Architektur und Akteure: Praxis und Öffentlichkeit in der Nachkriegsgesellschaft 9783839440940

Building after 1945: This volume explores actors, networks and ideologies of postwar architecture - a significant contri

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Architektur und Akteure: Praxis und Öffentlichkeit in der Nachkriegsgesellschaft
 9783839440940

Table of contents :
Inhalt
Architektur und Akteure in der Nachkriegsgesellschaft
Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS
Das Werk des Architekten und seine Veröffentlichung
Von den Akteuren des Wohnungsbaus zu den Akteuren des Wohnens
Die Stuttgarter Hochhäuser von Hans Scharoun
Die architektonische Großform
Architekten zwischen »Heimatschutz« und einer neuen Baukultur
Baupflege für die Nachkriegsstadt
Kneten und probieren
Aufbruch zu den Wurzeln
Ruins and Slavic Utopia
Jüdisches Bauen in Nachkriegsdeutschland
Die Unsichtbaren sichtbar machen
Import, Export, Reimport?
To Holland
Schweizerische Baugesinnung
Vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bildnachweise

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Regine Heß (Hg.) Architektur und Akteure

Architekturen | Band 43

Regine Hess (Hg.)

Architektur und Akteure Praxis und Öffentlichkeit in der Nachkriegsgesellschaft

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Lektorat: Stefan Füssl, Veronika Gromes, Regine Heß, Karl Hughes, Samuel Trachtenberg Bildredaktion: Hanna Böhm Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4094-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4094-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Architektur und Akteure in der Nachkriegsgesellschaft Regine Heß | 9

Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS Ideologies, Models, and Actors for Architecture and Society Nicole De Togni | 21

Das Werk des Architekten und seine Veröffentlichung Zur Einflussnahme von Fachzeitschriften auf das Architekturgeschehen der Nachkriegszeit Silke Langenberg | 33

Von den Akteuren des Wohnungsbaus zu den Akteuren des Wohnens Philosophische und soziologische Bestimmungen des Wohnens in den 1950er- und 1960er-Jahren Kirsten Wagner | 45

Die Stuttgarter Hochhäuser von Hans Scharoun Ein Wohnungsbauexperiment Elke Nagel | 63

Die architektonische Großform Wie Otto Ernst Schweizers Lehre den Wiederaufbau prägte Martin Kunz | 77

Architekten zwischen »Heimatschutz« und einer neuen Baukultur Das Beispiel Graz im Wiederaufbau Monika Stromberger | 91

Baupflege für die Nachkriegsstadt Verhandlungen um moderne bürgerliche Bauweisen Carmen M. Enss | 105

Kneten und probieren Architekturmodelle in Entwur fsprozessen der Nachkriegsmoderne Ralf Liptau | 119

Aufbruch zu den Wurzeln Wiederaufbaumodelle der Denkmalpflege zwischen baukultureller Vision und Modernekritik Johannes Warda | 131

Ruins and Slavic Utopia Architecture of the Social Reform in Croatian Historic Towns, 1945–1960 Marko Špikić | 145

Jüdisches Bauen in Nachkriegsdeutschland Möglichkeiten und Bedingungen Alexandra Klei | 161

Die Unsichtbaren sichtbar machen Eine gruppenbiografische Studie zur Wirkung zweier traditionalistischer Architekturschulen in Ostdeutschland Mark Escherich | 175

Import, Export, Reimport? Walter Gropius und die Netzwerke der »Nachkriegsmoderne« Olaf Gisbertz | 191

To Holland Frank Lloyd Wright’s Urbanism in Postwar Rotterdam Rachel Julia Engler | 205

Schweizerische Baugesinnung Bescheidenheit als Ideologie Elena Markus | 217

Vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural Neue Forschungsansätze aus Museum, Akteur-Netzwerk-Theorie und Architektursoziologie Regine Heß | 231

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren  | 249 Bildnachweise  | 251

Architektur und Akteure in der Nachkriegsgesellschaft Regine Heß

Z ur E inführung Wer sind die Akteure der Architektur nach 1945? Da waren zunächst die Expert/-innen: 24.213 Architekt/-innen, Hochbauingenieur/-innen und Hochbautechniker/-innen, 24.014 Männer und 199 Frauen, wurden 1950 in Westdeutschland gezählt.1 Nun folgt ein Gedankenspiel: Setzt man voraus, dass 20.000 von ihnen tatsächlich in das Bauen involviert waren und im Durchschnitt vier von ihnen auf einen Bauherren kamen, erhöht sich die Zahl der am Entwurf beteiligten Personen auf 25.000. Rechnet man pro Entwurf und Ausführung 20 bis 100 Personen aus den kooperierenden Gewerken dazu, so kommt man auf eine Zahl zwischen 500.000 und 2,5 Millionen mit dem Bauen Beschäftigter innerhalb eines Jahres. Man addiere nun die hypothetische Zahl von 500.000 Repräsentant/-innen der »Öffentlichkeit« wie Politiker/-innen (allen voran Bundespräsident Theodor Heuss, Mitglied des Werkbunds), Journalist/-innen, Vertreter/-innen von Akademien, Parteien, Vereinen und Verbänden sowie Mitglieder aus Wissenschaft, Ausstellungswesen und Verwaltung hinzu. Damit weitet sich der Kreis um jene, die keine (oder selten) Architekt/-innen waren, doch von Berufs wegen mit dem Bauen zu tun hatten, auf geschätzt 3 Millionen Menschen. Zu ihnen kommen noch die Akteure, die das Bauen rezipierten und seine Wahrnehmung prägten: Bekannte Literat/-innen wie Wolfgang Koeppen, Astrid Lindgren oder Heinrich Böll, Künstler/-innen wie Karl Hofer oder Willi Sitte, aber auch unbekannte Autor/-innen der zahlreichen Leserbriefe an die Lokalpresse sowie das Publikum von Ausstellungen und Fachkongressen wie den Darmstädter Gesprächen oder, zu guter Letzt, jene Schulklassen, bei denen »Architektur« auf dem Lehrplan stand. Am Schluss des Gedankenspiels treten die Adressat/-innen der Gebäude auf, also deren zukünftigen Nutzer/-innen und Bewohner/-innen. In den 1 | Vgl. Statistisches Bundesamt/Wiesbaden 1953, S. 41.

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Nachkriegsjahren geht allein die Zahl derer, die Neubauten beziehen und ihr Wohnverhalten neu justieren, in die Millionen: Bis 1957 wurden rund vier Millionen Wohnungen in der BRD und eine Million in der DDR gebaut.2 In einer Zeit also wie der Nachkriegszeit, in der bis zu zwei Drittel der Bausubstanz erneuert wurden, ist die Zahl der Akteure in der Architektur besonders hoch. Die »sogenannten Laien« in die Architekturbetrachtung mit einzubeziehen, war ein Ausgangspunkt bei der Planung einer internationalen Tagung gewesen, deren Beiträge hier in einer überarbeiteten Fassung abgedruckt sind. Sie fand unter dem Titel »Architektur und Akteure in der Nachkriegsgesellschaft: Praxis, Öffentlichkeit, Ethos/Architecture and its Actors: Practice, Public, Ethos« am 22. und 23. Juli 2017 an der Architekturfakultät der Technischen Universität München statt. Die Nachkriegsarchitektur in Deutschland ist ein kollektives und ein interdisziplinäres Projekt gewesen. Unter den Architekt/-innen bildete sich 1945 (aus existierenden Netzwerken der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus) eine Elite, die Meinungsführerschaft beanspruchte und sich dazu – jetzt verstärkt – mit anderen Disziplinen zusammentat. Zu nennen ist vor allem jene vielköpfige Gruppe um Otto Bartning in West-Berlin in den Jahren 1955 bis 1957. Finanziert und unterstützt vom Berliner Senat und Stadtbaudirektor Hans Stephan, stellte sie auf der Internationalen Bauausstellung 1957 mit Kolleg/-innen aus dem Ausland das Teilkonzept einer Hauptstadt und »Weltstadt« Berlin vor. Auf der Begleitausstellung »Die Stadt von morgen« wurde bis in das Kinderzimmer hinein demonstriert, wie ein ›Mensch von morgen‹ wohnen würde. Das interdisziplinäre Vorbereitungsteam um den Hauptkurator Karl Otto gliederte sich unter den Themen Grün, Wohnen, Verkehr, Flugwesen, Recht, Soziologie, Medizin, Wirtschaft, 10.000er Stadteinheit und Gegebene Stadtbeispiele und organisierte aus ihren Fachgebieten heraus die Ausstellung.3 Die Überlieferung dieser Kooperation und der Ausstellung bietet ein hervorragendes Material für weitere Untersuchungen. In diesem Zusammenhang finden sich auch die Spuren anonymer Akteure in der Architektur wieder, wie die jener »Halbwüchsigen«, von denen Karl Otto befürchtete, dass sie die an allen Seiten offene Ausstellungshalle beschädigten.4 Die Untersuchung auch von Interaktionen wie dieser kann darüber Auskunft geben, wie der Status von Architektur in der (Stadt-)Gesellschaft verhandelt wurde. Architekt/-innen, die im wirtschaftlichen Aufschwung dieser Jahre für die öffentliche Hand oder für Konzerne bauten, hatten es mit immer komplexe2 | Vgl. Schulz 1994, S. 336. 3 | Vgl. Internationale Bauausstellung Berlin 1957 (Interbau). Thematische Schau »Die Stadt von morgen«, 2. Arbeitsgespräch, Berlin, 17./18. Februar 1956, Architekturmuseum TUM, oa-761. 4 | Vermerk Senatsbaudirektor vom 24.9.1957, Landesarchiv Berlin, B Rep. 009 Nr. 54.

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ren Gruppen von Bauherr/innen zu tun und lernten, sich auf diese einzustellen. Wie beispielweise Paul Schneider-Esleben, zu sehen auf einem Foto aus dem Jahr 1954. Acht Männer umringen den sichtlich nervösen Architekten im hellen Mantel ohne Hut beim Richtfest für das Gymnasium Lennestadt im Sauerland: Bürgermeister, Gemeinderat und Schulrektor sowie, rechts neben Schneider-Esleben, kaum zu unterscheiden von den anderen, ein ranghoher Politiker: Rudolf Amelunxen, Sozialminister von Nordrhein-Westfalen (Abb. 1). Abb. 1: Paul Schneider-Esleben (ohne Hut) und Bauherren, Lennestadt, 1954

Solche Kooperationen und ihre Auswirkungen auf das Bauen sind von der Architekturgeschichtsschreibung bislang noch wenig beachtet worden. Doch wer »macht« Architektur, wer ist an jenem gesellschaftlichen Phänomen beteiligt, das wir »Baukultur« nennen? Ansätze zu einer kultur-, sozial-, genderoder umweltgeschichtlichen Historiografie der Architektur sind gleichwohl vorhanden, die Kollaboration, Konflikte und Partizipation untersuchen; zu nennen sind so verschiedene Studien wie »Raum, Macht, Differenz«, »Colonialism and Modern Architecture in Germany«, »Metamorphosen des Abfalls«, »Geordnete Gemeinschaft«, »›Entartete Baukunst?‹«, »Graue Architektur« oder »›Schade, daß Beton nicht brennt…‹« sowie Aufsatzbände wie »Neue Tradition«, »Zwischen Traum und Trauma« oder Bände der Reihe »wohnen +/- ausstellen«.5 Auf ganz unterschiedliche Weise gelingt es den Autor/-innen 5 | Vgl. Kuhlmann 2003; Osayimwese 2017; Hauser 2001; Kuchenbuch 2010; Blümm 2013; Haumann 2011; Boucsein 2010; Krauskopf/Lippert/Zaschke 2009/2012; Düwel/Monninger 2011; Nierhaus/Nierhaus 2014; Nierhaus/Heinz 2016.

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hier, nicht nur heterogenes Quellen- und Diskursmaterial aus der Geschichte des Bauens zusammenzuführen, sondern auch die akteursbedingte Differenz für unterschiedliche Perspektivierungen zu nutzen. Diese Beobachtung lässt sich auch bei der Konzeption der Darmstädter Gespräche zu Architektur und Gebrauchsdesign 1951 und 1952 machen. Wieder war es Bartning, der einen interdisziplinären Austausch zu Fragen der Zeit organisierte – initiiert worden war diese Art des Austauschs freilich von der Darmstädter Sezession als Begleitprogramm ihrer Ausstellung »Das Menschenbild unserer Zeit« 1950. Im Bewusstsein, dass die Gespräche den Charakter einer Zeitdiagnose tragen, publizierten die Veranstalter die Transkripte der auf Tonbändern festgehaltenen Gespräche einschließlich der Publikumsreaktionen (!). Kongressakten wie diese sind ein wertvolles, gleichwohl kaum untersuchtes Quellenmaterial für die Architekturgeschichte und die ihrer Akteure und Netzwerke. Ausgangspunkt solcher Forschung sind oft biografische Untersuchungen. Auch die Tagung hatte ihre Voraussetzung in einer monografischen Arbeit, nämlich der Untersuchung von Leben, Werk und Nachlass Schneider-Eslebens für eine Ausstellung zu dessen 100. Geburtstag.6 Dabei hatten sich gesellschaftsbezogene Forschungsfelder geöffnet, die über eine Biografie hinausgingen, jedoch im Werk Schneider-Eslebens verankert sind: die akademische Lehre jener Zeit, die Publikationsstrategien mittels Fotografien und Fachzeitschriften, die Kooperationen mit Vertreter/-innen aus Wirtschaft und Kunst oder die historische Topografie von Bauplätzen der Nachkriegsjahre.7 Ausgehend von diesen Ansätzen wurde im Call for Paper der Tagung nach Akteuren, Narrativen, Praxen, Orten, Milieus, Entwürfen und kreativen Strategien gefragt, die über die Person hinaus auf das weisen, als was sich Architektur und Gesellschaft verstehen, gerade in einer Zeit forcierten Wandels nach dem (verlorenen) Zweiten Weltkrieg. Während der Konzeptionsphase der Tagung hatte sich der Fokus von ›Nachkriegsarchitektur‹ hin zu ›Architektur der Nachkriegsgesellschaft‹ verschoben, vor allem, um mehr Akteuren mehr Raum zu verschaffen, aber auch aufgrund von Zweifeln am Begriff. Denn betont der Name nicht viel zu sehr eine Zäsur und verschleiert er nicht doch den Blick auf die vorhergehenden Jahre? Und wann war überhaupt Nachkriegszeit? Denn je nachdem, ob man Fragen an Politik, Wirtschaft oder Architektur stellt, liegen Zäsuren an anderer Stelle: Krieg und NS-System endeten um den 8. Mai 1945, doch das, was man unter Kriegswirtschaft versteht, dauerte in ihrer Abwicklung länger. Die politische Umstellung auf deutsche Eigenregierungen dauerte bis 1949. Daher 6 | »Paul Schneider-Esleben. Architekt«, Ausstellung im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne vom 16. Juli bis 18. Oktober 2015. 7 | Vgl. Lepik/Heß 2015.

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wird in der Geschichtswissenschaft die Zeit nach 1945 in zwei Phasen unterteilt: das Interregnum der Besatzungsmächte 1945 bis 1949 und die Zeit der Existenz von BRD und DDR bis 1990. Für die Architekturgeschichte scheint es jedoch kein Enddatum zu geben, auf das sich alle einigen können. Kolleg/-innen in Großbritannien lassen die Nachkriegszeit mit dem Ende der Ära Thatcher (1979–1990) zu Ende gehen.8 In der deutschen Forschung gibt es verschiedene Vorschläge: Aus der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der BRD leitet sich 1949 bis 1957 ab, als mit dem Ende der zweiten Legislaturperiode des Bundestages nicht nur eine politische, sondern mit dem ersten Konjunkturzyklus der Nachkriegszeit auch eine wirtschaftliche Einheit zu Ende gegangen sei.9 Doch man könnte ebenfalls das Jahr 1960 ansetzen, als im Westen mit dem Ende der Zwangsbewirtschaftung wieder ein freier Wohnungsmarkt entstand. Oder, unter gesellschaftspolitischer Perspektive, das Jahr 1968 mit seinen Konsequenzen für die Architekturausbildung. Das Anfangsjahr 1945 scheint zwingend, obgleich es architektonisch betrachtet keinen Anfang zu bieten hat. Wenn man die Entwürfe für den Wiederauf bau Münchens betrachtet, wie sie Winfried Nerdinger in der Ausstellung »Auf bauzeit. Planen und Bauen, München 1945–1950« 1984 zusammengestellt hat, wird – außer das nun wieder verschiedene Richtungen erlaubt waren – bei den Entwürfen im neoklassizistischen oder Heimatstil kein Bruch erkennbar. Moderne Entwürfe hingegen nehmen das Neue Bauen oder den Industriebau auf.10 Nachkriegsarchitektur, so scheint es, ist keine klar abgrenzbare Epoche der Architekturgeschichte, was es schwierig macht, belastbare Forschungsfelder abzustecken. Es wird deshalb vorgeschlagen, die Architektur nach 1945 nicht mehr ›Nachkriegsarchitektur‹ zu nennen, sondern auch sie als ›Architektur der Moderne‹ zu bezeichnen. Dafür spricht auch das Übergewicht der Kontinuität bei den Akteuren von »Weimar« bis nach Bonn und Ost-Berlin. ›Nachkriegsarchitektur‹ wäre dann genau genommen Rekonstruktionsarchitektur, Folgenbeseitigungs- und Wiedergutmachungsarchitektur, die wiederaufgebauten Stadtzentren, Mahnmäler sowie die massenhaft weiter genutzten Lager.

8 | Mitteilung des Architekturhistorikers Alistair Fair, University of Edinburgh, während der Jahrestagung der Society of Architectural Historians in Glasgow 2017. 9 | Vgl. Schulz 1994, S. 21. 10 | Nerdinger 1984.

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Z u den B eitr ägen des B andes Vier Sektionen gliederten die in Deutsch oder Englisch vorgetragenen Präsentationen. Im Buch werden diese Einteilung sowie die englische Sprache beibehalten. Im Folgenden werden die Beiträge vorgestellt. Dabei wird die geschlechtergerechte Schreibweise nicht weiter genutzt, da es sich bei den untersuchten Akteuren vor allem um männliche Personen und Gruppen handelt oder sie als solche gedacht wurden.

A k teure und N e t z werke : I nterdisziplinarität und Ö ffentlichkeit Im ersten Aufsatz gibt Nicole de Togni einen instruktiven Einblick in die Nachkriegsarchitektur Italiens. Das breite Akteursspektrum, das die Autorin vorstellt, entstand durch die Zusammenarbeit von Architekten mit Vertretern der amerikanischen Besatzungsmacht, Soziologen und Anthropologen. Italien partizipierte seit 1945 am 1943 ins Leben gerufenen Programm United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) – in Deutschland wurden später Organisationen der Displaced Persons aufgenommen –, wodurch nicht nur die Flüchtlingshilfe, sondern auch der italienische Wiederauf bau von den Vereinten Nationen unterstützt wurde. De Togni zeigt den Beitrag von UNRRACasas auf, also der Exekutive von UNRRA, die ein low-cost housing programm auflegte. In seiner Realisierung, geleitet von Gustavo Colonnetti und Adriano Olivetti, zeigt sich weniger eine »Amerikanisierung«, sondern die Fähigkeit der italienischen Akteure, Wohnungsbaupolitik und Präfabrizierung verschiedenen sozialen Bedingungen im Norden und im Süden Italiens anzupassen. Silke Langenberg stellt ein Forschungsprojekt vor, welches die Architektur in Nordrhein-Westfalen zwischen 1946 und 1976 durch eine Auswertung ihrer Rezeption in Bauzeitschriften und der zeitgenössischen Fachliteratur untersucht. Sie analysiert regionale, politische und biografische Zusammenhänge zwischen Architekten und Redakteuren und zeigt deren Einfluss auf das Architekturgeschehen der Nachkriegszeit. Durch diese Vorarbeiten wird ein zahlenmäßig großes Netzwerk aus Architekten und Journalisten namentlich sowie durch seine Themen- und Schwerpunktsetzungen wieder greif bar. Kirsten Wagner untersucht die Rede Martin Heideggers auf dem Darmstädter Gespräch 1951 unter dem Titel »Bauen Wohnen Denken« im Licht der Wohn- und Architekturdebatten der 1950er- und 1960er-Jahre. In diesen ist auch die Rezeption durch die französische Stadtsoziologie, insbesondere durch Paul-Henry Chombart de Lauwe und Henri Lefebvre, nachweisbar. Verstärkt durch Impulse aus Psychologie und Anthropologie wurde dort der Bewohner zu einem zentralen Akteur von Architektur erklärt. Wagner diskutiert, wel-

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chen Einfluss die geistes- und sozialwissenschaftlichen Zugänge zur Architektur auf die Praxis und das Selbstverständnis von Architekten hatten, sowie – umgekehrt – inwiefern letztere bereit waren, innerhalb des funktionalen Wohnungs- und Städtebaus die alltäglichen Praktiken des Wohnens in die Planung zu integrieren.

A rchitek ten in der G esellschaf t : W ohnhäuser , W ieder aufbau , Theorie , D ebat ten Elke Nagel setzt sich mit Hans Scharouns Wohnhäusern für Stuttgart und Böblingen auseinander, die dieser im Auftrag der Wohnungsbaugenossenschaft Universum Treubau zwischen 1952 und 1966 errichtete. Nagel, die damit die Ergebnisse einer umfassenden Bauforschung an den Gebäuden in einen größeren Zusammenhang stellt, profiliert Scharouns Bedeutung für den Wohnungsbau der Nachkriegszeit wie auch die Besonderheit des von zukünftigen Bewohnern begleiteten Entwurfs von Eigentumswohnungen in Hochhäusern als neuem Bautyp der Nachkriegszeit. Scharoun hat dabei zwar die Typisierung als technisch-wirtschaftliches Mittel genutzt, jedoch zugleich durch Grundrissmischungen Monotonie vermieden. Martin Kunz stellt Otto Ernst Schweizer in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und zeigt dessen Wirkung auf seine Studenten an der TH Karlsruhe auf. Diese Schülergruppe ist vor allem durch Schweizers Konzepte zur Neustrukturierung der Städte geprägt. Kunz, der den Nachlass Schweizers erforscht, gewährt einen neuen Blick auf die Bedeutung dieses Architekten und sein Umfeld, der durch seine Mitgliedschaft in Wiederauf baugremien und Teilnahme in Preisgerichten den Wiederauf bau kriegszerstörter Städte im Südwesten Deutschlands geprägt hat. Monika Stromberger zeichnet die Situation des Wiederauf baus und der Stadtentwicklung in der Steiermark und in Graz auf. Sie weist die Verbindung zwischen dem 1909 gegründeten »Verein für Heimatschutz in Steiermark«, dem eine breit gestreute Gruppe von Akteuren angehörte, und Architekten im Einflussbereich der sich internationalen Strömungen öffnenden Technischen Universität Graz auf, vor allem Friedrich Zotter und Karl Raimund Lorenz. Ihre Beziehung gestaltete sich weniger ambivalent, als das in Deutschland der Fall war, sondern vielmehr in wechselseitiger Beeinflussung. Bei Projekten mit städtebaulicher Relevanz für das zerstörte Graz wie das Elisabethhochhaus von Zotter und Lorenz kam es vor allem zu Debatten, da es auf der »falschen« Stadtseite stand. Der Einteilung von international-moderner und traditionellheimatbezogener Architektur konnte auch die Teilung des Territoriums jenseits von Alt- und Vorstadt entsprechen – ein bisher wenig untersuchter Aspekt der Nachkriegsarchitektur.

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Carmen Enss diskutiert in ihrem Beitrag die Bedeutung, Herkunft und Praxis von Baupflege durch Behörden, Vereine und Gestaltungsräte sowie ihre Wirkung beim Wiederauf bau in Rothenburg o.d. Tauber und in München. Diese Bemühungen zur Tradierung bürgerlicher Baukultur werden in Übereinkünften und Kontroversen zwischen Architekten und anderen Experten sowie den Vertretern von Kommunalpolitik und Besatzungsmacht greif bar. Mithilfe des Begriffs der Baupflege, angesiedelt zwischen Denkmalpflege und Wiederauf bau, diskutiert Enss die Aushandlung der Reparaturen zerstörter Altstädte und ihre Bedeutung für »Altstadt-Produktion«; das ist ebenfalls ein kulturgeschichtlich ausgearbeiteter Begriff, der über Kategorien der Architekturgeschichte hinaus auf sozialgeschichtliche Zusammenhänge verweist.

B erufsstand im W andel : P r a xis , I deologie , R eligion , H ochschule Ralf Liptaus Beitrag beleuchtet einen wichtigen Aspekt der Entwurfspraxis von Architekten nach 1945: Er untersucht die Projektgenese durch das plastisch aus Ton und Plastilin gefertigte Modell in der Nachkriegszeit. Die Anfänge freier Formfindung am Bauhaus beleuchtend, legt Liptau dar, wie geknetete Modelle in der Nachkriegsmoderne nicht nur ein neues Selbstbild der Entwerfer widerspiegelten, sondern auch zu neuer Formfindung führten. Daran diskutiert er das für die Nachkriegsarchitektur zentrale Thema der Ambivalenz von Innovation und Kontinuität. Johannes Warda untersucht die Selbstkonzeption der Akteure der Denkmalpflege in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und kommt dabei zu neuen Erkenntnissen über ihre Beteiligung am Wiederauf bau. Denn anders als bisher gesagt, dehnten Denkmalpfleger ihre auf Konservierung und Restaurierung beschränkte Theorie bis auf utopische Vorstellungen von Entwurfspraxis und Stadt aus. Warda demonstriert, wie solche bereits während des »Dritten Reichs« als Bestandteil der »Kriegsdenkmalpflege« entstanden waren. Während nach Kriegsende in den Schriften einiger Akteure eine Kontinuität völkisch-kultureller und rassistischer Ideen aus der Heimatschutzbewegung nachweisbar ist, zeigte sich bei anderen die Forderung nach demokratischer Aushandlung denkmalpflegerischer Entscheidungen. Marko Špikić stellt die Frage nach dem Einfluss der Politik Josip Titos auf die Architektur in Nachkriegsjugoslawien, die durch die Vertreibung der italienischen Bevölkerung und die Verstärkung eines slawischen Nationalismus einen socio-anthropological turn bewirkt hat. In die Analyse des Wiederaufbaus der kroatischen Städte Split, Šibenik, Zadar and Zagreb bezieht Špikić ein breites Akteursfeld bestehend aus Kunsthistorikern, Denkmalpflegern, Architekten und Künstlern ein, die Titos sozialistische Doktrin unterstützen. Da-

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für wurden die Vergangenheit korrigierende Eingriffe in die (kriegszerstörte) Stadtgestalt vorgenommen und modernistische Zeichen sozialen Fortschritts gesetzt, die die versprochene kommunistische Utopie antizipieren sollten. Alexandra Klei wirft in ihrem Beitrag Licht auf eine wichtige Akteursgruppe der Architekturgeschichte der Nachkriegszeit: die in der BRD tätigen jüdischen Architekten. Diese Gruppe ist bis heute übersehen worden, auch aufgrund ihres Ausschlusses aus den damaligen Medien und Diskursen der Architekten – Klei verweist darauf, dass in keiner Architekturzeitschrift jener Zeit jüdisches Bauen dokumentiert worden ist. Daher ist diese Forschung auf private und kommunale Archive angewiesen (der Nachlass Hermann Zvi Guttmanns wird in Zukunft im Archiv des Leo Baeck Institute in Berlin verwahrt). Die Autorin gibt anhand der Rekonstruktion des Bauprozesses der Synagoge in Würzburg einen instruktiven Einblick in die Kontroversen zwischen der jüdischen Gemeinde, ihrem Architekten und der Öffentlichkeit, repräsentiert durch die Stadtverwaltung. Der Beitrag macht deutlich, mit welchen Schwierigkeiten im »Dritten Reich« verfolgte Juden und Jüdinnen in der Bundesrepublik auch in der Berufsausübung zu tun hatten. Am Beispiel des damaligen Bürgermeisters von Würzburg, eines ehemaligen SS-Mitglieds, werden Konflikte beim Bauen hervorgehend aus der Kontinuität antisemitischen Denkens beleuchtet. Mark Escherich legt in diesem Band eine gruppenbiografische, vergleichende Studie vor, die Wirkungen traditionalistischer Architektenausbildung auf die Nachkriegsarchitektur in der südlichen DDR untersucht. Auf Grundlage der Auswertung von 60 Architektenbiografien rekonstruiert Escherich Stellung und Netzwerke von Absolventen aus Stuttgart und aus Weimar. Er weist auf eine Ambivalenz zwischen Traditionalismus und Modernismus hin, die, unter anderen Vorzeichen, auch exemplarisch für die Nachkriegsarchitektur im Westen ist: Wo Vorfertigung und Typisierung der Architektur weniger griffen, entwickelten traditionalistisch geschulte Architekten ihre Netzwerke; bei individuell-gestalterischen Aufgaben, vor allem beim Bau von Kirchen und Einzelwohnhäusern, sowie in der Denkmalpflege. Der Autor richtet den Blick auf die Wirkung der Lehre von Paul Schmitthenner, Heinz Wetzel und Paul Schultze-Naumburg und fügt damit der Forschung zu Architekturschulen ein neues Kapitel hinzu.

J enseits des N ationalen : Tr ansformation , E thos , E ntgrenzung Olaf Gisbertz untersucht den transatlantischen Architekturtransfer, also die Vermittlung von US-amerikanischer Theorie und Praxis in den deutschen Westen. Dabei streicht er die zentrale Rolle von Person, Werk und Theorie

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von Walter Gropius nach 1945 heraus. Dieser war zunächst als Theoretiker zu ethischen Fragen der Architektur und eines erneuerten Zusammenlebens in Nachbarschaften gefragt. Gisbertz untersucht nicht nur Gropius’ Wirken als Architekt bei Interbau und Gropiusstadt sowie als Gutachter für die amerikanische Besatzungsbehörde und in bundesdeutschen Wettbewerben. Er betont auch die Vorbildfunktion von The Architects Collaborative, der Gropius vorstand, für Teamarbeit und Diversifikation in deutschen Büros der Nachkriegsjahre. Rachel Julia Engler beleuchtet ebenfalls das Verhältnis von USA und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar anhand der Beziehung von Frank Lloyd Wright und J.J.P. Oud. Oud organisierte 1952 eine Retrospektive von Wrights Lebenswerk im kriegszerstörten Rotterdam in der Ahoy’-hal von Jo van den Broek und Jaap Bakema. Engler beschreibt die Ausstellung und beleuchtet dabei die ambivalente Beziehung zwischen Wright und Oud. Wright zeigte sich unbeeindruckt von den Bombenschäden am Ort seiner Ausstellung, Oud wiederum kritisierte Wrights Inszenierung als Meister sowie die Nachahmung von dessen Baustil. Durch die Untersuchung der Rezeption der Ausstellung in der Presse gelingt es Engler zu zeigen, dass Kritik an Wright auch in der Öffentlichkeit geteilt wurde. Ein Land, dessen Architektur bekanntlich Vorbildfunktion für die westdeutsche Nachkriegsarchitektur hatte, war die Schweiz. Elena Markus zeigt, dass die Phase des Architekturtransfers der Suche nach einer humanen Haltung auf dem Feld der Architektur entsprang und nur von kurzer Dauer war. Schweizerischen Architekturausstellungen kam dabei eine wichtige Rolle zu. Markus weist ihre Funktion in der Selbstdarstellung der Schweiz nach und unterstreicht die Bedeutung des Konzepts »Bescheidenheit« für eine demokratische Architektur. Die Autorin dreht die Perspektive um und liefert Befunde aus der Binnenperspektive der Schweiz. Sie benennt die Faktoren ihrer Selbstdarstellung innerhalb der »Geistigen Landesverteidigung«, exemplarisch vorgeführt auf der Schweizerischen Landesausstellung 1939, die nach 1945 auch im Ausland propagiert wurden. In der Rückschau zeigt sich jedoch, so Markus, dass diese langfristig weniger erfolgreich waren, als die Zeitgenossen in der Nachkriegszeit gedacht hatten. Zum Schluss diskutiert Regine Heß neue Ansätze aus Museum, AkteurNetzwerk-Theorie und Architektursoziologie zur Erforschung von Architektur und Akteuren in der Nachkriegszeit. Für die Aufweitung vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural kann auf methodische Ansätze aus der kuratorischen Praxis, der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und der Architektursoziologie zurückgegriffen werden. In bio- wie prosopografisch konzipierten Architekturausstellungen lassen sich Medien, Dinge und Artefakte organisieren und Akteure durch Oral History-Interviews dazu schalten. Ausstellungen sind im Vergleich zu linearen Biografien horizontale Wissensplattformen, die

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neue Verknüpfungen und Schlussfolgerungen erlauben. Bruno Latours ANT definiert den Akteursbegriff bekanntlich neu und liefert damit, so die Autorin, eine erweiterte Beschreibungsmethode. Akteur-Netzwerke als Grundeinheit des Sozialen sind nur ephemere ›Assoziationen‹. Die Betonung von Prozesshaftigkeit und Instabilität als Teil der ANT fordert Vorstellungen von Kontinuität und Wandel in der Nachkriegsgesellschaft heraus. Heß diskutiert ferner die Thesen der Soziologin Heike Delitz. Diese bieten durch ihre sorgfältig argumentierte Verschränkung von Architektur- und Gesellschaftstheorie eine weitere Chance zur Öffnung des Feldes für die Erforschung der Beziehung von Architektur und Gesellschaft.

D ank Die Herausgeberin dankt allen Mitwirkenden, vor allem den Autorinnen und Autoren. Darüber hinaus geht der Dank an den Inhaber des Lehrstuhls für Architekturgeschichte und kuratorische Praxis, wo die Tagung konzipiert wurde, an Andres Lepik, sowie an die Kolleginnen und Kollegen, besonders Inge Oberndorfer, Rike Menacher, Marlies Blasl, Anja Schmidt, Ester Vletsos und Toni Heine. Gabriella Cianciolo Cosentino, Iris Lauterbach und Tobias Zervosen haben die Vorträge und die Diskussionen auf der Tagung moderiert, wofür ihnen ebenfalls herzlich gedankt wird. Clara Bergado Pedruelo hat Flyer und Plakat gestaltet und bei der Tagungsvorbereitung geholfen, ebenso wie Hanna Böhm, die auch bei der Produktion des Tagungsbandes half. Ihnen beiden sowie der Lektorin Veronika Gromes, die zusammen mit der Herausgeberin die Redaktion des Buchs verantwortet hat, sowie den Lektoren Stefan Füssl, Karl Hughes und Samuel Trachtenberg gilt ebenfalls Dank. Die Student/-innen des von Anja Schmidt und mir im Sommersemester 2017 veranstalteten Seminars »Nachkriegsarchitektur ausstellen. Bauprojekte aus dem Archiv«, Júlian Bustamante, Emilie Andreassen, Leonardo Lella und Regina Schwarz, bereicherten die Tagung durch eine eigens konzipierte Ausstellung. Aufsatzband und Tagung wurden aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert, wofür Holger Eggemann herzlich gedankt wird. Die Fakultät für Architektur der Technischen Universität München hat die Tagung ebenfalls unterstützt, wofür der Dank Hanne Deubzer, Yolande Hoogendoorn, Martin Luce und Gabriele Zechner gilt.

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Regine Heß

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Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS 1 Ideologies, Models, and Actors for Architecture and Society Nicole De Togni

After the Second World War, reconstruction in Italy was characterized by the participation of a multitude of actors with diverse interests and approaches and no unified plan. This was a moment of redefinition of tasks, tools, and disciplinary borders in architecture and planning, including a deep rethinking of urban imagery. A number of coeval conferences, exhibitions, and publications mirror this climate. In 1945, the National Liberation Committee (CLN)2 organized the “First National Conference on the Reconstruction” (“Primo convegno nazionale per la Ricostruzione edilizia ”) in Milan and the related “Exhibition of Reconstruction. The CLN at Work” (“Mostra della Ricostruzione. I CLN al lavoro”; (Fig. 1).3 They introduced and discussed assessments of the current situation and the programs promoted by different professionals, groups, and institutions. The publication of the contributions to the conference is contained in thirteen booklets, including 112 papers together with the shorthand reports of the discussions and the full text of the motions proposed and agendas. Renowned architects, planners, engineers, and technicians, as well as delegates from public 1 | My research on the United Nations Relief and Rehabilitation Administration program in Italy is currently funded by Fondazione Fratelli Confalonieri with a one-year-long post-doc research fellowship. Together with Patrizia Bonifazio, I launched the research on UNRRA in 2015. 2 | The National Liberation Committee (Comitato di Liberazione Nazionale) was the mixed political group leading the country in the immediate postwar period. 3 | The exhibition started on September 1, 1945, and the conference took place from December, 14 to 16, 1945. The catalogue was published in 1946: Convegno nazionale per la ricostruzione edilizia, Rassegna del primo convegno nazionale per la ricostruzione edilizia.

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and private institutions at the national, regional, and local levels introduced their considerations and proposals on aspects of the reconstruction varying from national policies to local initiatives, and from technical considerations on Fig. 1: Mostra della Ricostruzione. I CLN al lavoro, 1945 (poster)

building materials to housing models and references. There was a focus on the institutional actors in the publications of the National Planning Institute4 Esperienze urbanistiche in Italia (1952) and Nuove esperienze urbanistiche in Italia5 (1956), profiling those dealing with national housing programs6, land reform, and land reclamation (Fig. 2). Each of these actors promoted different housing and planning models, dynamics of transformation and urban growth, action 4 | The National Planning Institute (Istituto Nazionale di Urbanistica, INU) was founded in 1930 to promote building and planning studies and to disseminate the principles of planning. Cf. the Statute, approved with the Italian Presidential Decree n. 1114, November 21, 1949, which also defines INU as a legally recognized institution of technical coordination. 5 | [Planning experiences in Italy, New planning experiences in Italy]. 6 | The programs of UNRRA-CASAS, Ina-Casa, Incis and the Istituti Autonomi per le Case Popolari are described in both the publications, monitoring their activities over four years.

Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS

plans and funding mechanisms, relationships between the public and private sectors, as well as different social models. Fig. 2: Istituto Nazionale di Urbanistica: Esperienze urbanistiche in Italia, 1952, and Nuove esperienze urbanistiche in Italia, 1956 (front covers)

In the immediate postwar period, many actors also sought to raise – more or less officially – the Italian awareness of foreign planning experiences. The United States Information Service dedicated three bulletins to the reconstruction in Italy: the issues Ricostruzione urbanistica, Primo/Secondo/Terzo bollettino sulla risoluzione dei problemi urbanistici negli Stati Uniti7 (1946) were distributed for free all over Italy and included an American press review on the topics of urban and planning studies and projects, as well as renovation, researches and statistics, economic and legal issues, congestion, and infrastructures. The journal Ricerca scientifica e ricostruzione 8 (1945–1947), published by the National Science Research Council (Consiglio Nazionale delle Ricerche, CNR), reported the latest results of Italian scientists in all fields but also summarized recent developments in a series of articles on architecture, planning and building experience, experiments, and models from abroad. The National Science Research Council was founded in 1923 – with a Royal Decree by Vittorio Emanuele III – to represent the Italian scientific community on the International Research Council. With the Statute of 1924, its purposes were defined as the coordination and enhancement of national research activities in different scientific branches and their applications, the interaction with national institutions con7 | [Urban reconstruction. First/Second/Third bulletin on the resolution of planning problems in the United States]. 8 | [Scientific research and reconstruction].

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cerning scientific matters, and the management and promotion of research laboratories and centers. With the reorganization following the end of the Second World War, the goal of CNR became to promote, coordinate, and discipline the Italian scientific research, while acting as an advisory body to all the technical and scientific activities of the state. The Manuale dell’architetto 9 (1946) itself – published by the CNR with the support of the United States Information Service – can be read as a point of contact between the national interest in promoting research and experimentation in the fields of standardization and typology while structuring a practical building culture in the sector and the socio-political intentions linked with US economic aid in the reconstruction. The purpose of this handbook was to take stock of the building sector and to provide a shared basis for involving untrained workers in the process: theoretical references, practical tools, and proposed models are mostly rooted in the Italian context but at the same time provided a conduit for cross-Atlantic influences. This context, characterized by the strong desire to reform planning tools, housing models, and strategies in line with local input while simultaneously taking account of international trends10, was the framework in which Italian accession to the United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) was set. UNRRA was established by agreement of 44 nations on 9 November 1943 to “plan, co-ordinate, administer or arrange for the administration of measures for the relief of victims of war in any area under the control of any of the United Nations through the provision of food, fuel, clothing, shelter, and other basic necessities, as well as medical and other essential services” (Agreement 1943). It was founded prior to the founding of the United Nations (UN) intergovernmental organization and became part of it in 1945. In July 1944, UNRRA sent a mission to Italy11 to evaluate the need for humanitarian assistance: a few months later, a plan of aid was initiated and in March 1945 UNRRA and the Italian Government signed an agreement securing support from UNRRA of 50 million dollars worth of goods and services. The support was at first limited to care of mothers and children, assistance to refugees to facilitate their return home, procurement of medicines, and health assistance. Some of the goods could be sold to generate a special fund (“Fondo Lire”) for immediate disposal in emergencies.

9 | [The Architect’s handbook]. 10 | For the relationship between Italy and USA in the post war architecture and planning, see Harper 1987; Scrivano 2013. 11 | On the UNRRA’s mission to Italy, see UNRRA 1946a; Woodbridge 1950; Talamona 2001; Peruccio 2005.

Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS

The progress of UNRRA’s work in Italy – and in particular its preliminary analysis – were reported in a series of papers issued between 1946 and 1947 by the UNRRA European Regional Office/Division of operational analysis, based in London (cf. UNRRA 1946b, 1947a, 1947b, 1947c, 1947d, 1947e, 1947f, 1947g, 1947h). The forewords to all the papers except the first one share the statement that “Resolution 88 of the UNRRA Council authorises and requests the United Nation Relief and Rehabilitation Administration ›to furnish to the United Nations reports on the work of the Administration and the progress made towards economic rehabilitation in the countries assisted by the Administration.‹ […] The papers are based mainly upon information received from UNRRA Missions and from the Governments to which they are accredited.”

In the preface of UNRRA’s welfare programme in Italy Part 1 – the first Operational Analysis Paper concerning Italy – we can read that “It is felt […] that the material provided will be helpful to students of relief questions and to those interested in the broader problems of post-war economic reconstruction.” (UNRRA 1946b: preface) Out of the series of the Operational Analysis Papers, two additional general surveys of the Italian economy were published by UNRRA (cf. Consiglio generale dell’UNRRA 1946; UNRRA Italian Mission 1947) showing a general policy based on a preliminary analysis of the broader economic situation of the countries in which UNRRA was acting (Fig. 3). Fig. 3: Italy’s total foreign trade with certain countries (with percentage contributed)

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Shortly after the signing of the agreement between UNRRA and the Italian Government, Guido Nadzo set up a program for the building of experimental, low-cost housing to be realized using refugee labour, local supplies, and rubble, as well as free transport of building materials. Restoration of damaged buildings was also part of the program. In 1945, a second plan of aid to Italy was set up, this time for an amount of 450 million dollars and without limitation on food and health assistance. This funding, together with the success of the program by Nadzo, allowed for a substantial housing program to be implemented. Nadzo was one of the members of the mission – together with Antonio Sorieri and Spurgeon M. Keeny – which UNRRA sent to Italy in 1944 to evaluate the need for humanitarian assistance. He was initially responsible for the Refugee Unit of the mission, and, following this, for the Special Programs of Assistance Unit, dealing with housing programs until his return to USA in 1955. He authored a series of detailed analyses on Italian housing stock, the damage to it and necessary interventions between 1946 and 1947, participated in the discussion of Gustavo Colonnetti’s homelessness rescue centre, the Centro Autonomo Soccorso Ai Senzatetto (CASAS)12, and supported it as an independent institution.13 Colonnetti was an engineer and had been Dean of Turin Polytechnic in the 1930s. He was appointed to organize the program.14 He was the executive director of the National Science Research Council, which, after the exile in Switzerland during the war, he completely reorganized, focusing on the issues of reconstruction, prefabrication, and standardization. He instituted the creation of research centres around the country and was also one of the main promoters of the “First National Conference on the Reconstruction” in Milan and the “Architect’s Handbook”, as well as of two important exhibitions on prefabrication in collaboration with the United States Information Service. The aims of the CASAS program included the building of low-cost houses to be realized through local material and labour as well as in keeping with local traditions and landscape, the restoration of damaged buildings, support to local artisans and small industries, funding, and free transport of building materials. The first interventions, following preliminary analysis, had to be localized in Tuscany and Emilia – along the Gothic Line – and in Lazio and Abruzzo – along the Gustav Line – which were the most damaged areas in the country. The debate on the independence of CASAS from all national control was passionate: Colonnetti and Nadzo advocated its status as autonomous institu12 | [Independent Aid for the Homeless]. 13 | When UNRRA left Italy, Nadzo continued his work in the Economic Cooperation Administration (ECA) mission. 14 | See Peruccio 2005.

Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS

tion, linked with CNR and with direct spending powers, but in the end UNRRA-CASAS (renamed ‘Administrative Committee’ instead of ‘Autonomous Centre’) was established, on May 8, 1946, as an executive structure of the Italian Delegation to UNRRA. By December 1945, during the “First National Conference on the Reconstruction”, some considerations were presented concerning the potential of the UNRRA-CASAS program (see Bongioannini 1946). In a situation characterized by the still incomplete census of the lost and damaged properties and by the related need for a practical and rapid housing program, free from bureaucratic and political constraints, the already built and under-construction cost-effective housing was seen as a tangible and promising result. Moreover, the contacts to the National Science Research Council in originating an efficient construction plan under the name of UNRRA-CASAS and in collaboration with the interested ministries, municipalities, and the Department of Civil Engineering were seen as the right path to organising an efficient housing program. One billion Lire was assigned for the first six months of construction, and the activities of CASAS were designated as of public utility, thus ensuring the right of eminent domain. Nadzo elaborated four typologies of cost-effective housing, based on a structure of two floors and two apartments per floor, to be grouped in small, semirural villages. But at the end of the period, the results were hardly commensurate with the projected buildings, and the sustainability and organization of CASAS itself were questioned. Together with the decision of UNRRA to conclude its European operations in 1947, this led to a reorganization of CASAS: the Italian Delegation to UNRRA was replaced by the more generic Administration of International Aid (AAI), which was charged with coordinating the interventions in the building sector, using the technical input provided by the Ministry of Public Works. Two committees were set up within CASAS: the first, chaired by the president of CNR, was in charge of the execution of works, while the second was assigned to managing finances. After the end of the UNRRA mission in Italy, in 1948, the European Recovery Program (or Marshall Plan) was initiated, and the ECA mission was entrusted with its implementation in Italy. The ECA followed the directions of UNRRA in the building sector, devoting a significant part of the “Fondo Lire” to the realization of “Housing for Everyone”. However, at least in the first year, the mission supported mass housing by funding the national program Ina-Casa15 and assisting private initiatives. It was only in 1950/51 that CASAS was funded

15 | For an overview of the works of Ina-Casa and its significance in the Italian reconstruction, see Di Biagi 2010.

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again, with the establishment of a commission for the economic and social development chaired by Adriano Olivetti16. The CASAS First Committee, chaired by Colonnetti, was in direct contact with the CNR housing research centres. Colonnetti himself set up this network of research facilities (based in Rome, Milan, Turin, and Naples), which were devoted to experimentation with building materials, systems, and technologies, studies on standardization in collaboration with Unification in Industry (UNI), as well as research and improvement of housing models. In anticipation of ERP funding, in 1949, the Research centre on housing appointed the architect Mario Ridolfi to reshape the typical CASAS unit: he elaborated an array of solutions based on a module of 7 x 12 meters, with two floors, one apartment per floor, and with an independent staircase. This module could be enlarged from two to five bedrooms and variously aggregated in combination with storerooms and wash houses. The model houses – which were first mapped in 1950 (cf. Allason 1950), but are still not fully inventoried – are thus at the basis of the interventions involving architects from different generations and with diverging education and training. They redesigned the model houses and intervened in Italian territory through a widespread network of commissioning bodies. Moreover, the intervention of Olivetti in the National Planning Institute – which he directed from 1950 to 1960 – gave rise to interesting experimentation in the field of urban and territorial planning, promoting the construction of villages by a small group of planners. We can thus distinguish two phases of the CASAS program, developed by two institutions – under significant leadership – which gave birth to a radical and substantial process of identity-making in the Italian reconstruction. Concerning the first phase, the organisation of the research centres is an important aspect: the design program proposed by CNR, and partially developed by the research centre on housing, found an incentive toward modernization in the centres situated in the most important Italian universities; the above-mentioned journal Ricerca scientifica e ricostruzione was fundamental in positioning the work of CNR in this sense. Regarding the second phase, the involvement of the National Planning Institute highlights the program of the institution itself. It aimed to establish the fundamental reference for the Ministry of Public Works in the field of planning and social architecture. Through its participation in the CASAS program, the 16 | On the complex industrial, territorial and social project by Adriano Olivetti (cf. Bonifazio 2001 and Bonifazio/Scrivano 2001), it is notable that the United States Information Service solicited, from 1951, the collaboration of Edizioni di Comunità – the publisher chaired by Olivetti – in the selection of significant works of American authors to be translated into Italian (Bonifazio 2001: 131). Concerning the significance of the role of Olivetti in the National Planning Institute, see Di Biagi 2001.

Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS

National Planning Institute entered the debate on reconstruction with precise and semi-original proposals: the topic of ‘villages’ was experimented with in Southern Italy – La Martella in Matera served as a manifesto of the second postwar period in Italy – bringing about the contemporary development of the concept of neighbourhood and the use of social sciences as a design device. In the case of Olivetti, moreover, the UNRRA-CASAS program provided the chance to test the Comunità proposals – the political and cultural movement he founded in 1948, which saw the realisation of communities as the key to uniting spatial modernisation and welfare for the first time in Italy. The direct interest of Comunità is evidenced by the number of protagonists – directly linked to Olivetti – working on different tasks in the realization of La Martella and subsequent rolling out of the program in various Italian regions. In attempting to outline some – inevitably partial – synthetic conclusions, it is important to highlight the Italian management of the UNRRA-CASAS program: the Ministry of Public Works defined the requirements, while Nadzo – representing the American Administration – was a supervisor who ensured the aims of the program were met. The traces of Americanism in the approach to and realisation of projects are not only a result of the proposals of the American Government, but rather of the determination of single protagonists to assume and hybridize models of American culture and – through them – to promote housing policies, experimentation with prefabrication, and processes of modernisation. Thus, the Italian management of the program allows us to highlight hybridisation and oppositions in the realisation of both American and Italian aims. Moreover, the Italian management permitted the survival of the program itself over the duration of UNRRA and ERP in Italy, up to its transformation into the Istituto per lo Sviluppo dell’Edilizia Sociale (ISES)17 from 1967 to 1973, with different actors but playing the same roles in the field of experimentation in social and land development programs. The two phases of the program – under the leading role of two institutions which shared some aims but at the same time had specific interests and tasks – involved different generations of designers and technicians. This is significant when looking at the theoretical and built interventions of the 1950s: from the various biographies on record, we can tell that some features can be associated with different working groups, which included the many protagonists exiled in Switzerland in 1944/45, fostering a network which was to be crucial in the immediate postwar period and allowed for their knowledge of the latest building techniques, prefabrication, and spatial models; the participation in the authorities involved in land reform which had already begun in the 1930s with the reclamation of Italian territory; and the turn to a vernacular architectural lan-

17 | [Institute for the Development of Social Housing].

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guage and a land organization of villages inspired by small traditional centres to build a national identity. To conclude, even if UNRRA-CASAS shared some features with another program in the Italian reconstruction, namely, the INA-CASA. It was strongly experimental and constituted an alternative model for its internal schedule, for the process of realisation, and for the role of the Ministry of Public Works in the definition of the procedures. The involvement of the National Science Research Council and of the National Planning Institute highlights the significance of UNRRA-CASAS in the framework of national reconstruction: in the “First National Conference on the Reconstruction” in 1945, the long list of interventions, including the above-mentioned speech on the potential of UNRRA-CASAS, is a testament to the intensity of the activities, with every institution embodying a particular idea of reconstruction and the related models of development, settlement, and building, even if often the same designers and planners were involved in different programs.

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Italian Postwar Reconstruction and the Contribution of UNRRA-CASAS

Scrivano, Paolo: Building Transatlantic Italy. Architectural Dialogues with Postwar America, Farnham/England 2013. Talamona, Marida: “Dieci anni di politica dell’UNRRA-CASAS: dalle case ai senzatetto ai borghi rurali nel Mezzogiorno d’Italia (1945–1955). Il ruolo di Adriano Olivetti.” In: Olmo, Carlo (ed.): Costruire la città dell’uomo. Adriano Olivetti e l’urbanistica, Torino 2001, pp. 173-204. United Nations Relief and Rehabilitation Administration: UNRRA aids Italy, Rome 1946 [UNRRA 1946a]. UNRRA European Regional Office: UNRRA’s welfare programme in Italy Part 1: Supplementary feeding of mothers and children [Operational Analysis Paper 6], London 1946 [UNRRA 1946b]. UNRRA European Regional Office: Agriculture in Italy [Operational Analysis Paper 43], London 1947 [UNRRA 1947a]. UNRRA European Regional Office: Industrial rehabilitation in Italy [Operational Analysis Paper 37], London 1947 [UNRRA 1947b]. UNRRA European Regional Office: Italy’s balance of payments in 1947 [Operational Analysis Paper 26], London 1947 [UNRRA 1947c]. UNRRA European Regional Office: Money and banking in Italy [Operational Analysis Paper 42], London 1947 [UNRRA 1947d]. UNRRA European Regional Office: The food situation in continental Europe [Operational Analysis Paper 41], London 1947 [UNRRA 1947e]. UNRRA European Regional Office: Transport rehabilitation in Italy [Operational Analysis Paper 38], London 1947 [UNRRA 1947f]. UNRRA European Regional Office: UNRRA in Europe 1945–1947 [Operational Analysis Paper 49], London 1947 [UNRRA 1947g]. UNRRA European Regional Office: UNRRA’s welfare programme in Italy Part 2 [Operational Analysis Paper 34], London 1947 [UNRRA 1947h]. UNRRA Italian Mission: Survey of Italy’s economy, Rome 1947. Woodbridge, George: UNRRA: The History of the United Nations Relief and Rehabilitation Administration, New York 1950.

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Das Werk des Architekten und seine Veröffentlichung Zur Einflussnahme von Fachzeitschriften auf das Architekturgeschehen der Nachkriegszeit Silke Langenberg

Im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Nachkriegsarchitektur in Nordrhein-Westfalen am Lehrstuhl für Denkmalpflege und Bauforschung der Universität Dortmund (seit 2008 TU Dortmund) wurde in den Jahren 2000 bis 2003 eine umfangreiche Literaturrecherche durchgeführt.1 Die zwischen 1946 und 1976 in führenden Baufachzeitschriften oder der zeitgenössischen Fachliteratur publizierten Bauten aus Nordrhein-Westfalen sind in einer online verfügbaren Datenbank verzeichnet und mit Informationen zu Baujahr und Ort sowie bibliografischen Angaben und biografischen Informationen zu den Planern verlinkt. Die Verknüpfungen erlauben es, aus der Gesamtmenge recherchierter Bauten Zusammenstellungen nach verschiedenen Gesichtspunkten vorzunehmen. Insgesamt sind seinerzeit fast 3.000 Objekte mit den dazugehörigen Bilddaten und weiterführenden Informationen in die Datenbank aufgenommen worden. Durch die mehrfache Publikation zahlreicher Gebäude wurden im Zusammenhang damit rund 4.200 bibliografische Angaben verzeichnet. Bei den Objekten handelt es sich nicht nur um tatsächlich realisierte Bauten, sondern auch um veröffentlichte Entwürfe oder Wettbewerbsbeiträge jeder Art. Neben den das Objekt betreffenden Baudaten finden sich die Namen von rund

1 | Die Gesamtleitung hatte Uta Hassler inne. Die Autorin war verantwortliche Projektleiterin. Für Vorprojekt und Projektantrag zeichnen Kaja Fischer, Stephan Strauß und Alexander Kierdorf verantwortlich. Weitere Informationen unter: www.nrw-architekturdatenbank.tu-dortmund.de (Aufruf am 1.5.2017).

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Silke Langenberg

2.200 Architekten,2 die zwischen 1946 und 1976 Bauten in Nordrhein-Westfalen geplant oder gebaut haben. Zu fast 700 davon wurden biografische Angaben recherchiert und ergänzt. Ziel des vom Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen geförderten Projektes war es, eine bestehende Lücke in der bibliografischen Zusammenstellung publizierter Architektur für das Bundesland ab 1945 zu schließen. Die Datenbank unterstützt Recherchen zur Architektur der Nachkriegszeit, soll aber vor allem den für die Inventarisierung zuständigen Denkmalämtern als wichtige Quelle dienen. Eine Auswertung des sehr umfangreichen Datenbestandes hat bislang nur ansatzweise stattgefunden. Neben Untersuchungen zum Nachkriegsbestand ausgewählter Städte wurden im Rahmen des Projektes teilweise Analysen zum regionalen Wirken verschiedener Architekten vorgenommen, Wettbewerbsbeiträge genauer betrachtet und Primärquellen bewertet. Im Hinblick auf Architektur und Akteure in der Nachkriegsgesellschaft erscheint insbesondere die Häufung der Veröffentlichungen einiger Architekten in bestimmten Fachzeitschriften interessant, sagt doch die Anzahl publizierter Objekte nur bedingt etwas über Qualität und Umfang des tatsächlichen Werks der Planer aus. Regionale und thematische Schwerpunktsetzungen, grundsätzliche Ausrichtungen der architektonischen Haltung sowie Beziehungen oder Abhängigkeiten von Architekten und bestimmten Zeitschriften sind zu berücksichtigen. Erst auf diese Weise wird deutlich, inwieweit die Redakteure und Journalisten der Fachzeitschriften auf das Architekturgeschehen der Nachkriegszeit Einfluss genommen haben. Die Auswertung der vorliegenden Datensammlung zur publizierten Nachkriegsarchitektur in Nordrhein-Westfalen stellt sicher nur eine von vielen Möglichkeiten dar, sich dem Thema grundsätzlich zu nähern, und ist selbstverständlich regional beschränkt. Eine Ausweitung auf andere Bundesländer wie beispielsweise Bayern, Berlin oder Baden-Württemberg, wo wichtige Architekturschulen, aber auch die Redaktionen der größten Bauzeitschriften ihren Sitz hatten oder noch haben, wäre wichtig. Vergleichbare Datensammlungen liegen hier aber bislang nicht vor.

2 | Hier wurde bewusst ausschließlich die männliche Form verwendet, da bei den in der Datenbank verzeichneten Planern der Anteil der Frauen unter 3 Prozent liegt. Insgesamt findet sich eine absolute Zahl von 60 eindeutig weiblichen Vornamen. Knapp die Hälfte dieser Frauen sind im Planungsteam mit ihren Ehemännern genannt.

Das Werk des Architekten und seine Veröffentlichung

D ie grossen B auaufgaben Nach Ende des Zweiten Weltkrieges standen vor allem öffentliche Gebäude und Wohnbauten sowie größere Stadt- und Siedlungsplanungen im Zentrum des Interesses der Bauzeitschriften, welche bereits ab Mitte der 1940er-Jahre ihre publizistische Tätigkeit wieder aufnahmen, wenn auch zum Teil mit unregelmäßigem Erscheinungsverlauf. Eine Auswertung der Datenbank nach Bauaufgaben ergibt, dass fast ein Drittel der Publikationen auf öffentliche Gebäude entfällt. Dies ist vor allem darin begründet, dass in der Datenbank nicht nur ausgeführte Objekte, sondern auch Wettbewerbsbeiträge verzeichnet sind und öffentlichen Bauten in der Regel große Wettbewerbe vorangehen. Erwähnenswert ist der hohe Anteil an Schulen, Universitäten und Bibliotheken (knapp 16 Prozent) – was insofern nicht verwundert, als es sich hierbei um eine der größten und wichtigsten Bauaufgaben der Nachkriegsjahrzehnte handelt. Zur ersten nach Ende des Zweiten Weltkrieges neu gegründeten Hochschule, der Ruhruniversität Bochum, finden sich beispielsweise inklusive der Wettbewerbsbeiträge 37 bibliografische Einträge, doch nur rund die Hälfte davon entfällt auf das tatsächlich ausgeführte Großprojekt. Der wichtigsten Bauaufgabe der Nachkriegsjahrzehnte, der Wiedererrichtung sowie dem Bau von neuem Wohnraum, schenkten auch die Bauzeitschriften die größte Aufmerksamkeit. Die Wohnbauten haben zusammen mit den großen Siedlungen und städtebaulichen Planungen einen Anteil von fast 30 Prozent am verzeichneten Datenbestand. Anders als bei den öffentlichen Bauten entfällt der Großteil auf tatsächlich realisierte Objekte. Mit einem Anteil von knapp 10 Prozent des verzeichneten Datenbestands fallen die technischen Bauten und Verkehrsplanungen auf. Sie hatten in der Nachkriegszeit eine große Bedeutung im Zusammenhang mit sich verändernden städtebaulichen Konzepten, bei der Erschließung neuer Wohngebiete und natürlich auch infolge des steigenden Verkehrsaufkommens. Dennoch verwundert es, dass die Bauzeitschriften den in erster Linie der Infrastruktur dienenden Objekten so viel Platz einräumten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass ihr vergleichsweise hoher Anteil am verzeichneten Datenbestand vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass im Rahmen des Projektes nicht nur Architekturzeitschriften ausgewertet wurden, sondern auch ingenieurwissenschaftliche Fachpublikationen Berücksichtigung fanden. In diesen werden Infrastrukturbauten naturgemäß besonders ausführlich diskutiert. Grundsätzlich scheint also für die Auswertung der Datenbank die inhaltliche Ausrichtung der ausgewerteten Publikationen entscheidend zu sein, da sie das statistische Ergebnis stark beeinflusst oder sogar verfälschen kann: So wie zum Beispiel die Zeitschrift Der Stahlbau durch seine ingenieurwissenschaftliche Ausrichtung die Auswertung nach Bauaufgaben beeinflusst, wirken sich auch politische und regionale Schwerpunktsetzungen sowie unterschiedliche

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architektonische Haltungen und Vorlieben der Journalisten für bestimmte Planer, Materialien oder Konstruktionsweisen auf den verzeichneten Datenbestand aus.

A usrichtung der F achzeitschrif ten Im Rahmen des Projektes wurden die Jahrgänge 1946 bis 1976 von insgesamt acht Fachzeitschriften sowie verschiedene zeitgenössische Buchpublikationen – beispielsweise »Bauten in Westfalen 1945-1957« von Karl Brunne, »Neue Deutsche Architektur« von Hubert Hoffmann oder »Architektur im 20. Jahrhundert« von Dennis Sharp3 – ausgewertet. Mit einem Anteil von rund 25 Prozent hat die Bauwelt (inklusive Stadtbauwelt) den größten Anteil an den in der Datenbank verzeichneten 3.500 bibliografischen Angaben. Ihr folgt der Baumeister mit rund 20 Prozent. Etwas mehr als die Hälfte der bibliografischen Angaben entfällt auf die übrigen, kleineren Fachzeitschriften: je 12 Prozent auf db (Die Bauzeitung, ab 1960 Deutsche Bauzeitung) und Der Architekt BDA, 11 Prozent auf die DBZ (Deutsche Bauzeitschrift), 10 Prozent auf Bauen und Wohnen, 6 Prozent auf Der Stahlbau und 3 Prozent auf Die Kunst und das schöne Heim. In den 26 recherchierten Buchpublikationen fanden sich insgesamt 700 bibliografische Angaben zu Objekten in Nordrhein-Westfalen. Die Bauwelt und der Baumeister, die schon vor dem Krieg existierten, sind also die Architekturzeitschriften, aus denen die meisten Daten gewonnen wurden. Aufgrund ihrer zunächst sehr unterschiedlichen Ausrichtung nach Ende des Zweiten Weltkrieges erscheinen sie von besonderem Interesse. Die Bauwelt erschien nach kurzer Unterbrechung am Kriegsende bereits 1946 unter dem Namen Neue Bauwelt wieder.4 Ihre Leitung übernahm zunächst Rudolf Weilbier. 1957 wurde Ulrich Conrads5 verantwortlicher Chefredakteur, welcher die Zeitschrift in den folgenden dreißig Jahren prägte. Der Schwerpunkt der Bauwelt lag zunächst auf Bautechnik und Bauwirtschaft. Sie enthielt überdies einen kleinen Informationsteil über laufende Wettbewerbe. Unter der Sparte »Bauten-Nachweise« wurden zudem neu errichtete Gebäude nach Orten sortiert aufgelistet. 1952 kehrte die Zeitschrift zu ihrem ursprünglichen Namen Bauwelt zurück und änderte ihre Ausrichtung, indem sie zeitgenössische Entwürfe und städtebauliche Planungen sowohl in Wettbewerben als auch Realisierungen in den Vordergrund stellte. Dabei ist eine deutliche 3 | Vgl. Brunne 1958; Hoffmann 1956; Sharp 1973. 4 | Die Analysen der Bauzeitschriften wurden im Rahmen des Vorprojektes durchgeführt. Die Texte zu den Zeitschriften Bauwelt und Baumeister stammen von den Autoren Fischer, Strauß und Kierdorf. 5 | Zu Conrads vgl. Geipel/Schade-Bünsow 2013.

Das Werk des Architekten und seine Veröffentlichung

Konzentration auf moderne Bauformen festzustellen, obwohl auch andere Architekturströmungen des Wiederauf baus diskutiert wurden. Grundsätzlich nehmen die gebäudebezogenen Artikel in der Bauwelt einen eher geringen Raum ein, sind dann aber jeweils umfangreich mit Bild- und Planmaterial ausgestattet. Eine höhere Aufmerksamkeit schenkt die Zeitschrift den themenbezogenen Artikeln, in welchen Einzelgebäude im Zusammenhang mit vergleichbaren Objekten betrachtet oder im Rahmen eines Schwerpunktthemas vorgestellt werden. Dabei ergänzen auch zahlreiche Beispiele aus dem Ausland, vor allem aus Skandinavien und den USA, das Spektrum. Durch Querverweise und Hinweise auf frühere Ausgaben versuchen die Redakteure, Kontinuität innerhalb bestimmter Themen über mehrere Hefte herzustellen. Darüber hinaus bieten sie aber auch ein Forum für Architekturdiskussionen. Der vom Münchner Callwey Verlag herausgegebene Baumeister wurde 1946 ebenfalls früh wiedergegründet. Die bis 1944 unter gleichem Namen erschienene Zeitschrift war bis in die 1930er-Jahre einer gemäßigten Moderne verpflichtet. Nach Kriegsende entwickelte sich die Zeitschrift unter der Leitung des neuen Chefredakteurs Rudolf Pfister zu einem Sprachrohr der eher konservativen Architekten, von denen viele bereits vor 1945 tätig waren und in Zeitschriften wie dem Baumeister publizierten.6 Bei den vorgestellten Bauten dominierten bis in die 1950er-Jahre Beispiele aus dem süddeutschen Raum, wobei ihre Herkunft aus der Zeit vor 1945 zum Teil verschleiert wurde. Die wenigen Bauten aus Norddeutschland stammen in der Nachkriegszeit von eher traditionell arbeitenden Architekten. Obwohl sich ab Mitte der 1950er-Jahre auch der Baumeister insbesondere bei öffentlichen Bauten der vorherrschenden Nachkriegsmoderne zuwendete, blieb er bei den repräsentativen privaten Wohnbauten seiner deutlich konservativen Haltung verpflichtet. Neben Themen aus den Bereichen Bauwirtschaft, Bautechnik und Architektenrecht liegt der Schwerpunkt des Baumeisters seit 1950 auf der Einzeldarstellung von Gebäuden, welche auf bis zu drei Doppelseiten mit Fotos und Plänen umfangreich publiziert werden. Ab 1956 werden im »Tafelkatalog« Pläne aller besprochenen Details als Ausführungsplanung gezeigt, die »Entwurfsblätter« enthalten Grundrisse und Schnitte zu einzelnen Gebäudetypen, neuen Materialien und Konstruktionsweisen. Im Durchschnitt sind fünf Gebäude pro Ausgabe vorgestellt. Neben der Einzeldarstellung von Objekten räumt der Baumeister aber auch der Besprechung öffentlicher Wettbewerbe viel Raum ein. 1959 übernahm Paulhans Peters7 die Leitung des Baumeisters, 1965 6 | Damit sind Autoren wie Karl Erdmannsdorffer gemeint, der Werkberichte etwa über Roderich Fick und Herbert Rimpl veröffentlichte. Als Vorbilder für die Nachkriegszeit werden Heinrich Tessenow und Paul Bonatz gewürdigt. 7 | Vgl. Stock 2011.

