitzungen waren nicht nur wichtige Indikatoren für den jeweiligen Stand des Gruppenprozesses. Sie trieben diesen auch voran und es entstand ein einheitlicher Gruppenprozess, in dem verbale und nonverbale Mitteilungsformen abwechselten und sich verschränkten. Von den IDG-Kollegen gab es zur Frage nach dem Zusammenhang der verbalen und der nonverbalen Elemente in ihren Settings zwei Hauptantworten: 1. Die nonverbalen Elemente sind ein unverzichtbarer Bestandteil. 2. Es ist wichtig, dass die nonverbalen Kommunikationsformen von den verbalen Gruppensitzungen klar abgegrenzt sind. Aber damit ist die Frage meines Erachtens nur zum Teil beantwortet. Die Sitzungen sind zwar getrennt, aber es bleibt dieselbe Gruppe, die spricht, die sich bewegt und die gemeinsam malt. Offen lassen diese Antworten, wie sich die Verfügbarkeit unterschiedlicher Kommunikationsformen auf die Gruppenmatrix auswirkt. Dass sie durch diese Verfügbarkeit gravierend modifiziert wird, scheint mir auf der Hand zu liegen. Welche Beziehungen stellt die Gruppe bewusst und – vor allem – unbewusst zwischen diesen Kommunikationsformen her? Meines Wissens hat keine andere gruppentherapeutische Konzeption das Nebeneinander verbaler und nonverbaler Mitteilungsformen so explizit und an zentraler Stelle in ihr Setting eingebaut wie die IDG. Ich halte das für eine Stärke – pragmatisch, weil dieses Nebeneinander die alltägliche, in der Regel freilich wenig reflektierte Gruppenpraxis in der Klinik darstellt, dem gegenwärtig wichtigsten Anwendungsfeld der Gruppenpsychotherapie; aber auch theoretisch, weil gegenüber einem engen Verbalismus Skepsis angebracht ist, der in der psychoanalytischen Grundlagenforschung zunehmend unterminiert wird und für die Gruppe mit ihrer im Vergleich zum Einzelsetting größeren Nähe zur Alltagskommunikation erst recht keine tragfähige Grundlage bietet. Aber es ist hier viel theoretische, empirische und praktische Arbeit notwendig, um aus einer bloß defensiven Rechtfertigung gegenüber einer verbalistisch argumentierenden Methodenkritik herauszukommen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Auch bei der Diskussion dieses Themenkomplexes hat die Differenz der therapeutischen Schulen eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Komplementaritäten waren wichtiger als Unverträglichkeiten. Der Schulenstreit verwandelte sich zu einem gemeinsamen Lernen im durchaus kontroversen Dialog. Man kann das als eine weitere Erscheinungsform eines modischen psychotherapeutischen Eklektizismus ansehen, der theoretisch fundiertes und methodisch kontrolliertes therapeutisches Handeln verunmöglicht. Man kann es aber auch als einen Hinweis auf Problemstellungen verstehen, die die etablierten Konzepte der gruppentherapeutischen Schulen nur ungenügend erfassen und an denen sich im Lernprozess überraschende Gemeinsamkeiten herstellen können. Welcher Seite dieser Alternative ich zuneige, hat dieser Beitrag, wie ich hoffe, hinreichend deutlich gemacht.

Literatur Arbeitshefte Gruppenanalyse (Hrsg.) (2006). Gruppenanalyse im Dialog. Ein gruppenpsychotherapeutisches Forschungsprojekt. Psychosozial 29, 1 (Nr. 103). Pines, M. (1995). Person und Gruppe: Grundlegung durch Dialog. Arbeitshefte Gruppenanalyse 10, 52–71.

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Stephan Heyne

Neue Wege der IDG – Die Geschichte geht weiter

Vorbemerkungen Die letzten zwanzig Jahre haben das Profil der IDG deutlich verändert. In der Gruppenarbeit hat sich der inhaltliche Schwerpunkt von der gruppendynamischen Beziehungsklärung im Hier und Jetzt verschoben zu Fragen der Zugehörigkeit und eines Verständnisses des Gewordenseins. Dies rührt heute mehr an traumatische, generationsübergreifende Themen. Zentrale Punkte sind dabei der verlässliche Rahmen und die dahinter stehende behandlungstechnische Haltung, die auch bei der Einbeziehung nonverbaler Formen der Kommunikation zunehmend minimal strukturierend ist. Die Angebote zur nonverbalen Kommunikation im Rahmen der IDG sind damit anders geworden als die ursprüngliche Kommunikative Bewegungstherapie von Anita Wilda-Kiesel und Mitarbeitern (2010). In der IDG steht heute die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen verbaler und nonverbaler Kommunikation auf gruppenanalytischer Basis im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit. Dieser Bereich hat sich damit zum zentralen Essential der IDG entwickelt. Dies liegt nicht nur an der Wende und hat sich im Vorfeld schon angedeutet. Dennoch hat der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse die schon vorhandenen Prozesse beschleunigt und ihnen teilweise völlig neue Impulse gegeben. In diesem Beitrag werden wichtige Wendepunkte beschrieben und im Einzelfall näher erläutert. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Internationale Selbsterfahrungsgruppe, die umgangssprachlich als »Zweite Internationale Kommunität« bezeichnet wird, obwohl sie schon im Ansatz etwas anderes war. Es wird auch auf aktuelle Projekte der IDG in Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Schulen der Gruppenanalyse eingegangen.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Die Internationale Selbsterfahrungsgruppe Erfahrungen und Hintergründe der ersten Internationalen Kommunität Die Idee zur Gründung einer zweiten Internationalen Kommunität war vor dem Hintergrund eines sich allmählich vollziehenden Generationswechsels entstanden. Die Initiative zu einer neuen Internationalen Selbsterfahrungsgruppe ging dann in der Vorwendezeit 1989 auf einer Tagung in Sofia von einem Polen aus. Czeslaw Czabala konnte dort Helga Hess für dieses Projekt gewinnen. Der Vorläufer, die erste Internationale Kommunität, entstand 1975 und wurde von Kurt Höck und Jürgen Ott geleitet. Beide waren immer darum bemüht, es locker anzugehen, wie auch ein Foto von damals zeigt (Abb. 1).

Abbildung 1: Jürgen Ott (l.) und Kurt Höck in der Pause während einer Kommunität (Foto mit freundlicher Genehmigung von Helga Hess)

Es steckten aber eine starke Beharrlichkeit und viel Geschick dahinter, die führenden Gruppentherapeuten aus dem Osten an einen Tisch zu bringen. Dies galt nicht nur für den internationalen Kreis der Gruppenexperten an sich, sondern auch gegenüber den offiziellen Stellen, die Genehmigungen und Visa ausstellen mussten. Diese erste Internationale Kommunität bewegte sich damit in einem Rahmen mit deutlichen Grenzen und vielen Stolpersteinen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Trotzdem hat sie auch viel ermöglicht, denn ähnlich wie bei der Erfurter Gruppe, von der Michael Geyer in diesem Buch berichtet, war ein wichtiges Anliegen die Beziehungspflege. Dies galt bei der ersten Internationalen Kommunität allerdings im doppelten Sinn. Neben dem Interesse an einer emotional tiefergehenden Beziehung gab es auch ein starkes Interesse an besseren Arbeitsbeziehungen. Sie waren für die Organisation der Psychotherapie im eigenen Land und für die fachliche Profilierung lebenswichtig. Die Vernetzung der organisatorischen Strukturen auf dem Boden emotional tragfähiger Beziehungen schuf damit eine erhebliche Gegenkraft gegenüber dem Machtapparat der gesellschaftlichen Kontrolle. Die Machtinhaber standen den Kräften der Psychotherapie sehr skeptisch gegenüber. Besonders ambivalent war die Haltung gegenüber Gruppen, wenn es mit der Haltung der Gruppenanalyse eher um ein Verständnis der Wirkkräfte ging als um die Steuerung und kontrollierte Nutzung des Potentials einer Gruppe. Die Wahl der Begriffe »dynamisch« und »intendiert« bediente diese Ambivalenz in Richtung der Steuerung und Kontrolle, ohne die andere Seite zu verraten. Diese beiden Begriffe machten es aber jedem leicht, der in die Richtung gewollter Steuerung zu assoziieren wünschte. Das zeigte sich (und zeigt sich bis heute) z. B. in einer häufigen Fehlleistung beim Aussprechen des vollständigen Begriffs »Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie«. Oft wurde und wird aus den beiden selbständigen Wörtern ein neuer, gemeinsamer Begriff konstruiert, nämlich »dynamischintendiert«. Die Durchsetzung des dynamischen Willens des Gruppenleiters passte besser in das damalige gesellschaftliche Umfeld als die Vorstellung, dass »dynamisch« auf ein dynamisches Unbewusstes hinweist, welches in Gruppen immer wirkt, und dass Intention mehr ist als bewusste Einflussnahme. Die Fehlleistung heute deutet daraufhin, dass der gegenwärtige Zeitgeist von Machbarkeit und Funktionalität entweder gut in dieser Begriffskonstruktion untergebracht werden kann oder der IDG projektiv zugeschrieben wird. Wenn der Begriff aber dazu so einfach einlädt, ist die Ambivalenz vielleicht nicht nur mit einer einfachen Anpassungsstrategie an die gesellschaftlichen Verhältnisse zu begründen. Im Konzept der frühen IDG, vor allem im Phasenmodell (Seidler, 2006), war an der Vorstellung eines Idealverlaufs und dem Versuch seiner Operationalisierung zu erkennen, wie wichtig den Gründungsvätern eine Einflussnahme auf den Gruppenverlauf war und wie vorsichtig sie gegenüber den Kräften der unbewussten Dynamik eingestellt waren. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Die frühere Betonung des Kippprozesses, bei der der Sturz des Leiters aus seiner machtvollen, die Gruppe abhängig machenden Position im Mittelpunkt stand, war ein zentrales Thema der Nachkriegsgeneration und hat diese beschäftigt. Der Vatermord der Urhorde, wie bei Freud beschrieben (»Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, 1939), ist damit für die Nachkriegszeit im Osten in spezieller Weise konzeptualisiert worden. Dies ist nachvollziehbar, denn für Kriegskinder war es nicht leicht, gegen die wenigen und meist verletzten Väter aufzubegehren, vor allem wenn in jeden aggressiven Impuls der Selbstbehauptung das Schuldthema eingewebt war. In Westen ist diese Dynamik als ein Hintergrund für die Revolte der 68er zu vermuten. Die Gruppenbewegung hat davon viel profitiert, aber auch dazu beigetragen. In einem gesellschaftlichen Kontext, der sich selbst als die Diktatur des Proletariats bezeichnet, war das so nicht möglich. Aber es war leichter und notwendiger, als zentrale Dimension im Gruppenbildungsprozess ein psychotherapeutisches Gegenmilieu zu schaffen, in dem dieses Aufbegehren möglich ist. Dabei entstand eine Generation von Gruppentherapeuten mit sensiblem Gespür für die negativen Folgen von Machtstrukturen und einem ausgesprochen geschärften Sinn für das Hier und Jetzt. Die Betonung des Hier und Jetzt, die Konzentration auf die psychodynamische Durcharbeitung erst nach Erreichen einer Arbeitsphase oder die Notwendigkeit des Überwindens eines prägruppalen Stadiums deuten auf eine Angst vor den regressiven Kräften hin, die in der frühen Phase der IDG eine große Rolle gespielt hat. Auch dies ist verständlich, denn das haltlose Eintauchen in die Regression birgt große Gefahren der Retraumatisierung in sich. Der Betonung von Steuerung und der Konzentration auf die Machtfrage stehen große Ängste vor Kontrollverlust und Ohnmacht gegenüber. Das Bedürfnis nach Kontrolle der Macht ist natürlich auch zu verstehen in einer gesellschaftlichen Struktur, in der der Machtmissbrauch als die Diktatur einer Mehrheit über eine Minderheit offen zum Kulturgut erklärt wurde. Bei späteren Konzepten des Kippprozesses spielt die Sicht auf die Balance zwischen den beiden Polen eine zunehmend größere Rolle. Dass Thema des Bewusstwerdens individueller Ohnmacht im gemeinsam geteilten Rahmen rückt mehr in den Mittelpunkt der fachlichen Diskussionen um den Kippprozess (Kruska, 2001; Heyne, 2002). Damit bleibt aber die Frage offen, welcher Halt nötig ist, um das Grauen und die Verletzungen des Krieges verdauen zu können. Diese © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Frage beschäftigt uns heute intensiver als früher und zeigt, dass es mehrerer Generationen bedarf, um sich dem zu nähern. Was die Generationen dabei für eine Rolle spielen, wäre eine interessante Frage, die hier nicht weiter verfolgt werden kann. Aber ein wichtiger Aspekt, der die Integration traumatischer Erfahrungen von Gruppen ermöglicht, führt wieder hin zum Thema der Internationalen Kommunität. Es ist die Möglichkeit der Überwindung der unbewussten Begrenzungen einer Gruppe durch einen Austausch mit anderen Gruppen. Auch eine Gruppe braucht ein Gegenüber. Kein »Wir« kann sich ohne ein »Ihr« denken, so wie auf individueller Ebene kein Einsiedler zu verstehen ist ohne die Gruppe, zu der er gehört, wie Bion sagte (zit. von Altmeyer, 2010). Das Bewusstwerden von Gruppengrenzen, der Austausch darüber hinweg und die Erfahrung ihrer Vernetzung sind z. B. in der Großgruppe möglich. In der Selbsterfahrungskommunität, während der IDGAusbildung, spielt sie deshalb eine wichtige Rolle. Wird die Gruppe durch eine nationale Gruppenkultur definiert, wird dazu eine internationale Struktur benötigt. (Der Begriff »national« zeigt jedoch seine engen Grenzen und Problematik, wenn wir ihn in der Zeit eines Ost- und Westdeutschlands auf die dortigen Gruppentherapeuten anwenden wollen. Doch hier ist nicht der Rahmen, darauf näher einzugehen.) Es ist also anzunehmen, dass ein unbewusstes Motiv oder zumindest die Chance einer Internationalen Kommunität auch darin bestand, einen Rahmen zu geben, in dem eine Annährung an die traumatischen Erfahrungen möglich wurde. In den Auswertungen der ersten und in den offiziellen Planungen für die zweite Internationale Kommunität fand diese Idee jedoch keine Erwähnung.

Die Rahmenbedingungen Wie schon erwähnt entstand die Idee einer Neuauflage der ersten Internationalen Selbsterfahrungsgruppe auf einer GruppenTagung in Sofia in der Vorwendezeit 1989. Zwei enge Mitarbeiter der Aktiven der ersten Kommunität nahmen es in die Hand, die Leitung dieser zweiten Internationalen Selbsterfahrungsgruppe zu übernehmen. Es waren aus dem Warschauer Institut für Psychiatrie und Neurologie (geleitet von S. Leder) Czeslaw Czabala und aus dem Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung im Berliner Haus der Ge© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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sundheit (ursprünglich geleitet von K. Höck) Helga Hess. In einem späteren Vortrag auf dem Treffen der Society of Psychotherapy Research (SPR) vom 29. 9. – 02. 10. 1993 in Budapest nannte Helga Hess folgende Ziele: – Kooperation junger europäischer Psychotherapeuten initiieren (Austausch professioneller Erfahrungen, Forschung, Zusammenarbeit), – Vergleich psychotherapeutischer Schulen und ihrer kulturellen Unterschiede, – Selbsterfahrung, – Ausbildung in therapeutischen Techniken. Im Gegensatz zur ersten Internationalen Selbsterfahrungsgruppe, deren gemeinsame Sprache Deutsch gewesen ist, wurde für dieses Mal die Verständigung in Englisch gewählt; eine Sprache, die für keinen der Teilnehmer eine Muttersprache darstellt. Vordergründig könnte man hier den Impuls vermuten, die Teilnehmer damit fit zu machen für die internationale fachliche Kommunikation, wo vor allem in der wissenschaftlichen Forschung Englisch längst Geschäftssprache geworden ist. Gleichzeitig wurde damit in der Kommunikation miteinander eine neutrale dritte Ebene geschaffen, die eine sprachliche Dominanz eines der Teilnehmerländer ausschloss. Dies kann als Zeichen dafür gesehen werden, dass in dieser Kommunität viel Wert darauf gelegt wurde, die Basis für einen demokratischen Weg zur Klärung von Machtfragen zu schaffen. Das war neu und entsprach dem Zeitgeist der schon begonnenen gesellschaftlichen Umwälzungen in den teilnehmenden Ländern der damaligen Ostblockstaaten. Die Teilnehmer der »International Self-Experience Group« kamen aus Bulgarien (2), der ČSSR (4), der DDR (2), Polen (4) und der UdSSR (3). 1990 kamen zwei Teilnehmer aus der BRD dazu. Ursprünglich waren zwei Treffen im Jahr für eine Woche geplant. Real wurden daraus Treffen im Oktober 1989 in Polen (bei Warschau), im Frühjahr 1990 in Russland, damals noch UdSSR (an der Ostsee bei Leningrad), im Oktober 1990 in Deutschland (bei Magdeburg), im Frühjahr 1991 in Tschechien, damals noch ČSSR (in der Mährischen Walachei), und zuletzt im Frühjahr 1993 nochmals in Tschechien (im Riesengebirge). In der täglichen Struktur gab es zwei Kleingruppen, in der sich die Teilnehmer zum Gespräch trafen, wobei hier die Selbsterfahrung © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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im Mittelpunkt stand. Zusätzlich gab es eine Rollenspielgruppensitzung, in der die meisten Teilnehmer der Selbsterfahrungsgruppe eine Patientengruppe spielten und je zwei Teilnehmer unter Supervision der anwesenden Trainer die Gruppe leiteten. In weiteren täglichen Nachmittagsgruppen stellten die Teilnehmer eines Landes spezielle Gruppentherapietechniken vor, die bei dem jeweilig landestypischen Konzept eine wichtige Rolle spielten. Dies war z. B. Psychodrama, Tanztherapie, Systemische Therapie, Kommunikative Bewegungstherapie oder Körpertherapie. Beim letzten Treffen 1993 gab es nur noch Selbsterfahrung in der Kleingruppe.

Bemerkungen zum Verlauf Aufbruch – Oktober 1989 Als Teilnehmer dieser International Self-Experience Group möchte ich mich auf einige subjektive Eindrücke beschränken, die mir für das Thema der sich ändernden Schwerpunkte der IDG wichtig erscheinen. Wie schon bei der ersten Internationalen Kommunität steckte auch bei diesem Projekt die Idee dahinter, die organisatorischen Strukturen auf dem Boden emotional tragfähiger Beziehungen zu vernetzen. Neu war jetzt jedoch der Aspekt der Ausbildung einer zukünftigen gruppenpsychotherapeutischen Elite. Junge Psychotherapeuten sollten an das Erbe der Gründungsgeneration herangeführt werden mit dem Ziel, es dann zu übernehmen und fortzuführen. Damit wurde der Schwerpunkt deutlich in Richtung einer Steuerung und Administration verschoben. Dies zeigte sich auch schon im Vorfeld. Die deutschen Teilnehmer aus der DDR wurden nach Abschluss ihrer Selbsterfahrung gefragt, ob sie zu einer Teilnahme bereit wären. Es waren Zeugnisse und Beurteilungen nötig, denn es musste ein Dienstreisepass beantragt werden. Als ich später meine Stasiakte angefordert habe, konnte ich lesen, dass damals eine Akte in der Auslandsabteilung der Stasi über mich angelegt wurde. Ein Routinevorgang, auch schon bei Reisen in das sozialistische Wirtschaftsgebiet, wie man mir mitteilte. Die Akte war aber nicht mehr auffindbar. Diesen vielen Steuerungseinflüssen stand eine gesellschaftliche Situation gegenüber, die gerade dabei war, völlig aus dem Ruder zu laufen. Der Abflug zum ersten Treffen von Berlin nach Warschau war am 8. Oktober 1989. Es war der Tag nach dem vierzigsten, dem let© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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zen Geburtstag der DDR. Einen weiteren gab es nicht mehr. Einen Monat später ist die Mauer gefallen. Das wussten wir damals aber noch nicht. Vor knapp einem Monat hatten in Leipzig die Montagsdemonstrationen begonnen und in Berlin herrschte teilweise der Ausnahmezustand. Es gab umfangreiche Verhaftungen und es war nicht sicher, ob der Mann der anderen Teilnehmerin aus der DDR nicht auch in die Hände prügelnder Stasi oder Polizisten geraten ist. Wir flogen nach Polen, dem Land der Solidarność, dem Beginn des Umbruchs. Die Spannweite zwischen euphorischer Aufbruchstimmung und großer Angst war enorm. Keiner wusste, inwieweit bei einer augenscheinlich sinkenden Macht der Herrschenden die gemäßigten Kräfte die Oberhand behielten oder ob es doch zu einer blutigen chinesischen Lösung wie am Tiananmen-Platz kommen konnte. Die Zweite Internationale Kommunität begann sozusagen im Moment eines gesellschaftlichen Kippprozesses. Das erste Treffen auf dem Land in Polen war von dieser Stimmung geprägt. Zur üblichen Hoffnung am Beginn einer neuen Gruppe kam das euphorische Aufbruchgefühl der damaligen Zeit. Alles schien möglich. Aber es war schwer, auf dem Laufenden zu bleiben. Im Radio, über Kurzwelle, war ein deutscher Sender zu finden. Er war jedoch sehr verrauscht, fast nicht zu verstehen. Die Unschärfe, die Unsicherheit und Angst blieben zunächst. Doch allmählich wurde klar, dass es in Leipzig immer mehr Demonstranten wurden und Gewalt ausblieb. So ist es leicht verständlich, dass sich die beiden deutschen Teilnehmer und die deutsche Leiterin bei einer Bewegungsübung spontan unterhakten und »Gorbatschow, Gorbatschow« skandierten. In dieser Situation von äußerlicher Revolte und friedlichem Umsturz kam es zu innerlicher Verbrüderung über Generations-, Autoritäts- und Abstinenzgrenzen hinweg. Rausch und Angst – Mai 1990 Im Frühjahr 1990, beim nächsten Treffen an der Ostsee bei Leningrad, hat sich dieser Trend verstärkt. Die Unruhe der Wendejahre mit der lange ersehnten Grenzenlosigkeit polarisierte das Erleben aller Gruppenteilnehmer in eine fast vorhandene Gleichzeitigkeit von euphorischem Rausch und lähmender Angst. Die ohnehin vorhandenen zentrifugalen Kräfte der Gruppe strebten in diesem Fall auch real in die nun offen stehende Welt. Die andere deutsche Teilnehmerin kam z. B. nicht mehr zu diesem und den weiteren Durchgängen und tauchte erst beim letzten Treffen wieder © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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auf. Sie hatte noch einmal eine neue psychotherapeutische Ausbildung angefangen. Ein russischer Teilnehmer kam auf der Durchreise nach Frankreich einige Tage vorbei und wurde danach nie wieder gesehen. Der Mann einer anderen russischen Teilnehmerin hatte gerade einen Job beim britischen Radio begonnen. Ihre Auswanderung stand unmittelbar bevor. Die zentripetalen Kräfte rekurrierten sich aus den Ängsten gegenüber Veränderung, Struktur- und Identitätsverlust und fanden ihre Form in der Idealisierung. Wir waren so von der Großartigkeit unserer Unternehmung überzeugt, dass wir beschlossen, unser Projekt gemeinsam bei der nächsten Tagung der Society of Psychotherapy Research (SPR) 1992 in Montreal vorzustellen. Als Titel war geplant: »From Hate to Love«. Halt und Verbindung gab nun ein Arbeitsauftrag mit phantasiertem hohen Anerkennungscharakter. Eine Reflexion dieser Hintergründe fand in den Gruppengesprächen nicht statt, eher in den Unterhaltungen am Rande. So blitzte diese Dynamik z. B. kurz auf, als wir in der Ostsee bei Leningrad baden gehen wollten und nicht konnten, da dies wegen giftiger, roter Algen nicht möglich war. Wir scherzten von der roten Flut, die sich unserem Freiheitsdrang entgegenstellte. Aus diesem Scherz sprach einerseits die Angst, dass all das Neue doch nur ein kurzer Traum sein könnte und dass sich das immer noch mächtige Alte nicht einfach so besiegen ließe, wie auch andererseits der unbewusste Wunsch, dass alles wieder so werden solle, wie es war. Ein typisches Gefühl in einer Umbruchsituation, in der das Neue lockt, aber nicht sicher auch Besseres verspricht und das Alte deshalb mit dem Gefühl verführen kann, dass es zwar nicht das Beste, aber doch das Bekannteste war, bei dem es sich deshalb lohne zu bleiben. Ernüchterung – Oktober 1990 Die enge Verflechtung zwischen dem Gruppenprozess der Internationalen Kommunität und den politischen Ereignissen des Umbruchs in Europa zeigte sich auch bei dem dritten Durchgang im Oktober 1990, der in der Nähe von Magdeburg durchgeführt wurde. Das Gelände war ursprünglich ein Erholungsort für Mitarbeiter eines Industriebetriebes, der eine zentrale Rolle spielte in der Erschließung von Erdöl und Erdgas in der DDR. Die Zukunft dieses Betriebes wie auch des Erholungsortes stand zur Disposition, denn die Vereinigung stand bevor, die auch Anschluss der neuen Bundesländer genannt wurde. Die Vereinigungsfeier am 3. Oktober wurde von der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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gesamten Gruppe im Fernsehen verfolgt, mit sehr gemischten Gefühlen. Wenig später waren die Betriebsstrukturen nur noch Geschichte. Das Werk wurde von der Treuhand abgewickelt. Der industrielle Motor der Region wurde eine Altlast; die vielen Arbeiter und Angestellten auch. Mit der Vereinigung und der Währungsunion wurden nicht nur die Gewinne, sondern auch die Verluste der Wende, des gesellschaftlichen Kippprozesses deutlich. Der revolutionäre Rausch endete im Kater. Die Ideale mussten mit der Tagespolitik abgeglichen werden. Als wir Deutschen vor allem von den polnischen Mitgliedern beglückwünscht wurden, dass wir es nun geschafft hätten, weil jetzt der Reichtum, die D-Mark, Einzug halte, waren auch Neid spürbar und der Vorwurf, die Eigenständigkeit unserer Ideen dem Wohlstand verkauft zu haben. Die Gruppe hatte nun mit der Verschiedenheit ihrer Mitglieder zu tun. Es war aber schwer, unsere individuellen Unterschiede zu betrachten, wenn die gesellschaftlichen Umwälzungen den Blick immer wieder in die Richtung der nationalen Unterschiede drängten. Mit dem Untergang der ehemaligen »Bruderländer« wurde allmählich klar, dass wir nicht mehr alle in einem Boot saßen, und falls doch, dann auf sehr unterschiedlichen Plätzen. Unsere Sprachinhalte wurden politischer. Unsere Individualität reduzierte sich jetzt häufig auf die Rolle des Vertreters einer Völkergruppe. Plötzlich wurde auch die historische Dimension klarer. In den Diskussionen wurde die Frage erörtert, was aus einem Deutschland in Europa wird, wenn es sich wieder zu einer Größe wie vor dem Weltkrieg entwickeln würde. Was war eigentlich, bevor wir Bruderländer wurden? Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass zwei neue deutsche Teilnehmer dazukamen. Sie arbeiteten an einer Universität und standen auch am Anfang ihrer beruflichen Karriere. Es waren zwei Menschen, die später in den »Neuen deutschen Ländern« allgemein als Wessis bezeichnet wurden. Damit hat unsere Gruppe gleichzeitig eine Internationalität erlangt, die weiter reichte als über den ehemaligen Eisernen Vorhang hinaus. Das Gemisch aus Freude und Skepsis führte aber dazu, dass wir in den Gruppengesprächen darauf nicht tiefergehend eingingen. Wieder waren es nur die Gespräche am Rande, in denen diese Themen kurz aufschienen. Vielleicht wirkte hier zusätzlich ein weiterer wichtiger Aspekt der Dynamik, der mit der Gruppenleitung zusammenhing. Die von außen herbeigeführte Ernüchterung, Differenzierung und Entidealisierung betrafen nicht nur die Teilnehmer der Gruppe, sondern auch © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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die beiden Leiter direkt. Sie wurden durch die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen von außen ihrer scheinbaren Macht beraubt, uns gleichgestellt. Helga Hess war in dieser Zeit dabei, das Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung in Berlin zu verlassen, dass seine Rolle als Zentrale der Gruppenpsychotherapieforschung mit dem Ende der DDR verloren hatte. Czeslaw Czabala versuchte sich zunehmend an der internationalen Szene zu orientieren und die Forschungskontakte in die USA auszubauen. Die Leiter (Eltern) haben dieselben Probleme wie die Teilnehmer (Kinder), sind selbst Suchende geworden. Der Wandel hat ihnen die ehemals bedeutungs- und machtvollen Strukturen genommen. Statt revoltierenden Aufbegehrens war ein partnerschaftliches Miteinander gefragt. Sie hatten die beruflichen Erfahrungen. Wir standen am Anfang unserer beruflichen Entwicklung. Der Rahmen, in dem wir uns von nun an bewegten, war aber für beide neu. Bekannt war er nur für die beiden neuen deutschen Mitglieder aus den alten Bundesländern. Über diese Verschiebung der Machtstrukturen zu reflektieren, wäre einfacher gewesen, wenn es eine äußere, neutrale Position gegeben hätte. Die für alle neutrale Sprachebene reichte dafür nicht aus; an einen externen Supervisor war damals nicht zu denken. Auflösung und Ende – 1991 bis 1993 Die Folgen der Veränderungen zeigten sich beim vierten Durchgang im Frühjahr 1991 in der Mährischen Walachei. Fünf Teilnehmer sagten ab. Drei Teilnehmer mussten vorzeitig gehen. Die Gruppe hatte ihren Rahmen verloren und begann damit sich aufzulösen. Auch die narzisstische Seifenblase ist geplatzt. Es wurde klar, dass aufgrund der wirtschaftlichen Veränderungen nur wenige aus der Gruppe 1992 nach Montreal fahren konnten. Es gab keine Institution mehr, die dies organisieren konnte und wollte. Es kam auf das individuelle Interesse und die finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen an. Wenn wir zusammen etwas auf die Beine stellen wollten, mussten wir es selbst und aus eigener Kraft tun. Keiner tat es mehr für uns. Plötzlich waren wir erwachsen geworden und mussten nun entscheiden, ob wir die alten Schuhe der Eltern abtragen wollen oder nicht. Danach wurden keine Gruppen mehr organisiert. Erst 1993 kam es mit viel Aufwand zu einem letzten Treffen im Riesengebirge. Der Leiter, Czeslaw Czabala, fehlte. Er hatte sich inzwischen ein For© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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schungspraktikum in den USA besorgt, was zur selben Zeit stattfand. Abschiedsstimmung lag von Anfang an in der Luft. Zusammen mit der verbliebenen Leiterin, Helga Hess, beschlossen wir, ausschließlich Gruppensitzungen mit Selbsterfahrungscharakter zu machen. Wir wollten uns ein letztes Mal Zeit für uns nehmen. Die wieder dazugekommene, zweite Teilnehmerin aus der inzwischen ehemaligen DDR berichtete von einer intensiven Selbsterfahrung im Rahmen ihrer weiteren Ausbildung. Diese fand zu einem großen Teil in der Dyade statt und bezog auch körpertherapeutische Elemente mit ein. Dabei entstand der Eindruck eines tiefen regressiven Prozesses, den sie durchgemacht hatte. Es hatte ihr augenscheinlich gut getan. Das hat Hoffnung geweckt. Sie hat dabei etwas getan, was viele Psychotherapeuten, besonders auch Gruppenpsychotherapeuten, im Osten in dieser Zeit taten: Sie haben die Veränderungen nach der Wende genutzt, ihre bisherige professionelle Identität in Frage gestellt und sich noch einmal neu orientiert. Die größte Verlockung war dabei das Einzelsetting, besonders die Couch, über die im Osten viel geredet, die aber als psychoanalytische Technik nahezu nicht praktiziert wurde. Man könnte etwas salopp sagen, dass sich der psychotherapeutische Osten mit der Wende zunächst auf die Couch gelegt hat. Er hat sich noch einmal sehr intensiv mit sich selbst beschäftigt. Dies hat natürlich die Arbeit mit den Gruppen und die Gruppen selbst beeinflusst. So ist auch der letzte Durchgang der Zweiten Internationalen Kommunität von dieser Begeisterung für das Individuelle in der Gruppe erfasst worden. Innerlich führte dies zu einer Vertiefung unserer Selbsterfahrung, äußerlich hat die Individualisierung unserer weiteren fachlichen Entwicklung den Effekt gehabt, dass wir uns in den Jahren danach aus den Augen verloren haben. Der gemeinsame Weg führte zur Trennung in unsere einzelnen Wege. Dies ging einher mit Trauer und Enttäuschung, was bei unserem letzten Treffen zu spüren war. Das größere Interesse an dualen Beziehungen in der Gruppe deutet darauf hin. Es spricht für die psychodynamischen Überlegungen von Hans Bosse am Anfang dieses Buches zur Bewältigung der Endlichkeit. Es gab noch einige Versuche, das Unmögliche zu schaffen. Beispielhaft für unser Aufbegehren war eine Bergwanderung, zu der die Gruppe aufbrach, deren Zeitrahmen aber knapp bemessen war. Kurz vor dem Gipfel mussten wir einsehen, dass wir uns zu viel vorgenommen haben. Schweißgebadet haben wir uns in unsere Grenzen gefügt und aufgegeben. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Resümee der Zweiten Internationalen Selbsterfahrungsgruppe Nicht nur am Ende, sondern eigentlich schon von Anfang an sind die Teilnehmer durch die damalige gesellschaftliche Situation mit ihrer Endlichkeit und Begrenztheit konfrontiert worden. Spätestens bei dem Durchgang im Oktober 1990, im sich vereinigenden Deutschland, wurde dies offensichtlich. Der Umbruch des gesellschaftlichen Rahmens konnte von der Gruppe, die sich selbst erst finden musste, nicht kompensiert werden. Die Situation war eine Überforderung, ähnlich wie auf individueller Ebene bei den Untersuchungen von pubertären Jugendlichen in der Wende beschrieben. Viele haben deshalb nicht nur die Internationale Kommunität, sondern im Schwung des verstärkten Interesses am Individuellen auch die Arbeit in und mit Gruppen verlassen. Ich selbst habe mich zunächst der Körpertherapie zugewandt. Dies war ein Trend, der in der ostdeutschen Psychotherapieszene schon vor der Wende deutlich zugenommen hat und der für andere eng mit Hans-Joachim Maaz verbunden war, der dieses Buch auch mit einem Beitrag bereichert. Wie bei vielen anderen ging es auch bei mir weiter zur Couch der Psychoanalyse und erst einige Jahre später, über die Arbeit in der Klinik, wieder zurück zur Gruppe. Loslassen ist besonders schwer, wenn die Angst vor dem Verlorensein dahinter steht. Ohne einen Rahmen, der Vertrauen und Bindung ermöglicht, werden Auseinandersetzung und Infragestellen behindert. Damit lassen sich reaktivierte alte Ängste und traumatische Erfahrungen schwer integrieren. Aus meiner Sicht war dies bei der zweiten Internationalen Selbsterfahrungsgruppe zunehmend der Fall. Der Umbruch des gesellschaftlichen Rahmens ging gleichzeitig einher mit der Aktivierung latenter traumatischer Erfahrungen, die unter diesen Umständen von den Teilnehmern und auch von den Leitern nicht zu bewältigen waren. Im ersten Kapitel dieses Buches empfiehlt Hans Bosse als wesentlichen Schritt auf dem Weg zu fundierter Hoffnung in einer solchen Gruppensituation die drei Gruppenannahmen Bions hinter sich zu lassen – Kampf und Flucht, Abhängigkeit sowie Paarbildung. Hoffnung entsteht, in Anlehnung an Bosse, ohne dass man um jeden Preis gegen andere theoretische Vorstellungen von Gruppen kämpfen muss oder sich resigniert in seine Konzepte zurückzieht. Hoffnung ist möglich, ohne dass man sich hilf- und kritiklos einer mächtigen neuen Konzeption zuwendet. Sie ist auch zu erreichen, ohne dass man seine eigene Vorstellung für die allein richtige Theorie und Pra© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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xis im Umgang mit Gruppen hält. Alle diese Haltungen zeigten sich aber in mehr oder weniger starker Ausprägung bei den aktiven wie auch ehemaligen Vertretern der IDG in dieser Zeit. Dies führte auf der einen Seite zur Abwendung von der IDG bis hin zu ihrer Dämonisierung; auf der anderen Seite zur Idealisierung bis hin zum Aufbau eines verherrlichenden, kritikresistenten Bollwerks. Von innen her hat dies die Zusammenarbeit nicht nur im Rahmen der Internationalen Kommunität, sondern nach dem Mauerfall auch mit den Vertretern anderer gruppenanalytischer Richtungen in Deutschland erschwert. Von außen kamen projektive Prozesse dazu, die es schwer machten, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Das Trennende und die Unterschiedlichkeit auf beiden Seiten wogen plötzlich schwerer als das Verbindende. Dies galt für die Teilnehmer der International Self-Experience Group wie auch allgemein für die fachliche Zusammenarbeit in Deutschland, die vorher trotz aller Schwierigkeiten von Mauerbau und Kaltem Krieg nicht abgerissen war (siehe auch Heyne, 2010). Wie tief und anhaltend sich hier auch gesellschaftliche Spaltungsprozesse widerspiegeln, drückt ein Plakat aus, welches in Berlin/Prenzlauer Berg zu Weihnachten 2009 auftauchte. Darauf stand: »Wir sind ein Volk – und ihr ein anderes«.

