Übersetzer zwischen den Kulturen: Der Prager Publizist Paul/Pavel Eisner 9783412214074, 9783412205508

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Übersetzer zwischen den Kulturen: Der Prager Publizist Paul/Pavel Eisner
 9783412214074, 9783412205508

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von KARL GUTSCHMIDT, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH (†)

Band 67

Übersetzer zwischen den Kulturen Der Prager Publizist Paul/Pavel Eisner

Herausgegeben von

Ines Koeltzsch, Michaela Kuklová und Michael Wögerbauer

2011 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N W EIM AR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Österreichische Forschungsgemeinschaft (ÖFG) und den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds

Ines Koeltzsch hat an der FU Berlin über die tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen im Prag der Zwischenkriegszeit promoviert. Michaela Kuklová ist Lehrbeauftragte für tschechische Sprache und Literatur an der Universität Wien. Michael Wögerbauer ist stellvertretender Direktor des Instituts für tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Dr. Pavel Eisner, Karikatur von Jaroslav Veris. Aus: Rozpravy Aventina, 5 (1929/30) H. 34, S. 431. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20550-8

Inhalt

Vorwort .................................................................................................................................... 7 Ines Koeltzsch Zwischen den Kulturen. Zur Einführung.......................................................................... 9 Eisners Heimaten, I. – Biografische und statistische Annäherungen Václav Petrbok Die „Tatsache zweier Muttersprachen“. Paul Eisners Schul- und Studienjahre im Prag des frühen 20. Jahrhunderts.................................................. 17 Marie-Odile Thirouin Der junge Paul Eisner als Korrespondent von Rudolf Pannwitz (1917–1922)......45 Alfons Adam Demografischer Wandel in Paul Eisners Prag.......................................................... 59 Daniel Řehák Ein Nachlass zu Lebzeiten. Eisners Schaffen während der Okkupation............. 87 Eisners Heimaten, II. – Intellektuelle Auseinandersetzungen Christian Jacques Pavel Eisner und das „Sudetendeutschtum“...........................................................109 Zdeněk Mareček Im Banne des Heimat-Diskurses. Zum terminologischen und ideologischen Vergleich der tschechisch- und deutschsprachigen Literaturbetrachtung in der Zwischenkriegszeit....................................................125 Literarische Spielräume Lucie Kostrbová Vrchlický – Sova – Březina. Eisners erste Buchveröffentlichung und ihre Kontexte........................................141 Gertraude Zand Paul Eisner als slowakisch-deutscher Literaturvermittler....................................161 Marek Přibil Auf dem Felsen. Eisners Mácha-Rezeption aus heutiger Sicht...........................175

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Inhalt

Petr Kučera Paul Eisner als Übersetzer der Duineser Elegien....................................................191 Michal Topor Der Horizont von Pandoras Tempel. Zu Eisners Übersetzung von Goethes Pandora.....................................................203 Medien der Vermittlung Michael Wögerbauer Mediale Strategien der Vermittlung im Wandel. Eine quantitative Analyse von Paul Eisners Beiträgen in tschechoslowakischen Periodika (1918–1938).....................................................................219 Mirek Němec Die Grenzen der kulturellen Vermittlung. Eisners journalistische Auseinandersetzung mit dem Schulwesen in der Ersten Republik....................233 Pavel Polák Pavel Eisner am Mikrofon. Das tschechoslowakische Radio im Kontext der Ersten Republik....................249 Rezeptionen Georg Escher „But one cannot live without a people.“ Paul/Pavel Eisners Kafka-Lektüre und die Literaturwissenschaft . ...................257 Dagmar Žídková Zur Rezeption des Werkes von Pavel Eisner in der populärwissenschaftlichen Linguistik ....................................................................271 Michaela Kuklová „Ohneland“. Peter Lotars und Pavel Eisners Weg ins (Schweizer) Exil............283 Epilog Kurt Krolop Paul Eisner und die deutsche Literatur in der Tschechoslowakei .....................295 Anhang Personenregister . .........................................................................................................307

Vorwort

Der vorliegende Sammelband geht auf ein Symposium aus Anlass des fünfzigjährigen Todes- und hundertjährigen Geburtstages Paul/Pavel Eisners (1889–1958) zurück, das im November 2008 an der Universität Jan Evangelista Purkyně in Ústí nad Labem (Aussig) stattfand. Die Organisatorinnen und Organisatoren haben sich entschlossen, sowohl eine tschechisch- als auch deutschsprachige Version des Sammelbandes zu veröffentlichen, um ein möglichst breites Lesepublikum in der Tschechischen und Slowakischen Republik und in den deutschsprachigen Ländern zu erreichen. Die tschechischsprachige Ausgabe wurde von Veronika Dudková, Kristina Kaiserová und Václav Petrbok im Verlag Albis international in Ústí nad Labem Anfang 2010 herausgegeben. Die deutschsprachige Fassung weicht hinsichtlich der Auswahl und Zusammenstellung der Beiträge von der tschechischsprachigen leicht ab. Einige Autorinnen und Autoren haben zudem ihre Beiträge nochmals überarbeitet und aktualisiert. Wir möchten uns vor allem bei Kristina Kaiserová, Veronika Dudková und Václav Petrbok für die rasche Herstellung der tschechischsprachigen Ausgabe bedanken. Die vorliegende Fassung profitierte davon sehr, da so die meisten Manuskripte rechtzeitig vorlagen. Die Übersetzung der tschechischen Originalbeiträge besorgten Miloslav Szabó, Michael Wögerbauer und Ines Koeltzsch. Vera Schneider übernahm auf höchst professionelle Weise den Satz, Vendula Trnková erstellte das Register. Der Sammelband wäre ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds/Česko-německý fond budoucnosti, der AKTION Österreich – Tschechische Republik/Česká republika – Rakousko, des Adalbert Stifter Vereins in München und des Instituts für tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften in Prag nicht zustande gekommen. Diesen Institutionen sei dafür herzlich gedankt. Schließlich möchten wir uns bei Steffen Höhne bedanken, der bereit war, den Sammelband in die Reihe Intellektuelle in Prag. Persönlichkeiten, Konzepte, Diskurse aufzunehmen. Ines Koeltzsch, Michaela Kuklová, Michael Wögerbauer Berlin, Wien und Prag, Januar 2011

Ines Koeltzsch

Zwischen den Kulturen. Zur Einführung Vermittler, Übersetzer und Grenzgänger führten in der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte lange Zeit eine Randexistenz. Entweder als Außenseiter marginalisiert oder als Solitäre romantisiert und überhöht, stellten sie einen ‚Störfaktor‘ bei der (Re-)Konzeptualisierung nationaler Geschichten und Literaturen dar. In globaler Perspektive änderte sich dies allmählich ab den 1970er und 1980er Jahren, als Kultur- und Literaturwissenschaftler, Anthropologen, Historiker und andere Wissenschaftler im Zuge der Etablierung der postkolonialen Studien in Süd- und Nordamerika und der Kulturtransferforschung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien inter- und transkulturelle Phänomene in den Mittelpunkt ihres Interesses rückten. Diese Ansätze, die beispielsweise unter Bezeichnungen wie transkulturelle und translationale Studien, Transfergeschichte und Histoire croisée firmieren, betonen im Unterschied zur älteren Beziehungs- und Einflussgeschichte die Mehrdimensionalität von Kultur und die Wechselseitigkeit zwischen verschiedenen Kulturen. Sie verstehen Kulturen nicht mehr als einheitliche und abgrenzbare Gebilde, sondern vielmehr als Ensembles kontextabhängiger und situativ bedingter Verhaltensweisen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Kulturen sind diesem Verständnis nach prinzipiell vermischt, prozesshaft und wandelbar.1 Auch in den geisteswissenschaftlichen Studien zur Literatur, Kunst und Politik in den böhmischen Ländern des 19. und 20. Jahrhunderts zeichnet sich in den letzten zwanzig Jahren ein zunehmendes Interesse an inter- und transkulturellen Phänomenen ab.2 Dabei werden Vermittler, Übersetzer und Grenzgänger als wesentliche 1 Zu den genannten Forschungsansätzen vgl. stellvertretend Bachmann-Medick, Doris: Translational turn. In: Dies.: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, 238–283; Espagne, Michel/Werner, Michael (Hg.): Transferts. Les rélations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle). Paris 1988; Mitterbauer, Helga/Scherke, Katharina (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Wien 2005; Paulmann, Johannes: Grenzüberschreitungen und Grenzräume. Überlegungen zur Geschichte transnationaler Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeitgeschichte. In: Conze, Eckart u. a. (Hg.): Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin. Köln 2004, 169–196; Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002) H. 4, 607–636. 2 Die Potenziale und analytischen Fallstricke des erweiterten Kulturbegriffs im Kontext der tschechisch-deutschen und slowakisch-deutschen Beziehungsgeschichte kritisch auslotend: Marek, Michaela: Kultura jako nositel a oponent politických záměrů. Úvod [Kultur als

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Akteure von Transferprozessen (wieder-)entdeckt.3 So provozierte beispielsweise der amerikanische Germanist und Historiker Scott Spector mit seiner Arbeit über die deutsch-jüdischen Schriftsteller und Übersetzer im Prag des Fin de Siècle eine Diskussion über die Bewertung ihrer kultureller Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit. Spector lehnt es ab, sie als „einsame Stimmen des interkulturellen Dialogs“ im Zeitalter eines aggressiven Nationalismus zu interpretieren. Zwar gesteht er den Vermittlungs- und Übersetzungspraktiken der Prager deutsch-jüdischen Autoren wie Max Brod, Otto Pick und Rudolf Fuchs durchaus eine subversive Wirkung in der nationalistisch aufgeladenen Gesellschaft zu, ihre Handlungsmotive hätten jedoch keineswegs auf dem Streben nach kultureller Pluralität beruht. Vielmehr sei es ihre Überlebensstrategie gewesen, Vehikel und Opponent politischer Absichten. Einführung]. In: Kováč, Dušan u. a. (Hg.): Kultura jako nositel a oponent politických záměrů. Německo-české a německo-slovenské kulturní styky od poloviny 19. století do současnosti [Kultur als Vehikel und Opponent politischer Absichten. Deutsch-tschechisch und deutsch-slowakische Kulturkontakte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart]. Ústí nad Labem 2009, 9–23, insb. 17–21 (= Veröffentlichungen der tschechisch-deutschen und der slowakisch-deutschen Historikerkommission). Vgl. auch Křížová, Markéta: Transkulturace: možnosti využití a rozšíření konceptu [Transkulturalität: Anwendungs- und Erweiterungsmöglichkeiten des Konzepts]. In: Český lid, 95 (2008) H. 1, 15–35. 3 Einen wichtigen Anfang machte in den 1990er Jahren bspw. Luft, Robert: Nationale Utraquisten in Böhmen. Zur Problematik „nationaler Zwischenstellungen“ am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Godé, Maurice u. a. (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague de 1890 à 1924/Deutsche, Juden und Tschechen in Prag 1890-1924. Montpellier 1996, 37–51, und ders.: Zwischen Tschechen und Deutschen in Prag um 1900. Zweisprachige Welten, nationale Interferenzen und Verbindungen über ethnische Grenzen. In: brücken, N. F., 4 (1996), 143–169. – Vgl. außerdem jüngere germanistische Arbeiten wie z. B. Schneider, Vera: Wachposten und Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag und die öffentliche Herstellung nationaler Identität. Würzburg 2009; Takebayashi, Tazuko: Zwischen den Kulturen. Deutsches, Tschechisches und Jüdisches in der deutschsprachigen Literatur aus Prag. Ein Beitrag zur xenologischen Literaturforschung interkultureller Germanistik. Hildesheim u. a. 2005; Vassogne, Gaëlle: Max Brod in Prag. Identität und Vermittlung. Tübingen 2009. – Vgl. darüber hinaus aktuelle Überlegungen zu einer wechselseitigen Verflechtungs- und Transferperspektive, die die parallele Lektüre tschechisch- und deutschsprachiger Texte konsequent einfordert: Escher, Georg: „Ihre Versöhnungs- oder wenigstens Verständigungsidee“. Der Briefwechsel Hermann Bahr – Jaroslav Kvapil (= Rez. zu: Ifkovits, Kurt: Hermann Bahr – Jaroslav Kvapil. Bern u. a. 2007). In: http://www.kakanien.ac.at/rez/GEscher3.pdf (letzter Zugriff: 30. 4. 2010); Koeltzsch, Ines: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechischjüdisch-deutschen Beziehungen in Prag 1918–1938. Dissertation (Manuskript), Freie Universität Berlin 2010; Kostrbová, Lucie: Mezi Prahou a Vídní. Česká a vídeňská moderna na konci 19. století [Zwischen Prag und Wien. Die tschechische und Wiener Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts]. Praha 2010 [im Druck].

Zwischen den Kulturen. Zur Einführung

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to bridge the abyss between peoples in Prague into which they themselves had fallen, and […] to promise to carve out a space that they could safely occupy as its national poets.4

Der dadurch neu geschaffene Raum stellte Spector zufolge einen weiteren „Territorialisierungsversuch“ dar, wie er für die Nationalismen an der Wende vom 19. und 20. Jahrhundert üblich war. Für Spector handelte es sich bei diesem Versuch „in letzter Konsequenz“ um die Schaffung einer „middle nation“.5 Kritik an Spectors provokativen Thesen übte vor allem der amerikanische Historiker Hillel J. Kieval. Dieser wandte sich gegen Spectors Interpretation, der die Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit der Autoren in erster Linie auf ‚egoistische‘ Motivationen zurückführte. Zudem sei nicht die Frage nach dem Ergebnis der Vermittlungsprozesse entscheidend, sondern die Aktivitäten der Vermittler als solche, die Kieval als „clear voices of dissent“ versteht: „[T]o have chosen inclusion and linguistic pluralism on the eve of Europe’s capitulation to fascism must nevertheless rank as a courageous, if lost, cause.“6 Die Kontroverse zwischen Spector und Kieval zeugt davon, dass die Untersuchung historischer Vermittlungs- und Übersetzungspraktiken keineswegs eine einfach zu lösende Aufgabe darstellt und die überdies nicht ohne eine sorgfältige historische Kontextualisierung auskommt. Dies verdeutlicht auch das Beispiel des Publizisten und Übersetzers Paul/Pavel Eisner:7 1889 in Prag in eine jüdische, bilinguale Familie geboren, sammelte er wie die meisten Jüdinnen und Juden seiner Zeit 4 Spector, Scott: Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle, Berkeley 2000, 195–233, hier 198. Siehe auch ders.: Mittel-Europa? Some Afterthoughts on Prague Jews, “Hybriditiy,” and Translation. In: Bohemia, 46 (2005) H. 1, 28–38. 5 Ebd. Zu Spectors Thesen siehe auch den Beitrag von Lucie Kostrbová in diesem Band. 6 Kieval, Hillel J.: Choosing to Bridge: Revisiting the Phenomenon of Cultural Mediation. In: Bohemia, 46 (2005) H. 1, 15–27, hier 27. 7 Eine wissenschaftlich fundierte Eisner-Biografie liegt bislang nicht vor. Zum Leben und Werk vgl. daher v. a. Binder, Hartmut: Paul Eisners dreifaches Ghetto. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag. In: Reffet, Michel (Hg.): Le monde de Franz Werfel et la morale des nations/Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker. Bern u. a. 2000, 17–137; Mourková, Jarmila: Von Paul Eisner zu Pavel Eisner. Einige von der Korrespondenz Pavel Eisners mit Otokar Fischer inspirierte Gedanken. In: brücken, A. F., 5 (1988/89), 11–24 [tschech. Fassung in: Česká literatura, 38 (1990), 64–70]; Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002; Tvrdík, Milan: Paul Eisner – Vermittler deutschsprachiger Literatur der böhmischen Länder. In: Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland – ČSFR. Passau 1992 (= Dokumentation & Materialien des DAAD, Bd. 25), 47–57; Wögerbauer, Michael: „…tätiger Dienst am eigenen Volk.“ Paul Eisner als Denker und Propagator der deutsch-tschechisch-jüdischen Symbiose. Einleitung zur Übersetzung von Paul Eisner: Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR von 1848 bis 1933. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Österreich, 9/10 (2002/2003), 117–123.

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Ines Koeltzsch

ambivalente Erfahrungen in einer sich modernisierenden und nationalisierenden Großstadtgesellschaft. Die Generation seiner Eltern war die erste, die die rechtliche Vollendung der Emanzipation erlebte. Diese hatte der jüdischen Bevölkerung nicht nur neue Wege geöffnet, sondern sie war auch von neuen Zukunftsängsten begleitet.8 Eisners Eltern zogen wie viele andere in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vom Land in die böhmische Metropole, deren stetig wachsende Bevölkerung sich nunmehr überwiegend des Tschechischen als Umgangssprache bediente.9 Sie ließen ihren Sohn zweisprachig aufwachsen, wodurch es ihm möglich wurde, sowohl am tschechisch- als auch deutschsprachigen Bildungssystem in Prag zu partizipieren. Eisner absolvierte zunächst eine tschechische Schulausbildung und nahm im Anschluss daran ein Studium der Germanistik und Slawistik an der deutschen Universität in Prag auf.10 Nach seinem Studium, das er noch während des Ersten Weltkrieges mit einer Dissertation zum Thema Lessing, Goethe und Schiller in tschechischen Übersetzungen abschließen konnte, schlug Eisner eine Laufbahn als Übersetzer und Journalist ein. In der Hauptstadt der als Nationalstaat konzipierten multinationalen Republik schrieb er für die deutsch- und tschechischsprachige, nichtjüdische und jüdische Presse, hielt Vorträge in tschechischen und deutschen, nichtjüdischen und jüdischen Vereinen, und arbeitete zeitweise auch für den tschechoslowakischen Rundfunk.11 Er übersetzte literarische Werke aus dem Tschechischen ins Deutsche und umgekehrt und beherrschte weitere Fremdsprachen.12 Eisner avancierte so zu einem kulturellen Vermittler par excellence. Er setzte sich zum einen aktiv für die Popularisierung deutschböhmischer Kultur und Literatur in der tschechischsprachigen Öffentlichkeit ein und warb zum anderen in der deutschsprachigen Öffentlichkeit um Loyalität zum tschechoslowakischen Staat. Dies verschaffte ihm in beiden Teilöffentlichkeiten zahlreiche Kritiker und Gegner und verlangte ihm erhebliche Kompromisse ab.13 8 Zur Geschichte der böhmischen Judenheit nach ihrer rechtlich-formalen Gleichstellung 1867 vgl. Kieval, Hillel J.: The Making of Czech Jewry. National Conflict and Jewish Society in Bohemia, 1870–1918. New York u. a. 1988. 9 Zur Bevölkerungsentwicklung Prags siehe den Beitrag von Alfons Adam in diesem Band. 10 Václav Petrbok rekonstruiert in seinem Beitrag die zweisprachige Sozialisation Eisners während seiner Schul- und Studienzeit in Prag. 11 Vgl. hierzu die Beiträge von Michael Wögerbauer, Mirek Němec und Pavel Polák in diesem Band. 12 Mit Eisners vielfältigen Übersetzungsprojekten beschäftigen sich in ihren Beiträgen Lucie Kostrbová, Petr Kučera, Marek Přibil, Michal Topor und Gertraude Zand. 13 Dies spiegelt sich vor allem in seinen Auseinandersetzungen mit der deutschböhmischen beziehungsweise sudetendeutschen Literatur in den 1920er und 1930er Jahren wider. Vgl. hierzu die Beiträge von Christian Jacques und Zdeněk Mareček in diesem Band.