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wurde er verantwortlicher Chefredakteur. Der konservativen Ausrichtung des Baumeisters blieb er insbesondere bei der Publikation privater Wohnbauten zunächst treu. Bei den öffentlichen Bauten wendete auch er sich nach und nach einer gemäßigten Nachkriegsmoderne zu.

E influssnahme durch A uswahl Die in den Bauzeitschriften veröffentlichten Objekte und Personen sagen viel über deren grundsätzliche Einstellung aus und können als Indiz für ihre Einflussnahme auf das Architekturgeschehen und die Förderung von Architektenkarrieren dienen. Es bedarf allerdings – wie bei jeder statistischen Auswertung – einer genaueren Betrachtung. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Bauzeitschriften thematisch breit publizierten: Weniger als ein Viertel der in der Datenbank verzeichneten Objekte ist mehr als einmal veröffentlicht worden, nur wenige mehr als zehnmal (unter 1 Prozent der Bauwerke). Auch bei den Architekten ist eine breite Streuung festzustellen: Knapp 70 Prozent der in der Datenbank verzeichneten Planer finden im Zusammenhang mit nur einem Bauwerk Erwähnung, von weiteren 24 Prozent sind zwei bis fünf Objekte publiziert. Hinsichtlich der Einflussnahme durch die Bauzeitschriften scheinen vor allem die Bauwerke und Architekten interessant zu sein, denen größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Bei den Architekten findet sich eine absolute Zahl von 49 Planern, von denen mehr als zehn Objekte in der Datenbank verzeichnet sind, nur neun davon sind mit mehr als 20 Objekten vertreten. Das Spektrum reicht dabei von 22 bis maximal 47 publizierten Bauten. Namentlich handelt es sich um die Architekten Harald Deilmann (47 Objekte), Helmut Hentrich (37), Rudolf Schwarz (34), Paul Schneider-Esleben (31), Hubert Petschnigg (30), Gottfried Böhm (30), Oswald Matthias Ungers (28), Joachim Schürmann (25) und Fritz Schupp (21). Berücksichtigt man, dass einige Bauten mehrfach publiziert sind, ergibt sich eine andere Reihenfolge der Namen: Zu den 37 in der Datenbank verzeichneten Bauwerken von Hentrich finden sind insgesamt 115 bibliografische Einträge, was in erster Linie auf die umfangreiche Publikation des Phönix-RheinrohrHochhauses der Thyssen AG zurückzuführen ist; es folgt Schneider-Esleben, der mit 32 Gebäuden auf 102 bibliografische Einträge kommt, wovon die Hälfte auf vier seiner Gebäude entfällt (Mannesmann-Hochhaus, Flughafen Köln-Bonn, Haniel-Garage und Commerzbank-Gebäude); Petschnigg kommt wie Hentrich ebenfalls aufgrund des Thyssen-Hochhauses mit 30 Gebäuden und 101 Einträgen auf Platz 3. Die 47 Gebäude von Deilmann wurden dagegen »nur« 79-mal publiziert. Ihm folgt Schwarz mit 34 Objekten und 69 bibliografischen Einträgen.

Das Werk des Architekten und seine Veröffentlichung

Um eine Aussage treffen zu können, ob die Bauzeitschriften bestimmte Planer bevorzugten, ist erstmals eine Auswertung der Datenbank nach Korrelation von Architekt und Bauzeitschrift durchgeführt worden (Abb. 1). Abb. 1: Die Tabelle zeigt die Anzahl von Publikationen in NRW ausgeführter Bauten und Projekte je Architekt nach Bauzeitschriften

Hier zeigt sich, dass das Planungsteam Hentrich & Petschnigg nach der Anzahl der Veröffentlichungen von allen Bauzeitschriften aufgrund seiner bedeutenden Großprojekte gleichermaßen beachtet wurde. Es ist jedoch ein genauerer Blick auf die Art der Publikation und vor allem den Tenor der Besprechungen notwendig. Am Beispiel der unterschiedlichen Publikationen des Thyssen-Hochhauses wird unter »Einflussnahme durch Präsentation« noch genauer darauf eingegangen. Bei Deilmann ist zunächst eine Häufung der Erwähnungen in den Bauzeitschriften mit geringerer Reichweite wie Der Architekt BDA oder Bauen und Wohnen, und insbesondere in zeitgenössischen Buchpublikationen festzustellen; mehr als die Hälfte seiner publizierten Gebäude finden sich hier. Vor allem der 1968 erschienene »Reiseführer zur modernen Architektur« von Gretl Hoffmann mit 16 Bauten von Deilmann hat ihm große Aufmerksamkeit verschafft. 34 Prozent seiner publizierten Bauten entfallen allein auf diese Publikation.8 Hinsichtlich einer Förderung von Architektenkarrieren fallen Schürmann und Ungers auf. Der Großteil der in der Datenbank verzeichneten Bauten von Schürmann ist 1965 vom Baumeister publiziert worden, welcher seine Arbeit in der Rubrik »Portraits junger Architekten« mit zahlreichen Abbildungen und einigen Lebensdaten umfangreich würdigte (Abb. 2).9

8 | Vgl. Hoffmann 1968. 9 | Vgl. N.N. 1965.

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Abb. 2: »Portraits junger Architekten, V: Joachim Schürmann« (Baumeister 62, Heft 10 [1965], Auszug)

Da kein weiterer Text vorhanden ist, kann gefolgert werden, dass Bilder für die Bekanntheit eines Architekten ebenso nützlich waren wie Texte. Auch Ungers verdankt dem Baumeister einen Großteil seiner Publikationen. Unter dem Titel »O. M. Ungers – Sozialer Wohnungsbau 1953-1966« wurden 16 seiner Bauten in Text und Bild publiziert.10 Damit entfallen fast 60 Prozent der von Ungers publizierten Bauten auf diese Publikation. Schürmann war zum Zeitpunkt der Publikationen erst 39, Ungers 41 Jahre alt. Bei Schupp fällt eine Häufung von Artikeln im Baumeister und insbesondere in Der Architekt BDA auf, beziehungsweise die Tatsache, dass seine Bauten nicht ein einziges Mal in der Bauwelt Erwähnung fanden. Bemerkenswert ist auch, dass Schupp selbst über seine Bauten schrieb11, beziehungsweise sein Sohn, welcher seinen Artikel 1966 im Baumeister veröffentlichte.12 Für über 50 Prozent der Artikel über die Bauten Schupps zeichnen demnach Vater und Sohn verantwortlich. Anlass für die vermehrte Publikation von Schupps Bauten war dabei vor allem sein 70. Geburtstag im Jahr 1966. Die Bauwelt räumte erstaunlicherweise den bedeutenden nordrhein-westfälischen Kirchenbauern deutlich mehr Platz ein als der Baumeister, obgleich letzterer seinen Sitz im katholischen Bayern hatte. Böhm und Schwarz wurden vergleichsweise häufig erwähnt. Darüber hinaus ist ein Großteil der Veröffent10 | Vgl. Ungers 1967. 11 | Vgl. Schupp 1961. 12 | Vgl. Schupp 1966.

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lichungen über sie auf zeitgenössische Buchpublikationen zum Thema Kirchenbau zurückzuführen. Schließlich ist Schneider-Esleben zu nennen. Artikel über seine Bauten finden sich vor allem in der Bauwelt – für die er die Texte zum Teil selber schrieb13 –, in Bauen und Wohnen sowie in zeitgenössischen Buchpublikationen – wie beispielsweise »Handbuch moderner Architektur« von Reinhard Jaspert, »Vorhangwände« von Rudolf Schaal oder »Bürobauten« von Jürgen Joedicke.14 Im Baumeister finden die von ihm errichteten Gebäude zwar ebenfalls Erwähnung, allerdings werden sie in der Regel nur kurz im Zusammenhang mit anderen Bauten vorgestellt.

E influssnahme durch P r äsentation Die Einflussnahme der großen Bauzeitschriften auf die Förderung von Karrieren zeigt sich nicht nur in der Auswahl der veröffentlichten Bauten und Architekten, sondern vor allem darin, auf welche Weise die Bauten besprochen wurden. Interessant sind dabei vor allem Objekte, die in verschiedenen Zeitschriften erscheinen, wie beispielsweise das Bundeshaus in Bonn von Hans Schwippert. Als einer der ersten und damit besonders bedeutenden Repräsentationsbauten der jungen Bundesrepublik wurde das Bundeshaus zu Anfang der 1950er-Jahre sowohl im Baumeister als auch in der Bauwelt besprochen. Im Baumeister erschien 1950 eine Doppelseite, die sich vor allem mit der schlechten Akustik bedingt durch »Hörsaalregulierung und Nachhallzeit« des Plenarsaals beschäftigte.15 Die Bauwelt räumte dem Gebäude 1951 vier Doppelseiten ein. Mithilfe zahlreicher Fotos, Perspektiven und Pläne wurde es umfangreich präsentiert und besprochen. Autor des wenig kritischen Textbeitrages ist bezeichnenderweise der Architekt selbst, der zu diesem Zeitpunkt als Professor an der Technischen Hochschule in Aachen über weitreichenden Einfluss bis in die Redaktionen verfügt haben dürfte.16 Ein anderes Beispiel für »Einflussnahme durch Präsentation« ist das Stadttheater in Gelsenkirchen, das nach einem Wettbewerb in den Jahren 1957-1959 nach einem Entwurf von Deilmann, Max C. von Hausen, Werner Ruhnau und Ortwin Rave errichtet wurde. In der Bauwelt finden sich neben einem kurzen Artikel zum Wettbewerb je ein Artikel aus den Jahren 1957 und 1960. Das Gebäude wurde auch in der Zeitschrift Der Architekt BDA und der DBZ besprochen. Im Baumeister wie auch in Bauen und Wohnen fand das Stadtthea13 | Z.B. Schneider-Esleben 1968, S. 64-66. 14 | Jaspert 1957; Schaal 1961; Joedicke 1962. 15 | Struve 1950. 16 | Schwippert 1951.

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ter dagegen keine textliche Erwähnung, erschien aber 1962 in beiden Heften im Rahmen einer Werbeanzeige der Firma Zeiss Icon in Berlin.17 Auch diese Form der Veröffentlichung verschaffte Gebäuden und Architekten Aufmerksamkeit, da hier nur bekannte Gebäude als Werbeträger eingesetzt wurden. Das am häufigsten besprochene Gebäude Nordrhein-Westfalens ist das Phönix-Rheinrohr-Gebäude in Düsseldorf von Hentrich, Petschnigg, Erich Moser, Robert Walter und Fritz Eller. Die Namen der mitarbeitenden Architekten wurden jedoch nicht in allen Publikationen erwähnt. Lässt man die vielen Werbeanzeigen unbeachtet, in denen das Objekt gezeigt wurde18, finden sich immer noch 22 Erwähnungen in Buchpublikationen und Bauzeitschriften: vier davon in der Bauwelt, drei in Bauen und Wohnen und drei im Baumeister. Neben einem Artikel zum Wettbewerb im Jahr 1956 erwähnte der Baumeister das Gebäude in einem übergeordneten Beitrag mit dem Titel »Edelstahl ›rostfrei‹ in der Architektur« (1962)19 sowie 1967 in einem Artikel über »Das neue Verwaltungsgebäude der DKV in Köln«.20 In den Zeitschriften Bauwelt, Bauen und Wohnen, db und Der Stahlbau wurde das Gebäude sehr umfangreich besprochen. Insbesondere die Deutsche Bauzeitung, die mit Ausnahme von Hentrich & Petschnigg sowie Schupp keinem anderen in Nordrhein-Westfalen tätigen Architekten überhaupt Beachtung schenkte, präsentierte das Thyssen-Hochhaus auf zahlreichen Seiten.21 Darüber hinaus besprach auch die Zeitschrift Der Stahlbau das Gebäude ausführlich, allerdings ausschließlich unter dem Aspekt seiner Konstruktion.22 Das Forschungsprojekt hat das Baugeschehen im Bundesland mit den meisten Nachkriegsbauten der BRD im Spiegel der wichtigsten Architekturzeitschriften der Jahre 1946 bis 1976 aufgearbeitet; immer in dem Bewusstsein, dass es nur diejenigen Gebäude in seiner Datenbank erfasst, deren Schöpfer es aufgrund ihres Talents, aber auch aufgrund ihrer Beziehungen zu den Redaktionen in die Magazine schafften. Damit wurde ein bedeutendes Netzwerk aus Architekten und Journalisten namentlich, aber auch durch seine Themen- und Schwerpunktsetzungen greifbar. Es wäre Teil eines neuen Forschungsprojekts, seine Relevanz zum Beispiel bei den Unterschutzstellungen dieser Bauwerke zu prüfen. Denn 17 | Siehe: Stadttheater Gelsenkirchen, unter www.nrw-architekturdatenbank.tu-dort​ mund.de/obj_detail.php?gid=408 (Aufruf am 1.5.2017). 18 | Insgesamt finden sich 16 Anzeigen, die mit dem Bauprojekt werben. Neben der Phoenix-Rheinrohr AG selbst sind das z.B. die Firma Albert Ackermann Fernmelde- und Elektrotechnik, BKS Gabelstapler und Hebezeuge oder DLW-Linoleum. Vgl. PhönixRheinrohr-Gebäude, unter: www.nrw-architekturdatenbank.tu-dortmund.de/obj_de​tail. php?gid=185 (Aufruf am 1.5.2017). 19 | N.N. 1962. 20 | N.N. 1967. 21 | N.N. 1961. 22 | Stein 1962.

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es scheint, dass für die unteren Denkmalbehörden als primäre Nutzer der Datenbank die häufig publizierten Bauten von besonderem Interesse sind. Obwohl die Tatsache der Veröffentlichung eines Bauwerkes für die Kriterien einer Unterschutzstellung nur bedingt relevant ist, stehen mittlerweile auffallend viele der häufig publizierten Objekte unter Schutz: Von den zwölf Objekten mit jeweils über zehn zeitgenössischen Publikationen sind mittlerweile alle als Denkmal eingetragen. Bei den Architekten ist die Unterschutzstellung ihrer Gebäude in jenen Städten festzustellen, in denen sie ihr Büro oder eine Professur hatten. Das weist wiederum auf Bestehen und Bedeutung des gerade erwähnten Netzwerks hin, welches durch das Forschungsprojekt wieder fassbar geworden ist.

L iter atur Brunne, Karl (Hg.): Architektur-Fotoschau. Bauten in Westfalen 1945-1957, Münster 1958. Geipel, Kaye/Schade-Bünsow, Boris: »U.C.«, in: Bauwelt 104, Heft 40 (2013), S. 6-11. Hoffmann, Hubert/Kaspar, Karl/Hatje, Gerd: Neue deutsche Architektur, Stuttgart 1956. Hoffmann, Gretl: Reiseführer zur modernen Architektur, Stuttgart 1968. Jaspert, Reinhard (Hg.): Architektur. Handbuch Moderner Architektur, Berlin 1957. Joedicke, Jürgen: Bürobauten, 2. Aufl., Stuttgart 1962. N.N.: »Hochhaus Phoenix-Rheinrohr AG«, Düsseldorf, in: db 66, Heft 2 (1961), S. 100-104, 131f. N.N.: »Edelstahl ›rostfrei‹ in der Architektur«, in: Baumeister 59, Heft 7 (1962), S. 710. N.N.: »Portraits junger Architekten, V: Joachim Schürmann«, in: Baumeister 62, Heft 10 (1965), S. 1121-1132. N.N.: »Das neue Verwaltungsgebäude der DKV in Köln«, in: Baumeister 64, Heft 10 (1967), S. 1231-1242. Schaal, Rudolf: Vorhangwände, Curtain walls. Typen, Konstruktionsarten, Gestaltung, München 1961. Schneider, Max: »Bemerkenswerte Einzelheiten der Statik und Konstruktion des Phoenix-Rheinrohr-Hochhauses in Düsseldorf«, in: Der Stahlbau 31, Heft 1 (1962), S. 7-14. Schneider-Esleben, Paul: »Haus in Düsseldorf-Himmelgeist«, in: Bauwelt 59, Heft 3 (1968), S. 64-66. Schupp, Dieter: »Zur Konstruktion von Fördertürmen«, in: Baumeister 63, Heft 9 (1966), S. 1064-1072.

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Schupp, Fritz: »Industriebau im Rahmen des Städtebaus«, in: Der Architekt BDA 10 (1961), S. 149-154. Schwippert, Hans: »Das Bonner Bundeshaus«, in: Bauwelt (Architekturteil) 6, Heft 17 (1951), S. 65-72. Sharp, Dennis: Architektur im zwanzigsten Jahrhundert, München 1973. Stock, Wolfgang Jean: »›Mr. Baumeister‹. Zum Tod des großen Publizisten Paulhans Peters«, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.10.2011, S. 13. Struve, W.: »Die Hörsamkeitsregulierung des Plenarsaales in Bonn«, in: Baumeister 47, Heft 7 (1950) S. 450-452. Ungers, Oswald Mathias: »Sozialer Wohnungsbau, 1953–1966«, in: Baumeister 64, Heft 5 (1967), S. 557-572.

Von den Akteuren des Wohnungsbaus zu den Akteuren des Wohnens Philosophische und soziologische Bestimmungen des Wohnens in den 1950er- und 1960er-Jahren Kirsten Wagner

Vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der durch sie bedingten Wohnungsnot in den Städten vermehrte sich im 19. Jahrhundert die Zahl an Akteuren des Wohnungsbaus. Zu ausführenden Gewerken, Architekten und Bauherren traten gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften, Baugenossenschaften und die öffentliche Hand hinzu. Die Motivationen dieser Akteure waren unterschiedlich und gingen weit über die Beschaffung bezahlbaren wie hygienetauglichen Wohnraums für breite Gesellschaftsschichten hinaus: Der im 19. Jahrhundert entstehende Immobilienmarkt versprach bereits eine gewisse Rendite, und die philanthropischen und sozialreformerischen Bewegungen verfolgten nicht nur bessere Wohnbedingungen für die Arbeiter, sondern zielten auch auf deren moralisch-sittliche Erziehung und den Erhalt beziehungsweise die Steigerung ihrer Arbeitskraft ab. Als neuer Bauherr wurde so vor allem der paternalistische Fabrikant tätig, der seine Arbeiter räumlich an die Produktionsstätte binden wollte und über die zur Verfügung gestellten Wohnungen und zum Teil auch Eigenheime zu disziplinieren versuchte.1 Baugenossenschaften und Wohnungsbaugesellschaften erfuhren ihre Blüte in den 1920er-Jahren, in denen sie als Bauherren mit Architekten des Neuen Bauens wie Hugo Häring, Bruno Taut, Martin Wagner, Otto Bartning, Walter Gropius, Ernst May und Hans Scharoun zusammenarbeiteten. Die vier zuletzt genannten Architekten wirkten auch am westdeutschen Wohnungsbau der 1950er- und 1960er-Jahre vom einzelnen Geschossbau über die Siedlungsplanung bis hin zur Koordination von Bauausstellungen wie der Interbau 1957 1 |  Vgl. für Frankreich die Studie zum Eigenheim von Raymond et al. 2001, S. 31-39; sowie für Deutschland Häußermann/Siebel 1996, S. 131-136.

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oder der Leitung öffentlicher Diskussionsforen zum Wohnen noch aktiv mit. Der Aufschwung der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft war einer Reihe staatlicher Interventionen zu verdanken, mit denen das finanzielle Risiko des einzelnen Anteilseigners ebenso reduziert worden war wie die gesamte Steuerlast von Bodenerwerb und Bauproduktion. Auf diese Weise betrieb der Staat zugleich eigene Wohnpolitiken. Während der nationalsozialistischen Diktatur zwangszentralisiert, erlebten die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen im Nachkriegsdeutschland eine zweite Blüte. Zahlen für Westberlin belegen beispielsweise, dass gemeinnützige Unternehmen zwischen 1945 und 1971 für 42,1 Prozent neu gebauter Wohnungen verantwortlich zeichneten.2 Diese Gemengelage neuer Akteure des Wohnungsbaus zeigte sich bereits auf der Pariser Weltausstellung von 1889, wo sich philanthropisch und sozialreformerisch gesinnte Unternehmer, Politiker und Demografen im Rahmen des aktuellen Hygienediskurses mit den prekären Wohnbedingungen der Arbeiter auseinandersetzten. Ihre Initiative führte in Frankreich zur ersten Gesellschaft sozialen Wohnungsbaus auf nationaler Ebene, zur »Société Française d’Habitations à Bon Marché«.3 Aufgrund des Hygienediskurses des 19. Jahrhunderts, der auf statistischer Grundlage einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen materiellen Wohnbedingungen, Krankheitsverbreitung und Sterblichkeitsrate erbracht hatte, waren an der Lösung der modernen Wohnungsfrage auch Vertreter von Medizin, Anthropologie und Demografie beteiligt. Wie sehr sie den Wohnungs- und Städtebau beeinflusst haben und darüber ebenfalls zu dessen handelnden Akteuren wurden, und zwar handelnd im Sinne sowohl von Disziplin als auch von Biomacht, hat die von Michel Foucault geleitete Studie »Politiques de l’habitat« gezeigt.4 Die genannten Wissenschaften sollten nicht die einzigen bleiben, die sich zum Wohnungsbau und zum Wohnen äußerten. Die Ausdifferenzierung der Soziologie in eine Stadtsoziologie und die lebensweltlichen Strömungen in der Philosophie führten seit den 1920er-Jahren dazu, dass schließlich auch Soziologen und Philosophen mit den Architekten in einen öffentlichen Dialog traten. Insbesondere durch ihren Einfluss wurde das Verhältnis zwischen Architekt und Bewohner in der Nachkriegsmoderne neu justiert. Neben dem so erweiterten Kreis von Akteuren des Wohnungsbaus gab es bekanntlich immer schon Akteure des Wohnens selbst: die Bewohner. In ihrer Akteursrolle wurden sie jedoch vergleichsweise spät entdeckt. Erst im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre tauchten sie über die Soziologie am Horizont von Architekten und Planern auf. Das heißt nicht, dass der Wohnungsbau zuvor 2 |  Vgl. Lehmann 1972, S. 5. 3 |  Zur »Société Française d’Habitations à Bon Marché« und der von ihr in den Anfängen verfolgten Wohnpolitik des Eigenheims mit Garten vgl. Dezès 2001, S. 143-154. 4 |  Vgl. Alliaume et al. 1977.

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ohne Adressaten ausgekommen wäre. Auch das Neue Bauen der 1920er-Jahre, für das der Wohnungsbau zu einer zentralen Bauaufgabe geworden war, hatte selbstverständlich einen ›Nutzer‹ vorausgesetzt. Dieser reduzierte sich allerdings auf einen passiven Durchschnittsmenschen, den man in seinen physiologischen Bedürfnissen und motorischen Routinen systematisch für die Raumplanung erfasst hatte. Erst seit den 1950er-Jahren wurde durch die soziologische Forschung aus diesem Nutzer nicht nur ein Individuum, das je nach Alter, Geschlecht und sozialer Schicht unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche in Bezug auf die Wohnung hat, sondern auch eines, das sich seinen Wohnraum aktiv aneignet. Von der Ethnologie inspirierte soziologische Untersuchungen alltäglicher Praktiken hatten erbracht, dass vieles von dem, was die Bewohner mit und in ihren Wohnräumen taten, den von Architekten geplanten und ausgeführten Projekten zuwiderlief. Das fing bei der Dekoration und Inneneinrichtung der Wohnräume an und hörte bei massiven Eingriffen in die Architektur auf. Der Bewohner trat dem Architekten damit als ebenso eigen- wie widerständiger Akteur des Wohnens gegenüber; etwas, das die Architekten anfangs deutlich herausforderte (und auch heute noch bisweilen tut), in den 1970er-Jahren aber mit zu einer Öffnung der akademischen Architekturausbildung für sozial- und humanwissenschaftliche Disziplinen geführt hat.5 Diese Transformation von einem passiv zu einem aktiv verstandenen Bewohner in der Nachkriegsmoderne soll hier in zwei Etappen nachvollzogen werden: dem Darmstädter Gespräch von 1951, das wichtige Akteure innerhalb der deutschen Architektenschaft mit Martin Heideggers existenzialer Bestimmung des Wohnens konfrontierte, und den empirischen Studien der französischen Stadt- und Wohnsoziologie aus den 1950er- und 1960er-Jahren.

D as D armstädter G espr äch : die e xistenziale B edeutung des W ohnens Angesichts der akuten Wohnungsnot der Nachkriegsjahre – Schätzungen gingen im Jahr 1950 von einem Bedarf von rund sechs Millionen Wohnungen aus6 – hätte es nahegelegen, den Wohnungsbau oder das Wohnen zum eigentlichen Gegenstand von Ausstellung und Gespräch in Darmstadt zu »Mensch und Raum« zu machen7; was auch durch Heideggers zentralen Beitrag »Bau5 |  Vgl. Bonnin 2007. 6 |  Vgl. Durth 1999. 7 |  In der Ausstellung »Mensch und Raum« bildeten die »Räume der Wohnung« nur einen von mehreren Schwerpunkten. Eine erste Konzeption der Ausstellung hatte ihren Fokus noch auf dem Wohnen einschließlich einer Mustersiedlung gehabt. Vermutlich

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en Wohnen Denken« suggeriert wird. Grundsätzlicher jedoch ging es auf der Darmstädter Veranstaltung um eine Selbstversicherung der Architekten: Sowohl die Aufgaben der Architektur innerhalb des neuen demokratischen Gefüges standen zur Klärung an als auch der Anschluss an das Neue Bauen der Zwischenkriegsjahre. Über beidem stand die seit den 1940er-Jahren in Reaktion auf die Industrialisierung und die Rationalisierung des Bauens einerseits, den Zweiten Weltkrieg andererseits aufgeworfene Frage nach einem neuen Humanismus in der Architektur. Wichtige Impulse für die Diskussion dieser Frage gingen von Heideggers 1947 publiziertem Brief »Über den Humanismus« aus, den er an den Philosophen Jean Beaufret gerichtet hatte.8 Mit ihm kehrte Heidegger, nach dem Krieg mit einem Lehrverbot belegt, in die öffentliche Debatte zurück. In einer für die Darmstädter Veranstaltung bedeutsamen Weise hatte Heidegger in dem Brief von der »Heimatlosigkeit« des Menschen gesprochen. Diese bezog sich aber nicht auf ein konkretes Wohnen, vielmehr bezeichnete Heidegger damit eine generelle »Seinsvergessenheit« des Menschen, der mit der Neuzeit alles Seiende einem subjektzentrierten und technologischen Zugriff unterworfen habe.9 In den Nachkriegsjahren ließ sich Heimatlosigkeit jedoch leicht auf die unmittelbaren Lebensumstände beziehen, insbesondere von Architekten, die mit dem Wiederauf bau der zerstörten Städte betraut waren. Dass Heidegger mit ihnen in Darmstadt direkt ins Gespräch kam, führt auf die Kontakte zurück, die Heidegger bereits zu Kulturvertretern der Stadt unterhielt. Hier ist vor allem Egon Vietta zu nennen, der im Rahmen eines Darmstädter Ausstellungs- und Theaterprojektes zu Ernst Barlach Heideggers Schrift »Seinsverlassenheit und Irrnis« 1951 als Katalogbeitrag herausgab. Zum Kreis um Egon und Dory Vietta gehörte auch Hildegard Feick10, Ehefrau des dem Ausstellungsbeirat zu »Mensch und Raum« vorsitzenden Stadtkämmerers Gustav Feick. Sie sollte später einen Index zu »Sein und Zeit« sowie Heideggers Schelling-Vorlesung herausgeben. Für Ausstellung und Gespräch über »Mensch und Raum« verfassten Heidegger und Bartning zusammen mit Otto Ernst Schweizer und Hans K.F. Mayer eine Präambel. In ihr stellt sich Heimatlosigkeit als ein zentrales Motiv dar: »Bauen ist eine Grundtätigkeit des Menschen. Der Mensch baut, indem er Raumgebilde fügt und so den Raum gestaltet. Bauend entspricht er dem Wesen seiner Zeit. Unsere Zeit ist die Zeit der Technik. Die Not unserer Zeit ist sah man sich aber durch die Constructa in Hannover zu einer Planänderung veranlasst. Vgl. Herbig 2000, S. 30-36. 8 |  Vgl. Moravánszky 2017. 9 |  Vgl. Heidegger 2010, S. 29-36. 10 |  Hildegard Feick stieß über die Viettas zu Heidegger. Sie wurde 1943 in Berlin mit einer Arbeit über »Die rassenhygienische Bedeutung von Brauch, Sitte und Recht der Papua-Melanesier« promoviert.

Von den Akteuren des Wohnungsbaus zu den Akteuren des Wohnens

die Heimatlosigkeit.«11 Wie Bärbel Herbig darlegen konnte, geht die Präambel trotz der angezeigten Ko-Autorenschaft wesentlich auf Bartning zurück.12 Das mag gerade für die sprachliche Ausarbeitung gelten. In ihrem Gehalt bleibt sie aber gleichermaßen auf Überlegungen Heideggers zur Technik und zur Heimatlosigkeit bezogen. Der Fokus auf den Raum lässt sich direkter auf Bartning und dessen Auseinandersetzung mit Raumkonzepten zurückführen. Dabei spielt auch der geopolitische Raumbegriff der Nationalsozialisten eine Rolle, den Bartning schon 1947 in den Heften für Baukunst und Werkform einer Kritik unterzogen hatte. Die nationalsozialistische Doktrin vom »Volk ohne Raum« wurde von Bartning dort dem »Mensch[en] ohne Raum« gegenübergestellt.13 Darunter verstand Bartning nach den Verheerungen, die die nationalsozialistische Diktatur hinterlassen hatte, einen »Mensch[en] […] ohne erkennbare Gestalt des Lebens, der Arbeit, des Denkens und Hoffens. Mensch im Chaos«14. Einen Weg aus diesem Chaos versprach »der stille, beharrliche Fleiß zur einfachen Ordnung und gültigen Gestaltung des eigenen begrenzten Raumes […].«15 Für die Darmstädter Veranstaltung ist kennzeichnend, dass nur an einer Stelle, in der Eröffnungsrede Ludwig Metzgers zur Ausstellung »Mensch und Raum«16, auf den geopolitischen Raumbegriff der Nationalsozialisten direkt eingegangen wurde. Der in mehreren Beiträgen verwendete Begriff des Lebensraumes wurde hingegen nicht problematisiert. Eher lässt sich von einer indirekten Auseinandersetzung mit dem belasteten Raumbegriff sprechen, insofern das bereits von Bartning in Baukunst und Werkform eingeforderte Begrenzen und Beschränken in der Gestaltung von Räumen und Dingen auch in Darmstadt thematisiert und dabei über ein ›Maßhalten‹ mit für die Architektur grundlegenden Proportionslehren verbunden wurde.17 Der angestrebte neue Humanismus im Bauen sollte an ein anthropozentrisches Maß- und Raumkonzept18 in der Architektur gebunden werden. Dem korrespondierte auf andere Weise das in den Darmstädter Rede- und Diskussionsbeiträgen virulente Konzept von der Architektur als Raumgestalterin. Ebenso wurde von Raumgefühlen gesprochen. Mit beidem, der Gestaltung von Raum durch Architektur und der somatisch-affektiven Wirkung architek11 |  Zit. nach dem Denkblatt zum Darmstädter Gespräch, hg. v. der Stadt Darmstadt, Darmstadt 1951. 12 |  Vgl. Herbig 2000, S. 140. 13 |  Bartning 1947. 14 |  Ebd., S. 20. 15 |  Ebd. 16 |  Vgl. Metzger 1952, S. 22. 17 |  So etwa im Redebeitrag Peter Grunds. 18 |  Dass dieses indes auch schon der Körperpolitik der Nationalsozialisten entsprach, hat Frank Zöllner an Ernst Neufert gezeigt. Vgl. Zöllner 2014.

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tonischer Räume, schlossen die Architekten an eine durch August Schmarsow und Heinrich Wölfflin Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitete Raumdebatte in der Architektur an, die sich bis in die Architekturtheorie der 1920er-Jahre ausgewirkt hatte. Für ihre Weiterentwicklung und Verankerung im Bauen der Nachkriegsjahre stand beim Darmstädter Gespräch neben Bartning vor allem Rudolf Schwarz.19 Viele der am Gespräch beteiligten Architekten verband eine Mitarbeit für die 1947 von Alfons Leitl ins Leben gerufene Zeitschrift Baukunst und Werkform. Entweder hatten sie für die Zeitschrift geschrieben, oder aber ihre Bauten waren dort vorgestellt worden. Sie gehörten damit zu jenen Akteuren, die an die Moderne der Zwischenkriegsjahre anzuknüpfen versuchten, sich dabei jedoch gegen ein rein zweckrational und technisch verstandenes Bauen wandten. Das ›Mehr‹, das sie in das Bauen der Nachkriegsmoderne einbringen wollten, wurde als etwas ›Künstlerisches‹ oder ›Geistiges‹ benannt. Bewusst stellte man sich in die Tradition der Darmstädter Künstlerkolonie, deren 50-jähriges Jubiläum mit der Ausstellung auf der Mathildenhöhe gewürdigt wurde. Zu diesem Kreis kamen in Darmstadt mit Peter Grund und Ernst Neufert zwei Architekten hinzu (der an der Podiumsdiskussion beteiligte Paul Bonatz wäre hier ebenfalls zu nennen), die wie Heidegger dem nationalsozialistischen System nahegestanden hatten. Beide waren in der Restauration der Nachkriegsjahre wieder in öffentliche Ämter eingesetzt worden: Neufert bekleidete seit 1946 eine Professur für Baukunst an der TH Darmstadt, und Grund war 1947 zum Oberbaudirektor der Stadt Darmstadt berufen worden. Mit dem Darmstädter Vortrag »Bauen Wohnen Denken«20 versuchte Heidegger zwei Fragen zu beantworten: »Was ist das Wohnen?« und »Inwiefern gehört das Bauen in das Wohnen?« Ihnen gemäß gliederte sich der Vortrag in zwei Teile. Im ersten leitete Heidegger die Wörter ›bauen‹ und ›wohnen‹ etymologisch vom Zeitwort ›sein‹ her, sodass sich nicht nur das Bauen aus dem Wohnen erklärte, sondern beides aus dem ›Sein‹ des Menschen. Mit diesen Überlegungen schloss Heidegger an »Sein und Zeit« an. Schon darin hatte er das »In-der-Welt-sein« als ein Wohnen, als ein Sich-Aufhalten »bei […] der Welt, als dem so und so Vertrauten« bestimmt.21 Zur so hergeleiteten Exteriorität des Daseins gehört, dass es immer schon bei den Dingen ist, bei dem »Zeug«, mit dem es alltäglich umgeht. Das In-der-Welt-Sein ist ein Eingebettet-Sein in »Zeugganzheiten«, und die Dinge des Wohnens vom Alltagsgerät über das Mobiliar bis zur Architektur bilden in »Sein und Zeit« das »Wohnzeug«22; ohne 19 |  Vgl. Heß 2013, S. 97-114. 20 |  Eine französische Übersetzung von »Bauen Wohnen Denken« lag 1958 mit dem von Beaufret eingeleiteten Band vor: vgl. Heidegger 1958. 21 |  Heidegger 2006, S. 54. 22 |  Ebd., S. 68.

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dass Heidegger hier schon eigens auf die Architektur oder das Bauen eingegangen wäre. Als Seiendes stellen die Dinge von Beginn an einen Schwerpunkt von Heideggers Seinsanalyse dar. Was sie ihrem Wesen nach sind und wie sich das Ding vom »Zeug« und vom Kunstwerk unterscheidet, arbeitete er 1935/36 unter anderem im »Ursprung des Kunstwerkes« sowie 1949 in dem Vortrag über »Das Ding« weiter aus. In letzterem verwies er das Ding auf das althochdeutsche Wort ›thing‹, das Versammlung bedeutet, und schrieb insofern dem Ding zu, von versammelnder Art zu sein. Im zweiten Teil des Vortrags taucht dieser Aspekt in Zusammenhang mit der als Ding verstandenen Architektur auf. Was Bauwerke wie die Brücke nach Heidegger versammeln, ist das Geviert der Sterblichen, Göttlichen, der Erde und des Himmels.23 Damit ist, wie anhand anderer Architekturbeispiele Heideggers – dem griechischen Tempel und dem Bauernhof24 – deutlicher wird, gemeint, dass sich ein Bauwerk in geografisch-klimatische Bedingungen einfügt, dass es eine Kosmologie verkörpert, es auf die Zyklen des Lebens eingerichtet ist sowie Praktiken des Alltags und des Festes räumlich und symbolisch orientiert. Der aus Heideggers eigener Lebenswelt genommene Schwarzwaldhof, den »bäuerliches Wohnen baute«25, ist mit seiner Anlehnung an den Berghang, seinem auf Schneelasten ausgerichteten Schindeldach, mit Herrgottswinkel, Kindbett und Totenbaum Inbegriff eines existenzialen Wohnens. Heidegger fand dies offensichtlich nur noch an einer historischen vernakulären Architektur. Am Beispiel der Brücke erläuterte Heidegger zugleich das Verhältnis zwischen »Mensch und Raum« und nahm damit direkten Bezug auf das Thema des Darmstädter Gesprächs. Raum geht aus Orten hervor, ist topologischer Natur. Die Orte ihrerseits werden durch Dinge wie die Architektur allererst eingeräumt. Bauten gehören zu den primären Dingen beziehungsweise Kunstwerken, über die der Mensch Orte einrichtet und darüber Raum erfährt. Heidegger kam so zu dem Schluss, dass »[d]as Verhältnis von Mensch und Raum […] nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen«26 ist. Über seine frühere Daseinsanalyse hatte Heidegger Sein und Wohnen enggeführt und die Bedeutung des alltäglichen Umgangs mit Dingen wie dem »Wohnzeug« für das Dasein, dessen Handeln und Denken, herausgestellt. In »Bauen Wohnen Denken« verpflichtete er die Architektur auf das so existenzial verstandene Wohnen. Heidegger benannte kein konkretes Subjekt des Wohnens. All seine Ausführungen blieben auf das Abstraktum Dasein als Sein des Menschen überhaupt bezogen. Doch hatte er grundlegend auf exis23 |  Vgl. Heidegger 1952. 24 |  Beide sind Architekturen, die bezeichnenderweise für die Nationalsozialisten zu den Referenzen nationaler Baukultur gehört hatten. 25 |  Heidegger 1952, S. 83. 26 |  Ebd., S. 81.

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tenziale sowie anthropologische Aspekte des Wohnens hingewiesen, die über die bisher in der Architektur festgestellten physiologischen Bedürfnisse und über Hygienestandards weit hinausreichten. Heideggers Vortrag löste dabei nur bedingt »regen Widerspruch«27 aus. Lediglich in den Gesprächsbeiträgen Dolf Sternbergers, Hermann Mäcklers und Egon Eiermanns lässt sich eine jede revanchistische Betrachtung der Moderne und nostalgische Verklärung früherer Bauweisen zurückweisende Replik finden. Mäckler brachte das Festhalten an »technikfreie[n] Reservate[n]« in der Architektur zudem in Verbindung »mit dem doktrinären Kraftmeiertum der Blut- und Bodentheorie jeder Richtung«28 . Hatte Heidegger auf dem Darmstädter Gespräch auch nicht explizit über die moderne Technik gesprochen, so war seine kritische Haltung der Technik gegenüber dennoch bekannt. Und sie musste gerade dort ihren positiven Resonanzraum finden, wo man sich von einer einseitig auf technische und funktionale Aspekte verkürzten Architektur abzusetzen versuchte. Auf dieser Ebene gab es also durchaus Anknüpfungspunkte. Bei Bartning, der überhaupt der einzige blieb, der die Begriffe und Fragestellungen Heideggers aufnahm, wohl auch, weil er den Vortrag zuvor lesen konnte, lässt sich eine affirmative Rezeption feststellen. Diese blieb in der Architekturtheorie bis heute gültig und hat aus Heidegger eine Autorität des Wohnens und der Architektur gemacht.29 Im Anschluss an Heideggers Beiträge zum Wohnen sowie an Gaston Bachelards »Poétique de l’espace« von 1957 wurde das Wohnen zu einem eigenen Gegenstand der Philosophie.30 Im Unterschied zu Heideggers Daseinsanalyse traten hierbei anthropologische und phänomenologische Ansätze in den Vordergrund.

D ie fr anzösische W ohn - und S tadtsoziologie : W ohnen als A neignung von A rchitek tur In den 1950er-Jahren rückte auch die französische Soziologie das Wohnen in den Mittelpunkt ihres Interesses. Erste große empirische Studien zum Leben und Wohnen der Arbeiter, mit denen an vergleichbare Untersuchungen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, wie den Studien von Maurice Halbwachs zur Arbeiterklasse, ihrem Leben und ihren Bedürfnissen, angeknüpft wurde31, gingen mit Studien zum Wohnen in städtischen Großräumen 27 |  Durth/Pehnt/Wagner-Conzelmann 2017, S. 98. 28 |  Mäckler 1952, S. 131f. 29 |  Vgl. Biella 1998; oder exemplarisch Harries 2013. 30 |  Vgl. Bollnow 1963; Schmitz 1977; Goetz 2011. 31 |  Vgl. Halbwachs 1913.

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einher.32 Diese Hinwendung zum Wohnen war durch zwei weitere Faktoren beeinflusst. Zum einen wurden Ende der 1950er-Jahre die ersten sozialen Missstände des Großsiedlungsbaus sichtbar, mit dem der Staat und die Architekten nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Wohnungsnot reagiert hatten. Zum anderen hatte man von ethnologischer Seite in den 1930er-Jahren begonnen, das Alltagsleben auch der einheimischen Bevölkerung zu untersuchen. Wie aus den entsprechenden Untersuchungen hervorgeht, stand dahinter nicht nur der Umbruch zur Industriegesellschaft, sondern es knüpfte sich daran auch in Frankreich das Interesse an einer nationalen Identität. Die beiden Begründer der französischen Stadtsoziologie, Paul-Henry Chombart de Lauwe und Henri Lefebvre, waren während des Zweiten Weltkrieges in das Studium ruralen Alltagslebens eingebunden. Chombart de Lauwe gab für die von Pierre Dunoyer de Segonzac unter der Vichy-Regierung eingerichtete Eliteschule Uriage33 eine Anleitung zum empirischen Studium der ländlichen Bevölkerung Frankreichs heraus.34 Lefebvre untersuchte im Rahmen der von Georges-Henri Rivière initiierten Studien das Alltagsleben in Dörfern der Pyrenäen.35 Beide bezogen aus diesen frühen Arbeiten ethnologische Untersuchungsgegenstände und -methoden, die sie für ihre soziologischen Studien des Wohnens produktiv machten. Am »Centre d’ethnologie sociale et psychosociologie« leitete Chombart de Lauwe 1957 die Studie »Famille et habitation« zu den neuen Wohnformen in Großsiedlungen36, die für ihn »improvisierte Laboratorien«37 des Zusammenlebens darstellten. Für die Soziologen galt es einerseits zu verstehen, ob diese neuen Wohnformen den in den Industriegesellschaften veränderten Familienstrukturen entsprachen, und andererseits, ob die Großsiedlungen selbst eine Transformation der Familienstrukturen mit sich brachten.38 Der an den Experimentalwissenschaften orientierten Betrachtung der Großsiedlungen als ›Laboratorien‹ gemäß, in denen die zukünftige Gesellschaft gleichsam unter künstlichen Bedingungen herangezogen wurde, begriff sich die Studie als vergleichende Beobachtung verschiedener sozialer Schichten im neuen Wohn-

32 |  Vgl. die Arbeiten von Chombart de Lauwe 1952; Chombart de Lauwe 1956. 33 |  Zu den an der »École nationale des cadres de la jeunesse d’Uriage« durchgeführten Studien der ruralen Bevölkerung vgl. Chombart de Lauwe im Interview mit Thierry Paquot: Chombart de Lauwe 1996, S. 37-64. 34 |  Vgl. Chombart de Lauwe 1941. 35 |  Vgl. Stanek 2011, S. 5-17. 36 |  Chombart de Lauwe 1959; Chombart de Lauwe 1960. 37 |  Chombart de Lauwe 1959, S. 11. 38 | Implizit findet sich hier eine zentrale These Halbwachs’, nämlich die einer wechselseitigen Prägung von sozialer Gruppe und räumlichem Rahmen.

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umfeld.39 Mit direkten Bewohnerumfragen betrieb die Studie Feldforschung. Es wurden aber auch bereits vorliegende statistische Erhebungen über die Bevölkerung ausgewertet, ferner die Baupläne und -programme der Architekten hinsichtlich Wohnfläche, Einrichtung und urbaner Infrastruktur herangezogen. Hinzu kam eine historische Auseinandersetzung mit vernakulären Wohnformen und dem Funktionsbegriff in der Architektur. Komplettiert wurde das Ganze durch eine Reihe von Interviews mit am Bau von Großsiedlungen beteiligten Architekten und Urbanisten. Unter ihnen nahm Le Corbusier, der einen besonders langen Interviewbeitrag lieferte40, insofern eine Sonderstellung ein, als er mit der »Maison Radieuse« in Nantes nicht nur eines der in der Studie untersuchten Großsiedlungsprojekte entworfen hatte, sondern mit seinen wohnungs- und städtebaulichen Ansätzen in den 1950er-Jahren zum Vorbild für zahlreiche andere Projekte dieser Art geworden war. Abb. 1-3: »Cité de la Plaine«, »Cité de la Benauge«, »Maison Radieuse«

39 |  Vgl. Chombart de Lauwe 1960, S. 11-13, 23-31. 40 |  Vgl. Chombart de Lauwe 1959, S. 196-203.

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Konkreter Untersuchungsgegenstand der Studie »Famille et habitation« waren drei Großsiedlungen (Abb. 1-3): (1.) die von Robert Auzelle mit einem Team von Architekten nach dem Modell einer Gartenstadt geplante »Cité de la Plaine« im Südwesten des Großraums Paris. Rund 1.750 Wohnungen für 6.000 Bewohner umfassend, setzte sich die Siedlung mehrheitlich aus fünfstöckigen Wohnblöcken, aber auch aus einigen Zwei- und Einfamilienhäusern sowie öffentlichen Einrichtungen und einem Einkaufszentrum zusammen. Es dominierten Zweizimmerwohnungen mit einer maximalen Grundfläche von 44 Quadratmetern, gefolgt von Drei- und Vierzimmerwohnungen mit im Schnitt 63 und 75 Quadratmetern. Der Bau der Siedlung umfasste den Zeitraum von 1953 bis 1969. Als die Studie im Jahr 1957 durchgeführt wurde, waren 638 Wohnungen fertiggestellt und bezogen. (2.) die ebenfalls nach dem Modell einer Gartenstadt konzipierte »Cité de la Benauge« in Bordeaux, die in den Jahren 1947 bis 1955 nach Entwürfen von Jean Royer, Claude Leloup und anderen erbaut wurde. Neben mehreren drei- bis zehnstöckigen Wohnblöcken umfasste sie einige Zwei- und Vierfamilienhäuser. Rund ein Drittel des Wohnraums fiel auf Dreizimmerwoh-

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nungen, gefolgt von Vier- und Fünfzimmerwohnungen, deren Grundflächen im Schnitt fünf Quadratmeter über denen der »Cité de la Plaine« lagen. Zum Zeitpunkt der Studie waren alle 606 Wohnungen der »Cité de la Benauge« bezogen, das vorgesehene Kulturzentrum jedoch noch nicht in Betrieb. Bauträger sowohl der »Cité de la Benauge« als auch der »Cité de la Plaine« waren kommunale Wohnungsbaugesellschaften. (3.) die »Maison Radieuse« mit 291 Wohnungen von Le Corbusier unter Mitarbeit von André Wogenscky in Rézé, Großraum von Nantes, erbaut in den Jahren 1953 bis 1955. Nahezu zwei Drittel des auf zwölf Ebenen untergebrachten Wohnraums fielen auf Vierzimmerwohnungen mit durchschnittlich 85 Quadratmetern Grundfläche, innerhalb des verbleibenden Drittels nahmen Zwei- und Einzimmerwohnungen mit 51 beziehungsweise 23 Quadratmetern den Hauptteil ein. Die »Maison Radieuse« sah an integrierten öffentlichen Einrichtungen einen Kindergarten auf dem Dach und innerhalb des Gebäudes Gemeinschaftsräume und Einkaufsmöglichkeiten vor. Bauträger war eine kommunale Baugenossenschaft. Die als Grundlagenforschung verstandene Studie gab sich als Dialog zwischen Soziologen und Architekten aus.41 Dabei erhoben ihre Autoren nicht den Anspruch, Rezepte für ein richtiges Bauen zu erstellen, sondern beabsichtigten, die Architekten darüber aufzuklären, für wen sie eigentlich bauten. Dazu gehörten etwa die Hinweise, dass die Unterschreitung eines Mindestmaßes an Wohnfläche pro Person und eine zu geringe akustische Dämmung im Wohnungsbau das Familienleben nachhaltig beeinträchtigen und Psychopathologien hervorrufen können. Ein weiterer Aspekt, auf den die Studie einging, war die Diskrepanz zwischen den Funktionen, die von Architekten einzelnen Räumen zugeschrieben wurden, und den Funktionen, die diese Räume im Alltag tatsächlich erfüllten. Schließlich machte die Studie darauf aufmerksam, dass der standardisierte Wohnungsbau auf die Bewohner als »Bastler«, die sich ihren Wohnraum nach ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen einrichten, die Ecken für sich und Schränke für ihre Dinge brauchen, nicht ausgelegt sei. An diesem Punkt hakte die spätere Studie »L’habitat pavillonnaire« unter der Leitung von Lefebvre ein. Die Soziologen um Chombart de Lauwe hatten mit ihrer Arbeit deutlich gemacht, dass eine auf physiologische Bedürfnisse reduzierte Vorstellung vom Bewohner zu kurz greift. Mit dem Begriff der »aspirations«, den Bestrebungen oder Wünschen in Bezug auf das Wohnen, hatte Chombart de Lauwe zudem ein neues Konzept in die Wohndebatte der Nachkriegsmoderne eingebracht. Im Gegensatz zu den eher universellen und objektiven Bedürfnissen waren die Wünsche der Bewohner historisch wandelbar, subjektiv gelagert und von vielen Variablen wie soziale Schicht, Einkommen, Wohn-, Familien- und Arbeitssituation, Alter und Geschlecht abhängig. So sehr das Team um Chombart 41 |  Vgl. Chombart de Lauwe 1960, S. 12.

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de Lauwe damit den Bewohner als soziales und symbolisches Wesen berücksichtigt hatte, blieb derselbe gleichwohl noch weitgehend passiv. Er hatte zwar im alltäglichen Leben und Wohnen eigene Bedürfnisse und auch Wünsche, musste sich mit diesen aber – mehr oder minder erfolgreich – in gegebene Wohnstrukturen einfügen. Indem die Soziologen die Architekten und Planer von Großsiedlungen insbesondere mit den Wünschen und Vorstellungen der Bewohner vertraut machte, arbeitete die Studie auf ihre Weise daran, die Anpassung zwischen Bewohner und Wohnung zu optimieren. Wie die Interviews mit den Architekten zeigten, war deren Interesse am konkreten Bewohner begrenzt. Für die meisten Architekten besaßen die Bewohner zu wenig Wissen über die Architektur selbst, über ihre ästhetischen und funktionalen Notwendigkeiten und ökonomischen Sachzwänge, um angemessen über den Wohnungsbau urteilen zu können. Man wollte sie zwar mithilfe der Soziologen studieren, als Akteure, also aktiv Gestaltende des Wohnens und Wohnungsbaus wurden sie jedoch nicht betrachtet. Auch die zur gleichen Zeit in Deutschland geführten Diskussionen benannten den Bewohner noch als einen zu erziehenden Faktor des Wohnungswesens. So herrschte auf den unter dem Titel »schöner wohnen« seit 1957 vom Verband der Deutschen Teppich- und Möbelstoffindustrie veranstalteten Gesprächsforen die Ansicht vor, dass die Erziehung zum richtigen Wohnen schon in der Schule mit einem entsprechenden Unterrichtsangebot zur ästhetischen Produktion und Rezeption von Räumen beginnen sollte.42 Vergleichbare Argumente finden sich bereits im Kontext des Neuen Bauens und Wohnens der 1920er- und 1930er-Jahre.43 Nach den existenzialen und phänomenologischen Beiträgen zum Wohnen aus der Philosophie von Heidegger und Bachelard führten Studien wie »Famille et habitation« dazu, dass die Soziologie in die Wohndebatten der Nachkriegsmoderne einzog. Dies gilt umso mehr für die Studien zum Wohnen, die von Lefebvre geleitet oder zumindest inspiriert worden waren. Das sind »L’habitat pavillonnaire« aus der Mitte der 1960er-Jahre und Philippe Boudons Studie über die Siedlung »Pessac« von Le Corbusier aus dem Jahr 1969.44 In kritischer Auseinandersetzung mit Chombart de Lauwes Studien lehnten die Soziologen um Lefebvre die quantitativen Befragungen in der Soziologie ab. Denn noch Chombart de Lauwe hatte sich der quantitativen Umfragen bedient, wie seine Studien überhaupt in der Tradition der großen demografischen Erhebungen zu Großstädten aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und ihren Visua42 |  Das erste Forum leitete Bartning. Zu den Foren lud der Verband namhafte Architekten ein, die über den Wohnungsbau sprachen. Sie sind publiziert unter: »Diskussions-Forum schöner wohnen«. 43 |  Vgl. Taut 1924; Behne 1927. 44 |  Vgl. Raymond et al. 2001; Boudon 1969.

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lisierungen stehen. An ihre Stelle rückten ungelenkte Interviews sowie von der Ethnologie übernommene Dokumentationsverfahren. Zudem wollten die Soziologen um Lefebvre weniger etwas über die Wünsche und Vorstellungen der Bewohner in Erfahrung bringen, sondern sehen, was diese konkret tun, wenn sie wohnen. Ausgangspunkt von »L’habitat pavillonnaire« waren ebenfalls die von Seiten der Architekten und des Staates in den Nachkriegsjahren favorisierten Großsiedlungen; also das Bauen in die Höhe und das kollektive Wohnen, dem das individuelle Wohnen im Eigenheim gegenüberstand, das sich in die Breite städtischen und ländlichen Raumes entwickelte. In Diskrepanz zur offiziellen Bau- und Wohnpolitik hatten Umfragen indes schon 1947 ergeben, dass sich die Mehrheit der Franzosen ein Leben im individuellen Eigenheim wünschte. Das nahm die Forschergruppe um Lefebvre für ihre Studie zum Anlass und zeigte, dass diese Wohnform unabhängig von ihrer kleinbürgerlichen Ideologie etwas ermöglichte, das die standardisierte Wohneinheit in den Großsiedlungen offensichtlich nicht in derselben Weise tat: die Einfriedung von Räumen, das Einrichten von Räumen durch die Anordnung von Objekten, das Schaffen von Rückzugsorten etwa in Zimmerecken oder anderen Nischen des Hauses sowie die Pflege der Räume, das heißt das Sauberhalten bestimmter Räume im Gegensatz zur Vernachlässigung anderer. Lefebvre verstand diese Strategien als alltägliche Praktiken, mit denen sich die Bewohner ihren Wohnraum aktiv aneigneten. Architektur als das scheinbar fertig Geformte wurde durch die Bewohner weiter-, gar umgeformt, wie das schließlich auch Boudons Studie zu »Pessac« zeigte. Abb. 4: Aneignungen modernen Wohnungsbaus am Beispiel der »Quartiers modernes Frugès« in Pessac: Rückbau der für Le Corbusier typischen Fensterbänder

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Seit dem Erstbezug Ende der 1920er-Jahre hatten die Bewohner der von Le Corbusier und Pierre Jeanneret geplanten Siedlung zahlreiche Änderungen an den Typenhäusern »Pessacs« vorgenommen. Die für Le Corbusier charakteristischen horizontalen Fensterbänder waren verkleinert worden, die durch Aufständerung entstandenen Freiflächen zugebaut, außen am Baukörper entlanggeführte Treppen überdacht, die Dachterrassen ihrer Funktion enthoben (Abb. 4). Die Bewohner der Siedlung »Pessac« hatten also zusätzliche Räume eingefriedet, die Häuser mit eigenem Mobiliar eingerichtet oder bestimmte Räume wie die Dachterrassen verwahrlosen lassen. Die Aneignung häuslicher Umwelt war damit nicht nur im Einfamilienhaus möglich, ein Vorbild standardisierten Wohnungs- und funktionalen Städtebaus wie »Pessac« hatte sie ebenso ermöglicht. Boudon und Lefebvre führten das darauf zurück, dass Le Corbusier einen rein auf seine Funktionen berechneten geometrischen Raum umsetzen wollte, faktisch jedoch einen plastischen, modellierbaren Raum geschaffen hatte, den sich die Bewohner nach ihren Bedürfnissen und gemäß ihren Praktiken einrichten konnten.45 Während Le Corbusier das als ein Scheitern verstand46, demonstrierten die soziologischen Studien der 1960er-Jahre an diesen Aneignungsstrategien hingegen die Produktivität des Wohnens und seiner Akteure. An Lefebvres Argumentation ist aufschlussreich, dass sie auf einer Auseinandersetzung mit Bachelards und Heideggers Beiträgen zum Wohnen basiert. Sprach Lefebvre Heidegger zu, dem Wohnen eine tiefergehende Bedeutung für das Sein gegeben zu haben, kritisierte er gleichwohl an ihm, dass Bauformen eines existenzialen Wohnens lediglich noch in vorindustriellen Gesellschaften aufgefunden werden konnten. Heidegger, so schrieb Lefebvre im Vorwort der Gemeinschaftsstudie »L’habitat pavillonnaire«, »warnt uns«, dass »sich eine nach ökonomischen oder technologischen Vorschriften errichtete Wohnung ebenso vom Wohnen entfernt wie die Sprache der Maschinen von der Dichtung. Er sagt uns nicht, wie wir im ›Hier und Jetzt‹ Gebäude und Städte bauen.«47 Auch Lefebvre wendete sich gegen den funktionalistischen Massenwohnungsbau, projizierte das in einem emphatischen Sinn aufgefasste Wohnen allerdings nicht auf eine vormoderne Epoche geschichtlichen Seins. Die alltäglichen Praktiken des Wohnens stellten für ihn gerade in der Gegenwart ein emanzipatorisches Potenzial dar, das gegen die Akteure eines ausschließlich funktionalen Wohnungs- und Städtebaus in Anschlag zu bringen war.

45 |  Vgl. Lefebvre 1969, S. IX. 46 |  Vgl. Boudon 1969. 47 |  Lefebvre 2001, S. 8.

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Von den Akteuren des Wohnungsbaus zu den Akteuren des Wohnens

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Die Stuttgarter Hochhäuser von Hans Scharoun Ein Wohnungsbauexperiment Elke Nagel

Ideen zum idealen Wohnen im neuen Deutschland formulierte Hans Scharoun bereits 1945 in seinem »Kollektivplan«1 für den Berliner Wiederauf bau. Seine Prägung durch die Jahre des Umbruchs zum Neuen Bauen, der Radikalität des Expressionismus und der quälenden Untätigkeit während der nationalsozialistischen Ächtung führte zu einer beachtlichen städtischen Umstrukturierung mit ersten Ansätzen einer Revolution des Wohnraums durch eine übergeordnete soziologische Komponente. Auf bauend auf der Grundidee der »Setzung des Strukturgefüges, das der Entwicklung der Zusammenarbeit auf dem Aspekt des volkswirtschaftlichen Prinzips am besten dienen konnte«2 , entstand ein großräumiges Stadtordnungskonzept. Bei seinem sozial gerechten Städtebau wollte Scharoun den Menschen in den Mittelpunkt stellen und den Wohnraum an dessen spezifische Bedürfnisse anpassen. Schon 1929 hatte Scharoun für Berlin idealisierte Wohnideen für Hochhäuser entwickelt, die in Qualität und Empfindung Einfamilienhäusern gleichkamen und zugleich die Vorteile von gemeinschaftlichen Einrichtungen aufwiesen. Bemerkenswert ist die gestalterische Idee der Demokratie, die sich bereits in Scharouns Frühwerk abzeichnet, als er 1929 die bedauerlicherweise nicht verwirklichte, als Ideal betrachtete Siedlung »Berlin von morgen« konzipierte. Jeder Wohneinheit war ein überdachter Automobil-Stellplatz und jedem Wohnblock ein Sportplatz zugedacht, was in Anbetracht der gerade erst im Aufschwung befindlichen Automobilität nachgerade visionär war.3 In den 1920er-Jahren noch als Gedankenspiel geübt, erzwang nun die Kriegszerstörung eine rasche Wiedererrichtung 1 | Vgl. Bürkle 1986, S. 79f.; Scharoun war Stadtrat und Leiter der Abteilung Bau- und Wohnungswesen des Magistrats von Groß-Berlin. 2 | Bürkle 1986, S. 86. 3 | Vgl. Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann 1992, S. 37.

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von Wohnraum. Stadtverdichtender Etagenwohnungsbau war nicht nur eine weniger raumgreifende Lösung als das individuell geplante Einfamilienhaus, sondern auch zielführender, um die Wohnungsnot zu beheben. Ein ganzes Jahrzehnt später konnte Scharoun seine Berliner Utopien in Stuttgart verwirklichen.4 Kaum in Realisierung begriffen, wurden sie 1954 von dem Stuttgarter Architekturprofessor Hans Volkart – eher vorausschauend, denn rückblickend – als intensive künstlerische Aussage gewürdigt, die den »Namen [Scharoun; Anm. d. Verf.] zu einem Begriff« werden lässt.5 Unbestreitbar außergewöhnlich sind bis heute die Form des Wohnhochhauses, die Souveränität der Einzelwohnung durch die Jonglage mit unterschiedlichen Raumgefügen in den Wohnungsentwürfen sowie die Unverwechselbarkeit der architektonischen Gestaltung. Stuttgart war mit dem von Ernst Otto Oßwald entworfenen Tagblatt-Turm 1928 schon einmal neue Wege des Hochbaus, korrekter des »hoch Bauens«, gegangen: Das 18-stöckige Hochhaus6 wurde als Manifest des Neuen Bauens in der Stadtmitte errichtet. Es gilt als die erste Stahlbetonhochhauskonstruktion und als frühestes in Sichtbeton errichtetes Hochhaus Deutschlands.7 Beim Tagblatt-Turm standen die materialtechnischen Neuerungen und der formale Kontrapunkt zur Umgebungsbebauung im Fokus, Scharoun geht mit dem zweiten Hochhaus Stuttgarts, dem 65 Meter hohen »Romeo«, den entscheidenden Schritt vom Geschäftshochhaus zum Wohnhochhaus. Im Fokus der Siedlungskonzeption stand für ihre Planer in der Regel der gemeinschaftliche Aspekt. Dagegen wirkt moderner Massenwohnungsbau oft banal und repetitiv, was häufig der Nutzung als Mietwohnung geschuldet ist.8 Scharoun bemühte sich um eine »demokratische« Architektur, kann aber trotz aller künstlerischen Radikalität nicht als »Umstürzler« bezeichnet werden. Angemessener erscheint die Formulierung von der »Verschränkung von architektonischer und sozialer Phantasie«.9 Letztlich konzentriert sich die entwurfstheoretische Auseinandersetzung auf die Formfindung, die für Scharoun auf der Klarheit der inneren Organisation beruht, Raum für Spontaneität bietet, Individualität und Gemeinschaft ausbalanciert und einen klaren Ortsbezug erkennen lässt.

4 | Vgl. Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 8. 5 | Volkart anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der technischen Hochschule Stuttgart an Scharoun 1954; vgl. Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 9. 6 | Die Bezeichnung Hochhaus erfordert eine Höhe von mindestens 50 Meter. 7 | Vgl. Dehio 1993, S. 767. 8 | Vgl. Blundell-Jones 1979, S. 94. 9 | Vgl. Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann 1992, S. 7.

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Jedes der vier im Folgenden kurz umrissenen Projekte beleuchtet einen Aspekt von Scharouns künstlerisch-soziologischer Assoziation und ihrer Verortung im gestalterischen Stilgeflecht der Nachkriegszeit. »Romeo und Julia« gelten als »Eltern« der schwäbischen »Hochhausfamilie« Scharouns, deren andere Mitglieder das Hochhaus »Salute« (Stuttgart), die Wohnanlage »Rauher Kapf« und das Wohnhaus »Orplid« (beide in Böblingen) sind.10 Wie bei echten Familienmitgliedern finden sich gemeinsame Züge, aber auch eine gewisse Variabilität. Das 1951 erlassene Erste Wohnungsbaugesetz der Bundesrepublik begünstigte die Errichtung von Eigentumswohnungen durch eine Wohnungsbaugesellschaft mithilfe von zinsfreien Darlehen und Grundsteuernachlässen. Allerdings galten diese Sonderregelungen nur für den Sozialen Wohnungsbau, dessen Errichtung so an Attraktivität gewinnen sollte.11 Allen Fördermaßnahmen zum Trotz verlief die Umsetzung schleppend, sodass auch zum Ende des Jahrzehnts noch hoher Bedarf an bezahlbarem Wohnraum bestand.12 Die beiden frühen Projekte, »Romeo und Julia« ebenso wie »Salute«, wurden von der Wohnungsbaugenossenschaft Universum Treubau als Sozialwohnungen13 errichtet. Obwohl der Soziale Wohnungsbau naturgemäß hohem Kostendruck unterlag, verlor Scharoun seine architektonisch-entwerferischen Ziele nicht aus dem Blick. 10 | Vgl. Geist/Kürvers/Rausch 1993, S. 112. Fertigstellung »Romeo« 1957, Fertigstellung »Julia« 1959, Fertigstellung »Salute« 1963 durch Universum Treubau-WohnungsGmbH; zur »Familie« gehören auch die Gebäude der Siedlung Charlottenburg-Nord (Erweiterung der Siemensstadt), Fertigstellung 1960. 11 | Die 1951/52 verfassten Richtlinien für die Wohnungsbaupolitik (Kabinettsvorlage vom 6.9.1951) sehen hierbei ausdrücklich die Förderung von Wohnungsbauinitiative vor: »[…] die Sparkraft noch weiterer Kreise für den Wohnungsbau, insbesondere für Eigenheime und Stockwerkswohnungen auf viele Jahre hinaus dadurch zu binden, daß Sondertarife für öffentliche und private Bausparkassen geschaffen werden, nach denen der Bausparer in bestimmter Frist nach Ansparung etwa eines Drittels der Bausumme die gesamten Finanzierungsmittel von der Bausparkasse erhält.« Vgl. www.bundes​ archiv.de (Aufruf am 30.8.2017). 12 | Das Gesetz schrieb einen Richtwert von 1,8 Millionen zu bauenden Wohnungen bis zum Jahr 1956 fest. Der Bundesminister für Wohnungsbau wies darauf hin, dass die Bundesregierung sich darauf festgelegt habe, gemäß dem ersten Wohnungsbaugesetz im Wohnungsbau das Problem mit der höchsten Priorität zu sehen und eine Bereitstellung von jährlich 300.000 Wohnungen des Sozialen Wohnungsbaues zu ermöglichen. Dieser Wechsel müsse eingelöst werden: Im Jahre 1950 seien trotz des befriedigenden Ergebnisses von 355.000 Wohnungen nur 268.000 des Sozialen Wohnungsbaues gebaut worden; vgl. www.bundesarchiv.de (Aufruf am 30.8.2017). 13 | Die Sozialwohnungen waren allerdings als Eigentumswohnungen, nicht als Mietwohnungen geplant.