Weitere Projekte der IDG Kooperation mit Münster Der Weg zum Projekt Der gesellschaftliche Umbruch mit seinen Wechselwirkungen aus realen und psychodynamischen Folgen hatte auch seine Effekte auf die institutionellen Strukturen der IDG. Die Anzahl der Mitglieder in der ehemaligen Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie betrug zu DDR-Zeiten um die 800. Von diesen Mitgliedern der GruppenSektion der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, die unter der Leitung von Michael Geyer noch vor der Wende im Januar 1989 in die Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) überging, blieben dann im Jahr 2000 ca. 40 Mitglieder, die der im DAGG neu gegründeten Sektion IDG beitraten. Inzwischen wird die Sektion IDG aus 50 Mitgliedern gebildet. Es sind viele Neue dazugekommen, die für das z. B. im Vergleich mit © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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der Sektion AG (relativ) niedrige Durchschnittsalter verantwortlich sind und die nicht in der DDR-Sektion waren. Der Einzugsraum, das »Beitrittsgebiet« ist nicht mehr auf den Osten beschränkt. Aus einer historischen Sektion ist eine lebendige Arbeitsgemeinschaft geworden und kein Heimatverein. Das institutionelle Zwischenglied bis zur Gründung der Sektion IDG war die Deutsche Gesellschaft für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG). In diesem Verein wird heute die Ausbildung in den Selbsterfahrungskommunitäten organisiert. Diese Kommunitäten sind ein wesentlicher Ort für die Reflexion und Weiterentwicklung der methodischen Schwerpunkte der IDG. Damit stellen sie einen wichtigen Lebensnerv dar, besonders nachdem in der Wende vor zwanzig Jahren eine andere Quelle für die Entwicklung der IDG, die Strukturen des ambulant-stationären Fließsystems, zugeschüttet wurde. Die IDG, besser die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die sie praktizieren, hat/haben sich damit verstärkt aus den psychotherapeutischen Kliniken in die ambulanten Praxen zurückgezogen. Als Plattform für den Austausch der neuen Erfahrungen mit der IDG blieben dann nur die Jahrestagungen. Die Ergebnisse der Fachtagungen seit 1995 lassen sich in drei von Seidler, Benkenstein und Heyne (2002a, 2002b, 2003) herausgegebenen Kongressbänden nachlesen. Wendepunkt Brochterbeck Es zeigte sich jedoch, dass ein besseres Selbstverständnis und die Chancen für eine Weiterentwicklung der IDG nur möglich waren in einer gemeinsamen praktischen und wissenschaftlichen Arbeit mit anderen analytischen Gruppenpsychotherapeuten. Durch die Tagungen haben wir zunehmend gute Erfahrungen bei der Vernetzung mit gruppenanalytischen Experten machen können. In der konkreten Zusammenarbeit mit den Kollegen wurde dabei ein wichtiges Element immer deutlicher. Denn wie schon Hans Bosse am Anfang dieses Buches sagt, nimmt die Gruppenanalyse nicht nur die Geprägtheit der Identität an (z. B. auch einer Fachgruppe), sie setzt sie für ihre Arbeit voraus. Die Auseinandersetzung mit dem Gewordensein in der Gruppe ermöglicht Veränderungen, ohne die Gewordenheit des Einzelnen zu verleugnen. Die IDG, inzwischen institutionalisiert als Sektion innerhalb des DAGG, hat deshalb eine alte Idee aufgegriffen und beim Münsteraner Institut für therapeutische und angewandte Gruppenanalyse © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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nach Möglichkeiten für eine intensivere Kooperation angefragt. Die IDG hat damit wieder zu ihrer Wurzel, der Gruppenanalyse, gefunden. Unter wissenschaftlicher Leitung von Holger Brandes (Sektion KuP) haben wir mit den Gruppenanalytikern des Münsteraner Instituts unter Leitung von Thomas Mies ein Projekt in Brochterbeck (Tecklenburger Land) durchgeführt, bei dem die gemeinsame Gruppenleitung durch eine Vertreterin der Gruppenanalyse mit einem Vertreter der IDG qualitativ auf Ähnlichkeiten und Unterschiede im Leitungsstil untersucht wurde (Psychosozial, 2006). Dabei handelte es sich um eine geschlossene gruppenanalytische Blockveranstaltung für Patienten in Form intensiver Gruppenpsychotherapie in Großgruppe und Kleingruppen und unter Anwesenheit einer Beobachtergruppe. Es wurden Tonaufzeichnungen angefertigt, mit denen später eine inhaltsanalytische Auswertung durchgeführt wurde. Die Ergebnisse waren überraschend. Es sprach »viel dafür […] dass die Gemeinsamkeiten gegenüber den Differenzen überwiegen« (Brandes, 2006, S. 112). Beim fachlichen Disput zogen sich die Grenzlinien gleicher Überzeugungen nicht entlang der methodischen Orientierung, sondern mitten durch die jeweiligen Lager der anwesenden Gruppenanalytiker und Vertreter der IDG. Ein individueller Stil, aus dem auch Vorlieben für die eine oder andere Sichtweise oder Interventionstechnik erwuchsen, schien eine größere Rolle zu spielen als der methodische Hintergrund. In Fortsetzung dieser Arbeit haben Gruppenanalytiker aus Münster als Gruppenleiter an der 23. Kommunität der IDG von 2006 bis 2008 in Lychen (Uckermark) teilgenommen. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit verschob sich von der Betrachtung des Interventionsstiles auf den Umgang und die Erfahrungen der IDG in der Verknüpfung verbaler und nonverbaler Methoden der Kommunikation in Gruppen. Eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe wertet zurzeit das Material aus. Eine erste Vorstellung im Rahmen einer Tagung ist für 2011 geplant.

Das Berliner Gruppenanalytische Institut (BIG) Neben der wissenschaftlichen Kooperation hat sich inzwischen auch eine institutionelle Zusammenarbeit mit Gruppenanalytikern verschiedener fachlicher Herkunft entwickelt. Aus einer gemeinsamen gruppenanalytischen Intervisionsgruppe von Mitgliedern aller Berli© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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ner DGPT-Institute hat sich das Berliner Gruppenanalytische Institut (BIG) gegründet, welches heute als zentrales Weiterbildungsinstitut der Sektion AG anerkannt ist. Viele aktive Mitglieder der Sektion IDG sind dort tätig, denn eines der Berliner DGPT-Institute ist das APB, das sich aus dem Haus der Gesundheit am Alexanderplatz entwickelt hat, der früheren Wirkungsstätte von Kurt Höck, Helga Hess, Christoph Seidler, Gerdi Zeller und Christa Ecke. Die regelmäßige und bis heute fortdauernde Reflexion der gemeinsamen Arbeit im BIG in der allen Mitgliedern offen stehenden Großgruppe unter Leitung von Gerhard Wilke aus London zeigte dabei, dass neben der Polarität aus Ost und West auch weitere Gegensätze und Konflikte bestehen. Die Verwicklungen der anderen gruppenanalytischen Strömungen, die sich in den Konflikten der Institute widerspiegeln, und der gemeinsame Boden der Einflüsse der schrecklichen deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert wurden deshalb erst allmählich verständlich und damit besprechbar. Ein Prozess, der gerade begonnen hat und noch lange nicht abgeschlossen ist. Hier zeigt sich im Unterschied zur Internationalen Selbsterfahrungsgruppe der Vorteil eines verlässlichen Rahmens, insbesondere der positive Einfluss eines neutralen Supervisors bei einem »bunten Völkergemisch«, das durch die Vertreter der unterschiedlichen DGPTInstitute und gruppenanalytischen Strömungen gebildet wird. In den Diskussionen wird auch hier der Trend deutlich, der schon den Prozess der Zweiten Internationalen Kommunität und die weitere Entwicklung der IDG geprägt hat. Inhaltlich geht es in den Gruppensitzungen immer mehr um Dazugehörigkeit und Bindung bei gleichzeitiger Entfaltung der individuellen Spielbreite. Als Angst wird dabei jetzt häufiger das Grauen der narzisstischen Verlorenheit identifiziert als die Todesgefahr ödipaler Konflikte.

Ausblick Bei Betrachtung der Entwicklung der IDG in den letzten zwanzig Jahren entsteht der Eindruck, als ob sich die nächste Generation weigert, die Helden zu sein, die die Hoffnungen erfüllen, die die Generation vor ihr verloren hat. Der Kriegsgeneration ist der Glauben an die Kraft unkontrollierter Gruppen schwer gemacht worden, vielleicht sogar verloren gegangen. Die Nachkriegsgeneration hat versucht, ihn wieder zurück© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Generationsfolgen und der Weg der IDG

zugewinnen. Die Internet-Generation im Zeitalter der Globalisierung ist da weitaus optimistischer. Der US-amerikanische Soziologe, Ökonom und Publizist Jeremy Rifkin (2010) sagt z. B., dass das Denken der neuen Generation nicht mehr hierarchisch, sondern dezentral und vernetzt zu sein scheint. Es geht eher um kollektive und im globalen Maßstab kosmopolitische Formen des Miteinanders. Das Internet bietet dazu die Möglichkeit. Arbeits- und soziale Räume werden zunehmend nach dem Open-Source-Modell organisiert. Vielleicht ist diese hoffnungsvolle Sichtweise auch der sozialromantisch übertriebene Reflex auf die verzweifelte Forderung der Nachkriegsgeneration nach heldenhaften Kämpfern. Der Trend zur globalen Vernetzung und die Suche nach neuen Spielräumen fördert aber auch das Bestreben, sich an dem zu reiben und zu orientieren, was man hat. Hier kann die IDG gute Angebote machen.

Literatur Altmeyer, M. (2010). Im Spiegel der Anderen – Gruppe, Narzissmus, Gruppennarzissmus. Unveröffentlichter Vortrag auf der Jahrestagung der Sektion AG in Bonn Bad-Godesberg. Brandes, H. (2006). Unterscheiden sich die Interventionsstile in Gruppenanalyse und Intendierter Dynamischer Gruppentherapie? Psychosozial, 29, 1 (103), 99–112. Foulkes, S. H. (1974). Gruppenanalytische Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Freud, S. (1939). Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Studienausgabe, Band 9 (S. 459–581). Frankfurt a. M.: Fischer. Heyne, S. (2002). Wattwürmer im Thüringer Wald. Konfusion, Kohäsion und Kippprozess in der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie im Bild. In: Förderverein Gruppentherapie e. V. Münster (Hrsg.), Kunst und Gruppenanalyse. Arbeitshefte Gruppenanalyse (S. 75–105). Weinheim u. a.: BeltzVotum. Heyne, S. (2010). Profil der Sektion IDG im DAGG. Matrix 22 (1). Hess, H. (1993). Vortrag auf dem IVth European Meeting of the Society of Psychotherapy Research (SPR) in Budapest. Unveröffentlichtes Manuskript. Kruska, W. (2001). Ein fruchtbares Dilemma – Die Analyse des Kippvorgangs. In C. Seidler, I. Misselwitz (Hrsg.), Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. Göttingen: Vandehoeck & Ruprecht. Psychosozial 29 (2006) Heft 1 (103). Gruppenanalyse im Dialog. Ein gruppenpsychotherapeutisches Forschungsprojekt. Rifkin, J. (2010). Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Frankfurt a. M.: Campus. Seidler, C. (2006). Das Phasenkonzept der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie. In R. Heinzel, C. Seidler (Hrsg.), Gruppenprozess zwischen Struktur und Chaos (S. 47–61). Opladen: Barbara Budrich.

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S. Heyne · Neue Wege der IDG – Die Geschichte geht weiter

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Seidler C., Benkenstein H., Heyne S. (Hrsg.) (2002a). Kunst und Technik der Gruppenpsychotherapie. Deuten. Antworten. Intendieren. Berlin: Edition Bodoni. Seidler C., Benkenstein H., Heyne S. (Hrsg.) (2002b). Ausbildung in Gruppentherapie und Gruppenanalyse. Berlin: Edition Bodoni. Seidler, C., Benkenstein, H., Heyne, S. (Hrsg.) (2003). Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie im Dialog. Berlin: Edition Bodoni. Wilda-Kiesel, A., Tögel, A., Wutzler, U. (2010). Kommunikative Bewegungstherapie. Brücke zwischen Psychotherapie und Körpertherapie. Bern: Huber.

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Männer und Frauen in Gruppen

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Norbert Jung

Wie wir uns finden ... Zur Natur der Geschlechter und zum Geschlechterbild in der Psychotherapie

Ein realistisches Bild von Mann und Frau wird behindert durch Missverständnisse und Abwehrprozesse seitens der Vertreter eines milieutheoretisch-lerntheoretischen Menschenbildes (Sozialisationsdogma). Dieses im Mainstream unserer Gesellschaft herrschende Geschlechterbild, gekennzeichnet durch das Ersetzen des Begriffes »Geschlecht« durch »gender«, kann infolge unreflektierter Konformität von Therapeut und Patient – einem primär unbewussten Prozess – zu Verzerrungen im therapeutischen Prozess führen. Der Beitrag versucht daher, oft auftretende Missverständnisse zu benennen und aufzulösen. Das geschieht u. a., indem Grundprinzipien des Gewordenseins des Lebens (Evolution) dargelegt und die außerbewussten Funktionen der Gen-Umwelt-Interaktion im Zuge der Menschwerdung verständlich gemacht werden, die seit mindestens 200.000 Jahren unsere heutige genetische Ausstattung prägten. Die damit verbundene persönliche und kollektive Kränkung, nicht göttlicher Widerschein durchweg freien Willens, sondern wunderbares Ergebnis einer in uns sinnvoll wirkenden Natur zu sein, wird benannt. Anhand wesentlicher aktueller evolutionspsychologischer und soziobiologischer Erkenntnisse der Partnerwahlmechanismen des Menschen wird der Sinn der Unterschiedlichkeit der Werbungs- und Verhaltenstendenzen bei beiden Geschlechtern (funktional wie emotional) verständlich gemacht (z. B. »parental investment« und »handicap«). Die Grundmuster von Partnerwahlprinzipien bei Mann und Frau werden konkret aufgeführt, teilweise auftretende Diskrepanzen zu bewussten Erklärungen eigenen Handelns benannt (real anders handeln als zu handeln glauben). Das führt zu einer notwendigen und begründeten Kritik am ursprünglichen Gender-Begriff und dem damit verbundenen reduktionistischen Menschenbild, u. a. durch die notwendige Unterscheidung zwischen Universalien (kulturvergleichend) und gesellschaftlichen Be© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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wertungen (Normen). Fragen die in der therapeutischen Praxis reflektiert werden sollten, werden formuliert. Der Anhang bringt eine Übersicht einiger universaler Geschlechterunterschiede des Verhaltens.

Klippen und Missverständnisse Bei der Annäherung an das Thema kam ich mir zunehmend wie Odysseus vor, ein Schiff zwischen einer zunehmenden Zahl von Klippen hindurchsteuern zu müssen, an denen man anecken kann. Anecken kann bedeuten: Das Ziel der Reise wird nicht erreicht. Die Klippen hatten Namen, die aus den Alltagserfahrungen auftauchten, wie: geistiger Mainstream – politische Gender-Korrektheit – Biologismus – Soziologismus – Eva Herman – uneingestandener Konformismus und gesellschaftliche Indoktrination – Neurobiologie – Vorbildnot der Nachkriegsgenerationen – Ratlosigkeit – das wortlose Unbewusste in uns – Glaubenssätze und Realität – Natur des Menschen – die vaterlose Gesellschaft – »Entfremdung« – Vermächtnis der Elten. Das Auftauchen weiterer Klippen ist zu vermuten; diejenigen mit Namen Mainstream, Normdruck und Konformität sind am tückischsten. Dieses Bild impliziert die Metapher: Der Passagier richtet sich gerne nach dem Kapitän, der Erfahrung und Verantwortung hat. Für den therapeutischen Prozess kennen wir das aus der Praxis: die Möglichkeit unbewusster TabuKomplotts zwischen Therapeut und Patient, entstanden aus unreflektierter gesellschaftlicher Konformität. Das meint in unserem Zusammenhang das Tabu, biologisch entstandene Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Verhalten, Gefühlslagen, Reaktionsneigungen, Wahrnehmung, Denkstilen und Bedürfnissen zu akzeptieren. Bei diesem Thema muss befürchtet werden, Missverständnisse zu produzieren. Deren Quellen sind erfahrungsgemäß einerseits unterschiedliche Menschenbilder (z. B. Mensch als reines Lern- und Vernunftwesen, reines Sozialisierungsprodukt vs. bio-psycho-soziale Wesenhaftigkeit), andererseits ein unterschiedliches Verständnis gleicher Begriffe (semantische Klischees). Beides mag einfach auch aus Unkenntnis entstehen. Aber auch die natürliche Schwäche unseres Gehirns für Schwarzweiß-Alternativen trägt sicher seinen Teil dazu bei. Um die evolutionären Hintergründe unseres Seins zu bündeln, muss hier vorerst auf wesentliche Grundzüge vereinfacht werden. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Dennoch ist bei interdisziplinärem Bemühen die Hoffnung auf Brücken zwischen den Verständnissen berechtigt.

Was ist biologisch? Häufige Missverständnisse Niemand zweifelt daran, dass unser Aussehen genetisch bedingt ist. »Ganz der Papa« ist ein Ausdruck genetischen Stolzes. Aber das Verhalten? Obwohl man zumindest für schwieriges Verhalten von Kindern im Alltagsverständnis schnell einmal ein ungeliebtes Familienmitglied verantwortlich macht (das hat er doch vom Papa!), wird dies doch nicht unbedingt als ererbt verstanden – was es ja auch nie vollständig ist. In Pädagogik und Sozialwissenschaften wird Ererbtheit von Verhaltensanlagen in weiten Kreisen für fragwürdig erklärt. Einige Missverständnisse will ich zu Beginn richtigzustellen versuchen. – Missverständnis 1: Ein Verhalten ist entweder angeboren oder erlernt. Konrad Lorenz (1973) hat sehr ausführlich dargestellt, dass die verschiedenen Formen des Lernens bei Tier und Mensch adaptive Modifikationen angeborener Verhaltenstendenzen bzw. -programme sind, die der Optimierung der biologischen Fitness (höchstmögliche Weitergabe der eigenen Gene) dienen: »Kein einziger Lernvorgang kann verstanden werden, wenn man nicht das ganze System kennt, dessen adaptive Modifikation er bewirkt« (Lorenz, 1973, S.  153). Die vereinfachte biologische Korrektur wäre: Jedes erlernte Verhalten ist die adaptive Modifikation einer genetisch angelegten Verhaltenstendenz (Turkheimer, 2000; Voland, 2007). Instinktverhalten wird auch bei Tieren fast immer durch Lernen an konkrete Situationen angepasst. – Missverständnis 2: Ist ein Verhalten genetisch fixiert, müsste es immer und überall auftreten. Es besteht sicher kein Zweifel, dass menschliches Sexualverhalten angeboren ist. Dennoch wird es konkret erst nach der Pubertät und in vollem Maße erst beim Auftauchen von Geschlechtspartnern entfaltet und sehr schnell durch Lernen modifiziert (Sozialisation). – Missverständnis 3: Genetisch fixiertes Verhalten ist immer fertig und tritt stets spontan auf. Dass wir bei schweren Arbeiten mit der Hand Schwielen bekommen können, ist zweifellos angeboren. Wir bekommen sie aber erst sinnvoll durch Interaktion mit einer besonderen Umweltsituation, und sie verschwinden bei Fehlen der Situation (Buss, 2004). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Doris Bischof-Köhler (2006) fand in Diskussionen zum Geschlechterthema insbesondere drei Missverständnisse, die einer sozialwissenschaftlichen (gewollten?) »Hörweise« evolutionspsychologischer Befunde entspringen: 1. Veranlagung bedeutet Festgelegtsein, denn an der Natur kann man nichts ändern (s. o.). Dieses mechanistische Verständnis des Lebendigen verkennt, dass Biologisches stets in Grenzen plastisch ist, um Anpassung an konkrete Umweltgegebenheiten zu ermöglichen. Lernen als biologischer Mechanismus hat sich evolutiv als genetisch fixiertes Verhaltensmuster zur Modifikation der genetischen Programme entwickelt (s. o.). 2. Wenn man Geschlechterrollen als naturgegeben akzeptiert, erhebt man sie damit auch zur gesellschaftlichen Norm; Abweichungen wären dann als »naturwidrig« verpönt. Hierzu wäre der Literaturwissenschaftler Karl Eibl (2004) zu zitieren: »Universalien und Normen sind zwei verschiedene Paar Schuhe.« Biologische Konstituenten der Geschlechterrollen sind Universalien, das heißt der Spezies Homo sapiens auf der ganzen Welt eigen, während Normen kulturbürtige Vereinbarungen sind. Die Einhaltung von Normen muss in der Gesellschaft immer wieder kontrolliert, angemahnt und zum Teil erzwungen werden. Biologische Universalien setzen sich, wenn nicht gesellschaftliche Normierungen dies unterdrücken, von selbst durch. Bewertungen einer Verhaltensweise erfolgen kulturell normativ (Ablehnung, Diskreditierung, Verbot vs. Annahme, Förderung, Idealisierung). Das biologische Verständnis fragt (»wertungsfrei«) nach der Funktion, nicht nach gut oder böse. 3. Natürliche Geschlechterunterschiede zugeben hieße, Männern Eigenschaften zubilligen, die den Frauen fehlen. Daraus ließe sich das Recht ableiten, Frauen als minderwertig zu diskriminieren. Einerseits würde dies umgekehrt ebenfalls gelten: Frauen haben etwas, das Männer nicht in dem Maße haben. Andererseits gilt hier das eben über Normen Gesagte: Wenn ein Philosoph nicht oder schlecht Ski fahren kann oder im Haushalt zwei linke Hände hat, so würde man ihn normalerweise doch deswegen nicht seitens der Skifahrer oder handwerklich Geschickten als »minderwertig« diskriminieren. Wenn jemand aus Veranlagung gut singen kann und dazu noch ein absolutes Gehör hat, so wird man nicht alle diejenigen diskriminieren können, denen dies nicht gegeben © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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ist. Ob vorhandene Geschlechterdifferenzen akzeptiert und als gleichwertig und damit gleichberechtigt und gleich geachtet werden oder nicht, entspringt gesellschaftlich-normativen Werten: Das Problem liegt nicht in der Frage, ob es biologische Geschlechterunterschiede gibt oder nicht, sondern wie die Gesellschaft diese respektiert, achtet und zum Wohle aller entwickeln und entfalten hilft. Man darf vermuten, dass solche Missverständnisse von unbewussten Ängsten diktiert werden, die wohl aus chronischem Mangel an Bestätigung in Familie und Gesellschaft stammen. Auch behavioristisches Grundverständnis des Menschen dürfte nicht unerheblich dabei mitspielen.

Thesen zur Natur der Geschlechter Evolutionsbiologie, Humanethologie, Evolutionäre Psychologie und Neurobiologie haben in den letzten vier Jahrzehnten enormes Material herangeschafft. Die Ergebnisse sind für einige vielleicht enttäuschend, denn sie erscheinen uns aus der Alltagserfahrung doch sehr vertraut. Ich versuche ein paar Thesen: These 1 wäre schon eine Korrektur des Titels »Wie wir uns finden ...«: Wenn wir meinen, dass wir uns bewusst finden, irren wir uns weitgehend. Nicht dieses Wir lässt uns einander finden, sondern zum großen Teil außerbewusste Anteile des Es, also biologische Programme (vgl. dazu auch Badcock, 1999). Das meint nicht (nur?) jene Kollusionen, die Jürg Willi (1975) so populär beschrieben hat, sondern noch tiefer liegende, aus mindestens rund 200.000 Jahren Anthropogenese des modernen Homo sapiens stammende genetisch selektierte und verankerte Verhaltenstendenzen, die sich über diese Zeiträume als vorteilhaft erwiesen (wahrscheinlich aber sehr viel länger). Diese wortlosen, genetisch kodierten Verhaltensantriebe im Unbewussten benutzen, so sehen es Psychodarwinisten und Evolutionspsychologen, die uns bekannten psychischen Mechanismen, um mittels situationsangepasstem Verhalten und Kommunikation ihr Ziel – möglichst weite Verbreitung der jeweiligen Gene – zu erreichen. Sie sind heute unverändert in allen Kulturen mehr oder weniger über das © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Verhalten nachweisbar. Es drängt sich durch die stürmische Forschung immer mehr die Vorstellung auf, dass das Genom im Wesentlichen »sein« leibseelisches Individuum so lenkt, dass es in möglichst vielen Nachkommen weiterwirken kann (Dawkins, 1978). Um dies zu verstehen, ist die Unterscheidung von ultimaten und proximaten Faktoren wichtig. Ultimate Faktoren sind solche, die die Funktion eines Merkmals, seinen Zweck erklären, warum und wie es sich in der Evolution entwickelt hat und wie es hilft, die eigenen Gene per Fortpflanzung auszubreiten. Beispiel Partnerwahl: Finden von Partnern mit möglichst guten Genen, um eine möglichst verlustarme Nachkommenschaft zu garantieren (Verluste: Krankheit, Tod, mangelnde Vitalität etc.). Proximate Faktoren sorgen dafür, dass die ultimaten Ziele mittels geeigneter Verhaltensmechanismen in Wechselwirkung mit der gegebenen Umwelt erreicht werden (u. a. durch das Lernen). Es sind also die exekutiven Instrumente, mit denen die ultimaten Ziele erreicht werden sollen. Ultimates Ziel der Fortpflanzung ist – s. o. – das Finden eines Partners mit guten Genen für meine guten Gene. Der proximate Weg dazu wäre das Finden eines Partners mit guter Immunstärke, Gesundheit und physiologischer Robustheit. Diese genetischen Eigenschaften müssen wiederum mit äußerlich wahrnehmbaren körperlichen und Verhaltensmerkmalen korrelieren, da sonst in der Partnerwahl die guten inneren Eigenschaften nicht von den schlechteren unterschieden werden können (echte Signale). Die äußeren Merkmale (Signale) müssen also innere Eigenschaften widerspiegeln. So wählen Männer bei Frauen bevorzugt Schönheit (symmetrisches Gesicht: Immunplastizität durch hohe Gendurchmischung), schöne Haut und Haare (körperlich-physiologische Gesundheit) und hohen Hüfte-Taille-Index (reproduktive Stabilität). Frauen bevorzugen maskulines, symmetrisches Gesicht (Immunfähigkeit, Testosteron), gute Haut und Muskeln (körperliche Gesundheit, Stärke, Potenz), hohen Status, Intelligenz, Humor, Sportlichkeit/Tanzfähigkeiten, Musikalität, Kinderliebe, Zuverlässigkeit u. a. m., allerdings unterschiedlich selektiert durch die Motivation Kurzzeit- oder Langzeitpartnerschaft (Buss, 2004; Schwab, 2010). Zu den proximaten Faktoren gehört auch die Lernfähigkeit (Erfahrung), wie man diesen begehrten Partner im gegebenen kulturellen Umfeld für sich gewinnen kann. Gerade an dieser Stelle zeigt sich die psychobiologische Schnittstelle zwischen Umwelt und Genom: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Wie wir aus Alltag und Therapie wissen, müssen auch geeignete Lernvorbilder und -situationen vorhanden sein: Eltern, Verwandte, Freunde etc. Die Evolution hat unsere Verhaltenstendenzen für ein vielfältiges soziales Netz zugeschnitten, das wir in der heutigen Zeit immer weniger vorfinden: Der Mensch ist von Natur aus Kulturwesen (Gehlen, 1940/2004). Ein Verhalten kann nur kulturell hervorgerufen werden, wenn es biologisch als Verhaltenstendenz oder Motivation angelegt ist (Voland, 2007). Unserem Bewusstsein und vermutlich auch Unterbewusstsein sind überwiegend die proximaten Faktoren zugänglich, die ausführenden Mechanismen, kurz: unser reales Verhalten. Das Dahinterliegende sehen wir nicht. Das ist verständlich, denn die ultimaten Faktoren sind die tiefsten Prinzipien allen Lebens. Die Weiterführung der These könnte grob vereinfacht lauten: Unsere Natur lebt uns. Zur Außenweltsteuerung hat das Bewusstsein die Aufgabe einer letzten Feinabstimmung unter Berücksichtigung der aktuellen Umwelt und der vorhandenen Erfahrungen, vor allem durch die Lenkung und Hemmung von Impulsen (s. Neurobiologie). Während die unter- und außerbewussten Instanzen des Gehirns rund 100 Millionen bit/s verarbeiten, kann das neocorticale Bewusstsein maximal 100 bit/s umsetzen (Keidel, 1989 in Stengel, 1999; Nørretranders, 1997)! Wenn wir diese Begrenzung von Bewusstsein und Willen für uns persönlich in Rechnung stellen, müssen wir wohl Kränkungen hinnehmen, Abwehr ist wahrscheinlich. Der Frage nachzugehen, was denn da gekränkt ist, muss jeder für sich entscheiden. Geschieht dies als kollektive Kränkung, so entsteht leicht als Abwehr eine gesellschaftliche Norm gegen die ängstigende Wirkung der Vorstellung von natürlichen und unbewussten Strebungen in uns. Dieses normativ im geistigen Mainstream herrschende Dogma heißt: Der Mensch ist ausschließlich Produkt seiner Lern- und Sozialisationsgeschichte. Man erinnere sich hier, dass Sigmund Freud drei große Kränkungen der Menschheit formuliert hat: das heliozentrische Weltbild Kopernikus’, das den Menschen und seine Erde aus dem fixen Mittelpunkt des Universums herauskatapultiert hat, die Abstammungstheorie Darwins, die den Menschen nicht als direkt vom Schöpfer erschaffen, sondern aus »niederen« Lebewesen entstanden darstellte, und die Dominanz des Unbewussten in der Psychoanalyse Freuds, die behauptet, dass das Individuum nicht Herr im eigenen Haus ist. Da Freud glühender Anhänger Darwins war und Teilen des Unterbewussten phy© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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logenetischen Ursprung beimaß, hängen die letzten beiden Kränkungen vielleicht eng zusammen, wie dies Psychodarwinisten darstellen (s. Badcock, 1999). These 2: Aus dem eben genannten unbewussten (außerbewussten) Grund erklären wir uns und anderen unser Handeln anders, als Es10 in uns tatsächlich entscheidet und wir tatsächlich handeln. Denn unser Bewusstsein setzt uns unter Erklärungszwang, unabhängig davon, ob wir die realen Ursachen kennen oder nicht. Wir glauben, uns anders zu finden, als wir wirklich zueinander finden. Lediglich unsere Gefühle scheinen zuweilen Bescheid zu wissen. In einer Studie von Todd et al. (2007) wurden bei einem SpeedDating in München, bei dem man in kurzer Zeit mehrere potentielle Partner zur späteren Wahl treffen konnte, die männlichen und weiblichen Teilnehmer vor dem Treffen nach den Kriterien für ihre Partnerwahl per Fragebogen befragt (z. B. »muss zu mir passen«, »innere Werte«). Nach der getroffenen Wahl wurden die Merkmale der dann real gewählten Partner bzw. Partnerinnen mit diesen Kriterien verglichen. Es wurde die bisher bereits von den Evolutionspsychologen bekannte Aussage bestätigt: Die Frauen wählten real ihre Wunschpartner im Wesentlichen nicht nach den angegebenen Kriterien, sondern nach Status, körperlicher Gesundheit und Sicherheit (gute Gene), waren allerdings wählerischer als die Männer (was evolutionsbiologisch Sinn hat). Die Männer wählten (ebenso wenig kriterientreu) nach körperlicher Schönheit und Wohlproportioniertheit und waren weniger wählerisch. Frauen verglichen zudem durch Selbsteinschätzung ihre Chancen mit der Attraktivität des Mannes (wenn schon nicht so gute Gene, dann doch wenigstens gutes Engagement für die Nachkommenaufzucht), während Männer stets nach der attraktivsten Frau strebten. »Es besteht ein Unterschied zwischen dem, was die Leute behaupten zu wollen, und dem, was sie sich dann aussuchen«, sagte der Leiter der Studie, Peter M. Todd. Bei anderen können wir das vielleicht so hinnehmen, aber bei uns selbst? Nie! Möglicherweise deutet dies in unserer Gesellschaft darauf hin, dass in unseren bewussten Erklärungen auch vor uns selbst eine durch gesellschaftliche Indoktrination entstandene soziale Erwünschtheit und 10 inklusive der das Es konstituierenden biologischen Antriebe © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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damit unbewusste Konformität in den Vordergrund rückt. Unsere wahren Gründe müssen verborgen bleiben, da bei ihrer Entdeckung soziale Diskreditierung und Entwertung drohen, phantasiert als Verlust sozialer Existenz. Unserer Natur zu folgen, unterliegt in unserer Gesellschaft normativ negativer Bewertung und wird als »primitiv« angesehen. So muss man – unbewusst – gesellschaftlich anerkannte Gründe (»höhere« Werte) zur Erklärung finden, auch wenn sie nicht stimmen. Diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen einer Studie von David M. Buss im Jahr 1989 in 37 verschiedenen Kulturen (Buss, 2004). These 3: Das evolutionstheoretische Konzept besagt, dass diejenigen Gene in den Nachkommen erhalten bleiben, die ihrem Träger alles mitgeben, um sich in den wechselnden Umweltverhältnissen möglichst erfolgreich fortzupflanzen. Wenn das nicht passierte, waren die Gene weniger geeignet und automatisch weg vom Fenster. Es blieben nur die fitten Genome übrig (und die sitzen vor diesem Buch!). Keiner der tausenden Vorfahren der heutigen Menschen starb durch Krankheit, Sturz von Felsen, Raubtiere oder andere Menschen infolge Unachtsamkeit, Impulsivität, Ungeschick, vielleicht auch rituellen Fauxpas’ (Normverstöße) oder auch mangelnder Intelligenz, bevor er nicht wenigstens ein Kind zeugte. Es liegt also ein hoher Selektionsdruck auf Genen zur Optimierung auch eines Verhaltens, das uns bei der Partnerwahl zu »guten« Genen führt. Gute Gene sind u. a. Genkombinationen, die eine hohe Immunplastizität und entsprechend flexible Reaktivität auf Krankheiten und Parasiten versprechen. Die moderne Medizin, die dem steten Absinken der Infektionskrankheiten seit 1969 einen steten Anstieg der Autoimmunkrankheiten gegenübergestellt sieht, beginnt erst zu begreifen, welche immense und dynamische Immunleistung der Körper im Ökosystem des Verdauungstraktes (wie auch auf der Hautoberfläche) gegenüber einer enormen und wandelnden Vielfalt von Krankheitserregern zu bewältigen hat (Schuh, 2008). Diese Immundynamik ist überlebenswichtig, wird aber durch die kompensierenden Möglichkeiten der Medizin heute vorerst kaschiert. Paart sich ein Individuum mit »guten« Genen mit einem anderen mit »schlechten« Genen, dann sinkt die Existenzwahrscheinlichkeit © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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seiner Nachkommen. Daher gehen Schimpansenfrauen, vor allem in kleinen, inzestbedrohten Gruppen, heimlich zur Nachbargruppe »shopping for good genes«, wie die Forscher sagen, und kehren dann zurück (Inzest verringert genetische Variabilität und damit Fitness). Bei patrilinearen Primatenarten wandern sie zu den Nachbarn ab. Gute Gene aber kann man nicht sehen. Wie findet man sie also? Man muss – genetisch getrieben! – am anderen Geschlecht Merkmale wahrnehmen und emotional positiv bewerten, die mit guten Genen gekoppelt sind. Denn eine hohe Immunplastizität beispielsweise, die für eine erfolgreiche Aufzucht der Nachkommen lebenswichtig ist, sieht man nicht direkt, sie korreliert aber u. a. mit Symmetriemerkmalen des Gesichts. Da bei Tieren dieses Prinzip der Korrelation äußerer Merkmale (z. B. prächtige Federfarben) mit genetischen Vitalitätseigenschaften auch gilt, muss tradiertes Lernen (Sozialisation) als Ursache weitgehend ausgeschlossen werden.