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Loyal gegenüber der neuen politischen Ordnung, war Eisner ein Verfechter der ‚Assimilation‘. In der das nationalistische Zeitalter beherrschenden Sehnsucht nach eindeutiger Zugehörigkeit entschied er sich schließlich für den radikalsten Schritt: Er verließ in den ersten Republiksjahren die jüdische Religionsgemeinschaft und trat zum christlichen Glaubensbekenntnis über. Gleichwohl beschäftigte er sich zeitlebens immer wieder mit seiner jüdischen Herkunft sowie der seiner berühmten Zeitgenossen. Einerseits zeugen seine Texte von starken Worten der Abneigung, ja sogar von Hass gegen die Juden, andererseits bewunderte er die literarischen Werke eines Franz Kafka und unterhielt enge Kontakte zu seinen jüdischen Schriftstellerund Übersetzerkollegen in Prag. Eisner teilte mit ihnen das Bewusstsein, dass sie dem „Widerspruch der Assimilation“ (Victor Karady) nicht entkommen konnten. Diese bot ihnen zwar die Verheißung, sich von der eigenen Herkunft zu befreien, dennoch blieb die Angst, dass die ‚Assimilation‘ – deren Bedingungen nach wie vor die nichtjüdische Umwelt festlegte – scheitern könnte.14 Diese Erfahrung existenzieller Unsicherheit wurde für Eisner mit der nationalsozialistischen Okkupation der böhmischen Länder zur bitteren Realität. Zwar fand er infolge seiner Ehe mit einer nichtjüdischen Deutschböhmin vorläufig Schutz vor der Deportation. Gleichwohl lebte er zwischen 1939 und 1944/45 nicht nur weitgehend isoliert, sondern auch mit der permanenten Angst, in ein Konzentrationslager deportiert zu werden. Eisner reagierte auf diese lebensbedrohende Situation mit einer beeindruckenden Arbeitsintensität: So entstanden in dieser Zeit der weitgehenden Isolation zahlreiche seiner nach 1945 publizierten Werke, vor allem Übersetzungen ins Tschechische und Essays zur tschechischen Literatur und Sprache. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Eisner jedoch vor allem durch seine auf Tschechisch und Englisch publizierten Essays über Franz Kafka eine über die tschechoslowakischen Grenzen hinausgehende Bekanntheit erlangen.15

14 Ohne diesen Konflikt, der sich der europäischen Judenheit in der Moderne im besonderen Maße stellte, lässt sich Eisners Rolle als kultureller Vermittler und Übersetzer kaum verstehen. Zur spezifisch jüdischen Erfahrung der Ambivalenz vgl. u. a. Karady, Victor: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Frankfurt am Main 1999, insb. 149– 173; Mendes-Flohr, Paul: The Study of the Jewish Intellectual. A Methodological Prolegomenon. In: Ders.: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity. Detroit 1991, 23–53. Zur Komplexität jüdischer Identitätsentwürfe in der Ersten Tschechoslowakischen Republik vgl. Čapková, Kateřina: Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918–1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918–1938]. Praha 2005. 15 Zu Eisners Schaffen während der Okkupationszeit vgl. den Beitrag von Daniel Řehák in diesem Band. Aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten zudem Georg Escher, Dagmar Žídková und Michaela Kuklová in ihren Beiträgen die Rezeption von Eisners Werk nach 1945. – Die Herausgeberinnen und Herausgeber konnten leider keinen Beitrag über Eisners

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Ines Koeltzsch

*** Der vorliegende Sammelband soll in erster Linie einen Beitrag zur Erforschung kultureller Vermittlungsprozesse im Böhmen des 19. und 20. Jahrhunderts leisten. Dass die Wahl auf eine einzelne Übersetzerpersönlichkeit fiel, ist sowohl auf pragmatische Überlegungen im Hinblick auf das doppelte Eisner-Jubiläum 2008/09 zurückzuführen als auch auf den unbefriedigten Forschungsstand zu Biografie und Werk Paul/Pavel Eisners. Aus den Diskussionen zwischen den Herausgeberinnen und Herausgebern, Autorinnen und Autoren des tschechisch- und deutschsprachigen Tagungsbandes ergaben sich dabei folgende Problemkreise und Fragestellungen: Erstens. Kulturelle Vermittlung wird hier als eine Form der Grenzüberschreitung verstanden, die in transnationalen Zwischenräumen entsteht und diese zugleich konstituiert. Vermittler agieren nicht allein, sondern sind vielmehr auf Netzwerke und Medien angewiesen, um ihre Ideen, Vorstellungen und Werke weiterzugeben. Es gilt daher die Zwischenräume, in denen sich Eisner bewegte und die Arbeitskontakte und Freundschaften, die er inner- und außerhalb der böhmischen Metropole pflegte, herauszuarbeiten. Wie hielten seine persönlichen Netzwerke den mehrfachen politischen Umwälzungen stand? Zweitens. Literatur und Sprache, aber auch Alltagskultur standen im Zentrum von Eisners Arbeit als Publizist, Übersetzer und Sprachdidaktiker. Lassen sich bei ihm bestimmte Strategien der Vermittlung erkennen? Wenn ja, waren diese Strategien abhängig von den Adressaten, und welchem zeitlichen Wandel unterlagen sie? Von besonderem Interesse ist dabei, wie Eisner das Bild von der deutsch-jüdischen Prager Literatur in tschechisch- und deutschsprachigen, in jüdischen und nichtjüdischen Medien vor 1939 und nach 1945 vermittelte. Drittens. Kulturelle Vermittlungsprozesse dürfen nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und politischen Machtverhältnissen betrachtet werden. Sie selbst beruhen auf dem Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion, von Einbeziehung und Ausgrenzung. Hier ist in erster Linie nach den Handlungsspielräumen, Widerständen und Grenzen der Vermittlungstätigkeit Eisners in den demokratischen und diktatorischen Ordnungen des 20. Jahrhunderts zu fragen. Viertens. Die Verhaltensweisen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster kultureller Vermittler beruhen auf sozial und kulturell vorgeformten Mustern. Eisners wirkungsmächtige und zugleich widersprüchliche Metaphern der „Symbiose“ auf der einen, des „Ghettos“, der „chinesischen Mauer“, der „unsichtbaren Dämme“ und der „Insel“ auf der anderen Seite waren nicht seine Erfindung, sondern stellten wichtige Bestandteile der zeitgenössischen Diskurse über die tschechisch-deutschen

persönliche Erfahrungen und Haltungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und insbesondere nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei 1948 gewinnen.



Zwischen den Kulturen. Zur Einführung

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und die jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen dar.16 Dies trifft auch auf seine ‚Anfälligkeit‘ für Begriffe wie „Rasse“, „Blut“ und „Boden“ zu. Hier sind die Kontexte, in denen Eisner diese Metaphern (re)produzierte und die Raumvorstellungen, die ihnen zugrunde lagen, zu rekonstruieren. Darüber hinaus muss diskutiert werden, welche Konsequenzen sich aus der damaligen Verwendung dieser Metaphern für unsere heutigen Interpretationen ergeben. Fünftens. Schließlich fällt auf, dass kulturelle Vermittler wie Eisner – aber beispielsweise auch Otokar Fischer, Rudolf Fuchs und Otto Pick – lange Zeit in Vergessenheit geraten waren und erst allmählich und nur partiell Eingang ins kulturelle Gedächtnis fanden. Zugleich werden immer wieder Versuche unternommen, ihnen eindeutige, wenngleich auch wechselnde Identitäten – ob als Deutsche, Tschechen oder Juden – zuzuschreiben, ohne dass dabei die Kontextabhängigkeit kultureller Selbst- und Fremdzuschreibungen berücksichtigt wird. Zweifelsohne ist dies eine Folge der von den Nationalsozialisten ausgelösten Zerstörung der multiethnischen Gesellschaft in der Tschechoslowakei und der Persistenz nationaler Denkmuster im Nachkriegseuropa, die es ebenfalls weiter zu analysieren gilt. Die Autorinnen und Autoren des Tagungsbandes können gewiss nicht alle diese Problemstellungen umfassend behandeln und die Forschungslücken zu den Aktivitäten der im Prag der späten Habsburgermonarchie und der Tschechoslowakischen Republik lebenden Übersetzerinnen und Übersetzern, Vermittlerinnen und Vermittlern schließen.17 Ebenso wenig können sie die Paradoxien der tschechisch-jüdisch-deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lösen. Sollten jedoch am Beispiel Eisners einige Widersprüche deutlicher als bisher formuliert und damit ein Beitrag zu einem besseren Verständnis der Potenziale und Konflikte in einer multikulturellen Gesellschaft im Europa des 20. Jahrhunderts geleistet werden, hat der Band seine Aufgabe erfüllt.

16 Zu der aus heutiger Sicht verblüffenden Wirkmächtigkeit von Eisners Interpretationsmustern der deutschsprachigen Literatur in Prag und insbesondere des Werkes von Franz Kafka in der Literaturwissenschaft dies- und jenseits des ‚Eisernen Vorhangs‘ nach 1948 vgl. den Beitrag von Georg Escher in diesem Band. 17 Die Übersetzungstätigkeit von weiblichen Intellektuellen wie beispielsweise Grete Reiner und Anna Auředníčková ist gänzlich unerforscht. Im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen wurde ihnen – mit Ausnahme des posthumen Ruhms von Milena Jesenská als Brieffreundin Franz Kafkas – keine vergleichbare öffentliche Aufmerksamkeit zuteil.

Václav Petrbok

Die „Tatsache zweier Muttersprachen“. Paul Eisners Schul- und Studienjahre im Prag des frühen 20. Jahrhunderts∗

Meinem Vater in memoriam In seinem Essay Bohyně čeká (Die Göttin wartet), den Paul/Pavel Eisner während seines Krankenhausaufenthaltes im April 1945 verfasste, heißt es: Die Lehr- und Wanderjahre im Bereich der Wortkunst sind nie zu Ende; und sprechen wir über die Meister der Wortkunst, handelt es sich insofern um eine Hyperbel, als jene, die wir so nennen, sich keinesfalls für Meister halten, sondern immer wieder vor Angst erzittern, wenn sie dem schrecklichen Engel namens Sprache begegnen. In Sachen Sprache wird man sich nicht vom Gefühl leiten lassen, hier waltet ununterbrochene Arbeit und ein uralter Kampf mit jenem Dämon; und jede Kadenz, jedes Semikolon kann die Elfe des Traums von deinen Augenlinden verscheuchen.1

Der Autor des vorliegenden Beitrags stellt sich eine viel bescheidenere Aufgabe. Statt mit Eisners häufig unsystematischen Überlegungen über seine (Nicht-)Zuständigkeit für die beiden böhmischen Landessprachen Tschechisch und Deutsch – die er übrigens „meisterhaft“ beherrschte – werde ich mich mit seinen Schul- und Hochschuljahren beschäftigen. Im Folgenden frage ich danach, ob und wie die Voraussetzungen und die Intensität von Eisners Zweisprachigkeit mit dem uns zur Verfügung stehenden Wissen über seinen familiären Hintergrund und seine Schul- und Hochschuljahre erklärt werden können. Wie gestaltete sich der Weg von der vorliterarischen Zweisprachigkeit Eisners hin zu einem literarischen Bilingualismus, der im 19. Jahrhundert in den böhmischen Ländern noch eine relativ häufige Form der literarischen Kommunikation darstellte? Inwiefern wurde Eisner von diesem ‚älteren‘ literarischen Bilingualismus geprägt? Welche neuen Kontexte wirkten sich auf die Entfaltung von Eisners eigener Variante des literarischen Bilingualismus am Beginn des 20. Jahrhunderts aus?2 Für Quellenhinweise, Gespräche und andere Unterstützung danke ich Veronika Dudková, Georg Escher, Ines Koeltzsch, Lenka Matušíková, Daniel Řehák, Michal Sejk und Magdalena Šrůtová. 1 Eisner, Pavel: Bohyně čeká: Traktát o češtině [Die Göttin wartet : Ein Traktat über das Tschechische]. Zürich 1977, 60–61 (Erstausgabe: Praha 1945). Zur Entstehungsgeschichte von Eisners Essay vgl. auch den Beitrag Daniel Řeháks in diesem Band. 2 Die Literatur zum Thema Bilingualismus ist sehr umfangreich. An dieser Stelle sei verwiesen auf: Mackey, William F.: Bilingualism and Multilingualism. In: Ammon, Ulrich u. a. (Hg.): ∗

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Diese Fragestellung erfordert die Auswertung und Interpretation von Quellen verschiedener Provenienz. Zunächst sind eine Vielzahl amtlicher Quellen wie zum Beispiel Jahresberichte, Schulchroniken und Schüler- und Studentenverzeichnisse heranzuziehen, mit deren Hilfe sich Eisners Schul- und Studienjahre rekonstruieren lassen. Die Auswertung dieser Quellen stützt sich dabei auf die Literatur zum Prager Schul- und Hochschulwesen, das auf Eisners frühe Publizistik und Übersetzungen großen Einfluss hatte.3 Darüber hinaus werden Selbstzeugnisse und Erinnerungen ausgewertet, um Eisners Reflexionen auf seinen familiären Hintergrund sowie seine Selbstverortungen näher zu beleuchten. Auch hier kann sich die vorliegende Studie auf bisherige Forschungen insbesondere zur Geschichte der Prager Judenheit stützen.4 Die frühen Korrespondenzen EisSociolinguistics: An International Handbook of the Science of Language and Society. Berlin/ New York 2005, 1483–1495 (mit einer umfassenden Bibliografie); Bade, Klaus J.: Einleitung: Grenzerfahrungen – die multikulturelle Herausforderung. In: Ders. (Hg.): Die multikulturelle Herausforderung. Menschen über Grenzen – Grenzen über Menschen. München 1996, 10–26; Kremnitz, Georg: Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit: institutionelle, gesellschaftliche und individuelle Aspekte. 2. korr. Aufl., Wien 1994; Kremnitz, Georg/Tanzmeister, Robert (Hg.): Literarische Mehrsprachigkeit. Wien 1995; Haarmann, Harald: Language in Ethnicity. A View of Basic Ecological Relations. Berlin/New York/Amsterdam 1986; Stiehler, Harald: Interkulturalität und literarische Mehrsprachigkeit in Südosteuropa. Das Beispiel Rumäniens im 20. Jahrhundert. Wien 2000. – Zum Bilingualismus in den böhmischen Ländern vgl. insb. Iggers, Wilma A.: The Flexible National Identities of Bohemian Jewry. In: East Central Europe, 7 (1980) H. 1, 9–48; Luft, Robert: Nationale Utraquisten in Böhmen: Zur Problematik „nationaler Zwischenstellung“. In: Godé, Maurice u. a. (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague de 1890 à 1924/Deutsche, Juden und Tschechen in Prag 1890–1924. Montpellier 1996, 37–51; ders.: Zwischen Tschechen und Deutschen in Prag um 1900. Zweisprachige Welten, nationale Interferenzen und Verbindungen über ethnische Grenzen. In: brücken, N. F., 4 (1996), 143–169; Nekula, Marek: Česko-německý bilingvismus [Tschechisch-deutscher Bilingualismus]. In: Ders./Koschmal, Walter (Hg.): Češi a Němci: dějiny, kultura, politika [Tschechen und Deutsche: Geschichte, Kultur, Politik]. Praha 2001, 152–158; ders.: Franz Kafkas Sprachen : „… in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes …“. Tübingen 2003. 3 Zur Geschichte des Prager Schul- und Hochschulwesens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vgl. z. B. Burger, Hannelore: Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867–1918. Wien 1995, insb. 37–46; Binder, Harald/Křivohlavá, Barbora/Velek, Luboš (Hg.): Místo národních jazyků ve výchově, školství a vědě v habsburské monarchii 1867–1918 [Der Stellenwert der Nationalsprachen in der Erziehung, Schule und Wissenschaft in der Habsburgermonarchie 1867-1918]. Praha 2003; Bláhová, Kateřina/Petrbok, Václav (Hg.): Vzdělání a osvěta v české kultuře 19. století [Bildung und Erziehung in der Kultur der böhmischen Länder des 19. Jahrhunderts]. Praha 2004. 4 Vgl. v. a. Spector, Scott: Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle. Berkley/Los Angeles/London 2000, insb. 195–233; Kieval, Hillel J.: The Making of Czech Jewry: National Conflict and Jewish Society in Bohemia, 1870–1918. New York 1988; ders.: Languages of Community. The Jewish Experience in the



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ners sind leider nur bruchstückhaft überliefert, wobei vor allem seine Briefe an Otokar Fischer, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz zu erwähnen sind.5 Gleichzeitig werden auch Eisners spätere Briefe in die Untersuchung einbezogen, insofern er sich darin – wie etwa in seiner Korrespondenz mit dem Literaturkritiker Václav Černý – an seine Kindheit und Jugend erinnert.6 Im Hinblick auf die Entwicklung seines literarischen Bilingualismus stellt ebenfalls Eisners unveröffentlichte Dissertation Lessing, Goethe und Schiller in tschechischen Übersetzungen eine wertvolle Quelle dar, da er sich in dieser intensiv mit dem Übersetzen literarischer Texte auseinandersetzte.7 Zudem werden Eisners vielfältige publizistische Quellen in die Interpretation einbezogen. Schließlich werden Selbstzeugnisse anderer Personen, die in einem engen Verhältnis zu Eisner standen, in die Analyse einbezogen. Hierzu zählen in erster Linie die Notizbücher des Prager Germanistik-Professors August Sauer sowie die Erinnerungen von Eisners Tochter Dagmar Peroutková-Eisnerová, die in der Diplomarbeit Božena Homolkovás in Form eines Interviews überliefert sind. Homolkovás Arbeit ist kurz nach Eisners Tod Ende der 1950er Jahre entstanden, das heißt zu einer Zeit, als das Interesse an der Prager deutschsprachigen Literatur neu belebt wurde.8

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Czech Lands. Berkeley/Los Angeles/London 2000, insb. 135–158; Čapková, Kateřina: Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918–1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918–1938]. Praha 2005; Cohen, Gary B.: The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861–1914. 2. korr. Aufl., West Lafayette 2006, insb. 61–200; Frankl, Michal: „Emancipace od Židů“. Český antisemitismus na konci 19. století [„Emanzipation von den Juden“. Der tschechische Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts]. Praha 2007. Mit dem Briefwechsel zwischen Paul Eisner und Otokar Fischer beschäftigte sich Jarmila Mourková. Vgl. dies.: Von Paul Eisner zu Pavel Eisner. Einige von der Korrespondenz Pavel Eisners mit Otokar Fischer inspirierte Gedanken. In: brücken, A. F., 5 (1988/89), 11–24. Zu Eisners Korrespondenz mit Hofmannsthal vgl. Stern, Martin: Hofmannsthal und Böhmen (3) Hofmannsthals Plan einer „Tschechischen Bibliothek“ (1918). Ein Aufklärungswerk für die Deutschen. Mit unveröffentlichten Briefen und Notizen von und an Paul Eisner, Franz Spina und Ottokar Winicky. In: Hofmannsthal-Blätter, (1969) H. 3, 195–215. Zu Eisners Briefen an Rudolf Pannwitz vgl. Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002. Literární archiv Památníku národního písemníctví [Tschechisches Literaturarchiv, im Folgenden LA PNP]. Nachlass Václav Černý. Vgl. v. a. den Brief Pavel Eisners an Václav Černý, 22. 8. 1946. Die Übersetzung dieses Briefes ist als Anhang abgedruckt. Zum Kontext des Briefes siehe auch den Beitrag von Daniel Řehák in diesem Band. Eisners Dissertation ist in zwei Exemplaren überliefert. Sie befinden sich in der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik bzw. im Archiv der Karls-Universität. Das Exemplar in der Nationalbibliothek (Signatur Diss D 155) trägt folgende Anmerkung: „vorgelegt v. Paul Eisner, Prag II, Havlíčekpl. 3. Juni 1918“. Vgl. Homolková, Božena: Práce Pavla Eisnera z oboru germanistiky a germanoslavistiky [Die Arbeiten Paul Eisners in den Fächern Germanistik und Germanoslawistik]. Praha 1959/60.

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Paul Eisners familiärer Hintergrund Paul Eisner wurde am 16. Januar 1889 in Královské Vinohrady (Königliche Weinberge) als Sohn von Klara und Moses Moritz Eisner geboren, die in der Rubešova ulice (Rubeschgasse) wohnten.9 Der jüdischen Tradition folgend, fanden Eisners Beschneidung (Brit Mila) und die mit ihr einhergehende Vergabe des Vornamens acht Tage später statt, und zwar in der Synagoge von Michle.10 Die Frage nach den sprachlichen und kulturellen Identitäten von Eisners Eltern hat die ältere Literatur nur sehr allgemein beantwortet. So habe sich Viktor Kudělka, dem Autor des entsprechenden Eintrags im Lexikon české literatury (Lexikon der tschechischen Literatur) zufolge in Eisners Familie „der deutschen Sprachtradition zum Trotz das tschechische Nationalbewusstsein erhalten“.11 Aus dem Trauungsbuch der Prager jüdischen Gemeinden geht hervor, dass Eisners Eltern aus Mittelböhmen stammten – das heißt aus einer Region, die beinahe vollständig von einer tschechischsprachigen Bevölkerung besiedelt war.12 Eisner selbst behauptete in einem Brief an Václav Černý aus dem Jahr 1946, dass seine Eltern zwar beide Sprachen beherrscht hätten – was für Juden in der tschechischsprachigen Umwelt typisch war –, ihre Muttersprache sei jedoch Deutsch gewesen.13 Dass die böhmische Judenheit bis in die 1870er Jahre mehrheitlich deutschsprachig blieb, hatte mehrere Ursachen: Am meisten fiel wohl die Tatsache ins Gewicht, dass Deutsch zu jener Zeit die Unterrichtssprache an den meisten mittleren und höheren Schulen sowie an beinahe allen jüdischen Normalschulen in Böhmen war.14 Wie die

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Unveröffentlichte Magisterarbeit, die am Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität eingereicht wurde. Dort ist sie auch einsehbar. Eisner, Pavel: Pohled zpátky a slib [Rückblick und Versprechen]. In: Věstník židovské obce náboženské v Praze, 11 (1949) H. 4, 41. Die im Prager Stadtarchiv aufbewahrten Aufenthalts- respektive Wohnungsanmeldungen stehen für die damalige Prager Vorstadt Královské Vinohrady derzeit leider noch nicht zur Verfügung. Národní archiv ČR [Nationalarchiv der Tschechischen Republik, im Folgenden NA]. Matriky židovských náboženských obcí [Matrikelbücher der jüdischen Religionsgemeinden, im Folgenden HBMa], Michle R. O. U. 1889–1939, 1. – Vgl. auch Anhang 1. vk [Viktor Kudělka]: Eintrag Pavel Eisner. In: Forst, Vladimír u. a. (Hg.): Lexikon české literatury. Osobnosti, díla, instituce [Lexikon der tschechischen Literatur. Personen, Werke, Institutionen]. Bd. 1, Praha 1985, 650–653. Damit gab sich bereits die Literaturhistorikerin Jarmila Mourková nicht zufrieden. Mourková, Von Paul Eisner zu Pavel Eisner, 11. NA. HBMa, Nr. 2683, Trauungsbuch. Litt. 7, 4. Abth. 1887, 236. Siehe die Übersetzung des Briefes im Anhang. Vgl. Pařík, Arno: Synagoga nebo škola? Tradiční a normální židovské školy v Čechách 19. století [Synagoge oder Schule? Traditionelle und jüdische Normalschulen in Böhmen im 19. Jahrhundert]. In: Bláhová/Petrbok, Vzdělání, 353–364, hier 356 (Erwähnung der gutbesuchten mehrklassigen Schule in Votice). Zu weiteren Ursachen der früheren Deutschsprachigkeit der böhmischen Judenheit vgl. Čapková, Češi, Němci, Židé?, 54–61.