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Für ihn war das Wesentliche der Baukunst nichts weniger als »die Sinndeutung des Lebens der Menschheit«, wozu auch insbesondere die Schaffung eines förderlichen baulichen Umfelds für das Wohnen gehörte.14 Der Architekt wollte der Theorie, wonach Stadt der freie Zusammenschluss selbstständiger Individuen sei, angemessenen gebauten Raum geben. Raum und Mensch prägten sich somit in Scharouns Vorstellung wechselseitig, wobei der Mensch das Subjekt des Raums, nicht das Objekt im Raum sein sollte. Seine Entscheidungsfreiheit sollte stets gewahrt bleiben.15 Die großstädtische Anonymität der Etagenwohnungen fördere den Individualismus und zugleich müsse der Wohnblock als soziale Großstruktur unterschiedlicher Nutzer funktionieren, so Scharoun.16 Er hatte schon in den 1930er-Jahren Siedlungsbauten und Mietshäuser in Berlin aus dieser Vorstellung heraus geplant. So wurde beispielsweise sein Wettbewerbsbeitrag mit dem Konzepttitel »Nachbarschaft« für die Siemensstadt zur Realisierung ausgewählt.17 Die Siedlung in Zeilenbauweise entstand 1929-1931 in Zusammenarbeit mit Walter Gropius, Otto Bartning, Hugo Häring, Fred Forbát und H.P. Henning. Häuser und Landschaft sollten sich in der Siedlung als gleichberechtigte Partner zu einem Ganzen verbinden. Das Spiel der Volumina mit Licht und Schatten sowie planvolle Ausblicke waren schon hier ein Charakteristikum des Entwurfs. 1933 wurde die Wohnzeile in der Berliner Zweibrückenstraße als Postulat des selbstbestimmten Kollektivs realisiert. Dieser aus eigenem Willen versammelte Personenkreis sollte an die Stelle des zufälligen Zusammenschlusses von Bewohnern innerhalb einer Mieterschaft treten. In der Kriegszeit hingegen plante Scharoun keine Siedlungen mit gestalterischem Eigenwert. Richtungsweisend sind eher seine Zeichnungen von utopischen Monumentalgebäuden, die Scharouns Gedanken über eine zukünftige Gesellschaft repräsentieren. Auch diese sind weniger als politische Zeitkritik zu lesen, denn als Analyse der zeitgenössischen Musterlösungen.18 Scharoun attestierte den Deutschen fehlende Bereitschaft zur Selbstständigkeit, was er anhand des architektonischen Pendants der unmenschlichen Maßstäbe der Propagandabauten begründete. Hinsichtlich seiner politisch neutralen Studien während der Kriegszeit muss angenommen werden, dass er sich selbst in die Kritik mit einschloss.19 Nur vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen im Siedlungsbau ließ sich der innovative Weg der Wohnungsbaugesellschaft Universum Treubau und von Scharoun in der Nachkriegszeit überhaupt gehen. Während die meisten 14 | Zit. n. Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 16. 15 | Vgl. Kirschenmann/Syring 1993, S. 215. 16 | Vgl. ebd., S. 235; vgl. Blundell-Jones 1979, S. 50. 17 | Vgl. Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann 1992, S. 24. 18 | Vgl. ebd., S. 73. 19 | Vgl. ebd., S. 63-70.

Die Stuttgar ter Hochhäuser von Hans Scharoun

Sozialwohnungen auch in den 1950er-Jahren als Mietwohnungen im Eigentum der Bauherrschaft, nicht selten einer Genossenschaft, blieben und sich durch langfristige Mieteinnahmen refinanzierten, waren die Wohnungen der Universum Treubau zum sofortigen Verkauf an Privatpersonen vorgesehen. Zunächst wurde die Idee der spekulativen Errichtung von Eigentumswohnungen misstrauisch beäugt. Nicht wenige hielten sie genau deshalb umso mehr für eine geradezu waghalsige wirtschaftliche Exposition, als dass sie als Sozialwohnungen ohne Streben nach maximalem Verkaufsprofit errichtet wurden. Doch nach dem schnell sichtbaren Erfolg und der offenkundigen Wertschätzung der Käufer, avancierte die Kombination aus expressiver Gestaltung und Vorfinanzierung durch eine Genossenschaft zu einem lukrativen Geschäftsmodell.20 Der bezifferbare materielle Gewinn der Wohnungsbaugesellschaft Universum Treubau aus dem Verkauf der Wohnungen dürfte neben dem immateriellen Gewinn, verursacht durch den gesamtgesellschaftlichen Anschub neuer Wohnungsbaukonzepte, verblassen. Die Stuttgarter Hochhausgruppe »Romeo und Julia« war Scharouns erster Großauftrag nach dem Krieg.21 Er sah, bestärkt durch den Wunsch der Stadtplanungsbehörden in Stuttgart, eine Hochhausgruppe als Dominante für das neue Stadtgebiet zu errichten, seine Chance für ein expressionistischfunktionalistisches Experiment. Um Topografie und Bauplatz angemessen zu würdigen, griff er zu zwei vollkommen unterschiedlichen Kubaturen und Erschließungsstrukturen: »Romeo«, schmal und hochaufragend mit einem innenliegenden Treppenhauskern, war zu seiner Bauzeit mit 20 Stockwerken das höchste Wohnhaus der Bundesrepublik und diente als Landmarke der neuen Siedlung. »Julia« trat mit der gestaffelten Kubatur und dem Laubengang hinzu. Aus beiden Hochhäusern entstand so eine stimmige Gesamtform (Abb. 1-4). Die Entwürfe für »Romeo und Julia« zeigen einen unverkennbaren Charakter, der sich mit den Funktionen trefflich verknüpfte und, kurzgefasst, als »expressiver Funktionalismus« bezeichnet werden kann. Der Funktionalismus trug dem herrschenden Bedarf an Wohnraum Rechnung, ging aber auch eine Symbiose mit der spekulativen Wohnungsbaustrategie der Universum​

20 | 1967 widmet Universum Treubau dem Architekten eine Ausstellung, die in der Berliner Akademie der Künste und anschließend in Wien und Graz sowie 1968 in Stuttgart gezeigt wurde. Laut der Begleitbroschüre waren expressis verbis zwei Jahrzehnte Zusammenarbeit zu würdigen, die 1952 mit dem Hochhausprojekt »Romeo und Julia« für den Stuttgarter Stadtteil Rot begonnen hatte. Vgl. Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, o. S. [S. 1]. 21 | Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann 1992, S. 98.

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Abb. 1-4: »Romeo und Julia«, 1955–1959, Stuttgart

Treubau ein.22 Erwartungsgemäß trafen die Entwürfe nicht auf ungeteilte Begeisterung: »Als 1952 erstmalig die […] Pläne für die Hochhäuser ›Romeo und Julia‹ den Behörden und der Öffentlichkeit vorgelegt wurden, lösten sie gleichermaßen begeisterte Zustimmung wie echte Schocks aus.« Die Wohnungsbaugesellschaft trat den Kritikern mit leicht süffisantem Unterton entgegen: »Der Welle der Ablehnung wegen Fehlens eines Dauerwertes, mangelnder Wirtschaftlichkeit und ähnlichen Überlegungen konnte dank der tatkräftigen finanziellen Hilfe des Bauförderungsamts der Stadt Stuttgart entgegengetreten werden.«23 22 | Vgl. Blundell-Jones 1979, S. 14; Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 26: Aus der Zusammenarbeit der Investitionsgesellschaft Universum Treubau mit Scharoun ging die »Arbeitsgemeinschaft für individuelles Wohnen und wirtschaftliches Bauen« hervor. 23 | Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 12.

Die Stuttgar ter Hochhäuser von Hans Scharoun

Insgesamt wurden 104 ein- bis vierräumige Wohnungen mit 38 bis 96 Quadratmetern in einen radialen Gesamtgrundriss integriert. In »Julias« Hufeisenform mit Laubengängen setzte der Architekt den nachbarschaftlich-partizipatorischen Gedanken und das Prinzip der Freiheit der Berliner Wiederaufbauplanung um.24 Durch die Höhenstaffelung bietet »Julia« nur Platz für 82 Wohneinheiten, wobei es dem Architekten expressis verbis um den »Wohnvorgang« ging, der der Gestalt zugrunde liegt. Wichtig war »[…] die Art der Verbindung mit der Umwelt, um die Einbeziehung des Spiels des Lichts und um die Art der Wegeführung [zu perfektionieren; Anm. d. Verf.]. Soweit dies im engen Bezirk des sozialen Wohnungsbaus möglich ist.«25 Die Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem Projekt blieb weiterhin gespalten, auch harsche Kritik und abschätzige Belustigung ob der unkonventionellen Raumformen mischten sich darunter. Daher beauftragte die Universum Treubau Stuttgarter Möbelhäuser mit Mustermöblierungen der innovativen Raumzuschnitte, um Alternativen zum gutbürgerlichen Einheits-Wohn- oder klassischen Schlafzimmer aufzuzeigen. Ein Schachzug, der sich auszahlen sollte: Die Investoren standen Schlange.26 Trotz der auch in Stuttgart herrschenden Wohnungsnot galt es nicht nur, die schieren Bedürfnisse nach Wohnraum zu befriedigen, sondern mit neuen Wohnkonzepten den gestiegenen Komfortansprüchen gerecht zu werden und zugleich das Bauplatzproblem der Stadt zu lösen. Besonders gut sichtbar ist das gezielte Einwirken auf die Nachkriegsgesellschaft und ihre Wohnvorstellungen beim zweiten Kooperationsprojekt »Salute« (Abb. 5, 6). Abb. 5, 6: »Salute«, 1961–1963, Stuttgart

24 | Vgl. Blundell-Jones 1979, S. 48 und Kirschenmann/Syring 1993, S. 206. 25 | Zit. n. Pfankuch 1993, S. 140. Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Scharoun durch die Universität Rom. 26 | Vgl. Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann 1992, S. 99-101.

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Universum Treubau nahm die Herausforderung des urbanen Wohnens in dichter werdenden Städten an. Gemeinsam mit Scharoun wurde die Idee der Stapelung von Eigenheimen geradezu überspitzt. »Salute« wurde als Mittelpunkt einer neuen Siedlung in Stuttgart-Fasanenhof am Rand der Stadt geplant, sodass hier städtebaulich mutiger vorangeschritten werden konnte als im Inneren der Stadt: Das Haus sticht mit seinen 20 Geschossen im wahrsten Sinne des Wortes aus seiner Umgebung heraus. Es ist ein weithin sichtbares Symbol der städtischen Raumnahme des Umlands in der modernen Gestalt des Wohnhochhauses. Wenngleich zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit angewandt, blieb die Gehäuseform für ein Gefüge unterschiedlichster Wohnungsgrößen und Wohnungszuschnitte experimentell. Jede der acht radial angeordneten Einheiten pro Geschoss wurde wie ein Einfamilienhaus bis ins Detail geplant, sodass sich 142 Eigentumswohnungen zwischen 42 und 155 Quadratmetern zu einem Ganzen zusammenfügen. Zahlreiche doppelgeschossige Einheiten wurden eingestreut und ab dem 17. Geschoss wandeln sich die Balkone in rückgestaffelte Terrassen der dort gebauten Atelierwohnungen.27 Insgesamt ergaben sich 15 verschiedene Wohnungstypen, deren Ausgestaltung weitgehend den Nutzern zur Entfaltung eines neuen Wohnbewusstseins überlassen werden sollte. »Salute« hat seine »wesenseigene« Gestalt erhalten, wie ein Geheimnis, das darauf wartet, durch die Art der Benutzung entdeckt zu werden.28 Die Bauweise »Salutes« als Wohnhochhaus sparte nicht nur wertvollen Grund, sondern auch Baukosten. Anlässlich der Verleihung des Paul-BonatzPreises 1967 an Scharoun wurde die »vorbildliche Zusammenarbeit von Bauherrschaft und Architekt« gelobt, die »noch ein weiteres höchst erfreuliches Ergebnis [hervorbrachte; Anm. d. Verf.]. Die Wohnungen konnten zu einem ungewöhnlich niedrigen Preis abgegeben werden.«29 Die gestalterische Eigenständigkeit von Scharouns Entwürfen war ein Alleinstellungsmerkmal der Wohnhochhäuser. Bis zu sechs unterschiedliche Wohnungstypen wurden zu einem Geschossgrundriss verzahnt, teils reichten sie sogar über zwei Geschosse. Individualismus und Zusammenballung in einem Hochhaus wurden gleichermaßen Rechnung getragen. Ein Regelgeschoss im herkömmlichen Sinne gibt es in Scharouns Wohnhochhäusern nicht, lediglich die tragenden Wände, die sich radial auffächern, wiederholen sich in jeder Etage. Die ausgeklügelten Grundrisskonstellationen separierten die Einheiten so geschickt voneinander, dass sich Nachbarn so wenig wie möglich gegenseitig störten, wenn sie sich innerhalb ihrer Wohnungen bewegten. Kritisch wurde hingegen konstatiert, dass die begrenzten Herstellungskosten

27 | Vgl. Kirschenmann/Syring 1993, S. 235. 28 | Vgl. Pfankuch 1993, S. 270. 29 | Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 20f.

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für den Sozialen Wohnungsbau nur zu Lasten des architektonischen Entwurfs, der Baustoffe und der Details einzuhalten waren.30 1964-1966 entsteht mit der Wohnhausgruppe »Rauher Kapf« in Böblingen die bürgerliche Variation der Wohnhochhäuser (Abb. 7, 8).31 Abb. 7, 8: »Rauher Kapf«, 1963–1966, Böblingen

Im Gegensatz zu den als Sozialwohnung errichteten Stuttgarter Hochhäusern zielte diese Siedlung mit ihren Einfamilienhäusern auf Käufer aus der Mittelschicht ab. Sie unterscheidet sich in ihren Hauptmerkmalen von den Stuttgarter Verwandten: Erstens ist im Gegensatz zu Stuttgart der Baugrund keine so knappe Ressource, dass der technisch anspruchsvolle Bau eines Hochhauses gerechtfertigt wäre. Auch die Lage des ausgewiesenen Baugrunds auf einem stadtnahen Hügel dürfte gegen ein Hochhaus gesprochen haben. Zweitens sollten in Böblingen keine Sozialwohnungen entstehen, sondern Wohnraum für die gehobene Mittelschicht, der auf dem freien Wohnungsmarkt zu bestehen hatte (Abb. 9, 10). Die Hinwendung zu gehobenen Käuferschichten lässt sich anhand der doppelstöckigen Tiefgarage und der Planung eines überdachten KFZ-Stellplatzes pro Wohnung aufzeigen.32 Drittens wurden hier die späteren Eigentümer

30 | Vgl. ebd., S. 15. 31 | Die Siedlung »Rauher Kapf« wurde 2016 vom Stuttgarter Bauforschungs- und Architekturbüro strebewerk. Architekten GmbH, vertreten durch die Autorin E. Nagel, im Auftrag des Landesamtes für Denkmalpflege Baden-Württemberg bauhistorisch begutachtet und vor dem Hintergrund der Scharoun-Bauten im Umkreis bewertet. 32 | Noch bemerkenswerter war nur die Planung für die (nicht gebaute) Siedlung »Berlin von morgen«, bei der Scharoun bereits 1929(!) jeder Wohneinheit einen überdachten Automobil-Stellplatz zuteilte. Vgl. Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann 1992, S. 37.

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schon in die Planung einbezogen und ihre Änderungswünsche als Abweichungen von Scharouns Grundkonzept weitgehend berücksichtigt.33 Abb. 9, 10: »Orplid«, 1967, Böblingen

Der partizipative Planungsprozess impliziert, dass die Käufer der 102 Eigentumswohnungen anders als bei den Stuttgarter Projekten bereits feststanden. Im Planarchiv der Siedlung34 fanden sich zudem Verteilungspläne mit Namen der künftigen Wohnungseigentümer. Auch sind die Unterschiede in den Grundrissen erkennbar, die sich zwar ähneln, aber eben nicht identisch sind. Scharoun selbst erklärte seine Entwurfsstrategie beim Richtfest: »[…] Die Umwelt des Menschen ist im wesentlichen seine Wohnwelt. Sie zu planen soll

33 | Vgl. Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 22. 34 | Sämtliche Entwurfs- und Baupläne der Siedlung fanden sich vor Ort und wurden von strebewerk. Architekten GmbH durch die Autorin katalogisiert, fotografiert und geordnet. Sie umfassen städte- und grünraumplanerische Gesamtgrundrisse der Siedlung, mehrere Plansätze der Entwurfsplanung aller Häuser in Grundriss, Ansicht und Schnitt sowie Detailzeichnungen der architektonischen Charakteristika und der Ausstattung bis hin zu einzelnen Möbelstücken sowie haus- und bautechnische Planunterlagen.

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und darf nicht alleine Aufgabe des Architekten sein. Damit wären lebendige Formen für eine solche Umwelt nicht zu gewinnen.«35 Scharoun empfand die Baustoffe der Nachkriegszeit als Herausforderung: »[…] Die letzten Jahrzehnte […] überschütteten uns mit Werkstoffen völlig neuer Substanz, Form und Struktur in vielfältiger Abwandlung. Die Fülle dieser neuen Baustoffe nicht nur zweckmäßig, sondern auch sinnvoll und ihrem Wesen entsprechend anzuwenden ist eine der Aufgaben des neuen Bauens. […] Wenn also der Architekt von heute nicht Dekorateur des technisch-wissenschaftlich Entwickelten sein will, […] muß er sich übergeordneten geistigen Aufgaben zuwenden, die es ihm gestatten, das Technische in den Dienst seines Gestaltanliegens zu nehmen.« 36

In diesem Sinne verwendete Scharoun modernste Materialien wie »Well-Skobalit« als semitransparenten Balkonsichtschutz, Waffelaluminium als nichtrostende Balkonbrüstungsbekleidung und elegante Verblechungen als Attika. Die explizite Erwähnung der Materialien, teils mitsamt den Herstellern, in den Detailplänen der Balkone weist sie als architektonisch gestaltgebend aus. Stahlbeton erlaubte die grazilen Deckenstärken und die weit auskragenden Balkonplatten in expressiven Formen. Die große Anzahl an Bewehrungs-, Matten- und Schalungsplänen, die sich im Planarchiv37 befand, zeigt die Wichtigkeit der Materialwahl und der Ausführungsqualität auf. Die Siedlungsbauten des »Rauhen Kapf« wirken weitaus weniger expressiv als die Stuttgarter Wohnhochhäuser. Das war sowohl der späteren Zeitstellung als auch, wie bereits erwähnt, der Zielgruppe aus der bürgerlichen Mittelschicht geschuldet. Ihren entwerferischen Wert offenbaren sie in der kompositorischen Konsequenz der Wohnqualität. Wie in allen anderen Bauten der »Familie« finden sich kaum rechte Winkel. Leicht können die konisch geöffneten, mit asymmetrischen Spitzen versehenen Balkone als Formalismus verkannt werden. Aus dem Innenraum heraus betrachtet wirken sie als Fortsetzung des Wohnraums in die Landschaft, als privater Freiraum im Grünen. Alle Räume haben Ausblicke zu zwei Seiten, was den ideellen Perspektivwechsel in gebauten Lebensraum übersetzt. Kleine entwerferische Detaillösungen und die ausgesuchte Palette der Farbigkeit tragen maßgeblich zur Gesamtkomposition bei, ebenso wie der gestaltete Grün- und Freiraum, der die Bauten umspielt. Die Verbindung von Umwelt und Bau führte zu einer steten Auseinandersetzung mit den Verhältnissen von Distanz und Beziehung. Erstere in der indi-

35 | Vgl. Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 24. 36 | Wendschuh 1993, S. 175. 37 | Vgl. Anm. 34.

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viduellen Gestaltung von Gebäuden, letztere als wirksame Zusammenhänge zwischen den Räumen der Stadt.38 Allem wirtschaftlichen Erfolg zum Trotz war es offenkundig notwendig, Individualismus und den Experimentalcharakter der gestapelten Einheiten gegenüber der standardisierten Bauweise mit Einheitswohnungen zu rechtfertigen. Scharoun erkannte die Typisierung zwar als technisch-wirtschaftliche Hilfe an, forderte aber, dass auf die Grundidee lebendigen Wohnens Bezug und Rücksicht genommen wird. Sonst führe Typisierung zur Einfallslosigkeit und zur Erstarrung alles Lebendigen.39 So lässt sich aus der Beobachtung des Werks eine Bilanz in drei grundlegenden Aussagen zu den Wohnbauprojekten ziehen: • 1. Die Abkehr vom rechten Winkel begründet sich in landschaftlich und menschlich bedingten Forderungen. Die expressionistische Außengestalt wird zwar mit der notwendigen Innenraumform begründet, doch ist – zumindest bei den vorgestellten Projekten der Universum Treubau – auch der Markenwert nicht zu unterschätzen. Die gestalterische Relevanz der Bauten und ihr Wiedererkennungswert lagen im Interesse des Architekten und des Verkäufers. • 2. Die Wohnung wird als Hülle für »Wohnvorgänge« verstanden. Detailpläne für einzelne Wohneinheiten des »Rauhen Kapf« einschließlich eigens entworfener Möbel zeigen, wie detailliert die Nützlichkeit der Raumschale geplant war. Die Maßnahmen zur Individualisierung der Wohnungen mit Verschiebungen von einzelnen Wänden, Anordnung der Türen und Adaption der Ausstattung mögen hinter dem Gesamtkonzept zurücktreten. Marginal waren sie nicht, denn darin zeigt sich die Reflexion der Gesellschaft. Überall wird das Miteinander der Bewohner durch den Gesamtgrundriss gestärkt, die Vielfalt und Differenziertheit der Einzeleinheiten betonen das Individuelle. So lässt sich der Folgerung zustimmen: »Der Homo scharouniensis bleibt [eben; Anm. d. Verf.] selbst am äußersten Stadtrand noch Großstädter.«40 • 3. Scharoun bereichert den anthropozentrischen Ansatz Härings um die Dimension der Einbeziehung der Landschaft und der »unbelebten Natur«. Sein Gestaltungswille umfasste den Wohnraum als architektonischen Entwurf, als ein ausgewogenes soziales Gefüge im Inneren und als städtebauliche Komponente des Beziehungsgeflechts unterschiedlicher Distanzen und Räume.

38 | Vgl. Kirschenmann/Syring 1993, S. 225. 39 | Oppenländer/Dorn/Hastenteufel 1968, S. 24. 40 | Hoh-Slodczyk/Huse/Kühne/Tönnesmann 1992, S. 99-101. 

Die Stuttgar ter Hochhäuser von Hans Scharoun

Scharouns Einfluss auf den Wohnungsbau der Nachkriegszeit war stark konzeptionell bedingt, seine Gestaltungsprinzipien waren zu expressiv, zu charakteristisch, um sich für massenhafte Nachahmung zu eignen. Das Zusammenfügen von Wohneinheiten unterschiedlicher Größe und Ausformung zu einem städtebaulichen Konstrukt, das die breite soziale Schichtung der Stadt abbildet, wirkte hingegen ganz sicher inspirierend für viele nachfolgende Generationen.

L iter atur Blundell-Jones, Peter: Hans Scharoun – Eine Monographie, Stuttgart 1979. Bürkle, Johann Christof: Hans Scharoun und die Moderne – Ideen, Projekte, Theaterbau. Wolfsburger Beiträge zur Stadtgeschichte und Stadtentwicklung, Frankfurt a.M. 1986. Dehio, Georg: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Baden-Württemberg I, München/Berlin 1993. Geist, Johann Friedrich/Kürvers, Klaus/Rausch, Dieter: Hans Scharoun – Chronik zu Leben und Werk, Akademie der Künste, Berlin 1993. Hoh-Slodczyk, Christine/Huse, Norbert/Kühne, Günther/Tönnesmann, Andreas: Hans Scharoun – Architekt in Deutschland 1893–1972, München 1992. Kirschenmann, Jörg C./Syring, Eberhard: Hans Scharoun – Die Forderung des Unvollendeten, Stuttgart 1993. Oppenländer, Willi/Dorn, Gerda/Hastenteufel, Andreas: Hans Scharoun, gewidmet von der Firma Universum Treubau Stuttgart aus Anlaß der Ausstellung Stuttgart 1968 nach zwei Jahrzehnten Zusammenarbeit, Stuttgart 1968. Pfankuch, Peter (Hg.): Hans Scharoun – Bauten, Texte, Entwürfe. Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 10, Berlin 1993. Schaugg, Johannes: High-Rise Buildings/Hochhäuser Stuttgart, o.O. 2006. Threuther, Christina: Hans Scharouns Architekturzeichnungen aus der Zeit von 1939 bis 1945, Frankfurt a.M. 1994. Wendschuh, Achim: Hans Scharoun – Zeichnungen. Aquarelle, Texte. Schriftenreihe der Akademie der Künste, Bd. 22, Berlin 1993.

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Die architektonische Großform Wie Otto Ernst Schweizers Lehre den Wiederaufbau prägte Martin Kunz

»[...] Da Ihre Schule die einzige in Deutschland überhaupt in Betracht kommende Schule ist, möchte ich gerne die noch offenen Stellen mit Ihren Schülern besetzen. Ich würde mich am meisten freuen, wenn es mir gelänge, einige Männer vom Schwergewicht des Herrn Selg zu bekommen [...].«1

Diese Zeilen schrieb Rudolf Schwarz in seiner Funktion als Generalplaner der Stadt Köln Ende 1949 an Otto Ernst Schweizer, der kurz vor seinem 60. Geburtstag auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen war. Aufgrund seines hohen Ansehens unter Kollegen, das er sich schon in den 1920er-Jahren mit seinen realisierten Projekten und in den 1930er-Jahren mit seinen Schriften erarbeitet hatte, avancierte Schweizer direkt nach Kriegsende zu einem gefragten Berater für die Wiederauf bauplanungen. Unterstützt wurde dies durch seinen kompletten Rückzug in die Lehre2 während des Nationalsozialismus und seiner damit einhergehenden Distanz zum Regime. Seine Schüler waren aufgrund der schon in den 1930er-Jahren auf die Stadt als Organismus ausgelegten städtebaulichen Lehre von Schweizer als fähige Praktiker gesuchte Planer für den Wiederauf bau.

1 | Brief von Rudolf Schwarz an Otto Ernst Schweizer vom 16.12.1949, in dem er Schweizer seine Probleme im Requirieren von fähigen Stadtplanern und Architekten für den Wiederaufbau von Köln klagt. Werkarchiv Otto Ernst Schweizer, Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau am Karlsruher Institut für Technologie. 2 | Der einzige von Schweizer während des Nationalsozialismus errichtete Bau war sein eigenes Wohnhaus in Baden-Baden.

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V om A rchitek ten zum L ehrer Wenn der Name Otto Ernst Schweizer fällt, geschieht dies in den meisten Fällen im Zusammenhang mit seinen bekannten Bauten wie dem Prater-Stadion in Wien, dem Nürnberger Stadion oder dem Milchhof in Nürnberg. Diese Bauten wurden in den späten 1920er-Jahren begonnen, zeugen aber bis heute von der avantgardistischen Handschrift Schweizers. Dieser starke Fokus auf das Frühwerk ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass Schweizer ab den 1930er-Jahren nur noch sehr wenige Bauten realisieren konnte. Mit seiner Berufung auf den Lehrstuhl für städtischen Hochbau, Wohnungs- und Siedlungswesen an der Technischen Hochschule in Karlsruhe konzentrierte sich Schweizer ab Anfang der 1930er-Jahre neben der Fertigstellung seiner Bauten in Wien und Nürnberg auf die Lehre und die Ausarbeitung seiner theoretischen Überlegungen zur Grundlage des architektonischen Schaffens. Direkt nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten scheint Schweizer in den neuen Bauaufgaben mit Versammlungsplätzen und städtebaulichen Großprojekten eine Chance für sich zu sehen, kann sich aber mit der gewünschten architektonischen Stilrichtung nicht anfreunden. Spätestens 1934, als in Nürnberg sein Planetarium abgerissen wird, zieht er sich komplett in die Lehre und Theorie zurück. Die wenigen Wettbewerbe, an denen er in den nächsten Jahren noch teilnimmt, sind geprägt von einer klaren, modernen Architektursprache, mit der er gänzlich keine Chancen auf die vorderen Plätze hat. Besonders radikal ist hier sein Wettbewerbsbeitrag für den Ausbau der Kurstadt Baden-Baden von 1936/37, der von einer transparenten, lichtdurchfluteten Stahl-Glasarchitektur getragen wird, die für den Stahlbetonbauer Schweizer untypisch ist, sich aber von der Architektur des Dritten Reiches noch stärker distanziert als seine bisherigen Projekte.3 Nach fünf Jahren an der Hochschule bringt Schweizer 1935 seine erste Lehrstuhlpublikation »Über die Grundlagen des architektonischen Schaffens« heraus4, in der er zum ersten Mal seine grundlegenden theoretischen Ansichten zur Architektur und Stadtplanung niederlegt. Ergänzt werden seine Aufsätze durch eine Präsentation seiner eigenen Entwürfe und Bauten. In einem dritten Teil setzt er diese in Relation zu den Arbeiten seiner Studenten. Diese Dreiteilung aus zuerst theoretischen Grundlagen der Architektur und Stadtplanung, dann Schweizers eigener Umsetzung in Entwürfe und schließlich in einem dritten Teil die Interpretation seiner Studenten, wird zum Leitfaden für seine weitere Lehre.

3 | Vgl. Boyken 1996, S. 172-175. 4 | Schweizer 1935.

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E nt wicklung städtebaulicher und architek tonischer Theorien in den 1930 er -J ahren Nachdem Schweizer schon in Nürnberg grundlegende Überlegungen zur Architektur und Stadtplanung ausarbeitete5, vertieft er diese Überlegungen mit seinem Ruf nach Karlsruhe. Seine einzelnen theoretischen Ansätze kumuliert er 1931 in dem Entwurf einer Idealstadt. Aufgebaut ist sie nach dem Prinzip einer mehrachsigen Bandstadt mit einem Zentrum in der Mitte. Die einzelnen Stränge orientieren sich dabei an den Verkehrsadern und bestehen aus Wohntrabanten mit 10-15.000 Einwohnern.6 Getrennt durch einen Grünstreifen wird ein Industriegebiet an diese Wohnsiedlungen angedockt. Die maximale Ausdehnung dieser Flächen orientiert sich an der Gehgeschwindigkeit des Menschen. Der Arbeiter soll in maximal 20 Minuten in der Lage sein, von seiner Wohnung zu seiner Arbeitsstätte zu laufen (Abb. 1).7 Abb. 1: Otto Ernst Schweizer: Die Neue Stadt. Idealplan einer Großstadt (1931)

5 | Wie weit diese Überlegungen schon gediehen waren, geht sehr gut aus seinem Tagungsbericht »Altstadt und Neuzeit«, erläutert am Beispiel Nürnberg hervor; vgl. Schweizer 1929. 6 | Bei der Anzahl der Anwohner gibt Schweizer selbst zwei unterschiedliche Zahlen an. Bei der Legende zu dem Plan gibt er 10-15.000 an, im begleitenden Text spricht er dann von 10-20.000 Einwohnern. Da er bei späteren Musterlösungen für die Trabanten von Zahlen von 10-15.000 ausgeht, dürfen diese Zahlen stimmen. 7 | Vgl. Schweizer 1935, S. 1.

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In seiner reduzierten, mehr auf Nutzungskonzepte als auf Architektur ausgelegten schematischen Darstellung wird dieser Entwurf zum Archetypus für die städtebauliche Lehre Schweizers. In einem nächsten Schritt detailliert Schweizer eine der Siedlungen durch. Aber auch hier erinnert der Entwurf mehr an das ideale Diagramm einer Siedlung als an einen fertigen Bauplan. Die Musterbeispiele, die Schweizer auf theoretischer Ebene entwirft, sind Idealbeispiele, die vor der Umsetzung noch an den realen Ort angepasst werden müssen. Dies wird in den nächsten Jahrzehnten stilprägend für die Architekturlehre von Schweizer werden. Da Schweizer für diese Musterlösungen gerne auf Elemente aus eigenen Entwürfen zurückgreift, besteht immer wieder das Problem, dass einige seiner Schüler diese Formen als exakte Vorgaben ansehen und nicht als eine grobe Ideenskizze, die noch an die örtlichen Gegebenheiten angepasst werden muss. Schweizer selbst greift in seinen eigenen Entwürfen auch immer wieder auf die Bausteine zurück, passt sie in den Details aber stets an den Ort und die Entwurfsaufgabe an. Exemplarisch sei hier Schweizers Entwurf für den neuen Stadtkern von (Duisburg-)Rheinhausen erwähnt, in dem er seinen Bebauungsvorschlag einer Straßeneinfahrt mit dreieckigem Autounterstand an fünf Stellen vorsieht, jedoch in allen Fällen an die Umgebungssituation anpasst. Schweizer gehört zu den wenigen modernen Architekten seiner Zeit, die in der Baugeschichte die Grundlage für das Finden neuer Formen sehen. Für den Entwurf des Prater-Stadions in Wien studiert er die antiken Sportstätten, insbesondere das Kolosseum in Rom. Schweizer interessiert sich hier hauptsächlich für die maximale Größenausdehnung eines Stadions in Abhängigkeit von der Sehfähigkeit des Menschen und den idealen Auf bau der Zuschauerränge und Treppenanlagen in Bezug auf die möglichst schnelle Räumung eines solchen Großbaus. Er kommt zu der Erkenntnis, dass das Kolosseum hier schon in beiden Fällen die ideale Lösung darstellt. Er orientiert sich folglich bei seinem Stadion in Wien an diesem Vorbild, auch wenn er es als modernen Stahlbetonskelettbau ausführt. Seine Erkenntnisse zu den Anforderungen moderner Sportstätten und ihrer historischen Vorbilder publiziert er 1938 in der Publikation »Sportbauten und Bäder«.8 Den modernen Stahlbetonskelettbau sieht Schweizer als den Nachfolger der Gotik. In seinem Aufsatz »Ueber das Wesen des Architektonischen«9 schreibt er hierzu: »›Die gotische Baukunst hat ihren Kunstgehalt im Organismus‹ (Alberti). Die Architektur wieder vom Aesthetischen aufs Organische umzustellen, ist die Aufgabe der Zeit. Die

8 | Schweizer 1938. 9 | Schweizer 1935, S. IIIf.

Die architektonische Großform Architektur von heute ist eine Weiterentwicklung der Gotik als eines Konstruktionsorganismus zur Umschließung typischer Raumformen.«10

Seine Lehre ist in den 30er-Jahren noch stark von seiner bisherigen Arbeit in Stadtplanungsämtern geprägt. Er geht immer wieder auf die Baugesetze ein, die er stark kritisiert, da sie nicht mehr zu den aktuellen Anforderungen passen. Er fordert seine Schüler dazu auf, sie trotzdem intensiv zu studieren, um Schlupflöcher zu finden, mit denen sich eine zeitgemäße Bebauung umsetzen lässt. In seinen Augen wurde in den letzten Jahrzehnten nur noch versucht, eine maximale Ausnutzung der Fläche zu erreichen, worunter die Qualität und die hygienischen Bedingungen stark gelitten haben. Schweizer fordert seine Studenten dazu auf, elastische Bebauungspläne zu entwerfen, die sich flexibel an den Ort anpassen. Als ein wichtiges neues Handwerkszeug betrachtet Schweizer die 1925 in Berlin eingeführte »Ausnützungsziffer«, mit der Stadtplaner nun erstmals die Möglichkeit haben, eine Dichte für eine Fläche vorzugeben, ohne konkrete Baufluchten, Massen und Gebäudehöhen vorzuschreiben.11

S chweizers K onzep te zum W ieder aufbau Schweizer arbeitet schon 1943 an einem Konzept zur Neuordnung des Großraums Karlsruhe gemeinsam mit Friedrich Raab, Professor für Straßen- und Eisenbahnwesen. Er orientiert sich dabei an seinem »Idealplan einer Großstadt« von 1931, passt ihn räumlich aber an die bestehenden und neu geplanten Verkehrsachsen sowie die Topografie an. Da Schweizer die bestehenden Zentren für identitätsstiftend hält, sie aber in ihrer existierenden Form als den aktuellen Bedürfnissen nicht mehr angemessen ansieht, plant er ein zweites neues Zentrum an der geplanten, westlich vom aktuellen Zentrum gelegenen Nord-Süd-Achse, auf Höhe der Reinhold-Frank-Straße (Abb. 2). Auch wenn Schweizer zu den stringenten modernen Architekten zählt, die die weiträumigen Zerstörungen durch den Krieg als eine Chance zur Neustrukturierung sehen, betont er immer wieder, dass es Bereiche in der Stadt gibt, die erhalten werden sollen, in besonderen Fällen setzt er sich sogar für eine Rekonstruktion ein. In Karlsruhe zählen für ihn der Bereich des Marktplatzes und die Via Triumphalis dazu. Diese Achse soll zumindest in ihrer äußeren Erscheinung wiederhergestellt werden. Beim Rathaus von Friedrich Weinbrenner hält Schweizer den Eingangsbereich mit der Treppe und den oberen Saal für ein so herausragendes Ensemble der Architekturgeschichte, dass er sich hier für eine Rekonstruktion des Innenraumes einsetzt. 10 | Ebd., S. III. 11 | Vorlesung vom 19.2.1932, Werkarchiv OES.

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Abb. 2: Otto Ernst Schweizer: Neuordnung der Stadt Karlsruhe

Die überregionalen Verkehrswege, insbesondere die Autobahnen und Schienentrassen, aber auch die Flussschifffahrtswege, nehmen für Schweizer eine Schlüsselstellung in seinen Strukturplänen zum Wiederauf bau ein. Schweizer erkennt recht früh, dass die gute Erreichbarkeit eine Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung einer Region wird. Die Kunst ist es dabei zu bewerkstelligen, dass Stadtzentren und die neuen Industriegebiete von den Verkehrsfernwegen aus schnell zu erreichen sind, aber möglichst wenig Durchgangsverkehr durch die Zentren geschleust wird. Schweizer nutzt, sofern möglich, die großflächigen Neuplanungen dazu, die Stadtzentren weitestgehend vom Autoverkehr zu befreien und die Hauptströme durch Bypässe am Zentrum vorbei zu leiten. Schweizer setzt sich sehr dafür ein, dass sich die Fußgänger die Zentren wieder zurückerobern. Mit diesem Konzept ist er seiner Zeit voraus. Die Fußgängerzonen fangen erst in den 60er-Jahren an, sich durchzusetzen. Da Schweizer bewusst ist, dass solche teils radikalen Konzepte einen Rückhalt in der Bevölkerung benötigen, ist er bemüht, diese von den Vorteilen und den positiven Möglichkeiten des modernen Wiederauf baus zu

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überzeugen. Erwähnt werden soll hier sein Radiointerview vom 30. Januar 1949 im Radio Stuttgart mit dem Titel »Vom Wiederauf bau zerstörter Städte«, das später im Kairos Verlag Baden-Baden gedruckt wird.12 In diesem Interview geht er auch darauf ein, dass die Stadtzentren in einer Zeit entstanden sind, als unsere Städte noch deutlich kleiner waren, und dass die damals gebauten offenen Plätze nicht mehr den heutigen Anforderungen entsprechen. Schweizer schlägt vor, die neuen Zentren als eine langgezogene Achse auszubilden, da die Bevölkerung heute das Bedürfnis hat, sich fortzubewegen. Die später flächendeckend realisierten Fußgängerzonen werden fast alle nach diesem Muster umgesetzt. Diese neuen Zentren, die er als »Forum« bezeichnet, sollen mit einem Park oder einer Grünfläche kombiniert werden, um den Menschen noch bessere Erholungsmöglichkeiten zu bieten. Ein Vorschlag, der sich nicht durchsetzen sollte. Ein ganz wichtiger Punkt ist für Schweizer auch die Kommunikation unter der Bevölkerung. Nur wenn diese gegeben ist, besitzt das Zentrum eine Aufenthaltsqualität für die Bevölkerung. Unter seinen Schülern wird die Frage »Wo treffen sich die Leute?« zu einem geflügelten Wort bei den Entwurfsbesprechungen, sodass das »Rundkaffee« bei seinen Schülerarbeiten recht schnell zu einem Standardelement wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schweizer die Stadt von außen nach innen betrachtet und die Stadterweiterungen nach dem Prinzip der Bandstadt entlang der Verkehrswege plant; dass er das historische Zentrum erhalten möchte, aber durch ein neues »Forum« ergänzt und im Zentrum eine Trennung von Fußgängern und Autoverkehr anstrebt.

D ie S chweizer -S chule Die Schüler von Schweizer bilden von Anfang an eine geschlossene Gruppe, die die theoretischen Überlegungen ihres Lehrers aufgreift und in realisierte Projekte umsetzt. Dies zeigt sich besonders stark nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schüler von Schweizer halten Kontakt untereinander und sind bei mehreren Projekten als Team beteiligt. Insbesondere zeigt sich dies beim Wiederauf bau der Universität Freiburg, bei dem der Schweizer-Schüler Horst Linde eine ganze Gruppe von Kommilitonen um sich versammelt. Als im Jahr 1950 Schweizers 60. Geburtstag ansteht, bringen sie zu seinen Ehren die Publikation »Otto Ernst Schweizer und seine Schule, die Schüler zum sechzigsten Geburtstag ihres Meisters«13 heraus. Nach einer Einführung in das architektonische Werk Schweizers stellen die Schüler eigene aktuelle Projekte aus der Praxis vor. Es geht dabei um Wiederauf bauplanungen in den Städten Mainz, 12 | Schweizer 1949. 13 | Streif 1950.

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Köln, Lörrach, Waldshut, Baden-Baden, Freiburg und Karlsruhe. Danach werden noch aktuelle Studienarbeiten des Lehrstuhls gezeigt. Dieser Publikation kann man entnehmen, dass die Schweizer-Schüler der 1930er-Jahre in der ersten Phase des Wiederauf baus schwerpunktmäßig im Südwesten aktiv waren. Ihre Tätigkeitsgebiete waren dabei sehr weit gefasst, von kleineren konkreten Bauaufgaben bis hin zu größeren städtebaulichen Projekten. Dabei finden sich Projekte, die die architektonische Lehre von Schweizer eins zu eins umsetzen, sowie auch städtebauliche Planungen, die trotz ihrer grundsätzlichen Orientierung an Schweizers Lehre einen neuen Weg einschlagen. Im Folgenden soll an ausgewählten Projekten gezeigt werden, wie Schweizers Städtebau-Grundsätze von einzelnen Schülern im Wiederauf bau umgesetzt werden.

D ie ersten Ü berlegungen zum W ieder aufbau von K arlsruhe Als 1948 ein Ideenwettbewerb zum Wiederauf bau der Kaiserstraße ausgelobt wird, werden 91 Arbeiten eingereicht.14 Das Fachpreisgericht ist mit Otto Bartning, Richard Döcker, Roman Heiligenthal und Schweizer hochkarätig besetzt. Es befinden sich in allen vier ausgezeichneten Beiträgen Schüler von Schweizer. In dieser Gruppe ragen die beiden Beiträge der Teams von Richard Jörg und Adolf Bayer sowie Horst Linde und Rudolf Diehm noch einmal heraus und zeigen die individuelle Weiterentwicklung der Schüler. Bei der Beurteilung der Arbeiten ist zu berücksichtigen, dass es sich um einen Ideenwettbewerb handelte, der Visionen für den Wiederauf bau der Kaiserstraße aufzeigen sollte. Es ging hier nicht darum, Lösungen zu finden, die 1:1 umgesetzt werden können. Der Beitrag von Jörg und Bayer ist sicherlich der radikalste. Sie nutzten die starken Zerstörungen, um einen vollständigen Neuanfang vorzuschlagen. Große Bereiche der traditionell in einer geschlossenen Blockrandbebauung errichteten Innenstadt sollen durch freistehende Zeilen ersetzt werden, um mehr Grünfläche im Zentrum zu ermöglichen. Nur noch die direkte Umgebung der Kaiserstraße soll eine geschlossene Häuserfront erhalten. Der Schlossplatz soll seine auf das Schloss ausgerichtete Form verlieren und mit mehreren größeren Gebäuden bebaut und von einer Schnellstraße zerteilt werden. In dem Entwurf befinden sich etliche Ansätze, die auf Marcel Lods zurückgehen, in dessen Projektgruppe beide am Wiederauf bau von Mainz mitarbeiten. Auch die 14 | Hans Eckstein erläutert den Ideenwettbewerb und sieben der eingereichten Arbeiten in der Zeitschrift Bauen und Wohnen; vgl. Eckstein 1948.

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Plangrafik des Wettbewerbs erinnert stark an die Pläne von Mainz. Trotz der radikalen Ansätze beachten sie jedoch Schweizers Lehre zum Erhalt wichtiger, identitätsstiftender Bauten und Plätze für die Stadt. Der Marktplatz und die Via Triumphalis werden in ihrer städtebaulichen Komponente erhalten, wie auch wichtige Gebäude: das Rathaus, die evangelische Stadtkirche, die katholische Kirche St. Stephan, die Hauptpost, die Kunsthalle, das Theater und das Schloss. Das Team Linde und Diehm reicht einen Beitrag ein, der sich deutlicher an die Lehre von Schweizer anlehnt. Ihr Entwurf respektiert viel stärker den städtebaulichen Charakter von Karlsruhe. Er orientiert sich an der Blockrandbebauung, bricht diese aber zu den Seitenstraßen auf und kombiniert kleinere Blöcke so, dass sie einen aufgebrochenen Großblock bilden. Die Kaiserstraße wird auf der Höhe der Hauptpost zu einem großen Platz erweitert. Zwischen der Herrenstraße und der Waldstraße springt die nördliche Bebauung zur Auflockerung der eintönigen Flucht zurück. Auch die Herrenstraße wird zum Schloss hin verbreitert und durch einen Grünstreifen ergänzt. Linde und Diehm setzen damit Schweizers Forderung nach mehr Grünfläche konsequent um und schaffen durch die Verbreiterung der Kaiserstraße an zwei Stellen die Möglichkeit neuer Stadtplätze im Zentrum. Der große Erfolg der Schweizer-Schüler bei diesem Wettbewerb zeigt, wie gut dieser seine Schüler mit der am Organismus Stadt ausgerichteten Lehre auf die Wiederauf bauplanungen vorbereitet hat. Bei dem später erfolgten Wiederauf bau der Kaiserstraße wurden nur sehr wenige moderne Ansätze realisiert. Von den Fachpreisrichtern war Schweizer als Einziger noch am Planungsstab für den Wiederauf bau beteiligt.15

D er W ieder aufbau der U niversität F reiburg Während bei den anderen Projekten noch darüber diskutiert wird, in welcher Form der Wiederauf bau realisiert werden soll, ist Linde zusammen mit Diehm und Arnold Tschira schon mit dem Wiederauf bau der Albert-Ludwigs-Universität beschäftigt. Neben dem Wiederauf bau und Neubau der ersten Institutsgebäude nutzten sie auch die Planungen zu einer Neustrukturierung des UniCampus, der bis dahin von mehreren Straßen durchbrochen wird. Sie fassen die einzelnen Parzellen zu einem großen Areal, durchzogen von einer Parkanlage, zusammen. Die einzelnen Gebäude werden locker in dieser Parklandschaft gruppiert, wodurch eine Mischung aus kommunikativen Treffpunkten und konzentriertem Arbeiten entstehen soll.16 15 | Karlsruhe, Wiederaufbau der Kaiserstraße, 1949, Werkarchiv OES. 16 | Vgl. Streif 1950, S. 39-47.

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Der Wiederauf bau der Universität Freiburg war sowohl für Linde als auch Tschira der Beginn einer großen Karriere. Linde wurde 1951 Leiter der staatlichen Bauverwaltung des Bundeslandes Baden in Freiburg und 1957 Leiter der Hochbauverwaltung im Finanzministerium Baden-Württemberg. Tschira wurde 1950 auf den Baugeschichte-Lehrstuhl der TH Karlsruhe berufen und machte neben seinen Forschungen zur Antike mit der Wiederherstellung der Benediktinerabtei Schwarzach auf sich aufmerksam.

D ie W ieder aufbaupl anungen von unter M arcel L ods

M ainz

Die Planungen für den Wiederauf bau von Mainz, geleitet von Lods, stehen bis heute für fehlgeleitete Visionen einer neuen Stadt. Lods, der in den Jahren davor gemeinsam mit Le Corbusier Konzepte für eine Erneuerung der Architektur ausarbeitete, wollte Mainz in die modernste Stadt der Welt verwandeln und von dem – in seinen Augen – negativen Habitus der mittelalterlichen Stadt befreien. Die Schaubilder hierzu, gezeichnet von Gérald Hanning, gelten bis heute exemplarisch für die Vision der neuen Stadt.17 Auch wenn Schweizer in seinen Ansichten nie die Radikalität von Lods erreichte, konnten sich seine Schüler mit diesen Ideen anfreunden. In Mainz waren Bayer und Jörg in leitender Funktion in das Projekt integriert. Bei der Detaillierung der Planungen kann man immer wieder feststellen, wie sie versuchen, die Anforderungen von Schweizer an eine gute Architektur zu integrieren.18 Sie achten dabei im Zentrum darauf, dass die Freiflächen nicht mehr vom motorisierten Verkehr zerschnitten werden und in den Wohngebieten ein ausgewogenes Verhältnis aus Grünfläche und Volumen des Gebäudes existiert. Weiterhin planen sie in den neuen Wohngebieten die von Schweizer favorisierten Stichstraßen, die ein starkes Verkehrsaufkommen verhindern. Nach seiner Tätigkeit in Mainz wird Bayer Stadtbaudirektor in Offenbach am Main und 1961 als Nachfolger von Schweizer Professor für Städtebau und Entwerfen an der TH Karlsruhe. Jörg wird 1952 Stadtbaurat in Mannheim.

17 | Für die Planungen von Lods in Mainz siehe Cohen 2013. 18 | Streif 1950, S. 19-27.

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V om W ieder aufbau in K öln und zurück nach K arlsruhe

B onn

Nach einem kurzen Intermezzo als Architekt in Freiburg wird Karl Selg Mitarbeiter im Wiederauf baustab von Schwarz in Köln, wo er in den nächsten Jahren mehrere kleinere Siedlungen in Köln und Bonn realisiert. Neben seiner praktischen Tätigkeit in Köln promoviert Selg 1951 bei Schweizer.19 Auch wenn Selg den städtebaulichen Strukturen der Lehre von Schweizer folgt, entwickelt er bei den Hochbauten eine eigene Handschrift. Schweizer gefallen die Hochbauten von Selg. Als Schweizer 1954 den Wettbewerb für die Innenstadt von Duisburg-Rheinhausen gewinnt und auch einen Teil realisieren kann, übernimmt Selg als Partner die Planungen vor Ort. Die Architektur der Zeilenbauten lässt aufgrund ihrer mit Holzelementen verkleideten Loggien darauf schließen, dass sie auf Entwürfe von Selg zurückgehen. Die Zeilenbauten in Rheinhausen passen von ihrer Gestaltung genau in Selgs architektonische Entwicklung zwischen den früheren Projekten in Köln und den späteren Zeilenbauten in der Waldstadt in Karlsruhe. 1956 bekommt Selg den Auftrag für eine Trabantenstadt in Karlsruhe (Waldstadt), deren städtebauliche Struktur mit ihren Stichstraßen, Zeilenbauten und Gewerbe-Inseln der Lehre Schweizers entspricht. Im selben Jahr erhält er einen Lehrauftrag an der TH Karlsruhe. Später wird er hier zum Professor für Wohnungsbau, Siedlungswesen und Entwerfen berufen.

S chweizers W erk in den N achkriegsjahren Nachdem die Städte größtenteils von den Trümmern befreit sind, geht es mit großen Schritten an den Wiederauf bau. Neben zahlreichen Gremien und Preisgerichten beteiligt sich Schweizer auch an Wettbewerben oder erstellt Vorschläge zu Bebauungsplänen. Schon 1946 wird Schweizer nach einem internen Wettbewerb mit den Planungen für ein Theater und Konzerthaus in Freiburg i.Br. beauftragt, kann das Projekt dann aber nicht realisieren. Als es gegen Ende der 40er-Jahre zu den Planungen für Bonn als neuer Hauptstadt kommt, gehört er zu den ersten Planern. Schweizer entwirft ein Regierungsgebäude, ein Hotel, eine Großgarage und mehrere Raumplanungen. Ab 1950 entstehen zahlreiche Planungen für Mannheim, angefangen bei einer Strukturplanung für den Großraum Mannheim bis hin zu mehreren Bebauungsplänen und Gebäuden für die Stadt. Realisieren kann er davon nichts. Neben ein paar kleineren Projekten verwirklicht er nach dem Krieg überhaupt nur noch

19 | Selg 1951.

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eine Siedlung in Rheinhausen und das Kollegiengebäude II der Universität in Freiburg. Aber auch wenn er keine größeren Projekte mehr umsetzen kann, ist er unter den Vertretern der modernen Architektur immer noch hoch angesehen. So wird er von Bartning zum 2. Darmstädter Gespräch unter dem Titel »Mensch und Raum« eingeladen und hält dort einen Vortrag mit dem Titel »Die architektonische Bewältigung unseres Lebensraumes«, in dem er die Architektur der Zeit dafür kritisiert, dass sie sich nur noch um das einzelne Gebäude kümmere und den architektonischen Raum nicht beachte. Schweizer ermahnt seine Kollegen, dass sie sich wieder stärker mit der Geschichte befassen sollen, um zu erkennen, dass Architektur mehr als ein einzelnes Gebäude ist: »[...] das heißt sie beschränken in ihren Vorstellungen den Aufgabenkreis der Architektur auf das einzelne Gebäude – oder die Zusammenfassung von mehreren Gebäuden zu einer formalen Einheit – und auf das Ästhetische. Sie stehen wenn sie dies tun unter dem Einfluß einer Tradition, die sich in Jahrhunderten gebildet hat und um 1900 alleinseligmachend war, heute aber überholt ist oder es wenigstens sein sollte. Das Gewicht hat sich in unserem Jahrhundert immer mehr von dem einzelnen Gebäude auf das Ganze einer Stadt oder eines Stadtteils verschoben. Zwar ist natürlich das einzelne Bauwerk nach wie vor als Aufgabe der Architektur vorhanden, aber die wesentliche Aufgabe, die uns heute gestellt ist, ist doch die: ein Großordnungssystem zu finden, das den bedeutenden Gegebenheiten Rechnung trägt, mit denen sich der moderne Architekt auseinandersetzen muß: mit dem Einbruch der Landschaft und der Technik in die Welt des Gebauten.« 20

Als Richard Döcker 1949 vom Präsidium der CIAM die offizielle Einladung einer deutschen Delegation für die VII. CIAM-Tagung in Bergamo erhält, gehört Schweizer zur ausgelesenen Gruppe von Architekten, die Döcker nach Bergamo bittet. Neben Schweizer schreibt Döcker noch Häring, Hebebrand, Scharoun, Schwarz und Taut an.21 Doch man kann mutmaßen, dass 1949 keine deutsche Delegation nach Bergamo fuhr.22 Zwei Jahre später, zur VIII. CIAM-​Tagung in Hoddesdon verhält es sich ebenso.23 Im Jahr 1957 bringt Schweizer mit seiner Publikation »Die architektonische Grossform«24 eine Zusammenfassung über sein bisheriges Schaffen heraus. 20 | Schweizer 1951. 21 | Brief von Döcker vom 2.5.1949, Werkarchiv OES. 22 | Brief von Döcker zum CIAM VIII vom 13.6.1951, Werkarchiv OES. 23 | Die Aussagen, ob Schweizer an dem Kongress in Hoddesdon teilnahm, widersprechen sich. Nachvollziehen lässt sich anhand seiner Skizzenbücher (125, 126), dass er sich zum fraglichen Zeitpunkt in England in der Nähe von Hoddesdon aufhielt. 24 | Schweizer 1957.

Die architektonische Großform

Es beinhaltet neben seinen wichtigsten theoretischen Schriften einen Überblick über seine Lehre, seine Entwürfe und seine realisierten Bauten. Oswald Mathias Ungers, der auch unter Schweizer studierte, bezieht sich knapp zehn Jahre später in seinem Vortrag »Grossformen im Wohnungsbau«25 im Titel auf diese Publikation. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1960 bringt Schweizer mit seiner Publikation »1930-1960, Otto Ernst Schweizer, Forschung und Lehre«26 einen Rückblick auf seine drei Jahrzehnte umfassende Lehrtätigkeit. Der Band greift die Dreiteilung seiner ersten Lehrstuhlpublikation auf und beinhaltet Aufsätze von Schweizer, einen Überblick seiner wichtigsten Werke und stellt in deren Kontext passende Entwürfe seiner Schüler vor. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schweizer, auch wenn er in den Jahren nach dem Krieg keine größeren Projekte realisieren konnte, durch seine Tätigkeit in den Gremien zum Wiederauf bau und seine Teilnahme in Preisgerichten und Konzeptvorschlägen zur Neustrukturierung einen großen Einfluss auf den Wiederauf bau im Südwesten genommen hat. Der praktische Wiederauf bau hingegen wurde von seinen Schülern umgesetzt, die noch lange nach seinem Tod freundschaftlich verbunden waren und die städtebauliche Entwicklung, vor allem im Südwesten, im Sinne Schweizers umsetzten.

L iter atur Als Quelle der vorliegenden Untersuchung diente, soweit nicht gesondert angegeben, das Werkarchiv von Otto Ernst Schweizer im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau am Karlsruher Institut für Technologie. Boyken, Immo: Otto Ernst Schweizer 1890-1965, Bauten und Projekte, Stuttgart 1996. Cohen, Jean-Louis: »Die französischen Planungen in Mainz und im Saarland, 1945–1949«, in: Ders./Hartmut Frank (Hg.): Interferenzen. Interférences. Architektur, Deutschland–Frankreich 1800-2000, Tübingen 2013, S. 334340. Eckstein, Hans: Ideenwettbewerb Kaiserstraße Karlsruhe, in: Bauen und Wohnen, 3, Heft 8-9 (1948), S. 206-210. Schweizer, Otto: Altstadt und Neuzeit, in: Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz, Würzburg und Nürnberg 1928, Berlin 1929, S. 253-259. Schweizer, Otto Ernst: Über die Grundlagen des architektonischen Schaffens, Stuttgart 1935. Schweizer, Otto Ernst: Sportbauten und Bäder, Berlin 1938. 25 | Ungers 1966. 26 | Schweizer 1962.

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Schweizer, Otto Ernst: Vom Wiederauf bau zerstörter Städte, Baden-Baden 1949. Schweizer, Otto Ernst: Die architektonische Bewältigung unseres Lebensraumes. Sonderdruck aus dem Darmstädter Gespräch, o.O. 1951. Schweizer, Otto Ernst: Die architektonische Grossform. Gebautes und Gedachtes, Karlsruhe 1957. Schweizer, Otto Ernst: Otto Ernst Schweizer: Forschung und Lehre. 1930– 1960, Stuttgart 1962. Selg, Karl: Stadtrand-Sanierung, Karlsruhe 1951. Streif, Werner: Otto Ernst Schweizer und seine Schule. Die Schüler zum 60. Geburtstag ihres Meisters, Offenburg 1950. Ungers, Oswald Mathias: Grossformen im Wohnungsbau. Vortrag, bearb. durch Hartmut Schmetzer und Ulrich Flemming, Berlin 1966.

Architekten zwischen »Heimatschutz« und einer neuen Baukultur Das Beispiel Graz im Wiederaufbau1 Monika Stromberger

Die Steiermark, insbesondere die Zentren der Schwermetallindustrie in Graz und der Obersteiermark, waren stark von den Luftangriffen des Zweiten Weltkriegs betroffen. In der Hauptstadt des Bundeslandes (respektive des Reichsgaus) Graz fanden zwischen 1941 und 1945 insgesamt 57 Luftangriffe statt, die 7.773 Gebäude zerstörten, 8.999 Wohnungen unbenutzbar machten und 11.065 Wohnungen beschädigten.2 Damit führt Graz vor Knittelfeld (Obersteiermark) die Schadensstatistik in dieser Region an.3 Die Grazer Altstadt wurde im Vergleich zu vielen deutschen Städten allerdings nur geringfügig beschädigt. Bombentreffer verursachten etwa beim Amtsgebäude in der Schmiedgasse, dem Opern- und dem Schauspielhaus, rund um den Tummelplatz, der Franziskaner- und Stadtpfarrkirche, der Alten Universität, dem fürstbischöflichen Palais, der Handels- und Gewerbekammer in der Burggasse oder der Nationalbank Schäden unterschiedlicher Qualität. Ungleich weitreichender waren die Schäden im Grazer Westen, hier besonders rund um den Hauptbahnhof, entlang der Bahntrasse und im Umkreis der Kasernen sowie industrieller Betriebsstätten.4

1 | Dieser Beitrag basiert weitgehend auf den Ergebnissen des Forschungsprojekts »Architekturdiskurse in der Steiermark«, finanziert vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, Projektnr. 14735, ausgeführt von der Autorin gemeinsam mit Ulrich Tragatschnig unter der Leitung von Helmut Konrad, sowie auf jenen des Projekts »Der Verein für Heimatschutz in Steiermark«, geleitet von Antje Senarclens de Grancy, gefördert vom Verein für BauKultur und weiteren Institutionen. 2 | Vgl. Brunner 1989, S. 88. 3 | Vgl. Krautzer 1989, S. 9-20. 4 | Vgl. Brunner 1989, S. 11-18.

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Diese Zerstörungen wurden speziell in den urbanen Zentren durchaus zum Anlass genommen, ohnehin bereits beschädigte, »nicht mehr geschätzte« Gründerzeit-Bauten sowie andere »Unkorrektheiten« durch die Notwendigkeit des raschen Wiederauf baus zu korrigieren sowie die städtebaulichen Strukturen zu vereinfachen.5 Dies versteht sich in Analogie zu der von Werner Durth und Niels Gutschow für den westdeutschen Bereich konstatierten Abscheu vor dem Durcheinander oder den Zufälligkeiten historischer Stadträume in ihrer Studie »Träume in Trümmern«6 sowie in Ansätzen vergleichbar mit den städtebaulichen Konzepten, wie sie Georg Wagner-Kyora für einige deutsche Städte 7 aufzeigt. Die Darstellung des verantwortlichen Landesbaudirektors, Paul Hazmuka, von 1948 verweist jedenfalls darauf, dass der Wiederauf bau dezidiert zum Anlass einer entflechtenden Neustrukturierung städtebaulicher Zusammenhänge genommen wurde: Es wäre »trotz aller Widerstände aus vielen Kreisen der Bevölkerung Ordnung in das Bauen gebracht«8 worden. Vor diesem Hintergrund sind die Weltkriegsdevastierungen als Katalysatoren längst als notwendig erachteter Modernisierungsprozesse zu deuten. Die Diskurse in der Zwischenkriegszeit in Österreich zeigen insgesamt die Tendenz, das Konzept einer »bodenständigen Moderne« gegenüber einer zunehmend negativ besetzten »internationalen« Modernisierung zu bevorzugen, was dazu führt, dass dieses Konzept immer stärker ideologisch vereinnahmt wird. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg steht hier unter etwas anderen Vorzeichen, da man allgemein eine »Stunde Null« und einen »Neubeginn« propagiert.9 Dabei nehmen Graz und die Steiermark eine besondere Position in diesem Diskussionszusammenhang um den Wiederauf bau ein. Es ist davon auszugehen, dass die schon für die Zwischenkriegszeit typische ambivalente Konstruktion von »Tradition und/versus Moderne« in den Wiederaufbau- und Erneuerungsdiskursen ein ähnliches Bild zeigt wie in den Jahren vor dem Krieg. Gemeinsam mit dem durch den materiellen Mangel und durch die normative und gestalterische Verunsicherung nach dem Ende einer langjährigen Phase autoritärer Regime (in Österreich 1934–1945) bedingten experimentierfeindlichen Klima der Nachkriegszeit bildet sich so eine lokal- und regionalspezifische Neuverortung zum architektonischen Neubeginn, den die Architekt/-innen rund um die sogenannte »Grazer Schule« ab etwa Mitte der 1960er-Jahre ausrufen.10 5 | Schuster 1997, S. 81-85. 6 | Vgl. Durth/Gutschow 1988, S. 237-284. 7 | Wagner-Kyora 2014. 8 | Hazmuka 1948, S. 130. 9 | Vgl. Hanisch 2005, S. 395-399; de Grancy 2007. 10 | Vgl. unter anderem Achleitner 1983, S. 340-345; Ecker 1992, S. 9; Wagner/de Grancy 2012.

Architekten zwischen »Heimatschut z« und einer neuen Baukultur

Diese Ambivalenz zeigt sich nicht etwa in einer möglicherweise zu unterstellenden Polarität zwischen dem »Verein für Heimatschutz in Steiermark« und den rund um und an der Technischen Universität Graz agierenden maßgeblichen Architekten der Nachkriegszeit, sondern gerade in ihrer wechselseitigen Beziehung und Beeinflussung in Hinblick auf konkrete wichtige Projekte im Stadtraum von Graz. Der »Verein für Heimatschutz in Steiermark« wurde 1909 im Zuge ähnlicher Institutionalisierung in anderen europäischen Ländern gegründet – es ging dabei vor allem um die Vermittlung von Konzepten des »heimatlichen« Bauens an Bauherr/-innen, Ämter und Architekt/-innen. 1938 wurde der steirische Verein dem »Deutschen Heimatbund« einverleibt. Nach Kriegsende gründete der pensionierte Grazer Professor für Volkskunde, Viktor Geramb, den Verein als steirische Einrichtung neu. Der Verein wurde in dem Zusammenhang nun als »dezidiert unpolitisch« definiert, die Abgrenzung zum ideologisch besetzten militärischen »Heimatschutz« der Zwischenkriegszeit war immer wieder ein Problem, wurde allerdings erst durch eine Namensänderung nach 2000 gelöst. Strukturell und personell war der neue Verein eng verbunden mit der Landesbaudirektion für Steiermark, die wiederum für die Koordination des Wiederauf baus im Bundesland zuständig war: Der bereits erwähnte Hazmuka agierte als Obmannstellvertreter. Dies bedeutete, dass man auf diese Weise starken Einfluss auf die Bautätigkeit im Lande ausüben konnte. Mit den beiden Persönlichkeiten konnten auch unterschiedliche Felder besetzt werden, sodass der Verein in diesen Jahren eine breite Palette an Themen diskutierte und gestaltete: klassische Volkskundethemen, Bauanleitungen, technische und bauwirtschaftliche Problematiken etc.11 Die noch während des Nationalsozialismus konzipierte »Landbaufibel« des Vereins erschien 1948 und galt unter konservativen Rezipienten als »Pionierleistung«. Sie gab in einer Art »normativer Didaktik« Regeln für das »heimische« Bauen vor und griff dabei auf Traditionen der Zwischenkriegszeit zurück – teilweise unter Heranziehung einiger »moderner« Elemente, teilweise unter strikter Ablehnung anderer. Was letztlich »wahre Volkskultur« und richtiges »heimatliches« Bauen bedeuten sollte, blieb dennoch verschwommen, es sollte nur »einfach« und »zweckmäßig« gebaut werden – und nur keine Anlehnung an die Bauten der Gründerzeit sein (Abb. 1)!12

11 | Zur Geschichte des Vereins vgl. de Grancy 2013a. 12 | Vgl. de Grancy 2013b; Stromberger 2013, S. 152f.