Partnerwahl: Gemeinsame Interessen – unterschiedliche Interessen Wenn wir hier Gründe aufführen, können es nur solche sein, die in derjenigen Phase der Menschwerdung eine wirksame Rolle spielten, die unsere Verhaltenstendenzen und emotionalen Auslösemuster geprägt hat. Unter dem Fortpflanzungsaspekt haben Mann und Frau Gemeinsamkeiten und deutliche Unterschiede in den Partnerwahlstrategien.

Gemeinsamkeiten – Beide brauchen einen Geschlechtspartner, um ihr Genom mit neuen und »guten« Genen anzureichern. Der Effekt: Steigerung der Immunplastizität, stets neue Entstehung von Individualität und damit Erweiterung der ökosozialen Plastizität in der Population (Adaptivität). – Aus den ultimaten Gründen müssen beide den Partner so wählen, dass die eigenen Gene eine große Überlebenschance haben. Wenn das Gen ein Ich wäre: Der Partner soll für meinen Vorteil geeignet sein. Systemisch würde das eine Win-win-Situation bedeuten. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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– Beide Individuen müssen mit der Partnerwahl gute Gene »einkaufen« und gegen die Konkurrenz gewinnen. Hier sprechen die Biologen vom »reproduktiven Wert« eines Partners, ein Begriff, mit dem Psychologen, bedingt durch ihren Beruf, heftige Probleme bekommen können: Hier ist keine kulturell-normative Stigmatisierung oder Wertschätzung gemeint, sondern der biologischfunktionale Wert, der durch gesellschaftliche Bemühungen letztendlich nicht hintergehbar ist.

Unterschiede Es gibt evolutionspsychologisch klare Gründe dafür, dass Mann und Frau äußerlich und innerlich unterschiedlich sind. Da die Frau durch die Schwangerschaft für nur ein Kind eine im Vergleich zum Mann ungleich höhere Investition bei gleichzeitig erhöhter existenzieller Verletzlichkeit aufzuwenden hat, muss sie danach streben, diese Last auf zwei Schultern zu verteilen (Kosten-Nutzen-Prinzip). Sie sollte also bei einer Langzeitwahl beim Mann körperliche und psychische Merkmale wählen, die seine Bereitschaft dafür signalisieren. In den neun Monaten der Schwangerschaft könnte der Mann demgegenüber seine Gene viel öfter verbreiten, die der Frau könnten infolge mangelnder Hilfe erfolglos sein. Das wäre zu verhindern. In der Stammesgesellschaft, die unsere genetische Ausstattung geprägt hat, sind zudem gar nicht so viele Frauen verfügbar, weil viele von ihnen Kinder haben und daher als reproduktionsfähige Geschlechtspartnerin nicht in Frage kommen. Es herrschte also immer Frauenmangel und daher Männerkonkurrenz. Zudem sollte er, wenn er schon bei seiner Frau bleibt, sicher sein, dass es auch sein Kind ist, für das er sorgt. Das ist ein Grund, sie zu behüten (sexuelle Eifersucht) und Treuefähigkeit zu testen. Darüber hinaus, und hier kommt die kulturelle Ebene ins Spiel, sollten beide Partner idealerweise in dem anderen Partner zusätzlich Eigenschaften wählen, die der Gewährleistung der optimalen kulturellen Entwicklung der erzeugten Kinder u. a. durch Weitergabe von umweltbezogenen Traditionen, Techniken, Wissen usw., wahrscheinlich auch Statusvorteil, dienen. Insgesamt wird all dies unter der Theorie des »parental investment«, also der elterlichen Investition in die Kinder, zusammengefasst, die die ursprüngliche Quelle für all unsere Unterschiedlichkeit © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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ist (Trivers, 1972). Es gibt bisher keine Befunde, die ernsthaft belegen können, dass dies durch Selektion verloren gegangen sein und ausschließlich durch gesellschaftliche Mechanismen ersetzt worden sein könnte. Und es kommt uns ja auch merkwürdig vertraut vor. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon (2001) vereinfacht die Sexualstrategien von Mann und Frau auf die solchermaßen evolutionspsychologisch begründete Formel, etwas plakativ: »Männchen zielen auf eine möglichst hohe Quantität, Weibchen auf eine möglichst hohe Qualität der eigenen Nachkommenschaft.« Soziale und psychologische Entwicklungsfaktoren modifizieren diese, können sie aber nicht grundsätzlich ändern. Schmidt-Salomon (2001) zitiert dazu die folgende Anekdote: Calvin Coolidge, der 30. Präsident der Vereinigten Staaten, und seine Gattin wurden einmal durch eine staatliche Musterfarm geführt. Als Frau Coolidge dort einen heftig mit einer Henne kopulierenden Hahn entdeckte, erkundigte sie sich, wie oft der Hahn seiner Pflicht nachkomme. »Dutzende Male täglich«, lautete die Antwort. Die First Lady schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Bitte sagen Sie das dem Präsidenten!« Als dieser wenig später ebenfalls an das Gehege geleitet wurde und von der enormen Potenz des Hahnes erfuhr, zog er die Augenbrauen hoch und fragte: »Immer mit derselben Henne?« »Nein, jedes Mal eine andere«, wurde ihm mitgeteilt. Die Augen des Präsidenten blitzten: »Sagen Sie das doch bitte meiner Frau!« Cum grano salis gilt dies wohl.

Grundmuster der Partnerwahl Die nach den vorliegenden Studien festgestellten Grundmuster, wie wir uns finden oder eher suchen, sollen im Folgenden dargestellt werden. Dabei sind das Suchen und Finden, das Bevorzugen ganz bestimmter körperlicher und behavioraler Merkmale des Partners, der äußere Vorgang, das »Begehrenswertfinden«, »Gücklichsein« (wenn man es gefunden hat) die bewertende Widerspiegelung, der innere Vorgang. Um erneuten Missverständnisse vorzubeugen, muss hier von Grundmustern gesprochen werden, die durch kulturell-normative und lebensgeschichtlich-psychologische Einflüsse in Grenzen modifiziert werden. Hier bedarf es als verbindendem Brückenschlag der epistemologischen Erkenntnis, dass der Mensch in jedem Moment © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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gleichzeitig aus mehreren Quellen heraus lebt und handelt: den biologischen, kulturell-tradierten und individuell-lebensgeschichtlichen.11 Schon auf der biologischen Ebene sind die Verhaltensintentionen je nach Umweltsituation adaptiv variabel, was man als Mehrstufigkeit der Merkmalsselektion bei der Partnerwahl veranschaulichen kann. Kommt beispielsweise eine Frau in eine Verführungssituation, in der nicht sicher ist, dass sie diesen Partner auf eine gewisse Dauer behalten wird, so wählt sie primär Merkmale, die eine gute genetische Ausstattung (Gesundheit, Vitalität etc. = Attraktivität) signalisieren. Legt sie es – unbewusst oder bewusst – auf Dauer (Partnerschaft, Ehe, Familie) an, muss der Partner idealerweise weitere Merkmale aufweisen wie echte Signale von Verlässlichkeit (Treue), Ehrlichkeit, Fürsorglichkeit (Partner- und Kinderliebe), Zugang zu materiellen und kulturellen Ressourcen (Wohlstand), Kreativität (z. B. Musikalität). Der Grund ist das Prinzip des »parental investments« (s. o.). Die hier wiedergegebenen Erkenntnisse sind durch zahlreiche, auch kulturvergleichende Untersuchungen untermauert (vgl. Buss, 2004).

Weibliche Partnerwahlkriterien Gesundheit, Vitalität Gesundheit weist auf genetisch hohe Immunfähigkeit und damit gute Vitalität der Kinder. Dies ist bei beiden Geschlechtern logischerweise ein zentrales Kriterium: Man möchte gute Gene einkaufen. Wie erkennt die Frau das bei der Auswahl? Als Modell mag hier der Pfau dienen. Es wurde festgestellt, dass weniger gesunde Hähne blassere Schmuckfedern haben. Die Weibchen bevorzugen die Hähne mit den farbenprächtigsten Federn, ohne diese Zusammenhänge zu wissen. Beim Menschen sind die entsprechenden Merkmale die Symmetrie des Gesichts und gesund aussehende Haut. Asymmetrie korreliert mit gesundheitlichen Schwächen, genetischen Engpässen etc. Weiterhin bevorzugen Frauen das Merkmal kräftiger Knochenbau (Kiefer, Wangenknochen, auch Körper). Dieses Merkmal korreliert mit dem Testosteronspiegel. Testosteron bedeutet aber nicht nur sexuelle Potenz und Spermienqualität, sondern auch Ag11 inkl. seiner Werte und Sinngebung © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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gressivität (Verteidigungsfähigkeit, Sicherheit). Hohe Testosteronwerte können sich zudem nur Männer mit guter Gesundheitspotenz leisten, da Testosteron an sich das Immunsystem belastet (Buss, 2004)! Wer trotz dieser Immunbelastung vital ist, hat ein starkes Immunsystem. Attraktionsfaktoren sind also alle Anzeichen hoher Vitalität. Auch hier dient der Tiervergleich als Modell: Wenn bei manchen Vögeln die Männchen kapriziöse und kraftaufwendige Balzflüge präsentieren, dann zeigen sie damit dem Weibchen, dass sie sehr vital sind und mehr als nur das Pflichtprogramm beherrschen. Beim Homosapiens-Mann gehören dazu Humor, spielerische Fähigkeiten, Musikalität, Tanz, Geschicklichkeit, kraftstrotzende Spiele, Intelligenz, Risikoverhalten, Erfindungsreichtum etc. Für die Frau ist das ein Hinweis darauf, dass der Mann noch Vitalitätsreserven über die normale Existenzsicherung von Frau und Kind hinaus hat. Das kann (bzw. konnte in der Menschwerdung) dann entscheidend werden, wenn sich Umweltverhältnisse (ökologisch oder sozial) so sehr verschlechtern, dass nur ein überdurchschnittlicher Aufwand die Nachkommenschaft, in die die Frau ja hohe Investitionen steckt, sichert. Diese biologische Tendenz wird als »Handicap-Prinzip« bezeichnet (Zahavi, 1975; Übersicht bei Nørretranders, 2006): Wer – wie der Pfau mit seinen fluchtbehindernden Prachtfedern – ein echtes Handicap vorweist und dennoch lebensfähig, gesund und kulturfähig bleibt, hat eine gute genetische Ausstattung und ist auch für die Aufzucht der Kinder und die Gründung einer Familie geeignet. Athletische Fähigkeiten In der Tierreihe ist körperliche Kraft als männliches Attraktionsmerkmal sehr weit verbreitet. Es weist auf Schutz- und Verteidigungsfähigkeit der Männer für Frauen und Kinder hin. Große, kräftige Männer werden von Frauen ungeachtet ihrer wahren sonstigen Fähigkeiten im Sinne eines Halo-Effektes positiver attribuiert als kleinere (z. B. Schumacher, 1980). Stehen Ehemänner als Verlierer da, sind sie eine emotionale Belastung für ihre Frauen. Athletische Fähigkeiten haben in der Partnerwahl eine Doppelfunktion: Sie wirken einerseits attraktiv auf Frauen und sind andererseits abschreckend für Rivalen (Furcht einflößend). Frauen bevorzugen dieses Merkmal in allen Kulturen – bis auf sehr wenige Einzelfälle. In einer von Antweiler (2007, S. 195) aufgeführten Studie traf diese Bevorzugung nur bei einem von 720 Paaren nicht zu. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Status und Zugang zu Ressourcen und Sicherheit »Das älteste Fundament weiblicher Auswahl im Tierreich« ist der durch den Partner verbesserte Zugang zu existenziellen, beim Menschen heute wirtschaftlichen und finanziellen, Ressourcen, um die Bedingungen für die Nachkommen möglichst gut abzusichern (Buss, 2004). Sowohl in einer afrikanischen Gegenwartskultur (Kamerun), in der die Frauen den Zugang zu den Ressourcen und Macht über sie besitzen, als auch nach einer repräsentativen US-amerikanischen Befragung ergab sich, dass diese ressourcenreichen und gut verdienenden Frauen wiederum die Männer aus dem Angebot auswählten, die ebenfalls hohe Ressourcen (Besitz) hatten. Umgekehrt fand man diesen Attraktionsfaktor bei Männern nicht als Grundmuster. Dies Paradoxon ist nur evolutionsbiologisch verständlich. Wie erkennt eine Frau Status und Ressourcenbesitz? Einerseits an körperlicher Stärke, Gesundheit und damit verbundenem Selbstbewusstsein und dominantem Verhalten (nicht Überkompensation), andererseits an sichtbarem Besitz (»Mercedes«), am sozialen Image und dem damit verbundenen guten Ruf. Hoher Status und Dominanz versprechen Ressourcenzugang (möglichst gute Existenzsicherung) auch bei jungen Männern, da ihre diesbezüglichen Fähigkeiten (Intelligenz, Selbstbehauptung, Wendigkeit etc.) Ressourcenerlangung in der Konkurrenz zu anderen Männern wahrscheinlicher macht. Die Präferenz gegenüber Männern mit hohem Status (»AlphaMänner«) wurde in traditionellen wie industriellen Kulturen und auch in den ehemaligen sozialistischen Ländern (trotz Gleichberechtigungserziehung) gefunden. Da dies auch mit Selbstbehauptung gekoppelt ist, schreibt Doris Bischof-Köhler (2006): »Unabhängig von allem, was Ratio und Großhirnrinde zu sagen haben, ist ein Mann für das Stammhirn immer auch ein potentieller Geschlechtspartner [...]« Deshalb findet die Frau die Fähigkeit zur Selbstbehauptung an Männern grundsätzlich imposant. Interessant ist, dass die meisten der 17 Artikel der Erklärung der Frauenrechte im Ergebnis der Französischen Revolution (Olympe de Gouges, 1748–93) sich mit der Frage beschäftigen, wie die Frau (und ihre Kinder) von den Ressourcen des Mannes gleichberechtigt profitieren kann. Diese Erklärung, die ja eine wesentliche Wurzel der Frauenrechtsbewegung ist, zielte offenbar nicht auf die heute verstandene Gleichheit, sondern auf eine Wiederherstellung des Naturrechtes! © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Höheres Alter Es wurde weltweit nachgewiesen, dass Frauen durchschnittlich und altersunabhängig drei Jahre ältere Männer bevorzugen und wählen. Kulturelle Schwankungen kommen vor. Eine neuere Studie fand bei Personen mit Kindern und einer die Kinderzeit überdauernden Partnerschaft eine Alterdifferenz von sechs Jahren gegenüber Männern und vier Jahren gegenüber Frauen (Kriterien: Kinderzahl und gemeinsame Aufzucht; Fieder und Huber, 2007). Die evolutionspsychologische Erklärung dafür ist: Ein älterer Mann hat in traditionellen Gesellschaften mit großer Wahrscheinlichkeit einen höheren Rang (Status und Alter korrelieren oft), mehr Erfahrung im Ressourcenzugang, mehr soziale Erfahrung und Weisheit, Geduld und Wissen (keine verschleißenden Kämpfe), Erfahrung im Jagdgeschick (Existenzsicherung) und besitzt im Umgang mit dem eigenem Körper ausgereifte Fähigkeiten. Die alleinige Interpretation als individuell erworbener »Vaterkomplex« psychologisiert diesen Faktor. Man sollte einen gewissen Vaterkomplex dann eher als Bestandteil weiblichen Normalverhaltens auffassen, zumal es Hinweise auf eine Wahl des Partners nach dem Vatervorbild als Normalverhalten gibt (Bereczkei et al., 2003). Würden die Frauen allerdings durchschnittlich ein weit höheres Alter bevorzugen, dann könnten Sterberisiko und altersbedingte Schwächung eine Fitnessminimierung und damit einen Vorteilsverlust darstellen. Daher sinke seitens der Frauen der Wunsch nach Altersunterschied mit zunehmendem Alter und verkehrt sich zum Teil ins Gegenteil. Grundsätzlich Gegenteiliges ist nirgends bekannt. Diese Tendenzen sind nicht rationallogisch mit gesellschaftlichen Ursachen erklärbar.

Bevorzugte Charaktereigenschaften Ehrgeiz und Fleiß Frauen bevorzugen in der Tendenz Männer mit Ehrgeiz, Ausdauer, Beharrlichkeit und Fleiß, was wiederum Ressourcensicherung wahrscheinlich macht. In einer spröden Steinzeitumwelt ist Ressourcensicherung durch den Mann nur mit Hartnäckigkeit, hoher Einsatzbereitschaft und entsprechender dauerhafter Motivation zu erreichen. Das ist heute nicht viel anders. Im Gegenteil dazu fand man bei Männern nirgends repräsentative Vorlieben für Frauen mit solchen Eigenschaften © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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(die es ähnlich häufig gibt?). Dass dies heute noch so ist, zeigt nach Buss (2004), dass wir ein Ergebnis der Selektion eben dieser Gene sind. Der Unterschied zwischen Mann und Frau könnte hier in der Stärke der Ehrgeizmotivation für Leistung liegen.12 Zuverlässigkeit und Stabilität Diese Eigenschaften sind nötig, damit die von der Frau benötigten Ressourcen nicht vom Mann aufgebraucht oder mit anderen geteilt, sondern dauerhaft der Familie zur Verfügung gestellt werden. Sie sind vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass er nicht schlapp macht und nur in der ersten Phase der »Balz« bis zur Zeugung ein »Leistungsstrohfeuer« zeigt. Zugleich zeugen sie von Vitalität, die in Notzeiten nötig ist. Hier finden wir allerdings in einer Reihe von Kulturen auch die umgekehrte Präferenz des Mannes gegenüber der Frau. Emotionale Stabilität gehört zu den sogenannten »Big Five«13 (s. Pawlik, 2006, S. 346 f.), den Grundkategorien von Persönlichkeitseigenschaften, die kulturelle Universalien und ergo in ihrer Grundlage angeboren sind. Inwieweit gewisse Übereinstimmungen der Persönlichkeitsmerkmale von Partnern (z. B. Neurotizismus und Offenheit für neue Erfahrungen) zu Paarstabilisierung führen, ist derzeit noch im Forschungsprozess.14 Liebe und Bindungswille/-fähigkeit Die Hypothese für diesen festgestellten Attraktionsfaktor wäre: Ressourcen und Status zu wählen ist nur sinnvoll, wenn man als Frau selbst (und der Nachwuchs) davon profitiert, der Mann es nicht für eine andere und deren Kinder einsetzt (s. o. Frauenrechte/Französische Revolution). In 168 unterschiedlichen Kulturen wurde die Präferenz der Bindungsbereitschaft durch Verhaltensweisen des Gebens und Schenkens nachgewiesen. Dies ist offenbar – übrigens auch bei Tieren – eine Symbolisierung der Ressourcenbeschaffung und Bekundung der Bereitschaft, auch in Kinder zu investieren. Damit wird die Last der Kosten der Frau für die Aufzucht der Nachkommen verringert.

12 Ob dies eine sekundär abgeleitete Eigenschaft einer der genetisch bedingten Persönlichkeitskategorien (»Big Five«) ist, bleibt offen, ändert aber wenig an der Grundaussage. 13 Die »Big Five« sind die bipolaren Persönlichkeitskategorien: Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit. 14 siehe http://www.sueddeutsche.de/leben/330/308277/text/ © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Zugewandter Umgang mit Kindern Dies wurde bei Wahlversuchen als wichtiger Faktor für Attraktivität von Männern gefunden. Umgekehrt stellte es sich als Eigenschaft bei Frauen für Männer nicht als attraktiv heraus (weil es intuitiv ohnehin vorausgesetzt wird?). Vielleicht ist dies eine Variation des vorigen Punktes.

Modifikationsfaktoren der genannten Tendenzen (Adaptivität gegenüber dem Kontext) Wie oben angedeutet, wird die Partnerwahl noch von weiteren Faktoren adaptiv modifiziert, und zwar je nach Situation und Umweltkontext. Kurz- und Langfristpartnerwahlen Bei Kurzfristwahlen spielen Verhaltenseigenschaften zur Sicherung der Kinderaufzucht weniger eine Rolle als vielmehr die Attraktivität, die auf Gesundheit und gute Gene schließen lässt (falls doch was passiert ...). Ovulation Vor dem Eisprung steigt (unbewusst) die Präferenz für Männer mit »guten Genen« an. In einem Versuch wählten Frauen in dieser Phase konsequenter markante und dominante Männergesichter, ohne sich dessen bewusst zu sein. Der Geruchssinn wird sensibler: In Riechtests mit getragenen Männer-T-Shirts wählten Frauen nur in der Eisprungphase die Hemden von Männern mit symmetrischen Gesichtern, obwohl sie diese nicht sahen! Ebenso wie die Gesichtssymmetrie korreliert auch der Körpergeruch mit dem Immunsystem der Persönlichkeit. Die versteckte Ovulation bei der Frau (einzigartig innerhalb der Tierwelt) ermöglicht, dass sie bestimmt, mit wem sie sich »erfolgreich« paart (primär unbewusst, intuitiv). Unsere bewussten Erklärungen für die Wahl müssen also nicht stimmen. Befragungen zeigten, dass Frauen in festen Partnerschaften während der fruchtbaren Zeit deutlich mehr zu Seitensprüngen mit dominanten Männern neigen (»fishing for good genes«), zum Teil neben dem Geschlechtsverkehr mit dem Partner (s. a. Havlicek et al., 2005). Über eine gewisse Zeit hinweg wissenschaftlich »beobachtete« Frauen zeigten vor dem Eisprung in ihrer Kleidungswahl relativ mehr Haut. Dies ge© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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schah umso deutlicher, wenn der eigene Partner nicht verfügbar war. Während ihrer fruchtbaren Zeit bewerteten Frauen auf Fotos andere Frauen signifikant hässlicher als jenseits der fruchtbaren Phase, was einer unbewussten Rivalinnenabwehr entspricht (Schwarz und Hassebrauck, 2007, 2008). Verachten und Abwerten ist eine entscheidende Waffe von Frau gegen Frau im Kampf um den Mann. Man sollte vorsichtig sein, dies nur als Teil eines neurotischen Konflikts zu interpretieren. Der Modifikator »Ovulation und fruchtbare Tage« modifiziert das Verhalten im biologischen Sinne sinnvoll, teilt dies aber nicht zwangsläufig dem Bewusstsein mit. Selbstbild eigener Attraktivität Je attraktiver das weibliche Selbstbild (nicht gleichzusetzen mit dem Ich-Ideal) ist, desto maskuliner und gesichtssymmetrischer die Männerwahl. Die intuitive (oder bewusste) Einsicht in die eigene Attraktivität schafft vielleicht eine Wahl nach Ähnlichkeit. Ist man nicht die Schönste und legte es demzufolge auch nicht auf den Attraktivsten an, dürfte das aus biologischen Gründen sinnvoll sein. Besser, seine eigenen Gene mit denen der zweiten Wahl großzuziehen, als nicht die erste Wahl und damit gar keine Nachkommen zu bekommen (wissen, in welcher Liga man spielt). Möglicherweise dient das auch der Aufrechterhaltung von Genvielfalt im Genpool der Gruppe. Gesundheit im gesellschaftlichen Umfeld Lisa DeBruine (2010) stellte in einer interkulturellen Studie fest, dass hohe Krankheits- und Sterberisiken in einem Land die Sexualpartnerwahl von Frauen in Richtung Maskulinität und Dominanz verschieben, also der äußeren Merkmale für hohe Immunplastizität und Vitalität. Die eben erwähnten für eine Langzeitpartnerschaft bevorzugten Verhaltenseigenschaften (Verlässlichkeit, Fürsorglichkeit etc.) spielten keine so große Rolle.

Männliche Partnerwahlkriterien Symmetrisches, als »schön« empfundenes Gesicht Symmetrie im Gesicht stellt sich ein, wenn eine hohe Mischung möglichst vieler genetischer Eigenschaften des Genpools der Population (Bevölkerung eines geografischen Raumes) vorliegt. Hohe Gendurchmischung wiederum wirkt sich in hoher Immunplastizität aus, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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was in der Anthropogenese nicht nur Krankheits-, sondern auch Parasitenabwehr bedeutete. Das damit korrelierende Signal ist z. B. eine glatte Haut. In einer amerikanischen Studie fand man bei schönen Menschen tatsächlich eine geringere Morbidität (Bischof-Köhler, 2006). Hier muss man allerdings mit kulturellen Vermittlungsmechanismen rechnen: »Schöne« Menschen haben in Industriegesellschaften bessere Aufstiegschancen, Schönheit wirkt also bei gleichen sonstigen Fähigkeiten als Katalysator. Dass Symmetrie die Folge hoher Gendurchmischung ist, wurde u. a. durch ein einfaches Experiment belegt: Kopiert man eine Anzahl beliebiger, zufällig ausgewählter Frauengesichter fototechnisch oder elektronisch übereinander, so ergibt dieser Mittelwert aller Gesichter stets ein gleichartiges, schönes Gesicht (in einer gegebenen geografischen Region und entsprechend dem dortigen Genpool; Katz, 1953 in Klumbies, 1974; Grammer, 1993 u. a.). Schönheit ist also Ausdruck des Durchschnitts des Genpools. Unter diesem Aspekt ist biologisch auch die Inzestschranke bei Menschen und Affen und das »shopping for good genes« zu verstehen. Als »Schönheit« wird also von unseren emotionalen Instanzen bewertet, was genetisch gesehen der Durchschnitt durch die Vielfalt der Genfrequenzen in der Population ist. In der ultimaten (außerbewussten/unbewussten) Funktion führt es zur Paarung mit erfolgreichen Genen. Im fMRT-Test feuerten bei Männern Neuronenschaltkreise im Nucleus accumbens (Belohnungsschaltkreis) beim Anblick schöner Frauengesichter, was die bisherigen Befunde und auch die evolutionspsychologische Interpretation nur bestätigt (Bischof-Köhler, 2006). Die Hypothese lautet: Männer sollten danach streben, nicht nur gute Gene »einzukaufen«, sondern auch einen gesunden, ernährungspotenten Ort, wenn sie ihre Gene neun Monate lang ohne direkte Möglichkeit der Einflussnahme der Frau überlassen (s. u.: Körperfett). Die Attraktivität des weiblichen symmetrischen Gesichtes beinhaltet auch Merkmale des Kindlichkeitsschemas (»CunninghamFaktoren«, Antweiler, 2007, S.  195): Die Natur bedient sich hier eines weiteren kommunikativen Hilfsmittels, um Pflege- und Zuwendungsbereitschaft des Mannes zu erhöhen. Jugendlichkeit Männer streben in allen Kulturen überwiegend danach, jüngere Frauen zu gewinnen. Warum? Die Rechnung der Gene ist einfach: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Die höchste mögliche biologische Reproduktionspotenz einer Frau liegt um etwa zwanzig Jahre, dann kann sie bis zur Menopause die größte Zahl Kinder im optimalen Fall auch großziehen. Untersuchungen weisen eine durchschnittliche Altersdifferenz von zwei bis drei Jahren aus (s. o.), kulturell bedingte Modifikationen eingeschlossen. So folgt es dieser Logik, dass die seitens des Mannes gewünschte Altersdifferenz des Paares mit seinem Alter steigt. In Untersuchungen lag sie beim Mannesalter von dreißig Jahren um fünf Jahre, beim Alter von fünfzig Jahren um zehn bis zwanzig Jahre. Es wird also nicht einfach Jugend gewählt, wie oft in Überinterpretation der Situation des alternden Mannes (»Sehnsucht nach der eigenen vergangenen Jugend«) psychologisiert wird, sondern idealerweise das weibliche Alter des dritten bis vierten Lebensjahrzehnts. Zu den Untersuchungen der realen Altersdifferenz von zusammenlebenden Paaren mit mehreren Kindern siehe oben. Körperfett, Hüfte-Taille-Index Der weibliche Körper gewinnt für Männer an Attraktivität, wenn die Differenz Hüft-/Taillen-Umfang wächst. Dieses Merkmal korreliert mit Reproduktionsstabilität. Ein Modifikator kann der soziale Status der Frauen sein: Bei den nahrungsknappen Aborigines bedeutet Molligkeit Reichtum. Sie garantiert gerade in einer Mangelumwelt, dass die Nachkommenschaft nicht so schnell mangelernährt wird. Eine Befragung bei US-Frauen ergab, dass Frauen bei Männern ein wesentlich schlankeres Frauenbild vermuteten (Pubertäts- und Adoleszenzmerkmal, geringere Differenz Hüfte/Taille), als es die Männer real bevorzugten! Präferenz für ovulierende Frauen Da die Ovulation der Frau mit einem verborgenen Östrus einhergeht, sollten die Männer eine evolutiv erworbene Sensibilität für kleinste Zeichen dafür haben (Schwarz und Hassebrauck, 2007). Die vor dem Eisprung besser ernährte Haut wirkt auf Männer attraktiver. Zugleich erhöht sich bei der Frau die Differenz Hüfte/Taille. Frauen vor dem oder um den Eisprung werden also von Männern allgemein attraktiver bewertet. Fazit: Wer all diese Zusammenhänge negiert, aus was für Begründungen auch immer, kann theoretisch eigentlich nur Kreationist sein – und dann erübrigt sich jede Debatte. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Wenn er sich zur Aufklärung und also auch zu Darwin bekennt, dann muss er in den sauren Apfel beißen und dies in seinen Grundzügen zur Kenntnis zu nehmen.