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Historikerin Kateřina Čapková betont, bekannten sich als erste die jüdischen Absolventen der tschechischsprachigen Gymnasien aus Süd- und Südostböhmen zum Tschechischen als „Umgangssprache“. „Es war kein Zufall“, so Čapková, „dass die organisierte tschechisch-jüdische Bewegung ausgerechnet in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre entstand“.15 Eisners Vater zog wie die meisten seiner in den 1850er Jahren geborenen jüdischen Altersgenossen, wie beispielsweise Franz Kafkas Vater Hermann, nach Prag, um seine ökonomische Lage zu verbessern.16 Dies gelang Moritz Eisner auch zunächst. Er lernte hier seine spätere Ehefrau kennen, er gründete eine Familie und ließ sich in der aufstrebenden Prager Vorstadt Královské Vinohrady nieder. Die Beweggründe, seinen Sohn eine tschechischsprachige Volks- beziehungsweise Mittelschule besuchen zu lassen, waren offensichtlich existenzieller Art, denn Eisners Vater hatte zunehmend mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen.17 Auch seine politischen Überzeugungen und persönlichen Beweggründe spielten vermutlich eine Rolle bei der Wahl der Schule. Sie war typisch vor allem für neu nach Prag

15 Ebd., 57. 16 Moritz Eisner wurde wahrscheinlich 1854 geboren. In seinem Sterbebuch wird als Herkunftsort (auch Geburtsort?) Břeštice u Votic angegeben. Im Geburtsbuch der zuständigen Synagoge in Votice konnte keine Angabe über die Geburt von Moses Eisner – den deutschen Vornamen Moritz begann er erst später zu benutzen – gefunden werden. Unter den Voticer Familianten wird auch der Großvater Aron nicht erwähnt. Im Familiantenbuch für den Berauner Kreis ist Aron Eisner, geb. 1823, als der dritte Sohn eines Juda (später Julius) Eisner und von Elisabeth, geborene Wolfnerin angeführt. Demnach erhielt er am 2. 9. 1847 die Heiratszustimmung für das Lohgerbergewerbe (ohne Ortsangabe) und starb als Adolf Eisner am 16. 2. 1887 in Prag. Vgl. NA. HBF, Nr. 9 – Berounsko VII, 111, Dorf Dušníky (Duschnik), u. ebd. HBMa, Nr. 2783, Totenbuch, 280. Dem Literaturhistoriker Jiří Franěk zufolge war Eisners Großvater der bekannte böhmische Revolutionsdichter Moritz Hartmann (1821–1872). Vgl. Franěk, Jiří: Ještě jednou Pavel Eisner [Noch einmal Paul Eisner]. In: Sborník Kruhu přátel českého jazyka [Sammelband des Freundeskreises der tschechischen Sprache]. Praha 1990/91, 3. – Dies deutet auch Eisners Sonety kněžně (Sonette an die Fürstin, 1945) an, in denen eine Anspielung auf Hartmanns erste Elegie aus der Sammlung Kelch und Schwert (1845) enthalten ist. 17 Eisner bemerkte dazu in seinem Brief an Václav Černý von 1946 folgendes: „Der Vater […] hatte es aus lauter Ehrlichkeit vom Großhändler zum Agenten-Proletarier geschafft.“ Siehe Anhang 8. Otokar Fischer teilte er bereits am 23. August 1934 mit: „Der Vater [...] war im Unterbewusstsein ein Vasall des tschechischen Bodens, nur deshalb nicht Bauer, weil er eben ein Jude war. Zu seinem Unglück gelangte er nach Prag, lebte hier als ein ewiger Rebellant gegen die Stadt, ihre Menschen und auch deren Seele. Sein Temperament konnte sich nicht so ausleben, wie er es wollte: nicht nur wegen seines subjektiven Schicksals, sondern auch wegen seines Judentums: denn auch ein ländlicher Jude seiner Zeit war im Ghetto, die von Zeit zu Zeit stattfindende Unterhaltung mit dem Gutsverwalter, mit einem Knecht oder einer Magd konnte daran nichts ändern.“ Zit. nach Mourková, Von Paul Eisner zu Pavel Eisner, 12.

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gezogene Familien und weniger für alteingesessene Prager jüdische Familien.18 Eisners Mutter scheint aufgrund ihrer sozialen Herkunft – sie stammte vermutlich aus einer wohlhabenden Familie – auf die deutsche Sprache größeren Wert gelegt zu haben. Nichtsdestotrotz kam wohl auch in Eisners Familie, wie bei den Mittelschichten üblich, der sogenannte ‚funktionelle Bilingualismus‘ zur Geltung: Das heißt die Familienmitglieder sprachen untereinander meistens Deutsch, mit ihrer Umwelt kommunizierten sie jedoch in beiden Sprachen.19 Obwohl die jüdischen Mittelschichten die deutsche Sprache bevorzugten, zeigten viele ihrer Mitglieder Verständnis für die tschechische Kultur. Die tschechische Sprache hatte damals dennoch ein geringeres Sozialprestige, und so beteuerte Eisner in seinen späteren Lebensjahren rückblickend, dass die „Ammen, Mägde und Fräulein“ im Prag des 19. Jahrhunderts Tschechisch gesprochen hätten.20

Eisners Realschulzeit in Prag Paul Eisner besuchte die tschechische Volksschule in der Prager Neustadt, am Havlíčekplatz 3, wohin die Familie umgezogen war. Ab dem Schuljahr 1899/1900 setzte er sein Studium an der k. u. k. Realschule in der Ječná ulice (Gerstengasse) fort. Die Wahl dieser angesehenen tschechischsprachigen Mittelschule ist bemerkenswert angesichts dessen, dass zu dieser Zeit der tschechische Antisemitismus in Prag infolge der Badenischen Sprachverordnungen und der Ritualmordaffäre von 18 Vgl. Čapková, Češi, Němci, Židé?, 64. – Ähnlich äußerte sich Hartmut Binder über Eisners Vater. Vgl. ders.: Paul Eisners dreifaches Ghetto. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag. In: Reffet, Michel (Hg.): Le monde Franz Werfel et la morale des nations […]/Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker […]. Bern u. a. 2000, 17–139, hier 79. – Gary B. Cohen zufolge wurden 1900 91 Prozent der jüdischen Schüler an den Prager deutschen öffentlichen Schulen der ersten Stufe eingeschrieben; 1910 wurden lediglich 17 Prozent der jüdischen Schüler an den tschechischen öffentliche Schulen der zweiten Stufe (Gymnasien, Realschulen) aufgenommen. Unter ihnen gab es eine große Zahl jüdischer Schüler, die aus kleineren mittelböhmischen Städten kamen. Vgl. ders., The Politics of Ethnic Survival, 164. – Vgl. auch Robert Luft, Sprache und Nationalität an Prager Gymnasien um 1900. In: Ehlers, Klaas-Hinrich u. a. (Hg.): Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Festschrift für Kurt Krolop zum 70. Geburtstag. Frankfurt am Main 2000, 105–122. 19 Vgl. Leeuwen-Turnovcová, Jiřina van: Ještě jednou o diglosii v Čechách, tentokrát i z genderového zorného úhlu [Noch einmal über die Diglossie in Böhmen, nun auch im Hinblick auf die Kategorie des Geschlechts]. In: Slovo a slovesnost, 63 (2002), 178–199. 20 Siehe Anhang 8. Eisner spielt in seinem Buch Chrám i tvrz auf die Besonderheiten der tschechischen Sprache an, die die Eisners benutzten. Vgl. Eisner, Pavel: Chrám i tvrz: Kniha o češtině [Dom und Festung: Ein Buch über das Tschechische]. Praha 1997, 184 (Erstausgabe 1946).



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Polná (Polna) kulminierte. Sie kann daher als Zeugnis von Moritz Eisners Verbundenheit mit der tschechischen Gesellschaft gedeutet werden. Für diese Wahl spricht außerdem sein Pragmatismus: Dem Wunsch seines Sohnes, der an einem klassischen Gymnasium studieren wollte, zum Trotz, beschloss Moritz Eisner, diesem eine „solide Bildung“ zukommen zu lassen.21 Die erwähnte Realschule gehörte zu den ersten Bildungsinstituten in Cisleithanien, die nach 1850 Tschechisch als Unterrichtssprache eingeführt hatten. Sie wurde durch die Vermittlung des Ministerialrates Franz Exner von dem ursprünglich deutschsprachigen Prager und cisleithanischen Patrioten Josef Wenzig (1807– 1876) gegründet. Dieser verfasste Studien, in denen er den tschechisch-deutschen Sprachausgleich und die Zusammenarbeit im Erziehungs- und Bildungswesen propagierte. Außerdem betätigte er sich als Literaturhistoriker, Geograf, Dramatiker und (damals noch ausschließlich) als deutschsprachiger Dichter.22 Josef Wenzig regte das – den liberalen böhmischen Deutschen wie den tschechischen Nationalisten gleich verhasste – „Sprachenzwanggesetz“ an, das an allen böhmischen Schulen die Lehre der jeweils zweiten Landessprache vorschrieb. Später dichtete Wenzig auf Tschechisch und schuf unter anderem – jedoch auf Deutsch – das Libretto von Bedřich Smetanas Oper Libuše. Sein Leben und Werk kann als repräsentativ für die zweisprachige böhmische Intelligenz gelten, aus deren Reihen sich die tschechische kulturelle und politische Elite rekrutierte. Dazu gehörten auch eine Reihe von Lehrern wie der Historiker Anton/Antonín Gindely, der Geograf Johann/Jan Krejčí, der Historiker und Übersetzer Jan Josef Řehák, der unter dem Pseudonym J. J. Gregory publizierte. Eine besondere Rolle spielte in diesem Prozess die Literatur, der die tschechischen Nationalisten des 19. und 20. Jahrhunderts eine politische Ersatzfunktion auf Grund der mangelnden tschechischen Staatlichkeit zuschrieben.23 Die Realschulen räumten insbesondere dem Unterricht der modernen Sprachen viel Platz ein – auf Kosten von Latein und Griechisch, die an den klassischen Gymnasien Abiturfächer und zugleich die Voraussetzung für ein Universitätsstudium waren. Außerdem wurden an den Realschulen Fächer unterrichtet, die dem ‚modernen Leben‘ entgegen kamen. Die von Josef Weber entworfenen Lehrpläne für die tschechischen Realschulen aus dem Jahr 1875 versprachen insbesondere „auf der Grundlage mathematisch-naturwissenschaftlicher Wissenschaften“ eine höhere fachliche Ausbildung, durch welche die Absolventen für das Studium an technischen Hochschulen sowie an Forst- und Bergbauakademien vorbereitet werden 21 Vgl. Homolková, Práce Pavla Eisnera, 4. 22 Vgl. vpb [Václav Petrbok]: Eintrag Josef Wenzig. In: Merhaut, Luboš u. a. (Hg.): Lexikon české literatury. Osobnosti, díla, instituce [Lexikon der tschechischen Literatur. Personen, Werke, Institutionen]. Bd. IV/2, Praha 2008, 1611–1616. 23 Kořalka, Jiří: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815–1914. Wien/München 1991, 123.

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sollten. In sieben Klassen, die mit dem Abitur abgeschlossen wurden, unterrichtete man folgende Fächer: Religion, Tschechisch, Deutsch, Französisch (beziehungsweise Englisch), Geschichte, Verfassungskunde, Geografie, Statistik, Mathematik, Physik, Naturkunde, Chemie, Geometrie, Zeichnen, Schönschreiben, Turnen.24 Es leuchtet ein, dass ein solcher Lehrplan die Vorstellungen und Ansprüche des jungen Paul Eisners, der sich rückblickend zu einer „češtinářská celebrita“, zu einer Berühmtheit des Tschechischunterrichts stilisierte, kaum befriedigen konnte.25 Die Erinnerungen des berühmten Germanisten Otokar Fischer (1883–1938) an seine Zeit an der Realschule in Kolín (Kolin) können vermutlich Eisners damalige Situation an der Realschule in der Ječná ulice (Gerstengasse) illustrieren: Es [die Pubertät, V. P.] war nicht das einzige Leiden. Ein weiteres hieß Zeichnen – Perspektive und Deskriptive. Das Gymnasium war ein reales, und die Geometrie daher, nicht anders als Rechnen, völlig jenseits der Begabung eines Menschen, der schon von seinen Erbanlagen her philologisch veranlagt war. Die kunstlos gemessenen Zeichnungen bereiteten Leiden, die eine klare Sprache und eine Warnung sprachen – oder hätten sprechen müssen: Man stürze sich nicht auf ein Fach, zu dem einem die gebührende Qualifikation fehlt!26

Die üblichen Karrierewege damaliger Realschulabsolventen können am Beispiel einiger Mitschüler Eisners veranschaulicht werden: Unter diesen befanden sich etwa der künftige Architekt Cyril Nebuška (1886–?) oder der Gymnasialprofessor Bohuslav Lhota (1887–?), der auch Mitverfasser eines Lehrbuchs für Warenkunde war. Eisners Parallelklasse besuchten wiederum Bohuslav Stempel (1888–1969), der als Hochschullehrer für die Biomechanik der Pflanzen bekannt wurde, der Bauingenieur Rudolf Šolta (?–1969) sowie Ladislav Vojtík (1888–?), der ein Handbuch der tschechisch-serbischen Handelskorrespondenz verfasste. Vojtík übersetzte außerdem aus dem Englischen und Französischen. Ausnahmen bestätigen die Regel: So besuchten die Schule ebenfalls der jüngere Bruder Otokar Fischers, der spätere Philosoph und Historiker Josef Fischer (1891–1945), der sich zwei Klassenjahrgänge unter Eisner befand, sowie der spätere Theater- und Filmregisseur Jindřich Honzl (1894–1953), der in der Prima war, als Eisner sein Abitur ablegte.27 24 Šafránek, Jan: Za českou osvětu. Obrázky z dějin českého školství středního [Für eine tschechische Erziehung. Aus der Geschichte der tschechischen Mittelschulen]. Praha 1898, 139. 25 Siehe Anhang 8, Abschrift des Briefes von Pavel Eisner an Václav Černý, 22. 8.  1946. Eisner scheint bereits als Realschüler Nachhilfestunden im Tschechisch- und Deutschunterricht erteilt zu haben, woran er sich mehrmals in seinem Buch Chrám i tvrz erinnert. Ders., Chrám i tvrz, 89–94 u. 295. 26 Fischer, Otokar: Můj Kolín [Mein Kolin]. Kolín 1936, 6. 27 Die Familie Fischer zog von Kolín (Kolin) nach Prag. Ihr älterer Sohn Otokar nahm hier ein Studium sowohl an der deutschen als auch an der tschechischen Universität auf. Alle Informationen sind aus den Jahresberichten der Realschule entnommen: Výroční zpráva c. k. české



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Die Schulchroniken ermöglichen auch die Rekonstruktion des sprachlichen und konfessionellen Hintergrunds von Eisners Mitschülern. Unter diesen überwogen Jungen, deren Eltern bei der Anmeldung Tschechisch als Umgangssprache angaben. Die meisten von Eisners Mitschülern waren außerdem Christen aus nichtjüdischen Familien, da die Zahl jüdischer Konvertiten in Prag relativ gering war.28 Einzelne Schüler stammten jedoch aus mittel- und südböhmischen jüdischen Familien wie etwa ein gewisser Karel Eisner aus Pacov, ein gewisser Josef Taussig aus Řevničov, ein gewisser Maximilian Roubitschek aus Rataje oder der schon erwähnte Josef Fischer. Diese Schüler besuchten ebenso wie Paul Eisner den jüdischen Religionsunterricht, der von Rabbiner Filip Bondy (1830–1908), einem führenden Repräsentanten der tschechisch-jüdischen Bewegung, geleitet wurde.29 Ob und inwiefern Eisner den latenten Antisemitismus der tschechischen Mehrheitsgesellschaft an der Realschule zu spüren bekam, lässt sich anhand der Quellen nicht eindeutig beantworten. Hartmut Binder wies diesbezüglich auf die Erfahrungen des sechs Jahre älteren Schriftstellers Franz Kafka am deutschsprachigen K. u. k. Staatsgymnasium in der Prager Altstadt hin. Binder zufolge sah sich [Eisner, V. P.] einer Übermacht der nationalbewußten Tschechen gegenüber, die, dem von ihm gewählten Schultyp entsprechend, eher den mittleren und unteren sozialen Schichten angehörten und […] stark antisemitisch geprägt waren. […] In dieser Situation mußte es fast zwangsläufig zu Stigmatisierungen kommen, die im deutschsprachigen Prager Milieu nicht vorstellbar gewesen wären.30

Auf Eisners eventuelle Erfahrungen mit dem Antisemitismus weise der Umstand hin, so Binder, „daß er, in gewisser Beziehung die Wahrheit beugend, Kafkas Grundschuljahre [wie er sie im Buch Kafka and Prague schilderte, V. P.] in Richtung auf die Schulkarriere zu stilisieren sucht, die er selbst durchlaufen hatte.“31 Eisner thematisiert jedoch – im Unterschied zu seinen Zeitgenossen Ludwig Winder, Max Zweig und Oskar Baum – weder in privaten Schriftzeugnissen noch in publizierten Texten judenfeindliche Erfahrungen an seinen Schulen.

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reálky pražské na Novém Městě ( Ječná ulice) 1899/1900 – 1905/06 [ Jahresberichte der k. u. k. tschechischen Realschule in der Prager Neustadt (Gerstengasse) 1899/1900 – 1905/06]. Riff, Michael Anthony: Assimilation and Conversion in Bohemia. Secession from the Jewish Community in Prague 1868–1917. In: LBI Yearbook, 26 (1981), 73–88, insb. 78. Vgl. auch Čapková, Češi, Němci, Židé?, 67. Bondy war Rabbiner in der Synagoge Or tomid in der Jindřišská-Gasse. Zugleich verfasste er die tschechischsprachigen Synagogalpredigten Hlas Jakobův (Die Stimme Jakobs, 1886). Binder, Paul Eisners dreifaches Ghetto, 66. Eisners Erfahrungen mit dem tschechischen Antisemitismus an der Realschule deutete schon Božena Homolková an: „Gleichzeitig tauchen vor uns seine [Eisners] zahlreiche Studien auf, insbesonderen jene über Kafka und Werfel, in denen er so oft die Probleme im Zusammenleben der tschechischen Judenheit mit dem tschechischen Prag anspricht.“ Dies., Práce Pavla Eisnera, 3. Binder, Paul Eisners dreifaches Ghetto, 66.