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Abb. 1: Steirische Landbaufibel, 1948 (Titelbild)

Der Verein trug darüber hinaus in bewusst unpolitischer Manier zur Professionalisierung der Baukultur das seine bei: Verstärkt wurde das Thema »Bauen« in den Medien (vor allem in Zeitungen, aber auch zunehmend in Radiosendungen) präsentiert – durchaus belehrend, wie es schon in den Anfängen seiner Geschichte konzipiert war –, es wurde die Notwendigkeit ausgebildeter Architekt/-innen, professioneller Handwerker/-innen und Künstler/-innen bei der Gestaltung von Gebäuden betont. Bedeutende Architekten wie Friedrich Zotter, Karl Raimund Lorenz – auf die noch zurückzukommen sein wird –, Josef Hoffmann oder Karl Lebwohl gewann man für den Beirat.13 Eine Vorreiterrolle in Österreich spielte hier Hazmuka, insofern als er schon in den 1950er-Jahren freie Wettbewerbe für öffentliche Bauten forcierte. Dies wurde bundesweit erst in den 1970er-Jahren zum beherrschenden Modell. Im Jahr 1959 wurde im Zusammenhang mit der Auszeichnung, die der Verein vergab, der Begriff »Baukultur« bereits als gesellschaftlicher Auftrag definiert: »In zunehmendem Maße bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß die Frage guten oder schlechten Bauens keine Angelegenheit nur der Maurermeister oder der Zimmererpolie13 | Verein für Heimatschutz in Stmk. an Herrn Landesamtsdirektor Hofrat Dr. Koban (über telephonischen Auftrag). Graz, 12.01.1946, in: Steiermärkisches Landesarchiv [StLA] VHSt, K 88, H. 327; vgl. auch Stromberger 2013, S. 151-158.

Architekten zwischen »Heimatschut z« und einer neuen Baukultur re, noch nicht einmal nur der Architekten allein ist, sondern daß diese Frage jedermann angeht und wahrhaftig im öffentlichen Interesse gelegen ist.«14

Als Teil der Professionalisierungsstrategie kann die Perspektive auf internationale Entwicklungen gelten, um die sich die Vereinsmitglieder bemühten. Die Vorgänge in anderen Ländern wurden kommentiert, und durch die Vernetzung des Vereins mit den Feldern Wissenschaft und Bautechnik wurde seine Arbeit auch in internationalen Foren kommuniziert. Wissenschaftler und Architekten aus Deutschland wurden eingeladen, in diesem Rahmen Vorträge zu halten, wobei durchaus auf bestehende Netzwerke aus der NS-Zeit zurückgegriffen wurde. Umgekehrt wurden internationale Messen und Ausstellungen im Ausland besucht. Besonders die Nachbarländer Schweiz und Westdeutschland standen im Fokus der Wahrnehmung: Überregionale Zusammenschlüsse in Deutschland, die Einrichtung eines Baupflegers in Nordrhein-Westfalen oder die Strategien der Stadt Bern in der Erhaltung ihrer Altstadt galten etwa als nachahmenswert und wurden in den Medien thematisiert.15 Generell wurden Vorbilder für die »wahre Kultur« der »Heimat« in Westeuropa verortet, nicht etwa in den Ländern, die den Kalten Krieg definierten. So vermerkte das Ausschussmitglied DI Oskar Seuter anlässlich seines Berichtes zur Bauausstellung in Hannover 1951: »Mit den Trägern wahrer Kultur meine ich den europäischen Bauern und nicht den Getreide- und Futtermittelfabrikanten, den Farmer oder Kolchosenbauer, der den Boden nur als Produktionsmittel benützt.«16 Die Architekturdiskurse in der Nachkriegs-Steiermark wurden nicht nur von diesem Verein gestaltet, sondern auch von den akademisch geschulten Akteuren (später Akteur/-innen) an der und rund um die Technische Hochschule (ab 1976 Technische Universität). Nach 1945 prägten insbesondere zwei Persönlichkeiten Lehre und Ausrichtung der Grazer Architekturfakultät: Friedrich Zotter, der von 1924 bis 1961 an der Technischen Hochschule lehrte, und Karl Raimund Lorenz, der in seiner Grazer Studienzeit noch ein Schüler Zotters war. Beide standen in Kontakt zum »Verein für Heimatschutz«, fanden sich allerdings auch im Spannungsfeld Modernisierung versus »heimatliches« Bauen gelegentlich in Konflikt mit dessen Proponenten. Zotters und Lorenz’ Tätigkeiten an der Technischen Hochschule belegen, dass die später erhobenen Vorwürfe der Rückständigkeit und Abgeschlossenheit von interna14 | Vgl. N.N. 1959; Dienst 2006, S. 17. Der Verein existiert auch heute noch unter dem Namen »Verein BauKultur Steiermark«, der Zusatz »Heimatschutz« wurde 2010 auch aus dem Untertitel gestrichen; vgl. Ebner/Zitturi 2013. 15 | Stromberger 2013, S. 156f. 16 | Jahreshauptversammlung des Vereins 1951: 3.12.1951. Vortrag über Bauausstellung Constructa in Hannover von DI [Diplom-Ingenieur] Oswald Seuter, Graz (am 22.11.1951), in: StLA VHSt, K. 84, H. 315, S. 23.

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tionalen Traditionen in der Steiermark ein Vorurteil waren, basierend auf der Vorstellung, dass die »modernen« nachfolgenden Kunst- und Kulturkonzepte gleichsam erst Licht in die Dunkelheit eines restaurativen Nachkriegskonservativismus gebracht hätten. Lorenz setzte seine guten internationalen Beziehungen und Kenntnisse gezielt in seiner Tätigkeit an der Architekturfakultät ein. Aus seiner »Berliner Zeit« (1931–1945)17 stammten seine Kontakte zu ehemaligen Mitschülern bei Hans Poelzig, zu Egon Eiermann, Werner Oesterlen oder zu Rambald von Steinbüchel-Rheinwall, der wie Lorenz aus Graz stammte und einer der bedeutendsten österreichischen Architekten der Zwischenkriegszeit war. Er hatte 1949 sein Büro nach Frankfurt a.M. verlegt. Weiteres soziales Kapital brachte Lorenz dank seiner Mitarbeit bei André Lurçat im Rahmen seines Paris-Aufenthalts 1937 und nicht zuletzt dank seiner Mitgliedschaft in so bedeutenden Architektenvereinigungen wie CIAM und UIA mit. Eine Reise in die USA im Jahr 1948 erweiterte sein Netzwerk zum richtigen Zeitpunkt. Dementsprechend gehörte die Internationalisierung der Grazer Hochschule zu den ersten Zielen, die sich Lorenz schon kurz nach seiner Berufung 1947 selbst stellte. Vor diesem Hintergrund verlieh er dem Architekturstudium neue Perspektiven und strukturierte es um: Neben dem Abonnement wichtiger internationaler Architekturzeitschriften und der Medienarbeit organisierte der Architekt Gastvorträge, Gastvorlesungen und Ausstellungen. Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit bot er Exkursionen an, die ihn zu bekannten Architekturbüros wie jenen von Le Corbusier oder Pier-Luigi Nervi führten, und integrierte die Studierenden durch Besuche der Tagungen von CIAM und UIA in internationale Diskussionsgruppen.18 Während seiner Tätigkeit als Dekan der Fakultät initiierte er die Verleihung des Ehrendoktorats an Richard Neutra. Zudem erhielt er die Einladung, am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge/USA eine Ausstellung von Studienarbeiten zu zeigen.19 Besonders ertragreich war der bereits erwähnte Besuch von Lorenz in den USA. Hier gab es einige Beiträge in den Medien, die sein Schaffen über die Hochschule hinaus bekannt machten. 1948 nahm er eine Einladung im Rahmen des ERP zu einem dreimonatigen Besuch an, was ihm Kontakte zu emigrierten Architekten vor allem am Illinois-Institute of Technology in Chicago, zu Ludwig Mies van der Rohe, Walter Gropius oder Erich Mendelsohn, dann 17 | In Berlin lehrte Lorenz nicht nur an der Technischen Hochschule, er wurde 1939 auch Leiter des »Hochbau der obersten Bauleitung der Reichsautobahnen«; vgl. Lorenz 1995; »Univ.-Prof. Arch. Dipl.Ing. Dr. Karl Raimund Lorenz, Architekt, A.V. Austria Graz«, www.kartellverband.org/biographien/univ-prof-arch-dipl-ing-dr-karl-raimund-lorenzarchitekt-a-v-austria-graz/ (Aufruf am 28.10.2017); de Grancy 2007, S. 197. 18 | Vgl. Lorenz 1995, S. 75. 19 | Vgl. Plankensteiner 2001, S. 13-24.

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aber auch zu Neutra oder Frank Lloyd Wright einbrachte.20 Seine Beobachtungen veröffentlichte er in der Zeitschrift Der Auf bau. In den Staaten faszinierten ihn besonders die größeren räumlichen Dimensionen, mit denen in Amerika auf Tendenzen wie die explosionsartige Steigerung des Individualverkehrs reagiert wurde. »Diese Verkehrsbänder sind das eigentliche Grundthema, auf dem die Musik der amerikanischen Architektur aufgebaut ist. […] Die Trasse dieses Verkehrsbandes besitzt eine Schwingung von großer Eleganz.«21 Auch die Verbindung von Großraum, Massivität und Geschwindigkeit spricht ihn in dem Zusammenhang an: »Das vielleicht entscheidendste Erlebnis für einen europäischen Architekten in Amerika ist gegenwärtig das Erlebnis der vierten Dimension in der Architektur, d.h. das Erlebnis der Großraumarchitektur, gesehen durch das Medium der Geschwindigkeit. […] Das bauliche Detail wird uninteressant, wirksam ist nur der große Block.« 22

Und die Stahlskelettbauweise ermögliche im Hochhausbau nicht nur eine ganz andere Flexibilität im Grundriss, sondern auch ganz andere Baugeschwindigkeiten: »rasche Montierbarkeit, ebenso rasche Abtragungsmöglichkeit und Wiederverwendung des verbauten Materials, wirtschaftliche Baustellenorganisation«.23 Besonders interessierten Lorenz aber auch die neuesten Errungenschaften seiner amerikanischen Kollegen im Sektor Wohnbau, dem im Wiederauf bau wichtigsten Sujet. Die Idee der Verbindung von Landschaft und Bauen bei Wright und Neutra fand Lorenz, eingebunden in den steirischen Diskurs um »Moderne« und »heimatliches« Bauen, ungemein interessant; deren ideale Ausführung verortete er in den Villen Wrights: »Was bei diesen amerikanischen Bauten bewußt angestrebt wird, ist die Erdverbundenheit der Architektur, erreicht durch die Verwendung bodenständiger Materialien, wie Holz und Stein, allerdings bereichert durch die modernen Kragkonstruktionen aus Beton und die großen Flächen aus Glas, um die Landschaft in das Bauwerk einströmen und den Innenraum in die Landschaft ausstrahlen lassen zu können.« 24

Hierin konnte übrigens der Verein für Heimatschutz gut einhaken, wie der schon erwähnte Seuter betonte, der die allzu modernistischen Strömungen in New York geißelte und Wright ebenfalls als Vorbild – bar des Verdachts einer

20 | Vgl. ebd., S. 104. 21 | Lorenz 1950, S. 454. 22 | Ebd., S. 453f. 23 | Ebd., S. 456. 24 | Ebd., S. 452.

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Art Rückwärtsgewandheit des ›alten Europa‹ – zitierte: Es gäbe auch in den USA zwei Strömungen, »die moderne Architektur, die den Menschen bei ihrem Schaffen vergißt, und den Neuromantiker Frank Lloyd Wright, der so ganz auf dem Boden der neuen Welt gewachsen ist und dem wahrlich nicht die Eierschalen der Kultur des alten Europas anhaften. Während er aus dem Gefühl, aus der Natur des Menschen schafft, ist das andere kalte, nackte Abstraktion.« 25

Ein zweiter Architekt, der die Wiederauf bauphase in der Steiermark stark mitprägte und an der Hochschule tätig war, ist Zotter.26 1925 wurde Zotter nach Graz auf die Lehrkanzel für das Fach Hochbau II (Baukunst) berufen, das nach 1945 in das Institut für Baukunst und Entwerfen umgewandelt wurde. In dieser Zeit war er mehrmals Rektor und Dekan und wurde vor allem wegen seiner Studienreform bekannt, mit der er gemeinsam mit Karl Hoffmann eine moderne Architekturschule etablierte. Während des Zweiten Weltkriegs unterrichtete er als eingerückter Wehrmachtssoldat an der Pionierschule Speyer im Fach Brückenbau. Integriert in ein nationales und internationales Netzwerk dank seiner Tätigkeiten als Präsident des Künstlerbundes, Konsulent des Bundesdenkmalamtes, als Mitglied des Grazer Stadtclubs und der Sezession Graz, deren Präsident er nach 1945 einige Jahre war, sowie dank seiner führenden Rolle in der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs und bei CIAM Österreich verfügte er über ein soziales Kapital, das ihn wie seinen vormaligen Schüler Lorenz in die Lage versetzte, internationale architektonische Einflüsse der Moderne nach Graz zu bringen. Als Wegbereiter des »Neuen Bauens« war er trotz seiner konservativ orientierten Ausbildung vor allem für den Nachwuchs linker ideologischer Architekten/-innen in der Zwischenkriegszeit von Bedeutung, zu welchen etwa Anna-Lülja Praun und Herbert Eichholzer zählten. Sein Gesamtwerk umfasst vorwiegend Wohnbauten in Wien und Graz. Neben der NS-Volkskundgebungshalle auf dem Grazer Messegelände gilt das mit Lorenz gemeinsam geplante »Elisabethhochhaus« von 1964 als eines seiner zentralen Projekte in der Landeshauptstadt.

25 | Jahreshauptversammlung des Vereins, S. 22. 26 | Über Zotter gibt es wenig biografische Arbeiten, Beiträge über ihn behandeln vorwiegend einzelne Projekte seines Schaffens. Grundlage für die Kurzbiografie: D. Ecker: Architektur in Graz; »Friedrich Zotter«, in: Architektenlexikon. Wien 1770–1945, www. architekturlexikon.at/721.htm (Aufruf am 28.10.2017); »Zotter Friedrich«, in: Geschichte der Technik in Graz; http://history.tugraz.at/person.php?id=660 (Aufruf am 28.10.2017); Zotter 1954.

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Die Hochhausdebatte27 um 1960 zeigt, wie sehr der Widerstreit zwischen Moderne und »heimatlichem« Bauen trotz der Internationalisierungstendenzen die Architekturdiskurse der Nachkriegszeit in Graz prägte. Dabei sind zwei Grundelemente der Debatte um Architekturprojekte in der steirischen Landeshauptstadt von Bedeutung. Erstens: Eines der ersten nach dem Krieg revitalisierten Leitbilder versuchte, wieder am »traditionellen Ruf der steiermärkischen Landeshauptstadt als Gartenstadt«28 anzuschließen. Zweitens gab (und gibt es) eine sozialgeografische Diskrepanz zwischen dem östlichen und dem westlichen Ufer des Flusses Mur, eine Diskrepanz, die sich auch in einer unterschiedlichen architektonischen Signatur niederschlägt: Die Altstadt und das Universitätsviertel, also »bürgerliche« Zentren mit den zentralen Grünräumen befinden sich am Ostufer, das vormalige »Arbeiterviertel« und das Industriezentrum um den Bahnhof auf der anderen Seite. Im Weltkrieg wurde diese Teilung manifest in der Verteilung der Bomben, deren Hauptlast sich auf den westlichen Bezirken verteilte (Abb. 2).29 Abb. 2: Bombenblindgänger-Kataster der Landeshauptstadt Graz

In den Wiederauf baudebatten wurde nun die Polarität von »modern« und »traditionell« appliziert auf diese Polaritätskonstruktion der beiden Sozialräume. Dementsprechend bestimmten jeweils unterschiedliche Leitbilder die Diskussion, wie der Heimatschützer Walter Semetkowski dies wörtlich vermittelte: »Möglichste Wahrung des Charakters der Altstadt im weiteren Sinn ist eine Lebensfrage für Graz, das in der rechten Verbindung mit seiner in den Stadtraum eingreifenden, unterschiedlichen und reichhaltigen Landschaft sein Heil findet […]. Neben dieser Wah27 | Vgl. Tragatschnig 2013. 28 | N.N. 1948, S. 3. 29 | Vgl. Brunner 1989 (Bomben auf Graz, Bombenkataster, Beilage).

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Monika Stromberger rung des Kernes, in dem und um den die reichen Grünanlagen wirken, soll in den weiten, durch die Bomben ärger noch als die Altstadt beschädigten Gebieten im nordwestlichen Bereich […] freie, gegenwartsbewußte Gestaltung am Werke sein und sich klar, aber nicht minder taktvoll gegenüber Altstadt und Landschaft absetzen.« 30

Besonders evident tritt diese Polarität von »landschaftsnaher« Altstadt und »gegenwartsbewusstem« Grazer Westen in der Hochhausdebatte zutage. Debattiert wurden Hochhäuser seit den 1930er-Jahren, aber realisiert wurden derartige Bauwerke in Graz erst im Zuge des Wiederauf baus. Ein besonderes Leitobjekt war das »Elisabethhochhaus«, gelegen im Osten der Stadt, mitten im Gründerzeitviertel (nahe der Universität). Es wurde seit 1954 von Lorenz und Zotter geplant und 1964 fertiggestellt. Lorenz, der das Hochhaus eigentlich als Kompromiss zwischen einer klassischen Korridorstraße und einer städtebaulichen Neuausstattung – wie er es in den USA so lobend wahrgenommen hatte – betrachtete, fand das Projekt keineswegs »radikal modern«.31 Auf den Vorwurf der Verschandelung reagierte er mit einer anderen Zukunftsvision, die keineswegs als Infragestellung harmonischer Zusammenhänge gedacht war: Das »Elisabethhochhaus« werde wohl keine Einzelerscheinung bleiben. »Erst die Kombination mit anderen Hochhäusern wird dem Grazer Stadtbild ein neues und interessantes Gepräge geben, das auch für eine Sicht vom Schloßberg durchaus nicht unharmonisch sein muß.«32 (Abb. 3) Für den Verein für Heimatschutz, der sich am stärksten gegen die zentrumsnahen Hochhausprojekte am östlichen Murufer ausgesprochen hat, war das »Elisabethhochhaus« »ein hässlicher Wassertrieb, [der] das schöne, behagliche und freundliche Leech- und Universitätsviertel« verschandeln würde. Es wäre ein Beispiel dafür, wie ein »ungesunde[s] Gebilde […] das Wesen der ganzen Stadt schwer gefährden und schließlich zerstören könne«.33 Gegen das Hochhaus, das am Lendplatz (westliche Murseite) eröffnet worden war, hatte der Heimatschutz hingegen nichts einzuwenden. Generell blieb der Verein gegenüber Hochhäusern ambivalent zwischen Befürwortung und Ablehnung, gegen das »Elisabethhochhaus« jedenfalls polemisierte er am heftigsten.34 Was ihm, wie Geramb beklagte, noch ehe die Diskussionen ihren Höhepunkt erreicht hatten, zum Nachteil gereichte, da er vor allem Zotter unterstellte, jener

30 | Semetkowski 1948, S. 162 (Hervorhebung durch die Verf.). 31 | »Das Elisabethhochhaus«, https://www.nextroom.at/building.php?id=18986 (Aufruf am 29.10.2017). 32 | Vgl. Antwort von Lorenz auf die Einwände des Vereins für Heimatschutz an den Magistrat Graz vom 3.1.1955, in: Grazer Stadtarchiv, Bauakt 1.951, S. 2f.; N.N. 1955. 33 | Geramb 1955. 34 | Vgl. Tragatschnig 2013, S. 201.

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würde die Position des Vereins gegenüber dem Stadtbauamt aufgrund dieses Konfliktes untergraben.35 Abb. 3: Das Elisabethhochhaus vom Schlossberg aus gesehen (1962)

Dabei war der Verein bemüht, Architekten wie Zotter und Lorenz in ihre Arbeit zu integrieren, man forcierte früh die Idee von Wettbewerben für den Wiederauf bau in Graz mithilfe von Experten wie jenen.36 Lobend erwähnt wurden nicht nur aus der Sicht des Vereins gelungene (weil nach »heimatlichen Maßstäben«) wiedererrichtete historische Gebäude, sondern auch Neubauten wie das Amtsgebäude der Grazer Burg (für die Landesregierung) oder das Gebäude der Bergbauversicherung nahe der Technischen Universität. Diskussionen um den Wiederauf bau in Graz (und der Steiermark) waren von Ambivalenzen geprägt, wie sie schon in der Zwischenkriegszeit den Diskurs um »gutes« und »richtiges« Bauen dominierten. Zwei Brennpunkte der Auseinandersetzung waren der regional orientierte Verein für Heimatschutz, 35 | Vgl. Urbaner 2013, S. 120. 36 | Vgl. beispielsweise: Verein für Heimatschutz in Stmk. an Herrn Landesamtsdirektor Hofrat Dr. Koban (1946).

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dem eine breit gestreute Gruppe von Akteur-/innen (Architekt/-innen, Wissenschaftler/-innen, Denkmalpfleger/-innen etc.) angehörte, und die an internationalen Diskursen orientierten Architekt/-innen der Technischen Hochschule. Es gab Differenzen zwischen diesen Proponenten hinsichtlich der Gestaltung des Raumes, aber auch interessante Gemeinsamkeiten. Als die »Grazer Schule« auf den Plan trat, galt der Wiederauf bau als abgeschlossen, und der »Verein für Heimatschutz« hatte seine einflussreiche Rolle verloren.

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Architekten zwischen »Heimatschut z« und einer neuen Baukultur

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Baupflege für die Nachkriegsstadt Verhandlungen um moderne bürgerliche Bauweisen Carmen M. Enss

E inführung Behörden, Vereine oder Gestaltungsräte wirkten durch aktive Baupflege, also durch das Bemühen, lokale bürgerliche Baukultur zu tradieren, auf das Aussehen der Nachkriegsstädte ein. Sie verhandelten in politischen Foren, aber auch im Amt oder direkt an Baustellen die Gestaltungsziele für ihre jeweiligen Kommunen. Für innerstädtische Bereiche knüpften solche Ziele häufig an einen historischen Status ›bürgerlicher‹ Bauweisen an, ohne dass Rekonstruktionen angestrebt wurden. Um Leitbilder durchzusetzen, berieten Behörden und Vereine die Architekten, Eigentümer und Baufirmen in ihrer Wiederaufbaugestaltung. Der Begriff Baupflege stammt aus der Bauberatungspraxis der Heimatvereine seit dem späten 19. Jahrhundert und benennt die Tradierung ländlicher und bürgerlicher Baukultur.1 Er wird hier als Terminus für den Abgleich von Gestaltungen unter Behörden, Vereinen und Architekten auch für die Wiederauf bauzeit vorgeschlagen. Der folgende Text benennt Beispiele, bei denen Baupflege im Wiederauf bau ähnliche Mittel und Ziele hatte wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Begriff taucht in Ämterbezeichnungen und bei Vereinen bis heute auf. Ähnlich wie der Ausdruck Denkmalpflege wurde er im Wiederauf bau nicht nur für behördliches, sondern auch für gemeinschaftliches Handeln benutzt. Dabei beschränkte sich auch Baupflege nicht auf Beratung. Anders als Heimatschutzarchitektur beschreibt sie die Debatte um Baukultur, nicht die Baukunst selbst. Zur Baupflege gehörten historische Recherche, Abstimmung und Kontroversen unter Architekten und anderen Experten sowie Meinungsbildung bei Lokalpolitik und Besatzungsmacht. Meist waren Stadtzentren nicht vollständig zerstört und verlangten keinen Neubau-, sondern einen Reparaturplan für ein Stadtgebiet. Während Rekonstruktion auf wenige Einzelgebäude beschränkt blieb, gab es Stadtbereiche, 1 | Vgl. Hofer 1998, S. 61, 64.

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deren Charakter im Wiederauf bau tradiert, gleichzeitig aber auch weiterentwickelt werden sollte. Das geschah durch strukturelle Stadtumbauplanung, durch gestalterische Überwachung, aber auch dadurch, dass sich Architekten selbst an ungeschriebene Gestaltungscodes banden. Ein Aufbauentwurf für innerstädtische Grundstücke ging, wie das Beispiel des Wiederaufbaus der »Alten Akademie« in München zeigen wird, in der Regel nicht allein auf einen Entwerfer zurück, sondern war das Ergebnis von Aushandlungen mittels Argumenten, die häufig auf Einheitlichkeit und auf Ortsbezug abzielten. Innerhalb der Netzwerke des Wiederaufbaus bildete Baupflege einen verbindenden, mancherorts aber auch kontrovers verhandelten Verständigungsstrang. Aushandlungsprozesse um die Baupflege entschieden – zusammen mit der Ausbildung von Architekten, Fachverbänden oder Zeitschriften – über die lokalen Baupraktiken für solche Stadtbereiche, die Identität stiften sollten. Baupflege wurde in der Forschung bisher im Zusammenhang mit der Heimatschutzbewegung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts behandelt. Werner Durth und Niels Gutschow verwiesen bereits darauf, dass Baupflege auch Teil der Wiederauf baupraxis war. Sie nennen als Beispiele Münster, Donauwörth, Freudenstadt, Rothenburg und Freiburg, wobei sie Baupflege auf Kleinstädte beschränkt sahen.2 Doch auch für Großstädte wie Bern und Zürich gibt es detaillierte Beobachtungen zu langfristigen Vereinheitlichungen des historischen Stadtbildes nach 1945.3 Die Denkmalwissenschaften befassen sich mit der Erkennbarkeit von Wiederauf baumaßnahmen, mit Rekonstruktion, Ruinenerhalt und dem Umgang mit historischen Bauteilen, in letzter Zeit auch mit Intentionen und Strategien der »Altstadt-Produktion« generell.4 In München und in Rothenburg o.d. Tauber wurde Baupflege zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Vereine etabliert. Öffentlichen Verwaltungen wurden vielerorts Bauberatungsstellen angegliedert, als man 1907 begann, Gesetze gegen die »Verunstaltung« von Ortschaften zu erlassen.5 Die Bauberatungspraxis wurde im Wiederaufbau von den Stadtverwaltungen aufgenommen. Städtebauliche und architektonische Gestaltungsmittel ergänzten sich, um einen bestimmten Charakter von Architektur und Stadt weiter zu transportieren oder noch zu verstärken. In München verstand das Stadtbauamt den Wiederaufbau der Altstadt als Sanierungsprojekt. Baupflege als Tradierung bürgerlicher Baukultur für die notwendigen Neubauten war Bestandteil dieser Planungen. Sie erstreckte sich nicht nur auf die ehemals mittelalterliche Kernstadt, wie das

2 | Vgl. Durth/Gutschow 1988, S. 254. Uli Walter legte für München die Geschichte und Kontinuität von Stadtbildpflege durch Kommissionen dar: vgl. Walter 2009. 3 | Vgl. Vinken 2010; Fischli 2012. 4 | Vgl. Enss/Vinken 2016. 5 | Vgl. Hofer 1998, S. 64f.

Baupflege für die Nachkriegsstadt

vielerorts üblich war,6 sondern auch auf die im klassizistischen Stil angelegten Ausfallstraßen.

Tr äger historischen und W ieder aufbau

C har ak ters in S tadtumbau

Mit den raschen städtebaulichen Veränderungen seit den Gründerjahren, die immer stärker die historischen Stadtzentren betrafen, konzentrierten sich Heimatschutzvereine, Städtebauer und Architekten auf eine Stärkung der historischen Identität ihrer Stadt, die sie als schwindend empfanden. Die Heimatschutzbewegung verfolgte gestalterische Ziele, die auf die Fortführung lokaler Bautraditionen abzielten,7 wobei deren Aktualisierung in modernen Formen von Architektur und Städtebau häufig akzeptiert wurde.8 Merkmale eines ortsspezifisch historischen Charakters suchten Aktivisten der Heimatschutzbewegung in städtebaulichen Formen, ortscharakteristischen Gebäudetypen oder Bauteilen sowie in spezifischen Baumaterialien. Bis heute werden die damals vorgeschlagenen Parameter im öffentlichen Diskurs verhandelt. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts waren hier drei Handlungsfelder entstanden: Erstens sollten Straße oder Platz in ihrer Disposition nicht wie neu geplant wirken, sondern eine gleichsam ›natürlich‹ einbettende Begrenzung besitzen.9 Zweitens sollten neben den anerkannten Baudenkmälern weiterhin szenische Elemente wie Tore, Türme oder Brunnen das Stadtbild beleben – auch wenn diese in der modernen Stadt ihre eigentliche Funktion verloren hatten. Drittens forschte man nach lokalen Bautraditionen, die im Stadtbild, also in der Regel an den Fassaden, erkennbar und durch Wiederaufnahme lebendig bleiben sollten. Dieser letzte Aspekt war Grundlage der Bauberatungspraxis durch die Heimatvereine wie den in München 1902 gegründeten Verein für Volkskunst und Volkskunde.10 Im Wiederauf bau nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle drei Handlungsfelder wieder aufgenommen: Vielerorts wurden solche Gebiete, die Altstädte gewesen waren, weiterhin durch historische Elemente wie Türme gekennzeichnet – in München etwa durch den Turm der ehemaligen Herzog-Max-Burg. In Frankfurt a.M., Nürnberg oder Würzburg kam es zur Einlagerung von Portalen, Wappen und ganzen Erkern wie den Nürnberger »Chörlein«, die in Neubauten wieder eingebaut wurden und die Fortsetzung lokaler Architekturtradition anzeigen sollten. 6 | Für Danzig vgl. Pusback 2006. 7 | Vgl. Schultze-Naumburg 1902–1917. 8 | Theodor Fischer spricht von »Respekt«; vgl. Fischer 1929, S. 71-79. 9 | Das Beispiel der Hansastraße in Dortmund vgl. Schilling 1921, S. 35. 10 | Zur Bauberatung dort vgl. Bommersbach 2002.

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Baupflege wurde aber auch bei großflächigen Sanierungsmaßnahmen vor dem Wiederaufbau betrieben. In Straßburg wurde ab 1907 ein Straßendurchbruch, die »grande percée«, von der Kommune geplant, von zahlreichen Fachkommissionen begleitet und in drei Abschnitten umgesetzt.11 Während des Nationalsozialismus kam es zu groß angelegten Umbaumaßnahmen mit anschließender einheitlicher Neugestaltung. Ein gut dokumentiertes Beispiel ist die Sanierung des Ballhofquartiers in Hannover, eines Vergnügungsviertels, das nach Abbruch völlig neu entstand und zu einer Freizeitanlage für die Hitlerjugend als Gesamtanlage in ›historisch‹ gestaltetem Ambiente wurde.12 In Nürnberg hingegen wurden nur finanzielle Anreize geschaffen, damit Eigentümer von Altstadtimmobilien Fassaden gemäß einer lokalen Heimatschutzästhetik umbauten. In München ließ Stadtbaurat Karl Meitinger 1937 eine Voruntersuchung für die Altstadtsanierung ausarbeiten, die im Vergleich zu Hannover nur mittelgroße Eingriffe vorsah. Teils sollten die dichten Bauinseln im Innern aufgelockert, teils auch neu bebaut werden. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelte Meitinger 1945 den städtischen Wiederaufbauplan für die Altstadt. Etwa zum Zeitpunkt des Endes des Ersten Weltkriegs setzte sich für das historische Stadtzentrum der Begriff »Altstadt« durch.13 Er beschrieb nicht nur den historischen Ort, der inzwischen oft zur »City«, zum Geschäftszentrum, geworden war. Er benannte vor allem einen Stadtbereich, der identitätsstiftend wirken sollte. So wurde der Begriff »Altstadt« nun auch als städtebauliche Einheit verwendet. In der Vorplanung für Hermann Jansens Generalbebauungsplan für Nürnberg aus dem Jahr 1923 erhielt die Altstadt eine eigene Farbkategorie. Sie wurde zur Funktionszone ihrer selbst, zur »Zone Heimat« (Gerhard Vinken). Die Rolle, die der Altstadt zugewiesen wurde, blieb im Wiederauf bau dieselbe wie vor dem Krieg.14 Sie wurde zur Bühne für den Tourismus und die örtliche Handwerks- und Brauchtumspflege. In Nürnberg, München oder Freiburg i.Br. erarbeiteten die Stadtbauämter für die Altstädte hierfür eigene, besonders kleinteilige Auf bauplanungen.15 Baupflege zum Wiederauf bau begann in München bereits bei der Entscheidung darüber, welche Fassaden oder Bauteile beschädigter Gebäude in situ erhalten bleiben und nicht mit der Trümmerräumung entfernt werden sollten. In Städten wie Hannover wurden sogenannte Traditionsinseln als Neubaugebiete unter Verwendung historischer Bauteile geplant.

11 | Vgl. Weber/Antoni 2016. 12 | Vgl. Zalewski 2016. 13 | Vinken 2010, S. 7f. 14 | Vgl. Durth/Gutschow 1988, S. 248. 15 | Vgl. Bauernfeind 2009; vgl. Verdal 1985.

Baupflege für die Nachkriegsstadt

D ie A nfänge der B aupflege : A k teure und B augese t zgebung In den eben genannten Reformansätzen in Architektur und Städtebau spielte die städtebauliche Platzierung eines neuen Gebäudes eine bedeutende Rolle.16 Baupflege durch die Heimatvereine betraf handwerkliche Bautechnik und die gesamte Bauform mit städtebaulicher Positionierung und Kubatur. In München waren Bauherren, die ihr Haus in der Nähe eines Baudenkmals umbauen wollten, seit 1904 verpflichtet, sich dabei vom Verein für Volkskunst beraten zu lassen. Viele Architekten und Bauräte waren selbst in diesem Heimatverein organisiert.17 Zudem überwachten Baukunstbeiräte der Stadt München und des Staates Bayern die Gestaltung von Situationen rings um Monumente im Stadtraum. Unmittelbar nach dem Krieg reorganisierte der von 1939 bis 1946 amtierende Stadtbaurat Meitinger die Gestaltungsplanung für die Münchner Altstadt. Er berief eine Kommission, bestehend aus Vertretern verschiedener Behörden, um historische Fassaden als Vorbilder für den Wiederaufbau der Altstadt auszuwählen, mit dem Ziel, diese unabhängig vom beschädigten Rest des Gebäudes sichern zu lassen.18 Die Absicht, komplette städtische Bereiche im Wiederaufbau gestalterisch einheitlich fortzuentwickeln, wie das bei Sanierungsmaßnahmen in der Regel der Fall war, geht ebenfalls auf den Anfang des Jahrhunderts zurück. In Straßburg gab es seit 1910 ein »Gesetz zum Schutz des Ortsbilds«, dessen Einhaltung von der ästhetischen Baupolizei überwacht wurde. Auch in München unterlag das dortige Baugenehmigungsverfahren einer ästhetischen Prüfung. Ortskerne oder sogenannte Denkmalensembles wurden als Gesamtheit erst in den 1970ern mit der Denkmalgesetzgebung unter Schutz gestellt, etwa im Bayerischen Denkmalschutzgesetz von 1973, Art. 1, Abs. 3. Sie unterlagen damit auch einer gestalterischen Überwachung durch die Denkmalschutzbehörden, die hier neben dem Schutz historischer Bausubstanz auch Baupflege betrieben.

D as B eispiel R othenburg o . d . Tauber Eine der Städte in Deutschland, in denen am längsten und durchgehend Baupflege betrieben wird, ist Rothenburg o.d. Tauber. Der Verein Alt-Rothenburg gründete sich 1898 und gewann bald Hunderte Mitglieder in ganz Deutschland. Die Stadt erließ besondere Bauvorschriften zum Bauen in der Altstadt, die vom Verein in Zusammenarbeit mit Stadtkonservator Theodor Fischer vorgeschla-

16 | Vgl. Schultze-Naumburg 1906 (=Bd. 4: Städtebau). 17 | Vgl. Bommersbach 2002, S. 116. 18 | Vgl. Enss 2016, S. 20-22; Enss 2011.

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gen worden waren.19 Der Verein wirkte auf Gebäudeeigentümer ein, damit diese ihre Bauten in traditioneller Handwerkstechnik instand setzten. Im Zweiten Weltkrieg brannte eines der Fachwerkviertel der Altstadt ab. 1954 wurde ein Sonderprogramm des Bundeswohnungsbauministeriums für den einheitlichen Wiederaufbau dieses Stadtviertels aufgelegt. Straßenzügeweise entwickelten mehrere Bauträger, die die Grundstücke inzwischen übernommen hatten, zusammen mit dem Landesamt für Denkmalpflege und dem Stadtbauamt das Quartier an der Galgengasse zu einem »Altstadtviertel« mit vereinfachter Fassadengestaltung und, gegenüber den Altbauten, leicht vergrößerten Baukörpern. Hanns-Jürgen Berger und Tobias Lauterbach haben gezeigt, dass die Architekten der Bauträger jeweils mehrere Fassadenvarianten zeichneten, bevor diese die Teilnehmer am Abstimmungsverfahren zufriedenstellten.20 Die Neubauten sollten »Alt-Rothenburg« repräsentieren und dennoch als Neubauten identifizierbar bleiben. Die englischsprachige Wikipedia zeigt einen »typischen« Straßenzug im Sinne der Baupflegeziele, wenn sie für Rothenburg o.d. Tauber die Galgengasse als Image verwendet (Abb. 1).21 Abb. 1: Blick in die Galgengasse mit weißem Turm, 2011. Die stark kriegsbeschädigte und wiederaufgebaute Gasse wird in der englischsprachigen Wikipedia als »typical lane« bezeichnet

19 | Vgl. Ortspolizeiliche Vorschriften; vgl. Alt-Rothenburg 1901/02. 20 | Vgl. Berger/Lauterbach 2009a, S. 55; Berger/Lauterbach 2009b (Katalog). 21 | Vgl. Rothenburg ob der Tauber o.J.

Baupflege für die Nachkriegsstadt

W ieder aufbau in M ünchen Bis die Trümmerräumung der Münchner Altstadt im Frühjahr 1946 einsetzte, hielt die Stadt die Bautätigkeit in engen Grenzen. Nur die Instandsetzung von Vorderhäusern wurde unter strikten Auflagen für Materialzuteilung genehmigt. Selbst die Gestaltung provisorischer Bauten wie Verkaufsbaracken wurde ganz genau festgelegt.22 Als 1948 mit dem ersten Aufschwung der eigentliche Wiederauf bau einsetzte, wurden Baugenehmigungen nur dann erteilt, wenn sie ein Altstadtbild mit kleinstädtischem Lokalkolorit zu erzeugen halfen.23 Hierzu gehörte etwa eine Bautechnik mit Putzfassaden und Wandmalereien. Auch wenn diese Vorgabe von Meitingers Nachfolger im Amt des Stadtbaurates, Hermann Leitenstorfer, nach 1946 nicht strikt fortgeführt wurde, so prägte sie offenbar noch die Bauverwaltung (Abb. 2). Der Architekturkritiker Hans Eckstein beklagte 1949 die Reglementierung der Gestaltung bei der Baugenehmigung: »Es werden dem zaghaftesten Versuch zu zeitgemäßem Bauen überall Fesseln angelegt und andernorts selbstverständlich gewordene Gestaltungen von der Lokalbaukommission verworfen […].«24 Abb. 2: Vorschlag aus dem Stadtbauamt für die Neubebauung mit Bogengängen an der Münchner Kreuzkirche. Vorkriegsbauten sind die Kirche und das rechts anschließende altmünchner »Bruderhaus«

22 | Vgl. Enss 2016, S. 147. 23 | Vgl. Meitinger 1946. 24 | Eckstein 1949.

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Im Herbst 1945 entwickelten Meitingers Mitarbeiter einen Auf bauplan für die Altstadt im Maßstab 1:500 mit dem Titel »Sanierung der Innenstadt«.25 Die Münchner Stadtverwaltung hoffte, mithilfe eines Landesauf baugesetzes die Erneuerung der Altstadt zentral steuern und damit neben gestalterischen Vorgaben auch strukturelle Modernisierungen umsetzen zu können. Genehmigungen für Neubauten wurden also zunächst nicht erteilt – um das knappe Material für die Sicherung einzusetzen, aber auch, um den Wiederauf bauplan einheitlich anzuwenden. Obwohl kein Wiederauf baugesetz zustande kam, das Grundstücksenteignungen erlaubt hätte, führte München eine einheitliche Schutt- und Trümmerräumung durch, die zumindest den ersten Teil der »Sanierung«, also Abbrüche von Ruinen und die Vorbereitung der Grundstücke für den Wiederauf bau, verwirklichte. Die Trümmerräumung wurde in enger Abstimmung zwischen Behörden, dem Haus- und Grundbesitzerverein und beobachtet von der Presse vorbereitet und kurze Zeit später durchgeführt.26 Dabei fielen erste Sanierungsentscheidungen und auch die Beschlüsse darüber, welche historischen Elemente in Zukunft noch im Stadtbild sichtbar sein würden.27 Das Stadtbauamt maß diesen eine Leitfunktion für die Gestaltung der neuen Altstadtbauten bei. Gleichsam als Gestaltungsanker sollten sie Neubauten im Stadtraum einhegen. Intellektuelle in München diskutierten in Vereinen und Vortragsreihen über die Form des Wiederauf baus und die Weise, wie Baupflege zu betreiben sei.28 Der kulturpolitisch engagierte Leiter des Landesdenkmalamtes, Georg Lill, strebte im Wiederauf bau der Stadt eine Neuaufnahme der Münchner Baugeschichte an, die, ebenso wie im Mittelalter, im Zentrum der Stadt mit ihren zentralen Bauten beginnen sollte.29 Für eine »organische« Entwicklung wie im Reformstädtebau sollte sich die Stadt vom Stadtzentrum aus neu entfalten. Lill, Josef Schmuderer und Joseph Maria Ritz betonten in einer grundlegenden Stellungnahme zum Wiederauf bau 1944, dass die Entwürfe der Architekten sich »im historischen Ensemble in Größenmaßstab und Rhythmus, in der Dach- und Gesimshöhe und in der Verputztechnik« an die historische Umgebung anpassen sollten.30 Während sich die Denkmalpflege auf den Erhalt wertvoller historischer Straßenwände, also der Fassaden im Stadtraum konzentrierte, lag der Stadtplanung besonders daran, den historischen Stadtgrundriss und die Kubaturen der Baugruppen zu erhalten. 1946 beschrieb Lei25 | Meitinger 1946, S. 20f. 26 | Vgl. Enss 2016, S. 132-135. 27 | Wie Anm. 20. 28 | Ein Beispiel ist der Verein der »Freunde der Residenz«; vgl. Krieg 1984, S. 84f., ein weiteres die »Freunde des Neuen Bauens«; vgl. Strauch 1984. 29 | Vgl. Lill 1946, S. 29f. 30 | Vgl. Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege 1944, S. 199.

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tenstorfer, ein Schüler Theodor Fischers, das »Werden und Wiedererstehen« Münchens und seiner zentralen Kaufingerstraße, wie sie mehr als 100 Jahre zuvor existiert hatte, und die ihm als Zukunftsbild für den Auf bau vor Augen schwebte: »In allem ist uns die Grundhaltung und der Zauber des Gemeinsamen als Geheimnis und Tatsache heute bedeutender und wesentlicher als die kunsthistorisch interessantesten Details und Besonderheiten hochentwickelter Einzelbauten.«31 Leitenstorfer nahm den Stadtraum nicht als etwas Vergangenes wahr. Aus seinen Zeilen spricht die Hoffnung, den gleichsam zeitlosen Gesamteindruck durch steuernde Auf baupolitik festhalten und erneuern zu können. Aufgabe der Wiederauf bauarchitekten war demnach, eine »Grundhaltung«, diesen »Gleichklang« städtebaulich wiederherzustellen. Leitenstorfers Zeichnungen belegen, dass er diese »Grundhaltung« im Detail nicht an feste Gestaltungsbedingungen knüpfte.32 Jedoch wählte er einen älteren städtebaulichen Zustand als Referenzrahmen für einen ortscharakteristischen Wiederauf bau, und nicht etwa die jüngeren großstädtischen Gebäudemaßstäbe. Damit propagierte er den Heimatpflegegedanken eines ›ursprünglichen‹, eher kleinstädtischen Leitbildes für Altstädte.

K l assizismus im S tadtr aum Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stammte der Großteil der Altstadtbebauung in München nicht mehr aus dem Mittelalter, sondern war im Zuge der Citybildung im 19. Jahrhundert durch Neubauten ersetzt worden.33 Dagegen gab es im Bereich der ehemaligen Stadtbefestigung Straßenzüge, die im Klassizismus einheitlich gestaltet und weniger stark verändert worden waren, wie die Brienner und die Ludwigstraße. Nach dem Krieg waren die meisten Putzbauten im Münchner Zentrum im Inneren ausgebrannt, doch die Fassaden erhalten geblieben. Hier empfahl die Denkmalpflege eine Instandsetzung unter Verwendung der Fassaden; in der oben erwähnten Stellungnahme von 1944 hieß es: »Der Ausbau des Hausinnern kann mit geringen Ausnahmen einer neuzeitlichen Gestaltung mit wirtschaftlicher Ausnützung überlassen werden, insoweit sie künstlerisch einwandfrei ist und eine gewisse Wahrheitsbeziehung zur Fassade besitzt.«34 Auf den ersten Blick scheint es, als seien die Planer in der Brienner Straße genau so vorgegangen. Vergleicht man jedoch Vor- und Nachkriegszustand, wird sichtbar, dass Fassadeneinteilung und Geschosse der

31 | Leitenstorfer 1946, S. 29. 32 | Vgl. Enss 2016, S. 110f. 33 | Für eine detaillierte Beispielbeschreibung vgl. Habel 1998. 34 | Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege 1994, S. 198.

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heutigen Bauten von jenen der Vorkriegsbauten abweichen.35 Der Neubau am Wittelsbacherplatz von Josef Wiedemann, der nach dem Abbruch des alten Baus errichtet wurde, ist nur eines von zahlreichen Beispielen.36 Der Architekt Walter Kreb, eigentlich ein Modernist aus Robert Vorhoelzers Postbauschule, orientierte sich 1948 beim Wiederaufbau der oberen Geschosse des Gebäudes Maximiliansplatz 18 nicht an der halb zerstörten Jugendstilfassade, sondern erzeugte eine Reminiszenz an die klassizistische Fassade des ersten Gebäudes, das einst hier, an der städtebaulichen Anlage am Maxtor gestanden hatte.37 Das Stadtbild an der Brienner Straße prägen viele Neubauten mit vermischten aus dem Klassizismus entlehnten Bauformen. Diese wurden hier nach 1945 zum lokalen Bautyp und Gegenstand der Baupflege. Im Gegensatz zu klassizistischen Bauten galten Rokokofassaden bei Stadt und Denkmalpflege als »unwiederbringlich«. Ihre komplizierten Stuckformen waren, so entschied man, nicht erneuerbar.38 Viele barocke Fassaden wiederum wurden abgestützt und später in situ in Neubauten integriert. Hierauf hatte sich der Münchner Architekt Erwin Schleich spezialisiert. Schleich scheute sich nicht, Ergänzungen in barocken Formen zu entwerfen. Als sein »Meisterstück« der schöpferischen Ergänzung gilt das Preysing-Palais an der Feldherrnhalle.39

D ie A lte A k ademie Die Alte Akademie erregte wegen ihrer prominenten städtebaulichen Lage früh die Aufmerksamkeit der Münchner Heimatpfleger. Die Renaissanceanlage, ehemals ein Jesuitenkolleg, beherbergte nach der Säkularisation die namensgebende Akademie der Wissenschaften. 1944, als das Gebäude schon schwer beschädigt war, forderte das Landesamt für Denkmalpflege die Sicherung und vollständige Rekonstruktion seiner Fassade.40 Die gesicherten ruinösen Fassadenteile an der Neuhauser Straße überdauerten nur knapp das erste Nachkriegsjahrzehnt. Als Wiedemann mit den Auf bauplanungen be35 | Vgl. Habel/Hallinger/Weski/Sowieja 2009, S. 129-143, S. 134: Fassade Brienner Straße 3 vor und nach dem Krieg. 36 | Vgl. Bode/Braunfels 1992, S. 26-31. 37 | Vgl. Enss 2016, S. 170-172. 38 | Vgl. Meitinger 1945, zit. n. Enss 2016, S. 101. 39 | Vgl. Enss 2016, S. 165-167. 40 | Erhaltung von künstlerisch wertvollen Fassaden in der Innenstadt. Protokoll mit Angabe von Fassaden, die erhalten werden sollen. Angefügt sind die Ergebnisse von Ortsbesichtigungen, die der Besprechung folgten; vgl. Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege 1945.

Baupflege für die Nachkriegsstadt

gann, dienten die kümmerlichen Reste der Giebelfassade nur noch dazu, eine Rekonstruktion nach Anschauung des Originals vorzunehmen. Der Landesbaukunstausschuss bestand jedoch 1952 darauf, den Giebelteil des Gebäudes rekonstruieren zu lassen. Den Fassadenteil, der sich westlich daran anschloss, konnte Wiedemann selbst frei nach Münchner Vorbild entwerfen, wobei er im Innern hinter einer Kolonnade eine glamouröse Anlage in modernen 50erJahre-Formen entwarf. Wiedemann selbst bezeichnete seinen Ergänzungsentwurf als »Übersetzung desgleichen Ausdrucks in die heutige Sprache« 41 und traf damit genau die Absichten der Baupflege. Dieser als typisch münchnerisch empfundene Kompromiss zwischen Wiederauf bau und Neubau erfüllte die Bedingungen für eine Wiederherstellung eines heimatlichen Charakters in drei Punkten: Erstens blieb die besondere städtebauliche Situation erhalten und wurde durch den rekonstruierten Giebel akzentuiert, zweitens markierten zumindest kleine Reste der Fassade in ihrer Substanz historische Kontinuität, und drittens wurde mit Putztechnik, Lochfassade, geneigtem Dach und grafischer Fassadenmalerei an ortsspezifische Bauweisen angeknüpft. Dieser Abschnitt der Neuhauser Straße war damit in seiner »Grundhaltung« und im »Zauber des Gemeinsamen«, den Leitenstorfer beschworen hatte, wiederhergestellt.

R esümee Das Anliegen, gewachsene städtische Strukturen und lokale Besonderheiten der Stadt für eine zukünftige Entwicklung fortzuschreiben, ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Teil der modernen Bewegung. Architekten, Bürgermeister, Verkehrs- und Hygieneexperten bemühten sich, historische Orte in moderne Städte einzubetten, ohne ihren Charakter zu beschädigen. Baupflege war vielerorts entscheidender Faktor solcher »Altstadt-Produktion«, die sich häufig in Stadtkernen mit mittelalterlicher Geschichte abspielte. Das Beispiel der Brienner Straße in München zeigt jedoch, dass sich die Suche nach dem Charakteristischen nicht auf mittelalterlich anmutende Stadtbilder beschränkte, sondern auch andere historische Stadträume mit einschloss, die vor der Industrialisierung entstanden waren. Im Münchner Wiederauf bau greifen die Akteure die städtebaulichen und baukünstlerischen Erkennungsmarker für die alte Stadt aus der Frühzeit des Heimatschutzes erneut auf. Straßenzuschnitte werden nach malerischen Kriterien weiterentwickelt. Historische Stadttore, Türme und Fassaden werden restauriert und in die Altstadtplanung integriert. Neubauten werden von der 41 | Wiedemann 1955, zit. n. Backmeister-Collacott 2006, S. 85f.; vgl. Abbildungen und Zusammenfassung der Aufbauereignisse in Enss 2016, S. 160f.

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Wiederauf bauverwaltung und später im Baugenehmigungsverfahren auf die Einhaltung spezifischer Charakteristika hin geprüft. Spricht man heute von der Architektur der 1950er-Jahre in der Altstadt, meint man eine gestalterische Gemeinschaftsleistung von Architekten und Vertretern der Baupflege. Auf der anderen Seite bedeutet ein Wiederauf bau in alten Formen häufig eine Anpassung des historischen Entwurfs an zeitspezifische funktionale und ästhetische Bedürfnisse unter der Vorgabe, dass der Charakter, also als typisch angesehene Elemente oder Bauweisen, an dem instandgesetzten Gebäude erhalten bleibt. Baupflege hat die Gestaltungsspielräume der Architekten des Wiederaufbaus eingeschränkt. Eckstein beklagte das für München. Stimmen in Zeitungsartikeln und Broschüren jener Zeit zeugen aber auch vom Verständnis des Wiederauf baus als Gemeinschaftsleistung, zu der auch eine gemeinsame, festgelegte Gestaltung gehörte.42 Besonders würdigte beispielsweise der Wiederauf baureferent Helmut Fischer das Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Bauherrn bei der Errichtung eines geschlossenen Stadtbilds.43 Der Redakteur Karl Köbelin unterstützte in der Süddeutschen Zeitung das Leitbild des Stadtbauamtes.44 In anderen Altstadtzonen sehen wir heute hingegen, wie das Charakteristische im Übermaß zum Uniformen wird. In Rothenburg o.d. Tauber wirkt der Auf bau schmerzvoll uniform und verschleiert die Kriegsereignisse. In München hingegen entwickelte sich im Laufe der Jahre eine interessante Bandbreite architektonischer Spielweisen innerhalb der Verständigungsgrenzen der Baupflege.

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Baupflege für die Nachkriegsstadt

gen, die der Besprechung folgten, Registratur BLfD, OA München, Wiederauf bau u. a. Schutträumung. Berger, Hanns-Jürgen/Lauterbach, Tobias: Rothenburg ob der Tauber – Der Wiederauf bau nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine städtebaulich-denkmalpflegerische Analyse, Bd. 1, Rothenburg ob der Tauber 2009 [Berger 2009a]. Berger, Hanns-Jürgen/Lauterbach, Tobias: Rothenburg ob der Tauber – Der Wiederauf bau nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine städtebaulich-denkmalpflegerische Analyse, Bd. 2, Rothenburg ob der Tauber 2009 [Berger 2009b]. Bode, Peter M./Braunfels, Stephan: München in den 50er Jahren. Architektur des Wiederauf baus am Beispiel von Hans Fries, München 1992. Bommersbach, Irmgard: »Ein kraftvoller Auf bruch. Die Bauberatung des Vereins 1902 bis 1914, e.V., Bayerischer Landesverein für Heimatpflege«, in: Bayerischer Landesverein für Heimatpflege (Hg.): Heimat erleben – bewahren – neu schaffen: Kultur als Erbe und Auftrag. 100 Jahre Bayerischer Landesverein für Heimatpflege e.V., München 2002, S. 109-158. Durth, Werner/Gutschow, Niels: Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederauf bau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940–1950 (=Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie), 2 Bde., Braunschweig 1988. Eckstein, Hans: »München und das neue Bauen«, in: Baukunst und Werkform 1, Heft 2 (1949), S. 11-15. Enss, Carmen M.: »Fassaden sichern für den Wiederauf bau. Selektion bei der Trümmerräumung für die neue Münchner Altstadt«, in: Birgit Franz/ Hans-Rudolf Meier (Hg.): Stadtplanung nach 1945, Holzminden 2011, S. 96-103. Enss, Carmen M.: Münchens geplante Altstadt. Städtebau und Denkmalpflege ab 1944 für den Wiederauf bau, München 2016. Enss, Carmen M./Vinken, Gerhard (Hg.): Produkt Altstadt. Historische Stadtzentren in Städtebau und Denkmalpflege, Bielefeld 2016. Fischer, Theodor: »Altstadt und Neuzeit«, in: Tag für Denkmalpflege und Heimatschutz. Würzburg und Nürnberg 1928, Berlin 1929, S. 71-79. Fischer, Helmut: München im 10. Nachkriegsjahr: Skizzen vom Wiederauf bau einer weltbekannten Stadt. Ein Rückblick auf das Baugeschehen im Jahr 1954, München 1954. Fischli, Melchior: Geplante Altstadt. Zürich, 1920-1960, Zürich 2012. Habel, Heinrich: »›Die Sentlinger Gasse … zu fabelhafter Unzeit‹. Betrachtungen zu einem Münchner Altstadtbereich«, in: Susanne Böning-Weis/Karlheinz Hemmeter (Hg.): Monumental. Festschrift für Michael Petzet zum 65. Geburstag am 12.4.1998, München 1998, S. 506-519.

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Kneten und probieren Architekturmodelle in Entwurfsprozessen der Nachkriegsmoderne Ralf Liptau

Man könnte es als Prinzip des produktiven Vergessens bezeichnen: Spätestens seit den 1920er-Jahren dominierte für den Bereich des architektonischen Schaffens der Topos des unverkopften, des unbeeinflussten und damit auch von der Geschichte unverstellten Entwerfens. Seit Beginn der frühen Avantgarde war das Entwickeln architektonischer Konzepte innovatives Erfinden, das sich ganz grundlegend vom angeblich bloßen Kopieren traditioneller Stilformen im Historismus distanzierte. Moderne Architekturschaffende bezogen – und beziehen teilweise bis heute – ihr Selbstbild aus dem Ideal des absoluten Bruchs mit dem Vergangenen. Architektur zu entwerfen ist unter diesen Prämissen seit inzwischen fast 100 Jahren beständige Pionierarbeit. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kam ein Aspekt hinzu, der das Ideal eines Bruchs auf weitere Gebiete ausweitete: Den Entwerfenden musste es speziell in Westdeutschland nach 1945 nicht nur darum gehen, mit dem gezielten Verzicht auf Stilzitate und historistische Pathosformeln einen architekturhistorischen Bruch zu markieren. Hinzu kam das – nur selten explizit verhandelte – Bedürfnis danach, nach den Gräueltaten des Nationalsozialismus durch eine veränderte Architektur auch einen historisch-politischen Bruch vorwegzunehmen und unmittelbar anschließend den konsequenten Neuanfang zu propagieren. Nimmt man dieses idealisierte Selbstbild der Akteurinnen und Akteure als gegeben an, lässt sich hierauf aufbauend die Frage diskutieren, wie sich die Entwurfsprozesse der Moderne auf dieser Basis veränderten. Wenn also – aus dem Selbstbild der Moderne heraus – Kopien, Übernahmen und Anleihen aus der Geschichte der Baukunst und der jüngsten Vergangenheit von vornherein auszuschließen waren: Wie und aus welchen Quellen sollte und konnte ein architektonischer Entwurf dann noch entstehen? Eine mögliche vorläufige Antwort könnte lauten: Der Entwurfsprozess wurde zu einem Experimentalprozess, bei dem das Wissen über den Entwurf innerhalb des Prozesses für den

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Prozess generiert wurde. Einfälle, Ideen und Erkenntnisse gingen direkt aus der Auseinandersetzung des entwerfenden Subjekts mit den Entwurfsmedien hervor. Die folgende Analyse soll zeigen, dass speziell die Arbeit am und mit dem physischen Architekturmodell geeignet gewesen ist, dem Selbstbild der Akteurinnen und Akteure in der Moderne zu entsprechen. Hiermit ließ sich der propagierte Bruch mit der Vergangenheit nämlich besonders augenfällig vorführen.1 In einem zweiten Schritt dieser Untersuchung werden die beschriebenen Praktiken kritisch auf das skizzierte Selbstbild nachkriegsmoderner Architekt/-innen hin analysiert. Wenn hier von vornherein von einem »Ideal« der Akteur/-innen die Rede war, wurden damit bewusst Zweifel angemeldet. Kann es ein Entwerfen geben, das nur nach vorn, also in die Zukunft gerichtet ist, und dabei alle Verbindungen zur Vergangenheit kappt? Anders gefragt: Wie viel (Architektur-)Historie steckt zwangsläufig in jeder entwerferischen Praxis – selbst in jener der angeblich so geschichtslosen Moderne?

A bschied von der G eschichte Der Berliner Architekt Wassili Luckhardt hatte bereits im Jahr 1921 eine Entwurfspraxis eingefordert, die seiner Ansicht nach auf völlige Originalität und Authentizität setzte. Er empfahl das Modellieren: »Man nehme den heutigen Architekten Lineal und Zirkel beim Entwerfen und 80 Prozent werden vielleicht ihren Beruf aufgeben müssen. […] Ich möchte hiermit ein Mittel verraten, das uralt ist, das alle Architekten zu können glauben, und das doch den allerwenigsten wirklich bekannt ist. Das Modellieren. Man lege Bleistift und Lineal beiseite, nehme Ton und Plastelin und fange an, ganz von vorn, ganz unvermittelt und unbeeinflußt zu kneten.« 2

Der Architekt selbst hat die ›knetende‹ Entwicklung seiner Architektur im gleichen Jahr, 1921, auch praktisch vorgeführt: Auf einer vom Bund Deutscher Architekten (BDA) ausgerichteten Architekturschau im Rahmen der »Großen Berliner Kunstausstellung« zeigte er zwei von ihm geschaffene Skulpturen 1 | Die vorliegenden Ausführungen basieren wesentlich auf Thesen meiner Dissertation, die ich von 2014 bis 2016 unter dem Titel »Architekturen bilden. Das Modell in Entwurfsprozessen der Nachkriegsmoderne« am Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« der Universität der Künste Berlin verfasst habe. Vgl. auch Liptau 2017, https:// books.ub.uni-heidelberg.de/arthistoricum/catalog/book/221?lang=en (Aufruf am 19.​ 10. ​2017). 2 | Luckhardt 1921, zit. n. Akademie 1990, S. 122.

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unter den Titeln »Formspiele« und »Formphantasie« und stellte sie einem ästhetisch wie formal sehr ähnlichen Modell für sein »Volkstheater« zur Seite.3 Sowohl die Skulpturen als auch das Modell waren aus Ton oder Plastilin in unsymmetrischer und nicht-geometrischer, also sehr expressiver, Formensprache durchgebildet, wie sie aus der gleichen Zeit aus Entwürfen von Architekten wie Hans Poelzig, Bruno Taut oder Otto Bartning bekannt ist. Dass Luckhardt mit dem Nebeneinander von Skulptur und Modell in der Ausstellung die unbeeinflusste, originäre Entwicklung auch seiner eigenen architektonischen Ideen aus dem plastischen Formen heraus verdeutlichen wollte, liegt auf der Hand. Dieses Ideal der freien, nur aus der Zwiesprache von Subjekt und Objekt hervorgehenden Formfindung hatte zu diesem Zeitpunkt in der Lehre des Staatlichen Bauhauses in Weimar bereits seinen prominenten Ort gefunden. Besonders im »Vorkurs«, den Johannes Itten seit 1919 angeboten hat, lagen die pädagogischen Grundabsichten darin, so Itten selbst, »die schöpferischen Kräfte und damit die künstlerische Begabung der Lernenden freizumachen. […] Die Schüler sollten sich nach und nach von aller toten Konvention befreien und Mut fassen für eigene Arbeit.«4 Ähnlich wie Luckhardt kurz darauf sprach auch Itten dem Materiellen eine ganz aktive Rolle zu, die diejenige der Entwerfenden stellenweise sogar zu dominieren schien: »Jeder Studierende fand in kurzer Zeit heraus, welches Material ihn ansprach, ob Holz, Metall, Glas, Stein, Ton oder Gesponnenes ihn zum schöpferischen Tun anreizten.«5 Auch wenn der Bauhauslehrer hier nicht explizit von Modellen spricht, betont er dennoch den aus seiner Sicht so wichtigen Einfluss des Materiellen und den schöpferischen Umgang damit, um so Kreativität ganz grundlegend zu befördern oder überhaupt zu ermöglichen. Für das Ziel einer scheinbar unverstellten und geschichtslosen »modernen« Architektur wurden in der Ausbildung von Architekt/-innen in der Folge auch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg kreative Potenziale in den Dienst genommen, die nun ganz konkret dem Modellieren zugeschrieben wurden. Offensichtlich in der Tradition der beschriebenen pädagogischen Ideale der Vorkriegszeit schrieb der Bauingenieur Walter Moest im Jahr 1947 in der Neuen Bauwelt: »Wenn man sich Gedanken darüber macht, warum wohl unser Baumeisterberuf so schön ist und warum uns die Leidenschaft des Bauens so tief ergreift, so kommt der, der sich mit den Dingen der menschlichen Seele ein wenig befaßt hat, leicht auf die Idee, es liege wohl daran, daß unser Beruf der Tätigkeit so nahe kommt, die man die leidenschaftlichste nennen kann, die einem Menschen beschieden ist, dem Spiel des Kindes.« 6 3 | Vgl. Schirren 1990, S. 39. 4 | Itten 1963, S. 10. 5 | Ebd. (Hervorhebung durch den Verf.) 6 | Moest 1947, S. 423.

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Er forderte seine Kolleg/-innen dazu auf, architektonische Entwürfe mithilfe eines Steinbaukastens anzugehen: »Nehmt den Kasten selber in die Hand und ihr werdet sehen, was er euch für Phantasien entlockt.« 7 In der Argumentation sehr vergleichbar und nur zwei Jahre später forderte der Architekt und Hochschulprofessor Eduard Ludwig ebenfalls den Einsatz eines Klötzchen-Baukastens für die Ausbildung von Architekt/-innen, um »ihre Phantasie zu wecken und ihren Spieltrieb zu nutzen.« Denn: »Die Studenten sollen nicht nach Vorlagen bauen, sondern aus der gegebenen Aufgabe heraus die Dinge selbständig entwickeln lernen.«8

D as M odell in E nt wurfsprozessen der N achkriegsmoderne



Tatsächlich lassen sich vor allem für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Fällen heute noch Entwurfsprozesse an und mit dem Modell nachweisen. Diese Praxis wurde in den 1920er- und 1930er-Jahren vor allem an Architekturschulen gelehrt und von besonders avanciert Entwerfenden nur vereinzelt angewendet. Seit den frühen 1950er-Jahren jedoch entwickelte sich das Modellieren zu einer alltäglichen Praxis in Architekturbüros. Neben dem oben beschriebenen und für das Selbstbild der Akteur/-innen so wesentlichen Bruch mit der Vergangenheit waren hierfür drei weitere Gründe maßgeblich, die zwar auch für die Architektur der Klassischen Moderne galten, in der Nachkriegszeit jedoch auf breiterer Ebene an Bedeutung gewonnen haben. Der erste Grund war eine neue Auffassung, die nicht mehr vom Bau als Träger einer zweidimensionalen Schmuckfassade als Hauptansicht ausging, sondern ihn – den Bau – viel stärker als dreidimensionalen Körper, als Volumen, auffasste. Der zweite Grund war die Etablierung neuer Baumaterialien und -verfahren, die in vielen Fällen am Modell getestet werden mussten. Als dritter Grund ist die seit den fortgeschrittenen 1950er-Jahren deutlich zunehmende Komplexität baulicher Anlagen zu nennen, bis hin zu jener der Megastrukturen der 1970er-Jahre. Diese verstärkte die Notwendigkeit einer beständigen Kontrolle der Entwürfe im Modell. Diese Gründe seien hier jedoch nur kurz genannt. Im Folgenden sollen die Aspekte des Bruchs mit der Tradition und jener der »architektonischen Pionierarbeit« beim Entwerfen der wesentliche Analysefokus bleiben. Nachvollziehbar wird das zeitgenössische Ideal des Bruchs mit der Geschichte an einer ganz bestimmten Art des Modellierens: dem bereits erwähnten Kneten. Natürlich wurden sowohl vor, während, als auch nach dem Zweiten Weltkrieg Modelle aus allerhand Materialien und aus unterschiedlichen 7 | Ebd. 8 | Ludwig 1949, S. 21.