Zusammenspiel von biologischen und psychologischen Mechanismen Sowohl in der Paartherapie, besonders seit der Konzipierung des Kollusionsprinzips durch Jürg Willi (1975, 1985, 2004 u. a.), als auch in der psychologischen Alltagserfahrung zeigt sich, dass noch weitere Faktoren zumindest modifizierend auf die (Langzeit-)Partnerwahl einwirken. Es wurde oben bereits angedeutet, dass nach den vorliegenden Untersuchungen die Präferenzen je nach Kurzzeitbeziehung oder Langzeitbeziehung mit Familienabsicht (gute Gene + Eigenschaften der Nachkommensicherung + Kultureinbettung als Familie) unterschiedlich ausfallen. Es könnte hypothetisiert werden, dass unsere Partnerwahl im Ganzen mehrstufig ausfällt (hier in der Reihenfolge summativ zu verstehen): 1. Gute Gene vorhanden? Ziel: Gute biologische Ausstattungsbasis, nicht notwendig Familie. 2. Eigenschaften der Nachkommensicherung (Aufzucht, Erziehungsaufwand und -qualität) vorhanden? Ziel: Geteiltes »parental investment«, optimierte Aufzucht. 3. Wenn auf Dauer angelegt: Charakterliches Passen der bewussten und unbewussten seelischen und körperlichen Eigenschaften gegeben? Ziel: Minderung von Konflikten, damit Optimierung der Aufzucht. 4. Ähnlichkeit an Interessen, Werten und Sinngebung vorhanden? Ziel: Familie als kultureller Beitrag zur Kultur des »Stammes« (übertragen auf Gesellschaft). Die letzen beiden Stufen dienen möglicherweise dem ultimaten Ziel der Stufe 2, da Konfliktminderung durch ein Minimum von unbewusstem Verständnis und Ähnlichkeiten der Optimierung der Kinderaufzucht dient. Paartherapeuten können ein Lied davon singen. Gemeinsame Werte und Interessen als Faktoren der Partnerwahl weisen noch auf eine weitere Ebene hin: Die Einbindung in die kulturelle Gemeinschaft mit ihren »kulturellen Genen« (»Meme«, Dawkins, 1978), zu der man als Paar nur solcherart verbunden bei© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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tragen kann (»das göttliche Paar«). Dies ist ebenfalls eine biologische Konstituente des Menschen, da der Mensch genetisch bedingt kulturgebunden und wesensbestimmend sozial ist (Gehlen, 1940/2004; Voland, 2007). So bleibt man im Fall des Ziels »Familie« in seiner Subkultur und stärkt diese (konservierendes Moment). Insofern können die Stufen 3 und 4 als proximate Faktoren (Instrumente) verstanden werden. In gleicher Weise gälte dies für IchStabilität und Identitätswahrung in Partnerschaften, die ja ebenfalls den ultimaten Zielen dienen. Wenn wir die biologischen Aspekte mit therapeutischem Denken und Erfahrungen vergleichen, so wäre aus evolutionsbiologischer Sicht daran zu erinnern, dass biologische Anlagen stets durch soziales Lernen im Sinne von Steigerung oder Unterdrückung modifiziert und damit sicher auch in den Dienst der Abwehr gestellt werden können (z. B. erwiesene »gesunde« Schlangen- und Spinnenaversion insbesondere bei Frauen vs. Schlangen- und Spinnenphobie im Dienste der Abwehr). Wenn der verständnisorientierte Psychotherapeut nach der mentalen und emotionalen Innenwelt fragt und deren Logik und Psychodynamik für Entscheidungen und Lebensmuster verantwortlich macht, muss dies nicht als konkurrierend zu dem hier vorgestellten Verständnis gesehen werden. Es ist lediglich eine Frage des methodischen Zugangs. Wir nehmen aus evolutionärer Sicht an, dass die biologisch-funktionalen Prozesse und damit auch die innere primäre Reaktion auf Außensignale eine innere Widerspiegelung im Seelischen haben muss. External sichtbare und beschreibbare Funktion eines Verhaltens hat stets eine Innenseite von Befindlichkeit und mentaler Repräsentanz. Zusätzlich sind Filterungs- und Abwehrprozesse in Rechnung zu stellen, die modifizierend wirken (was, wie wir wissen, gravierende Folgen haben kann). Innen und außen, Funktion und Befindlichkeit sind keine Gegensätze, sondern notwendige Zusammenhänge.

Ist der Gender-Begriff im ursprünglichen Sinne wissenschaftlich haltbar? Hier kann eine Kritik an dem gängigen Gender-Begriff nicht erspart bleiben, da dieser den Mainstream und damit oft auch – normativ anerzogen – das eigene Geschlechterbild bestimmt. »Gender kommt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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aus dem Englischen und bezeichnet die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägten Geschlechtsrollen von Frauen und Männern. Diese sind – anders als das biologische Geschlecht – erlernt und damit auch veränderbar« (BFSFJ, 2007). Für eine rein sozialisationsabhängige (also gelernte) Geschlechterrolle gibt es kein deutsches Wort. »Denn mit Gender ist ja gerade die je spezifische kulturelle und kulturspezifische Konstruktion von Geschlecht gemeint« (Antweiler, 2007, S. 194). Dass körperliche und physiologische Geschlechterunterschiede genetischen Ursprungs sind, wird für selbstverständlich gehalten. Für Psyche und Verhalten wird es jedoch oft negiert. Heimlich oder offen wird also impliziert, dass biologisch bedingte Universalien keine Rolle spielen. Dies spricht für eine idealistisch motivierte profunde Unkenntnis simpler und basaler Grundlagen des Lebens, der Evolution biologischer Wesen. Eine Grunderkenntnis ist, dass Körperlichkeit und Verhaltensprogramme stets zusammen evolvieren müssen. Eine bestimmte Hardware eines Computers funktioniert nur mit einer passenden Software. Es spricht vielleicht für die Klugheit der deutschen Sprache, dass sie für einen solchen Reduktionismus, der nach meiner Überzeugung einem Abwehrprozess entspringt, keinen Begriff schuf. Der These »Wir erziehen uns die Geschlechter« stehen eine Reihe fundierter Erkenntnisse entgegen (Spitzer, 2008): Schon bei Schimpansen spielten in einem Experiment mit wahllos angebotenem Spielzeug die männlichen Kinder bevorzugt mit Beweglichem, wie Autos und Bälle, während sich die weiblichen mehr auf Puppen stürzten. In einem Wahlexperiment zur Orientierung im Raum zeigte sich, dass Frauen auf einem Markt die Richtungswahl von Ständen mit kalorienreicher Nahrung in der reproduzierten Ortserinnerung genauer trafen als von anderen Nahrungsmitteln. Das hatte vor 100.000 Jahren durchaus Sinn (vielleicht auch noch heute?). Der Versuch wurde als Doppelblind-Experiment exakt wissenschaftlich durchgeführt. Kurz: Die Beweise dafür, dass wir als Geschlechter von Natur aus anders sind, und zwar in differenzierter und durchaus situationsangepasster Weise, sind erdrückend, eine Gegenüberstellung des unterschiedlichen Leistungsspektrums im Verhalten beider Geschlechter findet sich im Anhang. Dem steht entgegen, dass uns in der Öffentlichkeit und im geistigen Mainstream der Industriegesellschaft ein rein lerntheoretisches Geschlechterbild suggeriert wird. Wird die Gesellschaft mit der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Kränkung, in wesentlichen Teilen ihres Verhaltens von ihrer unbewussten Natur bestimmt zu werden, nach wie vor nicht fertig? Zeugt das davon, dass die heutigen narzisstischen Machtimpulse der Menschen ihre Gefährdung durch Impulse des Sich-Einlassens auf das So-Sein, auf das »Leben und Leben lassen« massiv abwehren? Das Menschenbild, nach dem offenbar eine Reihe Politiker entscheidet, ist einseitig und zeugt weitgehend von humanwissenschaftlicher Unkenntnis (Abwehr?). Sowohl evolutionsbiologische als auch neurobiologische Erkenntnisse werden im Menschenbild vielfach ignoriert.

Beispiele aus Politik und Öffentlichkeit Hierzu einige Beispiele von Prominenten, die normativ in die Gesellschaft hineinwirken. – Die Vorsitzende der FDP im Europaparlament und Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Europa-Liberalen, Dr. Silvana Koch-Mehrin, Mitglied des FDP-Bundesvorstandes und ihres Zeichens Volkswirtschaftlerin, betont in einem Rundfunkinterview über ihr Buch »Schwestern. Streitschrift für einen neuen Feminismus« (Kulturradio rbb, 2007a), es sei ja gerade ein Gewinn der Aufklärung, dass wir nicht mehr in unseren biologischen und religiösen Rollen verhaftet sind, sondern frei geistig entscheiden können, wie wir unser Leben leben wollen. Kommentar: So entscheiden offenbar nicht wenige Politiker. – Im sozialwissenschaftlichen Bereich ist dieses lerntheoretische Menschenbild weit verbreitet, wenn nicht sogar Lehrmeinung. Auch die Präsidentin des Wissenschaftszentrums für Sozialwissenschaften Berlin, Prof. Dr. Jutta Allmendinger, resümierte in einem Rundfunk-Interview (Kulturradio, rbb, 2007b) ihre Erfahrungen, dass auch im Wissenschaftsbetrieb die Männer Frauen immer noch nach Schönheit wählten und deren geistigen und wissenschaftlichen Leistungen und Potenzen weniger schätzten. Sie hoffe, dass die Männer der Zukunft auch noch lernen (?!) werden, Frauen nicht nach Schönheit zu wählen. Kommentar: Auch wenn dies für den Wissenschaftsbetrieb zugegebenermaßen eine fatale Sache ist, so wird durch Unterdrückung dieses Sachverhaltes sicher weniger geändert, als wenn man ihn als zu uns gehörig anerkennte und offen – und vielleicht mit Schmunzeln – über Möglichkeiten, damit umzugehen, gemein© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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sam nachdächte. Die Parallele zur Arbeit mit den persönlichen Schattenseiten des Klienten im therapeutischen Prozess ist deutlich. – Jutta Ditfurth, Mitbegründerin der Grünen in einem Interview über ihre Ulrike-Meinhof-Biografie (Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 29.11.2007, 9.07): »Also ich sage nicht, das wäre ein ganz großes Missverständnis, dass die Biografie eines Menschen gewissermaßen genetisch oder auf die Familie zurückzuführen ist, dann hätte ja ein Mensch keine Entscheidungsfreiheit und hätte auch keine anderen Einflüsse.« Kommentar: Hier wird das von Bischof-Köhler zitierte Missverständnis zelebriert: »genetisch« wird gleichgesetzt mit »keine Entscheidungsfreiheit«. Kein Biologe könnte so denken, es wäre unbiologisch. – Gabriele Sonntag, Redakteurin des FAZ-Hochschulanzeigers, schreibt im Editorial des Titelhefts »Unterbezahlt, übervorteilt, ausgenutzt? Frauen, tut was!« (Hochschulanzeiger Nr.  95, April 2008): »[...] die Welt teilt sich wieder in Rosa und Blau. Das jedenfalls wollen uns dubiose Genderforscher, Paarpsychologen und Neurobiologen weismachen, die [...] festgestellt haben: Es ist doch was dran an der Behauptung von den unveränderlichen typisch männlichen und typisch weiblichen Wesensmerkmalen. Plötzlich sollen wir Frauen wieder die emotionsgetriebenen, harmoniesüchtigen Wesen sein, schwach im rationalen Bereich, dafür stark im intuitiven Erfassen, Männer hingegen die durchsetzungsstarken, zielorientierten und logisch denkenden Macher. Was soll’s, möchte man meinen, wen jucken schon die Ansichten von ein paar Ewiggestrigen? Die Antwort: Zunehmend mehr. Wie sonst lässt sich der Run auf Bücher erklären, die genau diesen Unsinn von sich geben und beide Geschlechter in ihre festgelegten Schranken verweisen wollen?« Kommentar: Hier wird ein Machtimpuls sichtbar, der sich selbst entlarvt, indem er gleich mindestens zwei Wissenschaftsdisziplinen en bloc in hochmütiger Attitüde in die Wüste schickt. Es wird normativer Druck auf die Leser, die Studenten, ausgeübt. Welcher Wissenschaftler, welcher Mann dürfte es sich leisten, derart ignorant die Gegenposition zu vertreten? Kampf der Geschlechter statt Kooperation – das hat die Evolution allerdings nicht vorgesehen. – Auch Brandenburgs Sozialministerin Dagmar Ziegler erinnerte daran, dass die üblichen Geschlechterrollen von Mann und Frau © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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keinesfalls genetisch bestimmt seien, sondern vielmehr ihre Ursachen in der gesellschaftlichen und erziehungsbedingten Entwicklung haben. Das Rollenverhalten sei erlernt und damit veränderbar (Müller, 2008). Kommentar: Es geht um Macht angesichts der Ohnmacht in einer Gesellschaft, die existenzielle Gleichberechtigung nicht durchzusetzen vermag. Dafür spricht, dass die Kontroverse in der Tagungsdiskussion um Hierarchie und Rang ging, nicht aber um Rollenfunktion und deren praktische Auswirkungen. Selbst bei höheren Primaten geht es in keiner Weise um lineare Hierarchie und repressiven Rang, sondern um eine Dynamik von Rollenfunktionen (»Rangrollenstruktur«) und von Konfliktschlichtung, ähnlich wie wir es aus der menschlichen Gruppendynamik kennen. Wäre nicht eine Gesellschaft erstrebenswert, in der die Unterschiedlichkeiten von Mann und Frau nicht nur akzeptiert, sondern als Stärken gesehen, geachtet und geistig wie materiell gleich bewertet würden? Wenn die selbstbestimmte Entwicklung dieser Eigenheiten gefördert würde? Kooperation ist auch in der Evolution das tragende Prinzip, nicht gegenseitiger Kampf. Das Problem ist nicht, dass Mann und Frau von Natur aus unterschiedliche Potentiale haben. Das Problem ist die politisch und existenziell normative gesellschaftliche Bewertung mit »besser – schlechter«. Dafür kann die Natur nichts.

Gesellschaftlicher Umgang mit den natürlichen Unterschieden Die Industriegesellschaft fordert zu Recht die völlige Beseitigung von Benachteiligungen und damit gleiche Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten von Männern und Frauen. Das ist verschieden auslegbar, im trivialen Fall als Gleichmacherei. Unter dem Aspekt der unterschiedlichen natürlichen Gaben der Geschlechter fehlt jedoch oft, dass diese geachtet und in jedem Fall positiv (im Sinne des Beitrags zur Entwicklung der Gemeinschaft) bewertet werden. Wenn Frauen sogenannte Männerdomänen erobern, hört man oft »das können wir auch (!)«. Stillschweigend bleibt hier männliches Verhalten der Maßstab. Umgekehrt läuft es kaum. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Das machte und macht sich z. B. auch an Signalen des äußeren Erscheinungsbildes fest, als Frauen anfangs und Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen, in die Geschäftswelt »einzudringen«. Es wurden in der Kleidung männliche Merkmale übernommen: strengerer Schnitt und vor allem Schulterbetonung. Letztere ist nachgewiesenermaßen in allen Kulturen (und bei höheren Primaten) ein männliches Körpermerkmal, das in Repräsentations- und Drohsituationen (»Würde«) kulturell überhöht wird (Eibl-Eibesfeldt, 1997). Es ist unter evolutionspsychologischem Aspekt schon merkwürdig, wenn Frauen in Führungsetagen eindeutig männliche Merkmale zum Imponieren gegenüber Männern einsetzen! Der umgekehrte Prozess, dass ein weibliches Signal in die Männerwelt eindrang, ist nicht zu finden. Ob Männer mit dem Zulegen von weiblichen Merkmalen Frauen imponieren könnten, ist fraglich. Bedeutet damit heutige Emanzipation der Frau nicht ihre Maskulinisierung? Damit vergäbe sich die Gesellschaft tatsächlich einiger Chancen der vollen Entfaltung weiblicher Verhaltensstärken, die uns die Evolution mitgegeben hat. Mit »Heimchen am Herd« hat das nichts zu tun. Die Fragen für unsere Praxis könnten lauten: – Welche konkreten und differenzierten Verhaltensweisen, Einstellungen, Fähigkeiten, Emotionalitäten als Potenzen finden wir bei Männern anders als bei Frauen? – Wie gelingt es sinnvoll, auch unsere geschlechterbezogenen Anlagen (Talente) und inneren Ressourcen zu fördern, wertzuschätzen und nicht wegerziehen oder -therapieren zu wollen? – Wie können Therapeuten ihre eigene unbewusste Konformität bezüglich gesellschaftlich indoktrinierter Normen reflektieren und damit für die Praxis neutralisieren? – Wie kann Selbstbesinnung auf die eigenen Fähigkeiten und Potenzen entkoppelt werden von normativer, im Über-Ich verankerter Indoktrination? – Wie kommt es eigentlich im Rahmen abendländischer Hybris zu dieser massiven Entwertung und Abwehr der Natur des Menschen in unserer Gesellschaft und was kann diese Frage für das therapeutische Tun bedeuten? Wenn wir darüber reden, wie wir die Kooperation von Frauen und Männern im therapeutischen Tun fruchtbar im Sinne einer Kontinuität von Inhalten und Erfahrungen optimieren, so könnte sich darin auf der Ebene der kulturellen Gene, der Meme (Dawkins), der glei© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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che Prozess widerspiegeln, der im Zusammenwirken beider Geschlechter das Aufwachsen der Nachkommen und damit den Erhalt der Gene garantiert.

Anhang: Gegenüberstellung universaler Geschlechterunterschiede beim Homo sapiens Grundlage sind evolutionspsychologische, -biologische und ethnologisch-kulturvergleichende Studien (situationsbedingte relativierende und modifizierende Faktoren siehe in den Abschnitten weiter oben). Verhaltensbereich

Frau

Mann

Attraktiv für das andere Geschlecht

»Schönheit«, Symmetrie, glatte Haut, Hüfte-TailleIndex, (Stoffwechsel-Indikator), Kindchenmerkmale, Jugend.

Status, Vitalität, höheres Alter, Symmetrie, markanter Knochenbau und athletischer Körper, Musikalität/ Kreativität, Zuverlässigkeit, Bindungsfähigkeit, guter Umgang mit Kindern.

Werbung

Wenig aktiv, eher durch So-Sein, Da-Sein/-bleiben, ggf. spröde (»prüfen«), Wahl entscheiden, keine Leistung bringen (s. u.: Rang), sexuell zurückhaltender als Männer der gleichen Kultur.

Aktiv darstellend: Direkte oder indirekte Potenzen (z. B. Konto, Geschenke, Leistung), Werben, Verführen, Imponieren (Angeben), z. B. auch durch Rivalensieg, Gunst erringen (= gewählt werden), Handicaps vorführen (Leistung), auffallen, sexuell drängend.

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Verhaltensbereich Dominanz, Rang

Frau

Mann

Status eher durch prosoziale Fähigkeiten des Seins: schön, hilfsbereit, umsichtig, ordentlich, Rat gebend, fürsorglich, Anteil nehmend, lebensklug. Ranghohe erhalten Komplimente und Anerkennung, Vorrechte weniger erkämpft, sondern anerkannt (Akzeptanz). »Geltungshierarchie« (Basis für Demokratie!), stabile Hierarchie (unter Frauen) ist kein Ziel! Ansehen durch (Persönlichkeits-)Qualität, weniger durch aktive Durchsetzung, wenig Motivation zu stabiler Rangordnung. Bei matrilinearer Vererbung (frauengebundene Stammesgruppen) durch Geburt und Alter; durch Rang des männlichen Partners; eher reaktiv. Kompetenzbereiche unspektakulärer und unauffälliger, stiller, werden von Frauen so auch im Wert anerkannt.

Aktive Motivation, erkämpfend (Herausforderung; Überforderung: Bluthochdruck), leistungsorientiert (v. a. Körper), Außergewöhnliches tun (auch negativ); Anstreben und Verteidigen einer stabilen Rangordnung/ Hierarchie (unter Männern), Ziel: stabile Rangrollenstruktur und Unterwerfung; Rangzuweisung u. a. durch Anblicken: »zu Ansehen kommen« (Basis für Wahlprinzip der Demokratie) A Einräumung des Vortritts bei Ressourcen A Vermeidung von unnötigen Konflikten. Nur wer irgendwie auffällt, hat Chance auf Rangzuweisung (»etwas bieten«). Aber: Täuschung durch »Blender«! »In diesem Mechanismus ist letztlich die Ursache für die [normativ bedingte] Höherbewertung des Männlichen zu suchen« (Bischof-Köhler, 2006) A Kern der Diskriminierung von Frauen! Das hieße: Zensurensystem der Schule (Rang) als auch Sportwettkampf sind ursprünglich männliches Prinzip.

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Verhaltensbereich

Frau

Mann

Rivalität, Durchsetzung

Eher indirekt, mit Qualitäten rivalisieren: Körper, Aussehen, Prosozialität, weniger mit Leistungen; äußerliche Abwertung (»hässlich«. In der empfängnisbereiten Zeit werden andere Frauen hässlicher eingestuft als sonst!), vorsichtig, »lautloser«; Ressourcenzugang demonstrieren (kaufen, sich etwas leisten können, Peter und Schwab, 2010).

Um Frauen und Ressourcen kämpfen (Rivalen aus dem Feld schlagen), mit Körperkraft und Durchsetzung rivalisieren, Macht (Ressourcen), rigoroser, risikobereiter, weniger vorsichtig.

Kommunikation

Kommunikativer, umgänglicher, sprachgewandter, ausgleichender als Männer.

Weniger kommunikationsgewandt, assertiver.

Risiko

Geringe bzw. fehlende Risikomotivation, Sicherheitsorientierung. Nachteil: wenig entsprechende Bewältigungskompetenzen; Vorteil: kleine, aber sichere Gewinne A Verantwortung, zuverlässig, Festhalten an Bewährtem.

Hohe Risikomotivation und -toleranz, Draufgängertum, Innovation hoch bewertet A Vorteil: Entwicklung von Bewältigungskompetenzen; Nachteil: Risiko hoher Verluste/Gefährdung.

Misserfolg

Geringere Misserfolgs- und damit Erregungstoleranz (keine »Nerven« haben), weniger kämpferisch (Basis: höherer »Neurotizismus«?).

Höhere Toleranz, geringere Erregung (»Nerven« haben), siehe aber: Überforderungstendenz.

Selbsteinschätzung

Neigung zu Unterschätzung

Hoch, Tendenz zur Überschätzung.

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Verhaltensbereich

Frau

Mann

Aggression

Funktional, reaktiv, instrumentell, Hindernisbeseitigung: Vertreibung, Gefährdung abwehrend. Eher ungehemmt, Beschädigung in Kauf nehmend, indirekt. Ziel eher Anerkennung als Unterwerfung.Häufiger Beziehungsaggression (Zuwendungsentzug: Du bist nicht mehr meine Freundin!)

Assertiv (Wettkampf )/ präventiv, direkt, Selbstbehauptung und Unterwerfung, nicht Vertreibung; Herausforderung, Provokation gegen Rivalen. Drohen, Herausfordern, Imponieren, aber auch: Rituell z. T. mit Beißhemmung (Ritterkämpfe) A aktive Konkurrenz, aktive Kritikmotivation, Auseinandersetzungsfreudigkeit (bis in Wissenschaft). Hostile Aggression: An Bewusstsein gebunden (evolutionär sehr jung).

Denkstil

Prädikativ: Eigenschaften, Merkmale, Struktur des Bedeutungszusammenhanges der Dinge A Entwicklung entsprechender Kompetenzen: a) Ganzheitlichkeit, b) Einzelheitensorgfalt und -kenntnis: Buschfrauen kennen 183 Pflanzensorten, darunter 12 Giftpflanzen; »Kräuterhexen«.

Funktional, Motivation zum Ausprobieren, neue Wege finden, analyseorientiert (Ursachen), lösungsorientiert.

Problemlösen

Erst Zusammenhang und Bedeutung erkennen (nachdenken), verstehen, sprachliches Gedankenbild erzeugen, dann lösen. Geringere Motivation zu Exploration.

Lösung durch Ausprobieren (»Tüfteln«), schrittweise Erfahrung sammeln, Querdenken, höhere explorative Motivation (riskierende Neugier).

Räumliches Verhalten

Gutes Merkmalsgedächtnis, Einzelheiten, Strukturen, z. T. sozial orientiert.

Gute Lageorientierung, Raumbild, starke Richtungsorientierung, neuronal: Hippocampus aktiv (Raumabbild), Aktionsraum eher nach Erkundung und weniger nach sozialer Bedeutung orientiert.

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Verhaltensbereich

Frau

Mann

Fremdentoleranz

Eher hoch.

Eher gering.

Einflussbereich

Hauptlast der Arbeit in Familie und Haus, primäre Bindungsbasis als kulturelle Grundlage für Kinder, Ressourcensicherung, Bestimmung über die Produkte ihrer Arbeitstätigkeit.

Gruppenbelange inkl. Rituale, öffentliche Aktivitäten, produktiver Sektor, Jagd und Jagdtechniken, für Kinder Lernvorbild für Techniken und Umfeld, Familien- und Gruppenschutz, soziale Ressourcensicherung.

Persönlichkeit (Big Five)

Höhere Werte in Verträglichkeit und Neurotizismus (s. Dehne und Schupp, 2007).

Geringere Werte in Verträglichkeit und Neurotizismus.

Statistische Untersuchungen der Verteilung der Intelligenz innerhalb einer Population ergaben, dass bei den Männern eine breitere Streuung vorliegt: Es gibt bei ihnen gegenüber den Frauen mehr sehr kluge, aber auch mehr »dumme« (Spitzer, 2008). Zur statistischen Mitte hin sind die Frauen stärker als die Männer. Männer sind also evolutiv das variablere, instabilere und damit auch vulnerablere Geschlecht. Alle diese Merkmale werden von angeborenen Persönlichkeitspotentialen (Big Five) und kulturellen Einflüssen (Sozialisation, Erziehung) modifiziert, ergänzt, gefördert oder gehemmt, nicht aber grundsätzlich geändert.

Literatur Antweiler, C. (2007). Was ist den Menschen gemeinsam? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Badcock, C. (1999). Psychodarwinismus. Die Synthese von Darwin und Freud. München u. a.: Hanser. Bereczkei, T. et al. (2003): Sexual imprinting in human mate choice. Proc. Roy. Soc.: Biol. Sci., DOI:10.1098/rspb.2003.2672)15 Bischof-Köhler, D. (2006). Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede. Stuttgart: Kohlhammer. BFSFJ (2007). Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Zugriff Nov. 2007: http://www.gender-mainstreaming.net/gm/definition.html 15 Rezension: http://sciencev1.orf.at/sciencev1.orf.at/science/news/113280.html © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Henning Zimmermann

Männer in Gruppen

»Schon wieder dieses Thema!«, denken bestimmt viele. »Das ist doch ein alter Hut.« Und doch ist es immer wieder eine spannende Entdeckungsreise, sich mit dem Thema Mann zu beschäftigen. Ist es doch eine Gelegenheit, einmal wieder zu reflektieren, was sich eigentlich in den letzten Jahren in diesem Bereich getan hat. Was ich dabei so entdeckt habe, möchte ich, verknüpft mit meinen eigenen Erfahrungen, gerne vorstellen. Es wird ein Aufruf an die Männer werden, sich endlich auf sich selbst und den in ihnen wohnenden Energien zu besinnen und sich aufzumachen, sich selbst zu entdecken, sich gegenseitig zu unterstützen und vor allen Dingen wieder Zugang zu ihren Gefühlen zu entwickeln. Aber beginnen wir erst einmal von vorn. Zunächst ein kleiner Ausflug in unsere männliche Vergangenheit. – So schreibt z. B. Jean-Jacques Rousseau: »Die Frau bildet den Humus zur Vervollkommnung des Mannes« (zit. nach Schmidt, 1992, S. 843). – Joachim Heinrich von Campe (1789): Zur Bestimmung einer Frau gehören: »Reinigkeit des Herzens und der Gesinnungen, aufgeklärte Gottesfurcht, Schamhaftigkeit und Keuschheit, Bescheidenheit und unerschöpfliche Herzensgüte und endlich ein liebevolles Hingeben in den Willen des Mannes« (zit. nach Schmitt, 2005). – Martin Luther: »Weibern mangelt es an Stärke und Kräften des Leibes und am Verstande« (aus: Feyl, 1984). Worum es geht, haben schon 1970 Männer im kalifornischen Berkeley gezeigt, als sie das erste Männerzentrum gründeten und in einem historischen Manifest formulierten: »Wir als Männer wollen unsere volle Menschlichkeit wiederhaben. Wir wollen nicht mehr länger in Anstrengung und Wettbewerb stehen, um ein unmögliches, unterdrückendes männliches Image zu erreichen – stark, schweigsam, cool, nett, gefühllos, erfolgreich, Beherrscher der Frauen, Führer der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Männer und Frauen in Gruppen

Männer, reich, brillant, athletisch und heavy. Wir möchten uns selbst gern haben.« Das hört sich zunächst ganz einfach und einleuchtend an. Wir möchten uns gut fühlen und unsere Sinnlichkeit, unsere Gefühle, unseren Intellekt und unseren Alltag zufrieden erleben. Was ist daraus in den letzten vierzig Jahren geworden, fragt sich der geneigte Leser.

1. Die Männerfrage ist immer noch eine Frauenfrage Was Männer tun, wie sie sich verändern etc. – diese Fragen stellen immer noch in der Mehrzahl die Frauen. In die Männergruppen, die ich in den frühen 1980ern gründete, wurde die Mehrzahl der Männer von ihren Frauen geschickt, mitunter auch unter Drohungen: »Wenn du da jetzt nicht hingehst, dann … werden wir uns trennen.« Männerliteratur finden wir im Buchladen zumeist unter »Ratgeber« oder »Frauen«. Die Forderungen nach Veränderungen kommen zumeist von Frauen. Die Führungsetagen in der deutschen Wirtschaft sind nach wie vor Männergesellschaften. Nur ganz wenig Frauen »verirren« sich in diese Etagen.

2. Ein Indianer kennt keinen Schmerz Herb Goldberg, der amerikanische Psychotherapeut und Pionier in der »Männerfrage«, hat schon Ende der 1960er Jahre »sieben maskuline Imperative« formuliert, die – trotz aller Veränderungen in den letzten fast vierzig Jahren – noch immer gültig sind: – Je weniger Schlaf ich benötige, – je mehr Schmerzen ich ertragen kann, – je mehr Alkohol ich vertrage, – je weniger ich mich darum kümmere, was ich esse, – je weniger ich jemanden um Hilfe bitte und von jemandem abhängig bin, – je mehr ich meine Gefühle kontrolliere und unterdrücke, – je weniger ich auf meinen Körper achte, desto männlicher bin ich (Goldberg, 1975)

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3. Bitte helfen Sie mir nicht – es ist allein schon schwer genug Die durchschnittliche Lebensdauer von Männern im deutschsprachigen Bereich liegt um mehr als sechs Jahre unter der durchschnittlichen Lebensdauer von Frauen. Bis zum Alter von 65 Jahren sterben Männer – immer im Vergleich mit dem weiblichen Geschlecht – – fünfmal häufiger am Herzinfarkt, – dreimal häufiger an Verkehrsunfällen, – dreimal häufiger an Aids, – dreimal häufiger an Lungenkrebs, – dreimal häufiger am Suizid, – zweimal häufiger an Leberzirrhose. Krankenhäuser und Psychiatrien für chronisch Kranke sind von doppelt so vielen Männern besetzt. Zwei Drittel der Notfallpatienten sind Männer. Männer gehen zu etwa 30 % weniger zum Arzt; dafür ist ihre Verweildauer in Krankenhäusern, Reha-Kliniken u. a. um etwa 20 % länger (aus Hollstein, 1993). Die Verteilung der Geschlechter in Praxen für Psychotherapie ist entsprechend.

4. Lieber bekannte Höllen als unbekannte Paradiese Das ist eigentlich die Folge aus dem bisher Gesagten. Wir Männer hätten die Macht, wir hätten alle Möglichkeiten, diese Dinge zu verändern. Da wir es nicht tun, liegt doch die Vermutung nahe, dass wir an diesen Männlichkeitsleiden Spaß und Lebenslust empfinden. Walter Hollstein (1993) hat einmal ausgerechnet: Wenn es mit der Emanzipation in dem Tempo weitergeht wie bisher, haben wir in 400 Jahren die Gleichberechtigung erreicht. Wie kommen wir also zu Veränderungen?? Der Kölner an sich hat dafür einen kurzen, aber wirksamen Spruch: Wat brinkt misch dat? Wenn er sich diese Frage nicht positiv beantworten kann, bleibt er einfach bei seinem vertrauten Verhalten. Und ich glaube, das sehen nicht nur die Kölner so. Vielleicht leiden wir noch nicht genug?