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Eisners späterer Erinnerung zufolge habe er bereits als Realschüler neben seiner Schwäche für die tschechische Sprache einen „slawistischen Tick“ gehabt.32 Dies ist vor allem auf einen seiner ersten Tschechisch-Lehrer an der Realschule, dem Romanisten und Literaturhistoriker Prokop Miroslav Haškovec (1876–1935)33 sowie vor allem auf den Philologen Karel I. Černý (1864–1934) zurückzuführen, der nach Haškovec den Tschechischunterricht in Eisners Klasse übernahm. Černý war zugleich auch Eisners Deutschlehrer.34 Eisner fühlte sich offenbar wegen Černýs breiter philologischer Interessen und seines Humors von ihm angezogen.35 Černý war Schüler des Sprachwissenschaftlers Jan Gebauer und arbeitete später in der Redaktion des Ottův slovník naučný (Ottos Konversationslexikon) mit. 1890 begann er an der Realschule in der Ječná ulice zu unterrichten und wechselte danach als stellvertretender Professor an die Realschule in Pardubice (Pardubitz). Zwischen 1895 und 1899 war er als Professor in Jičín ( Jitschin) tätig und kehrte schließlich 1901 an die Realschule in der Ječná ulice zurück. Bereits als Gymnasiast in Litomyšl (Leitomischl) und Rychnov nad Kněžnou (Reichenau a. d. Kněžna) war er literarisch tätig und übersetzte aus dem Französischen sowie ab und zu auch aus dem Russischen. Černý beteiligte sich außerdem an der Seite seines Lehrers Jan Gebauer am Streit um die Echtheit der sogenannten Königinhofer und Grünberger Handschriften. Bei diesem Streit ging es um eine kritische Überprüfung der vermeintlichen Zeugnisse alttschechischer Schriftkultur, die Anfang des 19. Jahrhunderts – in der Frühphase der sogenannten nationalen Wiedergeburt – als Symbol und Rückprojektion der tschechischen politischen und kulturellen Eigenständigkeit gefälscht worden waren.36 Seine paläographischen Beiträge, in denen er diese 32 Siehe Anhang 8. 33 ls [Ladislav Soldán]: Eintrag Prokop Miroslav Haškovec. In: Forst (Hg.), Lexikon české literatury, Bd. 2/1, 92–94. 34 Zu Eisners Tschechisch- und Deutschlehrern an der Realschule vgl. Anhang 5. 35 Im ungeordneten Nachlass von Karel I. Černý im LA PNP konnten keine Briefe von Eisner gefunden werden. Eisner erwähnt Černý und Haškovec jedoch in seinem Essay Bohyně čeká: „Ich hatte ausgezeichnete Tschechischlehrer und werde ihnen immer dankbar sein. Sie gaben mir alles, was sie mir geben konnten. Nicht das, was sie wollten – soviel sie konnten. Die Lehrpläne hinderten sie daran, ihren Köpfen und Herzen nachzugeben.“ Eisner, Bohyně, 15. – Mit feiner Ironie schreibt Eisner auch von ihnen im Buch Chrám i tvrz: „Mein Tschechischlehrer Karel Irenej Černý war ein ausgezeichneter Bohemist und zugleich eifriger und milder Lehrer, kurz ein Mann von der Generation der Tschechischlehrer, die Gebauer zu Füßen saß. Und dennoch...“ Eisner, Chrám, 516. – Černý unterrichtete Eisner in der Tertia auch in Französisch. Danach hatte Eisner Französischunterricht (sein Abiturfach) bei Václav Ertl (1875–1929), einem anderen bedeutenden tschechischen Bohemisten. Auch nach Jahren noch schätzte Eisner an Ertl und Černý ihr Bemühen, analoge Spracherscheinung im Tschechischen bzw. in anderen Sprachen komparativ zu untersuchen. Ebd., 546. 36 Vgl. hierzu etwa mo (Mojmír Otruba): Rukopisy královédvorský a zelenohorský [Die Königinhofer und Grünberger Handschriften]. In: Opelík, Jiří (Hg.): Lexikon české literatury



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Handschriften als Fälschungen entlarvte, wurden in der Zeitschrift Athenaeum abgedruckt. 1893 behandelte Černý dieses Thema auch in einem Vortrag, den er im Verein der tschechischen Philologen ( Jednota českých filologů) hielt. Er setzte sich mit dem Thema jedoch nicht nur wissenschaftlich auseinander: Unter den Pseudonymen J. J. Mýcěnín beziehungsweise Jaroslav Klackobor veröffentlichte er die „alttschechische“ Satire Nové skládanie o velikém pobitie Tataróv (Neues Epos vom großen Sieg über die Tataren, 1886) sowie die Persiflage Passio s. Mutani gloriosi martyri (1889).37 Černý beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit dem spätmittelalterlichen Philosophen Tomáš Štítný ze Štítného (Thomas von Stítné) und kritisierte die neuen wissenschaftlichen Editionen der alttschechischen Literatur heftig.38 Eisners Begeisterung für die tschechische Sprache scheint sich indessen negativ auf sein Deutsch ausgewirkt zu haben. Aus dem Rückblick schrieb er darüber an Václav Černý: „Mein Deutsch strotzte damals vor Bohemismen und anderen Fehlern.“39 Eisner erwähnt zwar in seinen Texten nirgendwo seine Deutschlehrer, nichtsdestotrotz verdienen diese in einer Studie über seine kulturelle Sozialisierung kurz vorgestellt zu werden: Neben dem bereits erwähnten Karel I. Černý, dem nicht allzu sehr daran gelegen war, Eisner für die zweite Landessprache zu begeistern, ist vor allem Julius Roth (1842–1904) zu nennen. Eisner hatte bei dem zweisprachigen böhmischen Intellektuellen, der auch Französisch unterrichtete, zwei Jahre lang Deutsch. Roth verkehrte während seines Studiums in den 1860er Jahren mit den sogenannten Májovci, einer sozial und kosmopolitisch orientierten tschechischen Dichtergruppe, zu der unter anderem Vítězslav Hálek (1835–1874) und Jan Neruda (1834–1891) gehörten. Roth versuchte sich auch selbst als Dichter unter dem Pseudonym J. R. Práchyňský. In dieser Zeit übersetzte er außerdem für die Revue Zlatá Praha (Goldenes Prag) Werke von Adam Mickiewicz sowie Volkspoesie der Lausitzer Sorben. Später war Roth fast ausschließlich als Lehrer tätig und verfasste ein Handbuch der tschechischen Rechtschreibung, deutsche und französische Lehrbücher sowie ein – hinsichtlich der Auswahl der Autoren ziemlich konventionelles – Lesebuch der deutschen Literatur. Außerdem veröffentlichte

Osobnosti, díla, instituce [Lexikon der tschechischen Literatur. Personen, Werke, Institutionen]. Bd. III/2, Praha 2000, 1329–1337. 37 Eisner erinnert sich noch in seinem Essay Bohyně čeká an ein Heldenepos mit „heroischen Alliterationen“, das er und andere Septimaner gemeinsam gedichtet hätten und das mit „wirkungsvollen vokalen Effekten geziert war“. Eisner, Bohyně čeká, 12–13. 38 Auf Černýs unbefriedigt gebliebene wissenschaftliche Ambitionen spielt etwa Antonín Beer in seinem Nachruf von 1935 an. Beer schloss jedoch keineswegs auf eine Verbitterung Černýs. A. B. [Antonín Beer]: V Praze zemřel… [In Prag starb...]. In: Naše věda, 16 (1935), 151– 154. 39 Siehe Anhang 8.

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er in Fachzeitschriften Studien über die Methodik des Deutschunterrichts.40 Methodologisch war Roth eher Traditionalist: Seine indirekte Methode des Sprachunterrichts beruhte auf der Nachahmung der gesprochenen und geschriebenen Sprache, wenngleich er auf die ständige grammatische Abwandlung der (Auf-)Sätze, das heißt auf die sogenannte grammatisierende Methode verzichtete.41 Angeregt durch die zeitgenössische deutsche Diskussion trat er für eine vorsichtige Modernisierung der Schullektüre ein.42 In Eisners Deutschunterricht scheint jedoch eher Antonín Trnkas Deutsches Lesebuch für oberste Klassen der Gymnasien mit böhmischer Unterrichtssprache verwendet worden zu sein, das damals Pflichtlektüre war. Dieses von Karel Veselík überarbeitete Lesebuch führte die Schüler durch die Geschichte der deutschen Literatur seit der ältesten Zeit bis zur zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einem wagemutigen, wenngleich undifferenzierten Ausblick auf die Dichter des späten 19. Jahrhunderts wie Detlev von Liliencron, Richard Dehmel oder Peter Altenberg. Wie bei den meisten böhmischen Lesebüchern üblich bildete der Schwerpunkt dieses Lehrbuch zwar eindeutig die deutschsprachige Literatur Cisleithaniens, für den Zeitraum seit Ende des 18. Jahrhunderts thematisierte es allerdings auch die Beziehungen zur tschechischen Literatur.43 Neben seinen Sprachlehrern übte außerdem der Geschichtslehrer Julius Glücklich (1876–1950) einen erheblichen Einfluss auf Eisner aus. In seinem Nachruf für den 40 Viel diskutiert wurde vor allem der Artikel Zum deutschen Sprachunterrichte, den Julius Roth und František Bílý 1898 in der Zeitschrift für österreichische Gymnasien veröffentlichten. Vgl. dazu Cvrček, Josef: Za Juliem Rothem [Nachruf auf Julius Roth]. In: Výroční zpráva c.k. reálky v Praze, Ječná ulice… [ Jahresbericht der k. u. k. Realschule in Prag, Gerstengasse…]. Praha 1904/05, 11–16. 41 Arnošt V. Kraus, ein Verfechter der modernen, heute wieder bevorzugten direkten Methode, versah Roths und Bílýs „veraltete“ Lehrbücher mit ironischen Kommentaren. Julius Roth war ursprünglich Kraus’ Betreuer an der Realschule in der Ječná ulice. Vgl. dazu die bisher unpublizierten Aufzeichnungen Arnošt V. Kraus’: ΛΌΓΟΣ ΠΕΡΊ ΤΟΎ ΣΤΕΦΆΝΟΥ [Řeč o věnci/Die Kranzrede; eine Anspielung auf die berühmte Rede von Demosthenes, V. P.]. Archiv Akademie věd České Republiky [Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik]. Nachlass Arnošt V. Kraus, eigene Manuskripte. Der Autor der vorliegenden Studie bereitet eine Edition dieser Quelle vor. 42 Vgl. Roth, Julius: Opravné snahy ve vyučování němčině [Korrekturbestrebungen im Deutschunterricht]. In: Věstník Ústředního spolku českých professorů, 1/2 (1893–95), 9–11; Spáčilová, Libuše: Eduard Ouředníček – první propagátor zprostředkovací metody ve výuce němčiny v českých zemích [Eduard Ouředníček – der erste Verfechter der vermittelnden Methode im Deutschunterricht in den böhmischen Ländern]. In: Učitelé, autoři učebnic a dětské literatury [Lehrer, Lehr- und Kinderbuchautoren]. Přerov 2005, 110–120. 43 Vgl. Petrbok, Václav: Der Unterricht aus deutscher Literatur an tschechischen Gymnasien und aus tschechischer Literatur an deutschen Gymnasien von 1850 bis 1914 anhand einer Analyse der Lesebücher. In: brücken, N. F., 15 (2007), 267–268.



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Věstník židovských náboženských obcí (Nachrichtenblatt der jüdischen Religionsgemeinden) hob Eisner Glücklichs tschechisch-nationale Orientierung hervor, die er in den Gegensatz zur deutsch-jüdischen Herkunft seiner Familie stellte.44 Glücklich, der später zum protestantischen Glauben übertrat, war lange Zeit als Geschichtslehrer tätig. 1920 wurde er der erste Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der neugegründeten Masaryk-Universität in Brno (Brünn).45 Er gehörte zum Schülerkreis des Historikers Jaroslav Goll, beteiligte sich am intellektuellen Leben der 1890er Jahre und sympathisierte mit der fortschrittlichen Bewegung. Er setzte sich mit der Hermeneutik Wilhelm Diltheys und mit fortschrittlichen Sozialtheorien wie dem britischen Fabianismus oder dem französischen Syndikalismus auseinander. Sein Forschungsinteresse galt außerdem der böhmischen Reformation, insbesondere der literarischen Tätigkeit von Václav Budovec z Budova (Wenzel von Budowec), wozu ihn seine reichen theologischen Kenntnisse prädestinierten. Er beschäftigte sich auch mit der tschechischen Politik um 1848, mit dem heiklen Thema des österreichischen Staatsrechts und der deutschen und englischen Großmachtpolitik. Ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich Eisner voll Begeisterung an Glücklichs Geschichtsstunden: Julius Glücklich war direkt, gerade und wahrhaftig in jeder Hinsicht. Er war mein Geschichtslehrer an der Realschule. Die übliche Trockenheit der Geschichtsstunden verwandelte er in eine unvergessliche, universitätsähnliche Extension, ja mehr noch – in hinreißende, völlig phrasenlose Improvisationen, in eine Epopöe der Nation und Menschheit, in eine schwindelerregende Theomachie, kurz in etwas Größeres, in ein Drama des suchenden, erkennenden und bekennenden Geistes. Solche Tatsachen zeugen von der unaustilgbaren Echtheit des Menschen und Lehrers: Wenn er nach fünfundvierzig Jahren immer noch vor Ihnen auf der Bühne steht, und Sie hören noch immer jedes seiner Worte und spüren den Funken, der von ihm überspringt.46

Als ‚Anlass‘ für Glücklichs engagierten Unterricht mögen nicht zuletzt die offiziellen, monarchistisch-loyalen Geschichtslehrbücher gedient haben, etwa Rudolf Dvořáks Všeobecný dějepis pro vyšší třídy škol středních (Allgemeine Geschichte für die höheren Klassen der Mittelschulen, 1902) oder Antonín Tilles und Jindřich Metelkas Statistika mocnářství rakousko-uherského (Statistik Österreich-Ungarns, 1898).47

44 Eisner, Pavel: Julius Glücklich. In: Věstník židovských náboženských obcí, 12 (1950) H. 42, 485. 45 Kutnar, František: Přehledné dějiny českého a slovenského dějepisectví [Kurze Geschichte der tschechischen und slowakischen Geschichtsschreibung]. Praha 1977, 127–129. 46 Eisner, Julius Glücklich, 485. 47 Vgl. Sušová, Veronika: Školství jako nástroj státní propagandy [Schule als Instrument der staatlichen Propaganda]. In: Bláhová/Petrbok, Vzdělání, 100–110, insb. 105–109.

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Eisners Universitätsjahre Nach dem Abitur in den Fächern Tschechisch, Deutsch, Französisch sowie Mathematik und Geometrie im Mai und Juni 1906 nahm Paul Eisner das Studium an der Prager tschechischen Technischen Hochschule auf – auch diesmal wohl auf Drängen des Vaters. Im akademischen Jahr 1906/07 immatrikulierte sich „Pavel Eisner“ für das Studium des Maschinenbaus und hörte Vorlesungen in den Fächern Geometrie, Physik, Zeichnen, Statistik und Dynamik.48 Nach einem Jahr brach er das Studium aber ab, und genauso schnell gab er seine erste Anstellung als Bankbeamter auf. Auch die Bemühungen von Eisners Vater, ihn zu einer weiteren Laufbahn als Bankbeamter zu bewegen, blieben erfolglos. Eisner nahm eine schlecht bezahlte Stelle als Übersetzer von wirtschaftsbezogenen Texten in der Handelskammer an.49 1910 holte Eisner trotz der finanziellen Schwierigkeiten seiner Familie das Abitur in den Fächern Latein und Griechisch nach, womit er nun die Voraussetzung für eine Immatrikulation an der Universität erfüllte. Kurze Zeit später starb im Mai 1910 sein erkrankter Vater Moritz Eisner.50 Im Vorfeld seiner Entscheidung, an welcher Universität er welches Fach studieren wollte, nahm er Klavierstunden bei seiner späteren Ehefrau Margaretha Wagner aus Liberec (Reichenberg).51 Eisner überlegte in dieser Zeit, Dirigent zu werden, da er mit dem Klavierspielen gute Fortschritte machte. Relativ bald wurden bei ihm jedoch Gehörprobleme festgestellt, weshalb ihm die Ärzte vermutlich abrieten, diesen Berufsweg einzuschlagen.52 Auf Grund dieser gesundheitlichen Probleme entschied sich Eisner im Sommersemester 1910, die von ihm zunächst einzig vorgesehenen musikwissenschaftlichen Vorlesungen noch um weitere Fächer an der Prager deutschen Karl-Ferdinands-Universität zu ergänzen. Eisner hörte daher 48 Archiv ČVUT [Archiv der Tschechischen Technischen Hochschule]. Verzeichnis der Hörer der Tschechischen Technischen Hochschule, 1906/07. 49 Vgl. Homolková, Práce Pavla Eisnera, 4. 50 Siehe Anhang 5. 51 Den im Prager Nationalarchiv aufbewahrten polizeilichen Meldezetteln (policejní přihlášky) zufolge wurde Margaretha Amalie Julie Wagner (Markéta Eisnerová) am 21. Juni 1888 in Reichenberg geboren. Ihre Mutter hieß Amalie, geborene Kaiser, ihr Vater hieß Wilhelm. Dies bestätigt ebenfalls der Auszug aus dem deutschsprachigen lutherischen Kirchenbuch des Pfarramtes in Reichenberg. Demnach war die Mutter Amalie eine aus Reichenberg stammende Katholikin. Der Vater stammte aus einer Leipziger lutheranischen Kaufmannsfamilie. Státní oblastní archiv v Litoměřicích [Staatliches Regionalarchiv Leitmeritz]. N 12/2, Jg. 1888, 138. Dieser Aufzug widerlegt außerdem den in der Sekundärliteratur kolportierten Mythos, Eisners Ehefrau sei die Urenkelin des Komponisten Richard Wagner gewesen. Diesen Mythos übernahm bspw. Hartmut Binder. Vgl. ders., Paul Eisners dreifaches Ghetto, 79. 52 Vgl. Homolková, Práce Pavla Eisnera, 4; Rohan, Bedrich [sic]: Kafka wohnte um die Ecke. Ein neuer Blick aufs alte Prag. Freiburg im Breisgau 1986, 105.



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neben den Vorlesungen aus Musikwissenschaft bei Heinrich Rietsch (1860–1927) auch Vorlesungen über Ästhetik bei Christian Ehrenfels (1859–1932), über Philosophiegeschichte bei Oskar Kraus (1872–1942) und über Logik bei Anton Marty (1847–1914).53 Aus der Tabelle im Anhang 6 geht hervor, dass sich Eisner auch für die Vorlesung über die französische Philologie bei Gustav Rolin (1863–1937) und für die historische Grammatik der deutschen Sprache bei dem Nationalkonservativen Carl von Kraus (1868–1932) einschrieb.54 Im folgenden Semester überwogen in Eisners Vorlesungsverzeichnis bereits germanistische und romanistische Veranstaltungen. Von seinen Germanistikprofessoren sei hier Adolf Hauffen (1863–1930) erwähnt, der sich mit der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts sowie mit Folklore beschäftigte und als Kenner der deutschböhmischen Dialektdichtung galt.55 Außerdem besuchte Eisner das altfranzösische Seminar bei dem Romanisten Emil (Émile) Freymond (1855–1918). Aus diesem Semester ist seine letzte musikwissenschaftliche Veranstaltung Musikästhetische Fragen und musikwissenschaftliche Übungen, die er bei Rietsch besuchte, überliefert. Eisner entschied sich zunächst aus Neigung zur Philologie für das Studium der französischen, italienischen und deutschen Sprache. Das spiegeln die von ihm gewählten Vorlesungen und Übungen wider, die bereits manche seiner späteren Übersetzungsprojekte vorwegnahmen. Darüber hinaus spielten bei seiner Entscheidung wohl auch pragmatische Überlegungen wie die in Frage kommende Laufbahn eines Sprachlehrers eine Rolle. In diese Richtung deutet Eisners Entschluss, die pädagogischen Vorlesungen Wendelin Toischers (1855–1922) zu besuchen.56 Seine Gehörprobleme scheinen allerdings auch diesen Berufsweg als Lehrer verhindert zu haben. Im Rahmen der Germanistik hörte Eisner zudem August Sauers Einführung 53 Heinrich Rietsch scheint Eisners Lieblingsprofessor gewesen zu sein, denn im Wintersemester 1910/11 besuchte er sowohl dessen Vorlesung Die Melodik des deutschen Liedes als auch seine Musikwissenschaftlichen Übungen. Rietsch war an der Prager deutschen Universität seit 1895 tätig. 1909 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt. Er war außerdem Vorsitzender des Prager Deutschen Kammermusikvereins, widmete sich der Liedforschung und gab zeitweise mit August Sauer die führende deutschböhmische Kulturzeitschrift Deutsche Arbeit heraus. Vgl. Antonicek, Theophil: Eintrag Heinrich Rietsch. In: Österreichisches Biographisches Lexikon, 1815–1950. Bd. 9, Wien 1988, 159. Vgl. ferner Jahn, Bruno: Eintrag Christian Ehrenfels. In: Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophie. München 2001, 97; ders.: Eintrag Oskar Kraus. In: Ebd., 228; ders.: Eintrag Anton Marty. In: Ebd., 271. 54 Irler, Hans: Eintrag Carl von Kraus. In: König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon. Bd. 2, Berlin/New York 2003, 1014–1016. 55 Ruberg, Uwe: Eintrag Adolf Maria Franz Joseph Hauffen. In: Ebd., 679–681. 56 Vgl. Kasper, Tomáš: Německý pedagogický seminář v Praze v letech 1876–1945 [Das deutsche pädagogische Seminar in Prag in den Jahren 1876–1945]. In: Pedagogika, 53 (2003), 375–395.