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Motivationen heraus gebaut. Immer schon spielte die jeweilige architektonische Haltung der betreffenden Architekt/-innen eine wesentliche Rolle bei der Wahl des Entwurfsmediums. Dennoch soll hier mit der Fokussierung auf das Kneten ganz bewusst nur eine mögliche Form des modellbasierten Entwerfens analysiert werden, um wesentliche Charakteristika gerade dieser Praxis vergleich- und analysierbar zu machen. Nachweisbar ist die intensive Entwurfsarbeit am Modell etwa im Falle des Mannheimer Architekten Carlfried Mutschler (1926–1999) anhand seines Nachlasses im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Hier sind Fotografien von Plastilinmodellen zu mehreren von Mutschlers Bauprojekten der 1950er- und 1960er-Jahre erhalten (Abb. 1), zum Beispiel für eine – allerdings unrealisiert gebliebene – Kirche in Mannheim-Sandhofen. Abb. 1: Carlfried Mutschler: Projekt evangelisches Gemeindezentrum MannheimSandhofen (nicht ausgeführt), Plastilinmodell, Aufnahme 1962 (Variante)

Mutschler hat für sein Kirchenprojekt im Jahr 1962 mehrere unterschiedliche Modelle aus Plastilin geformt und in verschiedenen Varianten fotografisch dokumentiert. Der Entwurf bestand jeweils im Wesentlichen aus einem Kirchenschiff und einem je nach Planungsstand entweder freistehenden oder in den Gesamtkomplex integrierten Kirchturm. Die Bilder zeigen, wie der Architekt etwa die Form dieses Turms von Modellzustand zu Modellzustand immer wieder veränderte. Außerdem nutzte er das Medium des frei formbaren Plastilinmodells, um

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nach der geeigneten räumlichen Beziehung von Kirchenschiff und Gemeindezentrum zu suchen. Dazu veränderte er die beiden Baukörper nicht nur jeweils in ihrer Gestalt, sondern ordnete die Volumina auch unterschiedlich nebeneinander an. So lässt sich anhand der Bilder das scheinbar voraussetzungslose Suchen, das Versuchen, Verwerfen und Entwickeln im Entwurfsprozess nachvollziehen. Die deutlichen Veränderungen zwischen den Modellzuständen zeigen, dass Mutschler das Plastilin nicht verwendete, um eine bereits weitgehend abgeschlossene Entwurfsidee nur mehr abbildend umzusetzen. Vielmehr reifte die Entwurfsidee während und durch die Tätigkeit des Modellierens. Auch zu seinem ebenfalls unrealisierten Projekt für ein Versammlungsgebäude in Mannheim ist die Fotografie eines Plastilinmodells erhalten. Der Architekt Rolf Janke bediente sich in seiner Publikation über Architekturmodelle im Jahr 1962 eben dieses Beispiels, um die Vorteile von Plastilinmodellen für den frühen Entwurfsprozess zu beschreiben: »Die Durchgestaltung von Gebäudeform und -ausdruck wird in vielen Fällen am besten am Plastilinmodell vorgenommen; es bildet die Vorstufe für das eigentliche Gebäudemodell und für die Ausarbeitung des Entwurfs.«9 Das Modell wird in dieser Lesart tatsächlich ganz am Beginn des Entwurfsprozesses verortet, so wie es etwa Itten am Bauhaus vorgeschlagen hatte. Die erste Gestaltung des groben Entwurfs findet, so die implizite Behauptung Jankes, hier statt und bildet die Basis für weitere Entwurfsschritte. Ein weiterer Protagonist des modellbasierten Entwerfens war Paul Schneider-Esleben. Die zwischen 1952 und 1955 nach seinen Plänen in Düsseldorf errichtete St. Rochus-Kirche zählt sicherlich zu den berühmtesten Bauten seines Œuvres. Die Kubatur des Baukörpers scheint ganz wesentlich auf die Arbeit am frei formbaren Knetmodell zurückzugehen. So zeugen fotografische Aufnahmen in seinem Nachlass von mindestens fünf unterschiedlichen Modellen dieser Art, die jeweils im Grundprinzip verwandte, im Detail jedoch unterschiedliche Gebäudeformen für das Kirchenschiff zeigen (Abb. 2). Die einzelnen Modelle sind jeweils nur im fertigen Zustand fotografisch dokumentiert. Ihre Entstehung sowie Veränderungen und Variationen der einzelnen Varianten sind deshalb heute nicht mehr rekapitulierbar. Die Funktion und Bedeutung der Modelle für den Entwurf kann deshalb nur aus der Materialität und der Beschaffenheit der fotografisch abgebildeten Artefakte geschlossen werden und bleibt damit bis zu einem gewissen Grad spekulativ.

9 | Janke 1962, S. 18.

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Abb. 2: Carlfried Mutschler: Projekt evangelisches Gemeindezentrum MannheimSandhofen (nicht ausgeführt), Plastilinmodell, Aufnahme 1962 (Variante)

Dennoch lassen sich Parallelen zur beschriebenen Entwurfspraxis Mutschlers zeigen. Auch Schneider-Esleben hat das Modellieren anscheinend praktiziert, um Entwurfsvarianten am und mit dem Modell zu entwickeln und diese Varianten schließlich vergleichend einander gegenüberzustellen. Das zeigt die Fotografie, und es lässt sich annehmen, dass er auf dieser Basis Entscheidungen über die weitere Entwicklung des Entwurfs treffen wollte. Für beide Fallbeispiele gilt, dass die involvierten Akteure ihre zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickelten Entwurfsgedanken im Verlauf der räumlichen Umsetzung ins Artefakt sowie als beständige Reaktion auf diese Umsetzung bestätigen, verändern, weiterentwickeln oder verwerfen konnten. Als »reflection in action« hat der US-amerikanische Philosoph und Stadtplaner Donald A. Schön solche Kreativitätsphänomene seit den frühen 1980er-Jahren bezeichnet und das architektonische Entwerfen damit in die Nähe etwa des musikalischen Improvisierens gerückt.10 Bei diesen Tätigkeiten komme es wesentlich darauf an, so Schön, dass das Subjekt auf die je gegebene Situation spontan, aber eben auch »reflexiv« beziehungsweise »reflektierend« reagiere. »Mit dem Reflexiven«, schreibt die Architekturtheoretikerin Margitta Buchert, »charakterisierte er Schön; Anm. d. Verf.] ein wissensbasiertes und gleichermaßen improvisatorisches Handeln bei komplexen Anforderungen in der Praxis mit dem Ziel der jeweils zufriedenstel10 | Schön 1983, S. 55f.

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lenden projektbezogenen Lösungsfindung.«11 Ohne explizite Bezugnahme zu Schön interessiert sich die Architekturwissenschaftlerin Sabine Ammon für die gleiche Weise des Erkennens innerhalb des Entwurfsprozesses und bezeichnet es als »Wissen-im-Werden«.12 Dieses ziele »auf die Genese von Erkenntnissen, die vorläufigen Charakter haben und noch weiter zu prüfen sind; terminologisch werden diese Vorgänge häufig als Erlernen, Erkennen oder Verstehen gefasst.«13 Der Designtheoretiker Siegfried Gronert schreibt von »temporär gültigen Fortschritte[n]« im Prozess des Entwerfens.14 Dem architektonischen Entwurfsmodell käme dementsprechend die Qualität zu, die die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Karin Krauthausen für das Notieren und Skizzieren beschrieben hat: Diese seien »Aufzeichnungspraktiken jenseits der Finalität«.15 Diesen Versuchen, das Entwerfen (von Architektur, aber auch von musikalischen Kompositionen oder literarischen Texten) theoretisch zu fassen, ist gemein, dass sie diese Tätigkeit als Wissens- und Erkenntnisprozess verstehen. In diesen Kontext lassen sich die modellbasierten Entwurfspraktiken einbringen, wie sie hier beispielhaft anhand der Archivfotografien von Mutschler und Schneider-Esleben diskutiert worden sind. Vergleichbar mit den genannten Wissenspraktiken des Komponierens oder Schreibens, so sollte verdeutlicht werden, scheinen diese Entwurfsprozesse auf den ersten Blick ganz wesentlich nach vorn gerichtet auf das Ziel der Produktion neuer Artefakte. Wie beschrieben, wird diese allgemeine Zukunftsorientierung entwerferischen Handelns speziell im Bereich der Architekturmoderne wesentlich verstärkt durch das Ideal einer Zurückweisung etwa von architektur-, technik- oder sonstigen historischen Gegebenheiten oder Vorbildern.

O der doch : G eschichte ? Das anhand der beiden Fallbeispiele beschriebene und von der Theorie beleuchtete Ideal eines unbeeinflussten »Ganz von vorn« hatte für die klassische Moderne der 1920er-Jahre Gültigkeit, mehr aber noch für die Entwurfsprozesse seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Das zeigt sich bei näherer Betrachtung allerdings als brüchig. Bei den beiden hier analysierten Entwurfsprozessen zu den beiden Kirchen von Mutschler und Schneider-Esleben scheinen hinter dem oben beschriebenen Ideal und bei weitergehender Betrachtung gewisse Kontinuitäten auf.

11 | Buchert 2014, S. 27. 12 | Ammon 2013, S. 353. 13 | Ebd. 14 | Gronert 2013, S. 125. 15 | Krauthausen 2010, S. 15.

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Am Beispiel von Schneider-Esleben wird, wenn man die Reihung der Modelle ernst nimmt, sichtbar, wie sie der Architekt in zwei Fotografien offenbar selbst in Szene gesetzt hat. Denn neben den bereits erwähnten aus Plastilin geformten Modellen kommen hier weitere Artefakte hinzu, mit denen der Architekt eine ganz bestimmte Genealogie des Entwurfs zu suggerieren scheint: ein allmähliches Werden seines fertigen Kirchenentwurfs von Modell zu Modell. Eine der beiden Fotografien (Abb. 3) zeigt links, also am Beginn der Reihe, ein aus Papier geformtes Gebilde, das kaum identifizierbar ist und am ehesten an eine Art mittelalterliche Burg oder sonstige Festungsanlage erinnert. Rechts daneben ist das vergleichsweise detailgenau geformte Modell einer historischen Kuppelkirche zu sehen.16 An diese beiden Modelle schließen rechts zwei Modelle Schneider-Eslebens für St. Rochus an. Abb. 3: Paul Schneider-Esleben: Modelle für die katholische Kirche St. Rochus, Düsseldorf, Aufnahme vor 1955

16 | In der Diskussion um das geeignete Verhältnis von (Architektur-)Tradition und Modernität setzten sich Bauherr und Architekt in der Planungsphase nachweislich mit der Wallfahrtskirche Kappl bei Waldsassen von Georg Dientzenhofer aus dem Jahr 1685 auseinander (Beygo 2015, S. 100). Das hier angeführte Kuppelmodell von der Hand Dohrs scheint allerdings kein Modell dieses barocken Kirchbaus zu sein. Ob es einen anderen Bezug zu einem konkreten Kirchenbau gibt, ist unklar.

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Sowohl von dem zunächst undefinierbaren Papiergebilde als auch vom Modell der Kuppelkirche liegen in der gleichen Mappe des Nachlasses auch Einzelfotografien vor. Auf ihren jeweiligen Rückseiten steht handschriftlich geschrieben: »von Pfarrer Dohr selbstgebastelt als Martinslaterne« und »von Pfarrer Dohr selbstgebastelt«. Peter-Heinrich Dohr war zur Bauzeit Pfarrer der Düsseldorfer Kirchengemeinde, er vertrat also die Bauherrenschaft.17 Was die Reihung der Modelle auf dem Bild also suggerieren will, ist eine lineare Entwicklung der Kirchenform von Pfarrer Dohrs Martinslaterne als scheinbar erste Entwurfsidee über ein ebenfalls vom Bauherrn gefertigtes Modell einer historischen Kirche bis hin zum fertigen Entwurf aus der Hand Schneider-Eslebens. Ähnlich verhält es sich bei einer weiteren, bisher noch nicht besprochenen Fotografie, die eine vergleichbare Reihung zeigt: links das – ebenfalls von Pfarrer Dohr »gebastelte« Kuppelkirchenmodell –, rechts daneben das Modell einer Apsis in der Formensprache historischer Kirchenbauten, gefolgt von drei Entwurfsmodellen von der Hand Schneider-Eslebens. Auch hier könnte also ein Entwicklungsprozess gelesen werden, der mit den Modellen des Pfarrers beginnt und, vermittelt über ein historisches Gebäude, in einen gültigen Entwurf münden würde. Eine echte formale Ähnlichkeit zwischen den Modellen respektive die Entwicklung von der historischen Kirche hin zum Neubau Schneider-Eslebens sind freilich schwerlich festzumachen. Bis auf die Großform der Kuppel sind wenige Bezüge erkennbar. Ähnlichkeiten zwischen der Martinslaterne aus Papier und dem später errichteten Kirchenbau lassen sich noch weit schwieriger feststellen. Es wirkt, als habe Schneider-Esleben die Modellreihen eher auf diese Weise aufgestellt und fotografiert, um sie als »Verkaufsargument« gegenüber dem Bauherrn – dem »bastelnden« Pfarrer Dohr – zu verwenden. Doch gerade das macht die Aufnahmen für meine Argumentation so interessant. Denn bemerkenswert ist an ihnen, dass sie das beschriebene Ideal der »Ganz von vorn«-Entwurfsstrategie aus dem Traditionsbruch heraus zumindest in der Außendarstellung systematisch durchkreuzen. Egal ob Schneider-Esleben wirklich Anregungen aus den von Dohr übergebenen Modellen bezogen hat oder nicht: Es wird doch deutlich, dass der – in seiner Gestalt ja als sehr modern erscheinende – Kirchenneubau auch auf diese Weise historisch rückgebunden wird. Die Legitimation der eigenwilligen Gebäudeform wird durch die auf der Fotografie abgebildete genealogische Folge geradezu als logische Konsequenz der Architekturgeschichte des Kirchenbaus präsentiert. Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zur traditionellen Typologie von Kirchenbauten zeigt sich beim zweiten Blick auf die Modelle Mutschlers. Hier sug17 | Peter-Heinrich Dohr war von 1947 bis 1971 Gemeindepfarrer von St. Rochus; mündliche Auskunft der zuständigen katholischen Pfarrgemeinde Heilige Dreifaltigkeit am 20.8.2016.

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gerieren die Bilder zwar keine direkte Entwicklungslinie eines konkreten historischen Kirchenbaus hin zur formalen Gestalt der neuen Kirche. Vielmehr wird nahegelegt, dass der Architekt seinen Entwurf voraussetzungslos und »aus sich heraus« entwickelte. Aber natürlich orientierte er sich dabei bewusst oder unbewusst an der traditionellen Auffassung von Kirche als Baukörper mit schlankem Turm und angrenzendem, eher gedrungenem Kirchenschiff. Die Modelle sind auf den ersten Blick als Kirchenmodelle zu erkennen, eben weil sie dieses traditionelle Bild der Bauaufgabe Kirche weiter in Dienst nehmen.

V ergessen und A neignen Was in Hinblick auf das Thema dieses Tagungsbandes – Gesellschaft, Praxis, Öffentlichkeit – also zu zeigen und zur Diskussion zu stellen war, ist das Selbstbild der Akteurinnen und Akteure, das sich in vielen Fällen weniger am fertigen Bau zeigt als vielmehr anhand des architektonischen Schaffens, also des Entwerfens. Am Beispiel des Umgangs mit dem Modell, so die Beobachtung, zeigt sich auf besondere Weise das Ideal eines Bruchs mit der Vergangenheit. Das meint in der Nachkriegsmoderne neben dem Historismus des 19. Jahrhunderts vor allem auch die Zeit des Nationalsozialismus. Diese Idee des absoluten Bruchs, so die Erkenntnis auf den zweiten Blick, wurde in vielen Fällen wieder relativiert, indem die Entwürfe eben doch an gewisse Traditionen rückgebunden wurden. Diese Rückgriffe, so wurde anhand der Beispiele versucht zu zeigen, funktionieren im Unterschied zum Historismus nun, in der Moderne, allerdings eher auf assoziative Weise. Anders als im 19. Jahrhundert wurden beim modellbasierten Entwerfen der beiden gezeigten Kirchen nicht etwa Stilelemente exakt zitiert oder übernommen. Die Assoziation mit dem ›traditionellen‹ Kirchenbau stellte sich hier nur noch entfernt über die Gestalt der Gebäudekubatur ein. Die Kirchenmodelle sehen ›ungefähr‹ aus wie eine typische Kirche – oder eben die St. Martinslaterne. Diese nur noch assoziativen oder impliziten Kontinuitäten wurden in der Nachkriegsmoderne dem Ideal des Neuanfangs, dem »Ganz von vorn« allerdings konsequent untergeordnet. Die architektonische Praxis der Nachkriegsjahrzehnte war immer beides: sowohl Pionierleistung als zwangsläufig auch Fortführung von Kontinuitäten. Sie war also nicht nur produktives Vergessen, sondern auch produktives Aneignen – und genau diese Dopplung zeigt sich aus unserer gegenwärtigen Perspektive heute weniger am ausgeführten Gebäude, sondern vielmehr beim rekonstruierenden Blick auf die Prozesse und Medien des Entwurfs.

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Ralf Liptau

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Aufbruch zu den Wurzeln Wiederaufbaumodelle der Denkmalpflege zwischen baukultureller Vision und Modernekritik Johannes Warda

Zu den bestimmenden Faktoren der Architekturproduktion der Nachkriegsgesellschaft gehören der Denkmalschutzgedanke und die Akteure der Denkmalpflege. Aus heutiger Sicht mag sich die Rolle der Denkmalpflege angesichts des hohen Zerstörungsgrades vieler europäischer Städte nicht auf den ersten Blick erschließen. Tatsächlich erhielt die Denkmalpflege im Wiederauf bau eine praktisch-theoretische Doppelrolle: Zum einen beteiligten sich ihre Vertreter durch Schadenskartierungen und Sicherungsmaßnahmen unmittelbar an der Wiederherstellung bedeutender Bau- und Kunstdenkmale. Zum anderen beeinflussten sie stadtplanerische Entscheidungen und formulierten theoretische Modelle, die das Bauwesen insgesamt betrafen. Letzteres verweist in der Zeitschicht des Wiederauf baus auf ein Phänomen, das auch für die Jahre um 1900 oder um 1975 zu beobachten ist: Der Deutungs- und Gestaltungsanspruch denkmalpflegerischen Denkens und Handelns greift weit über die Fragen von Konservierung und Restaurierung hinaus und trägt Züge einer Utopie für das Bauwesen. Offenbar sah sich die Denkmalpflege in der Zeit nach 1945 genötigt, einer sich andeutenden Entgrenzung der Moderne, also den Bestrebungen, die Städte vollkommen neu zu gestalten und »Besseres an die Stelle des Zerstörten zu setzen«, entgegenzuwirken.1 Auf Basis dieser These geht der Beitrag im Folgenden den Fragen nach Ethos und Selbstverständnis der Denkmalpflege nach. Gefragt wird nach Auf brüchen sowie nach Kontinuitäten von Ideen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik.

1 | Blaum 1945, S. 5f.

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1933/45: Z äsur und K ontinuität In der Frage der Kontinuität lassen sich Parallelen zur allgemeinen Architekturgeschichte des Wiederauf baus feststellen. Diese zeichnet ein ambivalentes Bild von gesellschaftlichem Auf bruch, stadtplanerischen und stilistischen Kontinuitäten, Altstadt-Konstruktionen und einer neuen Leichtigkeit des architektonischen Ausdrucks in der Nachkriegszeit.2 Für die Denkmalpflege konstatiert beispielsweise Norbert Huse, dass diese sich nach 1945 im Wesentlichen auf ihre traditionelle Rolle der Bewahrerin des baukulturellen Erbes und damit auf die Pflege und Erhaltung der Denkmalobjekte beschränkte.3 Vieles, was rückblickend als denkmalpflegerischer Beitrag zum Wiederauf bau gerechnet würde, sei, so Huse, dem Architekturschaffen zuzuschreiben. Neben Einzelfällen wiederherstellender Reparatur und behutsamer Ergänzung, wie etwa Hans Döllgasts Alte Pinakothek, hätten denkmalpflegerische Prinzipien im städtebaulichen Maßstab keine Rolle gespielt.4 Neuere Forschungsarbeiten zum Architekturschaffen im Wiederauf bau zeigen jedoch, dass und auf welche Weise die Denkmalpflege mit eigenen Akzenten am »Stadtumbau« im Wiederauf bau beteiligt war.5 Deutlich wird hier vor allem die Vielstimmigkeit des Diskurses: Einmal zeigt sich der Wiederauf bau als beinahe generalstabsmäßig geplantes Masterplanprojekt, das zum Teil den in den letzten Kriegsjahren entwickelten Leitbildern folgte, ein anderes Mal brachten Akteure der Denkmalpflege Inhalte des Heimatschutzes und der schöpferisch verstandenen Denkmalpflege ein, die den Umgang mit den zerstörten Gebäuden beeinflussten.6 Verschiedentlich ist betont worden, dass die denkmalpflegerischen Positionen auch entwurfstheoretische Implikationen hatten. So unterscheidet Michael Falser in einer typologischen Zusammenschau sieben Kategorien des Wiederauf baus im Umgang mit Baudenkmalen: »Abriss der Ruine«, die »liegen gebliebene, innerstädtische Ruine«, »Ruinenerhalt und kommentierender Gegenbau«, »zeitgenössische Integration der sichtbar bleibenden Ruine«, »zeitgenössische Aneignung der formalen Qualitäten der Ruine«, »Teilrekonstruktion von Originalsubstanz« sowie die »Vollrekonstruktion nach Teil- oder Totalverlust«.7 Ein wesentlicher Impuls der Architektur des Wiederauf baus ist, so will ich es zusammenfassend nennen, das Ruinen-Ethos, also der weitgehende Konsens über die moralischen Implikationen der Trümmerlandschaft, 2 | Vgl. Düwel/Gutschow 2013; Vinken 2010; Nerdinger 2005. 3 | Vgl. Huse 1996, S. 185. 4 | Vgl. ebd., S. 187f. 5 | Zur Unterscheidung der Konzepte beziehungsweise historischen Begriffe »Wiederaufbau« und »Stadtumbau« siehe Enss 2013, S. 6f.; vgl. Nagler 2016. 6 | Vgl. Enss 2013, bes. S. 5-8. 7 | Vgl. Falser 2009, S. 67.

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an der es »Trauerarbeit« (Falser) zu leisten gelte. Dabei trug die Pragmatik von Reparatur und vereinfachter Wiederherstellung sowie die Notwendigkeit, Trümmersteine wiederzuverwenden, zur spezifischen Ästhetik der Wiederauf bauarchitektur bei. Die Eigenständigkeit und Zeugnishaftigkeit dieser Architektur ist inzwischen weitgehend anerkannt und als eigene Denkmalgattung beschrieben worden.8 Welche Haltung vertraten Denkmalpfleger über diese praktischen Erwägungen hinaus in Bezug auf die Aufgaben und Leistungen ihrer Disziplin am Übergang von Diktatur, totaler Zerstörung und Wiederauf bau? Boten diese Herausforderungen der Denkmalpflege eine ebenso große Möglichkeit zu einem Neuanfang, wie es etablierte Stimmen für die Architektur forderten? Die Geschichte der modernen Denkmalpflege im deutschsprachigen Raum zeigt, dass sich die Disziplin durch die unpolitische Haltung ihrer Vertreter, insofern sie nicht verfolgt wurden, recht bruchlos in wechselnde politische Systeme einfügte und ihre Ideen für verschiedene ideologische Strömungen fruchtbar machen konnte: Im 18. und 19. Jahrhundert war der Denkmalschutzgedanke zunächst mit der Institutionalisierung nationaler Sammlung und Identitätsstiftung und ihrer Verwaltung verbunden. In der Zeit um 1900 traten nach der Verschmelzung mit der Heimatschutzbewegung kulturkonservativ-nationale und modernekritische Motive für die Unterschutzstellung in den Vordergrund. Folglich schlossen sich behördliche Denkmalpflege und Heimatschutzbewegung nach 1933 den kulturpolitischen Zielen des NS-Regimes bereitwillig an. Sie folgten dabei, so Winfried Speitkamp, »keinem nationalsozialistischen Irrweg, ebenso wenig begaben sie sich in die innere Emigration, ihrer Entwicklung lag vielmehr eine historische Kontinuität und innere Logik zugrunde.«9 Diese »Logik« und »Kontinuität« bestanden, wie Speitkamp nachweisen kann, vor allem in inhaltlichen Überschneidungen mit dem völkischen Gedankengut der Nationalsozialisten, mit denen sich gemeinsame Interessen und Ziele verfolgen ließen. Andere Interpretationen erscheinen dagegen fragwürdig, etwa die von Thomas Scheck, dass eine aus der Weimarer Republik herrührende institutionelle Schwäche die Denkmalpflege »anfällig« für eine Vereinnahmung durch das NS-Regime gemacht habe.10 Irritierend ist in diesem Zusammenhang die an gleicher Stelle vorgetragene, kontrastierende Schlussfolgerung, dass die fachliche Autonomie der institutionalisierten Denkmalpflege diese vor politischer Indienstnahme geschützt hätte.11 Auch diese Bemerkung verkennt die verbindende Kraft geteilter inhaltlicher Grundlagen. Susanne Fleischner interpretierte einen ähnlichen Befund genau 8 | Vgl. unter anderem Gutschow 1985; Falser 2009; Franz/Meier 2011. 9 | Speitkamp 1988, S. 193. 10 | Scheck 1995, S. 38. 11 | Vgl. ebd., S. 202.

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gegenteilig: So sei der Nationalsozialismus für die Denkmalpflege geradezu willkommener Anlass gewesen, sich wieder an eine größere gesellschaftliche Bewegung anzuschließen.12 Es ist erstaunlich, dass die Kontinuität völkisch-kultureller und rassistischer Ideen als Teil der Ideologie der Heimatschutzbewegung bisher kaum reflektiert wurde – unabhängig davon, ob es sich bei den Protagonisten um Nationalsozialisten im engeren Sinne gehandelt hat oder nicht.13 Dabei sind es vor allem die Grundsätze der praktischen Denkmalpflege, in denen sich die heimatschützerisch verstandene Baupflege und die ästhetischen Leitbilder der im Nationalsozialismus vorherrschenden »schöpferischen Denkmalpflege« begegnen. Insbesondere die Arbeit von Fleischner hat die Ideologie der schöpferischen Denkmalpflege aufgezeigt. Diese wurzelt in einem völkisch-national begründeten Verständnis von »Deutscher Heimatkunst«, die es vor allem anderen zu erhalten und zu fördern gelte.14 In welcher geistigen und moralischen Verfassung geht nun die Denkmalpflege aus dem Zivilisationsbruch, bedingt durch die zwölfjährige Gewaltherrschaft, hervor? Lassen sich nach 1945 ebensolche Kontinuitäten konstatieren wie nach 1933?

W ieder aufbau und D enkmalpflege Die Denkmalpflege war seit Mitte der 1930er-Jahre, also von Anfang an, Teil der allgemeinen Kriegs- und Aufrüstungspolitik des NS-Staates.15 Kriegsdenkmalpflege bedeutete vor allem »Kriegskunstschutz«, das heißt die Ausarbeitung und Durchführung von Luftschutzmaßnahmen für die Bau- und Kunstdenkmale.16 1945 musste die Denkmalpflege wie alle Bereiche der Verwaltung und des öffentlichen Lebens vom Kriegs- auf den Friedensdienst umschalten. Den denkmalpflegerischen Wiederauf baudiskurs kennzeichnen dabei verschiedene wiederkehrende Topoi. Allen voran wäre die vielbeschworene Frage nach Wiederauf bau oder Neubau zu nennen.17 Auch zur grundsätzlichen Verfasstheit der Denkmalpflege und zur Legitimation der Entscheidungen, die es beim Wiederauf bau zu treffen galt, wurden Überlegungen angestellt. Sie klingen mitunter ziemlich radikaldemokratisch, wenn davon die Rede ist, denkmalpflegerische Entscheidungen aus dem Verwaltungshandeln in Parla-

12 | Vgl. Fleischner 1999, S. 24f. 13 | Vgl. Landschaftsverband 2007. Auszunehmen ist hier Piechocki 2007, bes. S. 47. 14 | Fleischner 1999, S. 24. 15 | Vgl. Speitkamp 1988, S. 188. 16 | Vgl. Wolff Metternich 1951, S. XI. 17 | Vgl. Lill 1948, S. 2.

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mente und Ausschüsse zu bringen.18 Auch dort, wo diese Überlegungen über die Sondersituation des Wiederauf baus hinausgingen, können die Vorschläge durchaus als Auf bruch zu einer Demokratisierung, gar zu einer Art von Rätesystem verstanden werden. Für die sowjetische Besatzungszone schlug der Kunsthistoriker Gerhard Strauß, Abteilungsleiter in der Zentralverwaltung für Volksbildung in Ost-Berlin, vor, bei den Konservatoren »Beiräte« für Denkmalpflege einzurichten, die sich aus Vertretern politischer und gesellschaftlicher Gruppierungen zusammensetzen würden. Sie sollten dazu dienen, denkmalpflegerische Entscheidungen öffentlich zu vermitteln und umgekehrt der Öffentlichkeit eine Stimme in denkmalpflegerischen Entscheidungsprozessen zu geben.19 Unter Berufung auf eine Direktive des Alliierten Kontrollrates weist Strauß auch auf eine andere Aufgabe der Denkmalpflege hin, nämlich die »Beseitigung faschistischer und militaristischer Denkmäler«.20 Daran knüpft er die Überlegung, dass es dabei nicht eigentlich um »Denkmalschutz« und »Denkmalpflege« gehe, sondern um »Denkmalsfriede«. Eine solch explizite ideologische Demobilisierung stellt im Denkmaldiskurs der Nachkriegszeit die absolute Ausnahme dar und verweist in ihrem Wunsch nach Frieden bereits auf die Friedens- und Abrüstungsrhetorik der DDR. Überwiegend prägten Grundsatzfragen und Szenarien zur zukünftigen Rolle der Denkmalpflege den Diskurs, verbunden mit bekannter Moderneund Fortschrittskritik sowie mit Plädoyers für die Autonomie der Baukunst. Hohe Erwartungen an das Architekturschaffen formulierte etwa 1947 Paul Clemen – als Professor an der Universität Bonn und Direktor des rheinischen Landesdenkmalamts Nestor der deutschen Denkmalpflege. Zunächst geht es um die Rolle der Architekten im Umgang mit denkmalwerter Substanz beim Wiederauf bau: »Wie ein Chirurg an einem verstümmelten Körper im gleichen Maß und an den sichtbaren Teilen in der gleichen Form sich anzusetzen bemüht, so auch jetzt der Architekt.«21 Grundsätzlich gelte das Prinzip der Material- und Werktreue. Gegen das Experimentieren mit neuen Baustoffen und Techniken sei aber auch nichts einzuwenden, solange sie »unsichtbar« blieben.22 Beim Neubau vertritt Clemen die Position Georg Dehios, dass sich nämlich die zeitgenössische Architektur ihre Autonomie und Anerkennung durch die Denkmalpflege erst erarbeiten muss.23 Interessant ist, dass Clemen das Verhältnis von Denkmalpflege und Architekturschaffen nun, wo die Umstände so dringend einen klaren Standpunkt erfordern, als »rote[n] Faden« der 18 | Vgl. ebd., S. 3. 19 | Strauß 1947, S. 47. 20 | Ebd. 21 | Clemen 1947, S. 41. 22 | Ebd. 23 | Vgl. ebd., S. 43.

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denkmalpflegerischen Debatten seit 1900 charakterisiert.24 Er erwartete »eine eigene architektonische Sprache […] voll von künstlerischer Phantasie und von Formenkraft«25. Dazu wollte Clemen die denkmalpflegerischen Standards stärken und forderte eine qualifizierte Ausbildung an den Hochschulen, doch vor allem in den Denkmalämtern und im Handwerk.26 Auch Werner Bornheim gen. Schilling, Landeskonservator von RheinlandPfalz, setzte sich mit der Funktion des Handwerklichen in der Denkmalpflege auseinander. Bornheim ging dabei noch einen Schritt weiter, indem er dieses zum Zentrum eines von denkmalpflegerischen Idealen bestimmten Bauwesens machte. 1948 publizierte er seine Überlegungen in einem schmalen Band, der sich auf den ersten Blick nur dem bestimmenden Thema der Zeit widmet: den Ruinen und der Frage, wie mit ihnen umzugehen sei. Bornheim betont den Symbolcharakter von Ruinen als Zeichen menschlicher Vergänglichkeit und Vermessenheit von der Antike über die Romantik bis in die Gegenwart, spricht ihnen aber die Eignung als Kriegsmahnmale ab.27 Stattdessen plädiert er für den Wiederauf bau als Überwindung der Ruine und entwickelt drei architektonische Konzepte von, grob zusammengefasst, Rekonstruktion, Fusion von Alt und Neu sowie Neubau.28 Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass Bornheim der Denkmalpflege eine besondere, wenn nicht gar zentrale Rolle beimisst, für die er vier Einflusssphären formuliert. Zunächst sind da die bekannten gesetzlichen Einwirkungsmöglichkeiten, die er jedoch radikal ausweitet: Bornheim fordert für die Organe der Denkmalpflege den Zugriff auf die gesamte Bautätigkeit, selbstverständlich dann, wenn es um Baudenkmale geht, aber auch bei Baumaßnahmen in deren Umgebung. Daneben müsse die denkmalpflegerisch geprägte handwerkliche Qualität zum Standard der Bauausführung werden.29 Dazu bedürfe es des Ausbaus des Berufs- und Fachschulwesens und einer Fokussierung auf eine Handwerkerausbildung, die historischen Bauweisen angemessen sei und verlorenes praktisches Wissen wiedergewinne. In diesem Sinne müsse die Denkmalpflege auch auf die Baustoff-Industrie einwirken, um »heimisches Material« zu fördern.30 Was zunächst noch der Mangelwirtschaft geschuldet sei, könne sich auch zur »Tugend« wandeln. Schließlich legt Bornheim seine Hoffnung in die künstlerisch-entwerferische Qualität und prophezeit der Baukunst unter Verweis auf

24 | Ebd., S. 42. 25 | Ebd., S. 43. 26 | Vgl. ebd., S. 42f. 27 | Vgl. Bornheim 1948, S. 7. 28 | Vgl. ebd., S. 66. 29 | Vgl. ebd., S. 63. 30 | Ebd., S. 64.

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die Entwicklung nach dem Dreißigjährigen Krieg eine neue Blüte.31 Aber auch jenseits dieser baukulturellen Utopie skizzierte Bornheim mit Blick auf die Zukunft seiner Disziplin eine Ausweitung des Denkmalbegriffs. Die Forderung, auch Bauten der Gründerzeit und damit des Historismus in den Blick zu nehmen, überrascht zu diesem frühen Zeitpunkt. Bornheim argumentierte dabei jedoch nicht einfach nur mit dem Fortschreiten der Zeitgrenze, das (zumindest theoretisch) die Menge potenzieller Denkmale automatisch vergrößert, sondern mit einem erweiterten denkmalpflegerischen Selbstverständnis, das über die »konservatorischen Bemühungen um ein Kunstwerk« hinausgehe:32 »Die Gesichtspunkte haben sich erweitert. Sie reichen auch über das ästhetisch Schöne hinaus. Sie beziehen das Charakteristische, das Typische als wesentlich ein, mag es unter Umständen auch künstlerisch unbedeutend, ja häßlich sein.« Ebenso wie mit seinem Plädoyer für die Erhaltung von Bauten »nach 1870« nimmt Bornheim hier Debatten der 1960er- und 1970er-Jahre zur Erweiterung des Denkmalbegriffs vorweg.33 Der Direktor der Bayerischen Schlösserverwaltung, Rudolf Esterer, verstand die Denkmalpflege über die Sorge um das einzelne Baudenkmal hinaus als Mittel zu einem höheren Zweck, namentlich der Bewahrung eines »unermeßlichen kulturellen und damit ideellen Schatz[es] unseres Volksvermögens«.34 Für Esterer ist das eine »Werkstoff- und Handwerkskultur«, eine »ganz dem Werk verbundene und sich ihm verpflichtet fühlende handwerkliche Gesinnung«. Sie zeichne sich durch »Güte« und »Dauerhaftigkeit« aus, und zwar ungeachtet des »Zeit- und Kostenaufwands«. Der »eigenpersönliche […] Originalwert« handwerklicher Erzeugnisse hebe sich naturgemäß vom »unpersönliche[n] Reproduktionswert« der »mechanischen Arbeit« ab.35 Und so begreift Esterer den Wiederauf bau als Chance und Legitimation, den Niedergang des Handwerks aufzuhalten und ihm nach Jahrzehnten der »Verkümmerung« zu neuem Glanz zu verhelfen.36 Die Hervorhebung des Handwerks ist durchaus eine Parallele zu Bornheim. In ihrer Radikalität stechen Esterers Vorstellungen zur Umsetzung jedoch aus dem Denkmaldiskurs der Nachkriegszeit heraus: Unter der im Historismus wie im Neuen Bauen beliebten Losung »Zurück zur Bauhütte!« ließe sich sein sozialromantisches Bild von den Kollektiven zusammenfassen, »in denen Meister, Gesellen und Lehrlinge der verschiedenen für den Bau benötigten Handwerksbetriebe in enger kameradschaftlicher Verpflichtung für das gleiche große Werk sich zu einer geistig und 31 | Vgl. ebd., S. 64. 32 | Ebd., S. 62. 33 | Ebd., S. 61. 34 | Esterer 1952, S. 6. 35 | Ebd., S. 8. 36 | Ebd., S. 9.

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gesinnungsmäßig ausgerichteten Gemeinschaft der Schaffenden zusammenfinden«.37 Die völkische Grundierung von Esterers Denken wird hier ebenfalls sichtbar. Diese Gemeinschaften werden von ihm als »Kernzellen kultureller und wirtschaftlicher Wiedergesundung des Handwerks« betrachtet, »die auf das ganze neuzeitliche Bauwesen kulturell günstig einwirken, wie ja auch die alten Dom- und Residenzbauhütten die Pflanzstätten unserer gesamten Baukultur waren.« Auch hier klingt wieder, wie in der Vorkriegszeit, die Hoffnung auf eine neue Blüte der Architektur an, auf »neue schöpferische Impulse«.38 Auch wenn es zunächst um die rasche Beseitigung von Wohnungsmangel gehen müsse, so Esterer, sollte aus ökonomischen Gründen auch in Zeiten des Mangels auf Qualität geachtet werden. Um dies zu erreichen, müsse sich der gesamte Wiederauf bau darauf ausrichten – zuallererst die öffentliche Hand als Bauherrin, aber auch die Kirchen sowie die »Baukünstler« selbst.39 Diese Forderungen, vorgetragen im Jargon der Heimatschutzbewegung und der Nationalsozialisten, entsprechen nicht einfach nur dem »Sound« der Zeit. Das hier gezeichnete Bild einer ständisch-völkisch organisierten Gesellschaft geht unmittelbar auf Ideologeme der Bauauffassung im Dritten Reich zurück.40 An denkmalpflegerischen Überlegungen für die Stadt Wien lässt sich zeigen, inwieweit dort städtebauliche Leitbilder der NS-Zeit übernommen und weiterentwickelt wurden. Freilich konnte die österreichische Denkmalpflege dabei an die über 100-jährige Tradition einer zentralistisch organisierten Denkmalpflege anknüpfen, die mit der Wiedereröffnung 1945 des nach dem »Anschluss« aufgelösten Bundesdenkmalamts fortgeführt wurde.41 Wie in Deutschland ging es zunächst um die Beschäftigung mit Kriegszerstörungen in fast allen größeren Städten des Landes. Mit Ausnahme von Wiener Neustadt und Teilen Wiens waren deren Ausmaße aber kaum mit denen in Deutschland vergleichbar. Dagobert Frey vom österreichischen Bundesdenkmalamt legte ein umfassendes Programm für eine nachkriegszeitliche Denkmalpflege vor.42 Der Architekt und Kunsthistoriker leitete ab 1921 in der Nachfolge Max Dvořáks das Kunsthistorische Institut am Bundesdenkmalamt in Wien – eine Position, in die er nach 1945 kurzzeitig zurückkehrte. Zwischen 1931 und 1945 hatte er eine Professur für Kunstgeschichte an der Universität Breslau inne und etablierte 37 | Ebd., S. 7. 38 | Ebd., S. 9. 39 | Ebd., S. 8. 40 | So gehören lokale Handwerksarbeit und materialgerechte Formbildung zu den Grundelementen der Architekturauffassung der Heimatschutzbewegung im »Dritten Reich« und wurden in Blättern wie Der Bauberater propagiert. Vgl. N.N. 1940, S. 6f. 41 | Vgl. Demus 1947, S. 1. 42 | Vgl. Frey 1947, S. 4.

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eine kulturwissenschaftlich-kunsthistorisch orientierte Strömung der »Ostforschung«.43 Den deutschen Überfall auf Polen rechtfertigte Frey als »neue entscheidende Phase« der »deutsche[n] Kulturmission im ostmitteleuropäischen Raum«, um dem »fremdvölkische[n] Wesen in der politischen Gestaltung dieses Raumes seine Stellung zuzuweisen […]«.44 Nach 1945 zeichnete Frey nicht nur das Bild der Denkmalpflege als Bewahrerin des baukulturellen Erbes, sondern das einer gleichberechtigten Gestalterin in der Stadt- und Regionalplanung. Wie zu dieser Zeit üblich, begriff er die Stadt als »Organismus« und propagierte das klassisch-moderne Ideal einer aufgelockerten, durchgrünten Stadt.45 Es gelte Frey zufolge, städtebauliche Entwicklungen wie das »amorphe […] Zusammenwachsen der Vorstädte« und die »ungeregelte […] und verstreute […] Lokalisierung der Industrie und der wilden Siedlung im Flachland« zu korrigieren.46 Diese funktionale Entflechtung erlaube die aus denkmalpflegerischer Sicht wünschenswerte Erhaltung der Altstadt als weitgehend isolierten Bereich – mit Konsequenzen auch für die Verkehrsplanung, die auf Verkehrsvermeidung setzt, etwa durch eine Ausweitung der Einbahnstraßenregelung.47 In gewisser Weise steht Frey damit in der Tradition der Denkmalpflege während des Nationalsozialismus, die sich 1938 mit Monumentalplanungen für den Ausbau Wiens als zweitgrößter Stadt des Reiches konfrontiert sah.48 Vor allem Hans Sedlmayr plädierte mit Blick auf diese Planungen für die Trennung von historischem Kern und dem neuen Zentrum für das »nationalsozialistische Wien«.49 Dieses könne in Weiterführung der Ringstraße in der Leopoldstadt zwischen Donaukanal und Donau anstelle der »Judenstadt« entstehen. Das dann als »Hitlerstadt« fungierende Quartier stünde neben dem »kaiserliche[n] Wien Franz Josephs in der Ringstraße« und dem »barocke[n] Wien in der inneren Stadt«, die als in sich geschlossene historische Bereiche erhalten blieben. Nach 1945 tauchte die Weiterführung der Ringstraße als Vorschlag in einem Wettbewerb zum Wiederauf bau erneut auf.50 Die damit verbundenen Durchbrüche und Abrisse entsprachen den Leitbildern modernistischer Stadtplanung, die immer auch Gefahr liefen, zur Durchsetzung sozialhygienischer Ideologien instrumentalisiert zu werden. Frey jedoch erteilte dieser Planung mit Verweis auf die »gewachsene Struktur der Leopoldstadt« und ihre Baudenkmale eine Absage. 43 | Vgl. Tintelnot 1962, S. 21. 44 | Frey 1939/40, S. 98. 45 | Frey 1947, S. 4. 46 | Ebd., S. 5. 47 | Vgl. ebd., S. 4. 48 | Vgl. Mattl/Pirhofer 2015. 49 | Sedlmayr 1939/40, S. 159. 50 | Vgl. Frey 1948, S. 113.

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Den erhofften Einfluss der praktischen Denkmalpflege im Wiederauf bau buchstabierte Frey auch im Detail ähnlich aus wie die Kollegen in Deutschland: von der notwendigen Aufmerksamkeit für die Architektur auch des frühen 20. Jahrhunderts bis zum Einwirken auf die Industrie, um etwa die werkgerechte Teilung und »technische Durchbildung« der Fensterflügel zu gewährleisten.51 Ästhetisches Leitbild ist auch hier das Bild der alten Stadt und »die historisch gewordenen alten Straßenführungen und Platzbildungen«, die es unter allen Umständen zu bewahren gelte.52 Als Bewertungskriterium für den Neubau, wenn er denn in der alten Stadt geschehen solle, postuliert Frey im Namen der Denkmalpflege »Zeitlosigkeit« und, in Abgrenzung zum Historismus, »überstilistischen Charakter«.53 Abschließend formuliert er wie Bornheim die Vorstellung eines besseren, weil von denkmalpflegerischen Prinzipien geleiteten, alle sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse integrierenden Bauwesens. Hier fällt der Begriff der »Ganzheit«, in deren Namen auch »der Städtebauer, der Verkehrstechniker, der Baukonstrukteur und der Bauhandwerker geschichtlich, pietätvoll und künstlerisch, das heißt letzten Endes denkmalpflegerisch, empfinden lernen« müssten.54

1900 – 1945 – 1975? Z usammenfassung und A usblick In den Jahren um 1975, also rund um das Europäische Denkmalschutzjahr, erfuhr die Denkmalpflege einen erheblichen Bedeutungszuwachs. Ein bekanntes Schlagwort dieser Zeit ist Denkmalpflege als »Sozialpolitik«.55 Dahinter verbirgt sich das Konzept einer Denkmalpflege, oder besser eines Denkmalbewusstseins, das über das Einzeldenkmal hinaus Architektur, Stadtraum und Landschaft auch als soziale Ensembles begreift und diese nicht nur als Zeugnisse der Geschichte, sondern auch einer Sozialstruktur versteht und sie engagiert schützt und erhält. Eingefordert wurde diese Art von Schutz zuerst von Bürgerinitiativen. Diese hatten sich in den Arbeitersiedlungen des Ruhrgebiets gegründet, aber auch in vielen gründerzeitlichen Stadtvierteln Westdeutschlands, denen bekanntlich in den 1960er- und 70er-Jahren im Zuge der Flächensanierung der Abriss drohte. Weniger bekannt sind dagegen weitergehende Überlegungen, angesichts der Flächensanierung das gesamte Bauwesen nach denkmalpflegerischen Prinzipien zu organisieren.56 Die Fo51 | Frey 1947, S. 20f. 52 | Ebd., S. 10. 53 | Ebd., S. 11. 54 | Frey 1948, S. 124. 55 | Geprägt von Roland Günter und Lucius Burckhardt; vgl. Günter/Günter 1976. 56 | Burckhardt 1977; Peschken 1990; vgl. Warda 2015.

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kussierung auf den Baubestand über die sogenannte Altstadt hinaus sorgte dafür, dass sich die erhaltende Erneuerung als alternative Form der Stadtsanierung etablieren konnte. Vor diesem Hintergrund erfuhren um 1975 auch die Topoi »Handwerklichkeit« und »Materialgerechtheit« neuen Auftrieb, weil die Zahl zu erhaltender Bauwerke wuchs.57 Ideologische Rückbezüge zur Heimatschutzbewegung sucht man bei den Denkmalpflegern der 68er-Generation jedoch vergebens – im Gegenteil, die sich anbiedernden historisierenden Ersatzbauten in den Sanierungsgebieten wurden als »Heimatstil« geschmäht.58 Während sich die Denkmalpflege in den 1970er- und 80er-Jahren unter Berufung auf einen wissenschaftlichen Denkmalbegriff sowohl gegen die Betonarchitektur wie die Postmodernismen wandte, speiste sich die Kritik am industrialisierten Bauwesen der Moderne in den Einlassungen der Nachkriegszeit aus höchst unterschiedlichen Quellen. Es überrascht kaum, dass die Denkmalpflege in der Offenheit der Situation nach 1945 die Chance ergriff, sich neu zu positionieren und, wie Bornheim, eine führende praktische Rolle im Wiederauf bau zu fordern. Demgegenüber sticht die Radikalität eines Programms wie dem von Esterer mit seinem Rückschritt in die ständische Gesellschaft hervor. Zu fragen ist, weshalb gerade die Katastrophe, in die die faschistische Staats- und Gesellschaftsordnung geführt hatte, in der Heimatschutzbewegung zu Abwehrtendenzen gegen die moderne Massengesellschaft führte. Fungierte der Entwurf einer vom Handwerk her gedachten Baukultur letztlich nur als Vehikel einer weiterhin rassistisch grundierten kulturellen Werteordnung? Festzuhalten bleibt, dass die Ideen der Heimatschutzbewegung in einem ambivalenten Missverhältnis zum Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik standen. Denn auch wenn sich die Denkmalpflege nach 1945 durch ihren Beitrag vor allem ein »besseres« Bauen erhoffte, schwangen in ihrem Kulturkonservatismus die Reste des Strebens nach gesellschaftlicher Exklusion durch Architektur und Denkmalpflege aus der Zeit des Nationalsozialismus und davor mit. Aber konnte die Denkmalpflege die in ihrer Theorie formulierte ambitionierte Rolle im Wiederauf bau und darüber hinaus auch spielen? Dazu äußerte sich Bornheim in einer umfangreichen Rückschau unter der Überschrift »25 Jahre Denkmalpflege«.59 Durchaus kritisch würdigt er den Wiederauf bau, der in seinem Sinne vonstattengegangen war, und die Internationalisierung der Denkmalpflege durch Europarat und UNESCO. Was die Durchsetzung denkmalpflegerischer Kernanliegen aus den Nachkriegsjahren angeht, klafften

57 | Vgl. Deutsches Nationalkomitee 1978. 58 | Klotz 1975, S. 54. 59 | Bornheim 1970.

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Bornheim zufolge Anspruch und Wirklichkeit auseinander.60 Eher ernüchtert als kulturkritisch stellt er fest: »In den Ländern der Bundesrepublik bemüht man sich, für bestimmte Neubauviertel Haustypen, Dachformen, Umfriedungen bis zum Jägerzaun strenge Richtlinien vorzuschreiben und setzt sie auch durch. Denkmäler hohen wie niederen Ranges aber drohen mehr und mehr vogelfrei zu werden. Wer weckt das Gewissen der Nation?« 61

Die aus dem Heimatschutz hervorgegangene Denkmalpflege war es offensichtlich nicht.

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Ruins and Slavic Utopia Architecture of the Social Reform in Croatian Historic Towns, 1945–1960 Marko Špikić

I ntroduction Following the triumph of Josip Broz Tito’s partisans over occupying and collaborationist forces, a new era was set to begin in the People’s Republic of Croatia. Architecture played a significant role in this era’s emergence and social acceptance. Similar to Bolesław Bierut’s Poland and Walter Ulbricht’s East Germany, old and new buildings became indispensable elements of imagined “polis” and expected “politeia”. Architects, urban planners, and conservators of Tito’s new state were expected to fulfil that task. The Partisan’s military conquest of Zagreb on May 8, 1945 initiated a process of reprisal and reform. I would suggest dividing this period into three stages: Stalinist years, 1945–1948, De-Stalinization and implementation of the Five-Year Plan, 1947–1952, and years of stabilization and growth, 1953–1960. Devastated urban landscapes urged postwar leftist leaders in Europe to prepare rebuilding programs correspondent to revolutionary or reformist demands. With its immense losses, Europe experienced a catharsis, which is an appropriate term to describe the renewing and transformative nature of the postwar societies. This collective catharsis implies corporal and spiritual purification as part of initial reactive programs conceived among ruins, evolving from terror to hope, which frequently verged on utopian visions. The treatment of historic towns in postwar Croatia, along with the regime’s revolutionary words and deeds, should be discussed as part of that complex. With Yugoslavia having experienced a bloody civil war, as well as prosecutions and participation in the Holocaust during Nazi and Fascist occupation, Tito’s reformist programs for the country were specific and complex. In addition to human suffering, historic towns had been damaged by airstrikes. Therefore, Tito’s regime experienced a Year Zero, meaning it had to

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face tragic human losses and crippled urban centres as “Yugoslavia was the site of some of the worst violence in Europe, both during and after the war”.1 Life in captured towns between 1945 and 1948 was marked by purge and prophecy. Prophecy was strengthened by the myth of revolution, forged in a chaotic realm of war and heading towards a harmonious, classless society. Two speeches of the partisan leaders, Croatian parliament speaker Vladimir Nazor and Marshal Tito, can be pointed out in this respect. Nazor’s speech held in Zadar in April 1945 announced the “discarding” of the traces of foreign presence (Austrian and Italian) “in the sea of oblivion”. Tito’s first speech in Zagreb in May 1945 was both revolutionary (he had “enough [of; author’s note] everything that used to be”) and unifying, introducing the dogma of “Brotherhood and Unity”.2 Purge was, after the Paris Treaty of 1947, followed by the exile of Italian communities from Istria and Dalmatia.3 Thus, the regained historic towns – and I will discuss the cases of Split, Šibenik, Zadar and Zagreb – in only a few years were turned from theatres of war to ethnically and ideologically cleansed local centres. All these towns have a rich history of cultural and political appropriation. Coastal towns had already been proclaimed Italian in pre-fascist times. Prominent art historians and archaeologists like Adolfo Venturi, Giacomo Boni, and Pericle Ducati had been writing on the “italianità” and “romanità” of Istria and Dalmatia in the famous literary periodical Nuova antologia since 1916. Zagreb had been imagined as national capital by Croatian patriotic politicians and historians since the 1850s. During the Early Modern Age towns fell under the influence of the Venetian Republic and Habsburg Monarchy, which is felt in dialects, monuments and urban design. Until the fall of Austria they were cosmopolitan and heterogeneous, which helped Alois Riegl and Max Dvořák develop their innovative conservation principles. They both interceded for preservation of heterogeneity in Istrian and Dalmatian cityscapes and their picturesque atmospheres as part of their democratizing theories of conservation. Diocletian’s palace in Split was one of the central monuments in Austro-Hungarian Monarchy, and both art historians joined the special commissions for its preservation (“Erhaltung”) while preparing famous theoretical accounts on the care of monuments, “Der moderne Denkmalkultus”, “Restaurierungsfragen” and “Katechismus der Denkmalpflege”.4 The late 1940s brought radical changes: the forging of a new national identity (in the form of South-Slavic exceptionalism), the shift from a royal and fascist to a proletarian and Tito’s personal dictatorship, and the modernization from a rural-agricultural to an urban-industrial system of planned economy. 1 | Lowe 2013: 250. See also Karakaš Obradov 2008. 2 | N.N. 1945: 2; Broz Tito 1945: 1f. 3 | Cf. Petacco 2005. 4 | Riegl 1903; Dvořák 1909.

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The implementation of these reforms implied the construction of urban scenography for new social actors to fill out. Due to the fact that the conquered historic towns were seen as realms for the shaping of the new socialist citizen, Tito’s regime needed experts both in conservation and urban planning: conservators for reprisal, planners for reform. They had to deal with the collective memory (by meddling with the past’s image) and social evolution (by planning the cities for a new society). In 1947, the inhabitants of Zagreb, the new capital of the People’s Republic of Croatia, witnessed the removal of the popular equestrian statue of viceroy Josip Jelačić and the renaming of his (and Zagreb’s central) square to Republic Square, as well as the building of first housing areas in the so-called “New Zagreb”, south of the “existing city”, as it was called by urban planner Vlado Antolić.5 While the former was carried out by night, the latter was highly publicized. As in Poland, the two Germanys and Italy, postwar reforms for conservators meant a revision of Riegl’s and Dvořák’s abstinent conservation and Gustavo Giovannoni’s paradigm of “scientific restoration”, that since 1913 tried to reconcile conservation and restoration principles on the level of urban planning. Giovannoni contemplated the continuation of modern life in ancient cities (“vecchie città”). Thanks to political circumstances, he and his Roman colleagues prepared a plan in 1941 for urban reform and the uncovering of Roman and Venetian monuments in the Dalmatian city of Split.6 Croatian postwar architects and urban planners, on the other hand, faced the political demands of the Stalinist elite. They were encouraged by newspapers, where a division between the conquered “capitalist” (seen as egotist and colonial) and the new communist city (advertised as integrating and emancipating) was promoted. Between 1945 and 1948, due to traumatic losses and urges for social reform, architects gained an important role in the reconstruction process, second only to the politicians. However, they managed to preserve their professional autonomy without experiencing creative “conversions” from prewar Modernism to postwar Socialist Realism, comparable to Hermann Henselmann and Richard Paulick in the GDR.7 Their affiliation to the modernist movement was thus tacitly approved by the regime. In the first postwar years there also were no open polemics between busy Modernist planners and moralizing Stalinist theoreticians. Two arbiters of taste in their thirties, Neven Šegvić (1917–1992) and Andre Mohorovičić (1913–2002),

5 | Antolić 1949: 28. 6 | Giovannoni 1942; cf. Brock 2008. 7 | For the architects’ role in the new political system of the GDR, see their articles in the journal Deutsche Architektur from the early 1950s, along with texts by Walter Ulbricht, Lothar Bolz, and Otto Grotewohl.

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started their careers as devotees of Soviet architectural principles.8 Until the break with Stalin in 1948, their dogmas seemed unshakeable in the critical and pedagogical work at Zagreb School of Architecture. But in spite of their devotion, modernist forms were never substituted with historicizing architecture devised in Leipzig, Dresden, Neubrandenburg or Rostock. The Croatian postwar architectural scene was shortly divided between cosmopolitan taste and Stalinist inclination to “national traditions”. This is obvious in the first volumes of Arhitektura, a magazine established in 1947. Although it brought illustrations of Soviet architecture in the text by architect Kazimir Ostrogović9 and its sole monumental expression on Croatian soil10, images of new projects manifested modernist forms.11 Instead of evoking local traditions or responding to Soviet monumentalism, architects were inspired by the legacy of Bauhaus and the work of Le Corbusier. This brings us to the question of political influence on the architecture of the time. Inspecting the projects for the party’s central committee and federal government buildings in Belgrade in 1947, Tito interfered in questions of “maturity, expression, form, monumentality” and architecture’s “relationship with new social order”. He recalled an “architectural element of the Greek style, its harmony and eternal beauty”, while criticising abstract forms of “our former models from the West, with their utopianism, phantasy and formalism”.12 After the break with Stalin, however, Tito’s taste changed and he started to preach architectural standardization. In March 1953, during his visit to London, he was introduced to models of modernist reconstruction of the war-torn capital.13 By then Croatian artists and architects had proved their devotion to the modernist movement. The Zagreb based art group “Exat 51” considered abstract art a struggle for artistic liberty and sense of belonging to western trends.14 In the meantime, the systems of conservation and urban planning were established and developed. The regime supported the work of the conservation offices in Zagreb, Rijeka, and Split, which were responsible for the regions of continental Croatia, Istria with Quarnero, and Dalmatia. Here, architects had to “overcome the ruins”, symbols of the overthrown regimes. Fragments were unsuitable to grand narratives of “unity”, “entirety”, “replenishment” and (aesthetic and social) “harmony”. High-ranking politicians therefore declared

8 | Mohorovičić 1948; Šegvić 1948. 9 | Ostrogović 1947/48: 3–8. 10 | N.N. 1947/48: 17–19. 11 | Strižić 1947: 9–12. 12 | Ravnikar 1947: 5f. 13 | N.N. 1953: 1. 14 | Cf. Susovski 2001.

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a new war, namely against ruins.15 Conservators and urban planners were expected to participate actively.

Z agreb : The B uilding of A S ocialist C apital Although not heavily bombarded, Zagreb, as postwar capital of the new republic, experienced significant changes. Mirroring the social changes, urban reform implied the renaming of streets and squares (dedicated now to victory, Red Army and Stalin), as well as the removal of monuments, such as Ban Jelačić’s statue from the central square in 1947, and minarets, built by collaborationist authorities, from the Victims of Fascism Square in 1948. Since 1946 it had been accompanied by additions: while new industrial zones appeared in pastoral and proletarian suburbia, new blocks for workers, artists and intelligentsia were glued to the prewar “capitalist” city. Industry grew in remote urban satellites while the residential blocks were created on the edge of the dismissed historicist town, the latter having been built between 1860 and 1918.16 If the houses built until the early 1950s on the eastern fringes of the existing urban hub can be seen as signs of political pragmatism, similar to Chruščëv’s plea for “better, cheaper and faster building”17, the late 1940s plan for Moscow Avenue became paradigmatic for the coming age. Everything surrounding that highly publicized project (Fig. 1) was prophetic. It was “the future Zagreb”, “future centre”, “New Zagreb” or “Big Zagreb”, alienated from the capitalist town.18 From Vlado Antolić’s regulation plan of 1949 to the construction boom of the late fifties and early sixties, this axis (time and again renamed, from Moscow and Belgrade to Proletarian Brigades Street), grew to become an exhibit, a reflex and instrument, of the evolving socialist society. Under the mandate of Mayor Većeslav Holjevac (1952–1962), the Proletarian Brigades Street was framed by Kazimir Ostrogović’s City Hall, the Worker’s University by Ninoslav Kučan and Radovan Nikšić, faculty buildings by Marijan Haberle and Božidar Tušek, the Hotel International by Tušek and numerous new housings.19

15 | Opačić-Čanica 1945: 3. 16 | Cf. Knežević 1996. 17 | Chruščëv 1955. 18 | Cf. Ivanković 2006. 19 | For political appropriation of this era’s accomplishments, see Dabac 1961.

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Fig. 1: Milan Pavić: Proletarian Brigades Street, Zagreb, around 1959

Among those were Drago Galić’s two houses on “pilotis”, resembling Le Corbusier’s principles of “unité d’habitation”.20 The concept of a new, displaced urban centre was gradually abandoned, partly due to its lack of focal point and disrespect of pedestrians, but mostly due to a growing sense of civic nostalgia. Modernist planners subsequently returned to “insignificant”21 historicist Zagreb, proposing new insertions such as skyscrapers or the demolition of entire blocks, recalling those that took place in the historic core in the late 1920s. Both phenomena prompted the reaction of conservators, which by 1962 already protected the urban area of historicist Zagreb.

R estor ation of monuments and urban pl anning in post war S plit The situation was somewhat different in the coastal historic towns of Split, Šibenik, and Zadar. Partisans had already entered these towns in the autumn of 1944, so the first Croatian postwar government was actually established in Split. The streets and squares with Adolf Hitler’s or Benito Mussolini’s names were now turned to strongholds of rebellious, nationally conscious Slavs. This socio-anthropological turn was bolstered particularly by conservators whose 20 | Cf. Ivanković 2016. 21 | Mohorovičić 1952: 27.

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concept of “Alterswert” dominated the treatment of the bombarded town. In Split, they played a major role until the mid-1950s. However, new authorities insisted on corrective elimination and selective commemoration. Cvito Fisković (1908–1996), a member of the partisan movement, became the first director of the conservation office for Dalmatia. Ignoring and discrediting his forbears (seen as Austrian and Italian “occupiers”), he fostered the refinement of monuments in order to become semantically “clear” (or unambiguous) in the eyes of socialist laymen.22 Fisković discussed the relationship of monuments and urban planning, recommending the preservation of aesthetic and stylistic harmony of historic settings. This communist “concinnitas” was understood as a uniformed, creatively cautious, censored image bearing a didactic potential. As chief conservator for the Dalmatian province, Fisković became central in the reshaping of monuments as reformist tools. The site’s refinement implied the discarding of conservation traditions and physical removal of restorable sections of minor architecture. Similar to Brandi, Pica, and Pane in Italy, Fisković manifested sincere distrust towards modernist inventions in historic towns.23 His sensibility for these settings was determined by an effort to adapt them to the exigencies of the reforming society. The devised transformations are comparable with Soviet novelist Yury Olesha’s formula of the engineering of the human soul: the body could seemingly remain the same, but its inner world was to experience significant conversion.24 In the early fifties, architects proposed first interventions around the historic core of Split. The demolition of urban fabric to extend Marmont Street in 1951 was soon counterbalanced by urban growth in northern and eastern suburbs. Split was to become an industrial city, growing from 70.000 to 200.000 inhabitants.25 Milorad Družeić and Budimir Pervan proposed the first regulation plan in 195126, transforming the picturesque littoral into gigantic industrial complexes and planning the urban sprawl of satellite blocks (“trabanti”) on former pastures. Simultaneously, urban planners worked on the transformation of the historic core into a vital and healthy socialist city.27 Renouncing the possibility of turning the old town into a museum, conservators and urbanists had to devise appropriate adaptations and sensitive new insertions.28

22 | Fisković 1950. 23 | Brandi 1956: 356–360; Pica 1958: 30–34; Pane 1958b: 7–18. 24 | Cf. Westerman 2011. 25 | On Split cf. Majić 2011. 26 | Pervan 1965/66. 27 | Družeić/Marasović/Pervan 1961/62. 28 | M.G. 1952: 4; BZ 1955a: 3.

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The ruins were disturbing, so journalists often reported on derelict or war-torn buildings as a public disgrace.29 In 1955, the dispute on the fate of the bombarded house Aglić situated in the heart of the Diocletian’s palace, turned professional discussion into a heated debate.30 While Fisković called for a synthesis of modern and national forms, Šegvić pleaded for the “counterpoint method”, i.e. the insertion of modernist buildings, no longer being interested in the Stalinist concepts he had asserted seven years earlier. His design, seen as “an intruder”, was criticized by architects and citizens, who compared the modernist insertion with the invasions of Avars and Osmanic Turks.31 Šegvić eventually built Aglić house (Fig. 2) in the early sixties, but it wasn’t followed by other comparable projects. Modernism thus prevailed in Split’s periphery, and the historic core was left to experts dealing with historic monuments, such as Jerko and Tomislav Marasović, who followed the path of the founders of ICCROM and ICOMOS. However, the urge to cleanse the historic core of Split of “intruders” and “agglutinations” persisted32 and was strengthened after 1960. Fig. 2: Aglić House, Peristyle, Split, around 1965

29 | N.N. 1954: 4. 30 | BZ 1955a: 5; BZ 1955b: 3; Dragičević 1955: 4. 31 | N.N. 1955: 4. 32 | Cf. Marasović 1957; Marasović 1958.

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Two faces of reconstruction in Š ibenik Mediaeval Šibenik was bombarded in 1943 and 1944.33 Although the precious Renaissance cathedral was spared, the neighboring Loggia, a monument to Venetian (and Italian) cultural presence, was totally demolished. Even though local administration initially didn’t support it, Cvito Fisković strongly advocated a facsimile reconstruction. The project was led by architect Harold Bilinić.34 As in Bierut’s and Jan Zachwatowicz’s Poland of the late 1940s, it implied ideological adaptation, so Bilinić in 1949 wrote on the popular (Slavic) origin of the lost monument.35 In the process of becoming a new internationally promoted political manifesto, architect Nikola Dobrović in 1951 criticized the reconstruction principle in favor of contemporary expression. While recognizing the value of historic towns, he offered an “addition of new values”, leading to a “sublime harmonization of the spatial forms”. These new values implied building in “contemporary spirit”, renouncing the “historic realism” and conservators’ “eclecticism”, which, in the beholder’s eyes, represented a “delusion”.36 This distinction between the didactic fallacy of conservators and the sincere creativity of modernists was explored by architect Ivan Vitić, born in Šibenik in 1917. In 1950, he published a text on reconstructions, understanding the term as not regressive, but creative, contribution to urban life. He also respected the role of conservators, but pleaded for the “elasticity” of reconstruction programs.37 His project for an elementary school on the edge of the historic core introduced an architectural distancing effect in Šibenik, that was not accepted with enthusiasm by Fisković.38 Vitić’s initial respect for relics and ruins of Šibenik was confronted with the geometrical forms of the new school building. It was soon followed by a design of the massive People’s Committee Building (Fig. 3) on the town’s waterfront, substituting the war-torn residential block with minor architecture in the vicinity of the Renaissance cathedral. It was a manifest building of the new age, both in function and in form.