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5. Mann sein ist ein gesellschaftliches Produkt Der Junge und spätere Mann muss in seiner Sozialisation alles vermeiden, was den Anschein des Mädchenhaften hat. Demgemäß muss er seine weichen und weiblichen Anteile abspalten; seine männliche Identität erreicht er nur in deutlicher Opposition zum anderen, weiblichen Geschlecht (»no sissy stuff«). Der Junge und spätere Mann muss sich lebenslang um Erfolgserlebnisse bemühen. Erfolg garantiert nicht nur Position und Statussymbole, sondern sichert generell die Männlichkeit. Nur wer Erfolg hat, ist ein richtiger Mann. Der Weg zum Erfolg führt ausschließlich über Leistung, Konkurrenz und Kampf (»the big wheel«). Der Junge und spätere Mann muss wie eine Eiche im Leben verwurzelt sein. Er muss jedem Sturm trotzen, hart, zäh und unerschütterlich (»the sturdy oak«). Der Junge und spätere Mann wagt alles, setzt sich frag- und furchtlos ein, ist mutig und wild. Er ist per se ein Siegertyp. Vorbilder für ihn sind der Pionier im Wilden Westen von einst oder der Held auf dem Baseball-Feld von heute (»giv’em hell«).

6. Jungen werden von älteren Jungen »gemacht« »Geschlechterpolizei« nennen das die beiden Wiener Soziologinnen Edith Schlaffer und Cheryl Benard. Im Kindergarten und in der Grundschule sind unsere Männlichkeitserzieher. Hier wird exakt aufgepasst, dass wir nicht aus der Rolle fallen. Dies sei besonders zu denen gesagt, die immer wieder sagen, die Kinder würden doch ausschließlich von ihren Müttern erzogen. Damit hätten doch die Frauen das Monopol die Geschlechterrollen zu prägen. »Heulsuse«, »Weichei«, früher haben wir »Softie« oder »Warmduscher« gesagt. Alles dürfen wir als Jungen, nur nicht: heulen, Schmerz zeigen, mit Puppen spielen und schwul sein. Wehe wenn.

7. Wer seine Rolle verlässt, wird zum Außenseiter Schlag zu, wenn dich einer verletzt oder dumm anmacht, wehr dich doch, heul doch nicht so herum. Zeig doch endlich, dass du ein Mann bist – oder willst du, dass die anderen dich verachten? Da die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

H. Zimmermann · Männer in Gruppen

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Instrumente, sich zu wehren, als Junge noch nicht so ausgereift sind wie bei uns Erwachsenen, bleibt unserem Jungen nur übrig zurückzuschlagen oder die Flucht, dann wird er aber zum Feigling oder zum Außenseiter. Viele dieser Verhaltensmuster werden von uns als veraltet bezeichnet, neue sind allerdings noch nicht sehr im Blick. Im Gegenteil, es ist zu beobachten, dass gerade in wirtschaftlich nicht einfachen Zeiten die Männer wieder auf alte Rollenbilder zurückgreifen. Sie sitzen in Jogginghosen in den unsäglichen alltäglichen Talkshows und erklären, dass an ihrem Schicksal alle anderen schuld sind, nur nicht sie selbst. Frauen im Übrigen nicht minder.

8. Männer sind schnell bereit, ihr Gefühlsleben an ihre Partnerinnen zu delegieren Leben Männer dann in Beziehungen, sind sie relativ schnell bereit, ihr Gefühls- und Beziehungsleben an ihre Partnerinnen zu delegieren. »Du, Schatz, wir sollten mal wieder die Müllers zum Essen einladen, machst du das mal? Du machst das doch immer so nett.« In ähnlicher Weise geben wir auch unsere Sorge um die Erziehung der Kinder ab und greifen dann ein, wenn wir glauben: »Jetzt ist mal wieder richtig Erziehung nötig.«

9. »Ich finde deine Idee richtig gut – sie hat nur einen Fehler: Sie ist nicht von mir« Was ist nun daraus zu lernen und welche Erkenntnisse können wir umsetzen, damit die Idee zu meiner eigenen wird? Ich will ein Umdenken in der – Gestaltung meiner Beziehungen zu Männer und Frauen, – in der Gestaltung und Mitarbeit in meiner Familie, – in meinem Beruf und in meinen Vorstellungen von Geldverdienen und Karriere, – in meiner Gestaltung von freier Zeit, – in der Frage meines gesundheitlichen Umgangs mit mir selbst, – im Umgang mit und in der Politik, mit meiner Umwelt und mit der Natur, – im Umgang mit meinen Partnerinnen und Partnern, – in der Pflege von meinen Freundschaften. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Wenn uns dies gelingt, werden wir es tatsächlich noch schaffen, uns als Männer so zu verändern, dass wir echte Chancen auf ein längeres zufriedenes Leben haben. Ich wünsche Ihnen gute Erfahrungen in der Arbeit mit Männern und als Männer.

Literatur Feyl, R. (1984). »Sein ist das Weib, Denken der Mann«. Ansichten und Äußerungen für und wider die gelehrten Frauen. Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand. Goldberg, H. (1975). Der verunsicherte Mann. Reinbek: Rowohlt. Hollstein, W. (1993). Kampf der Geschlechter, Frauen und Männer im Streit um Liebe und Macht und wie sie sich verständigen können. München: Kösel. Schmid, P. (1992). Geschlecht als Kategorie der Geschichte der Erziehung. Zeitschrift für Pädagogik, 38. Schmitt, C. (2005). Theorien zur weiblichen Bildung im 18. Jahrhundert. München u. Ravensburg: Grin-Verlag.

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Ingrid Stahmer

Kulturpolitische Aspekte der Geschlechterdynamik Männer und Frauen in der Politik

Männer und Frauen in den letzten hundert Jahren – eine kulturanthropologische Perspektive Mein Beitrag ist sehr persönlich – es sind zwar keine hundert Jahre, aber eine ganze Menge Jahre, um zu schauen, was ist aus diesem, zum Schrecken der Familie weiblichen Kind geworden ist, das ein Junge werden sollte. Der Schrecken fing eigentlich schon früher an, insofern kann ich noch einiges aus dem vergangenen Jahrhundert dazunehmen. In den 1940er Jahren gab es einen schweren Familienkonflikt in einer süddeutschen Familie die, katholisch und evangelisch und kritisch und angepasst, in heftige Wirrnisse kam, als meine Mutter sich von ihrem passenden katholischen Verlobten trennte und dessen Freund – einem protestantischen Revoluzzer und Intellektuellen – verfiel, und zwar so weitgehend, dass nun auch geheiratet werden sollte, was nicht erlaubt wurde. Die katholische Familie war unterwegs, die bekannten Ärzte anzurufen, die waren aber im Osterurlaub. Die Mädchensituation, auf die ich ganz ernst so ein kleines Licht werfen will, war so, dass alles Mögliche versucht wurde, dieses Problem loszuwerden. Ich habe im vergangenen Jahr den Haushalt meiner Mutter aufgelöst und dabei Briefe gefunden zwischen meinem im Krieg gefallenen Vater und ihr, wo sie beschreibt, es sei doch sehr erstaunlich, dass dieser »Quergel« – ich wurde noch längere Zeit, auch nach der Geburt, als »Er« geführt – so zäh gewesen sei und so viel VonTischen-Springen, Schwere-Lasten-Tragen, Sich-heftig-Belasten während der sensibelsten Zeiten der Schwangerschaft ausgehalten hätte. Es ging um die Frage, was für ein Mensch dabei herauskäme. Zum Glück kann ich sagen, dass ich – obwohl nun ein Mädchen – so gelassen wurde, wie ich war. Ich hatte nie rosa Kleidchen an – habe heute übrigens immer noch Schwierigkeiten mit dieser Farbe. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Das Mädchenhafteste, das es gab, war ein hellblaues Seidenkleid zur Hochzeit meines zweiten Vaters und meiner Mutter – da war ich vier –, mit dem ich als Erstes auf einen Kohlenhaufen auf dem Hochzeitsgelände geklettert bin; das wurde nicht zur größeren Katastrophe gemacht. Genauso wie später, z. B. als ich meine schönste, neueste Cordhose zerriss beim Über-Zäune-Springen. Da sagte meine Mutter: »Hm, Dreiviertelhosen sind modern«, und schnitt die Beine einfach ab an der Stelle, wo der Triangel war. Das heißt, ich hatte sehr früh Gelegenheit, anders zu leben als viele Mädchen meiner Generation. Und ich denke, dass das eine ganze Menge geholfen hat. Das ging dann weiter mit der Frage, auf was für eine Oberschule ich gehen sollte. Mein im Krieg gefallener Vater hatte mich nur einmal gesehen, als ich drei Monate alt war. Er soll gesagt haben: »Naja, muss erst noch ein Mensch werden, aber wenn sie klug wird, kommt sie aufs humanistische Gymnasium, wenn nicht, auf die Koch-Schule.« Immerhin hatte er Bildungswege für mich vorgesehen – das ist ja auch in der Zeit noch nicht so unbedingt üblich gewesen. So wurde es eine Schule, in der das Große Latinum geboten wurde, und das war das Gymnasium für Jungen in Bremen am Barkhof, das gerade mit der Koedukation anfing. Vorsichtshalber führten sie einen Zug noch als reine Jungenklasse und den anderen Zug auf dem Lateinsektor mit einer gemischten Klasse. Wir waren zu Anfang zwei Drittel Jungs und ein Drittel Mädchen, in der Oberstufe war ich das einzige Mädchen. Die Lehrer wollten beweisen, dass dieses ein Gymnasium für Jungen war und dass Mädchen es einfach nicht schaffen können. An mir sind sie damit gescheitert. Das lag – wie ich erst sehr viel später merkte – auch daran, dass ich in der Oberstufe langsam übte, doch ein Mädchen zu sein. Das war nicht einfach, weil ich immer eher vorne dran war bei den Jungs als mit den wenigen Mädchen zusammen. Ich war höchstens Dolmetscherin bei Partys, wenn das Mädchengymnasium eingeladen wurde. Dann fragten mich die Jungs: »Was machen wir nur mit denen, kannst du uns nicht mal sagen, wie?« Und die Mädchen kamen ratlos zu mir und sagten: »Was reden die immer von Sartre und Camus und sonst was, und das stundenlang. Wie kann man denn mit denen klarkommen?« Das eröffnete mir offensichtlich Möglichkeiten, mich mehr einzumischen, mehr auch bei Männern Verständnis zu finden. Das ging so weit, dass ich in meiner anfänglichen Berufszeit richtig auf Frauen hinunter sah und sagte: »Wir sind die eigentlichen Menschen und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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diese Gänse von der Mädchenschule – naja.« Ich brauchte eine ganze Reihe Jahre meiner ersten Berufszeit, um zu merken, wie gut ich mit qualifizierten Frauen zusammenarbeiten konnte. Denn die Behauptung vorher war – und das war die Behauptung vieler meines Jahrgangs und auch der Älteren, die es irgendwie hinaufgeschafft hatten in Führungspositionen: »Ich kann viel besser mit Männern zusammenarbeiten. Diese ›Hühnerhofgeschichten‹ sind nichts für mich.« Ich denke, das hat der Entwicklung von Gleichstellung und Gleichberechtigung auch schwere Lasten beschert, so wie vieles andere. Bevor ich zu solchen Erkenntnissen kommen konnte, wurde ich schon mit 17 – sehr zum Schrecken meiner Eltern – »eingefangen« von einem 25-jährigen Juristen, der sagte, das ist die Frau meines Lebens, da bleibe ich dran. Ich war aber eindeutig der Meinung, nun muss erst einmal das Abitur her und dann ein Beruf, ehe ich mich dem so weit nähere, dass man an Heiraten denken kann. Dann habe ich aber etwas Praktisches gemacht, nämlich Sozialarbeit studiert, ohne so richtig zu wissen, auf was ich mich einließ. Ich war einfach gut in Deutsch und Englisch und schlecht in Mathematik, Physik und Chemie. Das war übrigens der soziale Faktor – denke ich –, der mich durch die Oberstufe gebracht hat: Ich muss noch irgendwo hilfsbedürftig sein, sonst wäre ich in der Jungsklasse ganz schwierig geworden. Nach dem Sozialarbeiterstudium ging es in die Säuglings- und Kleinkinderfürsorge – das schien eine sinnvolle Vorbereitung für die Familiengründung zu sein. In dem halben Jahr, das ich zu Hause war, fiel mir fast die Decke auf den Kopf, und der Gedanke, unter der Herrschaft der Oberschwester in die Kleinkinderfürsorge zurückzukehren, ließ mich in die allgemeine Sozialarbeit (Kinder-, Familien- und Jugendarbeit) geradezu flüchten. Interessant ist, dass ich es während der Arbeit dort nicht gemerkt habe. Ich habe allen Leuten immer erklärt, wie interessant und spannend das sei in der Kleinkinderfürsorge und was ich daraus mache. Ich habe erst gemerkt, als ich draußen war, dass das keine Perspektive sein könnte. Die Möglichkeit dann, etwas anderes politisch wirksam zu tun, war allerdings von sehr vielen Männern begleitet. Die Förderung in politisches Vollzeitmandat als Sozialstadträtin und Stellvertretende Bürgermeisterin von Charlottenburg haben tatsächlich Männer verursacht, die mir zugeredet haben. Ich habe mich tausendfach geprüft – wie alle Frauen das tun. Der Mann, der gegen mich antrat, sagte, als ich gewonnnen hatte: »Naja, die wollten nun endlich mal ’ne Frau haben.« Keine Konkurrenz. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Ich war 1981 unter 84 Bezirksstadträten im damaligen Westberlin die einzige Frau, die Stadträtin war. Es gab noch Erika Hess als Bezirksbürgermeisterin in Wedding – also zwei Frauen unter 84 Männern. Das hatte sich dann 1988 verändert, immerhin zu sieben Frauen unter 84 Männern. Und interessanterweise waren wir im Bezirk Charlottenburg – in meinem Bezirk – drei Frauen als Bezirksstadträte unter sieben. Dann gab es noch vier Bezirke, in denen es je eine Frau unter den sieben Stadträten gab, und sieben Bezirke ohne eine Frau unter den sieben Stadträten. Dies war eine gut bezahlte Position, im Ehrenamt gab es nämlich eine Menge mehr Frauen in der SPD als in den bezahlten Aufgaben. So war die Entwicklung bis 1989. 1989 dann das plötzliche Gewinnen der Wahl, ohne das vorher recht geahnt zu haben, und die Möglichkeit zu Rot/Grün. Das war passiert, weil die FDP aus dem Parlament ausgeschieden war und dadurch Mehrheiten möglich wurden, die vorher so nicht abzusehen gewesen waren. Etwas erschrocken machten wir uns auf in die Verhandlungen und etwas erschrocken war der zum Regierenden Bürgermeister ausgeguckte Walter Momper. Ich hatte es abgelehnt, Spitzenkandidatin zu werden, weil ich bei meinem Fach bleiben wollte – da war ich dann wieder ganz Frau. Diese Regierungsübernahme durch Rot/Grün ging mit einer Besonderheit einher – dem sogenannten Feminat, wie es genannt wurde –, nämlich einer Mehrheit von Frauen in einer Landesregierung (die gab es damals europaweit nicht). Wir waren acht Frauen und sechs Männer und der Regierende Bürgermeister, dessen Vertreterin ich war. Wir haben damals alle möglichen Schreckensreaktionen verspürt. Man meinte, irgendwie wird die Welt aus den Angeln gehoben, wenn die Frauen jetzt die Mehrheit haben – die Welt ging nicht aus den Angeln, aber die Mauer fiel. Das haben die Frauen und Männer der DDR verursacht, und es waren dabei viele energische und geduldige Frauen, die allerdings, als die Positionen in den politischen Strukturen vergeben wurden, nicht mehr wiederzufinden waren. Sie waren gerade noch an den runden Tischen sehr aktiv gewesen, das konnten wir gut verspüren. Wir hatten ja in Berlin den Vorzug, uns gegenseitig wesentlich besser kennen zu lernen als anderswo. Ich denke, das ist eine der Ähnlichkeiten, die weiter bestehen und die sich auch in den Charts wiederfinden lassen, die bei den Geschlechterunterschieden nach evolutionspsychologischen und biolo© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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gischen Befunden kulturübergreifend gemacht wurden, nämlich Positionen zu besetzen, kämpferisch zu sein, sich einzumischen und auch quer zum Trend sich zu behaupten, ist einem einfach nicht grundsätzlich gegeben, wenn man auf der Frauenseite des Kontinuums ist, auf dem ich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen angesiedelt sehe. Bei mir müssen die Biologie und die Sozialisation diese und jene Sprünge gemacht haben, sonst wäre es wohl nicht so gewesen mit dem Sich-einmischen-Können und sowohl konfliktfähig als auch auseinandersetzungsfähig zu sein. Allerdings ist die Gesellschaftsstruktur auch eine andere geworden und hat das Ihre dazugetan. Auch Frau kann nicht einfach durch Macht alles erreichen. Es werden schon Einfluss und andere Leute dazu gebraucht. Da halte ich es mit Hannah Arendt, die gesagt hat, »Macht ist, wenn ich etwas mit anderen gemeinsam bewegen kann.« Und solange Frauen nur darauf warten, dass ihnen irgendwann mal diese Macht in den Schoß fällt, werden sie sie nicht kriegen, auch nicht die gemeinsame Macht mit Männern, auf die es – wie ich glaube – ankommt. Und deshalb brauchen wir mehr Verständnis dafür – bei Männern und Frauen –, dass das Ergreifen von Macht nur als ein Miteinander funktionieren kann, zu vernünftigen und guten Zwecken im Miteinander in der Politik und in der Gesellschaft.

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Ulrike Gedeon

Die therapeutische Arbeit in Frauengruppen

Seit etwa zehn Jahren arbeite ich mit verschiedenen Frauengruppen. Voraus ging der Beginn meiner eigenen Auseinandersetzung mit wichtigen Frauenthemen, z. B. was gute Weiblichkeit ist, welches die Möglichkeiten und Grenzen als Mutter und Therapeutin sind oder ob eine Partnerschaft möglich ist, in der es gelingen kann, eigenständig und bezogen zu sein und sich darin wohl zu fühlen. In den vergangenen Jahren konnte ich durch den Mut und die Entschlossenheit vieler Frauen, auch über schmerzliche, verunsichernde oder schambesetzte Themen zu sprechen, einen großen Erfahrungsschatz sammeln, für den ich sehr dankbar bin. Der folgende Beitrag soll so konzentriert wie möglich einen Teil meiner Erfahrungen wiedergeben.

Verschiedene Formen von Frauengruppen – Reine therapeutische Frauengruppe in vier Wochen stationärer Therapie. – Die Therapeutin sitzt im Kreis. – Frauengruppen, die sich als Gesprächskreis für einige Stunden in gemischten Therapiegruppen bilden. – Die Männer sitzen als Außenkreis und das Therapeutenpaar sitzt ganz außen. – Workshops als geleitete themenzentrierte Frauengruppen. – Die Therapeutin sitzt als Gruppenleiterin im Kreis. – Frauengruppen als Selbsthilfegruppen: Die Frauen organisieren eigenständig regelmäßige Wochenenden oder einzelne Tage. – Die Therapeutin sitzt außerhalb des Kreises.

Arbeitsmethoden Gesprächs- und Diskussionsrunden, Zwiegespräche, Zwie-Bewegung, Zwie-Trommeln, Rollenspiele oder andere gestalttherapeuti© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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sche Elemente, wie Arbeit mit dem Stuhl, kommunikative Bewegungstherapie, Musiktherapie (aktive und passive).

Themen in diesen Frauengruppen Zum Beispiel: – Frau in Beziehung zu Frau, – Frau und Partnerschaft, – Frau und Sexualität, – Frau und Mutterschaft, – Frau und Weiblichkeit – Suche nach weiblicher Identität, – Frau im Balanceakt zwischen Selbstverwirklichung, Partnerschaft und Mutterschaft.

Gesammelte Inhalte der Frauengruppen Frauen in Beziehung zu Frauen Frauen finden sich vor allem im Wunsch nach Austausch über Frauenthemen unter Frauen, nach Orientierung und Solidarität. Dabei vereint sie das Bedürfnis nach Gemeinschaft mit Frauen mit der Sehnsucht nach Achtsamkeit, Bestätigung, Mitgefühl, Aufmerksamkeit und respektvollem Miteinander – also nach guter Mütterlichkeit und Partnerschaftlichkeit untereinander. Und es besteht der Wunsch, Lebendigkeit, Lust und Kraft mit Frauen zu erleben und zu genießen. Wünsche und Fragen der Frauen in einer Frauengruppe: – »Ich will ankommen und loslassen.« – »Ich will so sein, wie ich bin, und dazugehören.« – Wie lebt man als erwachsene Frau? – Wie lebt man eigenständig? – Wie ist Mutterschaft, was ist wichtig zu wissen? – Wie lebt Frau Sexualität? – Was ist mein Part in der Partnerschaft? Wesentliche Themen unter Frauen, die abgewehrt werden, sind Konkurrenz und Sehnsucht. Widmen sich die Frauen den Hintergründen der Konkurrenz, geht es vor allem um die Abwehr von © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Nähewünschen zu den Frauen der Gruppe als abgewehrte Muttersehnsucht. Dabei ist es leichter auszuhalten, Angst vor der Anderen zu haben, neidisch zu sein oder die Andere unsympathisch zu finden, als sich mit den individuellen Unterschiedlichkeiten zu ergänzen und die Beziehung damit zu bereichern, weil mit einer guten Verbundenheit die frühen Beziehungsdefizite reaktiviert werden würden. Verstehen sich wiederum Freundinnen gut miteinander, wächst die Sehnsucht nach der symbiotischen Nähe (zur frühen Mutter), in der alles übereinstimmt. Dadurch besteht die Gefahr, faule Kompromisse einzugehen, Konflikte auszublenden oder Trennendes nicht zu akzeptieren, um die Harmonie nicht zu gefährden. In den Frauengruppen wird auch zunächst eine schnelle Scheinharmonie eingegangen. Konflikte werden dann lieber ausgeblendet, um die gemeinsame frühe Sehnsucht zu binden. Eine weitere Abwehrform unter Frauen ist die Pseudoregression als Abwehr der notwendigen Klärung von anstehenden Konflikten. Frauen fällt es oft leichter, über ihre frühe Kindheit zu reden oder zu weinen, anstelle einen gegenwärtigen Konflikt anzusprechen, der arbeitsbremsend im Raum steht und die Empathie der Gruppe verhindert.

Frau in Partnerschaft Es gibt ein breites Spektrum an Übertragungsverführungen in der Partnerschaft, sowohl Mutter- als auch Vaterübertragung auf den Partner oder die Partnerin. Dabei werden übermäßige, meist kindliche (unerfüllt gebliebene) Erwartungen auf den Partner gerichtet, die er nicht erfüllen kann. Dies aktiviert die frühkindlich (berechtigte) Enttäuschung, die dann am Partner, stellvertretend für die frühen Eltern, abreagiert wird. Ein wichtiges Thema ist die Notwendigkeit der Klärung von Konflikten und Missverständnissen in der Partnerschaft, dass jeder für seinen eigenen Anteil am Konflikt verantwortlich ist und die »Schuld« nicht ausschließlich dem Partner zuschieben sollte. Nicht geklärte, angesammelte Auseinandersetzungen und Kränkungen in der Partnerschaft führen unweigerlich zu übermäßigen Wutausbrüchen (frühkindliche Wut), ausgelöst durch menschliche Fehler oder Schwächen des Anderen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Es bestehen oft Schwierigkeiten, eigene Wünsche und Bedürfnisse in der Partnerschaft zu äußern oder klare Ansagen zu machen, z. B. wird oft die Frage an den Partner gestellt: »Was machen wir heute?« anstatt: »Ich möchte das und das gern mit dir machen« – und dann zu verhandeln, was für beide stimmt. Ein weiteres wesentliches Thema sind heimliche, oft auch unbewusste Manipulationsversuche am Partner mit dem Ziel, eigene Unsicherheiten oder Einsamkeit zu kompensieren oder auch frühe Angst zu beruhigen. Als typisch weibliche Manipulationsversuche in der Partnerschaft werden beschrieben: sich schwach anzubieten, Schuldgefühle zu erzeugen, das Gegenüber zu verwirren oder zu verwickeln oder in Kränkung zu verharren. Insgesamt wird deutlich, dass es vielen Frauen schwerfällt, ihre eigene Autonomie in der Partnerschaft zu erhalten. Das Abgrenzen für den eigenen Freiraum wird häufig schuldhaft empfunden und vermieden. Das heißt, Eigenständigkeit in Bezogenheit in der Partnerschaft ist für viele real schwer zu leben.

Frau und Sexualität Viele Frauen haben nur selten Lust auf Sexualität. Der Mann wird mit seiner Lust als drängend oder nötigend empfunden, was ihm dann auch vorgeworfen wird (»Du willst immer nur dasselbe!«). Hinter diesem Vorwurf stecken oft die behinderte eigene Lustfähigkeit oder die fehlende Lusterfahrung. Häufig gibt es unterschiedliche Bedürfnisse des körperlichen Miteinanders: Männer wünschen sich eher Lust und Erotik, Frauen sehnen sich mehr nach zärtlicher Berührung. Ein Austausch über diese unterschiedlichen berechtigten Wünsche oder eigene Schwierigkeiten mit der Lust mit dem Aushandeln von Kompromissen findet in der Regel nicht statt. Meistens bleibt die Problematik in der Unterschiedlichkeit der gewünschten Häufigkeit stecken und wird damit zum Dauerbrenner und chronischen Kränkung für beide. Es besteht überwiegend eine große Scham, über sexuelle Themen, Lustfähigkeit oder sexuelle Techniken zu sprechen. Es gibt oft gar keinen Wortschatz für das sexuelle Miteinander. Das erklärt auch die Sprachlosigkeit und Redehemmung, die viele Menschen beim Sex verspüren. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Sex wird für viele nur als kurze Episode vor dem Schlafengehen erlebt, anstelle dieser intimen Art der Begegnung mehr Zeit und Bedeutung beizumessen, z. B. indem man sich als Paar verabredet, um sich miteinander schöne sexuelle Stunden zu bereiten. Viele Frauen haben keinen Orgasmus und haben auch noch nie masturbiert. Manche haben nach langen Ehejahren erstmals lustvolle Begegnungen bei heimlichen Geliebten. Beispiele für Aussprüche über Sex: – »Ich bekomme die Trennung zwischen Bedürftigkeit und Lust nicht hin.« – »Eigentlich will ich nur kuscheln.« – »Ich weiß oft am sichersten, dass ich keinen Sex will.« – »Ich schlafe oft mit verschiedenen Männern, um mir zu beweisen, dass ich eine Frau bin.« – »Ich kann nur mit fremden Männern lustvoll sein – sobald eine verbindliche engere Beziehung entsteht, schäme ich mich.«

Erkenntnisse über die Besonderheiten von reinen Frauengruppen Unter Frauen wird die spezifische Abwehr direkter aufgedeckt, das heißt, Frauen durchschauen und verstehen sich oft gegenseitig besser, als es zwischen Männern und Frauen möglich ist, da Frauen ähnlich wahrnehmen und reagieren. Die Sexualisierung mit Männern, die als Abwehr stabilisiert, fällt in einer reinen Frauengruppe weg. Die Frauen, die sich früher über Väter und jetzt oft über Männer stabilisieren (sogenannte Vater-Töchter), werden stärker verunsichert, weil sie kein gewohntes Gegenüber für ihre Leistungsanstrengungen und erotischen Angebote haben. Hinter den Abwehrthemen der Frauen stehen frühkindliche Verbote und Ängste, die durch die Labilisierung der Abwehr aktiviert werden, wie z. B.: – »Ich darf nicht lebendig und lustvoll sein.« – »Ich darf nichts falsch machen.« – »Ich habe Angst, nicht richtig zu sein.« – »Ich muss Leistung bringen, um dazugehören zu dürfen.« – »Wenn ich etwas falsch mache, muss ich weg.« – »Spüre ich Stärke oder Lust, habe ich Angst, gebremst oder bestraft zu werden.« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Diese frühkindlichen Überzeugungen bringen in den Frauengruppen erhebliche Spannungen und Ambivalenzen mit sich, die die Frauen sehr verunsichern. Hinzu kommt, dass eine reine Frauengruppe eine hohe mütterliche Kraft besitzt, die bei der einzelnen Frau und kollektiv einen raschen regressiven Sog und eine Vielfalt von Übertragungen auslöst. Eine von mir als Frau geführte Frauengruppe aktiviert zunächst einen mütterlichen Übertragungssog auf mich. Wenn die Auseinandersetzung mit mir geführt wurde und ein Arbeitsbündnis hergestellt ist, kommt es zum erneuten Beginn des Übertragungssoges auf die Gruppe als Übertragungsmutter. Dabei haben die Frauen hauptsächlich Angst vor manipulativer, mangelhafter und bedrohlicher Mütterlichkeit der Übertragungsmutter Therapeutin und Gruppe. Auf mich als Therapeutin wird z. B. die Befürchtung projiziert, dass ich die Frauen rauswerfe, ablehne, bestrafe, im Stich lasse, zu wenig Zuneigung habe, sie nur über Leistungen anerkenne, für meine Bedürfnisse missbrauche oder dass ich nur diejenige mag, die mir alles recht macht. Es stellen sich Ängste ein, verloren zu gehen oder vernichtet zu werden. Die Frauen verlieren schnell, ausgelöst durch den Übertragungssog, das Gefühl für ihre Eigenverantwortung. Dadurch wird dringend Führung gesucht. Das bedeutet für mich als Therapeutin, dass an mich sehr hohe und oft auch unrealistische Erwartungen gestellt werden, ich möge die (frühen) Bedrohungsgefühle mindern, Verantwortung für jede Einzelne übernehmen, frühe Ängste lösen und Sicherheit vermitteln. Meine Aufgabe ist es, die frühkindlichen Wünsche in ihrer Unerfüllbarkeit verstehbar zu machen und sie damit auch von den realisierbaren Erwartungen an mich zu trennen. Dadurch sind die Frauen gefordert, ihre frühkindlichen Bedürfnisse in der schmerzlichen Unerfüllbarkeit anzuerkennen und Mitverantwortung für ein real gutes und wohlwollendes Miteinander in der Gruppe zu übernehmen. Diese immer wieder notwendige Beziehungsarbeit mit mir und mit der Gruppe ist ein gutes Übungsfeld für das Erlangen eigener Kompetenz zur Regulation der in Beziehungen immer wiederkehrenden Übertragungen. Neben meiner eher mütterlich verstehenden und begleitenden Funktion bin ich als Leiterin oder Supervisorin oft auch väterlich gefordert, das heißt, ich interveniere strukturierend, ermutigend, klärend, kritisierend und aufdeckend. Meine Erfahrung ist hierbei, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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dass oft eine väterliche Intervention die Notwendigkeit der mütterlichen nach sich zieht und umgekehrt. Besonders eindrücklich und anrührend bei Frauengruppen ist, dass Frauen untereinander weniger Scheu oder Scham haben, sich zärtlich zu berühren, zu massieren, die Hand auf den Rücken oder den Kopf in den Schoß der Anderen zu legen, sich zu umarmen, zu kuscheln oder zusammen zu weinen. Sich körperlich Mütterliches zu geben, ist offenbar für Frauen ein geringeres Problem als für Männer. Männer verkennen Nähewünsche untereinander oft als Homosexualität und reagieren ängstlich-abwehrend.

Beispiele von spezifischen Frauengruppen Müttergruppe In der Regel sind hier zehn bis zwölf Mütter zusammen, Mütter von Neugeborenen bis erwachsenen Kindern. Neben Diskussions- und Beratungsrunden arbeite ich vor allem mit Rollenspielen. Das Rollenspiel beinhaltet hierbei die szenische Darstellung eines geschilderten Konflikts zwischen Mutter und Kind, wobei sich in eindrücklicher Weise das Geschehen in kürzester Zeit genauso abspielt wie zu Hause. Zunächst erklärt eine betroffene Mutter einen typischen Konflikt mit ihrem Kind und bittet dann eine Teilnehmerin, im Rollenspiel den Part des Kindes zu übernehmen. Neben der Beschreibung des Konflikts wird die Mutter gebeten, das Wesen ihres Kindes zu beschreiben, damit sich die Frau, die die Rolle des Kindes übernimmt, einfühlen kann. Manchen Müttern fällt das sehr schwer, was bereits eine Beziehungsstörung zwischen Mutter und Kind erahnen lässt. Dann spielen die Mutter und die ausgesuchte Teilnehmerin die geschilderte Szene, das heißt, die betroffene Mutter bleibt in ihrer Rolle. Die Gruppe und die Teilnehmerin, die das Kind spielt, konzentrieren sich in der Szene darauf, welche offenen und versteckten Botschaften von der Mutter ausgehen und bei dem Kind ankommen. Das Besondere ist, dass die Mutter, die das Kind spielt, dem Kind danach eine Stimme gibt und erzählt, was an Konflikthaftigkeit bei ihr angekommen ist. Denn diese von dem Kind erlebte unreflektierte Konflikthaftigkeit bringt es in der Realität regelhaft in eine starke Verunsicherung, die es zumeist mit Verhaltensauffälligkeiten beantworten muss. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Nach der Auskunft der mitspielenden Teilnehmerin (Kind) reflektieren die Gruppe und schließlich die Therapeutin, was an Gefühlen (Gegenübertragung) ausgelöst und beobachtet wurde. Konfliktbeispiel Ein vierjähriges Kind kommt abends immer wieder aus dem Bett ins Wohnzimmer. Mögliche Hintergründe: – Das Kind wird infolge der Überforderung der Mutter lieblos ins Bett abgelegt und sich einfach überlassen, ohne sich Zeit zu nehmen, dem Kind mit einem Ritual den Übergang vom Tag zur Nacht zu erleichtern. – Oft aber kann die möglicherweise alleinerziehende Mutter abends nicht allein sein oder die Eltern können abends nichts mit sich anfangen und wünschen sich unbewusst das Agieren des Kindes. Damit steht das Kind im Auftrag der Abwehr früher Verlassenheit oder Unsicherheit der Eltern. – Manchmal identifiziert sich die Mutter mit dem Kind, das im Bett einsam zurückbleibt (wie sie früher allein gelassen wurde), wobei die Mutter dann dem Kind ihre frühe erlebte Not einredet: »Du musst keine Angst haben.« Weitere Beispiele für geschilderte Konflikte sind Essverweigerung, Einnässen, häufige Wutanfälle, Jugendliche, die nicht mehr mit ihren Eltern reden, Computersucht, Drogenkonsum, Schulschwänzerei u. a. Hauptthemen der Müttergruppen – Müttern fällt es sehr schwer, sich selbst einzugestehen, dass ihre mütterliche Kapazität begrenzt ist. Oft bemühen sie sich, ganz besonders gut mütterlich zu sein, wenn sie spüren, dass die mütterliche Batterie leer ist. Es ist dann für das Kind eine schwierige Situation, wenn es fühlt, dass die angestrengte Mütterlichkeit nicht echt ist und dass es nicht adäquat enttäuscht darauf reagieren kann. Durch diese falsche Mütterlichkeit werden beim Kind terroristische Tendenzen geweckt mit dem Ziel herauszufinden, was wirklich stimmt. – Mütter können oft eher über die eigenen Mütterlichkeitsdefizite ihren Kindern gegenüber weinen als über den selbst erlittenen Muttermangel.