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in die Literaturgeschichte, die hin und wieder auch Studenten der tschechischen Universität besuchten.57 Sauers Vorlesungen über Goethes Lyrik förderten vor allem Eisners anhaltende Vorliebe für das Werk des Weimarer Klassikers. Eisners Interesse für die Bohemistik, die seine professionelle wie persönliche Entwicklung tiefgehend prägen sollte, wurde von Reinhold Trautmann und vor allem vom charismatischen Franz Spina (1868–1938) entscheidend beeinflusst.58 Nach seiner Habilitierung im Jahr 1912 wirkte Spina an der deutschen Universität als Privatdozent für tschechische Literatur und Sprache. Eisner nutzte das neue Lehrangebot vollständig. Sowohl in seinem Artikel aus Anlass von Spinas sechzigstem Geburtstag für die Prager Presse als auch in der Festschrift für Spina hob Eisner zunächst dessen Bedeutung für die vergleichende Untersuchung von tschechisch- und deutschsprachigen kulturellen Milieus im Zeitalter Karls IV. Außerdem betonte er Spinas Vorliebe für die neuere tschechische Literatur, insbesondere für die Poesie.59 Eisner erinnerte sich auch später vor allem an den starken Eindruck, den in ihm Spinas Interpretation von Antonín Sovas Gedichtband Květy intimních nálad (Blumen intimer Stimmungen) sowie dessen Vorlesungen über die Literatur der tschechischen „nationalen Wiedergeburt“ oder die gefälschten Königinhofer und Grünberger Handschriften hinterlassen hätten.60 Eisner widmete Spina 57 Im Wintersemester 1911/12 hörten 227 immatrikulierte Studenten, davon 42 Studentinnen, Sauers Vorlesung. Unter ihnen befanden sich etwa der spätere Literaturwissenschaftler und Dozent der deutschen Literatur Karl Essl (1889–1938), der Sprachwissenschaftler und bekannte Dialektologe Václav Vážný (1892–1966), der Pädagoge, Volkswirtschaftler und Politiker Josef Macek (1887–1972) oder der Pädagoge, Lehrbuchautor und Landesschulinspektor Richard Schroubek (1890–1948). Im Wintersemester 1913/14 waren unter anderem der spätere österreichische Literatur- und Theaterwissenschaftler Moritz Enzinger (1891–1975), der Gymnasialprofessor und Autor von Tschechisch-Schulbüchern für Deutsche Josef Brtek (geb. 1891) sowie der Judaist, Mediävist und Kabbala- und Talmudkenner Otto Muneles (1894–1967) Eisners Kommilitonen. Auch der Literaturhistoriker und Publizist Walter Michalitschke (1894–1963), der im „Protektorat Böhmen und Mähren“ propagandistische Literatur über Prag verfasste, gehörte zu Sauers Hörern. Angaben nach den Notizbüchern August Sauers. Wien-Bibliothek im Rathaus, Handschriftenarchiv, Nachlass August Sauer, Lebensdokumente, 3.15. Notizbücher, Lehrveranstaltungen und Studenten, Wintersemester 1879/80–Sommersemester 1913. 58 Zu Spina vgl. vpb [Václav Petrbok]: Spina Franz. In: Merhaut (Hg.), Lexikon české literatury, Bd. IV/1, 297–300. 59 Eisner, Paul: Der Pionier einer neuen deutschen Slavistik. In: Prager Presse, 5. 10. 1928, Nr. 277, 9. Wieder abgedruckt in: Scholz, Hugo [Hg.]: Franz Spina als Politiker, Wissenschaftler und Mensch. Braunau i. B. 1928, 27–29. 60 Eisner, Pavel: Na okraj Květů intimních nálad [Anmerkungen zu den Blumen intimer Stimmungen]. In: Rozpravy Aventina, 1 (1925/26) H. 1, 5; ders., Der Pionier. Spina setzte sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit für eine Rehabilitation der gefälschten Handschriften als literarischer Zeugnisse des 19. Jahrhunderts ein. Vgl. Spina, Franz: Neuere Literatur über die



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auch sein Buch Lebendes Tschechisch (1938). Dieser tschechische Sprachführer für Deutschböhmen nahm gewissermaßen sein späteres, für die Tschechen bestimmtes Buch Rady Čechům, jak se hravě přiučiti češtině (Ratschläge für Tschechen, wie sie Tschechisch spielerisch dazulernen) vorweg. Aus welchen Gründen studierte Paul Eisner an der deutschen Universität? Warum nahm er nicht ein Studium an der tschechischen Universität in Prag auf ?61 Seine Entscheidung ist auf seine Identifizierung mit der deutschen Kultur – vor allem mit der Musik und Literatur – zurückzuführen.62 Wahrscheinlich spielte die langjährige Tradition der Musikwissenschaft an der Prager deutschen Universität eine große Rolle. Diese konnte sich viel früher etablieren als an der tschechischen, wo erst 1910 ein Lehrstuhl für Musikwissenschaft eingerichtet wurde. Eisners Entscheidung wurde aber vor allem von seiner Beziehung zu Margaretha Wagner beeinflusst.63 Eisner war Mitglied der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag und veröffentlichte seine ersten Beiträge in deutschsprachigen Periodika.64 Dass er zu dieser Zeit Deutsch als seine Muttersprache angab, lässt sich aus dem Rückblick auf Eisners bohemistische Anfänge zurückführen, ja womöglich auf sein Bedürfnis, sich als deutscher Vermittler der tschechischen Literatur zu profilieren. Eisners späterer Erinnerung zufolge habe er sich an der Karl-Ferdinands-Universität in der slawischen Philologie habilitieren wollen, da es in Prag „zwar viele Slawisten, in Deutschland jedoch nur zwei gibt“ und daher „sich wohl ein slawisches Apostolat in Deutschland einrichten“ ließe.65

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Königinhöfer und die Grünberger Handschrift. In: Mitteilungen des Vereines für die Geschichte der Deutschen in Böhmen, 53 (1915), 43–57. Vermutlich besuchte Eisner auch einzelne Vorlesungen an der tschechischen Universität wie etwa die F. X. Šaldas ab dem Sommersemester 1916. Zu vergleichbaren Lebensläufen vgl. Čapková, Češi, Němci, Židé?, 71. Margaretha Wagner regte vermutlich auch Eisners Konversion zum Protestantismus an. Bereits aus Anlass seiner Promotion im Mai 1918 gab er die evangelische Konfessionszugehörigkeit an. Laut anderen Angaben trat er erst im April 1919 in die evangelische Kirche ein. Vgl. Kárný, Miroslav: Vyřazení židů z veřejného života Protektorátu a historie „čestného árijství“ [Die Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben des Protektorats und die Geschichte des „Ehrenariertums“]. In: Terezínské studie a dokumenty, 5 (1998), 38 (hier Anm. 68) [dt. Fassung: Die Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben des Protektorats und die Geschichte des „Ehrenariertums“. In: Theresienstädter Studien und Dokumente, 5 (1998), 7–39]. Eisners erste Veröffentlichung war vermutlich die Rezension von Walter Rathenaus Zur Kritik der Zeit. Vgl. Eisner, Paul: Kritik der Zeit. In: Prager Tagblatt, 6. 8. 1912, Nr. 215, 5. Die Angabe ist entnommen aus: Silbernáglová, Marie: Kulturní rubrika deníku Prager Tagblatt v letech 1908–1916 [Die Kulturrubrik des Prager Tagblatts in den Jahren 1908–1916]. Praha 1965. Unveröffentlichte Magisterarbeit, die am Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität eingereicht wurde. Siehe Anhang 8.

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Eisner musste jedoch aus finanziellen Gründen auf sein Vorhaben verzichten. Am Beginn des Ersten Weltkrieges musste er auch sein Studium unterbrechen, da er in die k. u. k. Armee einberufen und an die Front nach Ungarn geschickt wurde. Dies fiel ihm wegen seiner antimilitaristischen Überzeugung besonders schwer. Er war daher sehr erleichtert, als er nach einem Jahr nach Prag zurückkehren durfte. Dies scheint auf Betreiben der Prager Handels- und Gewerbekammer geschehen zu sein.66 Offiziell durfte er das Studium in Prag nicht fortsetzen, dennoch besuchte er vermutlich erneut bohemistische Vorlesungen.67 Während des Ersten Weltkriegs übersetzte Paul Eisner vor allem tschechische Literatur ins Deutsche, wozu er von Hugo von Hofmannsthal und Franz Spina ermutigt wurde. Seine Anstrengungen wurden im Juli 1917 mit dem Erscheinen seines ersten Übersetzungsbandes Tschechische Anthologie: Vrchlický – Sova – Březina gekrönt. Bei der Zusammenstellung und Übersetzung des Buchs, das als Band 27 der von Hugo von Hofmannsthal herausgegebenen Österreichischen Bibliothek publiziert wurde, half ihm Otokar Fischer.68 Erste Übersetzungen Eisners veröffentlichte bereits ein Jahr früher der Linksintellektuelle und Pazifist Franz Pfemfert in seiner Zeitschrift Die Aktion und in seiner Anthologie Jüngste tschechische Lyrik.69 Neben Eisner waren an ihr auch Übersetzer wie Rudolf Fuchs, Hans Janowitz, Jan V. Löwenbach, Otto Pick, Ernst Pollak und Emil Saudek beteiligt. Eine weitere Übersetzung Eisners veröffentlichte zudem die Redaktion der zionistischen Wochenzeitung Selbstwehr. In ihrem Sonderheft Das jüdische Prag druckte die Selbstwehr das Gedicht Ein Jude wandelt zwischen den Trümmern des Forum Romanum des tschechischen Dichters Josef Svatopluk Machar in Eisners Übersetzung ab. Machar, der damals aufgrund seiner antiösterreichischen Haltung wegen Hochverrats inhaftiert war, galt zu jener Zeit noch als ‚philosemitischer‘ Dichter.70 Auch hier waren als Übersetzer tschechischer Literatur vor allem Otto Pick und Rudolf Fuchs beteiligt. In seinem Briefwechsel mit Fischer und Pannwitz erwähnte Eisner noch andere, nicht realisierte Übersetzungsprojekte. Er hegte große Pläne, an der Nachfrage aber mangelte es. Paul Eisner wollte seine Studien mit der Verteidigung einer Dissertation abschließen. Sein Projekt, in dem er am Beispiel der deutschen Klassiker Lessing, Goethe und Schiller 66 Vgl. Homolková, Práce Pavla Eisnera, 4. Die Autorin beruft sich auf eine Äußerung von Eisners Tochter Dagmar. 67 August Sauer notierte Eisners Anwesenheit bei seiner Vorlesung hingegen erst wieder im Sommersemester 1918. 68 Vgl. den Beitrag Lucie Kostrbovás in diesem Band. 69 Siehe Dyk, V.[iktor]: Lied der Mutter. In: Die Aktion, 6 (1916), 411; Sova, A.[ntonín]: Und manchmal lauschen wir ... In: Ebd., 413; Machar, J. S. [ Josef Svatopluk]: Der sterbende Aischyllos. In: Ebd., 570–571. Vgl. auch Pfemfert, Franz (Hg.): Jüngste tschechische Lyrik. Eine Anthologie. Berlin-Wilmersdorf 1916. 70 Vgl. Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift. Prag 1917, 27–28. Für den Hinweis auf diese kaum bekannte Übersetzung Eisners danke ich Julia Hadwiger.



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die Übersetzungs- und Vermittlungsstrategien dreier Generationen tschechischer Übersetzer behandelte, durfte er aber nur bei einem ordentlichen Professor anmelden. Da Franz Spina zu jener Zeit noch keine ordentliche Professur innehatte, wandte sich Eisner an Reinhold Trautmann (1883–1951), der gleichfalls aus einer ‚multikulturellen‘ Region, nämlich aus Ostpreußen, stammte. Trautmann willigte ein, wenngleich seine Forschungsschwerpunkte in den russischen und baltischen Philologien sowie in der Volksliteratur lagen.71 Eisners Opponent war der Germanist Primus (Primož) Lessiak (1878–1937), der sich mit deutsch-slawischen literarischen Beziehungen in Kärnten beschäftigte.72 Lessiak missbrauchte seine akademische Position zu politischen Stellungnahmen zugunsten des deutschen Nationalismus, wobei er nicht einmal vor rassistischen Äußerungen zurückschreckte. Seine Opponentur ist auf seine (wenigstens passiven) Tschechischkenntnisse zurückzuführen, über die weder Hauffen noch Sauer verfügten.73 Eisner verteidigte seine Arbeit erfolgreich, und im Juni 1918 wurde er zum Doktor der Philosophie ernannt. Nur wenige Wochen vor seiner Promotion vertraute Paul Eisner Rudolf Pannwitz in einem viel zitierten Brief an, dass er zwischen der Anziehungskraft der deutschen Kultur und seiner Zuneigung zur tschechischen Sprache ‚zerrissen‘ sei.74 In einem späteren Brief beschwerte er sich zugleich über den Schriftsteller Franz Werfel, wobei er antisemitische Äußerungen über „die elende, gottverfluchte Rasse“ machte. Er zeigte sich „nicht nur von der physischen und gemütlichen Minderwertigkeit der Juden [überzeugt, V. P.], sondern auch von ihrer metaphysischen Unwertigkeit und Verruchtheit […], vor allem von dieser.“75

Schluss Paul Eisner fasste den Gebrauch der deutschen und tschechischen Sprache in seiner Familie wie folgt zusammen: „Es lässt sich daher sagen, dass mir die simultane

71 Vgl. Eichler, Ernst: Reinhold Trautmann und die deutsche Slawistik. Mit einem Beitrag von Gerald Wiemers. Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-Historische Klasse. Bd. 115, H. 1, Berlin 1984. 72 Lessiak, Primus. In: König, Internationales Germanistenlexikon, Bd. 2, 1079–1080. 73 Vgl. den Brief August Sauers an Otokar Fischer vom Dezember 1912, in dem er diesem für die Zusendung einer tschechischen Kleist-Monografie dankt: „Leider kann ich Ihr Buch nicht lesen; ich bedauere es das nun so mehr, als ich grade selbst über Kleist lese und der Belehrung bedürftig wäre. Eigentlich sollte der Mensch alle Sprachen können, wenigstens der Literaturforscher.“ LA PNP. Nachlass Otokar Fischer. August Sauer an Otokar Fischer, 5. 12. 1912. 74 Vgl. Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 8. Juni 1918. In: Thirouin, Briefwechsel, 281–282, hier 281. 75 Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 19. 8. 1918 In: Ebd., 284. Vgl. Gilman, Sander L.: Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews. Baltimore u. a. 1990.

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Tatsache zweier Muttersprache zuteil wurde.“76 Auf diese Art und Weise ließe sich nicht nur Eisners alltägliche, sondern ebenso seine fortschreitende literarische Zweisprachigkeit charakterisieren. Wenngleich er im Untersuchungszeitraum tschechische Grund- und Mittelschulen besuchte, verwendete er als literarische Sprache zunächst ausschließlich Deutsch. Dies begründete er damit, dem deutschsprachigen Publikum die tschechische Kultur vermitteln zu wollen, die er an den tschechischen Schulen kennengelernt hatte. Eisners Entscheidung, sich nach den ersten literarischen Versuchen und Rezensionen für die Prager Presse systematisch der Übersetzung und Deutung der tschechischen Literatur zu widmen, geht wohl auf die Anregung Franz Spinas zurück. In diesem Zusammenhang ist neben Eisners ersten Übersetzungen seine Dissertation bezeichnend. In dieser setzte er sich mit den literarischen Qualitäten sowie der literaturgeschichtlichen Bedeutung der älteren tschechischen Übersetzungen Goethes, Schillers und Lessings auseinander, wobei er die Übersetzungstätigkeit programmatisch als „Produkt einer Wahlverwandtschaft“ auffasste.77

76 Siehe Anhang 8. 77 Eisner, Paul: Lessing, Goethe und Schiller in tschechischen Übersetzungen. Prag 1918, 1.



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Anhang 1: Amtlicher Eintrag über die Eheschließung von Eisners Eltern78 Moses Moritz Eisner, K[au]fm[ann]. aus Prag 999/2, ledig, Sohn Aron v[on]. Brastitz bey Votiz u[nd]. Sara, geb[orene]. Oppenheimer Alter: 33 Jahre, 5 Monate Stand: ledig Klara, ledig, Tochter Adam Fischel, Grundbesitzer v[on]. Roth Aujezd bey Unhoscht u[nd]. Rosalia geb[orene]. Lichtenstern a[us]. Pavlov Das Aufgebot fand statt 3. 10., 17. 12. [1]887 Zigeuner Synagoge Der Trauung 26. Dez[e]mber [1]887, Prag, Hotel Stein Zeuge Moritz Fischl Sigmund Haas Anhang 2: Amtlicher Eintrag über die Geburt und die Beschneidung Eisners79 Datum/datum: 16. Jänner 1889, Haus Nr. 99, Königl. Weinberge der Beschneidung oder Namensbeilegung/obřízky nebo jmenování: 23. Jänner 1889 Weinberge Name/Jméno: PAUL Geschlecht/pohlaví: männlich Stand/stav: ehelich Name des Vaters und seiner Eltern/Jméno otce a jeho rodičů: Moritz Eisner aus Wottitz Erwerb oder sonstige Beschäftigung/živnost nebo jiné zaměstnání: Kaufmann aus Weinberge Name der Mutter und ihrer Eltern/jméno matky a jejích rodičů: Klara, gebor. Fischl Eigenhändige Fertigung der Zeugen/Vlastnoruční podpis svědků: Gustav Brand, Simon des Beschneiders/obřezáče: Moritz Unger der Hebamme/bába: Eleonora Mandeles Anhang 3: Amtlicher Eintrag über den Tod des Vaters80 Totenbeschauungsprotokoll: 30. Mai 1910, Dr. Vodnansky Datum des Absterbens: 3 h Nachm[ittags], 30. Mai 1910 78 NA. HBMa, Nr. 2683, Prag, Trauungsbuch, Litt. 7, 4. Abth. 1887, 236. Abschrift des deutschsprachigen Originals. 79 NA. HBMa, Nr. 2674, Michle 1889–1939, 1. Abschrift des zweisprachigen Originals. 80 NA. HBMa, Nr. 2806, Totenmatrik, 143. Abschrift des deutschsprachigen Originals.

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Ort: 993/II, Havlíčeks. Beerdigung: 1. Juni 1910, Prag Name: Moritz Eisner, verheirat. Agent, rect. Moses, aus Brštitz bei Wottitz Geschlecht: Männlich Alter: 55 Jahre Krankheit, Todesart: Aneurisma aortae, Arteriosclerosis Zuständig nach: Prag Anhang 4: Amtlicher Eintrag über den Tod der Mutter81 Datum und Nummer des Leichenbeschauers: 14. 11. 1922 Sterbedatum: 13. November 1922 Ort Nr.: 993-II Datum des Begräbnis: 17. November 1922, Einäscherung Name: Eisnerová, Klára, geborene Fischlová, Privatfrau, Witwe Geburtsort: Hostouň (Kladno) Geschlecht: weiblich Alter: 57 Jahre, 16. 6. 1865 Krankheit und Todesursache: diabetes melitus, thysma ut arteriosclerosis insuff. cord. Dr. J. Popper Heimatzugehörigkeit: Praha Anhang 5: Eisners Tschechisch- und Deutsch-Lehrer an der 1. k. u. k. tschechischen Realschule82 Klasse I II Schuljahr 1899/1900 1900/01

III 1901/02

IV V VI VII 1902/03 1903/04 1904/05 1905/06

Tschech.Lehrer

Antonín Smíšek83

Prokop Haškovec

Prokop Haškovec

Karel I. Černý

Karel I. Černý

Karel I. Černý

Karel I. Černý

DeutschLehrer

Antonín Smíšek

Julius Roth

Julius Roth

Karel I. Černý

Karel I. Černý

Karel I. Černý

Karel I. Černý

81 NA. HBMa, Nr. 2818, Matrika zemřelých [Totenmatrik], 237. Übersetzung des tschechischsprachigen Originals. 82 Výroční zpráva c. k. české reálky pražské na Novém Městě ( Ječná ulice) [ Jahresbericht der Prager k. u. k. Realschule in der Neustadt (Gerstengasse)], 1899/1900–1905/06.

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Anhang 6: Philologie-Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät der KarlFerdinands-Universität, in die Eisner eingeschrieben war84 Semester

Romanistik

Germanistik

Indogermanistik u. Slavistik

SoSe 1910

k. A.

k. A.

k. A.

WS 1910/11

Rolin: Frz. Seminar f. Kraus: HistoAnfänger rische GrammaRolin: Frz. Seminar f. tik d. dt. Sprache Fortgeschritt. Rolin: Romanische Wortbildungslehre Rolin: Fin dix’huitime siècle en France

SoSe 1911

Rolin: Frz. Grammatik mit Übungen Freymond: Altfrz. Übungen Rolin: Seminararbeit f. Anfänger Rolin: Seminararbeit f. Vorgerückte

Hauffen: Nhd. Grammatik Toischer: Die Disziplin in d. Mittelschulen Kraus: Gotische Übungen f. Anfänger

WS 1911/12

Freymond: Historische Grammatik d. frz. Sprache Freymond: Frz. Übungen (Boileau) Rolin: Einleitung in d. allg. Phonetik Rolin: Seminarübungen f. Anfänger Rolin: Seminarübungen f. Fortgeschr.

Sauer: Geschichte d. deutschen Literatur im Zeitalter d. Romantik Sauer: Goethe erste Weimarer Dichtungen

83 Vertretung für Jaroslav Vlček, der zu dieser Zeit auf Forschungsurlaub war. 84 Zusammengestellt nach dem Verzeichnis der Studierenden der Philosophischen Fakultät der Karl-Ferdinands-Universität Prag. Archiv Univerzity Karlovy Praha [Archiv der Karlsuniversität]. Ohne Signatur.

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Václav Petrbok

Semester

Romanistik

Germanistik

Indogermanistik u. Slavistik

SoSe 1912

Rolin: Seminar f. Anfänger Rolin: Seminar f. Fortgeschr.

Lessiak: Nationale Heldensage Hauffen: Die dt. klass. Periode Hauffen: Dt. Mythen- u. Sagenkunde

Spina: Alttsch. Volksbücher Trautmann: Hauptprobleme d. indogerm. Lautlehre Trautmann: Kirchenslavische Übungen

WS 1912/1385 Rolin: L’art de la prose Rolin: Le XIXe siècle en France

Sauer: Das junge Dtschl. Lessiak: Altd. Literatur I

Spina: Geschichte d. alttsch. Literatur Spina: Tsch. Sprachkurse f. Philologen Trautmann: Historische Grammatik d. tsch. Sprache

SoSe 1913

Sauer: Geschichte d. dt. Literatur im XVII. Jh. Sauer: Übungen für Anfänger: Goethes erste Weimarer Gedichte

Trautmann: Historische Grammatik d. tsch. Sprache Trautmann: Erklärung d. Dalimils Chronik Spina: Die Katharinenlegende Spina: Tsch. Sprachkurse f. Philologen

Freymond: Ausg. Kap. aus d. hist. frz. Grammatik Rolin: Ital. Schriftsteller d. XIX. Jahrhunderts Rolin (?): Altitalische Übungen

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Die „Tatsache zweier Muttersprachen“



Semester

Romanistik

WS 1913/14

Germanistik

Indogermanistik u. Slavistik

Sauer: Grillparzers Leben u. Werke

Trautmann: Einleitung in die vergl. Sprachwissenschaft Trautmann: Kirchenslavische Übungen Trautmann: Litauische Grammatik Spina: Die alttsch. Literatur v. d. Zeit Karls IV. Spina: Übungen zu ausgew. alttsch. Texten Spina: Tschech. Sprachkurs f. Philologen

Anhang 7: Die Muttersprache Eisners, nach den Angaben im Verzeichnis der Studierenden86 SoSe 1910

WS 1910/11

böhmisch tschechisch

SoSe 1911

WS 1911/12

SoSe 1912

tschechisch tschechisch deutsch

WS SoSe 1912/13 1913 deutsch

WS 1913/14

deutsch deutsch

Anhang 8: Pavel Eisner an Václav Černý, 22. August 1946 (Übersetzung des tschechischen Originals)87 Werter Herr Professor, haben Sie vielen Dank für Ihren liebenswürdigen Brief. Dass Sie und der Kritický měsíčník auf der Welt sind, ist mir eine große, ja die einzige Aufmunterung. Die deutschen Gedichte sind leider nur Reimereien. Ich werde es mit aller Schonung dem Autor selbst schreiben. 85 Anmerkung: „Nachträgliche Inskription bewilligt“. 86 Ebd. 87 LA PNP. Nachlass Václav Černý, Korrespondenz – Eingang, Pavel Eisner.