33 | Karakaš Obradov 2008: 137–148. 34 | Špikić/Raič Stojanović 2016. 35 | Bilinić 1949. 36 | Dobrović 1952. 37 | Vitić 1950. 38 | Vitić 1952; Vitić 1954; Fisković 1950: 174. On “Verfremdung” in the perception and treatment of monuments, see Will 1992: 101–108.

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Fig. 3: Ivan Vitić: People’s Committee Building, Šibenik, around 1961

Tr adition and innovation in the urban pl anning of Z adar Zadar was the most heavily demolished Croatian town: according to assessments, some 80 percent of the prewar urban core was destroyed by bombardments, followed by the systematic removal of ruins in postwar times, which, as in East Germany, was instigated by top politicians. For years it was a city of ruins in postwar times, abandoned by the Italian community and gradually populated by Slavic inhabitants, struggling with identity in a newlycolonized environment. The rebuilding of Zadar attracted leading postwar Croatian architects and urban planners.39 While the honorary conservator Grga Oštrić dealt with the restoration of isolated monuments, whole blocks were demolished by the new authorities. The designing of the new socialist town is in some way similar to contemporary discussions on New Dresden: in both towns heavy war destructions were followed by the postwar creation of “tabula rasa”. Back then, the planners had to make a crucial decision: whether to respect the urban tissue of the destroyed and sacrificed urban centre or, similar to Mart Stam’s projects, to build a new town beneath the vanished one. The first plan was prepared 39 | Cf. Mlikota 2017: 49–93.

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in 1945 by Milovan Kovačević, Božidar Rašica and Zdenko Strižić.40 When presented to citizens, it caused a schism: nostalgic members of the surviving Italian community (“Zaratini”) insisted on a reconstruction “com’era e dov’era”, while Slavic settlers supported the principles of reform and substitution.41 The new aesthetic and social harmony called for the denial of the heterogeneity of Austrian and Italian “Zara”, which was to be replaced by a unique reformist regulatory plan for Slavic “Zadar”. In reality, until the end of the 1950s, improvisation, misrule and partial rebuilding prevailed over a systematic and holistic approach. The rebuilding of Zadar attracted prominent Croatian architects and urban planners, namely Neven Šegvić, Mladen Kauzlarić, Alfred Albini, Ivan Vitić and Bruno Milić. Although the concept of substitution on the level of urban planning had similarities with Lothar Bolz’s dogma of “Auf bau” instead of “Wiederauf bau” in the GDR42, Zadar was, similar to Auguste Perret’s Le Havre, planned in modernist forms, but respecting the urban grid of the bulldozed town. As in Germany, the removal of damaged blocks helped to create “traditional islands”. These insulated and carefully restored monuments weren’t just confronted with modernist buildings, they were enveloped by them. In a quarter of a century of rebuilding, Zadar conceptually stood between Zachwatowicz’s Stare Miasto in Warsaw and Stam’s project for Dresden.

C onclusion The first fifteen years of postwar reconstruction in Croatian historic towns were marked by corrective or prohibitive reforms and promising utopian plans. Both historic and new architecture gained political significance, and conservators and planners counted on public recognition of their work. Public response —particularly to use-values of new buildings—in leading newspapers can be traced back to the mid-fifties. Much easier to understand is the position of the professionals. For conservators, the past was politicized; it therefore had to be corrected in order to become attractive and illuminating to the masses of the promised communist utopia. For planners, it was a complex of fragments to be enveloped by vivid icons of social progress, be they socialist or modernist. What united both communities was a search for harmony in the “manifold unity” of the communist city.

40 | Strižić 1947. 41 | Mlikota 2017: 58. 42 | Boltz 1951: 16.

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Jüdisches Bauen in Nachkriegsdeutschland Möglichkeiten und Bedingungen Alexandra Klei

Jüdisches Bauen, das heißt sowohl jüdische Bauaufgaben wie Synagogen, Gemeindezentren, Friedhöfe, Mikwaot, Altenheime, Jugendzentren und Denkmale als auch das Wirken jüdischer Architekten,1 ist in der Forschung zum Wiederauf bau, zur Nachkriegsmoderne und zum Wirken der hier involvierten Akteur/-innen nicht präsent. In der in den letzten Jahren umfangreich erschienenen Literatur, die mittlerweile eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Forschungsbereiche abdeckt, werden sie nicht thematisiert.2 Insgesamt sind das Wirken jüdischer Architekten und die Synagogenbauten allgemein dem Bereich der jüdischen Studien zugeordnet. Allerdings spielen auch hier die Entwicklungen und Biografien ab 1945 eine nachgeordnete Rolle. Die folgenden Ausführungen wollen dazu beitragen, diese Auslassungen und Verschiebungen aufzuheben. Sie sollen sowohl die Möglichkeiten, für einen jüdischen Architekten in Nachkriegsdeutschland3 tätig zu sein, vorstellen, als auch die Bedingungen zeigen, unter denen Synagogenbauten errichtet werden konnten. Ein Schwerpunkt wird auf die Frage nach den Beziehungen zwischen 1 | Bisher konnte keine jüdische Architektin festgestellt werden, die im Zeitraum der Untersuchung in Westdeutschland tätig war. 2 | Eine Ausnahme bildet De Michelis/Frank/Hain 2004. Im Kapitel: »Kirchen und Synagogen« (ebd., S. 82-87), heißt es, dass der Neubau von Synagogen eine »ausgesprochen seltene Bauaufgabe [blieb; Anm. d. Verf.]« (ebd., S. 82). Unter acht vorgestellten Beispielen wird nur ein Gebäude dieser Baugattung zugeordnet: das Jüdische Gemeindezentrum in der Fasanenstraße in Berlin (ebd., S. 85). Dieses ist im eigentlichen Sinn allerdings keine Synagoge. Es gibt lediglich einen großen Veranstaltungssaal mit Thoraschrein an der Ostwand. 3 | Im Folgenden werden die Entwicklungen in der Bundesrepublik betrachtet; zur Situation in der SBZ und in der DDR gibt es bisher keine Veröffentlichungen. Die dortigen Bedingungen sind Bestandteil meines aktuellen Forschungsprojektes zum jüdischen Bauen in der BRD, der DDR und Österreich zwischen 1945 und 1989.

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nichtjüdischen Akteur/-innen und jüdischen Architekten gelegt. Im Zentrum stehen dabei der Architekt Hermann Zvi Guttmann und der Bau der Synagoge im bayrischen Würzburg.

J üdische A rchitek ten Innerhalb der deutschen Architektenschaft gab es nach 1945 zunächst kaum Bemühungen, emigrierte jüdische Architekten zurückzuholen. Eine Ausnahme stellte 1951 eine Einladung zur Teilnahme an der Ausstellung »Mensch und Raum« in Darmstadt an Erich Mendelsohn dar, der Deutschland Anfang 1933 verlassen hatte und seit 1941 in den USA lebte. Er lehnte diese mit einer scharfen Anklage ab: »[S]olange Deutschland nicht den Mut oder die Einsicht hat, oeffentlich die kulturfeindlichen Dinge auszurotten, die in seinem Namen und mit seiner schweigenden Zustimmung geschehen sind, kann ich als Jude nicht zu der kulturellen Bedeutung Ihres Landes beitragen.«4 Eine zweite Ausnahme war Alexander Klein, der ebenfalls 1933 nach Palästina emigriert war und 1957 einen Entwurf für ein Gebäude auf der Internationalen Bauausstellung in Berlin einreichte, das allerdings aus »nicht geklärten Gründen« nicht errichtet wurde.5 Dagegen kehrte Gustav Oelsner nach Hamburg zurück, nachdem ihn der damalige Bürgermeister der Stadt, Max Brauer, eingeladen hatte. Oelsner wurde hier als Referent für Auf bauplanung tätig.6 Daneben versuchte eine nicht exakt zu bestimmende, allerdings sehr geringe Zahl von jüdischen Architekten nach 1945, wieder in Deutschland zu arbeiten. Sie hatten mithilfe nichtjüdischer Ehepartner/-innen, versteckt oder in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern überlebt. Einige konnten zunächst kleinere Aufträge umsetzen, bevor sich ihre Spuren nach bisherigem Kenntnisstand wieder verlieren.7 Daneben verliehen deutsche Institutionen ab dem Ende der 1950er-Jahre (Ehren-)Professuren oder Ehrenmitgliedschaften an mehrheitlich im Ausland lebende Architekten. Insgesamt lässt sich allerdings nicht feststellen, dass ein jüdischer Architekt an den relevanten Debatten teilnahm. Auch war kaum einer von ihnen in die großen Wiederauf bauprojekte der Nachkriegsjahrzehnte involviert. 4 | Zit. n. Heinze-Greenberg 1999, S. 214. 5 | Vgl. Warhaftig 2005, S. 272. 6 | Vgl. ebd., S. 381. Aussagen über Dauer und Umfang dieser Tätigkeit macht Wahrhaftig nicht. 7 | Einen Einblick ermöglichen die Biografien in Warhaftig 2005. Demnach bauten acht jüdische Architekten in Nachkriegsdeutschland. Allerdings sind die Angaben insgesamt ausgesprochen vage, sodass diese Zählung nicht als abschließend betrachtet werden kann.

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Nur für drei jüdische Architekten lässt sich bisher eine umfangreichere Bautätigkeit nachweisen, für einen vierten ist von einer solchen auszugehen. Ernst Guggenheimer (1880–1973) war bereits vor 1933 ein erfolgreicher Architekt gewesen. In seiner Karriere entwarf er etwa 60 Bauten, vor allem für jüdische Gemeinden und Institutionen in Stuttgart und Baden-Württemberg, im Wohnungsbau vereinzelt auch für nichtjüdische Bauherr/-innen. Wie er die Zeit des Nationalsozialismus überleben konnte, ist bisher nicht ausreichend erforscht. Als sein wichtigstes Projekt nach 1945 gilt der 1952 fertiggestellte Synagogenneubau in Stuttgart. Daneben richtete er unter anderem zahlreiche Betsäle ein.8 Helmut Goldschmidt (1918–2005) blieb aufgrund seines jüdischen Vaters ein Architekturstudium in Deutschland versagt. Er nahm Privatunterricht, absolvierte eine Zeichnerlehre und ein Volontariat in einem Architektenbüro. 1943 wurde er zunächst in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, dann in das KZ Buchenwald deportiert, wo er im Baubüro der SS arbeiten musste. Nach seiner Befreiung war er als Architekt am Wiederauf bau der Stadt Mayen (Rheinland-Pfalz) beteiligt, bevor er 1950 sein Büro nach Köln verlegte. Auch er entwarf umfangreich für jüdische Gemeinden, so die Synagogenneubauten in Dortmund (eröffnet 1956), Bonn (eröffnet 1959), Münster (eröffnet 1961) und Mönchengladbach (eröffnet 1967), daneben aber auch Ein- und Mehrfamilienhäuser sowie Bürogebäude. Damit gehörten sowohl jüdische Institutionen als auch nichtjüdische Deutsche zu seinen Bauherr/-innen. Wie Otto Block (1901–1977) den Nationalsozialismus überlebte, ist bisher nicht bekannt. Er baute bereits vor 1933 einige Villen und realisierte als selbstständiger Architekt nach 1945 »bis zum Ende der 60er Jahre eine Reihe von Bauwerken in verschiedenen Berliner Bezirken«,9 so unter anderem für das evangelische Johannisstift in Spandau, aber auch Wohn- sowie Verwaltungsgebäude in Mitte, Charlottenburg und Wedding.10 Damit gehörten mutmaßlich

8 | Aktuell ist das Wirken Guggenheimers Gegenstand eines Forschungsprojektes von Ludwig Bohland und Dietrich Schmidt. Vgl. zu den ersten Forschungsergebnissen Schmidt/Plate 2017, S. 203-207. 9 | Warhaftig 2005, S. 83f. Bisher ist die Biografie Blocks weder erforscht, noch wird er in Veröffentlichungen zu jüdischen Architekten erwähnt. Dies könnte darin begründet sein, dass Block keine Synagogen baute und offenbar nicht für jüdische Gemeinden tätig war. 10 | Vgl. Otto Block (Architekt), in: wikipedia.de. 1.9.2017. Online: https://de.wikipe​ dia.org/wiki/Otto_Block_(Architekt)#cite_note-1 (Aufruf am 12.9.2017). Dass Block Jude war und wie er den NS überleben konnte, bleibt unerwähnt.

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vor allem nichtjüdische Institutionen und Einzelpersonen zu seinen Bauherr/innen.11 Anders als vor allem Goldschmidt und Guggenheimer konnte der 1917 in Bielsko geborene Hermann Zvi Guttmann (Abb. 1) zunächst nicht auf ein Netzwerk in Deutschland zurückgreifen, um Aufträge zu erhalten. Er schloss erst 1951, also 34-jährig, sein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in München ab und begann nach seinem Umzug nach Frankfurt a.M. 1953 mit der Arbeit als Architekt. Die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik hatte er in der Sowjetunion überleben können. Zwischen 1945 und 1948 lebte er zunächst in einem DP-Camp in Pocking in Bayern. Er wartete hier, wie alle jüdischen Überlebenden, zunächst auf die Möglichkeit zur Ausreise nach Palästina. Als er diese schließlich erhielt, folgte er ihr nicht, da er seine kranke Mutter nicht mitnehmen konnte. Abb. 1: Hermann Zvi Guttmann (ohne Datum)

Guttmann wurde ausschließlich für jüdische Bauherr/-innen tätig, sowohl für Institutionen als auch für Privatpersonen. Er errichtete sechs Synagogen: Offenbach (eröffnet 1956), Düsseldorf (eröffnet 1958), Hannover (eröffnet 1963), 11 | Blocks Wirken nach 1945 und das Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Bauherr/-innen wird ebenfalls Gegenstand meines oben genannten Forschungsprojektes sein.

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Osnabrück (eröffnet 1969), Würzburg (eröffnet 1970) und Frankfurt (eröffnet 1977). Daneben baute er Trauerhallen auf den jüdischen Friedhöfen in Augsburg und Hannover, das jüdische Mahnmal in der Gedenkstätte Dachau, jüdische Altenheime in Hamburg, Hannover und Frankfurt sowie Gemeindezentren und Mikwaot. Darüber hinaus richtete er Betsäle in bestehenden Gebäuden für die Gemeinden in Augsburg, Bayreuth und Fürth ein. Guttmann begleitete so die Etablierung der nach 1945 neu gegründeten Gemeinden, gleichzeitig gestaltete er als Mitglied im Gemeinderat in Frankfurt in zahlreichen anderen jüdischen und zionistischen Institutionen die Entwicklung jüdischen Lebens in Deutschland auch außerhalb seiner Profession aktiv mit. Zudem plante er zahlreiche Wohn- und Geschäftsbauten vor allem in der Region um Frankfurt, aber auch in Berlin.12 Diese kurzen Einblicke zeigen, dass jüdische Architekten maßgeblich auf jüdische Auftraggeber/-innen angewiesen waren, um in der BRD bauen zu können. Notwendig im Arbeitsalltag war aber die Zusammenarbeit mit deutschen Behörden, mit den Vertreter/-innen von Parteien, mit nichtjüdischen Firmen und mit nichtjüdischen Mitarbeiter/-innen im eigenen Büro. Bei all diesen Akteur/-innen war nicht immer klar, welche Rolle sie im Nationalsozialismus gespielt hatten. Hermann Guttmanns Frau Gitta stellte im Nachhinein fest, dass man zwar nicht »immer Recherchen anstellen« konnte, aber »schon ein bißchen aufgepasst [hat; Anm. d. Verf.], daß wir Leute hatten, die sich einigermaßen nicht zuviel haben zuschulden kommen lassen.«13 Ihre Beschreibung verweist auf die Schwierigkeiten, Vertrauen zu nichtjüdischen Akteur/-innen aufzubauen und mit ihnen zusammenarbeiten zu müssen, ohne ihre Biografien zu kennen. Gleichzeitig waren Juden/Jüdinnen gezwungen, Grenzen zu definieren zu dem, was »zu viel« an Teilhabe auf Seiten der Deutschen gewesen sein könnte. Allgemein lässt sich zur Situation in den Nachkriegsjahrzehnten feststellen: »Wer […] als Jude Brötchen kaufen ging, mit der Straßenbahn fuhr oder auf einem Amt etwas erledigen musste, hatte eine große Chance, im Bäcker, im Schaffner oder im Regierungsrat einem ehemaligen SS-Mann, einem an der ›Partisanenbekämpfung‹ und Deportation beteiligten Wehrmachtssoldaten oder einem ehemaligen Beamten, der Arisierungen legalisiert hatte, zu begegnen. Genau genommen waren derlei Begegnungen sogar unausweichlich, ein Umstand, auf den sich im Bewußtsein der ermordeten Verwandten nur mit schlechtem Gewissen oder massiver Verdrängung reagieren ließ.«14

12 | Vgl. Klei 2017, S. 21-38. 13 | Guttmann 1994, S. 265. 14 | Brumlik 2000, S. 29.

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J üdische B auaufgaben in N achkriegsdeutschl and Die Errichtung von Synagogen gewann ab Mitte der 1950er-Jahre an Relevanz. Zuvor hatten Gemeinden vielerorts provisorisch eingerichtete Beträume genutzt. Diese bedeuteten nicht nur geringe Kapazitäten an Sitzplätzen an hohen Feiertagen, sondern auch fehlende Räume für eine eigene Infrastruktur, die häufig temporär in anderen Gebäuden untergebracht werden musste. Die meisten dieser Einrichtungen wurden vermutlich Ende der 1940er-Jahre geschlossen,15 nachdem die Mehrzahl der als displaced persons lebenden Jüdinnen und Juden ausgewandert war. Da in diesen Jahren einige Juden/Jüdinnen jedoch auch begonnen hatten, sich (wieder) ein Leben in Deutschland aufzubauen, etablierte sich eine geringe Zahl der neu gegründeten Gemeinden dauerhaft und benötigte ihren Nutzungsansprüchen entsprechende Gebäude. Dafür konnten sie die Vorgängerbauten zumeist nicht mehr nutzen, da diese zerstört oder, sofern noch erhalten, umgenutzt worden waren.16 Als erster Neubau entstand die bereits genannte von Guggenheimer entworfene und 1951/52 in Stuttgart errichtete Synagoge.17 Sie wurde auf den Fundamenten des 1938 zerstörten Vorgängerbaus gebaut, etwas, das als topografisch verbürgte Bezugnahme auf die eigene Geschichte in der jungen Bundesrepublik eine Ausnahme blieb. Häufig verhinderten Behörden in unter anderem jahrelangen Auseinandersetzungen um Entschädigungen, dass die Gemeinden auf ihre vormals zentral gelegenen Grundstücke zugreifen konnten. Vielerorts entstanden die neuen Komplexe auf Betreiben der politischen Verantwortlichen abseits der städtischen Zentren und blieben so den Blicken der Öffentlichkeit entzogen. Dies stellt einen wichtigen Unterschied zu den ab den 1990er-Jahren errichteten Synagogen dar, die als Solitäre in einer oft aufsehenerregenden Architektur in den Zentren zahlreicher Städte entstanden.18 In der Regel mussten die nach 1950 errichteten Gebäude Raum für alle Bedürfnisse des Gemeindelebens bieten. Jüdische Institutionen siedelten sich nicht mehr wie vor 1933 an unterschiedlichen Orten im städtischen Raum an, sondern nutzten die neu entstandenen Bauten für alle mit ihrer Arbeit in Zusammenhang stehenden Funktionen. Ausnahmen bildeten Friedhofsgebäude sowie einige jüdische Altenheime. In einzelnen Fällen wurden Wohnungen in 15 | Quantitative Aussagen sind mutmaßlich heute kaum mehr zu erstellen, da zahlreiche Betsäle nur kurze Zeit und oft in Ende der 1940er-Jahre aufgelösten DP-Camps existierten. 16 | Über viele dieser Synagogen existieren kurze Studien, oft entstanden mit der Unterstützung lokaler Initiativen. Nur für Hessen ist ein Gesamtüberblick erschienen: vgl. Altaras 2007. 17 | Knufinke o. A. 18 | Vgl. für einen Überblick: Stiftung Baukultur 2010.

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die Komplexe integriert, einerseits um die Wohnungsnot in den Nachkriegsstädten für die Mitglieder der Gemeinden zu mildern, andererseits, wie beim Neubau einer Synagoge mit Gemeindezentrum in Osnabrück, um genügend männliche Mitglieder für die Teilnahme am Gottesdienst zu haben. Hierbei könnte auch die Lage der Neubauten eine Rolle gespielt haben: Da Juden/Jüdinnen das Autofahren am Schabbat nicht gestattet ist, war das Erreichen der dezentral gelegenen Synagogen so einfacher umsetzbar. In den 1950er-Jahren entstanden acht, in den 1960er-Jahren zehn und in den 1970er-Jahren zwei neue Synagogen.19 Die Mehrzahl von ihnen wurde von nichtjüdischen Architekten geplant, die sich häufig nur einmal dieser Bauaufgabe widmeten. Eine Ausnahme ist der aus Recklinghausen stammende Karl Gerle (1903-1962), der die Neubauten in Bremen (eröffnet 1961), Hagen (eröffnet 1960), Minden (eröffnet 1958) und Paderborn (eröffnet 1959) entwarf20 und neben Goldschmidt und Guttmann zu den wichtigsten Synagogenarchitekten der Nachkriegszeit zählt.

D er N eubau einer S ynagoge mit G emeindezentrum in W ürzburg 1933 lebten unter den 101.003 Einwohner/-innen Würzburgs 2.145 Jüdinnen und Juden. Es gab bis 1938/42 neben einer großen, zentral in der Domschulstraße gelegenen Hauptsynagoge zahlreiche jüdische Einrichtungen und Institutionen, die über eigene Bauten in verschiedenen Stadtvierteln verfügten. Diejenigen Gemeindemitglieder, die nicht emigrieren konnten, wurden von der SS und der Gestapo in die Vernichtungslager deportiert.21 1945 kamen zunächst 52 Überlebende in die Stadt, 24 von ihnen hatten vormals zur Gemeinde gehört. Ihre Planungen für einen Synagogenneubau dürften Mitte der 1950er-Jahre begonnen haben. Guttmann bot sich der Gemeinde im November 1957 als Architekt an.22 Zu jener Zeit suchte diese bereits seit längerem ein geeignetes Grundstück. Auf ihr vormaliges Areal in der Domschulstraße konnte sie nicht mehr zugreifen. Das Gebäude war zerstört worden und das Grundstück befand sich jetzt im Besitz der katholischen Kirche. Wichtig war der Gemeinde, dass sich die neue Synagoge in der Nähe des jüdischen Altenheims befände, dem einzigen erhaltenen Bauwerk, das sie nutzte. Für dessen Bewohner/-innen sollte sie gut erreichbar sein. Zudem dachte die Ge19 | Die Zählung ist eine Auswertung von Knufinke o. A. 20 | Sein Leben und Wirken sind bisher nicht erforscht. 21 | Vgl. Flade 1996. 22 | Hermann Guttmann an Israelitische Kultusgemeinde Würzburg, Brief vom 24.11. 1957, Archiv Hermann Zvi Guttmann im Jüdischen Museum Berlin (Archiv HZG).

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meinde nur an einen kleinen Neubau.23 Die Vorgaben an den Entwurf lassen zwei Rückschlüsse zu. Zum einen erwartete die Gemeinde kaum mehr ein Anwachsen ihrer Mitgliederzahlen und ging davon aus, dass sich diese vor allem unter den Bewohner/-innen des Heims fänden lassen. Überalterung sollte bis Anfang der 1990er-Jahre und dem dann erfolgten Zuzug jüdischer Einwanderer/-innen aus der ehemaligen Sowjetunion eines der vordringlichsten Probleme der Gemeinden in der Bundesrepublik werden. Zum zweiten verfügte die Gemeinde in Würzburg lediglich über sehr begrenzte Mittel für den Auf bau und erwartete vermutlich auch nur eine geringe finanzielle Unterstützung, etwas, das dem Neubau von Anfang an einen engen Rahmen setzte. Erst über ein Jahr später kam die Gemeinde auf Guttmanns Angebot zurück.24 Dieser lange Zeitraum verwundert, da es sich bei dem Grundstück, das ihr die Stadt schließlich zur Verfügung gestellt hatte, lediglich um ein schmales, nur 200 Quadratmeter großes Gelände handelte. Es war im Westen durch eine noch zu errichtende Bebauung und das genannte Altenheim begrenzt und im Osten von einer Bahnstrecke und dem Stadtring Süd. Es konnte insgesamt für die Stadt nicht sonderlich attraktiv gewesen sein. Sie verwaltete das Areal für die Siechenhaus-Stiftung und wollte es der Gemeinde für 66 Jahre in Erbbaurecht überlassen. In Punkt 1 des hierfür aufgesetzten Vertrages heißt es, dass lediglich ein eingeschossiges Gebäude errichtet werden dürfe. Punkt 2 führt aus, dass das Haus der Siechenhauspflege in Kürze wieder aufgebaut werde und sich in dessen »Garten kranke, sieche, gebrechliche und erholungsbedürftige Personen aufhalten werden.« Daher dürfe das zu errichtende Gebäude der Gemeinde zum »Restgrundstück der Eigentümerin« weder Ein- noch Ausgang haben. Zudem »darf weder vom Inneren der Synagoge in den Garten der Eigentümerin noch umgekehrt vom Garten der Eigentümerin in das Innere der Synagoge ein Einblick möglich sein.«25 Diese Vorgaben, die wenig später vom damaligen Oberbürgermeister Helmuth Zimmerer (Freie Wählergemeinschaft) bestätigt wurden,26 bedeuteten massive Eingriffe in die Gestaltung. Ihnen zufolge sollte die Gemeinde ihren Neubau stark zurücknehmen. Doch selbst das sehr reduziert gedachte Raumprogramm war als eingeschossiges Gebäude auf diesem Grundstück unmöglich zu realisieren. Daneben verlangte die Stadt, dass jegliche Sichtbeziehungen mit der nichtjüdischen Bevölkerung vermieden werden sollten. Offenbar sollte ihnen als Angehörige der Tätergesellschaft jüdisches Leben verborgen bleiben. Diese Form der Se23  |  Israelitische Kultusgemeinde Würzburg an Hermann Guttmann, Brief vom 25.1.1959, Archiv HZG. 24 | Ebd. 25 | Erbbaurechtsvertrag der Stadt Würzburg, 19.2.1959 (Fl.Fr.3506), Archiv HZG. 26 | Helmuth Zimmerer, Oberbürgermeister Würzburg, an Hermann Guttmann, Brief vom 13.3.1959, Archiv HZG.

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gregation baulich umzusetzen, wurde per Vertrag zur Aufgabe der Juden/Jüdinnen erklärt, die sich damit in einer nichtjüdischen Umgebung unsichtbar machen sollten. Zudem sollte eine Steigerung des Pachtzinses möglich sein;27 ein für die Gemeinde unkalkulierbares Risiko, da sie weder über Rücklagen noch über regelmäßige Einnahmen verfügte. Sie suchte daher nach einem alternativen Grundstück und wurde an der nur wenige Meter entfernten Ecke Riemenschneider-/Grünewaldstraße fündig. Sie begann nun mit Guttmanns Hilfe, einen großzügigen Komplex zu planen, der einen Kindergarten, Wohnungen sowie ein Internat für 30 oder 60 jüdische Schüler/-innen enthalten sollte. Guttmann unterstützte besonders die Idee des Internats.28 Aber ab Mitte 1960 zeichnete sich ab, dass diese Überlegungen nicht umgesetzt werden können. Mit der Entscheidung des Gemeindevorstandes, das Grundstück neben dem Altenheim zu bebauen, wurden sie 1964 dann gänzlich fallengelassen. Neben der geringen Resonanz, die das Projekt unter den jüdischen Gemeinden Deutschlands fand,29 scheiterten die Planungen vor allem daran, dass die Stadtregierung ihre Unterstützung für das avisierte Grundstück missen ließ. Allerdings zeigte sie sich ab 1959 gegenüber der Gemeinde hinsichtlich der Auflagen für das Areal am Altenheim entgegenkommend: Es sollte zweigeschossig bebaut werden können und ein fester Pachtsatz festgelegt werden. Zudem sollten Fenster an drei Seiten möglich sein.30 Im Herbst 1964 beschloss der Stadtrat dann nicht nur einen Zuschuss für den Neubau, sondern folgte dem Vorschlag von Bürgermeister Zimmerer, dass die Stadt »als Haupt-Geldgeber und als Bauträger auftreten soll.«31 Sie entschied also, den Bau selbst auszuführen, und erlangte so auch die Hoheit über seine Gestaltung und die Umsetzung. Zimmerer erklärte dies zu einem »symbolischen Akt, ›außerhalb der gesetzlichen und juristischen Wiedergutmachung‹«;32 eine Lesart, die weniger die Folgen für die Entscheidungsfreiheit und die Interessen der Gemeinde im Blick hat, als vielmehr dem Ansinnen der städtischen Vertreter entsprach, den Neubau für die Eigenwerbung zu nutzen. Zimmerer war zwischen 1956 und 1968 Oberbürgermeister in Würzburg. 1963 wurden Inhalte seiner 1936 an der Universität Erlangen eingereichten Promotionsschrift »Rasse, Staatsangehörigkeit, Reichsbürgerschaft. Ein Beitrag zum völkischen Staatsbegriff« bekannt. In ihr beschrieb er »die Juden als 27 | Ebd. 28 | Vgl. unter anderem Hermann Guttmann an Israelitische Kultusgemeinde Würzburg, Brief an David Schuster vom 9.11.1959, Archiv HZG. 29 | Vgl. unter anderem Hermann Guttmann, Aktennotiz vom 12.6.1960, Archiv HZG. 30 |  Israelitische Kultusgemeinde Würzburg an Hermann Guttmann, Brief vom 27.4.1959, Archiv HZG. 31 | Helmuth Zimmerer, zit. n. N.N. 1964. 32 | Zit. n. Flade 1996, S. 405.

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›ein Volk vorderasiatischer und orientalischer Art, also eines von dem unseren völlig fremden Wesens, mit dem wir jede Verbindung eben deswegen ablehnen müssen‹«.33 Zudem sei der »›kulturelle Niedergang‹ Deutschlands […] ›nicht zuletzt eine Folge seiner Verjudung.‹ Die Juden müssten ›entgermanisiert werden‹.«34 Zudem war Zimmerer Mitglied der SS gewesen.35 Folgen für seine politische Karriere hatte beides nicht. Damit waren sowohl die Gemeinde als auch Guttmann mit einem Menschen konfrontiert, der sich in seiner Vergangenheit eindeutig antisemitisch positioniert, die Berechtigung jüdischer Existenz in Deutschland negiert und sich aktiv an ihrer Ausgrenzung und Vernichtung beteiligt hatte. Nun griff er als Bürgermeister in die Gestaltung ihres Neubaus und damit in ihr Leben nach der Shoah ein. Guttmann blieb dennoch als Architekt für die Gemeinde beschäftigt. In den 1964 angefertigten Plänen entwickelte er ein selbstbewusstes und modernes Gebäude, das seine jüdische Nutzung unter anderem durch die Verwendung religiöser Symbole an der Fassade deutlich anzeigte.36 Ab 1965 musste Guttmann mit dem städtischen Oberbaudirektor Rudolf Schlick37 zusammenarbeiten, dem seitens der Stadt die Verantwortung für die Planungen übertragen worden war. Guttmann fühlte sich durch dieses Verfahren massiv hintergangen. Er schrieb 1965 mehrfach an die Gemeinde mit der Bitte, ihm die Entwurfsarbeit wieder verantwortlich zu übertragen. So heißt es in einem der Briefe: »[…] es tut mir sehr leid, daß die Stadt Würzburg ihre Machtposition als Geldgeber dahingehend ausnützt einen jüdischen Architekten, der die Israelitische Kultusgemeinde seit über 6 Jahren mehr als kulant bedient, beiseite zu schieben. Bei einer weiteren Entwicklung in dieser Richtung käme mir, dem Architekten, letztlich die Rolle eines ›Maschgiachs‹ [Aufseher zur Kontrolle der Einhaltung der jüdischen Speisegesetze; Anm. d. Verf.] zu, der die Arbeiten der Stadt zu ›kaschern‹ [koscher zu machen; Anm. d. Verf.] hat. […] Manchmal scheint es, daß sogar zum Bau eines jüdischen Gotteshauses ein

33 | Jung 2015b. 34 | Zit. n. ebd. 35 | Jung 2015a. 36 | Vgl. Hermann Guttmann: Synagoge Würzburg. Grundriss Erdgeschoss, Grundriss Obergeschoss, Schnitt, Ansichten, M 1:100, Archiv HZG. Eine radikalere Variante für das Gebäude zeigen drei kleine Zeichnungen; vgl. Guttmann 1989, S. 76. Hier entwickelte Guttmann eine frei geschwungene Form für den Baukörper, der sich einerseits in einzelne gebogene Wandscheiben aufzulösen scheint und sich andererseits selbstbewusst von seiner Umgebung unterscheidet. 37 | Vgl. Rudolf Schlick, in: wikipedia.de. 8.11.2015, https://de.wikipedia.org/wiki/ Rudolf_Schlick (Aufruf am 14.9.2017).

Jüdisches Bauen in Nachkriegsdeutschland Jude nicht gern gesehen wird, noch dazu einer – Ironie des Loses – der es mehrfach bewiesen hat, daß er davon etwas versteht.« 38

Aufgrund der fehlenden Überlieferung der folgenden Korrespondenz lässt sich nicht sagen, wie sich die Zusammenarbeit anschließend entwickelte. Allerdings bestand Guttmann noch im Mai 1967 auf einen Vertrag, der die Zusammenarbeit mit Schlick und der Gemeinde, dabei besonders seine Zuständigkeit, verbindlich regeln sollte.39 Offensichtlich ist dies: Ein Blick in die in Guttmanns Archiv erhaltenen Pläne zeigt, dass die Einflussnahme der Stadt nicht endete. Entwürfe von Mai 1966 sind allein von Guttmann unterzeichnet, von Dezember 1966 von der »Arbeitsgemeinschaft Hochbauamt Würzburg und Architekt Dipl. Ing. Hermann Guttmann« und von Februar 1967 nur noch vom »Städtischen Hochbauamt«. Lediglich Pläne für die Innengestaltung – die Mikwe, einen Bestuhlungsplan, die Inschrift des Vorhangs und den Almemor – sind auch 1967 und 1969 allein von Guttmann signiert. Die Gestaltung des Synagogenraumes mit parabelförmigen Bögen, die es in Guttmanns Werk häufiger gibt, lässt zudem davon ausgehen, dass Guttmann in ihre Planung entscheidend eingebunden war. Darüber hinaus kann festgestellt werden, dass ein zwar moderner, aber doch schlichterer Bau realisiert worden ist, der zurückgesetzt auf dem Grundstück jegliche äußeren Verweise auf seine jüdischen Nutzer/-innen vermissen lässt. Baubeginn war der 9. November 1966, die offizielle Einweihung erfolgte am 24. März 1970. Im Obergeschoss befindet sich eine Synagoge mit 90 Plätzen. Daneben gab es in dem Gebäude einen Versammlungssaal, zwei kleine Büros, einige Nebenräume sowie eine Mikwe. Zwischen 1999 und 2006 wurde das jüdische Altenheim abgerissen und ein u-förmiger Gebäudekomplex errichtet, in dem sich Büro- und Seminarräume der Gemeinde, ein jüdisches Museum und ein Versammlungssaal befinden (Abb. 2). Allerdings verdeckt dieser Neubau die Sicht auf die Synagoge von der Straße aus. Der Synagogenraum selbst blieb nahezu im Originalzustand erhalten, lediglich der Bereich mit den Sitzplätzen für die Frauen wurde etwas vergrößert.

38 | Hermann Guttmann an Israelitische Kultusgemeinde Würzburg, Brief an David Schuster vom 12.5.1965, Archiv HZG. 39 | Vgl. unter anderem Hermann Guttmann an Israelitische Kultusgemeinde Würzburg, Brief an David Schuster vom 29.5.1967, Archiv HZG. Der Vertrag wurde ein Jahr später fertiggestellt. Vgl. Israelitische Kultusgemeinde Würzburg und Hermann Guttmann. 28.5.1968, Archiv HZG.

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Abb. 2: Ansicht der Kuppel der Synagoge in Würzburg vom Stadtring Süd (4.9.2016)

Der Synagogenbau der Nachkriegsmoderne wird heute unter anderem unter dem Paradigma wahrgenommen, dass sich an ihm die selbstgewählte Zurückgezogenheit der jüdischen Gemeinden und des jüdischen Lebens dieser Jahrzehnte erkennen ließe.40 Die Baugeschichte der Synagoge Würzburg wie auch anderer von Guttmann errichteter Bauten zeigen allerdings, dass diese Gebäude nicht als selbstbestimmter Ausdruck jüdischen Lebens in Nachkriegsdeutschland zu sehen sind. Vielmehr hat die deutsche Nachkriegsgesellschaft, vertreten durch ihre Politiker/-innen und Beamt/-innen, die Bedingungen diktiert, unter denen der Auf bau der Neubauten möglich wurde. Sie haben mit der Bereitstellung von Grundstücken und finanziellen Mitteln, mit der Einflussnahme auf die Auswahl von Architekten und ihre Entwürfe einen entscheidenden und aktiven Anteil an der Sichtbarkeit und an der Gestaltung jüdischen Lebens genommen.

40 | Beispielhaft sei hier auf Veröffentlichungen über die 1956 eingeweihte Synagoge in Offenbach verwiesen. Vgl. unter anderem Weinberger o. A.

Jüdisches Bauen in Nachkriegsdeutschland

L iter atur Altaras, Thea: Synagogen und Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945? Aus dem Nachlass hg. von Gabriele Klempert/Hans-Curt Köster, Königstein i. Ts. 2007. Brumlik, Micha: Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung, Berlin 2000. De Michelis, Marco/Frank, Hartmut/Hain, Simone: Zwei deutsche Architekturen 1949–1989, Ausst.-Kat. Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart 2004. Dolff-Bonekämper, Gabi: »Das Hansaviertel und seine Architekten«, in: Sandra Wagner-Conzelmann (Hg.): Das Hansaviertel in Berlin und die Potentiale der Moderne, Berlin 2008, S. 114-127. Flade, Roland: Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2., erw. Aufl., Würzburg 1996. Guttmann, Gitta: o. T., in: Susann Heenen-Wolff (Hg.): Im Haus des Henkers. Gespräche in Deutschland, Frankfurt a.M. 1994, S. 262-277. Guttmann, Hermann Zvi: Vom Tempel zum Gemeindezentrum. Synagogen im Nachkriegsdeutschland, hg. von Klaus Hofmann/Sophie Remmlinger, Frankfurt a.M. 1989. Heinze-Greenberg, Ita: »›Das Mittelmeer als Vater der internationalen Stilkunde zu übersehen, überlassen wir gerne den Schultzes aus Naumburg‹. Projekt Mittelmeerakademie und Emigration 1933«, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Erich Mendelsohn, Dynamik und Funktion. Realisierte Visionen eines kosmopolitischen Architekten, Ostfildern 1999, S. 214-223. Jung, Wolfgang: »Niemand verteidigt Helmuth Zimmerer«, in: Main Post vom 13.6.2015 (aktualisiert am 18.4.2016), www.mainpost.de/regional/wu​ erzburg/Doktorarbeiten-Historikerinnen-und-Historiker-Rassismus;art7​ 35,8775869 (Aufruf am 14.9.2017) [Jung 2015a]. Jung, Wolfgang: »Die Skandale des Dr. Zimmerer«, in: Main Post vom 27.5.2015 (aktualisiert am 18.4.2016), www.mainpost.de/regional/wuerzburg/DieSkandale-des-Dr-Zimmerer;art735,8712465 (Aufruf am 14.9.2017) [Jung 2015b]. Klei, Alexandra: Jüdisches Bauen in Nachkriegsdeutschland. Der Architekt Hermann Zvi Guttmann, Berlin 2017. Knufinke, Ulrich: Stuttgart. Synagoge und Gemeindezentrum Hospitalstraße, in: Ders.: Synagogen. Liste der nach 1945 errichteten Synagogen und Betsäle in Deutschland, o. A., www.zentralratdjuden.de/de/topic/387.listenansicht.html?synagogueId=9 (Aufruf am 13.9.2017). N.N. [r.]: »Die Stadt baut neue Synagoge«, in: Fränkisches Volksblatt vom 7.11.1964, www.mainpost.de/regional/wuerzburg/Dokumentation-Presse​

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berichte-Stadtraete-und-Gemeinderaete-Synagogen;art735,8737478 (Aufruf​am 13.9.2017). Schmidt, Dietrich W./Plate, Ulrike: »Im Sog der Weißenhofsiedlung. Wohnhaus-Ensemble in Stuttgarter Halbhöhenlage ›Klein Palästina‹ der jüdischen Architekten Bloch & Guggenheimer von 1930«, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg. Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege 46, Heft 3 (2017), S. 203-207. Stiftung Baukultur Rheinland-Pfalz (Hg.): Gebauter Auf bruch. Neue Synagogen in Deutschland, Regensburg 2010. Warhaftig, Myra: Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933. Das Lexikon, Berlin 2005. Weinberger, Anton Jakob: Synagogenbau nach 1945: Ein fast uferloser Optimismus, in: Stadt Offenbach o. A., https://www.offenbach.de/leben-in-of/ soziales-gesellschaft/religion_und_weltanschauung/juedisches_Le​ben_/ synagogenbau-nach-1945.php (Aufruf am 9.10.2017).

Die Unsichtbaren sichtbar machen Eine gruppenbiografische Studie zur Wirkung zweier traditionalistischer Architekturschulen in Ostdeutschland Mark Escherich

Ich möchte eine gruppenbiografische Studie jenseits der großen Debatten und Theoriebildungen zur Nachkriegsarchitektur vorstellen; eine Studie, die einen eher quantitativen Ansatz verfolgt. Werner Durth und andere haben dargestellt, wie effektiv die Architekturschulen der Zwischenkriegszeit als Netzwerke funktionierten und dass sie weit in die Nachkriegszeit hinein wirksam waren.1 Meine prosopografische Darstellung soll sich zudem auf die im Gegensatz zu den Schülerschaften von Heinrich Tessenow und Hans Poelzig weniger betrachteten traditionalistischen Architekturschulen und ihre Netzwerke richten: So wurde beispielsweise die Weimarer Architekturausbildung unter Paul Schultze-Naumburg und seinen Nachfolgern zwischen 1930 und 1945 kaum von der Forschung beachtet. Schultze-Naumburgs bis heute von der Forschung anerkannte Impulse datieren in die Nuller- und Zehnerjahre des 20. Jahrhunderts. Als Architekturlehrer an der »Hochschule für Baukunst, bildende Künste und Handwerk« Weimar gilt er eher als eigenwillig anstatt als erfolgreich und schulbildend. Tatsächlich sind Architekten aus dieser Phase der Weimarer Schule nicht sehr bekannt geworden. Allenfalls wären Leopold Wiel, später Professor an der TH Dresden, oder Rudolf Ortner zu nennen, der in den 1950er- und 1960er-Jahren als Sportstättenarchitekt in München tätig war. Anders stellt sich bekanntlich das Bild von ›Stuttgart‹ dar. Die »Stuttgarter Architektur-Schule«2 Paul Schmitthenners und Heinz Wetzels gilt gemein-

1 | Vgl. Durth 1986. Jüngst erforschte ein DFG-Forschungsprojekt an der BTU Cottbus die »Bewegten Netze« der Architekturabsolventen des Bauhauses, vgl. www.b-tu.de/fgkunstgeschichte/forschung/projekte/bewegte-netze (Aufruf am 15.10.2017). 2 | Vgl. Hegemann 1928.

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hin als »Kristallisationspunkt und Sprachrohr« der Heimatschutzarchitektur.3 Während des Nationalsozialismus gelangten einige ihrer Absolventen in die mächtigen Planungszirkel für die Führer- und Gauhauptstädte; Konstanty Gutschow in Hamburg sogar bis an die Spitze eines solchen. Zahlreiche Stuttgarter Absolventen arbeiteten auch im Büro Hermann Gieslers, des »Generalbaurats für die Hauptstadt der Bewegung« in München.4 Das Hauptaufgabenfeld der Stuttgarter Schule lag jedoch in der Alltagsarchitektur. Der Wohnungs- und der Siedlungsbau wurden stark von Stuttgarter Architekten bestimmt. Oft standen sie dabei entscheidenden Schaltstellen-Institutionen des Dritten Reichs vor und verhalfen von dort ehemaligen Kommilitonen zu Stellen (Abb. 1). Hierfür steht beispielhaft Julius SchulteFrohlinde, Leiter der Zentralen Bauabteilung der DAF, später auch der Planungsabteilung des Reichsheimstättenamtes und ab 1952 Leiter des Hochbauamtes in Düsseldorf.5 Abb. 1: Peter Koller: Die städtebaulichen »Machtbereiche« im Nationalsozialismus, 1977

3 | Vgl. Kieser 1998, S. 33. Die Begriffe Heimatschutzarchitektur und traditionalistische Architektur werden hier synonym verwendet. 4 | Vgl. Nerdinger 1993, S. 19. 5 | Vgl. Anna 2009, S. 47.

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Ausgangspunkte für meine Studie sind einzelne Biografien, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Herkunft von der Stuttgarter beziehungsweise der Weimarer Hochschule ist. Weil es sich um Netzwerke handelt, deren Mitglieder sich stark mit dem Ausbildungsort, der Lehre und den Lehrerpersönlichkeiten identifizierten, kann von »Schulen« gesprochen werden.6 Der Fokus meiner Studie liegt auf Ostdeutschland. Ich bin dafür etwa 60 Lebenswegen und -werken gefolgt 7, habe berufliche Stationen rekonstruiert und nach Antworten gesucht auf Fragen wie: Welche Stellung und Geltung erlangten die Absolventen? Welche Netzwerke gab es? Lassen sich auf diesem Wege die Konturen einer traditionalistischen Architektur der Nachkriegszeit nachzeichnen? Ein Grundpfeiler des fachdidaktischen Programms der Stuttgarter Schule war die typologische Entwurfslehre.8 Begründet von Friedrich Ostendorf in Karlsruhe sowie Werner Lindner und Georg Steinmetz in Stuttgart, wurde sie von Schmitthenner als die Findung der »letzten [und; Anm. d. Verf.] besten Form für ein bestimmtes Bedürfnis« und eine bestimmte Landschaft definiert.9 Das zweite »tragende Element«10 der Stuttgarter Ausbildung war die »Werklehre«, eine von den »akademischen Zöpfen des 19. Jahrhunderts« befreite Baukonstruktionslehre.11 Der »handwerkliche Vorgang beim Mauern, Zimmern, Schreinern« war hier das bestimmende Moment, welches zur werkgerechten Form, der Werkform, führen sollte.12 Wolfgang Voigt sieht den Erfolg der Stuttgarter Schule ganz wesentlich in dieser Werklehre Schmitthenners begründet. Sie wurde in den 1920er-Jahren von den Technischen Hochschulen in München und Hannover übernommen, später von Aachen, Budapest und Dresden.13 Die typologische Entwurfslehre und das Hinarbeiten auf die Werkform können als Kerne des traditionalistischen Architekturkonzeptes gelten. In Weimar bekannte Schultze-Naumburg in seiner Rede zur Wiedereröffnung der Schule im November 1930, dass es sich bei der von ihm begründeten »Hochschule für Baukunst« um eine »anschauungsmäßige Abzweigung 6 | Vgl. Renz/Philip 2012, S. 11. 7 | Neben Angaben aus der Literatur und den Privatarchiven Wiel, Keilmann, Fricke und Schmitthenner dienten hauptsächlich die Aufnahmeanträge an den BDA-DDR, aufbewahrt in den Wissenschaftlichen Sammlungen des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner (im folgenden IRS Erkner), als Quelle, um dem Werk der meist völlig unbekannt gebliebenen Architekten auf die Spur zu kommen. 8 | Vgl. Frank 1992, S. 126; vgl. Voigt 1988, S. 255. 9 | Schmitthenner, zit.n. Voigt 1992, S. 260. 10 | Vgl. Freytag 1996, S. 71. 11 | Voigt 1988, S. 255; vgl. dazu auch Freytag 1996 und Joedicke 1979. 12 | Schmitthenner, zit.n. Joedicke 1979, S. 444. 13 | Voigt 2003, S. 32, 41.

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der Stuttgarter Schule und ihrer Meister« handele.14 Folgerichtig gehörten mit Hans Seytter, dem Bauingenieur Wilhelm Stortz und dem Architekten Beblo gleich drei Schmitthennerschüler zur neu berufenen Professorenschaft.15 Dem entsprachen die späteren Berufungen der Stuttgarter Absolventen Willem Bäumer, Denis Boniver und Bernhard Kösters. Auch Rudolf Rogler und Gerd Offenberg, die nach Schultze-Naumburg bis 1945 die Hochschule leiteten, hatten in Stuttgart studiert. An der Universität Weimar gilt die Architekturausbildung unter SchultzeNaumburg und diesen beiden Nachfolgern bis heute als »heimattümelnd« und »rückwärtsorientiert«.16 Die Schule jener Zeit gilt als eine ohne »ausstrahlende Konturen«.17 Tatsächlich behindert waren die Karrieren der Absolventen durch den Fachschulstatus von Schultze-Naumburgs Ausbildungsstätte, die nicht zur Verleihung des Titels »Diplom-Ingenieur« berechtigt war. Im staatlichen und kommunalen Dienst war den Absolventen das Erreichen höherer und höchster Posten verwehrt. Der sogenannte Bewährungsaufstieg war ihnen häufig nicht möglich – wie beispielsweise im Falle Ferdinand Keilmanns, der nach dem Krieg in der Bochumer Bauverwaltung lediglich Stadtbaumeister, nicht aber Stadtbaurat werden konnte.18 Bemerkenswert ist aber, dass der eigens von Schultze-Naumburg erfundene Titel »Diplom-Architekt« zum Abgrenzungskriterium wurde, das die Absolventen mit besonderem Stolz erfüllte und eine oft lebenslange Verbundenheit untereinander gefördert hat, also identitätsstiftend wirkte.19

T ätigkeitsfelder , K arrieren , N e t z werke Die »Hochschule für Baukunst, bildende Künste und Handwerk« war klein. Man kann für die Zeit zwischen 1930 und 1945 von insgesamt etwa 230 Absolventen ausgehen.20 Ihre Karrieren im Nationalsozialismus gelten als »vergleichsweise bescheiden.«21 Zum einen wegen des fehlenden »Dipl.-Ing.«, zum 14 | Zit. n. Preiß/Winkler 1996, S. 187. 15 | Ebd. 16 | Vgl. Schädlich 1985, S. 42 und Winkler 1999, S. 16. 17 | Vgl. Hofer 2010. 18 | Vgl. Keilmann 2001. 19 | So zum Beispiel Leopold Wiel (Absolvent 1940) im Gespräch mit dem Verfasser im Februar 2000. Der spätere Schulleiter Gerd Offenberg schrieb noch 1974, »[…] daß sich die alten Studenten noch heute wie eine große Familie fühlen«. Offenberg 1974, S. 296. 20 | Thür. HStA Weimar Staatliche Hochschule für Baukunst, bildende Kunst und Handwerk, Nr. 56, 1932-42, Bl. 1107-1110. 21 | Vgl. Hofer 2010, S. 341.

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anderen wohl aber auch, weil die Ausrichtung der Schule sehr eng mit der Person Schultze-Naumburgs verknüpft war. Dieser war weder willens noch in der Lage, den monumentalen Städtebau der Führer- und Gauhauptstädte zum Programmpunkt in der Ausbildung zu erheben. Dies offenbarte sich nicht zuletzt im Scheitern Schultze-Naumburgs in der Frage des Weimarer Gauforums Mitte der 1930er-Jahre.22 Eine Reihe von Professoren war aufgrund ihrer Herkunft von der Stuttgarter Schule allerdings bestens mit den Verantwortlichen in den Bauabteilungen des Reichsheimstättenamts und der Deutschen Arbeitsfront vernetzt. In diesen »Sammelbecken« der Stuttgarter Schule fanden auch zahlreiche Weimarer Abgänger in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre Anstellungen. Neben den weiter unten Genannten aus dem Umfeld Karl Neuperts waren das beispielsweise Lothar Martin (1941-1943 in der Bauabteilung der DAF) sowie Georg Lichtfuß (ab 1937 in der Bauabteilung der DAF).23 Heraus ragt die Karriere von Neupert. Neupert wurde 1939 Leiter der Abteilung Stadtplanung des Reichsheimstättenamtes. Einige ehemalige Kommilitonen aus Weimar fanden dort daraufhin ebenfalls eine Anstellung.24 In bewusster Abgrenzung zu Albert Speer arbeitete man dort an der sogenannten »Siedlungsgestaltung aus Volk, Raum und Landschaft«.25 Auch wenn das Reichsheimstättenamt um 1941 zugunsten anderer Behörden personell ausgehöhlt wurde, gelang es Neupert, bis zum Kriegsende an seinen siedlungsgeografischen Forschungen in Berlin weiterzuarbeiten. Nicht Neupert, aber einem seiner Mitarbeiter war es gegönnt, nach 1945 auch in der höchsten Städtebauinstitution der DDR fußzufassen: Der Weimarer Absolvent Werner Wolfram war bis zur Pensionierung in der Deutschen Bauakademie beschäftigt. Dort war er maßgeblich an den Plänen für die Neustädte Hoyerswerda und Schwedt beteiligt. Solche Karrieren blieben aber für Weimarer Absolventen eine Ausnahme. Ein- und Aufstiegschancen verhieß jedoch das expandierende Militär. Neben den Bauämtern des Heeres herrschte bei der im rasanten Auf bau begriffenen Luftwaffe ein hoher Bedarf an Architekten und Bauleitern. Dort wurden zeitweise Ernst Wöllner, Gerhard Klein, Gottfried Mempel, Harald Köber und Erich Humrich beschäftigt.26 Bis in eines der neu eingerichteten Luftgaukommandos schafften es aber dennoch nur wenige Weimarer. Auch in den staatlichen und kommunalen Bauämtern waren in den 1930er-Jahren die absolventenstarken Technischen Hochschulen München, Berlin, Hanno22 | Vgl. ebd., S. 340. Hofer sieht einen direkten Einfluss auf die Reputation der Hochschule. 23 | Vgl. Flagmeyer 2009, S. 389, 825. 24 | Vgl. Keilmann 2009, S. 203, 217. 25 | Zit. n. ebd., S. 201. Vgl. Durth/Düwel/Gutschow 1998a, S. 505. 26 | IRS Erkner, Aufnahmeantrag des BDA-DDR, Nr. 1100, 932, 5788, 5211, 2287.

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ver, Dresden und Stuttgart mit ihren Abgängern vertreten. Der Stuttgarter Schule attestierte Voigt eine regelrechte Durchdringung der Ämter in vielen deutschen Regionen.27 Wesentlich häufiger vorzufinden waren Weimarer Absolventen in Bauunternehmen und kleinen Privatbüros. Aufgrund des geringere Vorqualifizierung erfordernden Fachschul-Status der Weimarer Schule stammten besonders viele Studierende aus Handwerker- und Baumeister-Familien. Häufig war für sie die Rückkehr in den Heimatort selbstverständlich, um das väterliche Baugeschäft 28 oder Architekturbüro fortzuführen. Grundsätzlich blieb den Weimarer Absolventen nicht viel Zeit für den Berufseinstieg. Wer nicht »kriegswichtig« in der Rüstung beschäftigt oder durch ›höhere Tätigkeit‹ als »kriegsunabkömmlich« eingestuft war, musste bald dem Einsatz an der Front entgegensehen. Wenige machten später Angaben zur Kriegszeit. Einer schreibt lakonisch: »Kriegseinsatz, hauptsächlich in Frankreich, baufachlich«.29 Meist zeugen aber die Lücken in den Berufsbiografien – ab 1939, 40, 41, 42, 43, 44, je nach Einberufung – von dieser ›geraubten Zeit‹ zwischen Pionierbauwesen und vorderster Front.

N ach 1945 – in den sta atlichen P rojek tierungsbüros in O stdeutschl and In der Not des Jahres 1945 begann in allen Besatzungszonen eine Auf bruchszeit – mit vorerst begrenzten Bauaufgaben, aber mit viel Enthusiasmus und einer regen Architekturdiskussion und zahlreichen Wettbewerben. In Ostdeutschland drängte die SED Ende der 1940er-Jahre zunehmend auf eine sozialistische Gesellschaftsentwicklung unter sowjetischer Ägide. Zu den Neuerungen gehörte die zunehmend staatliche Organisation des Architektenberufes. Das bedeutete, dass der neuformierte öffentliche Bauherr nicht mehr private Architekturbüros beauftragte, sondern staatlich organisierte. Innerhalb weniger Jahre trat ein Großteil der bis dahin im Land gebliebenen Architekten den neuen staatlichen Landesprojektierungsbüros bei. Nach der Auflösung der Länder wurden sie dem zentralen Ministerium für Auf bau in Berlin unterstellt und blieben bis 1990 aktiv. Viele Architekten behielten jedoch eine private Zulassung, um beispielsweise weiterhin private Wohnbauten oder auch kirchliche Aufträge übernehmen zu können. Eine Folge der Zwangsvergesellschaftung war die sogenannte erste Abwanderungswelle mit einem hohen 27 | Vgl. Voigt 2003, S. 41. 28 | Zum Beispiel Werner Bornemann und Ernst Wöllner, IRS Erkner, Aufnahmeantrag des BDA-DDR, Nr. 6118 und 1100. 29 | Harald Körber in: IRS Erkner, Aufnahmeantrag des BDA-DDR, Nr. 5211.

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Anteil von Akademikern, unter ihnen viele Architekten. Ob Stuttgarter und Weimarer Absolventen anders als ihre anderswo ausgebildeten Kollegen auf die Veränderungen reagierten und ob anteilig mehr von ihnen in den 1950erJahren in die BRD übersiedelten, ließ sich nicht ermitteln. Vermuten könnte man es zumindest für die Weimarer Schule, schon allein wegen der antikommunistischen Einstellung Schultze-Naumburgs. Nicht nur im Auf bauministerium, auch in den staatlichen Büros war das Miteinander von gemeinsamer Vorkriegsarbeit und Hochschul-Herkunft geprägt. Viele Weimarer Absolventen von vor 1945 arbeiteten in der späteren »Hochbauprojektierung Weimar«. Eine Konzentration von Stuttgarter Absolventen lässt sich in Halle feststellen. In der Hauptstelle des 1949 gebildeten Landesprojektierungsbüros Sachsen-Anhalt entstammten die maßgebenden Planer, Chefarchitekt Franz Reuter und die beiden Hauptarchitekten Kurt Geisenhainer und Felix Riehl, der TH Stuttgart.30 Auch in Jena gab es ein vergleichbares Netzwerk ehemaliger Stuttgarter, für das die gemeinsamen Lehrmeister ein wichtiger Bezugspunkt waren. Im Jahre 1949 entstand dort eine Außenstelle des Landesprojektierungsbüros Thüringen. Leiter wurde Rolf Fricke, der befreundete Kollegen in das immer größer werdende Büro nachzog, unter anderen Georg Schirrmeister und Hans Schlag, die wie er in Stuttgart studiert hatten.31

I m S trom der Z eit – A usl aufmodell oder wandlungsfähiger D auerbrenner ? Während sich die Entwicklung der westlichen Nachkriegsarchitektur bis zu den hitzigen späten 60er-Jahren meines Erachtens eher als etwas kontinuierlich Fließendes darstellt, hat man in Ostdeutschland von einer Periodisierung auszugehen. Mehr als im Westen war Architektur »gebaute Gesellschaftspolitik« und unterlag ideologischen und wirtschaftspolitischen Maßgaben. Das betraf nicht nur die erwähnten berufsständischen Fragen, sondern hatte regelrechte stilistische »turns« zur Folge, denen sich Architekten nicht entziehen konnten: Nach der vom Stilpluralismus gekennzeichneten ersten Auf bauphase formierte sich in der Folge der DDR-Gründung in recht kurzer Zeit eine staatliche Städtebaupolitik.32 Wenig später forderten SED und Bauakademie auch in der Architektur einen Sozialistischen Realismus nach sowjetischem Vorbild, der 30 | Zu Franz Reuter: IRS Erkner, Aufnahmeantrag des BDA-DDR, Nr. 5291; zu Kurt Geisenhainer: ebd., Nr. 5132; zu Felix Riehl: ebd., Nr. 2845. 31 | Zu Rolf Fricke: ebd., Nr. 1998; zu Georg Schirrmeister vgl. Stutz 2006, Anm. 75. 32 | Vgl. »Die sechzehn Grundsätze des Städtebaus« 1950, zit.n. Durth/Düwel/Gutschow 1998a, S. 173.

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davon ausging, dass der Wandel so grundsätzlich sei, dass eine gesellschaftliche Verankerung der anstehenden neuen Bauaufgaben und Baumengen nur durch einen Rückgriff auf die besten »nationalen Traditionen« möglich sei. Während sich die Politiker dadurch vom sogenannten »formalistischen« Westen abgrenzen wollten, konnte die Auslegung ihrer phrasenhaften Formeln für die Architekten zu einem Balanceakt werden. Er bestand darin, einen »prächtigen« Ausdruck zu finden, der dem nationalen Neuauf bruch baulich adäquat war, ohne dabei an den Neoklassizismus der NS-Zeit zu erinnern. Für die Anpassungsfähigkeit der Akteure in der Praxis steht die erwähnte Landesprojektierungsstelle in Jena, deren »Baugesinnung« von den Stuttgarter Absolventen Fricke und Schirrmeister geprägt wurde. Anfangs wurden einfachste glatte Baukörper mit geputzten Fassaden errichtet, die die Möglichkeiten des Putzerhandwerks zur Gliederung ausschöpften, aufwendige Werksteinelemente vermieden und gleichförmig gereihte Fensterfolgen aufwiesen. Zur typischen »werkgerechten Erscheinungsform« ihrer Bauten zu Anfang der 1950er-Jahre gehörten geschlossene Satteldächer mit sichtbaren Sparrenfüßen an der offenen Traufe. Das erinnert an die Bauten Schmitthenners. Nur ein bis zwei Jahre später scheint es, als wollten Fricke und Schirrmeister ihre Bauten vermehrt mit repräsentativen steinernen Elementen anreichern: Dem Hörsaalgebäude des Jenaer Physikalischen Instituts wurde größerer architektonischer Reichtum in den Fassaden und ein aufwendigeres Giebel-Relief zugestanden als den einfachen Putzbauten zuvor. Es zeigt sich als monumentale Architektur, mit der die Stuttgarter Fricke und Schirrmeister die Feierlichkeit eines gesellschaftlichen Neubeginns zum Ausdruck zu bringen versuchten.33 Bei anderen Architekten hat tendenziell aber ein unaufgeregtes Weitermachen überwogen.

»M an soll den D ingen ansehen , wie sie gemacht sind « – A rchitek t H einrich R e t tig

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Es gab aber auch Stuttgarter Architekten, bei denen dieses Einschwenken auf den politischen Kurs nicht zu beobachten ist. Heinrich Rettig, Professor an der TH Dresden, ist der Prachtentfaltung ausdrücklich nicht gefolgt, auch nicht nach einer hochoffiziellen Schmähung seiner Internatsbauten für die TH in Dresden im Neuen Deutschland: Dort wurden sie unter Berufung auf Parteiund Staatschef Walter Ulbricht als Gegenbilder des erwünschten »schönen« Baustils und als »Schnitter-Kasernen« verunglimpft.34 Rettig ist in seinem

33 | Vgl. Hartung 1997, S. 40. 34 | Vgl. Durth/Düwel/Gutschow 1998b, S. 445f.; vgl. Hartung 1999, S. 46.

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Streben nach dem Einfachen, dem Typischen und Sparsamen unter der Formenfülle dieser Phase der DDR-Architektur gleichsam hinweg getaucht.35 Auch die Bauten von einigen anderen »Stuttgartern«, wie Hans Koch, der ab 1950 das kirchliche Bauamt in Wittenberg leitete36, Albert Mayer in Görlitz oder den Dresdener Professorenkollegen Rettigs, Bernhard Klemm und Wolfgang Rauda37, entsprachen nicht der neuen Architekturdoktrin. Ihrer Heimatschutzarchitektur schien in den Worten Ulrich Hartungs vorerst eine »Wertigkeit als ›unterster Modus‹ zugewiesen worden zu sein.«38 Trotzdem konnten traditionalistische Architekten während dieser Phase das Interesse höchster Stellen auf sich ziehen, wenn sie im Sinne der typologischen Entwurfslehre zu regionalen Ausprägungen des Bauens forschten und damit die Doktrin von den Nationalen Traditionen fundieren halfen. Am Institut für Theorie und Geschichte an der DDR-Bauakademie war seit 1951 Hans Gericke tätig, ein vom Schmitthenner-Kollegen Walter Wickop ausgebildeter Traditionalist. Gericke bemühte sich, die formelhaften Verlautbarungen der SED-Politiker »mit Inhalten zu füllen«39, um das »gute Bauerbe« für die Praxis anwendbar zu machen.40 1953 legte er eine erste »Analyse der nationalen Traditionen in der DDR« vor.41 Im Gegensatz zu bereits bestehenden, in ihrer Monumentalität und Ornamentfreudigkeit am Berliner Beispiel der Stalinallee orientierten Planungen einzelner Aufbaustädte wie Magdeburg oder Rostock, versuchte er einen baugeschichtlichen Zugriff. Im Sinne eines »Bewahrens und Fortschreibens« der überlieferten Baukultur und gemäß der Theorie der Heimatschutzarchitektur der Zwischenkriegszeit bei Lindner und Steinmetz, fokussierte Gericke auf eine genaue Differenzierung der überlieferten, typischen raumbildenden Merkmale der Straßenführungen, Platzbildungen und der Baugestalt.42 Dazu unterteilte er das DDR-Gebiet in fünf Baukultur-Landschaften.43 Damit war nicht das Bauen, aber die Methode der Heimatschutzarchitektur wieder aktuell geworden. So beauftragte das Aufbauministerium für das Land Thüringen die Erstellung einer Baufibel. In Dresden durfte der Stuttgarter Ab35 | Zu Heinrich Rettig vgl. Escherich 2008. 36 | Zu Hans Koch: IRS Erkner, Aufnahmeantrag des BDA-DDR, Nr. 5735. 37 | Zu Albert Mayer vgl. ebd., Nr. 6858. Wolfgang Rauda hatte während seines Studiums 1929 eigens ein Semester an der TH Stuttgart studiert, um bei Paul Bonatz einen Entwurf belegen zu können. Vgl. Koch 1999, S. 302. 38 | Vgl. Hartung 1997, S. 40, 50. 39 | Vgl. Düwel 1995, S. 120. 40 | Zur Übernahme der Werklehre Schmitthenners durch Walter Wickop vgl. Voigt 2003, S. 41. 41 | Gericke zit.n. Düwel 1995, S. 121. 42 | Vgl. Düwel 1995, S. 124. 43 | Gericke zit.n. Düwel 1995, S. 124.