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– Mütter fühlen sich oft durch Schuldgefühle, dem Kind nicht rundum gerecht zu werden, behindert, Grenzen zu setzen, Forderungen zu stellen oder dem Kind etwas zuzumuten. – Thematisiert wird frühe Mutterschaft als gescheiterter Versuch, vom Mädchen zur Frau zu werden. »Das Kind machte mich zur Mutter, aber nicht zur Frau.« Dabei flüchten Frauen in die Mutterschaft auch aus Angst vor Sexualität. – Es ist in der Regel ganz schwer, sich vom mütterlichen Feld in die sexuell partnerschaftliche Welt zu begeben, das heißt, ein Warten auf sexuelle Lust innerhalb des mütterlichen Aktionsfeldes kann nicht funktionieren. Der Wechsel in die lustvolle partnerschaftliche Welt muss willentlich entschieden werden. Das funktioniert nur, wenn die Frau Interesse an der Erfüllung ihrer eigenen Lust hat.

Vierwöchige stationäre themenzentrierte tiefenpsychologisch fundierte Therapie – Frauengruppe mit 10 Frauen im Alter von über fünfzig Jahren Inhaltliche Besonderheiten der Gruppe reifer Frauen Reifere Frauen lassen sich hoch motiviert auf die therapeutische Arbeit ein. Sie haben nicht mehr viel Zeit zu verlieren, bringen viel Lebenserfahrung mit und sind insgesamt toleranter und gelassener. Sie gehen miteinander behutsam und achtsam um mit einer rührenden Portion liebevollen Humors. Sie verbindet der Wunsch nach Ernte, sie wollen weniger hart arbeiten, sondern sich eher in ihrer Reife und Erfahrung solidarisieren und anerkennen. Sie sind viel schneller als jüngere Menschen mit ihren Grenzen konfrontiert und arbeiten mit weniger Widerstand an der schmerzlichen Akzeptanz von Unabänderlichkeit oder Endlichkeit. Oft liegen schon schwerere Erkrankungen oder Operationen hinter ihnen. Eindrücklich ist, dass das Einfügen in die Gemeinschaft, sich als ein Teil der Gemeinschaft zu empfinden, für die reiferen Frauen schwerer erscheint, da sie oft ihren Alltag allein und sehr individuell gestalten. Gruppendynamische Besonderheiten der reifen Frauen Der Hauptinhalt der Auseinandersetzung der Frauen (über fünfzig Jahren) mit mir als Therapeutin waren der Neid auf mich, dass ich jünger bin, und die Anfrage, ob ich als jüngere Frau überhaupt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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genug Kompetenz besitze, die Gruppe zu leiten. Darüber hinaus gab es auch übermäßige sehnsüchtige Erwartungen an mich. Nach der Auseinandersetzung mit mir und dem Besinnen auf sich selbst und die Gruppe entstand überraschend schnell eine beeindruckende mütterliche Kraft, die aber immer wieder kippte in unerwartet destruktives Agieren. Dabei ging von der Gruppe ein manipulativer Sog auf mich aus, dem ich väterlich klar, strukturierend und ordnend begegnete. Es gab also in dieser besonderen Gruppe einen unerwartet schnellen Wechsel zwischen sowohl beziehungsstörenden als auch anrührenden, schmerzlichen oder auch sehr lustvollen Momenten. Dabei genossen die Frauen immer wieder, dass sie unter sich waren, keiner Mütterlichkeitsübertragungslast gegenüber Jüngeren ausgesetzt waren und sich für nichts schämen mussten. Z. B. zeigte in dieser Gruppe jede Frau einen Ich-strukturellen Tanz, wo jede sich selbst tanzte – vom lustigen Springen, Hüpfen, Ausgelassensein bis zum tänzerischen Ausdruck von Bedürftigkeit, Kraft und Erotik. Für mich als Therapeutin gab es in dieser Gruppe mehrere ganz berührende intime Momente, die mich zum Älterwerden ermutigten.

Abschließende Bemerkungen Bei der Arbeit mit Frauengruppen findet man besondere Inhalte und eine ganz spezifische Konfliktdynamik, die sich von der dynamischen Entwicklung einer gemischten Gruppe unterscheidet, vor allem durch die besondere mütterliche Kraft, die von Frauen ausgeht. Wesentliche Gründe der Frauen, sich in einer Gruppe zu finden, sind der Wunsch nach mütterlicher, wohlwollender Zuwendung, sich zu solidarisieren und im Schutze der Frauen Antworten auf wesentliche Lebensfragen zu bekommen. Dabei geht es vor allem um Themen der Beziehungsgestaltung der Frauen untereinander, um weibliche Identität, Mutterschaft, Partnerschaft und Sexualität. Der vorliegende Beitrag stellt die Ergebnisse der Arbeit an diesen Themen vor sowie die Entwicklung von zwei spezifische Frauengruppen: eine Müttergruppe und eine therapeutische Gruppe mit Frauen über fünfzig Jahre.

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Margit Dehne

Frauengeleitete Männergruppen

Mit dem Thema »frauengeleitete Männergruppen« habe ich Erfahrungen, da ich seit sechs Jahren im stationären Bereich der Suchtentwöhnung arbeite und es hier traditionell vorwiegend männliche Patienten gibt, die mitunter in reinen Männergruppen therapiert werden. Meine Aussagen zu diesem Thema beziehen sich also auf die Arbeit mit suchtkranken, vorwiegend alkoholkranken Patienten. Allerdings waren meine Gruppen selten ausschließlich mit Männern besetzt. Ich war immer daran interessiert, dass mindestens eine Frau – oft genug blieb es bei dieser Teilnehmerinnenstärke – unter den zehn bis zwölf Patienten war. Ich machte die Erfahrung, dass die Männer sich so eher pflegten, nicht so ruppig sprachen und überhaupt freundlicher waren. In unserer Klinik werden die meisten Gruppen von Frauen geleitet. Dies geschieht nicht aus einer theoretischen Überlegung heraus, sondern ist einfach dadurch bedingt, dass die männlichen Therapeuten in der Minderzahl sind. Meine Überlegungen beginnen mit der Feststellung, dass die meisten meiner Patienten die Therapie erfolgreich absolviert hatten. Das heißt nicht, dass sie die Therapie ohne einen Alkoholrückfall durchlaufen haben, sondern, und das ist für mich der Erfolg, dass sie begonnen haben, sich mit ihrer eigenen Entwicklung, mit ihrem Erleben, ihrem Befinden auseinanderzusetzen, und dass dieser Prozess auch nach dem Therapieabschluss anhielt. Schon die erfreulichen Ergebnisse sprechen also eindeutig dafür, dass Frauen für die Leitung einer Männergruppe gut geeignet sind. Sind sie dies nun aber in besonderer Weise? Auf diese Annahme, dass es ein therapeutischer Vorteil sein kann, wenn eine Psychotherapie in einer Männergruppe von einer Frau geleitet wird, beziehen sich meine folgenden Ausführungen.

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Theoriebezogene Überlegungen In der suchttherapeutischen Praxis stehen sich zwei wesentliche Modelle gegenüber: der psychoanalytische und der verhaltenstherapeutische Ansatz. Die Psychoanalyse betrachtet Sucht als eine sekundäre Erkrankung bei zugrunde liegender primärer seelischer Störung. Hier spielt die Frau, genauer gesagt die Mutter in der frühen Entwicklung eine besondere Rolle. Die Verhaltenstherapie hingegen sucht die Hintergründe für die Suchtentstehung auch und gerade aus den Bedingungen der Sozialisation innerhalb der Familie herzuleiten. Hierbei wird davon ausgegangen, dass durch die Familienatmosphäre ein bestimmter Umgang mit Emotionen über eine längere Entwicklungszeit erlernt wird, der einen prägenden Einfluss auf die Vorstellung von der Männerrolle hat. In beiden Ansätzen kann der Therapeutin nun eine besondere Rolle zukommen: beim ersten Ansatz als der »fürsorglichen Mutter«, beim zweiten als ein »therapeutischer Katalysator«, der ein neues Lernen in einer neu gestalteten emotionalen Atmosphäre ermöglichen kann. Wo finde ich mich mit meinen praktischen Erfahrungen in den genannten Vorstellungen am besten vertreten? Meine konzeptionelle Ausrichtung, nach der ich seit Jahren suchttherapeutisch erfolgreich gearbeitet habe, war eine, die analytische, systemische und verhaltenstherapeutische Ansätze miteinander verknüpfte. Vor knapp zwei Jahren erfolgte ein Leiterwechsel, und es wurde schnell offensichtlich, dass ich mich mit meinem bisherigen Ansatz nunmehr in ein ausschließlich psychoanalytisch-interaktionelles Konzept integrieren sollte. Dies heißt im Speziellen, dass es nicht genügt, allein eine Alkoholabhängigkeit zu diagnostizieren, sondern dass außerdem der Annahme Rechnung zu tragen ist, dass die Suchterkrankung auf einer Persönlichkeitsstörung basiere, dass also immer auch eine Persönlichkeitsstörung zu ermitteln sei. Sollte es so sein – hier bin ich skeptisch –, dass der Alkoholabhängigkeit immer eine frühe Störung, eine strukturelle Ich-Störung zugrunde liegt, dann ist der Gedanke allerdings naheliegend, dass der Frau für die Gruppenleitung eine besondere Bedeutung zukomme – als »fürsorgliches Mutter-HilfsIch« eben.

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Verhaltenstherapeutischer Ansatz Der Anforderung folgend, neben der Abhängigkeitsdiagnose auch eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, stellte ich bei einer Vielzahl der Patienten am ehesten eine abhängige Persönlichkeitsstörung fest. Inwieweit deckt sich dies nun mit meiner Vorstellung von der Entstehung einer Abhängigkeitserkrankung? Bei der verhaltenstherapeutisch geprägten Ermittlung der Abhängigkeitsdiagnose hinterfragt man bei der Anamnese der Kindheit mögliche Störungen im emotionalen Lernen während der Sozialisation. Hier wurde mir deutlich, dass sehr viele Männer in ihrer Entwicklung nicht gelernt hatten, ihre Gefühle wahrzunehmen und darüber zu kommunizieren. Durch diese Unfähigkeit, ihr jeweiliges Befinden zu erkennen, waren diese Männer auch im späteren Leben nicht in der Lage, eigene Unzufriedenheiten wahrzunehmen, geschweige denn diese auszusprechen und durch eine Auseinandersetzung mit ihnen ihr Befinden zu verändern. An dieser Stelle lässt sich oftmals die Funktion des Suchtmittels erkennen, da hier der Alkohol missbraucht wird, um sich auch weiterhin ein »normal« funktionierendes Leben vorgaukeln zu können. Ich habe in der Suchttherapie zu meinem Erstaunen mehrfach Schilderungen von Männern über erlittene Trennungen gehört, die für die Männer völlig überraschend erschienen, für die sie keine Vorzeichen wahrgenommen hatten. Die Frauen sind bei Nacht und Nebel mit allem Hab und Gut und den Kindern verschwunden. Und die Männer haben nichts geahnt. Im Gegenteil, als Beleg für dieses unvorhersehbare plötzliche Ereignis führte ein Patient z. B. an, dass sie noch am Morgen »miteinander geschlafen haben«, die Wohnung aber, als er nach der Arbeit nach Hause kam, leer war. In der Therapie besteht nun mein vorrangiges Ziel darin, die Selbstwahrnehmung zu fördern, das heißt, die Patienten sollen lernen, ihr Befinden wahrzunehmen, Gefühle zu benennen und sich mit anderen darüber auszutauschen. Meine Rolle als Therapeutin sehe ich darin, den Austausch unter den Patienten zu ermöglichen, indem ich eine Atmosphäre schaffe, in der sie Gefühle zulassen können und sie Gefühle nicht als Handicap, sondern als Ressource begreifen können, in der sie Bedürfnisse entdecken und ihre Erfüllung »durchsetzen« lernen können. Nun behaupte ich, dass aus verhaltenstherapeutischer Sicht eine Frau als Gruppenleiterin deshalb besonders geeignet ist, weil sie in © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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der eigenen Sozialisation (wegen der anderen Rollenerwartung an ein Mädchen) meist weniger Störungen im emotionalen Lernen erfuhr und als Therapeutin deshalb besser vermitteln kann, dass Gefühle eben nicht nur erlaubt, sondern in emotionalen Beziehungen auch besonders erwünscht sind.

Forschungsergebnisse Eine solche Zielstellung halten auch andere Psychotherapeuten für vielversprechend, was z. B. Veröffentlichungen aus dem Kreis um die Verhaltenstherapeutin Petra Schuhler (Schuhler und Vogelsang, 2006) aus der Fachklinik Münchwies in Neunkirchen/Saar belegen. Sie bestätigen meine Erfahrung, dass nicht zwangsläufig jeder Abhängigkeitserkrankung eine Persönlichkeitsstörung zugrunde liegen muss. In einer Studie von 2006 lautet das Ergebnis, dass 40 % der Patientinnen und Patienten von Persönlichkeitsstörungen betroffen waren. In dieser Studie war die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (von mir wurden diese Störungen wohl eher als abhängige Störungen bewertet) am häufigsten (27,6 %) vertreten, gefolgt von der Borderline-Störung (17,5 %), den sogenannten kombinierten Persönlichkeitsstörungen (16,7 %) und der narzisstischen Persönlichkeitsstörung (15,8 %). Interessanterweise wird in dieser Einrichtung weniger mit der Diagnose der Persönlichkeitsstörung (verstanden im Sinne eines Defizits) gearbeitet, sondern vor allem mit dem Begriff der Persönlichkeitsstile (im Sinne von Ressourcen).16 Der damit verbundene wertschätzende Sprachgebrauch (z. B. »selbstbewusster Persönlichkeitsstil«) vermeidet eine eher defizitorientierte Klassifizierung als Persönlichkeitsstörung (z. B. »narzisstische Persönlichkeitsstörung«) und fördert die Bereitschaft des Patienten zur Mitarbeit,

16 Schuhler bezieht sich in ihrem Beitrag auf das dimensionale Modell der Persönlichkeitsstörung (vgl. Kuhl und Kazén, 1997, sowie Oldham und Morris, 1992). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es zu jeder relevanten Persönlichkeitsstörung zugleich einen nichtpathologischen Persönlichkeitsstil gibt. Dies bedeutet, dass es die »Quantität« des Persönlichkeitsstils ist, die in einem Kontinuum Probleme im Leben schafft und nicht seine »Qualität«. Dem Therapeuten ermöglicht das dimensionale Konzept der Persönlichkeitsstile damit sowohl einen ressourcenorientierten als auch einen problemorientierten Zugang zum Verhalten. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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indem mit dem Konzept Lebensstil die persönlichen Ressourcen des Patienten hervorgehoben werden. Dass die Abhängigkeitserkrankung nicht zwingend gekoppelt an eine Persönlichkeitsstörung auftritt, relativiert die Rollenerwartung an mich als Therapeutin, als »Mutter-Hilfs-Ich« (nach Anna Freud) oder Ähnliches zu fungieren. Es geht mir in meiner Therapie in erster Linie darum, ein neues Lernen in der Gruppe zu ermöglichen. Untersuchungen zu geschlechtsspezifischen Einflüssen auf Lernprozesse zeigen, dass Personen vor allem dann vom Modell lernen, wenn dessen Verhalten mit der geschlechtsspezifischen Rollenerwartung übereinstimmt.17 Dies gilt besonders für männliches Lern- und Imitationsverhalten. Kurz gesagt heißt das: Wenn meine These zutrifft und Männer – im Durchschnitt – sozialisationsbedingt in geringerem Maße über emotionale Kommunikationskompetenzen verfügen und dies auch nicht den an sie gestellten Rollenerwartungen entspricht, dann imitieren Männergruppen das atypische Kommunizieren emotionaler Zustände durch ihren männlichen Therapeuten in geringerem Maße als das emotionale Kommunizieren einer Frau, die als »für solche Dinge zuständig« angesehen wird. Zum Schluss möchte ich noch das Thema der reinen Männergruppe ansprechen und einen Artikel erwähnen, in dem besonders auf die Notwendigkeit eines zusätzlichen, postobligatorischen Therapieangebots zur Suchttherapie in Form einer reinen Männergruppe eingegangen wird (Kagerer, 2006). Der Autor weist darauf hin, dass es nicht nur wegen der Überzahl an männlichen Suchtkranken (2/3 Männer, 1/3 Frauen) schon Männergruppen gibt, sondern dass es sie auch wegen deren spezifischen Problematik geben sollte. Aus seiner Sicht wird die Möglichkeit des »Leidens am Mannsein« bisher nicht beachtet. Er zitiert empört aus Meyers Lexikon von 1983: »Nahezu alle Gesellschaften [...] kannten und kennen die Vorrangstellung des Mannes, die sich auch in der modernen Industriege17 Bandura, Ross und Ross (1961) hatten in Untersuchungen festgestellt, dass beim Lernprozess ein Geschlechtseffekt auftritt. Allerdings zeigte sich in Untersuchungen der Folgejahre, dass hierbei noch ein anderer wesentlicher Aspekt berücksichtigt werden muss: Wichtig ist demnach, ob das zu imitierende bzw. zu erlernende Verhalten rollenadäquat ist (vgl. Raskin und Israel, 1981, und Russel et al., 1977). So lernen Personen v. a. dann vom Modell, wenn dessen Verhalten mit den geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen übereinstimmt. Dies galt in diesen Studien insbesondere für das männliche Lern- und Imitationsverhalten. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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sellschaft noch erhalten hat. Diese [...] ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 1. Der Mann gilt als der Frau körperlich und geistig überlegen. Als hervorstechende männliche Eigenschaften (Männlichkeit) [Fettdruck im Original!] gelten u. a. Mut, Stärke, Tapferkeit, planerische Fähigkeiten, sexuelle Aktivität (insbesondere Zeugungsfähigkeit); 2. […] Die moderne Psychologie weist zudem darauf hin, dass der Mann durch die Fixierung auf die als männlich geltenden Verhaltensmuster emotional verkümmert. Gefühl wird ersetzt durch grenzenlose Aktivität, Erfolg, sozialen Status und Imponiergehabe.« Es geht Kagerer um die geschlechtsspezifischen Bedingungen für Abhängigkeit in der männlichen Sozialisation und auf die daraufhin auszurichtende Therapie für Männer (für Frauen gibt es diesen Ansatz ja bereits). Er arbeitet heraus – und dies stimmt mit meinen eigenen Überlegungen überein –, dass der Junge lernt, weder sich noch anderen Selbstzweifel und Unsicherheiten offenzulegen. Er lernt, sich an Funktionen und Äußerlichkeiten zu orientieren, womit seine Innenwahrnehmung verhindert wird. Diese dabei erzeugte innere Spannung ist der ideale Nährboden für die Suchtentwicklung. In der Therapie gehe es nun nicht nur darum, über inneres Erleben zu sprechen, sondern von anderen Männern angenommen und positiv beantwortet zu werden. Kagerer sieht in einer reinen Männergruppe den Vorteil, dass über inneres Erleben ohne gegengeschlechtliche Irritation gesprochen werden kann. Hier scheint mir eine zeitliche Abfolge der Gruppen wichtig zu sein. Für eine zusätzliche, freiwillige Auseinandersetzung mit der Männerrolle kann man einen männlichen Therapeuten favorisieren. Für die Basistherapie, die Suchttherapie, ist eine Therapeutin jedoch besonders geeignet.

Literatur Bandura, A., Ross, D., Ross, S. A. (1961). Transmission of aggressions through imitation of aggressive models. Journal of Abnormal and Social Psychology 63: 575–582.

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Heigl-Evers, A., Ott, J. (Hrsg.) (2002). Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode. Theorie und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kagerer, P. (2006). Psychotherapie bei männerspezifischen Aspekten der Abhängigkeitserkrankung. In P. Schuhler, M. Vogelsang (Hrsg.), Psychotherapie der Sucht. Methoden, Komorbidität und klinische Praxis (S. 309–327). Lengerich: Pabst. Kuhl, J., Kazén, M. (1997). Persönlichkeits-Stil-und-Störungs-Inventar (PSSI). Göttingen: Hogrefe. Oldham, J. M., Morris, L. B. (1992). Ihr Persönlichkeitsporträt. Warum Sie genauso denken, lieben und sich verhalten, wie Sie es tun. Frankfurt a. M.: D. Klotz. Raskin, P. A., Israel, A. C. (1981). Sex-role imitation in children. Effects of sex of child, sex of model and sex-role-appropriateness of modeled behavior. Sex Roles 7 (11): 1067–1077. Russel, A. B. et al., (1977). The effects of sex typing and sex appropriateness of modeled behavior on children’s imitation. Child Development 48 (2): 721–725. Schuhler, P., Vogelsang, M. (Hrsg.) (2006). Psychotherapie der Sucht. Methoden, Komorbidität und klinische Praxis. Lengerich: Pabst.

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Horst Neumann und Sara Zimmermann

Leitung als Paar in der analytischen Gruppentherapie

Zum Verhältnis von Frauen und Männern ist viel nachgedacht worden, doch finden sich in der Literatur kaum Hinweise oder Erfahrungsberichte zur Gruppenleitung als Paar, womit hier ein Leiterpaar gemeint ist, das aus einer Frau und einem Mann besteht. Eine Ausnahme bildet die sehr informative Studie von Heisung und Wolff (1976) aus den 1970er Jahren. Angeregt durch die gemeinsame Arbeit im Unterricht zur Vermittlung der theoretischen Grundlagen der Gruppe in Wochenendseminaren leiten die Autoren seit 1990 zusammen eine Selbsterfahrungsgruppe für Ausbildungskandidaten im Rahmen der analytischen Ausbildung. Diese Gruppe begann als geschlossene Gruppe ausschließlich für angehende Einzel- und Gruppenpsychotherapeuten und ist seit einigen Jahren zu einer offenen Gruppe geworden, die auch psychologischen und ärztlichen Kollegen offensteht, die kein Ausbildungsanliegen haben. Unsere Erfahrungen in der gemeinsamen Leitung dieser Gruppe haben wir auf Einladung der IDG im DAGG auf deren 15. Jahrestagung im November 2007 dargelegt.

Voraussetzungen für Ko-Therapie – – – –

Grundsympathie, keine antizipierte Ablehnung, kein Zweifel an der Kompetenz des Anderen, keine hierarchisch bedingte Abhängigkeit.

Als wichtigste Voraussetzung ist so etwas selbstverständlich Erscheinendes wie eine Grundsympathie zu nennen. Eine aus den eher organisatorischen Gegebenheiten zustande kommende Paarbildung, wie sie sich etwa in einer Klinik ergibt, kann oft wegen der damit verbundenen möglichen hierarchisch bedingten Anhängigkeit, einer antizipierten Ablehnung, möglichen gegenseitigen Kompetenzzwei© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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feln oder gar einer deutlich empfundenen Antipathie so belastet sein, dass sie in den dynamischen Kräften einer Gruppe nur schwer bestehen könnte.

Einleitende Maßnahmen – – – –

Vorverständigung über theoretische Position, praktische Reflexion: Wer macht was?, Interventionsschwerpunkte und -strategie, (Einzel vs. Gruppe, Übertragungsangebot).

Kennt man sich noch nicht so gut, kann es hilfreich sein, sich über den jeweiligen theoretischen Stand mit dem Ziel einer gegenseitigen Respektierung auszutauschen. Gerade am Anfang kann es sinnvoll sein, sich abzustimmen, wer seine Interventionsschwerpunkte mehr auf die Gruppe als Ganzes legt und wer sich mehr den Einzelnen widmet, wie man mit den verschiedenen Übertragungsangeboten umgeht. Später bringt es die gemeinsame Erfahrung mit sich, dass sich diese Fragen spontan ergeben und lösen lassen.

Zwei Therapeuten als Übertragungsauslöser für die Gruppe – Wahrnehmbare Persönlichkeitseigenschaften, – Interaktionen und Umgang mit Konflikten. Zunächst lösen natürlich die individuellen Persönlichkeitseigenschaften der beiden Leiter Übertragungen aus. Doch werden im Laufe des Gruppengeschehens auch die (latenten) Interaktionen zwischen den Gruppenleitern entscheidend. Agieren sie beide grundsätzlich eher mit- oder gegeneinander? Wie gehen sie mit auftretenden Konflikten untereinander um? Genügt sich das Paar (Grundsympathie) oder rivalisieren sie eher (latent) miteinander und müssen die Gruppenmitglieder deshalb Übergriffe befürchten? Können Teilnehmer Kontakt mit einem der Gruppenleiter aufnehmen, toleriert der andere Gruppenleiter das oder ist er gekränkt? Bei weiblichen und männlichen Leitern wird jeweils geprüft, ob eine wohlumgrenzte Mütterlichkeit vs. einer eindringenden Mütterlichkeit besteht bzw. ob eine gütige © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

H. Neumann und S. Zimmermann · Leitung als Paar

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Väterlichkeit vs. einer patriarchalisch überzogenen Väterlichkeit gegeben ist.

Unbewusste Phantasien der Gruppe Bei jedem Leiterpaar (weiblich und männlich) können sich unterschiedliche bewusste und unbewusste Phantasien über dieses Paar entwickeln wie: – Elternpaar, – Chef und Sekretärin, – Ehemann und Geliebte, – Mutter und Sohn, – starke Frau und fauler Geliebter (den man ersetzen kann), – verschmolzenes Paar, in dem jeder Partner als Selbsterweiterung des anderen auftritt, – Liebesübertragung und ödipale Konflikte (Wiederholung der Bewältigung triangulierter Beziehungskonflikte von der Verleugnung des ausgeschlossenen Dritten bis zur reifen Anerkennung des Paares).

Vorteile der Ko-Therapie als Paar Ökonomie Zunächst bietet die Paarleitung einen ökonomischen Vorteil. Unterbrechungen der Gruppe wegen Urlaub, Krankheit u. Ä. sind seltener; damit ist zum einen der Verdienst nicht unterbrochen, zum anderen bleibt auch die dynamische Entwicklung der Gruppe im Fluss.

Entlastung Jeder der Therapeuten fühlt sich sehr entlastet und trägt nicht mehr allein die Verantwortung. Die Wahrscheinlichkeit, etwas von dem vielfältigen dynamischen Geschehen in der Gruppe zu übersehen, dem nicht gerecht zu werden, wird geringer. Dadurch geht der einzelne Therapeut nicht nur angstfreier, sondern auch mit mehr Lust in die Gruppe. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Laufende Intervision Eine regelmäßige Intervision muss meist nicht besonders organisiert werden, weil sich das Nachbesprechen der Gruppe spontan ergibt und dann für beide Leiter entlastend ist; es ergeben sich deshalb auch laufend Anregungen für das weitere Vorgehen.

Gegenseitiges Korrektiv In schwierigen Situationen kann ein Teil des Leiterpaares als Korrektiv für den Anderen wirken. Verrennt sich beispielsweise ein Therapeut in ein Thema, kann der andere ihn ermuntern, das Thema erst einmal liegen zu lassen.

Doppeltes Potential Die Erinnerungen an das früher abgelaufene Gruppengeschehen, an einzelne genetische Daten der Gruppenteilnehmer, die im inneren analytischen Prozess sowohl der Teilnehmer als auch der Leiter auftauchen, »verdoppeln« sich für die Leiter. Dieses »dynamische Gedächtnis« der beiden Therapeuten in Form ihrer Einfälle ist so bedeutend erweitert.

Verteilung des Fokus Die Schwerpunkte des Vorgehens hinsichtlich der Konzentration auf den Einzelnen und die Gruppe verteilen sich besser; die Gefahr der Einzeltherapie in der Gruppe wird eher bemerkt und dadurch vermindert.

Erweiterung des Übertragungsangebots Das Übertragungsangebot an die Gruppenmitglieder ist sowohl durch die Persönlichkeit von zwei Personen als auch durch die verschiedenen Geschlechter erweitert. – Unterschiedliche Ansichten verunsichern nicht, sondern bereichern (Erweiterung der Ambivalenz). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

H. Neumann und S. Zimmermann · Leitung als Paar

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– Die bestehenden und vermuteten unterschiedlichen Ansichten des Leiterpaares führen nicht – wie vielleicht früher von Gruppenmitgliedern erfahren – zum Auseinanderbrechen, sondern lassen die Gruppe weiter bestehen und ermöglichen es eher, eine Ambivalenz zu ertragen (wenn Mutter und Vater unterschiedlicher Ansicht sind, geht die Welt nicht unter, sie wird eher bereichert).

Verbundenheit mit einem Elternteil erfahrbarer Das gelegentliche Fehlen eines Paarteils kann eine Chance für die einzelnen Mitglieder und die Gruppe als Ganzes bedeuten. Sie erfahren, wie man mit einem Elternteil in Kontakt kommt und zurechtkommt, wo die Begegnung bisher (in der Vergangenheit) eher vermieden wurde oder nicht möglich war und man deshalb in einer (elterlichen) Beziehung eher das andere Geschlecht gewählt hätte.

Geringere Gefahr des Mitagierens Die Versuchung, sich im dynamischen Gruppengeschehen als Leiter zu sehr in eine Übertragungsbeziehung zu begeben, ist geringer (»sich die Jacke anzuziehen«), weil allein die Anwesenheit oder auch die Aktivität des Anderen einen reflektierenden Rückzug ermöglicht.

Auflösung schwieriger Übertragungskonstellationen Kommt es zu einem schwierigen und dynamisch sehr bewegenden Übertragungsgeschehen, können die Deutungen eines Gruppenleiters von seiner Bedeutung als Übertragungsperson für ein Gruppenmitglied manchmal schwer anzunehmen sein. Dann kann es sehr entlastend und förderlich sein, wenn hier der andere Therapeut hilfreich eingreift.

Erweiterungsmöglichkeiten für die Gruppenteilnehmer Das einzelne Gruppenmitglied kann sich sowohl auf das Paar als auch auf den Einzelnen konzentrieren. Wird von dem Gruppenmit© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Männer und Frauen in Gruppen

glied eine Unterstützung benötigt, besteht eine Auswahl, die gerade bei bestehenden schwierigen Übertragungskonstellationen sehr wichtig sein kann.

Nachteile der Ko-Therapie als Paar Ökonomischer Nachteil Ein für den motivationalen Hintergrund der Gruppenleiter nicht zu vernachlässigender Umstand ist sicherlich der, dass der Verdienst geringer wird, wenn er durch zwei geteilt werden muss.

Mögliche geringere narzisstische Befriedigung Eine sich möglicherweise ergebende geringere narzisstische Befriedigung des einzelnen Gruppenleiters wird nach unserer Ansicht meist durch den Gewinn des Beziehungserlebens mit dem anderen Leiter ausgeglichen. Daraus könnte sich die Frage ergeben, ob ein eher beziehungsorientierter Therapeut besser für die Ko-Therapie geeignet ist als ein Gruppenleiter, für den eine narzisstische Befriedigung wichtiger ist.