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Václav Petrbok

Die Antwort an Herrn Macek lege ich bei, für den Abdruck danke ich herzlich. Ich fühle, dass ich gerade Ihnen eine persönliche Erklärung schuldig bin. Hier ist sie: Ich bin der Sohn jüdischer Eltern, deren Muttersprache Deutsch war. Mein Vater und meine Mutter konnten und sprachen Tschechisch, und insbesondere der Vater, der es aus lauter Ehrlichkeit vom Großhändler zum Verkäufer-Proletarier schaffte, hatte eine innige Beziehung zum gemeinen tschechischen Volk. Mit uns Kindern sprachen die Eltern allerdings deutsch. Wir sprachen jedoch von klein auf ebenso tschechisch (Ammen, Mägde, „Fräulein“ des damaligen Wohlstandes, der mit Vaters existenzieller Katastrophe aufhörte). Es lässt sich daher sagen, dass mir die simultane Tatsache zweier Muttersprachen zuteil wurde. Von der Gesinnung der Familie zeugt, dass ich ohne Weiteres an die tschechische Grundschule geschickt wurde, was 1895 unter den Prager Juden eine große Seltenheit war. Item die tschechische Mittelschule und das tschechische Abitur: An einer Anstalt mit über 700 Schülern war ich so etwas wie eine Berühmtheit des Tschechischunterrichts. Mein Deutsch strotzte damals vor Bohemismen und anderen Fehlern. Bereits an der Mittelschule hatte ich einen slawistischen Tick. Nach dem Abitur sagte ich mir, dass es in Prag viele, in Deutschland jedoch nur zwei Slawisten gibt, so dass sich wohl in Deutschland ein slawisches Apostolat einrichten ließe. Um ein HabilitationsEntree zu erlangen, studierte ich an der deutschen Universität in Prag Slawistik bei zwei edlen Slawophilen – Trautmann und Spina. Die Habilitationsabsichten mussten schließlich aufgegeben werden – Vaters Tod und große Armut zwangen mich, bei der Handelskammer mein Tagebrot zu verdienen. Bei der Volkszählung im Jahr 1930 wurde die Nationalität nach dem Kriterium der Muttersprache ermittelt. Ich bin kein Lügner. Ich hielt mich bei der Volkszählung an das Kriterium der „Mutter“-Sprache. Bereits 1930 galt es für jemand, der mit den Deutschen nicht zu tun hatte, als notorischer Nachteil und Schande. Und ich hatte mit ihnen wortwörtlich nichts zu tun. Ich bediente mich doch sogar des deutschen Schreibens nur im Interesse der tschechischen Sache und verzichtete somit – heute spielt es keine Rolle mehr – auf die großen Möglichkeiten der deutschen Belletristik. Obwohl ich schon 1930 wie Kohlhaas gehandelt hatte, verhielt ich mich im Mai 1945 genauso. Ich bezog das Optionsdekret überhaupt nicht auf mich – es betrifft mich nicht. Aus Anstandsgefühl stellte ich trotzdem einen Optionsantrag. Ich hätte das Ganze mühelos umgehen oder gar ignorieren können. Heute bedauere ich es beinahe – insofern ich überhaupt fähig bin, etwas zu bedauern. Infolge der Hinterlistigkeit manipulativer Subalterner landete ich im Prager Hauptstadtanzeiger nicht nur in der Gesellschaft deutscher Juden, sondern auch der Nazis. Und weil viele Schriftsteller eher den Prager Hauptstadtanzeiger als Pascal lesen, meint so einer, mir gegenüber groß tun zu dürfen. Ich verwarf nämlich ebenso die Möglichkeit



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der Panazee: den kommunistischen Ausweis. Ich stehe daher tief unter dem Niveau deutscher Kommunisten, die keine drei Sätze Tschechisch können.88 Dies ist mein Fall, und alles trug sich so zu, wie ich es erzählt habe. Hätte ich geahnt, dass es zu jener Schande mit dem Prager Hauptstadtanzeiger kommen würde, hätte ich mich beim „Syndikat“ [Schriftstellerverband, V. P.] nicht einmal beworben – wenngleich in den Satzungen von Schriftstellern die Rede ist, die Tschechisch schreiben [Hervorhebung im Original, V. P.]. Ich bin aber gewöhnt, alles in peius zu deuten. Ich war Ihnen diese Erklärung schuldig. Es ist mir zu Ohren gekommen, dass man im „Syndikat“ über mich sprach. Wenn Sie es für angemessen erachten, können Sie alles, was ich Ihnen erzählte, nach Belieben verwenden. Ich stehe für jedes einzelne Wort ein. Ich danke Ihnen. 22. August 1946

Ich bin von Herzen Ihr Pavel Eisner

88 Dies ist eine Anspielung auf Pavel Reiman, Bedřich Geminder und Bedřich Reicin. Diese Charakteristik übernahm mit einem expliziten antisemitischen Unterton Václav Černý in seinen Paměti (Erinnerungen, Bd. III, 1945–1972, 1992) auf.

Marie-Odile Thirouin Der junge Paul Eisner als Korrespondent von Rudolf Pannwitz (1917–1922) Der Briefwechsel von Paul Eisner mit dem deutschen Dichter und Denker Rudolf Pannwitz ist leider nur als Bruchstück überliefert: Er besteht nämlich aus 68 Briefen und Karten, die in Pannwitz’ Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt sind, davon 61 Briefe von Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, drei Postkarten und ein Brief von Margarete Wagner an Rudolf Pannwitz sowie die Durchschläge von vier Briefen von Pannwitz an Eisner. Alle stammen aus der Zeit zwischen dem 21. November 1917 und dem 22. Oktober 1922.1 Das sind genau fünf Jahre, eigentlich wenige, jedoch wichtige Jahre. Damals war Eisner 28 bis 33 Jahre alt: Nach Abschluss seines Studiums stand er am Beginn seines Berufslebens als Angestellter an der böhmischen Handels- und Gewerbekammer in Prag2 sowie am Beginn seiner Tätigkeit als Übersetzer und Essayist. Die in dieser Zeitspanne veröffentlichten, von Pannwitz geförderten Übersetzungen aus dem Tschechischen bilden mit der 1917 erschienenen Tschechischen Anthologie das frühe Werk von Eisner überhaupt. In dieser Zeit gründete Eisner auch eine Familie. Dies alles bedeutet eine Zeit des Umbruchs auf persönlicher Ebene. Der Umbruch fand jedoch ebenfalls auf überindividueller Ebene statt, denn es ist die Zeit der Auflösung Österreich-Ungarns und der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Dieser Kontext macht die Korrespondenz mit Pannwitz zu einem besonders aufschlussreichen Dokument über den jungen Eisner. Dabei kann man drei Momente innerhalb der Korrespondenz voneinander unterscheiden: 1. Von November 1917 bis Juli 1919 geht es in der Korrespondenz hauptsächlich um das Projekt der Tschechischen Bibliothek, die Eisner in der Nachfolge von Hofmannsthals Österreichischer Bibliothek als seine erste große Aufgabe betrachtete. 2. Von September 1919 bis Ende 1920 bilden die Rezeption von Pannwitz’ Werk Der Geist der Tschechen und die in Aussicht gestellte Übersetzung desselben ins Tschechische die Haupt­themen der Korrespondenz.

1 Für den Text der Briefe siehe Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/ Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002, 245–413. Tschechische Übersetzung von Naděžda Macurová: Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner – Korespondence. Praha 2002, 219–364. 2 Nach Václav Petrbok ist Eisner schon vor dem Studium dort eingestellt worden. Vgl. den Beitrag von Václav Petrbok in diesem Band.

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3. Von 1921 bis 1922 ist vor allem von der Prager Presse die Rede sowie von Pannwitz’ beziehungsweise Eisners Schwierigkeiten mit der neulich gegründeten Tageszeitung. Im Folgenden soll auf die Entstehung und die Entwicklung der Beziehungen von Eisner mit Pannwitz eingegangen und dabei Informationen über das damalige Selbstverständnis von Eisner herausgearbeitet werden. Diese Informationen möchte ich sechs relevanten Begriffen oder Themen zuordnen, aus denen sich eine Art Porträt des jungen Eisner ergeben: Unzeitgemäßheit, Ungeduld, „das an sich Zweifeln und Verzweifeln“, Scham, schwankende nationale Identität, ungesicherte soziale und intellektuelle Stellung. Die Tatsache, dass es sich um eher negative Bestimmungen handelt, zeigt, dass diese Zeit für Eisner eine Zeit des Unbehagens war.

1. Unzeitgemäßheit Den Kontakt zwischen Eisner und Pannwitz stellte Hugo von Hofmannsthal 1917 her, als dieser beschloss, den deutschen Dichter nach Prag zu schicken, damit er „das Problem [Österreich] bei der Mitte [anpacken]“ und erkennen konnte, „wie die Dinge in Wahrheit stehen“.3 In Pannwitz sah Hugo von Hofmannsthal damals den neuen Herder,4 der die Idee Österreichs retten könne, nachdem er seit seiner eigenen Reise nach Prag im Juni desselben Jahres auf jede politische Tätigkeit im Dienste Österreichs verzichtet hatte. In Prag hatte Hofmannsthal nämlich erkannt, dass sein Kampf um Österreich als untrennbar empfundene Kultur­gemeinschaft nicht mehr auf dem Fundament von Österreich-Ungarn zu führen war, dass der Staat, der ursprünglich die Idee verkörpert habe, jetzt der Idee eigentlich schade: „Der Welt, die untergeht, weine ich auch keine Thräne nach“, so schreibt Hugo von Hofmannsthal an Pannwitz im November 1918, „es war in Österreich alles der Idee entfremdet, ja alles verleugnete die Idee, ohne die doch das Ganze nicht bestehen konnte, alles war Materie, Phlegma geworden“.5 Zwar litt Hofmannsthal bekanntlich an dieser Erkenntnis, fügte sich jedoch ohne Ressentiment ins Unabänderliche und rettete die Idee Österreich in seine Idee Europa, die somit einen apolitischen, 3 Vgl. den Brief von Hugo von Hofmannsthal an Josef Redlich vom 28. 11. 1917. In: Stern, Martin: Hofmannsthal und Böhmen (2). Die Rolle der Tschechen und Slowaken in Hofmannsthals Österreich-Bild der Kriegszeit und seine Prager Erfahrung im Juni 1917. In: Hofmannsthal-Blätter, (1969) H. 2, 125. 4 Vgl. den Brief von Hofmannsthal an Max Mell vom 3. 10. 1917. In: Dietrich, Margret/Kindermann, Heinz (Hg.): Hugo von Hofmannsthal/Max Mell. Briefwechsel. Heidelberg 1982, 139–140. Auch Eisner vergleicht Pannwitz am 8. 6. 1918 mit Herder. Siehe: Thirouin, Briefwechsel, 282. 5 Vgl. Schuster, Gerhard (Hg.): Hugo von Hofmannsthal/Rudolf Pannwitz. Briefwechsel. Frankfurt am Main 1994, 349.



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gleichsam utopischen Zug gewann, der auch Pannwitz’ wie Eisners Unternehmen kennzeichnet: Alle drei sind Intellektuelle, die ihre Aufgabe als kulturelle Aufgabe auffassten, in einer Zeit, da Kultur und Politik auseinander gehen mussten, denn Hofmannsthal, Pannwitz und Eisner wollten an einer übernationalen, verbindenden Kultursynthese (Eisner spricht von Symbiose) gerade dort arbeiten, wo jede Politik entweder auf Scheidung und Schaffung von Nationalstaaten hinzielte oder zur Assimilation drängte, das heißt zum Verzicht auf die eigene Identität.6 Diese Diskrepanz lässt deshalb jedes Unterfangen ihrerseits als unzeitgemäß erscheinen. In dieser Hinsicht fällt besonders auf, dass Eisner Ende 1918 kein Wort von der Gründung des tschechoslowakischen Staates sagt – weder der Zustimmung noch der Ablehnung, als ob er und Pannwitz nicht direkt betroffen wären. Zwar war Eisner damals schwer krank – ein Umstand, den er selber als somatische Erscheinung schmerzhafter Läuterungsprozesse analysiert: „Der Kreislauf des Jahres bringt mir jeden Herbst eine physische Krise und eine geradezu mystische Kette von Reinigungen aller Art.“7 Aber sein Schweigen ist doch an sich vielsagend. Er schreibt übrigens ganz allgemein, er leide unter „dem Odium der ‚Aktualität’“8 (die Anführungszeichen weisen auf eine kritische Distanz zur Politik der Zeit hin), unter der „Sintflut von Bestialität“9 (der Ausdruck ist eindeutig ein Anklang an Grillparzers Spruch: „von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“,10 womit Eisner allerdings auf die Deutschen abzielt, nicht auf die Tschechen). „Leider scheint es, dass auch diesen Sommer noch die Welt mit Brettern vernagelt sein wird“, übermittelt er Pannwitz im Mai 1919.11 Und tatsächlich haben beide Dichter in diesen Jahren stets mit Reisekomplikationen zu kämpfen, die Kontakte erschweren und den Sieg des „Trennenden“ gleichsam offenbaren.

6 In diesem Punkt stimmen Pannwitz’ Auffassung einer europäischen Kultursynthese, wo jedes Element erhalten bleibt, jedoch zum Ganzen beiträgt, in dem es sich selbst überwindet, und Eisners Auffassung einer deutsch-tschechischen Symbiose völlig überein. Die Symbiose versteht sich also als Mittelweg zwischen Nationalismus und Assimilation. Karl Kraus kritisierte die Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose heftig, wie sie z. B. von Hermann Cohen im Sinne von Eisner verteidigt wurde. Vgl. Mayer, Hans: Der Widerruf. Über Deutsche und Juden. Frankfurt am Main 1996. 7 Thirouin, Briefwechsel, 9. 10. 1921, 373. 8 Ebd., 16. 4. 1918, 279. 9 Ebd., 23. 6. 1919, 308. 10 Frank, Peter/Pörnbacher, Karl (Hg.): Franz Grillparzer. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. München 1960, Bd. I, 500. 11 Thirouin, Briefwechsel, 23. 5. 1919, 304.

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2. Ungeduld Eine solche Distanz zur Politik (Pannwitz), zur „Materie“ (Hofmannsthal) und zur „Aktualität“ (Eisner) erklärt, dass Eisner die Möglichkeit geistiger Wirkungen eindeutig überschätzt, sowohl bei eigenen Projekten als auch bei denen von Pannwitz. „Dies ist ja nicht ganz nach meinem Geschmack“, schreibt er im April 1918 an Pannwitz, wenn er versteht, dass die Tschechen die Herausgabe seiner Tschechischen Bibliothek nicht vor Kriegsende wünschen, „ich denke, dass man eine gute Sache nicht zeitig genug beginnen kann“.12 Dieser bescheidene, etwas vage und jedoch stolze Ausdruck „eine gute Sache“, verwendet Eisner immer wieder in der Korrespondenz, wenn es um eine kulturelle im Unterschied zu einer politischen Aktion geht.13 Diese „gute Sache“ lässt sich jedoch nicht durchführen: „Es wäre für mich eine wahre Erlösung, wenn dieser Plan [Die Tschechische Bibliothek] oder eine andere noch so bescheidene Absicht ausreifen könnte“;14 „ich stecke jetzt vollends im Sumpf “, so lautet es, wenn Eisner vergeblich nach einem Verleger für die Tschechische Bibliothek sucht;15 und dann: „mittlerweile verzehrt mich die Ungeduld“.16 Dieses in diesen Jahren immer wieder zum Ausdruck kommende Gefühl der Frustration zeigt, wie weit der Wille der Wirklichkeit voraus ist, und wie sehr Eisner unter solcher Diskrepanz leidet. Dieser Umstand erklärt auch, dass Eisner die Wirkung von Pannwitz’ Geist der Tschechen nicht richtig zu schätzen vermag, weil er einfach den Wunsch nach solcher Wirkung mit der Realität verwechselt: „Ihr Buch ist in aller Munde und heute schon klassisch. Die nach Ihnen kommen, werden einen harten Stand haben“;17 „nur ein Deutscher und in alle Ewigkeit nur ein Deutscher […] [konnte] ein so schmerzlich aufrichtiges, königlich verzichtendes Bekenntnis und Buch schreiben“, setzt er etwas pathetisch fort. Dieses Lob auf die tschechische Kultur verstand Pannwitz (und Eisner mit ihm) als Würdigung einer von den Deutschen zu Unrecht verkannten Kultur (bei einer solchen Interpretation blieben eigentlich die Tschechen, die das Buch lasen), aber darüber hinaus sah Pannwitz in der tschechischen Kultur auch ein verheißungsvolles Modell für das künftige Europa. In diesem Sinne empfand er die Tschechen als österreichischer als die Deutsch-Österreicher selbst, das heißt der Idee Österreich näher und treuer. Der Nationalstaat sei für sie nur ein 12 13 14 15 16 17

Ebd., 16. 4. 1918, 278. Siehe ebd., 302, 327, 370, 378 („etwas Gutes und Schönes“). Ebd., 4. 2. 1919, 301. Ebd., April 1919, 301. Ebd., 23. 6. 1919, 311. Ebd., 18. 11. 1919, 321. Der Geist der Tschechen war nämlich aus den Eindrücken entstanden, die Pannwitz im Dezember 1917 in Prag unter der Führung von Paul Eisner gesammelt hatte. Er erschien zunächst als Aufsätze in der Wiener Zeitschrift Der Friede zwischen August und Dezember 1918, dann als Buch im gleichnamigen Verlag im Juli 1919.



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Mittel, ihre Kultur vor dem österreichischen Staat als dem „unweisen Gewaltherrn“ zu schützen. Die Energie der Tschechen sei also allmählich neu zu lenken – vom Nationalstaat weg hin zu Europa. Solche Pläne mögen im Nachhinein wirklichkeitsfremd wirken, sie bilden jedoch den höchst interessanten Versuch, Nation und Europa miteinander zu verbinden, anstatt dass sie miteinander konkurrieren: Sie seien jedoch „zu gross und erhaben, um sofort praktisches Verständnis zu finden“, schreibt Eisner tröstend im Juni 1922.18 Die erwartete Umkehrung der Geister erreichte Pannwitz aber so wenig wie Eisner, und ihr Verlangen blieb unverstanden.19 Das Kriegsende machte bald solche Pläne in der Nachfolge Hofmannsthals sowieso überflüssig und trug dazu bei, dass sie ganz in Vergessenheit gerieten.

3. „Das an sich Zweifeln und Verzweifeln“20 Dies wirkte sich jedoch auch auf das Verhältnis Eisner – Pannwitz aus. Nachdem Hofmannsthal, Pannwitz und Eisner dadurch näher gebracht worden waren, da sie von den Deutschen als phantastische Träumer und von den Tschechen gleichsam als trojanisches Pferd21 empfunden wurden, rächte sich an ihnen die Tatsache, dass ihre Ideen kurzfristig keinen Einfluss auf das „Praktische“ nahmen und politisch unfruchtbar blieben. Das Gefühl der geistigen Verwandtschaft zwischen Eisner und Pannwitz war am Anfang jedoch sehr groß gewesen – sogar viel stärker als bei den übrigen Prager Korrespondenten von Pannwitz in den 1920er Jahren, nämlich Otokar Fischer und Edmond Konrád. Über diese spontane Sympathie hinaus verstand sich Eisner nichstdestoweniger als Schüler des nur acht Jahre älteren Pannwitz: „Sie sind einer von denen, die ich zu Lehrern haben möchte“;22 „ich ahne schmerzlich, was alles ich von Ihnen lernen könnte“.23 Ein ähnliches Verhältnis pflegt Eisner auch zu dem um 20 Jahre älteren Prager Slawisten Franz Spina, „dem unvergesslichen Lehrer“: So lautet die Widmung in Lebendes Tschechisch. Das Tschechische, wie es 18 Ebd., 17. 6. 1922, 398. 19 Die Deutschen in Österreich und Deutschland empfanden den Geist der Tschechen als Verrat oder wenigstens als literarische Verfehlung der Wirklichkeit, dafür lobten die Tschechen Pannwitz’ Intuitionskraft, ohne die Konsequenzen für Österreich und für Europa, die er aus ihrer Kultur zog, wahrzunehmen. 20 Den Begriff prägt Eisner selber in: Thirouin, Briefwechsel, 4. 2. 1919, 301. 21 Brief von Franz Spina an Hugo von Hofmannsthal vom 26. 1. 1918. In: Stern, Martin: Hofmannsthal und Böhmen (3). Hofmannsthals Plan einer ‚Tschechischen Bibliothek‘ (1918). Ein Aufklärungswerk für die Deutschen. In: Hofmannsthal-Blätter, (1969) H. 3, 203. „‚Timeo Danaos rufen wir jetzt auch Bahr, Hofmannsthal, Pannwitz zu‘, schrieb unlängst das führende Blatt Nar. Listy.“ 22 Thirouin, Briefwechsel, 7. 2. 1918, 264. 23 Ebd., 23. 6. 1919, 311.