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solvent Walter Neidel hoffen, dass sein Typoskript zum Band »Sachsen« der Reihe »Haus und Hof deutscher Bauern« endlich veröffentlicht werden würde.44 Tatsächlich begann die DDR-Bauakademie in jenen Jahren eine Reihe größerer baugeschichtlicher Publikationsvorhaben, darunter jedoch nicht das Buch von Neidel.45 Doch schon 1954 zeichnete sich ein weiterer »turn« ab: Nikita Chruschtschow rief in der Sowjetunion den Beginn der neuen Phase der »wissenschaftlich-technischen Revolution« aus. Auch für die DDR läutete er damit ein »Nachholen der Moderne« ein. Zu ihrem wesentlichen Merkmal wurde eine serielle Ästhetik, die man von baupolitischer Seite als Option für eine zukünftige Übersetzung in industrielle Bauweisen sah. Viele Architekten standen dem neuerlichen ›turn‹ vorerst kritisch gegenüber, vor allem dem befürchteten Verschwinden des künstlerischen im industriellen Bauen. Von offizieller Seite waren nun Bauingenieure und nüchterne Charaktere wie Rettig gefragt: Die Forderung nach Normung beziehungsweise Wiederholung genormter Bauteile verstand Rettig nicht als Bedrohung, sondern als ein »uraltes, selbstverständliches Gestaltungsprinzip«. Und Rettig weiter: »Ob eine Wiederholung öde und langweilig, wohltuend ruhig oder reizvoll wirkt, hat mit der Gleichheit der Grundelemente nichts zu tun«, und er verweist auf die Fenstertypen »alter Städte«, wo man »durch viele Straßen hindurch das gleiche Fenster« finden würde.46 Indem er die Schmitthenner’sche Werklehre konsequent als »Eingehen auf die Fertigungsprozesse« verstand und auf die Bedingungen des DDR-Bauwesens anwendete, wurde Rettig zu einem Wegbereiter des industrialisierten Bauens.47 Vor allem seine Dresdner Bauten, die unter Verwendung prototypischer Großtafelelemente errichtet wurden, wie erstmals bei den Studentenwohnheimen in der damaligen Leningrader Straße (1960-1963), zeugen davon (Abb. 2).48 Die meisten der in Stuttgart und Weimar geschulten Architekten werden diese Wende zum industrialisierten Bauwesen als Beginn eines konsequenten Abbaus baumeisterlicher Individualität empfunden haben, vor allem dann, wenn sie »Werkgerechtigkeit« ausschließlich als »Handwerksgerechtigkeit« verstanden. Grundsätzlich ist der Rückzug traditionalistisch geschulter Architekten in die zweite Reihe der Bürohierarchien und ein Ausweichen in Randbereiche des offiziellen Bauwesens zu beobachten. Allerdings waren sie in den Abteilungen

44 | Werner Vollrath und Walter Neidel, IRS Erkner, Aufnahmeantrag des BDA-DDR, Nr. 5971 und Nr. 5806. 45 | Dazu Lippert 2009. 46 | Rettig 1954, S. 33. 47 | Ebd. 48 | Seine Schüler Leopold Wiel und Helmut Trauzettel folgten ihm darin.

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Abb. 2: Heinrich Rettig, Studentenwohnheime der TU Dresden, Leningrader Straße (1960–1963)

für Hochbauprojektierungen und in den Wohnungsbaukombinaten in den 1960er- und bis in die 1970er-Jahre gerade für individuell-gestalterische Aufgaben unverzichtbar. Sie bürgten dort für ein sicheres Gefühl im Umgang mit historischem Baubestand oder, wie der Dresdner Architekturprofessor Klemm, für eine typologisch fundierte und international anerkannte Altstadtsanierung (Abb. 3). Andere wie Mempel und, als ein weiterer Weimarer, Erich Neumann standen für handwerklich-solide Interieurs. Beide fanden seit Ende der 1950erJahre ein lohnendes Feld im späteren »Projektierungsbereich Weimar« des »Betriebsteils Projektierung« des VEB Wohnungsbaukombinats Erfurt, wo hauptsächlich Kultur- und Parteieinrichtungen, häufig als Umbauten bestehender Gebäude, geplant wurden. Zuweilen schufen sie mit betont handwerklichen Interieurs merkwürdige Kontrastierungen zur ansonsten industriellen Bauästhetik, auch von herausgehobenen Projekten – Kontrastierungen, die wiederum zur Nobi-litierung durchaus erwünscht waren.49 Auch bei Landwirtschaftsbauten, Einzelwohnhäusern oder bei allen Formen von Umbauten – wo Typisierung und Vorfertigung nicht so stark griffen –, strahlte die Heimatschutzarchitektur bis in die 1960er- und 1970er-Jahre aus. Regelrecht Refugien waren der Kirchenneubau und die Denkmalpflege. Der Stuttgarter Absolvent Hans Berger stieg sogar zum Chefkonservator Sachsen-Anhalts auf.50

49 | Wie zum Beispiel bei SED-Parteibauten oder Staatsbauten. Nach freundlicher Mitteilung von Heinz Gebauer im Mai 2015. 50 | IRS Erkner, Aufnahmeantrag des BDA-DDR, Nr. 2194.

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Zu nennen sind auch Albert Mayer in Sachsen, Werner Lonitz in Gera und Gerhard Leopold in Sachsen-Anhalt.51 Abb. 3: Bernhard Klemm (Planung): Bestands- und Sanierungsplan des Peterskirchviertels in Görlitz (1958)

S chlussbemerkungen Ich konnte zeigen, welche Geltung die Protagonisten traditionalistischer Architektur aus Stuttgart und Weimar erlangten und welche Netzwerke es zwischen ihnen gab. So ließ sich die Kontur einer traditionalistischen Architektur im Süden der DDR nachzeichnen. Doch wie steht es um ihre Relevanz für die Architektur im Nachkriegsdeutschland, im Speziellen in Ostdeutschland? Grundsätzlich handelt es sich beim Heimatschutzstil um ein langsam auslaufendes Modell, das während der Hochzeit des internationalen Nachkriegsfunktionalismus spürbar an Einfluss verlor. Im Unterschied zur BRD-Gesellschaft war die DDR keine marktwirtschaftlich organisierte. Sie zwang vielmehr Architekten jeglicher Couleur und Schulherkunft zu berufsständischen, fach51 | Ebd. Nr. 6858, 6813, 1959.

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lichen sowie gesellschaftlichen Positionierungen und Spezialisierungen. Angesichts der wendungsreichen DDR-Architekturgeschichte mussten traditionalistisch geprägte Architekten ihre Konzepte und Praxen an den veränderten Rahmenbedingungen justieren. Im Studium angelegte Grundhaltungen und Denkweisen spielten dabei eine große Rolle. Parallel zum grundsätzlichen Geltungsschwund während der Nachkriegsjahrzehnte entstanden dennoch immer wieder sehr erfolgreiche Aktualisierungen traditionalistischer Architektur, wofür nicht nur Gericke, Klemm und Rettig mit ihren Werken als glänzende Beispiele stehen.

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Import, Export, Reimport? Walter Gropius und die Netzwerke der »Nachkriegsmoderne« Olaf Gisbertz

E inleitung »›Morgen 15 Uhr, 96 Mount Auburnstreet in Cambridge‹, sagte er durchs Telefon, als wir – meine Mitarbeiter und ich – dem Ehrendoktor unserer Schwesterhochschule Hannover Grüße bestellten und dabei fragten, ob wir ihn besuchen dürften. Und als wir uns am nächsten Nachmittag durchgefragt hatten, standen wir, nicht weit von der HarvardUniversität, vor einem bescheidenen Reihenhaus, das mit seiner gesamten kleinstädtischen Straße ebenso etwa in Celle hätte sein können. Über eine schmale Treppe ging es hinauf zum Architekturbüro. Auf dem Türschild war sein Name nicht zu finden; es trug nur die drei Buchstaben TAC. Man öffnete, wir legten ab und traten in eine Art Sitzungszimmer. Und schon kam er herein, aufrecht und schlank, mit der weltgewandten Urbanität der Generation von 1883. Längst an solche neugierig-bewundernden Überfälle gewöhnt, entspricht er auch sogleich unserem – sicher spürbaren – Ausfrageverlangen und hält ein geordnetes Kolleg über die heutige Berufsaufgabe des Architekten.«1

Mit diesen Worten hielt der Braunschweiger Architekt und Hochschullehrer Friedrich Wilhelm Kraemer im November 1955 seine erste persönliche Begegnung mit Walter Gropius fest. Kraemer hatte sich in den ersten beiden Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkrieges wie viele andere Architekten westdeutscher Provenienz auf den Weg gemacht, die Architekturszene jenseits des Atlantik mit eigenen Augen zu erleben, auch unterstützt durch Sponsorengelder und Angebote zur Finanzierung der Reisen durch die Bauindustrie wie des Aluminiumverbands in Düsseldorf.2 In einem Tagebuch hat Kraemer seine Erinnerungen – oft nicht ohne ironischen Ausdruck von Erstaunen, Verwunderung und Unglauben – beinahe anekdotenhaft festgehalten. Aus der Hand geschossene Fotos, selbstverständlich mit einer Rolleiflex-Mittelformatkamera 1 | Kraemer 1955. 2 | Aluminium-Zentrale 1960. Vgl. auch Wilhelm 2008, S. 122; dies. 2007, S. 74-87.

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aus Braunschweig aufgenommen (Abb. 1), dienten ihm zur visuellen Erinnerung seiner Reiseeindrücke. Abb. 1: Friedrich Wilhelm Kraemer am Hudson River vor der Freiheitsstatue, New York, 1959–1962

Bis dato hatten den meisten deutschen Nachkriegsarchitekten, sofern sie keine früheren Gelegenheiten hatten,  lediglich Berichte aus Bauzeitschriften und Magazinen und  nicht selten auch private und wieder aufgenommene institutionelle Kontakte einen Eindruck von der aktuellen Architekturmoderne jenseits des großen Teichs vermittelt. 1946 war so etwa unter Mitwirkung von Hans Kampffmeyer – dessen Vater einst die Deutsche Gartenstadtgesellschaft geleitet hatte – im württembergischen Grailsdorf die deutsche Abteilung der International Federation for Housing and Town Planning (IFHTP) wiederbegründet worden, die schon während der NS-Zeit eine wichtige Mittlerrolle für den transatlantischen Architekturtransfer einnahm.3 Denn seit 1939 waren Kontakte deutscher Architekten ins Ausland weitgehend untersagt. Dennoch 3 | Vgl. Fischer 1990, S. 135.

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waren sie – anders als wohl viele andere Berufsgruppen – nicht gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Noch kurz vor Kriegsbeginn fand so unter deutscher Beteiligung ein internationaler Städtebaukongress in Stockholm statt, dem ähnliche Zusammenkünfte in London (1935) und Paris (1937) vorausgegangen waren, jeweils mit Unterstützung der IFHTP unter ihrem Vorsitzenden Karl Strölin, der seit 1933 den Posten des Stuttgarter Oberbürgermeisters innehatte. In den Jahren vor Kriegsbeginn hatten Generalbauinspektor Alfred Speer und sein Mitarbeiter Willi Schelkes auf ihren Reisen nach London, Paris und den USA wertvolle Eindrücke gewinnen können, ebenso wie 1937 Konstanty Gutschow auf einer Reise nach New York und Chicago, wo nicht nur Wolkenkratzer faszinierten, sondern zum Beispiel auch die Grünflächenplanung von Washington. Mit Kriegsbeginn blieb den Deutschen nur die Reise ins faschistische Ausland, besonders nach Italien. Aber auch Informationen zu städtebaulichen Themen (Patrick Abercrombies Planungen für London) und zur Baugesetzgebung unter Churchill blieben einem gewissen Kreis über das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut zugänglich. Der Informationsdienst Ausland versorgte die interessierte Leserschaft innerhalb von drei Tagen mit Übersetzungen von englischen Artikeln und Berichten.4 Nach 1945 hingegen tourten meist unterstützt von der amerikanischen Militärregierung verschiedene Ausstellungen und kursierten Publikationen durch Westdeutschland: zunächst die vom MoMA 1944 zusammengestellte Broschüre »In den USA erbaut 1932–1944«, 1951 zudem die Ausstellung mit dem Titel »Architektur der USA seit 1947«5 zur Vorstellung nordamerikanischer Architektur mit einer Reihe beispielgebender aktueller Bauten, zusammengestellt vom American Institute of Architects, dem wohl einflussreichsten Architektenverband in den USA. 1952 folgte schließlich »Walter Gropius – Ein Weg zur Einheit künstlerischer Gestaltung«, veranstaltet vom Institute of Contemporary Art, Boston, und der Smithsonian Institution in Washington, D.C.6 Nicht weit entfernt von Braunschweig, in Hannover, der Hauptstadt des neuen Bundeslandes Niedersachsen, hatte Gropius von der Technischen Hochschule (heute Leibniz-Universität) bereits 1929 die Ehrendoktorwürde erhalten.7 Er war in Niedersachsen allein durch das Fagus-Werk in Alfeld auch nach zwei Weltkriegen kein Unbekannter, auch wenn diese Anlage erst vor wenigen Jahren durch die UNESCO Welterbestatus erhielt. Es war vor allem Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht zu verdanken, dass Gropius nach seiner Übersiedlung über England nach Boston während des Nationalsozialismus gerade in Niedersachsen seine Rehabilitierung in bundesdeutschen Architektenkreisen nach Ende 4 | Vgl. Fischer 1990, S. 138. 5 | Vgl. Dannecker 1950; vgl. Seelmann-Eggebert 1951. 6 | Vgl. Grote 1952. 7 | N.N. 1929.

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des Zweiten Weltkrieges erfuhr. Nicht nur, dass Hillebrecht die Unterschutzstellung des Fagus-Werkes zum Kulturdenkmal in Niedersachsen forcierte8; er war es auch, der Gropius mit dem Bau der Villa Stichweh in Hannover 1952 seinen ersten Auftrag im Nachkriegsdeutschland verschafft hatte.9 Schon Jahre zuvor war es ebenso Hillebrecht, der den Harvard-Professor und verehrten ›Ex-Chef‹ zu dessen 65. Geburtstag wohl erstmals öffentlich durch ein Interview gewürdigt hatte, erschienen 1948 in der Baurundschau.10

Theorie : W ieder aufbau und A ufbau Angesichts drängender Fragen im kriegszerstörten Europa ist wenig erstaunlich, welche Themen das Interview berührte und in welchen Kontext das Architektenporträt von Walter Gropius eingebettet war: Probleme des Wiederauf baus, aber auch »Serielles Bauen mit vorfabrizierten Systemen«, weniger dagegen Gropius’ gebaute Einzelleistungen für eine wohlhabende Klientel aus dem Umfeld der Harvard-University. Vielmehr rückte Hillebrecht Gropius’ humanistische Gedanken für ein neues Zusammenleben nach der vermeintlichen Stunde Null in den Mittelpunkt seiner Ausführungen: »Es gibt kein allgemeingültiges Rezept für den Aufbau der Städte und Ortschaften und selbst nicht für ein so allgemeines technisches Problem wie das der Trümmerbeseitigung und -verwertung. Von Allgemeingültigkeit ist dagegen der Ausgangspunkt, von dem aus nach Auffassung von Gropius jedes Denken und Handeln für den Aufbau einsetzen muß: der Mensch in seiner Bindung an den Nächsten und an die Gemeinschaft.«11

Und so zitiert Hillebrecht Gropius im Folgenden wortwörtlich: »Ich glaube, unser Fehler in der Vergangenheit war, daß wir bei allem zu sehr vom Wirtschaftlichen und von ihm allein ausgegangen sind. Der Mensch, die Seele, ist dabei zu kurz gekommen.«12 Gropius rekurrierte auf Ideen, die ihn weniger als Macher und Praktiker vorstellten, sondern vielmehr als Theoretiker zu ethischen Fragen der Architektur. Er nahm dabei sicherlich nicht zufällig eine Rhetorik wieder auf, die ihn schon in den Wirren der Revolution 1918/19 als Utopisten ausgezeichnet hatte. Damals war er Mitglied im »Arbeitsrat für Kunst« und der »Gläsernen Kette« gewesen, also in jenen visionären Kreisen aktiv, die den Architekten 8 | Freundlicher Hinweis von Ralf Dorn, Darmstadt. Vgl. zu Hillebrecht Dorn 2017. 9 | Vgl. Nerdinger 1985, S. 282; vgl. Möller 1983, S. 115. 10 | Hillebrecht 1948, S. 67-74. 11 | Ebd., S. 70. 12 | Ebd.

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zum »Führer der Künste« und »Weltbaumeister«13 erhoben hatten. Nichtsdestotrotz hatte sich seine Haltung zum Planen und Bauen unter dem Eindruck amerikanischer Verhältnisse, wie er sie in Neu-England erfuhr, gewandelt. In einer Rede vor den »Associated General Contractors of Massachusetts« bezeichnete Gropius im November 1943 den Architekten als einen »humble coordinator of building activity«14. Ein ähnliches Verständnis offenbart sich auch in einer Reihe von Manuskripten, die er gemeinsam mit Martin Wagner bearbeitete, und schließlich in seiner 1945 erschienenen Publikation »Rebuilding our communities« veröffentlichte. 15 Zusammen mit Wagner – bis 1933 Stadtbaurat in Berlin, der über die Türkei in die USA emigriert war16 – entstanden Typoskripte zu einem umfassenden Stadtumbau: zu einer »rejuvenation of the old towns« in Amerika. Der Inhalt weist erstaunliche Parallelen zu Überlegungen auf, die zeitgleich auch im Wiederauf bau deutscher Städte angestellt wurden. Das Papier beginnt mit einem Ausrufezeichen: »Our cities are sick, deathly sick, machine sick!«17 Mit Sympathie für den »American Way of Life« und die demokratischen Strukturen in der Neuen Welt haben Gropius und Wagner im Exil und als Neu-Amerikaner das Bild von kleinen Gemeinschaften entwickelt, von »small communities, where living would be on a human scale«. 18 Es ist ein geradezu bodenreformerischer Impetus zu spüren, wenn sie den Stadtumbau zur Erneuerung großer Städte einfordern: nicht durch den Bau weiterer Hochhäuser, die sie als »business cathedrals« verdammten, sondern durch die Verjüngung der Stadt durch kleinere Strukturen: »[here; Anm. d. Verf.] […] all those employed in the central areas will live in dwelling quarters which, more widely spaced and surounded by parks, will [make] their inhabitants [fit to build] that constructive community interest and neighborhood spirit long lost in the old cities«.19 Zur gleichen Zeit, in den Jahren 1941 bis 1944, favorisierte Gropius das Bauen mit vorfabrizierten Bauteilen. Seine Zusammenarbeit mit Konrad Wachsmann20, der ebenfalls 1941 nach Boston emigriert war, widmete sich der »on-site housing construction« von Einfamilienhäusern. Dieses sogenannte »Packaged House-System« führte begonnene Bauhaus-Experimente wie in Dessau-Törten auf anderem Terrain, in anderem Maßstab und mit anderen 13 | Vgl. Whyte 1986, S. 5. 14 | Vgl. Diefendorf 2005, S. 29-50. 15 | Gropius 1945. 16 | Vgl. Dogramaci 2007, S. 253-276. 17 |  Gropius/Wagner o. J.; vgl. Diess. 1943, zit. n. Diefendorf 2005, S. 36. 18 | Diefendorf 2005, S. 36. 19 | Gropius/Wagner 1942, zit.n. Diefendorf 2005, S. 37; vgl. Lange 1947. 20 | Vgl. Grüning 1986, S. 443.

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Mitteln fort, was nun mehr dem amerikanischen Ideal des Wohnens im Eigenheim entsprach. Auf der Suche nach einer zeitgemäßen architektonischen Form bedeutete dies für Gropius wohl vielmehr eine ästhetisch-technologische Herausforderung als eine Orientierung an den tatsächlichen Problemen zur Bewältigung des Massenwohnungsbaus, wie er recht bald nach dem Krieg in Europa diskutiert wurde. Im Bericht an General Clay, der Gropius 1947 als »advisor« nach Deutschland eingeladen hatte, bleiben Themen aus dem nordamerikanischen Diskurs  wie Flachbau und das Bauen mit vorfabrizierten Teilen  evident, nun freilich zum Unmut mancher deutscher Rezensenten21, darunter der jüngere Bruder von Paul Bonatz, Karl Bonatz, seit 1947 Nachfolger von Stadtbaurat Hans Scharoun und ab 1949 Stadtbaudirektor in Berlin. Bonatz hatte den Vortrag von Gropius im Titania-Palast verfolgt und sich enttäuscht gezeigt.22 Wenig beeindruckt von solcher Kritik hielt Gropius an seinen Vorstellungen zum Wiederaufbau der zerstörten Städte in Europa fest, so auch auf dem CIAM-Kongress in Bridgewater 1947.23 Gropius war sich allerdings bewusst, dass er nur allgemeine Empfehlungen für den Wiederaufbau der deutschen Städte aussprechen konnte, wozu auch ein »cultural exchange«24 mit Architekten-Reisen in die USA und dem Ausbau von Fachbibliotheken an den Hochschulen gehörte. Im Wiederaufbau sah er eine Chance für die Erneuerung der Gesellschaft durch die Schaffung von gesunden Städten mittels kleiner Einheiten und Nachbarschaften mit einer Bebauung von höchstens 10-12 Stockwerken, die sich weniger formal als an den natürlichen Gegebenheiten von ›Ort‹ und ›Klima‹ und an den Bedürfnissen der Bewohner ausrichten sollte. In dieser Hinsicht hatte sich Gropius zum Argwohn mancher Mitstreiter wie Wagner von früheren Dogmen seiner Dammerstock-Ära weit entfernt, propagierte er doch nun die architektonische Praxis mit weniger hoher programmatisch-missionarischer Verve, dafür aber seit 1945 mit mehr unternehmerischem Erfolg durch die Gründung von »The Architects Collaborative«, genannt TAC (Abb. 2).

21 | Vgl. Bonatz 1947; Pfister 1947. Siehe auch Durth 2001, S. 731. 22 | Vgl. Bonatz 1947. 23 | Vgl. Sekler 1948. 24 | Vgl. Renz 2015.

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Abb. 2: Walter Gropius im Kreis der TAC

P r a xis : G ropius ’ B auprojek te /TAC TAC, »The Architects Collaborative«, hatte sich 1945 von Beginn an darauf verständigt, ein »Verbund« aus Architekten und Stadtplanern zu sein. Die Partizipation mehrerer Disziplinen aus Architektur und Städtebau an einem Projekt, der Austausch von Ideen und das Ringen um zeitgemäße Entwurfslösungen standen dabei im Fokus der jungen Arbeitsgemeinschaft um Altmeister Gropius. Zu den Mitbegründern gehörten Norman C. Fletcher, Jean B. Fletcher, John C. Harkness, Sarah P. Harkness, Robert S. McMillan, Louis A. McMillen und Benjamin C. Thompson. Schon gleich nach Gründung war die TAC in das Sanierungsprojekt um die Chicagoer South Side involviert und absolvierte in der Folge manchen Wettbewerb erfolgreich. Zu ihren bekanntesten Projekten gehörten verschiedene Schulanlagen wie die Peter Thacher Junior High School, 1946, das Graduate Center der Harvard-University, 1949, aber auch unausgeführte Projekte wie die New Trier High School in Winnetka, Illinois, von

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1962. Darüber hinaus errichtete TAC auch international renommierte Bauten wie die Amerikanische Botschaft in Athen von 1956, die University of Baghdad für 12.000 Studierende von 1960 oder das PAN-AM-Building in New York von 1958–1963.25 Sicherlich konnte die TAC vom Einfluss Walter Gropius’ profitieren, von seiner Aura und seinem Charisma, nicht zuletzt auch dadurch, dass es Gropius war, der die Außenwirkung der TAC bestimmte: durch zahlreiche Interviews, die Herausgabe einer Werkmonografie und die aktive Beteiligung an wichtigen Bauprojekten im Wiederauf bau nach dem Krieg für eine ›bessere Gesellschaft‹ in Deutschland. Ausdruck dieses Strebens sind Bauten, für die Gropius –  mehr als bei anderen Projekten der TAC –  mit seinem Namen persönlich bürgte: allen voran das neungeschossige Apartmenthaus an hervorgehobener Position im Berliner Hansaviertel für die Internationale Bauausstellung 1957 mit konkav gekrümmter Fassade, das sich durch Loggien und Balkone nach Süden hin öffnet und eine zentrale Grünfläche umschließt.26 Der Bau selbst konstruktiv als Stahlbetonskelettbau errichtet, besitzt nur wenige seriell hergestellte Ausbauelemente, dafür aber eine Fülle unterschiedlicher Materialien wie Keramikfliesen, Ziegelriemchen und Glasbausteine, die handwerklichen Sachverstand auf der Baustelle erforderten, ergänzt um eine kräftige Farbgebung für eine akzentuierte Binnengestaltung von Fassaden und Fluren. Wenn sich das Apartmenthaus auch als Publikumsmagnet der Bauausstellung im Hansaviertel entpuppte, so ließ aber auch Kritik nicht lange auf sich warten, insbesondere im Hinblick auf die Grundrissgestaltung, die man als weniger ›innovativ‹ als erwartet charakterisierte, zeige sie doch Bezüge zu den Bauten von Gropius in der Berliner Siemensstadt von 1929/31. Und die konservative Architekturkritik wiegelte gleich pauschal ab, dass die Interbau »vereinigt, was an moderner Architektur von fremden Ländern für export- und ausbaufähig befunden wurde.«27 Trotz allem war Gropius mit dem Projekt als bauender Architekt wieder in Europa angekommen, auch wenn er viel aus der Ferne seiner neuen Heimat delegierte. Sein Entwurf für sozialen Wohnungsbau am Berliner Mehringplatz blieb Makulatur und später war es Scharoun, der hier durch die Neufassung des Stadtraums zum Zuge kam. Dagegen ist bis heute die Siedlung für 44.000 Einwohner in Berlin, die Gropius mit TAC plante, wie kaum ein anderes Projekt mit seinem Namen verbunden: Anspruch und Wirklichkeit sind in der 25 | Kritik zum PAN-AM-Building kam zum Beispiel von Philip Johnson, der sich an der Stelle eine Grünfläche vorgestellt hatte. In: Isaacs 1986, S. 1054. Vgl. Probst/Schädlich 1886, S. 238-243. 26 | Ursprünglich geplant mit Spielplatz, Rosenrondell und Brunnen nach Entwürfen der Gartenarchitekten Herrmann Mattern (Kassel) und René Pechère (Brüssel). 27 | Vgl. Siedler 1957, zit.n. Dolff-Bönekämper 1999, S. 42.

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Gropiusstadt aber bis heute weit entfernt von den sozialen Utopien und von Vorstellungen kleinerer Nachbarschaften, die Gropius während und unmittelbar nach dem Krieg propagiert hatte. Binnen kurzem erkannte die öffentliche Architekturkritik der Zeit in ihr das Synonym für architektonische und städtebauliche Fehlentwicklungen im Wohnungsbau, vor denen der Architekt früher selbst gewarnt hatte. Ähnlich verhielt es sich mit einem Prestigeprojekt der Bildungsoffensive der 1960er-Jahre, als Gropius zum Kreis der geladenen Architekten zum Bau der Ruhr-Universität gehörte. Hier zeigt sich noch einmal, mit welchem Anspruch Gropius im Verbund mit der TAC (hier Thompson) am Bau einer neuen Gesellschaft in Deutschland mitwirken wollte.28 Denn hier findet sich die kleinteilige Gebäudestruktur wieder, nun angepasst an die Verhältnisse einer neuen Bildungslandschaft in der Bundesrepublik.

V om M y thos zur E ntmystifizierung Walter Gropius stand nach 1945 binnen kurzem im Fadenkreuz der bundesdeutschen Netzwerke der »Nachkriegsmoderne«. Es waren die Alliierten, die seine Expertise für Deutschland zuerst eingefordert hatten, ihn 1947 sogar zum Wiederauf bau der Stadt Frankfurt aufforderten, die zunächst die neue Hauptstadt der Bundesrepublik werden sollte.29 Auf diesem Weg gelangten Leben und Werk von Gropius schnell zurück ins Bewusstsein der deutschen Architektenschaft, die während des Nationalsozialismus mitunter kaum Notiz von seinem Wirken in Amerika genommen hatte. Das änderte sich mit der Berichterstattung in den westdeutschen Bauzeitschriften und einschlägigen Publikationen, wie denen von Sigfried Giedion und Jürgen Joedicke.30 Um Gropius, der 1944 mit seiner Frau Ise die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, spannte sich schon wenige Jahre nach Kriegsende von Seiten der deutschen Architektennetzwerke, die auch Zweckbündnisse des Reisens in die Fremde waren, ein reges Interesse. Doch anders als Ludwig Mies van der Rohe, der mit seinen Chicagoer Bauten dem »International Style« in Europa nach 1945 vorauseilte, befasste sich Walter Gropius mit komplexen Aufgaben im Wiederaufbau der Städte. Seine Erfahrungen im Exil auf dem Gebiet des Wohnungs- und Bildungsbaus machten ihn zu einem gefragten Experten, dessen Sachverstand im transdisziplinären Dialog von Architektur und Städtebau auf einer intellektuell-planerischen Metaebene gefragt war. Das Bild seiner Person bekam allerdings erste Risse mit Versuchen, die Leistungen des Bauhauses anzuzwei28 | Vgl. Apfelbaum/Schmitz 2015, S. 68f. 29 | Vgl. N.N. 1947, S. 128f.; Isaacs 1984, S. 952-962. 30 | Vgl. Giedion 1956; Joedicke 1958; vgl. außerdem Bayer/Gropius/Gropius 1955; Fitch 1960.

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feln und öffentlich zu entmystifizieren, etwa die Kritik von Rudolf Schwarz, die 1953 in einen veritablen »Bauhausstreit«31 um die Wurzeln der Moderne mündete. Schwarz sprach sich gegen den »künstlerischen Technizismus« am Bauhaus aus.32 Die Gräben zwischen Modernisten und Traditionalisten der 1920er- und 1930er-Jahre brachen erneut auf. Doch ebenso kritisch äußerte sich auch Sibyl Moholy-Nagy auf Vortragsreisen in Westdeutschland, so 1965 in ihren Braunschweiger Vorlesungen im Vorfeld ihrer Publikation »Die Stadt als Schicksal«.33 Im Osten hingegen war die Bauhaus-Moderne spätestens ab 1947 wegen des Dogmas der »nationalen Bautradition« unerwünscht und von Walter Ulbricht 1952 als »volksfeindliche Erscheinung«34 verpönt worden. Im Zuge der kontinuierlichen Legendenbildung um das Bauhaus konnte Gropius so vor allem im Westen zu einem »Vorkämpfer für Freiheit und Humanismus«35 im Kalten Krieg avancieren. Unter diesen Voraussetzungen gewann Gropius erheblichen Einfluss auf die Mentalitätslagen der bundesdeutschen Netzwerke der »Nachkriegsmoderne«. 1953 verstand Max Bill die Ulmer Hochschule für Gestaltung selbstverständlich und von allen goutiert als Fortführung des Bauhauses, was wenige Jahre später zum Bruch mit den Jüngeren führte,36 darunter Otl Aicher, die mehr für ein auf Wissenschaft basiertes Ausbildungsmodell für Design und Architektur eintraten. Und es ist mühselig, die Leistungen des Bauhausgründers im Diskurs der deutschen Nachkriegsgesellschaft nach 1945 allein nach kunsthistorischer Manier zu beurteilen, aus seinen Nachkriegsprojekten gar einen Personalstil zu destillieren – wie dies für das Apartmenthaus im Berliner Hansaviertel versucht wurde, um die gestalterischen Unstimmigkeiten im Projekt auf unterschiedliche Entwurfsverfasser zurückzuführen.37 Die TAC-Entwürfe stammen schließlich von Norman C. Fletcher, während in Berlin Wils Ebert »für den in Amerika weilenden Meister« als Kontaktarchitekt fungierte. Ebert lieferte auch baukonstruktive Detaillösungen für den Innenausbau wie Treppengeländer, Bodenbeläge und Wandfliesen und betreute die gesamte Ausführung vor Ort. Das Appartementhaus sei somit »mithin ein Produkt von drei durchaus ungleichen Partnern« und die Verantwortlichen der Interbau hätten weniger die Qualitäten von Gropius als Entwurfskünstler, als dessen Ruf als »berühmtester deutscher Architekt der Moderne« geschätzt. 31 | Vgl. Nerdinger 1994. 32 | Vgl. Schwarz 1979, S. 141. 33 | Vgl. Moholy-Nagy 1970; Wilhelm 2007, S. 74. 34 | Vgl. Ulbricht 1952; vgl. Thöner 2006, S. 162. 35 | Betts 1996. 36 | Gropius adelte die Eröffnung gar mit einem Grußwort; vgl. Aicher 1975. 37 | Vgl. Dolff-Bönekämper 1999, S. 157f.

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Angesichts der zunehmenden Spezialisierung der Baubranche in den Nachkriegsjahrzehnten übte die Arbeitsgemeinschaft TAC aber eine enorme Faszination aus, forcierte sie als »architectural cooperation« doch den Trend zu Diversifikation der architektonischen Entwurfspraxis.38 Es sind in der Bundesrepublik besonders Architekten wie Kraemer oder Hubert Hentrich mit Hubert Petschnigg39, die in den folgenden Jahrzehnten ihre Bürostrukturen den veränderten Bedingungen sukzessive anpassten, Partner bestellten und für technische Einzelfragen wie bei der »Organisation von Arbeitsläufen im Großraumbüro« auf neue Planungsspezialisten setzten, darunter etwa das Quickborner Team. Es ist deshalb kein Zufall, dass Kraemer seine Tagebuch-Eintragung zu der Begegnung mit Walter Gropius in den USA mit den Worten schließt, dass entsprechend dem Wandel in der Architektur vom »ehemals handwerklich ausgerichteten baumeisterlichen Schaffen zum wissenschaftlich-ingenieurmäßig industriellen Planen« nun eine »gegenseitig dienende Teamarbeit« verschiedener Disziplinen verlangt werde, nach Kraemer idealerweise aber unter der »schöpferischen Persönlichkeit eines Gropius«. Von dieser Warte aus recht pathetisch beschrieben ist der Besuch der Kraemer-Reisegruppe 1955 bei den »Gropius-Teambauten, [den; Anm. d. Verf.] vorbildlich einfachen Einfamilienhäusern, Schulanlagen und seinem eigenen Haus in Lincoln von 1937. Auch hier ist die BauhausHerkunft unverkennbar. Und dessen Ausdruck wiederum ist bereits im Faguswerk des Achtundzwanzig jährigen in Alfeld vorweggenommen. Wer auf der Strecke HannoverGöttingen im D-Zug durch Alfeld fährt, erweise diesem einzigartigen Vorläufer unserer heutigen Architektur die schuldige Reverenz, stelle sich ans Fenster und bewundere im nun fast 50 Jahre alten Frühwerk den sichtbar gewordenen Genius einer neuen Idee.« 40

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To Holland Frank Lloyd Wright’s Urbanism in Postwar Rotterdam Rachel Julia Engler

In a postwar lecture at London’s Architectural Association, Frank Lloyd Wright spoke about how cities devastated by wartime bombing might be properly rebuilt. Speaking from the luxury of American geographic isolation, Wright was able to claim bombardment as a fruitful opportunity, an occasion to render the city more livable, more beautiful, and more green. Deeply committed to decentralization, he reportedly said, “I do not care where [a bomb; author’s note] fell, even if it was on Buckingham Palace: plant grass.” (Saint 1999: 136) Wright offered this hypothetical scenario of destruction as an exercise in architectural thinking, but in May 1940 the city of Rotterdam experienced just such massive ruin, its infrastructure and urban fabric devastated by bombs. A Washington Post reporter visiting just after the bombing wrote, “Today [the buildings; author’s note] are still smoldering and in some places still burning. […] Broken glass, crumbled and scarred concrete, half-felled walls, penetrating stench and decay, combine in making central Rotterdam a picture of ruin and desolation.” (Peters 1940: 1) While Wright had imagined destruction for dramatic effect, here real catastrophe had wrenched open structures, leaving a scattered cast of the variety of contemporary life. This paper takes the opportunity of this uncanny pairing to introduce a context for the Rotterdam edition of Frank Lloyd Wright’s monographic exhibition “Sixty Years of Living Architecture,” held in the summer of 1952 in a city preoccupied with reconstruction. Its primary topic is Wright’s inadvertent insertion into a popular debate regarding urbanism in postwar Europe. What might the specific context of postwar Rotterdam add to what we know of the traveling exhibition? As the city itself was being rebuilt, what did it mean to exhibit the work of an architect whose urban theories were polemical and in complicated ideological relation to the local situation? By addressing the 1952 exhibition, the paper also considers Wright’s relation to the Netherlands and to the architect Johannes Jacobus Peter Oud, who supervised the show’s installation, Wright’s theories of democracy and

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urbanism, and something of the condition of post-bombardment Rotterdam. Wright’s theoretical language—specifically his definition of “organic architecture” and visions of democracy—participated in a postwar discourse founded on the conflation of urban and economic vitality with a variously conceived freedom. It was typical of an architectural moment in which reconstruction itself carried political weight. The monographic “Sixty Years of Living Architecture” exhibition was not meant to travel to the Netherlands during its European tour.1 A typewritten memorandum originally called for stops in Milan, Paris, Zurich, Munich, and a final edition in London. But on September 19, 1951, Wright received a telegram, sent by a Rotterdam patron of the arts, passing along architect Oud’s suggestion that Wright bring his exhibition to Rotterdam.2 This telegram likely followed Oud and Wright’s meeting, their first after decades of sporadic correspondence, at the exhibition’s installation in Paris, and with the invitation plans were made for a Rotterdam edition to be supervised by Oud himself. The 1952 exhibition marked the end of a long digestion of Wright’s work in the Netherlands, a moment of recognition for an architect whose relation to that country stretched back decades, and whose reception, in which Oud played a vital part, had been both significant and varied. If by the 1950s Oud seemed to feel a genuine delight in Wright3, Oud’s writings from the 1920s indicate a more complex perception of Wright’s work. In a 1925 essay entitled “The Influence of Frank Lloyd Wright on the Architecture of Europe,” a young Oud praised the American, calling him “an artist” and “a prophet.” When taken in its entirety, however, the essay is an ambivalent reflection on the architect’s relation to the project of European modernism. While Oud admired Wright’s achievements, the Dutchman reflected that “when, asked to give my views on the important, even great influence of Wright on European architecture, I do not call this influence a happy one in all respects.” (Oud 1992 [1925]: 86) First, Oud feared Wright’s imitation by lesser artists: the “harm [that; author’s note] has been and is still being done through misconception of his work, by the dilettantism of his followers” (Oud 1992 [1925]: 89). Second, Oud felt there was a “danger, particularly well illustrated in Holland, of the develop1 | Travel Schedule of the Frank Lloyd Wright Exhibition, Memorandum, Wright Archive. The show began with a preview in Philadelphia before traveling to Florence. (Langmead/ Johnson 2000: 178) 2 | Willebeek Le Mair to Frank Lloyd Wright, September 19, 1951, Wright Archive. 3 | In a note following the 1951 encounter, Oud wrote, “My wife and I had a happy day in seeing you and your wife in Paris. Generally one knows the man and is curious what he will be in architecture. In your case I often tried to reconstruct the man by looking at his architecture. It was fine: thank you that your buildings are a good mirror of yourself!” J.J.P. Oud to Frank Lloyd Wright, May 24, 1952, Wright Archive.

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ment of a Wrightian rather than of a universal modern architecture” (Hitchcock 2004 [1940]: 149). Oud’s text demonstrates a fear of the singular creative “master.”4 This sentiment would later be echoed by politically inflected coverage of the 1952 exhibition, in which Wright’s ego and celebrity would be the objects of criticism. I will first consider the history of the Rotterdam venue, the Ahoy’-hal, where Wright’s work was exhibited. This discussion necessarily means a step “back” in time to the years before the Wright exhibition. The venue, the essential material context for the exhibition, qualified its significance and defined the realm within which it was understood to function. This history of the space complicates the presentation of Wright’s work, particularly its suggestion of the relationship between ‘democracy’ and the urban environment. The Ahoy’-hal, designed by architects Jo van den Broek and Jaap Bakema, was completed in 1950 and was considered an expression of Rotterdam’s postwar recovery. (Broek/Bakema 1950: 191–199) The title of an article published in Catholic daily De Tijd expressed the civic importance of the project: “City with Harbor Again Becomes a Harbor City” (“Stad met haven wordt weer havenstad” 1950: 5)—and in an essay published in the architecture journal Forum, van den Broek and Bakema also emphasized that it was in response to the destruction of 1940 that their exposition architecture was directed.5 The Ahoy’-hal’s inaugural exhibition drew a remarkable 1.657.000 visitors between June 15 and August 31, 1950. (Paalman 2010: 212) It was composed of several portions devoted, among other topics, to the history of the city, the story of new European economic cooperation, and Rotterdam’s harbor. (“Rotterdam bewijst ook door Ahoy” 1950: 3) Coverage of this first show conflated the city’s reconstruction and the victory of democratic values more generally. In a special edition of Het Vrije Volk, printed on site at the exhibition, a welcome message in several languages reads, “West-Europe has suffered. West-Europe seemed to be on her knees. We had to concentrate on the rebuilding of economy and morale. It is this, that Rotterdam shows you 4 | Oud’s changed, postwar relationship to notional “democracy” and the singular architect is demonstrated in the 1952 essay, “Building and Teamwork.” Here he argues that teamwork detracts from “the greatness of architecture as such,” and, further, that teamwork signifies, “a decline in spiritual quality.” He refers to Wright. “Has anyone ever heard of a ‘Frank Lloyd Wright team,’” he asks. And then, in quick response, “I think not!” “An edifice which has power to move us profoundly cannot result from teamwork,” he concludes. “For this, the individual is necessary, with his imaginative power, his energy, his passion.” (Oud 1958: 146) 5 | The project was marked by a collaboration between several notable artists and architects—including Karel Appel and Aldo van Eyck. (Broek/Bakema 1950: 191–199)

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Rachel Julia Engler at Ahoy’. It demonstrates how we feel one with you all in the struggle for wealth and for a free democratic Europe. It is in this sense that we welcome you.” (“Soyez les bienvenus!” 1950: 1)

Inscribed into this publication were both the city’s collective perseverance and a specific postwar moment in which the city’s reconstruction could be understood as an emblem of the new Atlanticism. On the second page of another pamphlet there was a “greeting” from the Economic Cooperation Administration (ECA), the agency that administered the Marshall Plan (Selva 2011). The greeting was decorated at its bottom with an American flag marked “for European recovery, supported by the United States of America.” The insert notes with pride that the exhibition “makes evident what can be achieved in five years through hard work and cooperation.” Rotterdam’s persistence was considered righteous and questions of its reconstruction were tied to the politics of American-sponsored economic programs. All of this was the backdrop to an exhibition meant to entertain its visitors. Like the harbor celebration and the Ahoy’ project more generally, the Wright exhibition can be understood as a bolster to a narrative of the city’s revitalization. As Kaspar Niehaus wrote in his review of Wright’s exhibition in De Telegraaf, “The motto of Rotterdam could be, ‘We build.’ So it was well within reason to bring the exhibition of Wright to the Rotterdam Ahoy-building.” (Niehaus 1952: 7) “Sixty Years of Living Architecture” opened in Rotterdam on July 2, 1952 with a speech by American ambassador Seldin Chapin and leaders of industry and trade in attendance. Chapin’s opening remarks emphasized the ideological content of Wright’s work over the specific qualities of the architecture on display. “You shouldn’t expect any technical explanations from me,” the ambassador said, “but they’re also not necessary. More important are the ideas in this work, the broad horizons.” Dutch, Americans, and others, Chapin said, are “building in this same spirit, toward a more peaceful future” (“Ambassadeur opent tentoonstelling van Frank Lloyd Wright” 1952: 3). Oud, the exhibition’s supervisor, also evoked democracy in his opening remarks. He felt that Wright had always considered himself an “architect of democracy” and, further, that the American “understands this to mean the possibility for each individual to be able to freely develop himself” (ibid). It was in this language of freedom, individuality, and a specific conception of democracy that the Wright show was framed from its beginning. In his contribution to the exhibition catalog, for example, Oud observes that while many of Wright’s early works had been houses for wealthy people, Wright’s self-designated “organic architecture” was the essence of the architect’s service to a democratic community. “Our time particularly emphasizes an architecture of social justice,” Oud writes, but “we need to be grateful to

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Wright for that wonderful example of a genius architect who in a time of blatant pragmatism always knows delight via a limitless idealism.” (Academie 1952) In this assessment, Oud’s characterizations of the American suggest the conflicted quality of Wright’s political orientation. Just as compelling is the foreword composed by Wright himself, ambitiously titled “To Holland” 6 In this text, which collapses Dutch architectural history into four names—Oud, Dudok, Wijdeveld, Berlage—and is alternately marked by bravado and contrived humility, Wright presents his intentions for the exhibition and rather impressionistic reflections on the Netherlands and its “essence.” Holland, in Wright’s personal mythology, was a place where his genius was precociously recognized, a place therefore deserving of admiration. In the United States, Wright notes, his own work, “was not recognized by its own provincials before that dawning had been noticed and approved in Europe”. (Wright 1952a) “Visiting America,” Wright begins, “the eminent Dutch architect Berlage raised his voice in praise. Said he, ‘The two things which impressed me most in the United States were Niagara Falls and [Wright’s; author’s note] Larkin Building.’” Because of this endorsement, “Holland,” Wright wrote, “will always have a warm place in my heart and due respect from my head.” He continues, “One of the truly independent Democracies on earth, she has suffered and shared much that is to be the soul of the new world-order.” Here Wright describes an implicit connection between “the great cause nearest our hearts today: world-peace” and “the principles of Organic Architecture, […] which lie in the core of the freedom that we call Democracy.” He concludes this reflection with a patronizing ode to the “mighty little nation, […] so right and so strong. […] Of your welcome,” he writes, “I feel assured because your feeling for truth and beauty has never yet failed you as a nation nor will ever fail humanity.” In a foreword composed in seeming parallel to the “To Holland” text described above, a short essay entitled “To Germany,” we see something of the depth of Wright’s political disorientation. In the text, composed for the Munich exhibition catalog, Wright continually links Germany and Japan, as if recent wartime alignment were somehow inherent to their cultural positions and could be tracked in architectural enthusiasms. Making what he must have felt was a noble reflection on horrors only just past, Wright wrote, “now the profound in Old German Culture must come back to us all again. I have never doubted but it would come, refreshed by destruction and defeat, strengthened and purified by agony.” He continues, proposing that “she,” Germany, “take her rightful leadership where she belongs in the ranks of Democratic Nations. Old Germany, never faltering, has been and is still my love and my hope.” (Wright 6 | Oud solicited this text from Wright directly. J.J.P. Oud to Frank Lloyd Wright, May 24, 1952, Wright Archive.

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1952b) Wright’s contribution to the Munich catalog underscores the confusion legible in his “ode” to Holland. When read together the two texts make the traveling exhibition’s imagined political stakes—and Wright’s confused sensibilities—particularly evident. The Rotterdam exhibition comprised 152 works, including representations of projects spanning Wright’s career, from the 1891 Charnley House to a maquette of the Guggenheim Museum, yet to be built (Fig. 1, Fig. 2). Fig. 1, Fig. 2: Installation view of Sixty Years of Living Architecture at Ahoy’, Rotterdam, 1952

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There were drawings, gigantic photographs (Schelling 1952), wood panels from the Wright studio, and models, most notably a model of Broadacre City, built at a scale of 1:1.000 and described in the exhibition catalog as “Wright’s protest against the inhumane density of the American metropolis”. (Academie 1952) A small fountain in the center of a pool lined with marsh grass was installed adjacent to the Ahoy’ building’s red brick walls and was meant to evoke the “falling water” that gave Edgar Kaufmann’s home its name. In one photograph of the exhibition we see a parrot turned away from the camera, his tail feathers a remarkable extrusion even in black-and-white silhouette. Beside his perch there is a little desert garden: shrubs and a thin spiny cactus rising up from sand packed into a walled plot. In another image three palm-like succulents with sharp leaves stand, a bit lonely, before a half-built masonry wall. In the distant background is a photographic reproduction of one of Wright’s residences. The cacti in the foreground make an uncanny supplement to the hanging vines and plant life depicted in the image. This attempt to situate the projects in an organic context instead leaves the work in a strange and schematic American west, a west of dramatic waterfalls, a west in which parrots sit docile amidst succulents. Oud wrote to Wright to describe this staging: “There is a little waterpool (with a-working-fountain) in the hall; there are a lot of beautiful flowers, plants, cactus, a bit of rock-parties a.s.o. At the end of the hall there is some part of living nature by two parrots. No don’t be afraid: it does not at all look like ‘kitsch’ but it gives the whole show a bit of the atmosphere that your houses must have in reality.” 7

These plants— and animals—were meant not only to evoke the works’ original contexts, but also to make the exhibition, as Oud wrote, “more lively and attractive for a broader public.”8 Much of the press coverage of the Wright exhibition framed it accordingly, as an opportunity for spectacle. In August of 1952, for example, Het Vrije Volk noted the ten-thousandth visitor to the exhibition, a Rotterdam man who received a book as a prize for this accidental accomplishment. (“Tien duizend mensen bij F.L. Wright” 1952: 5) Streetcars flew flags advertising the exhibition9 and there were even postage stamps specially designed for the show.10 In this way, the Wright exhibition instigated and participated in a total complex of civic stimulus. 7 | J.J.P. Oud to Frank Lloyd Wright, July 3, 1952, Wright Archive [accentuation by the author]. 8 | Ibid. 9 | B.P. Willebeek Le Mair to Frank Lloyd Wright, June 30, 1952, Wright Archive. 10 | J.J.P. Oud to Frank Lloyd Wright, July 3, 1952, Wright Archive.

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In the context of this blockbuster exhibition and the everyday reality of urban reconstruction in the postwar Netherlands, the popular press was a revealing gauge of the exhibition’s impact and of the American architect’s relevance. These articles also indicate the political framework within which Wright’s work was understood. Reviews in Het Vrije Volk, a democratic-socialist newspaper, tended first to focus on Wright’s overwhelming arrogance, second on his theories of freedom. One article titled “Frank Lloyd Wright, I am the world’s greatest architect” begins with a description of the architect as sharp-tongued, arrogant, and volatile. He was, the newspaper reports, “not a sympathetic figure” (Blijstra 1952: 5). The article also sought to expose the discord between Wright’s outspoken devotion to the project of democracy and his ego and relations to capital. In a section entitled “Expensive Clients,” the author trivialized Wright’s accomplishments to emphasize how much of his work was directed toward the wealthy. This is no friend of the people, we understand. The author continues with a critique that becomes a general critique of American wealth. “And so,” it begins: “Wright became an architect of the millionaires who had enough money to have him build villas for them, villas that actually could only ever be afforded in America, the Roman Empire of our modern time.” (Blijstra 1952: 5)

In his review of Wright’s work in De Telegraaf, Kaspar Niehaus wrote, “Wright’s art is […] a ‘high life’ architecture; for this reason alone it can have no followers in our country.” (Niehaus 1952: 7) The architecture presented in the exhibition was repeatedly characterized as not only for the wealthy but also as distinctly American. Indeed, Wright’s exhibition was directly tied to American initiatives in postwar Europe. As Maristella Casciato (1999: 84) describes of the Wright exhibition in Italy, a congresswoman, Clare Booth Luce, later ambassador to Italy, argued that “faced with an Italy perilously balanced between democracy and renewed authoritarianism [there was the necessity to promote; author’s note] a cultural project that would serve a double purpose: to propagandize the creative power of an American genius and to demonstrate that this genius had developed as a result of life in a free country.” Further, the relative economic stability that facilitated such opulent construction as Wright’s work represented seemed unthinkable outside of the increasingly powerful United States. It was in this quality, too, that Wright’s work came to carry some of its “national” character. Newspapers across the social spectrum remarked upon the exclusivity of many of Wright’s constructions. Among the religious newspapers, responses to Wright’s arrogance were particularly vivid. A review of the exhibition in the Catholic paper remarks upon the ways that Wright could be understood,

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among them as “the builder of choice for the happy (or unhappy?) few: industry magnates, film stars, fashion queens.” The review continues with “all the numerous and opulent variations with which [Wright; author’s note] seeks to satisfy these patrons: the sensational situations, the profusion of diverse and original decoration, the complications of extensive plans that may, in addition to mild resentment or ridicule, even cast doubt on the artistic impartiality of their maker”. (Tillema 1952: 3)

In a review of summer exhibitions in the Reformed Protestant paper, the author makes the gloomy prediction that the “Supreme building client [i.e. God; author’s note] will surely burn [Wright’s; author’s note] work with fire, as he will recognize the insane arrogance as an attack on his majesty.” (“Zomertentoonstellingen” 1952) In a city occupied with providing adequate housing, the presentation of magnificent villas appeared, to many, nearly senseless. Falling Water in particular was the object of wonder in this regard. Niehaus, for example, notes that “such a house above a waterfall” approached the “borders of the absurd.” (Niehaus 1952: 7) If he hesitated to find anything particularly aesthetically objectionable in the villas, the exclusive nature of the designs nevertheless permeated their critical assessment. Reading Wright’s urban theory against the reception of his exhibition by the Dutch press and the meaning imparted by the city of Rotterdam and its exhibition venue complicates Wright’s democratic posturing. It also reframes his exhibition and challenges the nature of its efficacy. How could Wright, who held deeply ambivalent views about cities themselves, have conceived of the destruction of urban space as such? In a lecture at Princeton in 1930, the architect had prophesied, “I believe the city, as we know it today, is to die […]. Our modern civilization, however, may not only survive the city but may profit by it […] the death of the city is to be the greatest service the Machine will ultimately render the human being.”

Wright presented fantastic scenes of destruction and imagined what future antiquarians would find amidst the ruins of our civilization: “Suppose some catastrophe suddenly wiped out what we have done to these United States at this moment”—“of the cherished picture we are making nothing of any significance would remain. The ruin would defy restoration by the historian; it would represent a total loss in human Culture”. (Wright 1931: 103, 113–115) While Wright had not had war in mind when offering this association of the machine and the destruction of the city, he had stumbled upon a morbidly prescient vision. It is this kind of reflection that characterizes Wright’s exhibition in Rotterdam, and Wright’s critics were keen to comment on this nearly willful blindness to

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the real efforts comprising postwar urbanism. Nathan Straus, responding to one of the architect’s publications, which he described as “a presentation of a mass of foggy ideas […] neither new nor relevant to any real problem,” wrote “What democracy actually has built is a closed book to Mr. Wright.” (Straus 1946: 105) If there was “democracy” at stake in the architecture presented, it was more significantly so in the popular architecture of the exhibition venue, in the narrative of collaborative postwar revival, and, on an international scale, in the story of ideologically motivated American support for Dutch and broader European recovery. After “Sixty Years of Living Architecture,” Ahoy’ hosted several other events and exhibitions, all popular in orientation (Paalman 2010: 215). This suggests that if the Wright exhibition presents a heroic survey of an oeuvre, “Sixty Years of Living Architecture,” as realized in Rotterdam, can more significantly be understood as part of this collective effort toward cultural and urban revitalization. In the case of the Rotterdam presentation of “Living Architecture,” Wright’s work and the polemical urbanism on display are above all content to be presented. The exhibition did not itself direct the course of discussion and decision-making in the postwar city. It was, instead, just one of a series of events and exhibitions meant to present a newly revived Rotterdam. The Dutch staging of “Sixty Years of Living Architecture” reveals the space between Wright’s theories of urbanism and the urban practices that surrounded the exhibition as it was lived.

B ibliogr aphy Academie van Beeldende Kunsten en Technische Wetenschappen: Frank Lloyd Wright. Rotterdam 1952. Dutch and English. Catalog for the “Sixty Years of Living Architecture” traveling exhibition, Ahoy’-gebouw, Rotterdam, July– August 1952. “Ambassadeur opent tentoonstelling van Frank Lloyd Wright”, in: Het Vrije Volk: democratisch-socialistisch dagblad, Thursday 3 July 1952, p. 3. Alofsin, Anthony (ed.): Frank Lloyd Wright: Europe and Beyond, Berkeley 1999. Behrendt, Walter Curt: “Frank Lloyd Wright”, in: Reed/Kaizen/Smith 2004, pp. 116–124. Blijstra, R.: “Frank Lloyd Wright: Ik ben ’s werelds grootste architect”, in: Het Vrije Volk: democratisch-socialistisch dagblad, Saturday 5 July 1952, p. 5. Broek, Johannes Hendrik van den/Bakema, Jacob Berend: “Rotterdam Ahoy’”, in: Forum. Amsterdam vol. 5, 5.6, 1950, pp. 191–199. Casciato, Maristella: “Wright and Italy: The Promise of Organic Architecture”, in: Alofsin 1999, pp. 76–99. Frank Lloyd Wright Archive. Avery Library, Columbia University, New York.

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English. Catalog for the “Sixty Years of Living Architecture” traveling exhibition, Ahoy’-gebouw, Rotterdam, July–August 1952 [without pagination; Wright 1952a. Wright, Frank Lloyd: “To Germany,” 1952. Wright Archive [without pagination; Wright 1952b] “Zomertentoonstellingen”, Gereformeerd Gezinsblad, 22 July 1952.

Schweizerische Baugesinnung Bescheidenheit als Ideologie Elena Markus

In der einschlägigen Literatur zur deutschen Nachkriegsarchitektur wird die Frage nach der Rolle der Schweiz meistens mit einer Fußnote oder einer beiläufigen Bemerkung beantwortet.1 Tatsächlich war die Einflussnahme der Schweiz im Unterschied zu jener von Skandinavien oder den USA nur von kurzer Dauer; sie fiel in eine Zeit des Übergangs und Ausprobierens, »in der die Traditionen und Kräfte der Vergangenheit überlagert wurden von Hoffnungen auf ein neues, anderes Leben«2, und welche mit dem Wirtschaftswunder in den 1950er-Jahren ein Ende fand. Zum Wiederauf baudiskurs gehörte unter anderem eine Auseinandersetzung mit den kompromittierten architektonischen Formen – vor allem angesichts der Ästhetisierung der Politik 3 im Dritten Reich – aber vor allem mit solchen Formen, die das demokratische Deutschland angemessen repräsentieren sollten. Die in den Krieg involvierten Länder wurden nach 1945 mit dem Verdacht gestraft, sich auf dem Gebiet der Ästhetik ebenfalls schuldig gemacht zu haben: »In many instances Germany’s neighbors had also been caught up in the wake of fascist architecture, even those who had remained more or less politically independent.«4 Vorbilder für eine neue – demokratische – Architektur wurden deswegen vor allem in den »unschuldig« gebliebenen Ländern gesucht. Wenn auch den USA die Vorreiterrolle bei den Leitbildern der neuen Massenkultur zukam, betreffs der Architektur stellte sich die Lage anders dar: Zwar bemühten sich die USA um die Popularisierung amerikanischer Architektur, jedoch sind in den ausgehenden 1940er-Jahren die »Beispiele eleganter Landhäuser und auftragender Verwaltungsbauten […] noch weit von den elen-

1 | Vgl. Hilpert 2008; Nerdinger 2005, S. 317; Hackelsberger 1985, S. 50f. 2 | Durth/Gutschow 1987, S. 9f. 3 | Vgl. Benjamin [1939] 1977, S. 44. 4 | Feuerstein 1968, S. 11.

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den Lebensverhältnissen in Deutschland und dem sparsamen Wiederauf bau entfernt.«5 Der Wiederauf bau der von schwerem Bombenangriff zerstörten Frankfurter Paulskirche, eines Nationalsymbols für Freiheit und Demokratie, spiegelte deutlich die Vorstellungen der neuen Republik wider; die erneuerte Paulskirche wirkte als Sinnbild für eine politische und kulturelle Neuausrichtung des Landes. Walter Kolb, der damalige Oberbürgermeister von Frankfurt, bezeichnete den Wiederauf bau als eine Anstrengung »eines großen Volkes«6: Für den Wiederauf bau der Kirche wurden innerhalb kurzer Zeit etwa 2 Millionen Reichsmark und über 300 Materialspenden gesammelt.7 Den Entwurf von der »Planungsgemeinschaft Paulskirche« unter der Leitung von Rudolf Schwarz beschreibt Baukunst und Werkform als »Versprechen einer großen einfachen Form«:8 Zwei monumentale und symmetrisch zueinander angeordnete Treppen führen aus einer niedrigen Eingangsebene in den vereinfacht aufgebauten Vortrags- und Kirchensaal. Eine Zeltdecke aus radial angeordneten Holzstreben mit Oberlicht ersetzt die ursprüngliche, im Krieg zerstörte Deckenkonstruktion. Das Resultat lässt sich wie bei Schwarz als »erhabene Armut« und »bewusste Bescheidenheit« im architektonischen Ausdruck beschreiben.9 Auf der Suche nach Formen des »Gültig-Einfachen« der ersten Stunde diente womöglich die Baugesinnung der Schweiz als Orientierungshilfe; schließlich konnte die Propaganda vom »American Way of Life« in der ersten Auf bauphase kaum moralisch gerechtfertigt werden. Diese Suche nach einer humanen Haltung auf dem Feld der Architektur erklärt die Vorbildfunktion der neutral gebliebenen Länder, allen voran Schweden und die Schweiz, denn »[the; Anm. d. Verf.] tendency in those countries was to avoid extreme formulas in favor of a pleasant, casual, and human architecture, which contrasted sharply with the monumental pseudo-classicism of the totalitarian systems.«10 Alfred Roth attestiert schon 1940 in seinem Buch »Die neue Architektur« Ländern wie Finnland, Holland, Schweden und Schweiz besondere Fortschrittlichkeit, weil dort »die freie Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen und der Gesellschaft im Vordergrund« stünden und sie »ausserdem ein verhältnismässig gefestigtes soziales, wirtschaftliches, politisches Gleichgewicht und eine hoch-

5 | Durth/Gutschow 1987, S. 38; der Katalog zur Architekturausstellung »1932–1944 in USA erbaut« wurde 1944 vom Museum für Moderne Kunst in New York herausgegeben und erschien 1948 in deutscher Übersetzung. 6 | Kolb 1948, zit. n. Falser 2008, S. 75. 7 | Vgl. Falser 2008, S. 75. 8 | Vgl. N.N. 1947, S. 99. 9 | Bartning /Leitl/Schwarz/Tessenow u. a. 2003, S. 46. 10 | Feuerstein 1968, S. 11.

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stehende Technik« besäßen, zugleich aber nicht »von einer grossen geschichtlichen und baukünstlerischen Tradition« gestört seien.11

D ie W ander ausstellung »S wit zerl and : P l anning and B uilding E xhibition « Anhand der Vorgeschichte sowie der Rezeption der Wanderausstellung »Switzerland: Planning and Building Exhibition«, die im Jahr 1946 zuerst in London, und anschließend in Kopenhagen, Warschau, Stockholm, Luxemburg, Basel, Rom und Köln gezeigt wurde, und parallel in einer einfacheren Form durch weitere europäische Städte wanderte12, wird im Folgenden ein Versuch unternommen, die Bedeutung von schweizerischer Architektur in den ersten Nachkriegsjahren in Deutschland zu rekonstruieren. Die Wanderausstellung wurde vom Bund der Schweizer Architekten (BSA) konzipiert und mit einer beträchtlichen Summe durch die schweizerische Bundesregierung und die Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt.13 Der Pro Helvetia kam nach Kriegsende die wichtige Aufgabe zu, »das Heraustreten aus der kulturellen Réduitstellung«14 zu fördern. So markierte die Ausstellung den Beginn eines neuen Geschichtskapitels des Landes: den Ausbruch aus der Isolation, in welche sich die Schweiz in den 1930er-Jahren freiwillig begeben hatte.15 Man konzipierte die Architekturausstellung als eine repräsentative Gesamtdarstellung: Betont wurde die Kontinuität der schweizerischen Bauproduktion während des Krieges, aber auch eine Sonderposition der Schweizer Architektur in den 1930er-Jahren. Organisiert wird die Ausstellung nach dem Prinzip einer »Vielfalt in der Einheit«16 der baulichen Produktion: »Vielfalt der Landschaft und kulturelle Vielfalt (drei Kulturen, vier Sprachen) begründen eine vielfältige autochthone Bautradition. Danach findet sich die neuere Bauproduktion nach Bauaufgaben (Wohnen, Erziehung, Erholung, Gesundheit, Religion) geordnet. In den Katalogen wird den Texten zu den verschiedenen Aufgaben und Aspekten des schwei-

11 | Roth 1940, S. 4. 12 | Unter anderem in Deutschland, Frankreich, Italien und Jugoslawien; vgl. Doka 1956, S. 248. 13 | Boissonas 1964, S. 184: »La Confédération ouvrit un crédit spécial pour cette exposition qui entraîna des frais de plus de frs 100.000.-, dont frs 65.000.- á la charge de Pro Helvetia.« 14 | Ebd., S. 9. 15 | Vgl. Pro Helvetia 1964, S. 9-16, 184f., 194-207. 16 | Maurer 2007, S. 247f.

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Elena Markus zerischen Bauwesens regelmässig Geschichte und Staatskunde […] vorangestellt als unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis der einheimischen Baukultur«.17

Traditionell hohe technische Qualität und sorgfältige Ausführung wurden gleich zu Anfang des Katalogs durch Peter Meyer, einem angesehenen Architekturkritiker in den 1930er-Jahren und Redakteur der Zeitschrift Das Werk (bis 1942) betont: »The present exhibition is devoted to recent Swiss work, hence history must only be referred to insofar as its effects are visibly present today. Even before the war, visitors to Switzerland were struck by the high technical quality and careful finish of our public and private buildings.«18

Die Bescheidenheit im Ausdruck wurde als eine moralische Verpflichtung interpretiert: »The architecture of Switzerland has few peaks, but an unusually high average quality; that is the reflection of Swiss democracy«19, bemerkt Meyer 1946 –, die Kontinuität der demokratischen Staatsordnung soll ein entscheidender Grund für die architektonische Qualität sein. Nicht ohne Stolz notiert Meyer das »eigenartige Talent der Schweizer«, eine große Aufmerksamkeit den kleinen Dingen zu widmen, wie zum Beispiel »flower-beds in streets and public places, good lettering over shops«20, die nichtsdestoweniger für die Gesamtwirkung von großer Wichtigkeit seien. Die Aufmerksamkeit den kleinen, alltäglichen Dingen gegenüber setzt er mit der langen demokratischen Tradition der protestantischen Schweiz gleich. Die politische Ordnung und der Nationalcharakter werden gar zu einer Einheit erklärt: »The Swiss House, whilst of a certain soberness, which is also typical of the national character, shows a loving care in the handling of its details«, schreibt Max Kopp im Katalogkapitel zur Architektur der Wohnungsbauten.21

17 | Ebd. 18 | Meyer 1946, S. 4. 19 | Ebd., S. 6. 20 | Ebd., S. 5. 21 | Kopp 1946, S. 29.