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Christoph Seidler und Irene Misselwitz

Männer und Frauen in Gruppen – hier: ein Leiterpaar

Die Paarleitung gehört zu den Essentials der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie (IDG). Paarleitung ist etwas anderes als KoLeitung, die prinzipiell Asymmetrie – gleichberechtigt oder nicht – unterstellt: Ein Ko-Trainer ist immer dem Trainer nachgeordnet. Wenn über Ko-Leitung schon viel geschrieben wurde, gibt es zum Thema Paarleitung in der IDG noch wenige Diskussionen (Ecke und Israel, 2002; Misselwitz, 2003; Seidler, 2003). Das Thema ist heute besonders aktuell: Die Optik von Psychoanalyse und Gruppenanalyse verschiebt sich immer weiter in die Erfahrungswelten früher Entwicklungsphasen, ins sogenannte »Präödipale«, als gäbe es das und als sei das Ödipale nicht mehr wichtig. Das ist Ausdruck eines Wandels in unserer Kultur des Zusammenlebens von Männern und Frauen. Die psychoanalytische These, dass die Gruppe die Mutter symbolisiere und der Gruppenleiter oder die -leiterin den Vater oder das Gesetz, ist interessant, aber von begrenzter Tragweite. Insbesondere bei Frühgestörten – und auf diesem Niveau bewegt sich eine tief regredierte Gruppe – ist diese Metapher am Ende. Anders gesehen: Wenn die Gruppe tief regrediert ist, dann wird sie wie eine alles verschlingende Mutter erlebt, und die Teilnehmer brauchen dann konkrete Personen, die Halt geben – aus unserer Sicht das Leiterpaar. Dieses Leiter- bzw. Trainerpaar bietet viele Vorteile. Es erfüllt in der Gruppe Funktionen auf mindestens drei Ebenen: – als Expertenpaar, – als Übertragungsauslöser, – als Modell für Partnerschaft. Wir möchten unseren Überlegungen zur Illustration eine kurze Gruppensequenz voranstellen. Zu Beginn der Gruppenstunde gibt es ein allgemeines zufriedenes Schmunzeln, weil das Trainerpaar, das sich normalerweise gegenübersitzt, heute nebeneinandersitzt. Dies hat die Gruppe »zufällig« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Männer und Frauen in Gruppen

bewerkstelligt, ohne Absprache. Für die Trainer ist es ungewohnt. Frau A bemüht sich vergeblich, wie schon oft, zusammen mit dem Trainer, ein Gespräch in Gang zu bringen. Dies verebbt, nachdem der Trainer sie darauf hinwies. Dann entwickelt sich, hauptsächlich von den weiblichen Gruppenmitgliedern ausgehend, ein heiteres Gespräch, wenngleich recht abstrakt und mit vielen Schweigepausen, über das Thema »Nähe«, also »die Nähe von Mensch zu Mensch«, wie es Frau A formuliert. Der Trainer scheint zufrieden und scherzt einfallsreich mit, während die Trainerin eher unwillig und müde wird. In der Pause nach dieser Stunde verfehlt sich das Trainerpaar zum sonst üblichen Gedankenaustausch, weil sie an einem völlig unüblichen Ort vergeblich auf ihn wartet. Als der Trainer sie schließlich entdeckt, bleibt nur noch kurz Zeit, dass sie ihm ihre unglücklichen Gefühle mitteilen kann. Sie ist sehr betroffen über ihre Fehlleistung und dankbar dafür, dass er noch vor der nächsten Stunde für eine kurze Verständigung zwischen ihnen gesorgt hatte. In der nächsten Stunde inszeniert die Gruppe wieder das Nebeneinandersitzen ihrer Trainer, jetzt ohne Heiterkeit. Der weitere lebhafte Gesprächsverlauf, jetzt auch wieder mit lebendiger Beteiligung der Trainerin, ermöglicht dem Trainer schließlich folgende Gruppendeutung: »Der Gruppe ist es offensichtlich wichtig, dass beide Trainer nebeneinandersitzen. Sie braucht Sicherheit, dass diese Beziehung hält, damit die verschiedenen Phantasien und Beziehungswünsche in Richtung der Trainer überhaupt möglich sind.« Zur Ebene als Expertenpaar: Die Aufgabe der Trainer ist es, sich einerseits auf den Gruppenprozess emotional einzulassen, ihn andererseits zu reflektieren und zu deuten. In diesem Fall ist es beiden Trainern klar, dass es aktuell in der Gruppe wohl um Spaltungstendenzen, Ausstoßungstendenzen, Wiedergutmachung, libidinöse und aggressive Strebungen und um ödipale Verwicklungen geht, um nur einige zu nennen. Zur Ebene als Übertragungsauslöser: In dieser Sequenz wird die Elternübertragung der Gruppe in Richtung Trainer und Trainerin deutlich. Die Gruppe inszeniert gewissermaßen einen Test, ob diese Beziehung tragfähig und haltbar ist für die mobilisierten intensiven Wünsche und Gefühle der Gruppenmitglieder in Richtung des Leiterpaares. Die Übertragungsfacetten der einzelnen Gruppenmitglieder auf das Leiterpaar sind sehr vielfältig und durchaus unterschiedlich. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

C. Seidler und I. Misselwitz · Ein Leiterpaar

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Zur Ebene als Modell für das Zusammenspiel eines Paares: Das Trainerpaar ist in dieser Sequenz wie immer intensiv in den emotionalen Gruppenprozess einbezogen. Durch die Irritation und Fehlleistung der Trainerin gerät sie sogar in eine kleine Krise, die jedoch in den wenigen Minuten vor der nächsten Gruppenstunde aufgelöst werden kann. Das befördert die weitere Gruppenentwicklung, und die Gruppe kann ihre Beziehungswünsche und -ängste in Bezug auf das Trainerpaar bearbeiten. Obwohl sich die Paarleitung zu einem Esssential der IDG entwickelt hat, begann die Selbsterfahrungsbewegung – und an ihr sind die wichtigsten Entwicklungen abzulesen – durchaus nicht mit Leiterpaaren. Anfang der 1970er Jahre gab es fast ausschließlich männliche Gruppenleiter. Die Kommunität I mit vier Selbsterfahrungsgruppen startete 1974 mit drei männlichen »Direktoren«, sieben männlichen Gruppenleitern und einer Gruppenleiterin, die alsbald aufgab. Die Paarleitung entwickelte sich erst im Laufe der Zeit. Bei den Selbsterfahrungskommunitäten wurden schon ab 1975 konsequent ein Mann und eine Frau als Leiterpaar eingesetzt. Der Kommunitätsleiter war bisher immer ein Mann. Inwieweit diese Arbeitsweise ein Reflex auf die DDR-Gesellschaft darstellt, die ja auch eine patriarchale war, aber mit intensiver Einbeziehung der Frauen in die Arbeitswelt, ist eine Überlegung wert. In den 1970er Jahren gab es eindeutige Festlegungen. Der Trainer ist der Gruppenleiter und die Trainerin ist Ko-Leiterin. Das wurde damals immer wieder heiß diskutiert. Anfang der 1980er Jahre gab es einen Versuch, es den Trainerpaaren selbst zu überlassen, wer Leiter und wer KoLeiter ist, was zu erheblichen Turbulenzen führte. Wohlgemerkt, es ging um die Frage Leiter und Ko-Leiter, nicht um das Thema Leiterpaar. Zentral war die Frage der »Gleichberechtigung«, was dem damaligen Zeitgeist entsprach. Verschärft wurde diese Kontroverse ganz primär dadurch, dass die meisten Trainer aus derselben Einrichtung kamen und der dortige Chef auch die Kommunität leitete. Reale Abhängigkeiten komplizierten also den Prozess. Natürlich haben die Gruppen diese Verwicklungen kritisch unter die Lupe genommen und so für weitere Unruhe gesorgt. Seit 1980 gehörte die Gruppenselbsterfahrung als ein Pflichtteil zur Ausbildung zum Facharzt für Psychotherapie bzw. zum Fachpsychologen und war nicht mehr nur begeisterte persönliche Angelegenheit. 1986 übernahm Heinz Benkenstein die Leitung der Kommunitäten. Das tat er mit einem Paukenschlag auf der Jahrestagung 1986: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Männer und Frauen in Gruppen

»Ich meine, dass unsere heutige Selbsterfahrungspraxis noch nicht ausreichend intensiv abläuft, um den Einzelnen – und um den als späteren Therapeuten geht es ja – wenigstens umfassend Einsichten über sein Selbst zu übermitteln« (Benkenstein, 1988, S. 7). Benkenstein war der Auffassung, dass die Zeit der Regression auch die biografische Dimension haben sollte, was in der »dynamischen« Zeit eher verpönt war. Biografie galt als Ausweichmechanismus. Das war wohl der Zeitpunkt des Übergangs von der mehr »dynamischen« in die mehr »gruppenanalytische« Gruppenselbsterfahrung. Damit ergaben sich praktische Konsequenzen: 1988 riefen Heinz Benkenstein und Hans-Joachim Maaz die gestandenen und zukünftigen Trainer der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie nach Halle zu einer vierwöchigen stationären »Therapie der Therapeuten«. Die Teilnehmer machten tiefe regressive Erfahrungen. Sie wurden die Trainer der nächsten Selbsterfahrungskommunität unter der Leitung von Heinz Benkenstein. Die Kommunität X begann im September 1989 und endete im September 1991, umfasste also genau die »Wendezeit«. Wir haben dieses Abenteuer gut zu Ende gebracht – mit allen Teilnehmern an Bord. Die Vorschläge für die Trainerpaarungen kamen damals von Benkenstein. Unser Paar – nur von dem ist hier die Rede – stammt aus dieser Zeit und hat erst 2008 seine Zusammenarbeit eingestellt. Es bestand also zwanzig Jahre, das heißt über 15 Kommunitäten zu je mindestens drei Durchgängen an je 8 bis 10 Tagen. Das ist fraglos rekordverdächtig. Es ist aber auch ein Maß für die Qualität der Beziehung. Der vorliegende Beitrag ist die letzte gemeinsame Arbeit und somit eine Art Vermächtnis.

Erfahrungen aus der Zusammenarbeit Jeder Durchgang garantiert einen neuen Prozess, ob das Trainerpaar ein, zehn oder zwanzig Jahre zusammenarbeitet – das ist die erste wichtige Erfahrung. Wir möchten einige andere Überlegungen zur Diskussion stellen: – Am Anfang jedes Durchganges, jeder Stunde, sind die Rollen klar verteilt, quasi als Rahmenbedingungen und Sicherheit gebende standardisierte Situation: Der Leiter eröffnet und beendet die Stunde und achtet auf Rahmen und Grenzen – er erfüllt also ge© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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wissermaßen »genuin« oder »traditionell« väterliche Funktionen. Die Leiterin bewahrt und beschützt den Prozess und achtet auf die Leiter-Gruppen-Beziehung und wartet ab, bis sich eine Gestalt herstellt – sie erfüllt also gewissermaßen genuin oder traditionell mütterliche Funktionen. Wir haben im Trainerteam immer wieder darüber diskutiert, ob wir altmodisch sind und traditionelle Rollenvorstellungen agieren und weitergeben. Möglicherweise ist es ja so, und jeder und jede ist Kind ihrer Zeit. Die nächste Trainergeneration wird sicher andere Partnerschaftsmodelle entwickeln. Die Kommunitätsleitung ist inzwischen vom Altmeister Benkenstein zu dem wesentlich jüngeren Stephan Heyne übergegangen. Er leitet die abendlichen Großgruppen nicht mehr allein, sondern zusammen mit einem Ko, wobei Leitung und Ko-Leitung gewechselt werden. Idealerweise sollte auch das Großgruppenpaar gemischt geschlechtlich sein. – Die Paarkonstellation wird im Gruppenprozess permanent und fundamental verändert. Es kommt aber darauf an, eine Art egalitäres Elternschaftsprinzip durchzuhalten gegen alle möglichen Angriffe und Störmanöver. Das ist nicht leicht, denn die realen Beziehungserfahrungen der Teilnehmer sind häufig ganz andere. – Innerhalb eines jeden Paares gibt es individuelle Begabungen und Fähigkeiten. Es ist die Kunst, diese herauszufinden und im Interesse der Gruppe fruchtbar zu machen. In unserem Fall setzte die Leiterin häufig Akzente, wenn es darum ging, biografische Zusammenhänge zu erspüren und genetisch zu deuten. Dem Leiter gelang es gut, die aktuelle Gruppensituation zu erfassen und für die Teilnehmer in Worte und Bilder zu fassen. – Zum Gruppenprozess gehören intensive positive und negative Übertragungen, die auch als erotische und aggressive Gefühle zu Tage treten, bis hin zu Idealisierungen und Entwertungen. Auch Spaltungen gehören zum Gruppenprozess. Aus unserer Sicht eignet sich ein Leiterpaar hervorragend, die beschriebenen Spaltungsmechanismen zu reaktualisieren, dadurch bewusst und bearbeitbar zu machen. Spaltungsmechanismen durchziehen besonders die frühen, aber auch die späteren regressiven Gruppenphasen und landen, wenn alles gut geht, beim Leiterpaar. Hier kommt es auf die Qualität der Paarbeziehung an und ob das Paar in der Lage ist, die Spaltungsprozesse rasch zu durchschauen und aufzulösen. Die geschilderte Gruppensequenz zeigt, dass © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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die Spaltung zwar in der 1. Stunde vom Trainerpaar mit agiert wird, aber in der kurzen Verständigung vor der 2. Stunde erkannt und aufgelöst werden kann, so dass auch die Gruppe ihre widersprüchlichen Beziehungswünsche an das Leiterpaar und die Spaltungstendenzen bearbeiten kann – Spaltungen zwischen Männern und Frauen gehören zu den frühen Stadien im Gruppenprozess, was die archaische Bedeutung dieses Themas dokumentiert.

Mütter, Väter und der Kulturwandel Der Umgang zwischen Männern und Frauen hat eine lange, wechselvolle Geschichte und ist religiös, kulturell und nicht zuletzt physisch begründet. Ein Beispiel von bedrückender Aktualität ist die neue männliche Unterschicht (»Prekariat«) in den Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit. Besonders krass ist diese Entwicklung in den neuen deutschen Bundesländern. In manchen Gegenden Ostdeutschlands gibt es einen Männerüberschuss von 30 %, der nicht einmal bei den Robbenjägern im Norden der skandinavischen Länder erreicht wird. Die jungen Frauen wandern aus, dorthin, wo sie Arbeit finden, während sich die arbeitslosen Männer in »Männerbünden« sammeln. Diese Entwicklung ist nicht nur in Deutschland, sondern inzwischen im gesamten Abendland nachzuweisen. Diese beschriebenen aktuellen Phänomene geben Rätsel auf. Sie sind fraglos gesellschaftlich bedingt, aber nicht nur. Sie haben auch eine wesentliche Ursache in den inneren Väter- und Mütterbildern nach den Kriegen des letzten Jahrhunderts mit ihren nachhaltigen äußeren und inneren Auswirkungen. Die heutige »vaterlose Gesellschaft« ist nicht ohne Vater. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Väter in unserer Gesellschaft jetzt am Leben. Aber die väterliche Instanz wird zunehmend bedeutungslos. Die Schwächung der Elterninstanzen ist ein Prozess, der seit den 1970er Jahren im Westen Deutschlands beobachtet wird. In den Analysen und Psychotherapien ostdeutscher junger Erwachsener lässt sich dieses Phänomen immer wieder eindrucksvoll beobachten – in einer unerhörten Dramatik. Die Väter haben durch die Wende und den Zusammenbruch der bisherigen Wertesysteme der DDR-Gesellschaft einen schweren Schlag erlitten. Sie haben damit, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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ähnlich wie ihre eigenen Väter nach 1945, einen Zusammenbruch und totalen gesellschaftlichen Wandel verkraften müssen. Bei den Ost-Vätern lässt sich häufig ein gespaltenes Vaterbild nachweisen. Das muss das Leiterpaar in der Übertragung miterleben und durcharbeiten. Hier können wieder Spaltungen am Werk sein: Einerseits wird der Leiter mit massiver Entwertung konfrontiert. Der Vater erscheint erbärmlich, insbesondere wenn er arbeitslos wurde und seine bisherigen beruflichen Anerkennungen und vielleicht auch Privilegien verloren hat. Andererseits wird er mit einer kompensatorischen Idealisierung bedacht, was natürlich die Auseinandersetzung und Ablösung weiter erschwert. Und alles das trifft den Leiter, aber nicht nur ihn, sondern auch das Paar. Weder die entwerteten noch die idealisierten Väter eignen sich zur Auseinandersetzung, an der ein junger Mann sich finden und entwickeln kann. Die väterliche Instanz, an der früher niemand vorbeikam, scheint bedeutungslos geworden. Und was ist mit den Müttern und Großmüttern? Auch sie haben gesellschaftliche Zusammenbrüche erlebt. Aber da sie kaum in Führungspositionen tätig waren, werden sie weniger zur Rechenschaft gezogen, treffen sie Vorwurf und die Entwertung weniger. Außerdem definieren sich Frauen nie so über ihren Beruf; bio-psycho-sozial haben sie einen anderen Lebensentwurf. Deswegen bricht auch in Zeiten gesellschaftlichen Wandels für sie weniger zusammen. Ihre Töchter und Enkelinnen, die jungen Frauen im Osten Deutschlands, sind besser gebildet, flexibler und anspruchsvoller als die jungen Männer. Sie verlassen das Land und gehen dorthin, wo es Arbeit gibt. »Das Matriarchat hat längst begonnen«, meinte kürzlich auch eine westliche erfahrene Gruppenanalytikerin. Zum Schluss soll nicht verschwiegen werden, dass ein Leiterpaar natürlich auch Probleme mit sich haben kann. Beide müssen ständig zwischen der Wahrnehmung und Bearbeitung der Paarbeziehung, der Wahrnehmung und Bearbeitung der Gruppenprozesse und der Wechselwirkung zwischen beidem hin und her oszillieren. Man kann sich auch Leiterpaare vorstellen, denen das trotz Supervision nicht gelingt. In einem solchen Fall kommt das Paar um eine »Scheidung« nicht herum. Auch für Kinder ist eine Scheidung der Eltern besser als das Aufwachsen in einer permanenten Konfliktatmosphäre. Ein Elternpaar bzw. ein Leiterpaar muss sich auch gegenseitig narzisstische Befriedigung gönnen und teilen können und nicht in destruktives Rivalisieren abgleiten. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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In der ambulanten Gruppentherapie wird die durch ein Paar geführte Gruppe derzeit noch nicht entsprechend bezahlt und findet dort sehr selten statt. Gelungene Paarleitungen findet man vorwiegend in Selbsterfahrungsgruppen. Man kann dort die vielfältigen Vorteile erfahren. Führt man die oben beschriebenen Überlegungen konsequent zu Ende, so erscheint es denkbar, dass das Leiterpaar eine kreative Antwort auf den Kulturwandel darstellt: Eine Gruppe mit einem Leiterpaar als Bild für gelungene Kooperation von Männlichem und Weiblichem, als korrigierende emotionale Erfahrung in unserer von vielfältigen Spaltungen bedrohten Gesellschaft.

Literatur Benkenstein, H. (1988). Selbsterfahrung – Modeerscheinung oder Conditio sine qua non? Psychotherapie-Berichte 40, Haus der Gesundheit Berlin, 7–24. Ecke, C., Israel, A. (2002). Intendieren – Matriarchat. Patriarchat. In C. Seidler, H. Benkenstein, S. Heyne (Hrsg.), Kunst und Technik der Gruppenpsychotherapie (S. 71–77). Berlin: Edition Bodoni. Misselwitz, I. (2003). Die Beziehung zwischen Trainer und Co aus analytischer Sicht. In C. Seidler, H. Benkenstein, S. Heyne (Hrsg.), Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie im Dialog (S. 113–112). Berlin: Edition Bodoni. Schneider, A. (2006). Lebenserfahrungen und -perspektiven von ostdeutschen Mauerfallkindern, die Ökonomen werden oder wurden. In T. Bürgel (Hrsg.), Sonderforschungsbericht-580-Mitteilungen, 155–166. Seidler, C. (1990/1995). Gruppenpsychotherapie bei Persönlichkeits- und Entwicklungsstörungen im Jugendalter. Lengerich: Pabst. Seidler, C. (2003). Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie im Dialog. Berlin: Edition Bodoni.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Michal Kaiser-Livne

Die Hoffnung auf Tikkun (Wiederherstellung) im gruppentherapeutischen Raum

Dem Begriff »Hoffnung« im psychotherapeutischen Zusammenhang liegen die kabbalistischen Gedanken über »Tikkun« assoziativ nah, denn die Hoffnung auf Veränderung ist der Tikkun-Arbeit inhärent. Mehrere Kollegen, besonders solche jüdischer Herkunft, haben sich mit der Anwendung des in diesem Mythos enthaltenen Gedankenguts im psychotherapeutischen Raum befasst. Ihnen ist dieser Begriff aus ihrem geschichtlich-kulturellen Raum tradiert worden. Darauf fußen ihre Reflexionen über den Begriff. Die Beschäftigung mit der Entwicklung von Hoffnung in einer therapeutischen Gruppe legt nahe, einige Gedanken zu entwickeln, die den gruppentherapeutischen Prozess im Licht dieses mehrdimensionalen Begriffs zu erhellen versuchen. Es wird angenommen, dass die Veränderung der Haltung zum Tikkun, die ein Patient oder eine Gruppe von Patienten während einer Therapie einnimmt, einen therapeutischen Prozess ausdrückt. Nach einer kurzen Erläuterung des kabbalistischen Mythos vom Tikkun wird dessen Verwendung in der psychoanalytischen Theoriebildung knapp dargestellt. Das geschieht zunächst mit Hilfe zweier Vorträge von einer psychoanalytischen Tagung zum Thema »Klein und wir – über den Tikkun«, die 2003 in Tel Aviv stattgefunden hat. Anschließend werden die kleinianischen und post-kleinianischen Ideen mit einem wichtigen Beitrag Isidor Kaminers kontrastiert. Nach einem Versuch, die Bion’sche »Paargruppenmentalität« mit dem »Tikkun«-Begriff auszulegen, wird schließlich anhand von zwei Fallbeschreibungen aus dem gruppenanalytischen Raum die Plausibilität der vorgestellten Überlegungen zum Verstehen von Gruppenphänomenen gezeigt.

Der Mythos Der Mythos des Tikkun geht auf den Kabbalisten Isaac Luria zurück, der im 16. Jahrhundert in der kabbalistischen Stadt Zefad im Oberen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Galiläa wirkte. Gerschom Scholem (1941/1980) sieht in seinen zuerst 1941 in englischer Sprache publizierten Vorlesungen in diesem Mythos einen Versuch, dem traumatischen historischen Ereignis der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492, dem Exil und der Fragmentierung der Existenz des jüdischen Volkes mit Hilfe kabbalistischer Kosmologie transzendentale Bedeutung zu verleihen. Drei kosmische Ereignisse bilden den lurianischen Mythos der Weltschöpfung: Um die Welt aus dem Nichts zu kreieren, schränkte sich der allgegenwärtige und ewige Gott räumlich ein (Tzimzum) und schuf dadurch das Nichts, wenn man will, einen gottfreien Raum; dann schuf Gott als Erstes das Licht in Form von Lichtstrahlen, die dann in Gefäße strömten. Diese Gefäße aber zerbrachen unter der Stärke und Energie des Lichts (Shvirat Hakelim). Die in Funken zerbrochenen Strahlen blieben in den zahlreichen Scherben wie in Kapseln gefangen. So ist das Böse in der Welt entstanden. Während die Gefäßschalen und das entstandene Chaos das Böse repräsentieren, verkörpern die eingekapselten Funken das Gute. Mit dem Bruch kam es auch zur Abtrennung der Schechina, des femininen Teils Gottes, und zu deren Exilexistenz. Die Wiederherstellung der Welt nach diesem Bruch, der dann jeder Art von Existenz innewohnt, ist daher kein Kreations-, sondern ein Rekreationprozess einer einmal vorhandenen Schöpfung. Tikkun bedeutet die Befreiung der Funken (Nitzozot) aus den Scherben, die Wiederherstellung der Gefäße, die Wiederherstellung der ursprünglichen Harmonie, die Reunion Gottes mit der Schechina, des männlichen mit dem weiblichen Teil. Auf der Erde sind mit der Aufgabe des Tikkun die Menschen beauftragt, die nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und aufgrund der ersten Sünde auf die Erde verbannt worden sind. In seinen Taten, nämlich in der Erfüllung der göttlichen Gesetze, nimmt der Mensch aktiv Teil an diesem verlängerten erneuten Schöpfungsprozess. Die Aufgabe des Tikkun ist daher zugleich persönlich und universal. Luria spricht von Tikkun Ha-Olam: Die Wiederherstellung der Welt ist die Befreiung der eigenen Funken (des Guten vom Bösen), die universelle Reunion und die Überwindung des Bruchs in der eigenen Seele. Der Akt des Tikkun soll zugleich das äußere und das innere Exil aufheben wie auch die Spaltung der göttlichen Existenz. Das Streben nach Tikkun wurde ein Ausdruck für die Sehnsucht nach der Beendigung des Exils, nicht vordergründig im politischen Sinne, vielmehr im kosmischen und seelisch-geistigen Sinne. Auf der Tel Aviver Tagung »Klein und wir – über den Tikkun« befasste man sich mit einer ähnlichen Idee von Melanie Klein. Der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Wiederherstellungsbegriff hat in der kleinianischen Theorie eine zentrale Bedeutung. Die Psychoanalytiker diskutierten über die Ähnlichkeit zwischen der komplexen kabbalistischen Idee von der Erschaffung der Welt, ihrer Fragmentierung und andauernden Wiederherstellung (Tikkun) einerseits und der Dynamik der depressiven Position, der Zerstörung der Welt der Objekte und den Wiederherstellungsversuchen andererseits.

Das Zerbrechen der Gefäße/Die Zerstörung Durban stellte die Frage schlicht: Was ist das eigentlich, das entzweigegangen ist? Wie lässt sich der Bruch der Gefäße, die Zerstörung, die repariert werden soll, analytisch verstehen? In kleinianischem Denken ist die Zerstörung immer eine Aggression gegen das reale oder verinnerlichte »gute, spendende Objekt«, zuerst gegen ein Teil-, später gegen das ganze Objekt. Die lang andauernde abhängige Beziehung des menschlichen Neugeborenen konfrontiert es ständig mit frustrierenden Erlebnissen, in denen es sich physisch und psychisch von dem Objekt abhängig erlebt. Die Konfrontation mit dieser Abhängigkeit beinhaltet Erfahrungen des Getrenntseins von dem Objekt, das nach einer eigenen Dynamik handelnd erlebt wird, von Brüchen in der Harmonie, von Unvollständigkeit, von Verzicht, Frustration, Hass gegen das Objekt, aber auch unersättlicher Liebe und Verlangen nach ihm. Die Mobilisierung von Frustrationswut löst aggressive Phantasietätigkeit und Selbsterlebnisse aus, die, wenn wir wollen, die guten Funken oder das Gute, das noch sehr instabile gute Introjekt, allzu sehr gefährden. Bei dem Versuch, dieses Gute zu schützen, kommt es zu einer primitiven Spaltungsorganisation. Um die quälenden Affekte zu beseitigen, wird die Abhängigkeit von dem Guten und Gebenden auf verschiedene Art und Weise verneint. Die unbewussten, gegen das Objekt oder das verinnerlichte Objekt gerichteten aggressiven Phantasien werden als machtvolle Destruktion der Beziehung und des Objekts selbst erlebt und lösen starke Ängste aus. Der Angriff auf das Gute ist nach Klein vorwiegend durch die Tätigkeit des angeborenen Todestriebs und seine aggressiven Formationen verursacht, auch wenn individuelle Faktoren aufgrund der Geburt, der Mutter-Kind-Beziehung oder der Wachstumsbedingungen in der frühen Kindheit eine große Rolle spielen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Durban geht in seiner Beschreibung der Zerstörung und ihrer Wirkungen über die kleinianische Theorie hinaus: »Die Zerstörung wendet sich [...] auch gegen die Komplexität von Erlebnissen und Phänomenen. Die Annahme der Komplexität des Anderen und unserer eigenen, das Verstehen, dass Gut und Böse Aspekte eines Wesens sind, lässt uns mit viel Verantwortung für unsere psychische Welt zurück, [...] mit weniger Anschuldigung und mehr Schuld« (Durban, 2004, S. 60; Übersetzung ins Deutsche, M. K.-L.). Harriet Lutzky (1989) spricht von einer Analogie zwischen den kleinianischen Begriffen des Todestriebs und der Aggression und dem Satansbegriff der Kabbala, betont damit aber zugleich einen wichtigen Unterschied zwischen Kleins Ansatz und der kabbalistischen Idee. Dieser Idee zufolge ist nicht der Mensch für den Bruch oder das Verderben verantwortlich, wohl aber für das Andauern des Status der Fragmentierung und des Exils. Bei Klein beinhaltet Tikkun oder Wiederherstellung immer auch Tikkun der selbst verursachten Zerstörung (eine Idee, die auch in kabbalistischen Auslegungen zu finden ist, dort jedoch nicht zentral wurde). Isidor Kaminer (2006) akzentuiert in seiner Auffassung der Zerstörung nicht die Zerstörung des Objekts und der Objektbeziehung, sondern die Zerstörung der präobjektalen Monade. Damit verwendet er einen zentralen Begriff der Grunberger’schen Theorie, einen Begriff, der die Vorstellung eines pränatalen Ursprungs des Narzissmus beinhaltet, eine uterale, geschützte und geborgene Existenz. Dieser paradiesische Zustand, so Grunberger, der mit der Vertreibung, der Geburt, abrupt aufhört, wird durch die umhüllende Fürsorge der Mutter zuerst ersetzt. Nach Grunberger bilden die Mutter und das Neugeborene eine Monade, die er als »extrovertierten Uterus« bezeichnet. In seinem eindrucksvollen Aufsatz »Tikkun Haolam – Wiederherstellung der Welt. ›Über-Leben‹ nach der Schoah« trägt Kaminer folgende Auslegung der im Mythos erwähnten Gefäße vor: »Die Mutter fungiert wie ein »extrojizierter Uterus […] um den Narzissmus des Kindes zu bewahren – ähnlich wie die eingangs erwähnten Gefäße (Kelim), die das Licht aufnehmen« (Kaminer, 2006, S. 130). Die Entwicklung mitsamt dem Triebgeschehen löst allmählich diesen Zustand auf, dennoch bilden später z. B. die Familie, die Gesellschaft und die Kultur so etwas wie monadische Hüllen, in denen dieser ursprüngliche narzisstische Zustand, wenn auch nur partiell, wiederhergestellt werden kann. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Mit erschütternden Beispielen zeigt er, wie die gezielte Vernichtung der europäischen Juden sich, außer auf ihre physische Vernichtung, gegen diese Monadenbildungen richtete. Diese antimonadische Destruktivität zersplitterte den Narzissmus bis in seine pränatalen Ursprünge, die, wie die Lichtfunken in dem Mythos, die Herstellung der Gefäße und die Reunion suchen, die Herstellung und die Einbettung in neue Monadenstrukturen ersehnen. Kaminer folgt Grunberger und bietet damit ein von Klein abweichendes Verständnis für frühe Störungen und Traumatisierungen und damit auch eine andere Auslegung der Hoffnung auf Tikkun.

Tikkun des Zerstörten oder: Wie sieht die Wiederherstellung aus? Shmuel Erlich (2003) verweist in seinem Beitrag auf der erwähnten Tagung auf die Definitionen von Scholem und Lutzky, wenn er den Tikkun-Begriff mit dem Glauben an oder die Hoffnung auf Erlösung vom Exil verbindet, die Hoffnung, die Katastrophe zu beheben, das heißt jeden Mangel aufzuheben und die Schöpfung in ihrer ursprünglichen Vollkommenheit wiederherzustellen. Damit stellt er den Begriff in die Reihe religiöser Erlösungsvorstellungen, die er dann anschließend vom analytischen Verständnis von Tikkun abgrenzen möchte. Melanie Klein geht von dem Wunsch aus, das Objekt, das durch aggressive Phantasien in der inneren Welt zerstört worden ist, wiederherzustellen. Doch ihre Wiederherstellungsidee beinhaltet nicht das Streben nach Vollkommenheit. Es geht eher um einen Prozess, der gerade das SichAbfinden mit der fehlenden Vollkommenheit zum Ziel hat. Die gelungene Art des Tikkun ist die Fähigkeit, das gute Introjekt, trotz seines unvollkommenen Sich-Einlassens auf die eigene Bedürftigkeit, als gut aufzubewahren und nicht zu zerstören. Diese Akzeptanz kann zur Akzeptanz eigener destruktiver und verfolgender Anteile führen, zur Anerkennung von eigener Schuld und Verantwortung. Das führt zu ehrlicher Wiedergutmachung und Wiederherstellung und einer Fürsorge für das Objekt und Empathie mit ihm und mit sich selbst. Das ist der gelungene Ausweg aus der depressiven Position. Nach Erlichs Ausführungen kann man mit Klein sagen, in der Depression liege eine ungelungene Auseinandersetzung mit der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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kindlichen Entwicklung vor, die sich in pathologischen TikkunHoffnungen und Tikkun-Versuchen ausdrückt. So zielen die manischen Versuche darauf, die depressive Angst vor der Einsicht in die innere komplexe Realität zu verleugnen. Die kränkende Abhängigkeit vom Objekt wird durch magische Umstellung der Rollen verleugnet und verdreht. Winnicott unterschied zwischen falscher und wahrer Wiederherstellung oder Wiedergutmachung. Der falsche Tikkun kommt aus der Identifizierung mit der Mutter (oder einer anderen bedeutenden Bezugsperson) und ihrer Abwehr gegen Depression und unbewusste Schuldgefühle. Die Auseinandersetzungen mit der Stimmung der Mutter und die Versuche, sich darauf einzustellen und sich der äußeren Umgebung anzupassen, erzeugen eine Dynamik von vermeintlicher Verantwortung und Schuld und falsch motivierten Wiedergutmachungshandlungen. »[…] das behindert die Entwicklung einer persönlichen Fähigkeit zur Wiedergutmachung, denn die Wiedergutmachung hängt nicht mit den eigenen Schuldgefühlen des Kindes zusammen« (Winnicott, 1958/1985, S. 269). Es fehle der freie Raum, in dem es, wie er sagt, »seine eigene Liebe mit den unvermeidlichen Komplikationen durch Aggressionen und Schuldgefühle entdecken kann, wodurch allein Wiedergutmachung und Wiederherstellung ihren Sinn bekommen« (S. 272). Durban betont den obsessiven Charakter von wiederholten falschen Tikkun-Handlungen in der äußern Realität, die noch stark von paranoiden Ängsten beeinflusst sind und die Rache des verletzten Objekts magisch zu besänftigen suchen. In diesen Wiederholungen fehlt das kreative Element. Ein wahrer Tikkun ist – wie er es nennt – die Errichtung eines dritten Ortes im Selbst, die Möglichkeit, sich selbst und den Anderen unter verschiedenen Perspektiven zu erleben und zu reflektieren. Das ist die Fähigkeit, im Kern des Selbst ein gutes, komplexes Objekt zu errichten, Verantwortung für die eigene Schuld zu übernehmen, ohne sich von ihr verfolgt zu fühlen, von Mitleid zu Erbarmen überzugehen. Darin sieht er die Möglichkeit zur Sinnfindung. Durban konzentriert sich in seinen Deutungen bei Patienten mit Ängsten vor Sinnverlust eher auf ihr Verständnis von Sinngebung und weniger auf die aggressiven Übertragungen oder das Gegenübertragungsgeschehen. Er zieht es vor, die Wiederherstellungsversuche und Motive des Patienten zu betonen. Das Zusammensein von Patient und Therapeut in solch einer wiederherstellenden Position schafft einen dritten Ort und ein Gefühl von Sinnfindung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Es ist interessant, seinen therapeutischen Ansatz mit dem Kaminers zu vergleichen. Bei einem schwer traumatisierten Narzissmus, so Kaminer, der antimonadischer Destruktivität ausgesetzt war und dessen Selbstkerne (bzw. Lebensfunken) zersplittert worden sind, ist die Hoffnung auf Heilung, die Hoffnung auf die Wiederherstellung von Monadenstrukturen, die, wenn auch nur partiell, den beschädigte Narzissmus restituieren können. Die therapeutische Monade ermöglicht dem Patienten, die für das Leben so notwendige unsichtbare narzisstische Umhüllung wiederherzustellen. Sein Verständnis von Tikkun im therapeutischen Raum scheint Durbans Verständnis ähnlich zu sein, wenn er von der Herstellung von Raumbedingungen spricht, die dem Zusammenfügen oder der Wiederherstellung dienen sollen. Während Kaminer aber von der partiellen Wiederherstellung des in Scherben eingekapselten, zersplitterten, beschädigten Narzissmus spricht, geht es bei Durban um die Entwicklung einer erbarmenden Haltung gegenüber den eigenen Scherben. Angesichts der Vorstellung vom therapeutischen Raum als Monade ist der bildliche Einfall auf der Einladung zu der Tagung von Interesse, auf der die vorliegenden Überlegungen zuerst vorgetragen wurden. Sie zeigt einen Säugling in einem ovalen Bildausschnitt. Nicht nur für den Säugling, auch für den Betrachter des Bildes ist kein sichtbares menschliches Objekt, sondern ein umhüllendes Ei zu sehen. Man kann dazu leicht die Vorstellung von Grunberger über die Funktion des Therapeuten als extrojizierter Uterus assoziieren. Kann die therapeutische Gruppe in ihrer Pluralität eine der Monade ähnliche Struktur anbieten?