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wirklich ist (Orbis 1938). Spina war übrigens Trauzeuge bei Eisners Hochzeit, und merkwürdigerweise hätte sich Eisner den ihm nur flüchtig bekannten Pannwitz als zweiten Trauzeugen gewünscht, so schreibt er wenigstens im Juni 1919: „Prof. Spina war unser Trauzeuge und es hat uns furchtbar leid getan, dass Sie nicht der zweite sein konnten.“24 Wie lässt sich solches Anhänglichkeitsgefühl erklären? Anlass dazu ist natürlich Eisners Bewunderung dafür, was er bei Pannwitz „Größe des Geistes“ und „Größe des Herzens“25 nennt, und für „die absolute Größe [seines] Werkes“:26 „Sie sind als Denker und Mensch eine grosse und erhebende Erscheinung“, dessen Genie sich bei der „Erschließung des tschechischen Wesens verdient gemacht“27 habe. Pannwitz sei aber nicht nur an Wissen und Intuition Eisner überlegen, sondern auch als Übersetzer. Das ist der entscheidende Punkt. Eisner wendet sich im Juni 1919 an Pannwitz, der soeben seine Übertragungen slowakischer Volkslieder ins Deutsche durchgesehen hatte: Alles, was Sie von meinen Übertragungen sagen, ist wieder einmal so unheimlich richtig, dass mich fast Entsetzen vor Ihrer Schwarzkunst greift. Ich werde nun alles aufs gründlichste nochmals vornehmen und Ihre mir unendlich teuren Winke befolgen. Was Sie sagen, fühle ich ja so schmerzlich als tiefste Einsicht, dass schon es ausgesprochen zu hören, für mich eine Erlösung ist […]. Mein Schicksal wiederholt sich immer wieder: ich lebe in einem verzauberten Kreise, aus dem mich erst ein Ruf von aussen erlösen kann. […]  Ich sagte schon, dass eine von Ihnen hinzugefügte oder weggenommene Vorsilbe oft wie ein Blitz wirkt. Was Ihre Änderungen so wunderbar und einzig macht, ist der schwere betäubende Duft der Sprache, der aus jedem von Ihnen berührten Text entgegenschlägt. Ich ahne schmerzlich, was alles ich von Ihnen lernen könnte – ich bin ja so unsagbar empfänglich für Feinheiten der Sprache.28

Eisner beneidet also Pannwitz, den Magier der Sprache, um sein Sprachgefühl, sein „Genie“ der Sprache dort, wo er nur zu ringen und „studieren“ wisse. Das sei der Grund seiner Nähe zu Pannwitz, von dem er sich auf diesem Gebiet besonders gefördert fühle, so dass er „reicher“, „gefestigter“ werde, „[s]eines Weges bewusster, [s] eines Zieles sicherer“, „kristallisiert“, „erhellt“, „wunderbar gestärkt und entschlossen, den grossen Kredit, den Sie mir einräumen, zu rechtfertigen“.29 24 25 26 27 28 29

Ebd., 13. 6. 1919, 307. Ebd., 20. 7. 1919, 313. Ebd., 11. 1. 1921, 347. Ebd., 1. 9. 1919, 317. Ebd., 23. 6. 1919, 309–311. Ebd., 6. 9. 1918, 289. Am 28. 7. 1920 spricht er Pannwitz gegenüber von seiner „Dankesschuld“ (ebd., 341). Pannwitz gibt übrigens folgende, dem Nachwort der Slowakischen Anthologie (Leipzig, Inselverlag, 1920) vorangestellte Formel: „Für unschätzbare Anregung und Rat in Zweifeln sei Rudolf Pannwitz bedankt.“



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Deshalb steht der junge, noch unsichere und unterstützungsbedürftige Prager, der von seinen Übersetzungen als „ehrfürchtige und demütige Arbeit“30 spricht, dem deutschen Dichter ganz zu Diensten: „[I]ch arbeite ja ohnehin mehr oder weniger nur für Sie“, schreibt er ihm im Januar 1920.31 Und tatsächlich macht er sich zum Prager „Vertrauensmann“ und Agenten von Pannwitz. Er übersetzt für ihn Gedichte von šalda, Sova, Auszüge aus Werken von Chelčický, Rezensionen zum Geist der Tschechen aus der tschechischen Presse. Er spielt mit dem Gedanken, Werke von Pannwitz ins Tschechische zu übersetzen, sucht für ihn nach Büchern und Informationen,32 gibt Aufsätze, Denkschriften, Bücher von Pannwitz weiter,33 richtet Botschaften aus, schafft Kontakte (mit Willy Haas, Richard Meßleny, Vasil Škrach, Edvard Beneš, Jan Hájek) und organisiert schließlich den nächsten Aufenthalt von Pannwitz in Prag im Mai 1921, der es dem deutschen Dichter unter anderem erlaubte, Masaryks Spende in Empfang zu nehmen und damit Ende 1921 nach Dalmatien zu übersiedeln.34 Diese Vermittlerrolle in der Privatsphäre erfüllte Eisner so selbstlos wie die als Übersetzer in der Öffentlichkeit. Damit setzte er sich für denjenigen ein, den er als „Koryphäe der Tschechen“ betrachtete, das heißt als den Deutschen, der die tschechische Kultur vorurteilsfrei zu würdigen wisse. Nur einen Fehler beging Eisner, als er Pannwitz als Mitarbeiter für die Prager Presse engagieren ließ. Pannwitz konnte sich nie an irgendeine Partei oder eine Zeitschrift binden, von denen er stets hätte fürchten müssen, sie könnten seine Meinungsfreiheit einschränken. Eisner hatte es jedoch gut gemeint: Einerseits war er anfangs von der Nützlichkeit der Prager Presse überzeugt; andererseits bildete der Vertrag mit der Prager Presse in einer Zeit, wo Pannwitz in einer furchtbaren Not lebte, fast dessen einzige Einkommensquelle (er bezog monatlich 4000 Kronen für zwei Artikel). Jedoch brach der Konflikt bald aus. Ab 1922 kritisierte Pannwitz die Außenpolitik der Tschechoslowakei heftig, so dass seine Beiträge mit politischem Inhalt von der Prager Presse nicht mehr veröffentlicht wurden. Dazu kamen Verzögerungen der Honorarzahlungen, und Pannwitz brach so Ende 1923 sowohl mit der Prager Presse als auch mit Außenminister Beneš.35

30 31 32 33 34

Ebd., 27. 11. 1920, 345. Ebd., 30. 1. 1920, 327. Ebd., 21. 2. 1918, 274. Ebd., 272, 332. Ebd., 345–371. Siehe auch den Brief von Rudolf Pannwitz an Otokar Fischer vom 30. 5. 1921. Ebd., 105–107. 35 Siehe den Briefwechsel von Rudolf Pannwitz mit Otokar Fischer aus den Jahren 1922 bis 1923. Ebd., 144–188.

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Marie-Odile Thirouin

4. Scham Die Beziehung mit Pannwitz ging also an materiellen Fragen zugrunde, die ab Februar 1921 immer mehr Platz in der Korrespondenz in Anspruch nahmen. Je größer die Not wurde, in der Pannwitz und die Seinigen lebten, umso gespannter wurde das Verhältnis zu ihm. Es ist, als ob Eisner es nicht hätte verkraften können, dass er jetzt helfen sollte, was er jedoch mit allen Kräften tat. So schreibt er zum Beispiel im Juni 1922 mit großer Nachsicht: „So lassen Sie sich bitte von dem Jüngeren und Ihnen so wenig Ebenbürtigen ohne Kränkung aus eigener bitterer Erfahrung folgendes raten.“36 Er selbst litt damals unter dem, was er sein „Galeerendasein“37 nannte: „Ich bin in einer furchtbaren Zange festgeklemmt“;38 „mir geht es in geistiger Hinsicht hundemässig elend. Immer klarer wird für mich die Alternative: materielle Sorgen oder Verzicht auf halbwegs taugliche geistige Arbeit. Das ist schlimm genug, weil mir der Weg, den ich zu gehen hätte, immer klarer wird“;39 „ich bin furchtbar und mehr und mehr in die Tretmühle des Geldverdienens geschlossen“.40 Nichtsdestoweniger – und im Gegensatz zu Pannwitz – behauptete Eisner von sich, er „bejahe das äussere Dasein“: Brotarbeit, Krankheit, Wohnungsnot, Familienschwierigkeiten, all das nähme er letzten Endes auf sich.41 Wie Hofmannsthal ein paar Monate früher sah Eisner bald keine Möglichkeit mehr, Pannwitz behilflich zu sein, der nicht auf seine Ratschläge hören wollte und vor dem er sich immer wieder rechtfertigen musste.42 Der Satz, in dem Eisner von Hofmannsthals Scham spricht als „Scham des hochwertigen Menschen“, „der fremden Jammer sieht, ohne helfen zu können“,43 gilt eigentlich auch für ihn. Dieses Gefühl könnte den plötzlich im Oktober 1922 eintretenden Abbruch der Korrespondenz erklären sowie die doppelte Anspielung auf Pannwitz’ Titanismus in dem Artikel über Pannwitz, den Eisner 1936 für den Ergänzungs­band zum Ottův slovník naučný nové doby (Ottos Konversationslexikon der neuen Zeit) verfasste. Dort unterscheidet er zwischen dem Denker, zu dem er keinen Zugang mehr finde, und dem Dichter, dem er nach wie vor huldige.44 36 37 38 39 40 41 42

Ebd., 23. 6. 1922, 400. Ebd., 10. oder 11. 1919, 319. Ebd., 4. 2. 1919, 300. Ebd., 9. 5. 1922, 389. Ebd., 18. 8. 1922, 411. Ebd., 27. 8. 1918, 286. Vgl. zum Beispiel ebd., 17. 6. 1922, 399: „Ich rate Ihnen, wenn irgendwie möglich, den Konflikt [mit Beneš] zu überbrücken, an sich zu halten, schrittweise vorzugehen und ganz konsequent Etappenpolitik zu treiben, den Maßgebenden möglichst Einleuchtendes und Greifbares vorzustellen, alles ganz knapp zu fassen und sie unbewusst weiter und weiter zu führen.“ 43 Ebd., 398. 44 Eisner zufolge „verbindet sich in [Pannwitz] der strenge, diktatorische Denker-Titanismus mit der Sehnsucht nach einer kindlichen Einfalt und einer gerührten Demut“ (strohý, diktátorský titanismus myslitelský spojuje se v něm s touhou po dětinné prostnosti a zjihlé pokoře), und



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5. Unsichere nationale Identität Damals verstand sich Eisner eindeutig als Deutscher, jedoch als „zerrissener Deutscher“. Am 8. Juni 1918 notiert er: Erlauben Sie mir eine ‚tatsächliche Feststellung‘. Sie halten mich für einen Tschechen. Ich bin es nicht. Nach dem Gesetz der stärkeren geistigen Attraktion gehöre ich den Deutschen. Instinkt und Gewissen ziehen mich zu den Slaven. So bin ich der Zerrissenste von allen. Daher meine peinigende Ungeduld, dass etwas geschehen möge, damit dieses Grauen ein Ende nimmt.45

Deshalb setzt Eisners Aufgabe eine Vermittlung voraus, die ihm erlauben soll, diesen Zustand der Zerrissenheit zu überbrücken. „Ich will doch nicht tschechisch oder für die Tschechen schreiben“, erklärt er noch im Februar 1919.46 Dieser Satz zeigt, was damals ‚vermitteln‘ für ihn bedeutete, nämlich aus dem Tschechischen ins Deutsche zu übersetzen, denn als Deutscher empfand er es als „Notwendig­keit, die deutschen Kulturmenschen über tschechische Kulturdinge zu informieren“;47 „es wäre für mich ein seliges Gefühl, wenn gerade in den dunkelsten Tagen des deutschen Volkes von meinem geringen Bemühen etwas ausgehen könnte, was trotz allem und jedem das Erbgut eines einzigen Volkes ist: liebevolles Verständnis und Eingehen auf fremde Wesensart, unselbstisches reines Wohlgefallen an der Schönheit“.48 Auffallend ist Eisners Bild der Tschechen weitgehend positiver als das der Deutschen wie bei Pannwitz. Für den Nationalismus der Deutschen haben sie beide als Deutsche kein Verständnis, sie sehen darin nur Ressentiment und Wille zur Macht, keineswegs Schutzbedürfnis wie bei den Tschechen. Die Auffassung der Vermittlerrolle, die Eisner zwischen Tschechen und Deutschen zu spielen hatte, erklärt jedoch seine anfänglichen Schwierigkeiten mit der Prager Presse. So ärgert er sich über die Faszination der Prager Presse für „französischen und Budapester Kitsch“: „Vor allem wird durch sie jeder Raum für eine systematische Arbeit auf dem Gebiet der slawischen Literaturen entzogen, in denen für die Deutschen noch unendlich viel zu tun ist.“49 Die Prager Presse, „ein Informationsblatt für Deutsche“, wurde nämlich von den Deutschen kaum beachtet und

45 46 47 48 49

er spricht dort von Pannwitz als „einem Sohn des chaotischen deutschen Titanismus“ (syn chaotického německého titanismu). P. E. [Pavel Eisner]: Pannwitz Rudolf. In: Ottův slovník naučný nové doby. Dodatky k velikému Ottovu slovníku naučnému [Ottos Konversationslexikon der neuen Zeit. Nachträge zu Ottos großem Konversationslexikon]. Bd. 4/2, Praha 1937, 869. Thirouin, Briefwechsel, 8. 6. 1918, 281. Ebd., 4. 2. 1919, 300. Ebd., 23. 5. 1919, 306. Ebd., April 1919, 303. Ebd., Oktober 1921, 379.

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enttäuschte also Eisners Erwartungen, dem es schwer fiel, sich dort einen Platz nach seinen Vorstellungen zu verschaffen. Er erörtert sogar mehrmals eine mögliche Kündigung: „Heute habe ich alle Mühe, ein paar tschechische und slowakische Brocken einzuschmuggeln“,50 bedauerte er schon im Oktober 1921. Und tatsächlich stimmt seine Kritik größtenteils mit der von Pannwitz überein. Für Eisner wende sich die Prager Presse als „Propagandamittel“ schließlich eher an die Ententevölker oder an die in die Entente verliebten Tschechen als an die Deutschen, für die sie doch bestimmt war.51 Jedoch greift er nie Beneš an und hütet sich davor, den Anschein zu geben, er unterstütze die „regierungsfeindlichen Tschechen“ oder die „sudetenländischen Deutschnationalen“.52 Von dieser politischen Linie wich er nicht ab. Eisner findet sich also allmählich mit der Situation in der Prager Presse ab.53 Das liegt daran, dass sich mit der Zeit eine neue Auffassung seiner Aufgabe als Vermittler entwickelt, die mit der Politik der Prager Presse sich vereinbaren lässt. So schreibt er im Oktober 1921: Die Tschechen sind allem, was deutscher Geist heisst, vollkommen entfremdet. Es wäre eine grosse und edle Aufgabe, sie ganz behutsam und mit unendlicher Vorsicht mit den dauernden und wirklich wertvollen Erscheinungen der deutschen Geisteswelt vertraut zu machen. Statt dessen lesen sie (und sie lesen die Presse sehr fleißig) verlogene Hochstapler des Geistes wie Werfel. Dazu nehme man die Tatsache, dass auch ganz unchauvinistische und sehr hochstehende Tschechen buchstäblich kein deutsches Buch zu Gesicht bekommen und langsam auch die Übung im deutschen Lesen verlieren. Resultat: geistige Geringschätzung des deutschen Volkes und endgültige Abkehr. Die resultierende Entfremdung ist viel verhängnisvoller als die politischen Balgereien.54

Eisner steht dabei immer noch der deutschen Kultur zu Diensten, aber schon in umgekehrter Richtung. Er wendet sich langsam dort hin, wo ihn „Instinkt und Gewissen“ hinführen – zu den Tschechen. Auch die Verhältnisse nötigten ihn zu einem Kompromiss mit der Prager Presse, denn er muss bald erkennen, dass von seinem Traum einer Tschechischen Bibliothek in Deutsch und für die Deutschen nur wenig übrig bleibt. Das Projekt hatte er im Januar 1918 mit Hofmannsthals Zustimmung wieder aufgegriffen. Der ehrgeizige Plan, der „in der Ungunst der Zeit“55 nur auf Misstrauen stieß und auch unter materiellen Schwierigkeiten zu leiden hatte, gedieh nie über Manuskripte hinaus, so 50 51 52 53

Ebd., 379–380. Ebd., Oktober 1921, und 23. 6. 1922, 378, 402. Ebd., 18. 8. 1922, 411. Ebd.: „[Z]u mir ist man wieder liebenswürdig geworden, ohne dass ich wüsste, warum. Ich weiss nicht, wie lange es vorhält“. 54 Ebd., Oktober 1921, 380. 55 Der Ausdruck stammt aus dem Vorwort Eisner, Paul (Hg.): Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten. München 1928.



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dass es nur zu „Bruchstücken des Gedachten“56 kam. Damit sind Die Slowakische Anthologie von 1920, Die Volkslieder der Slawen von 1927 und Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten von 1928 (mit einer Widmung an Hofmannsthal) gemeint. Nur der zuletzt genannte Band entspricht mehr oder weniger der ursprünglichen Idee der Tschechischen Bibliothek, die aus drei Serien bestehen sollte: Monografien und Abhandlungen über die tschechische Geschichte, Übertragungen, dann eine Serie, „die allen Phänomenen der Symbiose der Deutschen und Tschechen gewidmet wäre“ – „alles Wesentliche über die Tschechen von Tschechen und einigen wenigen Deutschen von Rang gesagt“.57 Vor 1928 waren also eigentlich nur Volkslieder akzeptabel, die gleichsam einer Reduzierung der Kultur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner entsprachen: Es ist erhebend und beschämend zugleich, dass hier wieder an eine alte deutsche Tradition anzuknüpfen ist [die der Volksliedersammlung]. Jakob Grimm hat sich die Finger wundgeschrieben – das Resultat ist klein genug geblieben.58

Was die Frage der Nationalität angeht, so fällt zuletzt noch dies auf: das damals fehlende Verhältnis Eisners zum Judentum. Es ist, als ob nur die anderen davon betroffen wären, in erster Linie Werfel, eventuell aber auch Vrchlický und Švabinský,59 nur er nicht. Eisner, der gern „Vorstellungen des 19. Jahrhunderts huldigt“, so Hartmut Binder,60 in denen jedem Volk ein Leben, ein Genie, eine Psychologie zugeschrieben werden, ist bei Juden besonders unkritisch und verzichtet nicht einmal auf besonders negative, klischeehafte Vorstellungen, wenn es um sie geht. So spricht er zum Beispiel von ihrem vermeintlichen „Ahasverismus“ und „Exotismus“.61 Zwar waren damals solche Vorstellungen geläufig, so dass sie eher als leere Formeln zu verstehen sind denn als Kritik, aber man ist doch versucht, im Kontext eines mit inneren Konflikten verbundenen „Utraquismus“ von Verdrängung zu sprechen. Damit will sich Eisner eindeutig vom Judentum fernhalten.

6. Ungesicherte soziale und intellektuelle Stellung Leitmotiv der Korrespondenz ist die Aversion gegen Werfel und dessen „Clique“, zu der Eisner meistens auch Otto Pick zählt, obwohl er schon damals anfängt, mit ihm 56 Thirouin, Briefwechsel, 8. 6. 1918, 282. 57 So schreibt Eisner an Hofmannsthal im Januar 1918. In: Stern, Hofmannsthal und Böhmen (3), 198–200. 58 Thirouin, Briefwechsel, 25. 11. 1921, 382. 59 Ebd., 12. 2. 1920, 328. 60 Binder, Hartmut: Paul Eisners dreifaches Ghetto. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag. In: Reffet, Michel: Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker. Bern 2000, 55. 61 Thirouin, Briefwechsel, 12. 2. 1920, 328.

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an gemeinsamen Projekten zu arbeiten.62 Was hat Eisner dem gleichaltrigen Werfel vorzuwerfen? Eindeutig wird Werfel als Rivale und Gegenpol aufgefasst: Werfel war damals bekannter und umworbener als Eisner, es war ihm sogar gelungen, im Ausland Fuß zu fassen. Darüber hinaus war er als Mensch selbstsicherer als Eisner, der von sich behauptet: Von dem, was mir wirklich nahe geht, kann ich nichts verwirklichen, teils weil ich nicht dazukomme, etwas vorzubereiten und zu warten, teils weil ich es furchtbar schlecht verstehe mich durchzusetzen.63

Werfel und Pick schildert er dagegen als „verlogene Hochstapler des Geistes“,64 denen alles gelinge. Der Hauptvorwurf hängt jedoch mit Eisners Auffassung der eigenen kulturellen Aufgabe zusammen: Er wirft Werfel und Pick „Berufsliteratentum“ vor, also die „hermetische Absperrung […] gegen alles wirklich Grosse und den Tag Überdauernde“65 – das heißt gegen alles Vermittelnde. Der „Berufsliterat“ ist für Eisner der entgegengesetzte Typ zum „Genie“, zu Pannwitz also, der es über sich hinaus auf geistige Wirkung im Sinne der kulturellen Symbiose zwischen Völkern absehe. Der „Berufsliterat“ berechne nur, wie er der Menge gefallen könne, und denke dabei nur an sich selbst. Eisner nimmt es offensichtlich nur schwer hin, dass seine unzeitgemäßen und weitsichtigen Projekte zum Scheitern verurteilt waren, während andere bedenkenlos und selbstsüchtig auf Geld, Berühmtheit und Erfolg aus seien. Die Korrespondenz mit Rudolf Pannwitz macht deutlich, wie schwierig und verunsichernd die Vermittlerrolle war, die Paul Eisner schon in diesen Jahren für sich gewählt hatte. Diese Rolle erlebte mit der Zeit Verschiebungen und Veränderungen, blieb jedoch im Großen und Ganzen bestehen. Man kann sich zum Schluss fragen, wie diese Vermittlerrolle mit der berühmten These des „dreifachen Ghettos“ zu vereinbaren ist, die Eisner 1930 und dann zwischen 1948 und 1950 neu formulierte.66 Hartmut Binder sieht in dieser These die „Hypostasierung von Verhältnissen, unter denen er gelebt hat“, eine „Selbstcharakterisierung Eisners, der sich weder als Deutscher noch als Tscheche verstehen konnte“.67 Man könnte aber dieses Urteil relativieren, indem man in dieser These nicht das Ergebnis einer unmöglich zu erreichenden Identität sähe, sondern eher die Schattenseite eines bewusst konzi62 63 64 65 66

Ebd., 7. 5. 1920, 337. Ebd., 10. oder 11. 1919, 319. Ebd., Oktober 1921, 380. Ebd., 27. 11. 1920, 343. Vgl. Eisner, Paul: Erotische Symbiose. In: Prager Presse, 23. 3. 1930, Nr. 82, 4. Kritische Antwort von Brod, Max: Symbiose. In: Prager Tagblatt, 9. 8. 1931, Nr. 185, 5; Eisner, Pavel: Milenky. Německý básník a česká žena [Geliebte. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau]. Praha 1930; Eisner, Pavel: Franz Kafka and Prague. New York 1950, 17–47. 67 Binder, Paul Eisners dreifaches Ghetto, 56–81.