Schweizerische Baugesinnung

G eistige G emeinschaf t : S chweizerische L andesausstellung 1939 Die Idee einer »geistigen Gemeinschaft«22 stieg in der zweiten Hälfte der 1930erJahre zum Leitgedanken auf. Die Eidgenossenschaft deklarierte sich selbst, im Gegenzug zur Rassenlehre der Nationalsozialisten, als ein »Werk des Willens«, welches nicht »auf biologischen, sondern auf geistigen Grundlagen« beruhe.23 Abgesehen von seiner neutralen Haltung gehörte zur Sicherheitspolitik des kleinen, von mehreren Großmächten umgebenen Staates, eine Strategie, die das mehrsprachige Land vor allem ›geistig‹ mobilisieren sollte: die »Geistige Landesverteidigung«. Dafür wurde 1938 die vom Bund subventionierte Kulturstiftung namens »Pro Helvetia« ins Leben gerufen, deren primäre kulturpolitische Aufgabe es war, ein Gegengewicht zur staatlichen Propaganda der Nachbarstaaten zu bilden.24 Der schweizerische Bundesrat Philipp Etter umriss 1938 das Programm der »Geistigen Landesverteidigung« folgendermaßen: »Ist die bewaffnete Verteidigung des Landes […] ausschliesslich eine Sache des Staates und primär Aufgabe des Landes, so möchten wir die geistige Landesverteidigung primär dem Bürger; dem Menschen; der freien Entfaltung des Geistes überlassen. […] die geistigen Kräfte des Landes [sollen; Anm. d. Verf.] sich selbst mobilisieren und in die gemeinsame Front der Verteidigung einordnen.« 25

Die Abwehr des Einflusses totalitärer Ideologien sollte durch eine Stärkung des schweizerischen Staates ›nach innen‹ erfolgen; Jean Rudolf von Salis, von 1952 bis 1964 Präsident von Pro Helvetia, konstatierte rückwirkend: »Damals mehr als je tat die Besinnung auf die Werte einer freien und föderalistischen Demokratie und eines sprachlich-kulturell nicht einheitlichen, aber eigenartig geprägten Geisteserbes der ganzen Nation vor allem not.«26 Mit der Schweizerischen Landesausstellung in Zürich im Jahr 1939, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, erhielt die Politik der »Geistigen Landesverteidigung« eine Gestalt, die für mehrere Jahrzehnte nicht nur die Entwicklung der schweizerischen Architektur beeinflusste, sondern auch über die Grenzen der Schweiz hinaus wirkte. Der gestalterische Ausdruck galt der 22 | Etter 1964. 23 | Doka 1964, S. 38. 24 | Vgl. Botschaft des Bundesrates Dr. Etter über die Organisation und die Aufgabe der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung vom 9.12.1938, in: Bundesblatt Nr. 50 vom 14.12.1938, https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazet ​t e/1938/ index_50.html (Aufruf am 29.10.2017). 25 | Ebd. 26 | Salis 1964, S. 9.

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Zurschaustellung einer ›wehrhaften‹ und zugleich ›tugendhaften‹ Schweiz, wobei den planenden Architekten die entscheidende Rolle nicht nur bei der baulichen Ausführung, sondern auch bei der Erstellung des Gesamtkonzepts der Ausstellung zukam: Zum Ausstellungsleiter wurde der Architekt und Politiker Armin Meili ernannt, als Chefarchitekt fungierte Hans Hofmann, der vor allem weitere Mitglieder des BSA in die Planung mit einbezog.27 Demokratische Gesinnung wurde hier regelrecht zur Architekturform: Meyer, der die Ausstellung in zehn Ausgaben der Zeitschrift Das Werk beleuchtete, betont, dass die Darstellung der Geschichte und Leistungen des Landes »zwar reich und festlich und stolz, aber zugleich sachlich-nüchtern« erfolgt sei.28 Die Landesausstellung bestand aus zwei Teilen, die jeweils rechts und links am Ufer des Zürichsees platziert waren. Die Zweiteilung ergab sich aus einer pragmatischen Überlegung, da sich die gesamte Schau nicht an einem Ufer unterbringen ließ; später jedoch wurde sie zum Hauptgrund des großen Erfolgs der »Landi« mit einer linksseitig gelegenen traditionellen und einer rechtsseitig gelegenen modernen Seite deklariert. Das Rückgrat der Ausstellung bildete die »Höhenstrasse«, die durch den Chefarchitekten Hofmann realisiert wurde: Auf einer Strecke von 700 Metern band diese aufgestelzte Flaniermeile verschiedene Pavillons zu einer Raumsequenz zusammen, in der nicht Industrieerzeugnisse, sondern Botschaften zur geistigen Landesverteidigung im Vordergrund standen. Die »Landi« zeichnete, so Meyer, ein fruchtbarer Umgang mit dem »fundamentalen Problem der Monumentalität«29 aus, im Hinblick auf neoklassizistische Bauten der Nationalsozialisten einerseits und eine entschieden antimonumentale Haltung der Architektur der klassischen Moderne andererseits. Die Abwesenheit von monumentalen Architekturen auf der Landesausstellung war auf den erzieherischen Charakter ihrer politischen Bestimmung zurückzuführen. Das zeigte sich Meyer zufolge auch daran, dass die Ausstellung kein Hauptportal, sondern mehrere unscheinbare Eingänge besaß: »Monumentalität bedeutet Absonderung vom Alltag […]. Darum gehört die Betonung des Eingangs zu den wichtigsten Requisiten eines jeden Monumentalstils. Die Türöffnung als solche gibt den Zugang frei, ihre monumentale Umrahmung, ihre über menschliches

27 | Sowohl Meili als auch Hofmann waren Mitglieder des BSA, außerdem gehörten 28 der 32 teilnehmenden Architekten ebenfalls dem BSA an. Architekten wie Hermann Baur, Hans Leuzinger, Rino Tami, Emil Roth oder Hans Fischli wurden zur Teilnahme an der Landesausstellung aufgefordert. 28 | Meyer 1939a, S. 132. 29 | Ebd., S. 322; vgl. Moravánszky 2015.

Schweizerische Baugesinnung Mass vergrösserten Bronzeflügel warnen aber und mahnen, sich diesen Schritt ernstlich zu überlegen, sie sollen eher abschrecken und Ehrfurcht gebieten als anlocken.« 30

Auch die Leichtbauweise der Holzpavillons wurde hervorgehoben: als »programmatisch ephemer, unheroisch und zeitgemäss schweizerisch«31 (Abb. 1). Abb. 1: Der »Pavillon der Frau« an der Höhenstraße, Landesausstellung, Zürich, 1939

Diese Landesausstellung wurde von den beteiligten Architekten zur Geburtsstätte einer »Nationalmoderne« erklärt. Nicht nur eine Distanzierung von den nationalsozialistischen Architekturtendenzen, sondern auch von einer explizit modernen Haltung – die als überwunden erklärt wurde – waren bei der Landesausstellung zu beobachten. Im offiziellen Katalog der Ausstellung vermerkte Meili: »Die liebevolle Einpassung in das herrliche Gelände ließ eine intime und ungezwungene Architektur entstehen, die man am liebsten ›Schweizerische Baugesinnung‹ nennen möchte.«32 Die gemäßigt modernen Architekturen dieser Zeit bezeichnete Hofmann 1946 rückblickend als eine Weiterentwicklung des »Technischen Stils«33: »To-day we think of the Modern Movement as already 30 | Ebd., S. 320. 31 | Meyer 1939c. 32 | Meili 1939, zit. n. Moos 1979, S. 47. 33 | Vgl. Meyer 1944.

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belonging to the past.«34 Die Schwächen eines vermeintlich zu theoretischen und zu dogmatischen Zugangs zur Architektur in der ersten Periode der Moderne werden laut Hofmann überwunden, indem man sie an die charakteristischen Bedingungen des Landes anpasst. Diese Rückzugsstrategie zugunsten eines »inneren Zusammenhalts« der Nation erwirkt eine Versöhnung von Tradition und Moderne, folgerte Meyer, und begriff die Landesausstellung als »im besten Sinn schweizerisch und im besten Sinn modern«35. Denn »offensichtlich diente diese Modernität gerade dazu, die vaterländischen, traditionellen, volksmässigen Inhalte auf die denkbar überzeugendste, wirkungsvollste Art zur Anschauung zu bringen, so dass sich das eine nicht vom anderen trennen lies«.36 Eine Sparsamkeit im architektonischen Ausdruck wurde außerdem betont: »Auf den ersten Augenblick mochte diese Bescheidenheit enttäuschen – aber sie entsprach durchaus dem Geist des Ganzen.«37 Abb. 2: Das Titelbild der Zeitschrift Baumeister vom November 1948

34 | Hofmann 1947, S. 10. 35 | Meyer 1939b, S. 133. 36 | Meyer 1939a, S. 322. 37 | Ebd., S. 324.

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D er gute D urchschnit t Die moderate schweizerische Architektur der 1930er- und der ersten Hälfte der 1940er-Jahre – ›der gute Durchschnitt‹ – bleibt 1946 ein Garant für die Aufrechterhaltung von demokratischen Werten: »Switzerland is poor in buildings of supreme artistic quality. We have a large number of interesting and pleasant buildings of all epochs and styles, but few of them can stand the comparison with the outstanding monuments of style in the neighbouring countries. […] That is the origin of the solid ›goodness‹ which is the basic principle of our architecture and, with few exceptions, its limitation.« 38

Unter den schriftlichen Zeugnissen der Rezeption der (kurzlebigen) Wirkungsmacht der Schweizer Architektur findet sich die Novemberausgabe 1948 der Münchner Zeitschrift Baumeister (Abb. 2). Die Ausgabe behandelt die Architektur von Schweden und der Schweiz »durch die Fenster unseres ruinösen Hauses« Deutschland: »Wir können über den Zaun, der uns von den Nachbarvölkern trennt, wenigstens hinüberschauen in fremde Gärten, die blühen dürfen, während unser Boden für die Ernährung eines wahnsinnigen und kulturmordenden Krieges missbraucht wurde.«39 Lernen von den neutral gebliebenen europäischen Nachbarländern lautet nun die Devise: »Lernen können wir aber viel weniger jenseits des Ozeans, wo in Wirtschaft und Gesellschaft uns fremde Prinzipien herrschen, als bei unseren europäischen Nachbarn.«40 Der Bericht über die zeitgenössische Schweizer Architektur bezieht sich auf die in München präsentierte Wanderausstellung »Schweizerische Architektur seit 1930«, konzipiert von SIA41, BSA und der Architekturabteilung der ETH Zürich unter Mithilfe von Pro Helvetia. Ihre Ausstellungsintention beschrieben die Schweizer Kollegen in einem Brief, der von der Baumeister-Redaktion wohlwollend und unkommentiert veröffentlicht wurde: »Ganz kurz gefasst, kann man vielleicht sagen, wir haben versucht,​ den ›technischen Stil‹ der zwanziger Jahre zu vermenschlichen und ihn den bleibenden Gegebenheiten unseres Landes und unseres Volkstums anzupassen, einen Ausgleich zu finden zwischen Tradition und Technik.«42

38 | Meyer 1946, S. 5. 39 | Pfister 1948, S. 409. 40 | Ebd. 41 | Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein. 42 | Max Kopp, Alfred Gradmann, Hans Hofmann, zit. n. Pfister 1948, S. 409.

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1951 erschien das Buch »Schweizer Architektur« von Hans Volkart43, der in dieser Zeit als Architekt und Hochschullehrer in Stuttgart tätig war. Das Buch präsentiert das schweizerische Bauschaffen unter offensichtlicher Bezugnahme auf die Wanderausstellung von 1946 und die Wortwahl des dazugehörigen Katalogs.44 Die kulturelle Strategie der Schweiz erweist sich als durchaus erfolgreich: Die Selbstdarstellung der Eidgenossenschaft wird auch außerhalb des Landes als ein (architektonisches) Vorbild verinnerlicht.45 Nach Volkart fällt der Schweiz unter den »kleinen Länder[n] abseits der großen Geschichtslandschaft« eine besondere Rolle für die deutsche Architektur zu, gerade aufgrund der räumlichen, sprachlichen und geistigen Nähe der beiden Länder.46 Angesichts der Vereinnahmung der klassizistischen Architektur durch die Nationalsozialisten zeichnet Volkart in seinem Buch das Bild eines »ur-demokratischen« Staates, der eine jahrhundertlange demokratische Tradition besäße und niemals unter einer autokratischen Regierung gestanden habe. Das Bild setzt er gleich mit einem moderaten Architekturausdruck, der sich auszeichne durch: bescheidene Materialien, unspektakuläre Formen, die Synergien von modernen und traditionellen Elementen; also all die Eigenschaften, die als Nachweis einer demokratischen und insofern nachahmungswerten Baugesinnung dienten.47

N e w D irections : E rneuerung der M oderne Bezeichnend ist die seit den 1980er-Jahren erfolgte entgegengesetzte Einschätzung der Wirkung des schweizerischen Architekturschaffens im Deutschland der Nachkriegszeit. Dafür charakteristisch ist die Untersuchung von Christoph Hackelsberger über die deutsche Architektur der 1950er-Jahre und den Konflikt zwischen den Traditionalisten und den Modernen, wobei seine Sympathien zweifellos den Vertretern der Moderne gelten.48 Den Einfluss der Schweizer Architekturvorbilder auf erste Entwürfe im demokratischen Deutschland interpretierte er als eine unbefriedigende Zwischenlösung, etwa bei der Beurteilung von Ergebnissen eines Ideenwettbewerbs, der im Rahmen des Marschallplan-Wohnbauprogramms im Jahr 195149 von der Economic Cor43 | Volkart 1951. 44 | Die deutsche Ausgabe des Ausstellungskatalogs von 1946 erschien ein Jahr später unter dem Titel »Schweizerische Architektur-Ausstellung«. 45 | Vgl. Maurer 2007, S. 256. 46 | Volkart 1951, S. 5. 47 | Vgl. Volkart 1951, S. 8-10. 48 | Vgl. Hackelsberger 1985. 49 | Vgl. Nerdinger 2005, S. 87f.

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poration Administration (ECA) zusammen mit dem deutschen Bundesministerium für Wohnungsbau ausgeschrieben worden war: »Formal waren die Bauten wenig aufregend. […] Typisch vor allem für den Schweizer Einfluß ist auch bei nun vereinzelt auftretenden Flachdächern die weit auskragende Betonplatte, welche den Bauten die kubische Strenge des Bauens der zwanziger Jahre nahm. Etwas papierern Kompromißhaftes entschärfte die lapidare Form klarer Baukuben.« 50

Die Architektur der Schweiz in den 1940er-Jahren perpetuierte »bürgerliche Lebensformen«51; das interpretierte Hackelsberger als Ausdruck von überlebten Gesellschaftsstrukturen, die einen schnellen Anschluss an die Architektur der Moderne in Deutschland verhinderten.52 Im Verlauf der 1950er-Jahre schwand die Bedeutung von Schweizer Architektur in Deutschland zunehmend – im Unterschied zu skandinavischen Ländern oder den USA. Schweden zum Vorbild zu erheben, erlaubte den deutschen Architekten nach 1945 einen Bezug auf den als ideologiefrei angesehenen »Nordischen Klassizismus« zu nehmen. Dort verbreitete sich seit den 1950er-Jahren allerdings ein »organisches Bauen«, das die klassizistischen Formen nach und nach verdrängte: Die Wohnsiedlung Vällingby mit ihrer aufgelockerten Baustruktur wurde schnell als Beispiel einer vorbildlichen kontemporären Nachkriegsarchitektur in zahlreichen Architekturpublikationen behandelt.53 Der Verlust der Vorreiterstellung der Schweiz im Ausland erfolgte zeitgleich zu einer ›inneren‹ Architekturkrise. Max Frisch, bekanntlich einer der größten Kritiker (der moderaten Haltung) der Schweiz, bewertete die Architektur der Landesausstellung 1939 zwar als »niedlich« gegenüber dem »barbarischen Monumentalismus im Dritten Reich«, aber zugleich bedeutete für ihn diese ›Niedlichkeit‹ »keine Fortsetzung des Bauhauses, keine Spur von Le Corbusier. Eine unberührte Schweiz, daher gesund wie ihre Kühe.«54 Im Vorfeld der kommenden Landesausstellung, die 1964 in Lausanne stattfinden und zum wiederholten Male die Idee einer »wehrhaften Schweiz« von 1939 übernehmen sollte, wurde die Kritik an einer »unreflektierten Neutralitätspolitik« laut.55 Die fehlende Radikalität einer Konsens gewohnten Nation, ob in Politik oder Architektur, bezeichnete Frisch als eine Mentalität, »nie etwas 50 | Hackelsberger 1985, S. 50f. 51 | Artaria 1947, S. 8. 52 | Vgl. Hackelsberger 1985, S. 9. 53 | Vgl. Durth/Gutschow 1987, S. 39; Nerdinger 2005, S. 325. 54 | Frisch 1970, S. 7. 55 | Vgl. Burckhardt/Kutter 1953; Burckhardt/Frisch/Kutter 1955; Burckhardt/Frisch/ Kutter 1956.

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Radikales auch nur zu wollen, geschweige denn es zu tun.«56 Ganz im Gegenteil herrsche »hierzulande ein Mythos des Kompromisses«, eine »Diktatur des Durchschnittlichen«.57 Frisch wie auch Lucius Burckhardt und Markus Kutter kritisierten nicht nur diese apolitische Haltung.58 Sie unterbreiteten 1955 in ihrem gemeinsamen Pamphlet »Achtung: die Schweiz« den berühmten Alternativvorschlag für die nächste Landesausstellung: »Im Ernst: gründen wir eine Stadt.«59 Stanislaus von Moos und Jul Bachmann konstatieren 1969 in der Publikation »New Directions in Swiss Architecture« den absehbaren Misserfolg der Stadtvision von Frisch, Burckhardt und Kutter. Für von Moos und Bachmann stand fest: »[…] the force of present Swiss architecture lies in its close combat with reality rather than in far-reaching strategy«.60 Die überholte Vorstellung von einem nationalen Stil der 1930er-Jahre – durch Bachmann und von Moos pauschal als Heimatstil bezeichnet – sollte durch zeitgenössisches Bauen in der Schweiz revidiert werden. Die neue Architektur müsste sich an Werken der ›großen Helden‹ orientieren, allen voran an Le Corbusier, Mies van der Rohe und Alvar Aalto.61 Die Autoren erhofften dadurch zwar eine Anbindung an die internationale Architekturszene, de facto führte aber diese Anstrengung, den ›spießigen Geist‹ der gemäßigten Moderne zu vertreiben, zum zeitweiligen Verschwinden der Schweiz aus der internationalen Architekturszene.

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56 | Frisch 1953, S. 325f. 57 | Ebd. 58 | Ebd. 59 | Burckhardt/Frisch/Kutter 1955, S. 22. 60 | Bachmann/Moos 1969, S. 14. 61 | Vgl. ebd., S. 16.

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Vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural Neue Forschungsansätze aus Museum, Akteur-NetzwerkTheorie und Architektursoziologie Regine Heß Ein regnerischer Tag im Sauerland 1954 (Abb. 1): Auf der Baustelle des neuen Gymnasiums drängen sich die Menschen unter Regenschirmen. Es ist Richtfest, und ganz Lennestadt ist gekommen. Architekt und Bauherren stehen im Rohbau und bewundern den Blick durch die Fensterwände auf die heimatlichen Berge – solcherart gerahmt hat man sie bisher nicht gesehen (Abb. 2). Der Architekt der Schule, Paul Schneider-Esleben, verkörpert den Typ des jungen Wilden von damals: die Haare nicht rasiert, den Kopf als Einziger unbedeckt. Abb. 1: Besucher/-innen beim Richtfest des Gymnasiums in Lennestadt, 1954

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Abb. 2: Paul Schneider-Esleben führt seine Auftraggeber durch den Neubau, Gymnasium Lennestadt, 1954

Fotografien wie diese sind ein seltenes Artefakt im Nachlass eines Architekten, die ihn »in der Öffentlichkeit« zeigen. Sie bieten den Anlass, soziologische Untersuchungsparameter zu nutzen, die über eine Biografie hinausweisen. Doch wie gelangt man von einer biografisch orientierten Architekturforschung zu einem multipleren Ansatz, der viele Akteure miteinschließt? Diese Frage soll unter verschiedenen Perspektiven diskutiert werden. Dazu wird der Begriff vom Akteur als handelndem Individuum auf den eines Akteurs erweitert, der in der Definition von Bruno Latour von vielen zum Handeln gebracht wird und ohne diese ›vielen‹ nicht zu denken ist.1 Die folgenden Überlegungen zielen also auf Wege ab, wie man eine handelnde Person in eine Gruppe einordnen kann, ohne ihre Bedeutung zu negieren, und zugleich die Wechselwirkung mit ihrer Umgebung beschreibt. Ziel ist die Gewinnung avancierterer Forschungsansätze im Bereich der Architekturgeschichte. Angestrebt wird dazu ein ›Forschungssetting‹, das jenen Verknüpfungen folgt, die sich durch die Analyse von Lebensgeschichten und Werken, durch historische Quellenarbeit sowie durch die Beschäftigung mit »Dingen« zeigen. Welche Vorarbeiten wurden dazu geleistet, sowohl in der eigenen Disziplin, der Architekturgeschichte und kuratorischen Praxis, als auch in der Soziologie? Der Aufsatz diskutiert die Medien Sammlung, Ausstellung und Oral History, biografische und prosopografische Studien sowie Ansätze aus der 1 | Vgl. Latour 2014, S. 81.

Vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural

Akteur-Netzwerk-Theorie und der Architektursoziologie. Es ist die Person von Schneider-Esleben, die durch ihr vielschichtiges Werk und Wesen nicht nur für die Tagung und diesen Band, sondern auch für die folgenden Überlegungen den Anlass gegeben hat. Seinem außergewöhnlich reichen Nachlass ist es zu verdanken, dass mithilfe von dessen Artefakten ein vielschichtiger Frageprozess in Gang gesetzt worden ist. Im Fokus steht die Epoche um 1945, deren enorme Problemhorizonte sich immer weiter nach außen zu verschieben scheinen: Zu Dan Diners starkem Narrativ vom »Zivilisationsbruch« gesellt sich neuerdings – aus ganz anderer Richtung kommend – das des »Anthropozäns«.2 Architektur spielt in beiden Narrativen eine kaum zu unterschätzende Rolle. Der Aufsatz argumentiert im Folgenden mit kleineren Einheiten, jedoch in dem Bewusstsein, dass »Postwar« hinsichtlich der Inhalte wie der Eingrenzung eine Herausforderung bleibt.

A k teure und A rchiv Die Ausstellung »Paul Schneider-Esleben. Architekt« des Architekturmuseums der TU München zählte während der drei Monate ihrer Laufzeit 2015 in der Pinakothek der Moderne rund 32.000 Besucher/-innen. Ausgestellt war der Nachlass, gegliedert in 25 ausgewählte Bauten und Projekte (Abb. 3). Abb. 3: Ausstellung »Paul Schneider-Esleben. Architekt«, Architekturmuseum der TU München, Pinakothek der Moderne, 2015

2 | Vgl. Zalasiewicz 2015.

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Der überwiegend in den Rheinlanden tätige Architekt war 2005 in Fischbachau in Oberbayern verstorben. Erst einige Zeit zuvor hatte er die Bekanntschaft des damaligen Direktors des Architekturmuseums der TU München, Winfried Nerdinger, gemacht und mit ihm die Übergabe seines architektonischen Nachlasses vereinbart. Wenige Jahre später begann die Erforschung dieser außergewöhnlich umfangreichen Hinterlassenschaft: Schneider-Esleben hatte von seinen frühen Zeichnungen 1936 bis zu seinem letzten Projekt 1999 nahezu alles aufgehoben, was er und seine Mitarbeiter/-innen produziert hatten, insgesamt ein Volumen von über 30.000 Zeichnungen, 150 Modellen und weiteren Materialien. »Sich mit dem Gesamtwerk Schneider-Eslebens zu befassen, heißt […], einen uomo universale kennenzulernen, wie es ihn heute kaum noch gibt.«3 Das schrieb (in der ihm eigentümlichen Überhöhung) 1987 Heinrich Klotz, der Gründungsdirektor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt a.M. (DAM). Klotz schätzte den Architekten in seiner Vielseitigkeit, die bis zu den Entwürfen von Schmuck und Segelbooten reichte, die er wie das architektonische Werk als Konstruktionsleistungen betrachtete. Klotz begann, Schneider-Eslebens Werk auszustellen und integrierte die Commerzbank-Zentrale in Düsseldorf (1966) und ein Fertighaus für die Mannesmann AG (1960) in seine Schau »Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion« 1986 am DAM.4 Im Katalog erscheinen diese Projekte zwischen denen von Jean Prouvé und Otto Steidle. Klotz betonte die »nach heutiger Kenntnis« bestehende Erstmaligkeit des Betonskeletts der Commerzbank mit vorfabrizierter »Karosseriefassade«, die »unabhängig von Prouvé« von Schneider-Esleben entwickelt worden und eine »die High-Tech-Stilistik vorwegnehmende Präfab-Fassade« sei.5 Solcherart argumentierend fügte Klotz Schneider-Esleben in eine Erzählung mit dem Titel »Konstruktion« ein, die sich nicht nur für Funktion, sondern auch für Fiktion und Utopie interessierte. Dieses die Gräben zwischen »Modernen« und »Postmodernen« nivellierende Ordnungswissen des Archivdirektors und Kunsthistorikers Klotz markiert auch einen der Forschungsstände der Architekturgeschichte der 1980er-Jahre (ein anderer wird weiter unten diskutiert), die mit der Analyse von Stilen oder anderer »Prinzipien« wie dem der Konstruktion operierte. Diese Form der Wissensproduktion machte es möglich, Architekturentwicklungen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sowohl synchron als auch diachron darzustellen. Klotz rahmte nicht nur ältere Werke wie das von Prouvé und jüngere wie das von Schneider-Esleben 3 | Klotz 1987, S. 7. 4 | Vgl. Klotz 1986, S. 296-303. Die dort angegebenen Jahreszahlen 1963 (Commerzbank) und 1953 (Fertighaus) haben wir durch die Nachlassforschung korrigieren können. 5 | Ebd., S. 296.

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mit einem gemeinsamen Kontext, sondern auch zeitgenössische Entwürfe der Postmoderne: Auf Steidle folgt schon Archigram – zugegebenermaßen in einem neuen Kapitel, aber innerhalb des gleichen umgebenden ›Settings‹, geformt durch Sammlung, Ausstellung und Katalog. Klotz’ kombinatorische Methodik erlaubte ihm, das Feld des auch biografisch fundierten Streits von »Moderne« und »Postmoderne« zu verlassen und die Komplexität zeitgenössischer Architektur anstatt einer Polarisierung der Positionen aufzuzeigen.6 Die Ausstellung bezog ihre Relevanz jedoch nicht nur aus der erweiterten und dem industrialisierten Bauen angepassten Stilanalyse, sondern auch aus Klotz’ persönlicher Nähe zu ihren Akteuren. Es trieb ihn der Wunsch an, nicht nur ihre Werke als Archivalien im Museum aufzubewahren, sondern auch ihre Stimmen als Tonspuren auf Band festzuhalten. Klotz bereiste die Studios und Büros vieler Architekten, kaufte vor allem bildmäßig ausgeführte Ansichtszeichnungen, konzeptuelle Skizzen und Modelle und führte seine Interviews. Diese mehrgleisige Sammelstrategie ist 2014 selbst Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung geworden: Die Jubiläumsausstellung »Mission: Postmodern. Heinrich Klotz und die Wunderkammer DAM« und die begleitende Ausgabe der Zeitschrift Arch+ unter dem Titel »Die Klotz Tapes. Das Making-of der Postmoderne« stellten Klotz als Akteur der Kulturpolitik, des Museumswesens, der Architekturgeschichte, des Sammelns und des Netzwerkbildens in den Mittelpunkt; so, wie er sich selbst in seinen Tonbandaufnahmen dokumentiert hatte.7 Klotz hatte 1985 als Grundlage seiner Schriften über Schneider-Esleben den Siebzigjährigen in dessen Haus »Octopus« in der Provence interviewt und vier Tonbänder angefertigt. Lauscht man den dort aufgezeichneten Gesprächen, werden die grundsätzlichen Probleme von »Oral History« als wissenschaftlich belastbare Quelle rasch deutlich. Denn möchte man sie zum Verfassen der Architektenbiografie heranziehen und gleicht sie mit anderen Quellen ab, driften Narrativ und »Wahrheit« auseinander. Zugleich tritt jedoch der soziale Zeugniswert hervor. Die Biografieforschung hat darauf hingewiesen, dass erzählte Erinnerung soziale Erinnerung ist, die zwischen Subjekten und nicht in einem Subjekt existiert.8 Eben das macht die Attraktivität von historischen Interviews aus, die als Ton- oder Bildspuren vor allem performativen Charakter haben: Sie zeigen die Akteure in Bewegung, bringen ihre Stimmen wieder zu Gehör und lassen erahnen, in welchem Verhältnis sie zueinander standen. Die enge Beziehung zu Klotz verschaffte Schneider-Esleben nach den 1950er-Jahren eine zweite Welle der Aufmerksamkeit. Auch eine biografisch

6 | Vgl. Klotz 1986, S. 9. 7 | Vgl. Klotz Tapes 2014. 8 | Vgl. Welzer 2010.

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angelegte Dissertationsschrift entstand.9 Darüber hinaus planten Klotz und Schneider-Esleben, den Nachlass ins DAM zu übernehmen. Doch das wurde nach Klotz’ Weggang vom DAM abgesagt.10 Und so kam der Werknachlass nach München und wurde von einer neuen Generation von Forscher/-innen aufgearbeitet, die weder Schneider-Esleben noch Klotz persönlich gekannt hatten. Sie schätzte die von Klotz erkannte Vorbildlichkeit des Werks neu ein: Schneider-Esleben galt ihr nicht mehr als Vertreter der Architekturmoderne des 20. Jahrhunderts, sondern als Architekt der Nachkriegsarchitektur. Diese Verortung in die Zeitgeschichte – jene historische Teildisziplin, die vor allem die Zeit seit 1945 erforscht – hatte Klotz, der ja selbst Teil dieser Geschichte war, nicht interessiert. Außerdem war für ihn die deutsche Nachkriegsarchitektur eine Misserfolgsgeschichte, auf die helles Licht erst durch postmoderne Architekten wie Oswald Mathias Ungers fiel.11 Ausnahmen wie Schneider-Esleben strahlten für Klotz in dieser Dunkelheit umso heller: In seinen Erinnerungen würdigte er ihn unter dem Titel »Meine Helden« als Vollzieher eines »entschiedene[n] Bruch[s] mit einem aus dem Dritten Reich herüberragenden Nachkriegsklassizismus«. Auch, so Klotz weiter, habe sich in Schneider-Eslebens Frühwerk »der Geist der fünfziger Jahre in solchem Maße verdichtet«, dass Klotz das Fazit zog: »Schneider-Esleben ist der Architekt der fünfziger Jahre«. 12 Heute ist diese Erzählung vom Künstler als Heroen, wie sie Ernst Kris und Otto Kurz bereits 1934 reflektiert haben, brüchig geworden.13 Trotzdem haben Klotz und seine Nachfolger/-innen sie fortgeschrieben und ihr noch neue Kapitel wie in der Ausstellung »Die Revision der Postmoderne. In memoriam Heinrich Klotz« (2005) angefügt. Die angesprochene Ausstellung »Mission: Postmodern« stellte sich außerhalb dieser Erzählung und arbeitete aus den Quellen die Netzwerke von Klotz heraus. Doch bleibt dessen Form der Geschichtsschreibung aufgrund ihrer Mehrdimensionalität ein Bezugspunkt.

B iogr afie und A rchiv Mit der zuerst von der Kunstgeschichte geäußerten Kritik am Modell vom avantgardistischen Akteur14 korrespondieren auch Schwierigkeiten der Biografie in der Architektur. Das zeigt auch ein Blick auf die Ausstellung »Paul 9 | Beckers 1995. 10 | Vgl. Briefwechsel zwischen Schneider-Esleben und Nerdinger im Archiv des Architekturmuseum TUM. 11 | Vgl. Klotz Tapes 2014, S. 69. 12 | Klotz 1999, S. 8 (Hervorhebung im Original). 13 | Vgl. Kris/Kurz [1934] 1995, S. 78. 14 | Krauss 1985.

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Schneider-Esleben«. Sie bezog ihren Erfolg weniger durch den in München wenig bekannten Namen, sondern durch das komplexe Ausstellungsdesign, die außerordentlich hohe Dingqualität der Exponate und die zahlreichen Interviewfilme zu Person, Familie, Büro und anderen Details aus dem Leben Schneider-Eslebens.15 Jener war auch ein Archivar des eigenen Lebens gewesen und hinterließ viele persönliche Erinnerungsstücke wie Briefe, Fotoalben oder Serviettenzeichnungen. Stadtpläne, Plastilinmodelle und Linoleumproben aus seinem Nachlass machten Gestaltung und Materialität der Epoche erfahrbar. Sie waren als Exponate der Ausstellung ebenso geeignet wie die Modelle und Zeichnungen seiner architektonischen Hinterlassenschaft und wurden zusammen auf großen, farbigen Tischplatten angeordnet, die Teil des Ausstellungsdesigns waren. Es sollte Schneider-Esleben kein Sockel zur Verehrung gebaut, sondern seine Bezüge – im Latour’schen Sinne auch einschließlich der Dinge – gezeigt werden. Im Ergebnis sollte also eine mehrdimensionale, keine biografisch-lineare Erzählung entstehen. Klotz’ Weise der Erzeugung neuer Perspektiven durch Interviews wurde auf Familienmitglieder, Freunde und Kollegen sowie heutige Nutzer seiner Gebäude ausgeweitet. Damit reichte die Ausstellung von Klotz’ Akteur im Singular zu Latours Akteuren im Plural und rekonstruierte Schneider-Eslebens Beziehungen – nach dem Tod des Architekten – von den Rändern aus in die Mitte. Die Ausstellung in München war ein Zwischenstand, um unter den Augen der Öffentlichkeit einen Überblick über die im Archiv vorhandenen Materialien zu gewinnen und zugleich die unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven auf das Werk zu testen. Im Anschluss wurden im Rahmen eines DFGForschungsprojekts weitere Archive zu Schneider-Esleben befragt.16 Ergebnis dieser Recherchen war, dass es außer dem gebauten Werk, dem Nachlass und der Zeitschriftenüberlieferung nur noch sehr wenige Zeugnisse zu SchneiderEsleben gibt – er blieb gleichsam unter dem Radar der allgemeinen Archivierung. Auch eine Entnazifizierungsakte hat sich nicht gefunden – es scheint, dass er nicht Teil des Verfahrens wurde.17 Die Schwierigkeit, heute eine Biografie zu schreiben, ist nicht nur durch die Kritik an dieser Erzählform, sondern 15 | Wetzel/Mayerhofer 2015, zusammen mit verschiedenen Interviewfilmen von Wetzel/Mayerhofer im Architekturmuseum der TU München. 16 | Landesarchiv NRW, Bundesarchiv Freiburg (Militärarchiv), Archiv der TU Darmstadt, Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW (A:AI) der TU Dortmund, Archiv des Deutschen Architekturmuseums, Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai), Universitätsarchiv Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Landesarchiv Berlin, Historisches Archiv des Erzbistums Köln. 17 | Anfragen an das Landesarchiv NRW, das Hauptstaatsarchiv Stuttgart, das Staatsarchiv Ludwigsburg sowie an das hessische Landesarchiv in Darmstadt und Wiesbaden wurden negativ beschieden.

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auch durch einen Mangel der Überlieferung begründet. Es bleibt dabei: ohne Architekturarchive keine Architekturgeschichte. Doch das Schreiben von Biografien benötigt mehr Wissensorte.

K ritische N e t z werkforschung Im Jahr von Klotz’ Ausstellung »Vision der Moderne« veröffentlichte Werner Durth sein einflussreiches Buch »Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970«.18 Ein Drittel des Buchs behandelt die Versuche der Architekten nach 1945, entweder ihre Verflechtung mit dem Nationalsozialismus zu verbergen oder als Verfolgte des NS-Regimes rehabilitiert zu werden. Im Mittelpunkt von Durths Untersuchung steht eine Gruppe von rund 25 Männern, die in Albert Speers »Generalbauleitung« und in seinem Wiederauf baustab zusammengearbeitet hatten. Das vielfach rezipierte Buch zeigte zum ersten Mal Architekten, die vom Nationalsozialismus profitiert und dazu ihre beruflichen und privaten Netzwerke genutzt hatten. Diese Art der Forschung dauert bis heute an, doch hat sie sich auf Biografien zu einzelnen Architekten verlagert; auch weil deren Nachlässe erst nach und nach zugänglich wurden. In diesen Untersuchungen zu Krisenphänomenen kann von einer vermeintlichen Krise der Biografie keine Rede sein: die Grabenkämpfe im Berufsstand und die schwierige Lage seiner Angehörigen während der Weltwirtschaftskrise, ihre mangelnde Solidarität mit verfolgten Kolleg/-innen, ihr übertriebener Korpsgeist und die Beugung unter die Diktatur, ihr finanzieller Profit und – bei Architekten in Regierungsfunktion – die Nähe zum Verbrechen, ihre (teils ausbleibende) Bestrafung sowie ihre »Karrieren im Zwielicht« (Norbert Frei) der Nachkriegsjahre. Das zeichnet auch die vor Kurzem erschienene Biografie zu Rudolf Wolters von André Deschan aus. Die Promotionsschrift versteht sich als Fortführung der Thesen und Erkenntnisse Durths, ihr Fluchtpunkt ist Wolters »im Schatten von Albert Speer« als »Beispiel für [die; Anm. d. Verf.] Anpassung an die wechselnden gesellschaftspolitischen Bedingungen seiner Architektengeneration […]«.19 Deschan hat Wolters’ Nachlass im Berliner Landesarchiv bearbeitet und sogar das zugehörige Findbuch erstellt. Seine Schrift konzentriert sich ganz auf das archivierte Material und verpasst so den Auf bau von Strukturen, die Wolters’ autobiografischen Dokumenten den Boden entziehen. Ihren Anspruch, exemplarisch für das Handeln einer Generation zu sein, löst sie daher nicht ein. Eine Biografie, der die Demaskierung des dargestellten Subjekts gelingt, wurde jüngst von dem Zeithistoriker Magnus Brechtken über Albert Speer 18 | Durth 1986. 19 | Deschan 2016, S. 10.

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vorgelegt.20 Brechtken kam durch die Erforschung von Memoirenliteratur zu Speer, also von ganz anderer Seite als die Architekten Deschan und Durth.21 Diese Studie hat zum Ziel, Speers autobiografische Schriften zu widerlegen, deren Wahrheit vielen als verbürgt erschien. Damit ist Brechtkens Werk auch eine Biografie der westdeutschen Gesellschaft in der Nachkriegszeit. Diese fungierte als Resonanzraum der Selbstinszenierung Speers als »guter Nazi«. Brechtken hinterfragt die von Speer gestreuten Legenden und hegt dessen Ausstrahlung dadurch durchgehend ein. In einer Dissertation dagegen wie jener zu Wolters findet diese mit Nachdruck geführte Auseinandersetzung nicht statt. Es ist fraglich, ob das schwierige Thema »NS-Biografie« tatsächlich der richtige Gegenstand für Qualifizierungsarbeiten auf dieser frühen Stufe ist. Wie schon bei Durth kann man den Studien von Brechtken und Deschan entnehmen, dass ihr heikelster Punkt im Jahr 1945 liegt, wo sich ihre schuldig gewordenen »Helden« unter Androhung von Strafen zu »bewähren« haben. Die kritische Haltung der Autoren und der Zwang zur Distanzierung von den Akteuren verlangt (nicht nur an dieser kathartischen Stelle) eine klug konzipierte Kontextualisierung und eine breite Quellenbasis. Wie sich diese anlegen lässt, kann die Architekturgeschichte vor allem von der Zeitgeschichte lernen. In Durths Studie ist das geschehen. Sie gilt daher im Fach als Maßstab für die Einbettung von Architektenbiografien in im Fach Gesellschafts- und Sozialgeschichte, auch wenn die Forschung heute weiter fortgeschritten ist.

N eomar xistische G esellschaf tstheorie und A rchitek turgeschichte



Es ist natürlich ein Allgemeinplatz zu sagen, dass Architektur und Architekturproduktion in der Gesellschaft stattfinden. Schwierig aber ist die Bestimmung des Gesellschaftsmodells, das Architekturhistoriker ihren Überlegungen zugrunde legen. Obgleich zentral, bleibt es – wie beispielsweise bei Klotz – implizit. Zur Klärung dieser Frage hilft erneut ein Blick auf die frühen Studien von Durth, hier auf seine 1976 vorgelegte Dissertation »Zur gesellschaftlichen Funktion von Kritik und Theorie der Stadtgestaltung«. Zu dieser Zeit hörte er Philosophie und Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M., als dort Ludwig von Friedeburg und Alfred Schmidt, der Nachfolger von Jürgen Habermas, lehrten. Durths methodische Ansätze stammen aus der Theorie des Neomarxismus und aus der Architekturtheorie: Die Studie ist eine in der Analyse der ökonomischen Verhältnisse wurzelnde Kritik an Nachkriegsarchi20 | Brechtken 2017. 21 | Mündliche Mitteilung Brechtken während der Buchvorstellung im NS-Dokumentationszentrum in München am 10.7.2017.

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tektur und Funktionalismus.22 Durths marxistisch fundiertes Gesellschaftsmodell setzt die Existenz sozialer Ungleichheit voraus. Es erkennt Architektur, Planer, »öffentliche Hand« und »Betroffene« als von wirtschaftlichen Prozessen und »sozio-ökonomische[n] Strukturen«23 abhängig. Es impliziert aber auch die Partizipation der »Bevölkerung« vor allem auf kommunalpolitischer Ebene der Stadtplanung, um »wirtschaftlichem Mißerfolg« und dem Aufkommen von »handfesten politischen Konflikten« gegenzusteuern.24 Der Partizipationsbegriff bei Durth verweist auf die damalige neomarxistische Spielart der Gesellschaftstheorie der Bundesrepublik, die auf Interessensausgleich und Mitbestimmung setzte. Stadtplanung, Stadtgestaltung und Raumordnungspolitik kritisiert Durth als top-down-Methode, die mithilfe der Bürgerpartizipation demokratisiert werden soll. Das neomarxistische Denken in der sozial- und geisteswissenschaftlichen Theorie ist bekanntlich durch den Poststrukturalismus (zeitweise) verdrängt worden25, auch durch Latours Akteurssoziologie. Auch die Architekturtheorie hat seitdem eine große Bandbreite von Theorien durchgespielt. Es wird nun diskutiert, ob sie etwas von Latour lernen kann.

A k teur -N e t z werk-Theorie Nach dem Tod von Klotz war es um Schneider-Esleben wieder etwas stiller geworden. Doch anlässlich der Ausstellung am Architekturmuseum der TU München kam die Frage wieder auf, wo der Architekt in der jüngeren Geschichte zu verorten sei. Die Diskussionen im Ausstellungsbeirat machten deutlich, dass sich die Nachkriegsforschung nicht weit genug sieht, um ihm einen belastbaren Rang zuzuweisen. Es zeigt sich aber auch, dass das Interesse an dieser Art von »Ranking« nachgelassen hat. Damit ist die Frage nach Einordnung im Feld der gleichaltrigen Nachkriegskollegen zu einem fruchtbaren Problem geworden, welches die sortierende Methodik der Architekturgeschichte grundsätzlich in Frage stellt. Adrian von Buttlar schrieb: »Vielleicht wäre es hilfreich, dabei [der Einordnung Schneider-Eslebens; Anm. d. Verf.] das polarisierend-wertende Korsett von Avantgarde und Epigonentum schlichtweg zu unterlaufen und stattdessen das – zugegebenermaßen modisch klingende – kybernetische Modell der kollektiven ›Schwarmintelligenz‹ ins Spiel zu bringen. Man könnte dann das einzelne Baukunstwerk im Sinne Georg Kublers als Glied einer ›Sequenz‹, 22 | Vgl. Durth 1976, S. 8-16. 23 | Ebd., S. 29. 24 | Ebd., S. 31. 25 | Vgl. Felsch 2015.

Vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural einer Kette von Problemlösungen jenseits der historischen Chronologie, würdigen und es mithilfe der neueren Akteur-Netzwerk-Theorien in seiner Komplexität angemessener analysieren.« 26

Der Vorschlag einer an Kubler orientierten Betrachtungsweise hält im Beiseitelegen einer chronologisch-linear gedachten Stilgeschichte innerhalb von Kontinuitätsräumen ein wichtiges Angebot bereit – auch für die Nachkriegsforschung. Denn es ist nach wie vor ungeklärt, wie Kontinuität und Diskontinuität in der Architektur nach 1945 zu denken sind. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ist eine Weiterentwicklung aus Techniksoziologie und Wissenschaftsgeschichte. Latour problematisierte in seiner Abhandlung »Wir sind nie modern gewesen« Natur- und Gesellschaftsphilosophie im 17. Jahrhundert und die »Kontroverse« (ein Schlüsselbegriff Latours) zwischen Robert Boyle und Thomas Hobbes. In ihr sieht er die andauernde ›Mühe‹ begründet, die Sphären von Natur- und Sozialwissenschaft zu trennen. Denn für Latour existiert keine »Sozialwelt« ohne eine »Naturwelt«, und ohne »Hybride« (Dinge mit Handlungsmacht, hervorgebracht aus einer Vermischung der Sphären) sei kein modernes Kollektiv denkbar.27 Architektur als technische Artefakte kann man als solche Hybride verstehen. In der ANT definierte Latour den Begriff des Sozialen als temporäre »Assoziation«, als Versammlung der Akteure einschließlich der Hybride (die er hier allgemeiner als Dinge bezeichnet). Als sozial wird also ephemer, niemals dauerhaft »Versammeltes« verstanden. Gesellschaft werde ständig hergestellt, jedoch, so Latour, »ohne Hypothesen über die Natur des Versammelten aufzustellen«.28 Hier scheint bereits seine Ablehnung von »Kontext« auf (ein Problem für die Architekturanalyse), eines Sachverhalts, den er durch das »Akteur-Netzwerk« zu ersetzen anbietet. Denn das Soziale ereignet sich, und zwar zwischen heterogenen Bestandteilen, die selbst nicht sozial sind.29 Das ist für Architekturgeschichte wichtig, die anders als die Technikgeschichte keine Sozialgeschichte ausgebildet hat.

26 | Buttlar 2015, S. 33. 27 | Vgl. Latour 2015, S. 46. 28 | Ebd., S. 10 (Hervorhebung im Original). 29 | Vgl. ebd., S. 17.

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D inge als A k teure Die ANT ist zunächst eine Übung im Beschreiben.30 Darin ist sie, wie Latour selbst gesagt hat, Verfahren der Kunstgeschichte verwandt. Beschreibend untersuchen Kunsthistoriker/-innen Tiere, Pflanzen, Artefakte oder unbelebte Dinge wie das Wetter genauso auf ihre (soziale) Bedeutung hin wie die Menschen in den Bildern – Voraussetzung ist hierbei eine handelnde Funktion. Davon kann die Architekturgeschichte mit ihren 3D-Objekten im Realraum lernen. Und dabei hilft die ANT: Der Bereich der Handlung, traditionell bestehend aus Subjekten (ob als »Schwarm« oder als »Genie«), wird erweitert um den der handelnden Objekte. Zum Beispiel: Ob eine Architektin mit Kohle oder mit CAD zeichnet, macht einen Unterschied. Diese Erkenntnis ist freilich so alt wie die Architektur selbst, und es gelte, wie noch vor wenigen Jahren geschrieben, Objekte als »Mittel zur Entstehung von Architektur«31 zu verstehen. Welchen Unterschied macht es nun, wenn ein Objekt, fähig eine Situation zu verändern, zum Akteur erklärt und im Entwurfsprozess nicht dem Resultat untergeordnet wird? Womöglich wenig, wenn man etwas über den allgemeinen Status von Werkzeugen aussagen will und damit das »Bild vom Wesen und der Genialität eines Architekten« zementiert.32 Doch womöglich viel, wenn man die Besonderheit einer Situation und ihre Produktion von Differenz ergründen will. Und aus der Perspektive des Archivs kann man sagen: Zwischen dem Sammeln und Archivieren von Kohle- oder von CAD-Zeichnungen liegen Welten. Die digitale Archivierung mobilisiert neue, teils noch unbekannte Akteure, Kosten und Handlungen.

I nstabile G esellschaf t Für die instabile Nachkriegsgesellschaft könnte die ANT interessant sein, weil sie die Prozesse zur Herstellung stabiler Verhältnisse betrachtet, denn »weder Gesellschaft noch Soziales existieren von vorneherein«.33 Diese Betrachtungsweise kommt einer Nachkriegsgesellschaft wie der deutschen nach 1945 sicherlich entgegen. Vieles, was dort geschah, kann als Stabilisierungsbemühung verstanden werden, auch im Bereich der Architektur. Öffentliche Wiederauf bauten wie die Frankfurter Paulskirche34 gaben »Gesellschaft« überhaupt erst wieder Form. Feinfühlige Zeitgenossen wie der Schriftsteller 30 | Vgl. ebd., S. 237. 31 | Meissner 2012, S. 475. 32 | Ebd., S. 479. 33 | Latour 2014, S. 65. 34 | Zur Paulskirche siehe auch den Aufsatz von Elena Markus in diesem Band.

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Walter Kempowski wiederum fühlten sich angesichts des Frankfurter Wiederauf baus »erschlagen«.35 Innerhalb dieser instabilen Gesellschaft sind Autodokumente der Diskontinuität wie die Tagebücher Kempowskis von Bedeutung.36 Ein Dokument, das ebenfalls den Charakter der Diskontinuität trägt, ist die Modellfotografie aus dem Nachlass Schneider-Eslebens, die den ungewöhnlichen Entwurfsprozess der St. Rochuskirche dokumentiert und dadurch einen seltenen Blick auf die Suchbewegungen der Nachkriegsarchitektur erlaubt.37 Latours Modell hat den Vorteil, die Nachkriegszeit unter der Prämisse ihrer Prozesse und Kontroversen aufzufassen.

D as P roblem K onte x t Zusammen mit Albena Yaneva hat Latour bekanntlich auch »Architektur« untersucht: »Give me a gun and I will make all buildings move«.38 Als ersten Schuss aus diesem Gewehr sprechen die Autoren Gebäuden ihre statische Erscheinung ab: Gebäude würden sich bewegen, verändern, seien bis zu ihrem Abriss in Bewegung. Nur könnte man es weder sehen noch darstellen, denn die Architekturzeichnung zeige das Gebäude fix als einen Ausschnitt des euklidischen Raums. Doch dieser enthalte eben nicht den wütenden Bauherren, die veränderte Gesetzgebung, die protestierenden Nachbarn: »Where do you archive the many successive models that you had to modify so as to absorb the continuous demands of so many conflicting stakeholders […]?«.39 Man möchte antworten: in Architekturarchiven mit ihren großen Nachlässen! Denn ein so reicher Nachlass wie der Schneider-Eslebens mit bis zu 6.000 Plänen pro Projekt erlaubt es, Architekturgeschichte auch so zu erzählen: »To follow the evolution of drawings in an architectural studio is like witnessing the succesive exertions of a juggler who keeps adding more and more balls […]. Every time a new constraint is to be taken into account […] it is necessary to devise a new way to draw so as to capture this constraint and make it compatible with all the others.« 40

35 | Kempowski 2014, S. 28. 36 | Für die Autobiografie der Architekten beginnt ihre Erforschung gerade; vgl. Erben/ Zervosen 2018. 37 | Vergleiche dazu den Aufsatz von Ralf Liptau in diesem Band. 38 | Latour/Yaneva 2008. 39 | Ebd., S. 80. 40 | Ebd., S. 84.

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Ebenso performativ solle auch »Kontext« betrachtet werden.41 So solle Le Corbusiers Assembly Building in Chandigarh nicht aus ökonomischen Zwängen heraus (Latour ist natürlich kein Neomarxist) oder mithilfe von Stil erklärt werden, sondern über »the multifarious manifestations of recalcitrance« berichten, dazu »a visual vocabulary« für die dingliche Natur von Gebäuden erfindend. Feldforschung anstatt Stilanalyse, Dingbeschreibung anstatt Formanalyse – das ist kritisch zu betrachten und enthüllt den bei allem Wortwitz recht provisorischen Charakter von Latours und Yanevas »ANT’s View of Architecture«.

A rchitek tursoziologie und N achkriegsgesellschaf t Die Architektursoziologin Heike Delitz konzipiert das Verhältnis von Architektur und Gesellschaft komplexer als die der Architekturgeschichte vertraute Vorstellung, Architektur sei Ausdruck von Gesellschaft.42 Offensichtlich entsteht Architektur aus dem Handeln sozialer Akteure in einem spezifischen Umfeld. Im Bauen, so Delitz, wirkt sich das Soziale aus, jedoch in der ihm eigenen sozialen Effektivität.43 Die architekturtheoretischen Vorüberlegungen von Latour/Yaneva werden so weiter geschärft. An dieser Stelle soll noch einmal auf die Fotografien am Anfang dieses Beitrags verwiesen werden, die die Versammlung eines Dorfes auf der Baustelle anlässlich des Richtfests der neuen Schule zeigen. Delitz’ Thesen auf den Rohbau des Gymnasiums angewandt ist dieser dann nicht Ausdruck einer ländlichen Gesellschaft im Nachkriegswandel, sondern die der Fotografie ablesbaren Effekte liegen vielmehr im Selbsterlebnis der Dorfgemeinschaft. Der Rohbau im Regen bietet aufgrund seiner Konstruktionsweise Wetterschutz, ohne die Menschen drinnen von denen draußen zu trennen. Die niedrigen Brüstungswände laden zum Herausschauen und Kommunizieren ein. So erlebt sich eine Dorfgemeinschaft für einen Augenblick als ein Ganzes durch Architektur. Das neue Gymnasium steht am höchsten Punkt des Dorfes und krönt es geradezu. Anders als die alte Schule ist es weder Teil der Struktur noch der Architektur des Dorfes. Als Kombination dreier schmaler Gebäuderiegel mit Fensterbändern, geschossübergreifenden Ständern und aufgestelzten Verbindungsgängen ist es der erste Bau in Lennestadt, der mit der Konstruktionsweise der alten Fachwerkbauten sowie der neueren Putzbauten mit Lochfassaden bricht. Schneider-Esleben war durch seine Ausbildung an der TH Stuttgart 1946/47 fähig, den Bewohnern im Sauerland eine neue Architektur zu brin41 | Vgl. ebd., S. 88. 42 | Vgl. Delitz 2010, S. 11-14. 43 | Vgl. ebd., S. 12.

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gen, die ihnen bis dato aus eigener Anschauung sicherlich unbekannt war. Über diese war durch einen Wettbewerb entschieden worden, den der Gemeinderat beschlossen hatte. Dass man mit Schneider-Esleben den Sohn des alten Schulbauarchitekten gewann (Rektoratsschule von Franz Schneider 1914), trug sicherlich zur Akzeptanz des Neuen Bauens in der traditionsbewussten Gegend bei. Das Gymnasium Lennestadt zählt zu jenen »exponierte[n] Bauten und Entwürfen, in denen das Neue sichtbar wird und von denen aus es sich verbreitet«.44 Es geht der Architektursoziologie um die faktische Verschränkung von Architektur und Gesellschaft: »Zu denken wäre, dass sich jede Gesellschaft in ihrer Architektur eine expressive, sichtund greifbare Gestalt schafft, die ihr keineswegs äußerlich oder sekundär ist. In ihrer Architektur ›erkennt‹ sich eine Gesellschaft vielmehr erst als diese bestimmte Gesellschaft. […] Symbolische Medien [wie Architektur; Anm. d. Verf.] konstituieren allererst die soziale ›Wirklichkeit‹ – also die ›Gesellschaft‹ –, statt sie einfach auszudrücken.« 45

Und auf der mikrosoziologischen Ebene »koexistiert es [das Gebaute; Anm. d. Verf.] […] mit den Individuen, umgibt nicht nur deren Körperhaltungen, Bewegungen, Blicke, sondern ermöglicht und evoziert sie […]«46, wäre nicht nur Artefakt, sondern auch »Sozius«.47 Die Soziologin betont zwar die Affektivität jeglicher Architektur, doch in der modern-urbanen Gesellschaft träten die kreativistische Haltung der Architekten sowie der dynamische Effekt der Architektur hinzu. Moderne Architektur wird als transitives Medium verstanden: Moderne Architekten versuchten, der Gesellschaft voraus zu sein und diese durch die Effekte ihrer Bauten ›mitzuziehen‹. Das heiße im Ergebnis: »In ihrer je neuen Architektur sehen sich diese Gesellschaften mit neuen Augen, so, wie sie sich noch nie zuvor sehen konnten.«48 Die Fotografie aus Lennestadt 1954 hält das Staunen der Bauherren über diese Architekturerfahrung fest (vgl. Abb. 2).

44 | Ebd., S. 17. 45 | Ebd., S. 13 (Hervorhebung im Original). 46 | Ebd., S. 14. 47 | Ebd., S. 32. 48 | Ebd., S. 16.

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S chluss Können wir nun so weit gehen, mithilfe von Analysen moderner Architektur nach 1945 eine Gesellschaftsdiagnose zu geben und die »Emergenz der je konkreten Gesellschaft im Medium ihrer Architektur«49 zu beschreiben? Vielleicht ja; auf die Lennestädter Schule angewendet würde man folgern, dass im ländlichen Raum mit seiner (im Vergleich zu den Städten) langsameren Dynamik neuartige Bauwerke nicht als moderne Architektur verstanden und abgelehnt wurden, sondern als funktionaler Fortschritt willkommen waren. Die Fremdheitserfahrung milderte die Tatsache, dass auch der Vater des Architekten in der Gemeinde gebaut hatte und beide aus dem Sauerland stammten. Die Ausgangsfrage war gewesen: Wie gelangt man von einer biografisch orientierten Architekturforschung zu einem multipleren Ansatz, der viele Akteure einschließt? Wie lassen sich flexiblere ›Forschungssettings‹ für die Architekturgeschichte herstellen? Das wurde in verschiedener Perspektivierung diskutiert, zunächst in der eines »Ordnungswissens« in Ausstellungen und Katalogen wie jenen von Klotz und vom Architekturmuseum der TUM. Hier zeigte sich, dass das Format Architekturausstellung – biografisch wie prosopografisch konzipiert – Ordnungen herstellt, die viele Medien und Artefakte organisieren und Beteiligte in begleitenden Interviews auftreten lassen. Ausstellungen produzieren eine Form des Architekturwissens und sind, in der Definition Latours, selbst soziale Ereignisse. In soziologischen Ansätzen wie denen von Latour und Yaneva sowie von Delitz liegen, wie hier vorgeschlagen, die zurzeit vielversprechendsten Erweiterungen architekturhistoriografischer Methodik. Die ANT ist eine Beschreibungsmethode, die Verknüpfungen der Akteure (Menschen, natürliche und technische Artefakte und Dinge) als Essenz des Sozialen identifizieren will. Daraus leitet sie eine Gesellschaftstheorie ab, die sich für Prozesse als Ausweis des Instabilen und Ephemeren interessiert. Sie fordert damit auch die Vorstellung von Kontinuität und Wandel in der Nachkriegsgesellschaft heraus. Anstrengungen wie der Wiederauf bau nach 1945 lassen sich auf diese Weise dekonstruieren – es lässt sich quasi hinter den Architektenplan blicken, der eine neue, eine heile Welt versprach. Die – hier nur angerissene – Architekturtheorie der Soziologin Delitz bietet durch ihre sorgfältig argumentierte Verschränkung von Architektur und Gesellschaft eine weitere Chance zur Öffnung des Feldes vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural. Ihre Beobachtung des kreativistischen Vorwärtsstrebens einzelner Architekten im 20. Jahrhundert, welches auf virulente Vorstellungen der Gesellschaft ›von sich selbst‹ trifft, ist ernst zu nehmen. Sie ›rettet‹ gar traditionelle Teile der Künstlerbiografie, indem sie bei Individuum 49 | Ebd., S. 25.

Vom Akteur im Singular zu den Akteuren im Plural

und Werk eine ›die‹ Gesellschaft bewegende Kraft indiziert, die jener Veränderungen vor Augen führt – mit der Einschränkung, dass diese Bewegung sozial zu begründen ist.

L iter atur Beckers, Rolf: Der Architekt Paul Schneider-Esleben, Diss. Univ. Bonn, Weimar 1995. Brechtken, Magnus: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 22017. Buttlar, Adrian von: »Avantgarde oder Schwarmintelligenz? Offene Fragen zu Paul Schneider-Eslebens Stellung in der Architekturgeschichte«, in: Andres Lepik/Regine Heß (Hg.): Paul Schneider-Esleben. Architekt, Ausst.-Kat. Architekturmuseum der TU München, Ostfildern 2015, S. 30-33. Delitz, Heike: Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt a.M./New York 2010. Deschan, André: Im Schatten von Albert Speer. Der Architekt Rudolf Wolters, Einzelveröffentlichungen des Landesarchivs Berlin, hg. von Uwe Schaper, Berlin 2016. Durth, Werner: Zur gesellschaftlichen Funktion von Kritik und Theorie der Stadtgestaltung, Diss. Univ. TH Darmstadt, o.O. 1976. Durth, Werner, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900– 1970 (=Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie, hg. von Heinrich Klotz), Braunschweig/ Wiesbaden 1986. Erben, Dietrich/Zervosen, Tobias: Das eigene Leben als ästhetische Fiktion. Autobiographie und Professionsgeschichte, Bielefeld 2018. Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, München 2015. Die Klotz Tapes. Das Making-of der Postmoderne, Arch+ 47 (2014). Kempowski, Walter: Wenn das man gut geht. Aufzeichnungen 1956–1970, hg. von Dirk Hempel, München 2014. Klotz, Heinrich: Vision der Moderne. Das Prinzip Konstruktion. , Ausst.-Kat. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt a.M., München 1986. Klotz, Heinrich (Hg.): Paul Schneider-Esleben. Entwürfe und Bauten 1949– 1987 (=Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie), Braunschweig/Wiesbaden 1987. Klotz, Heinrich: Weitergeben. Erinnerungen, Köln 1999. Krauss, Rosalind E.: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, MIT Press, Cambridge/Mass. 1985. Kris, Ernst/Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch [1934], Frankfurt a.M. 1995.

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Regine Heß

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Nicole De Togni, School of Architecture Urban Planning Construction Engineering, Politecnico di Milano. Rachel Julia Engler, M.Phil., Institute for Comparative Literature and Society, Columbia University, New York. Dr.-Ing. Carmen M. Enss, Institut für Archäologie, Denkmalkunde und Kunstgeschichte, Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Dr.-Ing. Mark Escherich, Professur Denkmalpflege und Baugeschichte, Bauhaus-Universität Weimar. PD Dr. Olaf Gisbertz, Prof. i.V., Geschichte und Theorie von Architektur und Stadt, Fachhochschule Dortmund. Dr. phil. Regine Heß, Lehrstuhl für Architekturgeschichte und kuratorische Praxis/Architekturmuseum der Technischen Universität München. Dr. Alexandra Klei, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg. Dipl.-Ing. Martin Kunz, saai – Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Karlsruher Institut für Technologie. Prof. Dr.-Ing. Silke Langenberg, Professur für Bauen im Bestand, Denkmalpflege und Bauaufnahme, Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Dr. des. Ralf Liptau, Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege, Abteilung Kunstgeschichte, Technische Universität Wien.

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Architektur und Akteure

Dipl.-Ing. Elena Markus, Professur für Architektur und Kulturtheorie, Technische Universität München. Dr.-Ing. Elke Nagel M.A., strebewerk. Architekten GmbH, Stuttgart. Dr. Marko Špikić, Art History Department, University of Zagreb. Dr. Monika Stromberger, Institut für Geschichte, Fachbereich Zeitgeschichte, Karl-Franzens-Universität Graz. Prof. Dr. phil. Kirsten Wagner, Fachbereich Gestaltung, Lehrgebiet Kulturund Kommunikationswissenschaft, Fachhochschule Bielefeld. Dr.-Ing. Johannes Warda, Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung, Bauhaus-Universität Weimar.

Bildnachweise

Regine Heß, Einführung, Abb. 1: Architekturmuseum TUM. Nicole De Togni, Abb. 1: Mostra della Ricostruzione. I CLN al lavoro, 1945, Abb. 2: Istituto Nazionale di Urbanistica, Rom, Abb. 3: UNRRA Italian Mission: Survey of Italy’s economy, Rome 1947, p. 437. Silke Langenberg, Abb. 1: Baumeister 62, Heft 10 (1965), S. 1121-1132 (S. 1121 und 1122), Abb. 2: Silke Langenberg, 2017. Kirsten Wagner, Abb. 1: Stadtarchiv Darmstadt, Abb. 2: Planungshefte für Siedlungsgestaltung aus Volk, Raum, Landschaft, hg. v. Reichsheimstättenamt der deutschen Arbeitsfront, Heft 7.2., Berlin 1941, Abb. 3: Philippe Boudon, Pessac de Le Corbusier, Paris 1969, S. 142. Elke Nagel, Grundrisse: Blundell-Jones, Peter: Hans Scharoun. Eine Monographie, Stuttgart 1979, S. 125 (Abb. 1, 3), S. 50 (Abb. 5), S. 134 (Abb. 7), S. 132 (Abb. 9), Abb. 2, 4, 6, 8, 10: Foto E. Nagel, 2015/16. Martin Kunz, Abb. 1, 2: saai – Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Karlsruher Institut für Technologie, Werkarchiv Otto Ernst Schweizer. Monika Stromberger, Abb. 1: Verein für Heimatschutz in Steiermark (Hg.): Steirische Landbaufibel, Salzburg 1948, Abb. 2: Geo-Information Online Service der Stadtgemeinde Graz, https://www.graz.at/cms/bei​ trag/10295880/8115447/Online_Karte_Bombenblindgaenger_Kataster. html (Aufruf am 6.11.2017), Abb. 3: Steirische Berichte zur Volksbildung und Kulturarbeit 6, Heft 3 (1962), S. 55. Carmen M. Enss, Abb. 1: Eric T. Gunther, 19.11.2011, https://commons.wikime​d ia.org/wiki/File:Rothenburg_ob_der_Tauber_street_view.JPG#file (Aufruf am 14.10.2017), Abb. 2: Süddeutsche Zeitung vom 8.10.1946, S. 3 (Zeichnung: Stadtbauamt München). Ralf Liptau, Abb. 1, 2: saai – Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Karlsruher Institut für Technologie, Werkarchiv Carlfried Mutschler, Abb. 3: Architekturmuseum TUM, schnee 24-1036.

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Architektur und Akteure

Marko Špikić, Abb. 1: Milan Pavić, Zagreb fotomonografija, Zagreb 1959, Abb. 2: State Archives of Split, Archives of the Urban Planning Office for Dalmatia, Photo department, P-1683, Abb. 3: Institute of Art History, Zagreb. Alexandra Klei, Abb. 1: Archiv Hermann Zvi Guttmann, Abb. 2: Fotografie: Alexandra Klei. Mark Escherich, Abb. 1: Archiv Klaus Neupert/Arne Keilmann, Abb. 2: Mark Escherich, Abb. 3: Bernhard Klemm, Städtebaulich-denkmalpflegerische Untersuchungen in Görlitz. Ein Beitrag zur Sanierung von Altstädten, hg. vom Institut für Denkmalpflege, Dresden 1958, Abb. 4: © Deutsche Fotothek, Dresden. Olaf Gisbertz, Abb. 1: Diasammlung Friedrich Wilhelm Kraemer, Institut für Gebäudelehre und Entwerfen, TU Braunschweig, Abb. 2: db 103, Heft 9 (1969), S. 666. Rachel Julia Engler, Abb. 1, 2: The Frank Lloyd Wright Foundation Archives (The Museum of Modern Art, Avery Architectural & Fine Arts Library, Columbia University, New York). Elena Markus, Abb. 1: Schweizerische Landesausstellung 1939 Zürich (Hg.): Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellungen, Zürich 1939, S. 144, Abb. 2: Baumeister 45, Heft 11 (1948; Titel). Regine Heß, Abb. 1, 2: Architekturmuseum TUM, Abb. 3: © Markus Lanz, Pk.Odessa.

Architektur und Design Gerrit Confurius

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Eduard Heinrich Führ

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