Die Hoffnung auf Tikkun im gruppentherapeutischen Raum Löst ein Gruppensetting Hoffnungen auf eine neue Geburt im Sinn einer Verwandlung, auf Eltern ohne Mangel oder eine intakte Herkunftsfamilie aus? Es ist nicht nur so, dass das Gruppensetting solche Hoffnungen mobilisiert; diese Hoffnungen sind sogar als Therapiemotivation für die Zusammenarbeit unerlässlich. Noch schärfer formuliert: Diese Hoffnungen auf eine retroaktive Korrektur, die man mit Winnicott eine falsche Wiederherstellung nennen kann, liegen der Entfaltung der Gruppenphänomene zugrunde, die dann der Gruppe zur Reflexion zur Verfügung stehen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Bion definierte die zum Teil unbewussten Hoffnungen, die in den drei von ihm herausgearbeiteten Grundannahmen oder Gruppenmentalitäten zum Ausdruck kommen, Hoffnungen, die die Teilnehmer gemeinsam haben, so dass sie sich spontan zusammentun, um danach zu handeln. In einer interessanten Feststellung benennt er kurz und knapp den erwünschten Umgang mit diesen Hoffnungen: »In der therapeutischen Gruppe besteht das Problem darin, die Gruppe zu bewusster Wahrnehmung der Hoffnung und der damit zusammenhängenden Gefühle und gleichzeitig zum Standhaltenkönnen gegen sie zu befähigen« (Bion, 1961/2001, S. 111). Die Paarbildungsgruppenmentalität nach Bion bringt im gruppentherapeutischen Raum die gemeinsame unbewusste, messianische Erlösungshoffnung zum Ausdruck. Daher bietet es sich an, diese Gruppenmentalität, mehr als die beiden anderen, im Licht des Tikkun-Mythos zu betrachten. Nach der kabbalistischen Auffassung sehnt sich der Mensch nach der Wiederherstellung (dem Tikkun) der zerbrochenen Beziehung zu Gott, zum Fehlenden, sei es im symbiotischen Sinn, wieder eins mit ihm zu werden, oder sei es durch das sexuelle Begegnungsphantasma, dem zufolge die im Exil lebende Schechina (oder Knesset Israel), der weibliche abgetrennte Teil Gottes, sich wieder mit dem männlichen Teil Gottes vereinigt (vgl. Scholem, 1941/1980, S. 253–256). In einer der therapeutischen Gruppen hoffte ein Teilnehmer, endlich seine sexuellen Hemmungen mit Hilfe einer älteren, sexuell erfahrenen Teilnehmerin, die ihm die Kunst beibringen sollte, zu überwinden. Die Verkündung dieses gegenseitigen Wunsches der beiden Teilnehmer löste zuerst eine merkwürdig hoffnungsvolle, heitere Atmosphäre aus. Man konnte leicht den Eindruck gewinnen, dass damit die Zukunft auf einmal Farben bekommen habe. Dadurch schien nicht nur der gehemmte Teilnehmer, sondern die ganze Gruppe von ihren schweren, oft lästigen Affekten erlöst, als ob das die richtige Lösung für jeden Schmerz sei. Die Interventionsversuche der Leiterin wirkten wie ein Spielverderben. Die der Inszenierung einer Urszene ähnliche Aktion, die in der Regel eher negative, destruktive Affekte auslöst, führte zu einer gemeinsamen Aufheiterung, die sich wie eine Verkehrung ins Gegenteil ausnahm. Es sah so aus, als wäre die Vorstellung einer sexuellen Begegnung in diesem Fall die erlösende (Wieder-)Vereinigung. Eine Vorstellung, die die Befreiung von einer unvollkommenen Existenz symbolisierte und die gemeinsame manische Abwehr unliebsamer ausgelöster Affekte, bestimmt auch ödipaler Ängste und Wünsche ausdrückte. Das analytische Vor© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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gehen versprach das nicht. Ein anderes Hoffnungsprinzip hatte vorübergehend die Gruppe erfasst und geführt. Bions Gedanke, in der Hoffnung auf die sexuelle Begegnung sei die Vorstellung enthalten, der Führer dieser Grundannahmegruppe (ein Messias, eine Idee oder eine Utopie) solle noch gezeugt und geboren werden, scheint mir von der christlichen Auffassung beeinflusst zu sein, nach der diese Vorstellung realisiert worden ist, das heißt die Inkarnation tatsächlich stattgefunden hat und die Trennung zwischen Gott im Himmel und dem Menschen auf Erden nicht eingehalten worden ist. Man kann das Phänomen aber auch unter Rückgriff auf den kabbalistischen Tikkun-Mythos erklären: Die Gruppe wird von der Hoffnung erfasst, durch die sexuelle Vereinigung von Gott und der Schechina werde der Bruch aufgehoben und Vollkommenheit erreicht. Dieses Gruppenverhalten entspringt, wie Bion richtig sagt, aus der »aufdämmernden Sexualität, der Vorahnung des Geschlechtes, die sich als Hoffnung aufdrängt« (Bion, 1961/2001, S. 111). Darin lässt sich auch der Versuch erkennen, das zerstörte innere Bild der Urszene auf solche hoffnungsvolle Art auf kurzem Weg wiederherzustellen. Diese Gruppenhoffnung ist oft der Auftakt für die Klärung ungelöster ödipaler Verstrickungen im Gruppenraum. Mit Hilfe zweier Fallvorstellungen aus dem gruppentherapeutischen Raum, die jedem Gruppentherapeuten sicherlich vertraut sind, soll nun die Wandlung der Tikkun-Hoffnung näher betrachtet werden. Dabei sollen die beiden theoretisch eingeführten Ansätze als Erklärung und Verständnishilfe für unterschiedliche Phänomene nebeneinander stehen bleiben. Lena ist eine 42 Jahre alte, alleinstehende, als pädagogische Fachkraft in einem Heim tätige Gruppenpatientin. Sie und ihre Zwillingsschwester sind die einzigen Kinder einer deutschstämmigen Mutter und eines aus einem islamischen Land stammenden Vaters. Die beide von Vertreibung und Traumata gezeichneten Eltern heirateten anlässlich der ungeplanten und ungewollten Schwangerschaft, die nach sieben Monaten mit der Geburt zweier stark untergewichtiger Säuglinge zu Ende kam. Die beiden Mädchen, besonders aber die Patientin, die als Rebellin galt, waren bis zu ihrer Adoleszenz dem gewalttätigen Zorn des Vaters sowie der anhaltend angstvollen Atmosphäre des Elternhauses ausgesetzt. Ihrer Mutter kann die Patientin nicht verzeihen, dass sie sie nicht vor der Gewalt des Vaters geschützt © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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hat. Sie beneidet die Schwester um ihre bevorzugte Position bei dem Vater und leidet bis heute unter den Versuchen ihrer Familienmitglieder, sie ständig zu dämonisieren. Die Beziehungen zu ihrer Zwillingsschwester und ihrer Mutter sind sehr ambivalent. Sie konnte sich friedlich von ihrem Vater vor seinem Tod verabschieden, leider kam es aber nicht mehr zu einer Einsicht seitens des Vaters oder einem versöhnenden Gespräch. In der Gruppe profilierte sie sich in der Regel durch gut überlegte Beiträge (die Beta-Position). Dadurch machte sie sich beliebt. Sonst verhielt sie sich zurückhaltend, gelegentlich sehr schweigsam. Nach dem Grund für ihr Schweigen befragt, gab sie oft Müdigkeit von der Arbeit an, wobei allen Beteiligen klar war, dass etwas in ihr gärte, wonach noch nicht gefragt werden durfte, denn sie zog es vor, erst selbst eine gewisse Ordnung in ein bei ihr oft ausgelöstes Gefühlschaos zu bringen. Sie litt wiederholt unter, wie sie nannte, »Chaos-Zuständen«, in denen sie sich und die Welt nicht mehr verstand. Ihre großen Schwierigkeiten, in der Gruppe solche Zustände anzusprechen, gründeten sich auf ihrer Angst, von der Gruppe und der Leiterin besonders in ihrem Zorn und ihrer Empörung nicht völlig verstanden zu werden. Gelegentlich sagte sie Sitzungen ab, Absagen, die sie mit Erschöpfung, Kopfschmerzen oder einer Erkältung begründete. Mit der Zeit fiel es ihr zunehmend leichter, von ihren Konflikten mit der Schwester und der Mutter zu erzählen und die Gruppe als hilfreichen modifizierenden Container (nach Hirsch, 2008) für ihre Wut-, Empörungs- und Angstaffekte zu verwenden. Allerdings fiel es ihr schwer, von der Wiederannäherung an ihren alten Freund und den Konflikten, die während ihres Zusammenlebens ausgelöst worden sind, zu berichten. Bei einem Versuch, so einen Konflikt mit dem Freund in der Gruppe zu beschreiben, empörte sie sich über die Klärungsfragen der Teilnehmer und deren Versuch, auch die Verhaltensmotive des Freundes im intersubjektiven Geschehen zu verstehen, obwohl sie ihre Empörung durchaus empathisch angenommen hatten. Sie aber erlebte schon die Fragen als Angriff und Verweigerung von Empathie. Sie zog sich danach innerlich zurück, konzentrierte sich auf die anderen und klammerte das Thema völlig aus. Auf Versuche von Seiten der Gruppe und der Leiterin, sie zum Sprechen zu animieren, reagierte sie strafend schweigend, sichtlich zornig ablehnend. Gelegentlich kritisierte sie © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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die Arbeit der Gruppe damit, dass man hier den Zorn nicht einfach zulasse. Dann überraschte sie die Gruppe mit einem Bericht über ihre Trennung, in dem sie dem Freund sadistisches Verhalten ihr gegenüber vorwarf und der Leiterin versäumte Hilfeleistung. Diese hätte aufgrund der langen Bekanntschaft mit ihr die Etablierung dieser, wie sie es nannte, sadomasochistischen Beziehung verhindern sollen.

Bei dem Verstehen des Geschehens beziehe ich mich auf Kaminers Beitrag. Wir haben es mit einer Patientin zu tun, die mehrfach traumatisierende Erfahrungen mit antimonadischer Destruktivität gemacht hat, zum einen durch die Gegebenheiten bei der Geburt, nach der sie als 1,4 Kilogramm wiegender Säugling keineswegs einen umhüllenden, extrojizierten Uterus erleben durfte, vielmehr Vernichtungsängsten ausgesetzt war, zum anderen durch körperliche Gewalt oder fehlenden Schutz und Empathie in der erweiterten Monadenstruktur der Familie. In dieser unter Wiederholungszwang stehenden Inszenierung wurden im Zug der therapeutischen Regression das intrapsychische Erlebnis wie auch die gewohnte Reaktion der Patientin auf vergangene Erlebnisse von antimonadischer Destruktivität dargestellt: Ich wurde zu ihrer Mutter gemacht, die dem sadistischen Vater, ihrem Freund, bei seinen Missetaten zuschaut und ihr nicht hilft, sogar ihr noch die Schuld zuschiebt. Die Teilnehmer, die mehr von dem ganzen Geschehen mit dem Freund verstehen wollten, sprachen ihr mit ihrem Wunsch nach einer weiteren Perspektive, in Lenas Erleben, das Recht auf ihre Wut ab. Das war sie letztendlich gewohnt, da solche Ereignisse in ihrer Herkunftsfamilie nie geklärt wurden: »die Starken glaubten, im Recht zu sein, und saßen am längeren Hebel«, ein Bild, das sie oft verwendete. Nun wollte sie retroaktiv diese Machtverhältnisse endlich ändern und selbst das alleinige Recht dabei besitzen. Die sogenannten »Verfehlungen«, die Abweichungen der Teilnehmer oder der Therapeutin von den ihnen zugewiesenen Rollen wurden als eine Attacke auf die Schutzhülle der Patientin empfunden, die sich dann zurücknahm, um sich den nötigen Schutz wie gewohnt selbst zu geben. Es bedurfte des mühevollen, von Wohlwollen getragenen Versuchs aller Beteiligten, diese Verstrickung, das heißt die affektgeladenen Reaktionen, gemeinsam zu verstehen, ihre Ursprünge in der Herkunftsfamilie zu lokalisieren und von gegenwärtigen Einstellungen und Haltungen der Mitglieder und der Leiterin zu differenzie© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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ren. All das half der Patientin, die Gruppe als Ganze und die Leiterin wieder als eine Art erweiterte Schutzhülle zu erleben, die sie eine Weile geglaubt hatte, sich selbst basteln zu müssen. Die Mentalisierung der von der Patientin als chaotisch erlebten affektiven Zustände war hier zuerst angesagt. Deutungen hätten leicht als Vorwurf und Anschuldigungen verstanden werden können und wären als solche als eine weitere Attacke erlebt worden, die Abwehr auslösen musste. Vielleicht bietet gerade die Gruppe durch ihre mehrfachen Perspektiven und ihre Komplexität mit der gleichzeitigen ContainingFunktion die Möglichkeit, die Komplexität der inneren Welt und das Andersseins der Welt der Objekte mit der Zeit nicht als gefährlich und verfolgend zu erleben, sondern eher als bereichernd. Das sind Integrationserfahrungen, die ihre verflachte, gespaltene Welt ausdifferenzieren können. Durch die Überwindung ihrer Polarisierungstendenz gewinnt sie einen »dritten Ort«, um Durbans Begriff zu verwenden. Nur dann kann sie von ihren unbewussten Versuchen ablassen, im Gruppengeschehen ihre familiär erlebten Zustände zu inszenieren, mit der unbewussten Absicht, die Machtverhältnisse ein für alle Mal zu korrigieren. Man kann das im Fall dieser Patientin als gemeinsamen, mühevollen Gruppenversuch betrachten, eine zwar komplexe, aber umhüllende Monadenstruktur zu etablieren. Sich im als familiär erlebten Kontext mit seiner Eigenart als integriert, akzeptiert und sinnvoll beitragend zu erleben, wirkt für den Narzissmus restituierend. In diesem Sinne ist es eine wiederherstellende Erfahrung. Bernt war ein 58-jähriger, im Heilberuf tätiger Patient, verheiratet und Vater zweier Söhne, die zum Anfang der Therapie noch in seinem Haushalt wohnten. Er begab sich wiederum in Therapie nach einer Eskalation eines Konflikts mit seiner Frau, in dem er handgreiflich geworden war. Er gab an, er sei gereizt gewesen, überlastet durch viel Arbeit und Überstunden. Er flüchtete sich aber in die Arbeit, in der er viel Anerkennung bekam. Doch auch dort entlud er oft jähzornig seine Spannungen und beschimpfte die Mitarbeiter. Seine Frau war viel beschäftigt und oft abwesend; oft erlebte er sie an ihm desinteressiert und ablehnend, und er fühlte sich von ihrer guten Beziehung zu den zwei Jungen ausgeschlossen. Seine impulsiven Ausbrüche und depressiven Verstimmungen waren jahrelang ein Grund für mehrere Therapien gewesen. Bedeutend aus seiner erzählten Biografie sind seine, wie er es nannte, »Hass-Liebe-Beziehung« zu seiner depressi© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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ven Mutter, seine sehr gespannte Beziehung zu seinem 15 Monate jüngeren Bruder und der geringe Kontakt zu seinem Vater, der einen ähnlichen Beruf ausgeübt hat und oft abwesend war. In seinem Gruppenverhalten, seiner Beziehungsaufnahme und seinen Äußerungen wurden seine »eingepflanzten Schuldgefühle« und seine falsche Wiederherstellungsart oder Wiedergutmachungsversuche (nach Winnicott) in Szene gesetzt: Wie am Arbeitsplatz suchte er im Gruppenraum Anerkennung für seine bemühte Fürsorge und bekam sie auch zunächst. Er verhielt sich wie ein Ko-Therapeut, eigentlich wie der bessere Therapeut. Ich erlebte ihn so, als ob er mir vorzeigen wolle, wie eine optimale, nicht lediglich ausreichend gute Mutter die Funktion eines Containers wahrnehmen soll. Gelegentlich entschuldigte er sich sogar, wenn es einem der Teilnehmer trotz seiner Bemühungen nicht gutging. Seine Fürsorge dehnte er auch über die Sitzungen hinaus aus: Er bemühte sich um die zwei im Leben isolierten jungen Männer in der Gruppe, die er auch zu sich nach Hause einlud, während er über seine problematischen Beziehungen zu seinen Kindern klagte. Auf diese war er – ähnlich wie er auf seinen wenig jüngeren Bruder – oft eifersüchtig, da sie die Zuwendung seiner Frau bekamen. Von allen Frauen in der Gruppe sprach ihn die vom Vater traumatisierte Lena an, mit der er, zuerst vor seiner Frau und der Gruppe verheimlicht, zusammentraf. So versuchte er, seine unerträglich ambivalenten Beziehungen durch Spaltung zu bekämpfen und seine vermeintliche und leider auch reale Schuld bei den falschen Adressaten wiedergutzumachen. Der Versuch, einen Tikkun in der äußeren Welt zu bewirken, lenkte sein Augenmerk von den inneren Auseinandersetzungen mit seinem eigenen Umgang mit den ihm nahstehenden Familienmitgliedern und mit der eigenen wahren Schuld ab. Seine Frau warf ihm diese Spaltung auch vor. Als es, nicht unerwartet, zu Hause zu einer erneuten Zuspitzung gekommen war, wurden seine Verlustängste spürbar, aber seine schnelle, etwas dramatisierte Reue wirkte wie eine Leerformel, aufgesetzt und verbraucht. Sie wechselte abrupt ab mit einem tiefgründigen Zorn über all das, was er von seiner Frau nicht bekam und was ihm zustünde. In seinem abrupten Wechsel zwischen seiner Versäumnisschuld und seinem Zorn wurde deutlich, wie sehr er zwischen der Identifikation mit einem idealisierten Mutterbild und seinem Verlangen nach ihr schwankte. Er erlebte seinen Zorn als gerecht. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Denn sein hinter der Tikkun-Phantasie liegendes verdrängtes Bedürfnis nach guter Bemutterung sollte endlich richtig erfüllt werden. Die Mutter sollte seine aggressiven und lebhaften Impulse überleben und er sollte endlich seine geraubte Kindheit zurückbekommen.

Neben der Klärung seines inneren Zustandes schien mir die Deutung seines Insistierens auf der Erfüllung dieses Bedürfnisses, des Wunsches nach Wiederherstellung von versäumten Erlebnissen mit dem Primärobjekt in seiner intimen Beziehung zu seiner Frau, als dringlich notwendig. Man kann bei den Deutungen von aggressiven Handlungen sehr wohl mit der schmerzlichen Sehnsucht und dem Wunsch nach Wiederherstellung eines unwiderruflich Vergangenen empathisch sein. Man kann auch empathisch mit dem Schmerz des Verzichts auf diese Phantasie und auf die Versuche, sie zu realisieren, umgehen und sich zugleich von der Anwendung von Gewalt unmissverständlich distanzieren. Es gibt theoretische Konzepte, die dem Analytiker in seinem Umgang mit seinem emotionalen Haushalt helfen können, und das Tikkun-Konzept bietet solch eine Hilfe. Es hilft in solchen Fällen, die Komplexität der Emotionen zu ordnen. Wenn diese Ordnung mir klar ist, kann ich sie, auch wenn sie komplex ist, einem Patienten, der sich selbst verstehen will, anbieten. Das erwähnte Insistieren des Patienten auf Wiederherstellungsansprüchen an seine Frau ließ allmählich nach, je mehr er sich erlaubte, diese übertragenen Wünsche, Frustrationen und Wut in der Gruppe und in der Beziehung zu deren Leiterin auszuleben. Das Aufgeben seiner Ko-Therapeuten-Rolle ging Hand in Hand mit seiner emotionalen Involvierung in die Gruppe. Er war oft sehr verletzend, aber seine Reue wirkte nun authentisch.

Fazit Der Versuch, anhand zweier theoretischer Ansätze zum Tikkun verschiedene Gruppenphänomene zu verstehen, ging von der Erfahrung aus, dass die Hoffnung, die anfänglich falschen Tikkun-Versuchen zugrunde liegt, für die Therapiemotivation und Arbeit zentral ist. Diese Versuche können dann aufgegeben werden, wenn neue Hoffnungen und neue Tikkun-Möglichkeiten sich eröffnen. Die TikkunArbeit in ihren Irrungen und Verwirrungen ist das Wesentliche; sie gehört, den Kabbalisten zufolge, zu den Aufgaben der Menschen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Rabbi Mendel von Kozk bringt das mit dem schönen, oft zitierten chassidischen Satz zum Ausdruck: »Es gibt auf der Welt nichts Vollständigeres als ein zerbrochenes Herz.«

Literatur Bion, W. R. (1961/2001). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. KlettCotta: Stuttgart. Durban, J. (2004). Tikkun – ha makom ha shlishi [hebr.: Tikkun – der dritte Ort]. In: Sichot – Dialogue. Hebrew Journal of Psychotherapy. Vol. XIX, No. 1 (October). Erlich, H. S. (2003). Ha-Tikkun bein mushlamut ve hashlama [hebr.: Der Tikkun zwischen Vollkommenheit und Akzeptanz]. Vortrag auf der Tagung »Klein und wir – über den Tikkun«, Universität Tel Aviv und des Israelischen Instituts für Psychoanalyse am 10.04. 2003, http://www.psychoanalysis.org.il.download/ doc003.doc (Zugriff am 01.05.2009). Hirsch, M. (2008). Einleitung. Mentalisierung und Symbolisierung. In M. Hirsch (Hrsg.), Die Gruppe als Container. Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppentherapie (S. 9–24). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kaminer, I. J. (2006). Tikun Haolam – Wiederherstellung der Welt. »Über-Leben« nach der Schoah. Forum Psychoanalyse 22, 127–144. Lutzky, H. (1989). Reparation and Tikkun: A comparison of the Kleinian and Kabbalistic concepts. International Review of Psycho-Analysis, 16, S. 449–458. Scholem, G. (1941/1980). Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Winnicott, D. W. (1958/1985). Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Die Autorinnen und Autoren

Dr. phil. Dr. theol. Hans Bosse ist em. Professor für Sozialpsychologie und Soziologie an Universität Frankfurt/Main sowie Lehranalytiker und Supervisor am Institut für Gruppenanalyse e.V. Heidelberg. Margit Dehne, Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), ist seit 1974 im Berliner Gesundheitswesesen tätig, u.  a. im Fachkrankenhaus für Neurologie/Psychiatrie Herzberge, in der Psychiatrischen Beratungsstelle Prenzlauer Berg und seit 2002 in der stationären Alkoholentwöhnungstherapie. Dr. Ulrike Gedeon, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin/Psychoanalyse, ist in eigener Praxis in Halle tätig. Prof. Dr. med. Michael Geyer, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie, war Direktor der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Leipzig. Derzeitig Wissenschaftlicher Leiter der Akademie für Psychotherapie Erfurt. Dr. med. Stephan Heyne, Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, analytischer Gruppenpsychotherapeut (IDG), arbeitet als niedergelassener Psychotherapeut in Berlin. Dr. phil. Franz Jäkel, Psychoanalytiker, Lehranalytiker, ist seit 1995 als psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Wismar tätig. Prof. Dr. em. Norbert Jung, Verhaltensbiologe, ist seit 1992 Dozent am Institut für Verhaltenstherapie Lübben. 1996–2009 Gründungsprofessur Umweltbildung an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Dipl.-Pych. Gundula Jung-Römer, Psychologische Psychotherapeutin, Analytische Gruppenpsychotherapeutin (IDG/DAGG), Lehrtherapeutin für Katathym-Imaginative Psychotherapie (AGKB), © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Die Autorinnen und Autoren

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Fachpsychologin der Medizin, ist in eigener Praxis in Berlin tätig; Dozentin für Symbolarbeit. Dipl-Psych. Michal Kaiser-Livne ist Psychoanalytikerin (DPG, DGPT), Gruppenlehranalytikerin (AG/DAGG/BIG), Gründungsmitglied des Berliner Instituts für Gruppenanalyse (BIG). Dipl.-Psych. Harald Küster, Psychologischer Psychotherapeut, Einzel- und Gruppenpsychotherapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Organisationsentwicklung, Supervision und Coaching, arbeitet in eigener Praxis in Halle. Dr. med. Hans-Joachim Maaz, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker, war bis 2008 Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle. Dr. phil. Thomas Mies ist Lehrgruppenanalytiker am Institut für Therapeutische und Angewandte Gruppenanalyse in Münster. Dr. med. Irene Misselwitz, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin, ist in eigener Praxis in Jena tätig. Dipl- Psych. Horst Neumann ist Psychoanalytiker in eigener Praxis, Lehranalytiker und Dozent am Institut für Psychotherapie Berlin. Dr. sc. med. Christoph Seidler, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, arbeitet in eigener psychotherapeutischer Praxis in Berlin. Prof. Ingrid Stahmer, Sozialarbeiterin und Trainerin für Gruppendynamik (DAGG und DGGO), war Bürgermeisterin von Berlin (1989/90), Senatorin für Gesundheit, Soziales, Jugend, Schule und Sport (1989–1999), ist freiberuflich tätig als Trainerin, Beraterin, Coach und Supervisorin (DGSv); seit 2000 Honorarprofessorin für Sozialarbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Henning Zimmermann gründete 1984 die erste Männerselbsterfahrungsgruppe in der bad. Landeskirche; seit 1997 freiberuflich tätig © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

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Die Autorinnen und Autoren

als Kommunikationstrainer und Unternehmensentwickler, Teamentwickler und Coach. Er lebt und arbeitet in Berlin. Dr. med. Sara Zimmermann, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin, Gruppenanalytikerin, ist seit 1990 als Lehranalytikerin, Leiterin von Selbsterfahrungsgruppen/Seminaren und Supervisorin tätig in der Ausbildung psychoanalytischer Gruppenpsychotherapie.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Mina Schneider-Landolf / Jochen Spielmann / Walter Zitterbarth (Hg.)

Handbuch Themenzentrierte Interaktion (TZI) Mit einem Vorwort von Friedemann Schulz von Thun

Mit TZI können Lern- und Arbeitsprozesse von Menschen, Gruppen, Teams und Organisationen reflektiert, gesteuert und geleitet werden. Prozesse der Work-Life-Balance lassen sich durch TZI gestalten und Empowerment fördern. Heute wird TZI sehr erfolgreich in der Erwachsenenbildung, Schule, Wirtschaft, Beratung, Kirche, Führungskräfteentwicklung und anderen Bereichen angewandt. Das Handbuch beschreibt in kurzen Beiträgen 53 zentrale Begriffe der TZI, ihre Entstehung und ihre Weiterentwicklung. Damit wird erstmals der aktuelle Stand des Konzepts übersichtlich, systematisch und wissenschaftlich reflektiert dargestellt. »Das vorliegende Handbuch löst seinen Anspruch ein, zugleich ein Theoriebuch, ein Nachschlagewerk sowie ein Lehr- und Lernbuch zu sein [...]. Es hat sicher das Potenzial, sich zu einem Standardwerk der TZI zu entwickeln.« Gesa Bertels, www.socialnet.de

Ulrich Streeck / Falk Leichsenring

Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen

Dieses Handbuch für die Ausbildung und die Behandlungspraxis speist sich aus den langjährigen Erfahrungen der Autoren mit der psychotherapeutisch-psychiatrischen Versorgung von Patienten mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung. Neben der theoretischen Fundierung ist es auf praktische Belange ausgerichtet und bietet eine Fülle von Hinweisen für die klinische Arbeit. Die Methode wird anhand einer Vielzahl von Beispielen nachvollziehbar dargestellt. »Das Manual von Streeck und Leichsenring ist [...] auch für in der PiM bereits erfahrene Therapeuten mit großem Gewinn lesbar – ja, mit seiner neuen Akzentsetzung hier fast unverzichtbar.« Prof. Dr. Hermann Staats, www.socialnet.de

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Rolf Haubl / Brigitte Hausinger (Hg.)

Supervisionsforschung: Einblicke und Ausblicke Interdisziplinäre Beratungsforschung, Band 1.

Die Notwendigkeit und Attraktivität einer forschungsgestützten Weiterentwicklung von Theorie und Praxis der Supervision wird sowohl von der Community als auch von Wissenschaftlern ohne eigene Supervisionsausbildung gesehen. Die hier versammelten Autoren und Autorinnen unterschiedlicher Disziplinen tragen in diesem Sinne zu einer Bekanntmachung und forschungsfreundlichen Haltung bei. Sie präsentieren unterschiedliche konzeptionelle Zugänge sowie Ergebnisse der Supervisionsforschung. Das Buch richtet sich nicht nur an Wissenschaftler und Forschende, sondern es können ebenso Praktiker vielfältig davon profitieren.

Rolf Haubl / Bettina Daser (Hg.)

Macht und Psyche in Organisationen Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 3: Psychoanalytische Sozialpsychologie, Band 3.

Organisationen sind ohne Macht nicht vorstellbar. Allerdings hat Macht zwei Seiten: zum einen wirkt sie produktiv und gestaltend, zum anderen wird sie von Organisationsmitgliedern nicht nur zum Wohle der Organisation eingesetzt, sondern auch missbraucht, um persönliche Interessen durchzusetzen. Machtstreben sowie der Gebrauch und Missbrauch von Macht sind im organisationswissenschaftlichen Diskurs um »Führung« nach wie vor eher randständige Themen. Die Beiträge in diesem Band geben einen Überblick über sozial- und organisationswissenschaftliche Machttheorien im Hinblick darauf, inwieweit sie sich eignen, das Ineinandergreifen von Organisationsstrukturen und den psychischen Strukturen von Organisationsmitgliedern zu beschreiben. Sie gehen der Frage nach, wie Männer und Frauen Macht gebrauchen und wie sie den eigenen Machtgebrauch im Rahmen von Supervision und Coaching thematisieren. Zudem vermitteln praxisnahe Berichte einen Eindruck davon, welchen Einfluss der aktuelle Wandel von Arbeitsund Organisationsstrukturen auf Organisationen hat, wie sich dadurch Machtverhältnisse verändern und welche mikropolitischen Strategien Organisationsmitglieder anwenden, um den Wandel zu bewältigen.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Fortschritte der Gruppenpsychotherapie

Mathias Hirsch (Hg.)

Die Gruppe als Container Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie 2. Auflage 2010. 267 Seiten mit 1 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-49132-4

Die psychoanalytische Gruppentherapie ist auf dem Weg, die Theorien Fonagys und Targets zu integrieren. Die Beiträge der praxiserfahrenen Autoren belegen diese Entwicklung eindrucksvoll. Gruppenpsychotherapie ist immer interaktionell und intersubjektiv, Phänomene wie Übertragung und Gegenübertragung haben hier nur eingeschränkte Gültigkeit. So liegt es nahe, neue Vorstellungen von psychischen Reifungsprozessen der Mentalisierung und Symbolisierung auch auf die gruppenanalytische Situation zu beziehen. Die praxiserfahrenen Autoren haben sich dieser Aufgabe gestellt und legen die vielfältigen Gruppenfaktoren dar, die Denken und Fühlen des Patienten verändern. Beispiele aus der gruppenanalytischen Praxis verdeutlichen die neuen Konzepte. »Mathias Hirsch, Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker aus Düsseldorf, legt als Herausgeber mit seinem Buch eine anregende und spannende Zusammenschau wissenschaftlicher Reflexionen und praktischer Fallbeispiele aus dem gruppentherapeutischen Setting vor, das nicht nur Gruppentherapeuten Lust darauf machen dürfte, sich mit der Mentalisierungstheorie auseinanderzusetzen.« Vera Kattermann, Deutsches Ärzteblatt

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0

Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik relauncht

4 Hefte pro Jahresband. Über aktuelle Bezugspreise können Sie sich auf unserer Homepage informieren – dort können Sie die Zeitschrift direkt abonnieren. Das günstige Abonnement umfasst auch den Online-Zugang zur Zeitschrift. www.v-r.de

Gegründet von Raymond Battegay, Helmut Enke, Annelise HeiglEvers, Hans Strotzka, Ambros Uchtenhagen. Herausgegeben von Andreas Amann, Rolf Haubl, Franziska Lamott, Thomas Mies, Ulrich Schultz-Venrath, Christoph Seidler, Hermann Staats. Redaktion: Dipl.-Psych. Kay Niebank Neben wissenschaftlichen Originalbeiträgen zur Gruppenpsychotherapie bietet die Zeitschrift Berichte über experimentelle Erprobungen und praktische Anwendungen der verschiedenen Konzepte der Arbeit mit Gruppen in unterschiedlichsten Settings. Sie dient dem interdisziplinären Erfahrungsaustausch und informiert über berufspolitische Entwicklungen. – Eingereichte Arbeiten durchlaufen ein Peerreview-Verfahren.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40169-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-40169-0