Der junge Paul Eisner als Korrespondent von Rudolf Pannwitz

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pierten Lebens­projekts, das Eisner einerseits zu einer ewig ungesicherten Identität verurteilte, und das sich andererseits stets gegen „die Ungunst der Zeit“ durchzusetzen hatte – das also als ein Ringen zu verstehen ist.

Alfons Adam

Demografischer Wandel in Paul Eisners Prag Ende der 1920er Jahre schrieb der Prager deutsche Kommunalpolitiker Leo Epstein: Wie selten hörte man in Prag vor dem Umsturz die urwüchsigen kernigen Mundarten der Randgebiete: was früher seltene Ausnahme war, ist es heute längst nicht mehr. Wie weit liegen die Zeiten zurück, in denen es schwer, ja fast unmöglich war, einen deutschen Verkäufer, einen deutschen Chauffeur, ein deutsches Dienstmädchen zu finden: heute findet man deutsche Angestellte aller Art nicht nur bei deutschen, sondern auch bei tschechischen Arbeitgebern.1

Im Gegensatz zu Leo Epstein, der ein neues, deutsches Prag, bestimmt von Zuwanderern beschreibt, charakterisierte Paul/Pavel Eisner das Prag der Zwischenkriegszeit als eine von unsichtbaren Dämmen nach außen hin abgeschottete durchzogene Metropole, deren deutschjüdische Schriftsteller vergeblich aus einem dreifachen Ghetto zu befreien suchten.2 Es ist jedoch festzuhalten, dass Eisners Bild von Prag3 und seinen deutschsprachigen Bewohnern in den Jahren der Ersten Republik sehr statisch war – er reagierte kaum auf den demografischen Wandel, der unmittelbar nach der Gründung der Tschechoslowakei einsetzte4 und der in der Folge dargestellt werden soll. Der 1889 in Prag geborene Paul Eisner war sowohl typischer Prager Deutscher wie auch ein sehr untypischer. Er entstammte einem gutbürgerlichen Elternhaus mit jüdischen Wurzeln, wuchs zweisprachig auf, besuchte eine tschechische Realschule und studierte anschließend an der Prager Deutschen Universität Germanistik, Slawistik und Romanistik. Bis 1939 war Eisner in der Tschechischen Handels- und Gewerbekammer beschäftigt, arbeitete aber gleichzeitig als Publizist und Übersetzer für deutsche Prager Zeitungen, insbesondere für die Prager Presse.5 Im Rahmen dieser Studie soll der Versuch unternommen werden, Paul Eisner und andere kulturelle Vermittler (Oskar Baum, Ludwig Winder, Johannes Urzidil, Willy Haas, Rudolf Fuchs, Franz B. Steiner, Otto Pick) innerhalb der demografischen Veränderungen Prags und vor allem seiner deutschsprachigen Bewohner einzuordnen. 1 Epstein, Leo: Die deutschen Gebiete und Prag. In: Reichenberger Zeitung, 27. 9. 1929, Nr. 228, 1. 2 Eisner, Paul: Erotische Symbiose. In: Prager Presse, 23. 3. 1929, Nr. 82, 4. 3 Zu den ideengeschichtlichen Hintergründen dieses Prag-Bildes vgl. den Artikel von Georg Escher in diesem Band. 4 Vgl. besonders Eisner, Pavel: Franz Kafka and Prague. New York 1950, 36. 5 Eisner, Pavel. In: Forst, Vladimír: Lexikon české literatury. Bd. 1: Osobnosti, díla, instituce [Lexikon der tschechischen Literatur. Bd. 1: Personen, Werke, Institutionen]. Praha 1985, 650–653.

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Alfons Adam

Die Einwohnerzahl 1200000

1000000 962.000

932.000

849.000

800000

677.000

600000

617.000 514.000

400000 397.000

200000

0

1890

1900

1910

1921

1930

1938

1950

Grafik 1: Bevölkerungsentwicklung Prags 1890–19506

Prag kann bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als eine wichtige österreichische Provinzhauptstadt charakterisiert werden, deren Bevölkerungszahl relativ konstant blieb. Doch in den Jahren von 1875 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs „wurde Prag wie durch einen plötzlichen Energieschub zu einer modernen Stadt, die vor allem in den sich ständig ausdehnenden Vorstädten eine massive Industrialisierung erlebte“,7 so Peter Demetz. Lebten 1875 etwa 276.000 Menschen auf dem Gebiet von Groß-Prag (in den Grenzen von 1922), waren es 1900 bereits 514.000, was

6 Prag in den Grenzen von 1922. Zahlen für 1890–1921. In: Boháč, Antonín: Hlavní město Praha. Studie o obyvatelstvu [Die Hauptstadt Prag. Eine Bevölkerungsstudie]. Praha 1923. Für 1930, 1938 und 1950 vgl. Míka, Zdeněk (Hg.): Dějiny Prahy v datech [Die Geschichte Prags in Daten]. 2. Aufl. Praha 1999, 313. Das Statistische Jahrbuch für das Protektorat Böhmen und Mähren von 1942 gibt für das Jahr 1940 976.760 Einwohner in Prag an. Vgl. außerdem Kárník, Zdeněk: České země v éře první republiky (1918–1938) [Die böhmischen Länder zur Zeit der Ersten Republik (1918-1938)]. Band III: O přežití a o život (1936–1938) [Ums Überleben und Leben (1936-1938)]. Praha 2003, 111–112. 7 Demetz, Peter: Prag in Schwarz und Gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt. München 2000, 470.



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einem Anstieg von 86 Prozent entspricht.8 Nach der Jahrhundertwende verlangsamte sich jedoch das Wachstum in Prag im Vergleich zu Wien und Budapest.9 Den größten Bevölkerungsanstieg erlebte Prag während der 1920er Jahren mit 25 Prozent von 677.000 auf 849.000 Einwohner. Nach einem relativ geringen Wachstum in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Einwohner Mitte der 1920er Jahre sprunghaft an (vor allem 1924–1925 um ca. 48.500 Einwohner). Das jährliche Wachstum von 16.000 bis 18.000 Personen setzte sich bis 1937 fort und wurde ab 1933 durch Emigranten aus Deutschland und Österreich ergänzt. Die Weltwirtschaftskrise schwächte den Zuzug nach Prag nur etwas ab (die Jahre 1930–1938 brachten einen Bevölkerungszuwachs zwölf Prozent), da die Arbeitslosenquote in der Hauptstadt unter dem Landesdurchschnitt blieb und die Stadt blieb somit weiterhin attraktiv für Zuwanderer blieb. Die politischen Ereignisse der Jahre 1938/39 führten erneut zu gewaltigen demografischen Veränderungen. Auf die Zuwanderung von deutschen und österreichischen Hitlergegnern und Verfolgten ab 1933 folgte eine massenhafte Flucht von 200.000 deutschen und jüdischen,10 vor allem aber tschechischen Bewohnern aus den durch das Münchener Abkommen und den Ersten Wiener Schiedsspruch an Deutschland, Polen und Ungarn abgetretenen Grenzgebieten in den Jahren 1938 und 1939. Zwischen Oktober und Dezember 1938 suchten dauerhaft über 68.000 Menschen Zuflucht in der Prag, unter ihnen über 60.000 Tschechen.11 Gleichzeitig verließen während der „Sudetenkrise“ im Sommer 1938 zahlreiche deutsche Einwohner die Stadt und flohen auf Reichsgebiet.12 8 Der Bevölkerungsanstieg in den böhmischen Ländern lag zwischen 1880 und 1910 bei 22,5 Prozent, was einem Anstieg von 7,5 Prozent pro Dekade entspricht. 9 Vgl. Cohen, Gary B.: Němci v Praze 1861–1914 [Deutsche in Prag 1861–1914]. Praha 2000, 77 [Originalausgabe: The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague 1861–1914. Princeton 1981]. 10 Bis zu der in den abgetretenen Grenzgebieten im Mai 1939 durchgeführten Volkszählung war die Zahl der jüdischen Bewohner von ca. 22.000 auf knapp 2.000 gesunken. Vgl. Heumos, Peter: Die Emigration aus der Tschechoslowakei nach Westeuropa und dem Nahen Osten 1938–1945. Politisch-soziale Struktur, Organisation und Asylbedingungen der tschechischen, jüdischen, deutschen und slowakischen Flüchtlinge während des Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumentation. München 1989, 16–17. 11 Die Zahlen beruhen auf den polizeilichen Meldungen des Wohnsitzes in Prag. Durchgangsflüchtlinge sowie deutsche und jüdische Flüchtlinge, die oftmals von Polizeikräften in die Sudetengebiete abgeschoben wurden, sind hier nicht vollständig aufgeführt. Vgl. Měsíční zprávy statistické kanceláře hlavního města Prahy [Monatsberichte des Statistischen Büros der Hauptstadt Prag]. Praha 1938. 12 Über die Zahl der deutschen „Flüchtlinge“ gibt es keine Angaben und die Schätzung der Zeitschrift Přítomnost, dass die Hälfte der Prager Deutschen geflohen sei, ist sicherlich weit übertrieben. Novotný, František: Německé vysoké školy v Praze [Die deutschen Hochschulen in Prag]. In: Přítomnost, 16 (1939) H. 10, 13–15, hier 13.

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Alfons Adam

Eine umkämpfte Kategorie: die Nationalität Nationalität bzw. Umgangssprache Jahr

Tschechisch/ Slowakisch

Deutsch

1880

266.334

42.409



357

5.342

314.442

1890

350.591

41.797



291

4.589

397.268

1900

474.139

34.194



909

5.103

514.345

1910

572.787

37.405



774

5.444

616.410

1921

624.744

30.429

5.959

2.163

13.362

676.652

1930

777.615

41.701

6.747

4.527

18.233

848.823

Jüdisch Andere Ausländer

Gesamt

Tabelle 1: Nationalitäten bzw. Umgangssprache in Prag 1880–1930

13

Vor 1848 sprachen und schrieben große Teile der Prager Oberschicht deutsch, wobei sich jedoch nur eine Minderheit als Deutsche betrachtete.14 Besonders unter den Vertretern des Adels, des Offizierskorps, des Beamtentums und der freien Berufe nahm die deutsche Sprache eine dominierende Stellung ein. Die Vertreter dieser obersten sozialen Schicht sprachen unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft meist nur so viel Tschechisch, wie es der alltägliche Verkehr mit den Dienstboten erforderte. Zweisprachigkeit war in Prag lange Zeit auch ein Kennzeichen der mittleren sozialen Schichten. Handwerker, mittlere und niedrige Beamte sowie kleinere Kauf13 Zu den Zahlen für die Jahre 1880–1921 vgl. Boháč, Hlavní město Praha, 30. Die Zahlen für das Jahr 1930 stammen aus: Sčítání lidu v Republice československé ze dne 1. prosince 1930. Díl I. Růst koncentrace a hustota obyvatelstva, pohlaví, věkové rozvrstvení, rodinný stav, státní příslušnost, národnost, náboženské vyznání [Die Volkszählung in der Tschechoslowakischen Republik am 1. Dezember 1930. Teil I. Wachstum, Konzentration und Dichte der Bevölkerung, Geschlecht, Altersverteilung, Familienstand, Staatsangehörigkeit, Nationalität und Religionszugehörigkeit]. Praha 1934, 194. Alle Zahlen beziehen sich auf Prag in den Grenzen von 1922. 14 Ledvinka und Pešek zählen die große Gruppe der deutschsprachigen Prager um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Deutsche. Vgl. Ledvinka, Václav/Pešek, Jiří: Praha [Prag]. Praha 2000, 424. – Havránek verweist hingegen auf die dominierende Rolle der französischen Sprache unter der böhmischen Aristokratie des 19. Jahrhunderts und den bereits großen Anteil der tschechischen Zuwanderer in der Prager Mittel- und Oberschicht. Vgl. Havránek, Jan: Němci a Češi v Praze. Národnostní vývoj obyvatelstva Prahy v 19. a 20. století [Deutsche und Tschechen in Prag. Die Entwicklung der Nationalität der Bevölkerung Prags im 19. und 20. Jahrhundert]. In: Demografie, 44 (2002), 252–255.



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leute waren aufgrund ihres täglichen Kundenverkehrs meist zweisprachig. „Tausende von Leuten redeten beide Sprachen gleich schlecht, hielten sich aber, ohne viel darüber nachzudenken, für Deutsche, weil dies als ehrenvoller angesehen wurde“,15 beschrieb der deutschböhmische Schriftsteller Fritz Mauthner (1849–1923) das Prag der 1860er Jahre. Die erste internationalen Standards entsprechende durchgeführte Volkszählung in der Habsburgermonarchie im Jahr 1880 bestätigte die allgemeinen Befürchtungen von deutscher Seite. Nur noch jeder siebte Prager Einwohner (13,7 Prozent) gab Deutsch als Umgangssprache (obcovací řeč) an. Die Zahl und der Anteil der Deutschen sanken weiter dramatisch bis zu einem Tiefpunkt nach dem Ersten Weltkrieg. 1921 zählte man in Prag noch 30.429 Deutsche, was 4,6 Prozent der Einwohner entsprach. Ihnen stand eine tschechische Mehrheit von über 94 Prozent entgegen. Erst die Zuwanderung von Deutschen in den 1920er Jahren ließ ihre Zahl wieder steigen, und die Statistiker zählten 1930 41.701 Deutsche in Prag, was dem Stand des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprach. Prag hatte in extremer Form eine Entwicklung durchgemacht, wie sie um 1850 in mehreren ehemals deutsch dominierten Städten der böhmischen Länder zu beobachten gewesen war.16 Die nationalen Mehrheitsverhältnisse hatten sich in Prag ebenso verändert wie in Plzeň (Pilsen), České Budějovice (Budweis) oder Olomouc (Olmütz). Der absolute Rückgang der deutschen Bevölkerung in Prag wird allgemein mit dem starken Assimilationsdruck auf Deutsche und vor allem auf Deutsch sprechende Juden erklärt. Eine direkte Beweisführung für die Assimilierung einer Personengruppe ist schwierig. Gary B. Cohen führt etwa an, dass bei der Volkszählung des Jahres 1900 3.496 von 6.524 Prager Zuwanderern aus deutsch dominierten Heimatregionen als Umgangssprache tschechisch angaben.17 Der Übergang von der deutschen zur tschechischen Nationalität betraf hauptsächlich die Arbeiterklasse und die untere deutsche Mittelschicht, während die Oberschicht eher „deutsch“ blieb. In der älteren Literatur wird auch häufig die Vermutung geäußert, es habe sich dabei oftmals um ein „Parteibekenntnis“ gehandelt, da man als Deutscher in der zunehmend tschechisch werdenden Stadt eine materielle Benachteiligung zu befürchten hatte.18 In der Zwischenkriegszeit war für viele Prager die Muttersprache 15 Mauthner, Fritz: Der letzte Deutsche von Blatna. Berlin/Wien 1913, 23. 16 Vgl. Fialová, Ludmila: Dějiny obyvatelstva českých zemí [Bevölkerungsgeschichte der böhmischen Länder]. Praha 1996, 268. 17 Vgl. Cohen, Gary B.: Ethnicity and Urban Population Growth. The Decline of the Prague Germans, 1880–1910. In: Hitchins, Keith (Hg.): Studies in East European Social History. Vol. 2. Leiden 1981, 3–26, hier 13. 18 Vgl. z. B. Lehovec, Otto: Prag. Eine Stadtgeographie und Heimatkunde. Prag 1944 (= Forschungen aus Prags Vergangenheit und Gegenwart, Bd. I), 91–93. Dieses Argument benutzt auch Horská, Pavla: Etnické a neetnické menšiny v Praze na přelomu 19. a 20. století [Ethnische und nichtethnische Minderheiten in Prag am Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhun-

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nicht identisch mit der im Erwachsenenalter hauptsächlich benutzten Sprache. Die Entscheidung bei den Volkszählungen war von der Familie, dem Ehepartner, dem Arbeitsverhältnis, der Schulbildung, dem Druck der Umgebung und letztendlich sogar vom Zufall bestimmt.19 Der stärkste Assimilierungsdruck lastete auf der jüdischen Bevölkerung Prags. Durch die vollständige rechtliche Emanzipation der Juden in der Habsburgermonarchie am Ende der 1850er Jahre und dem Aufblühen des deutschen Liberalismus tendierte die Mehrheit der böhmischen Juden zu einer deutschen Identität. Die ersten tschechisch-jüdischen Vereine entstanden erst in den späten 1870er Jahren. Die Herausbildung eines tschechischen Bürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts, die Kraft der tschechischen Nationalbewegung und der Niedergang der deutschen Liberalen drängten immer mehr Juden zu einer tschechischen Identität. Ein Beispiel für den häufigen Nationalitätenwechsel in jüdischen Familien ist die Familie des heute in Prag lebenden Journalisten und Publizisten Petr Brod. In den letzten vier Generationen war die Muttersprache der Familie jedes Mal eine andere und nicht immer die tatsächliche Sprache der Mutter. Während Petr Brods Urgroßvater noch mit Jiddisch als Hauptsprache aufwuchs, passte sich der Großvater in der böhmischen Provinz der tschechischen Umgebung an. Der Vater wuchs in Prag auf und besuchte deutsche Schulen, während Petr Brod wiederum Tschechisch als seine erste Sprache betrachtet.20 Jahr Eheschließungen 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 193421 1935 1936 1937 deutschdeutsch 164 175 199 183 206 195 204 167 – 194 221 216 deutschtschechisch 100 124 126 150 159 168 177 164 – 181 202 213 Tabelle 2: Deutsch-deutsche und deutsch-tschechische Ehen in Prag 1925–193722

19

20 21 22

dert]. In: Fejtová, Olga/Ledvinka, Václav/Pešek, Jiří (Hg.): Národnostní skupiny, menšiny a cizinci ve městech. Praha – město zpráv a zpravodajství [Nationale Gruppen, Minderheiten und Ausländer in den Städten. Prag – Stadt der Nachrichten und des Nachrichtenwesens]. Praha 2001 (= Documenta Pragensia, Bd. 19), 123–128, hier 124. Vgl. Čapková, Kateřina: Uznání židovské národnosti v Československu 1918–1938 [Die Anerkennung der jüdischen Nationalität in der Tschechoslowakei 1918–1938]. In: Český časopis historický, 102 (2004) H. 1, 77–102, hier 97. Vgl. Brod, Petr: Židé v Československu [Die Juden in der Tschechoslowakei]. In: Otte, Anton/ Křížek, Petr (Hg.): Židé v Sudetech [Die Juden in den Sudetenländern]. Praha 2000, 277–283. Für 1934 liegen keine Zahlen vor. Für 1925: Statistická zpráva hlavního města Prahy za rok 1925 [Statistischer Bericht der Hauptstadt Prag für das Jahr 1925]. Praha 1930, 33; 1926–1929: Statistická zpráva hlav-



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Gemischtnationale Ehen waren überraschenderweise in Prag eher eine Ausnahme, waren aber wohl schichtspezifisch. Von den fast 9.500 Eheschließungen des Jahres 1930 waren nur 367 (= 3,9 Prozent) gemischtnational. Die nationale Geschlossenheit war bei den Tschechen besonders groß. Der tschechische „Heiratsmarkt“ war dominierend, und es gab für die Bevölkerungsmehrheit relativ wenige Gelegenheiten einen „andersnationalen“ Partner zu finden. So heirateten 1925 nur 97 Tschechen oder Tschechinnen einen deutschen oder jüdischen Partner. Zehn Jahre später waren es 204. Die Zahl der gemischtnationalen Ehen in Prag stieg jedoch kontinuierlich an. Lag bei den Prager Deutschen der Anteil der deutsch-tschechischen Ehen 1925 noch bei unter einem Drittel, so war er bis 1937 auf die Hälfte gestiegen. Dies ist ein Zeichen dafür, dass nationale Unterschiede im privaten Leben – im Gegensatz zum politischen – eine immer geringere Rolle spielten. Deutsche Autoren wie Otto Lehovec sahen die steigende Zahl von Mischehen als Gefahr für das Prager Deutschtum an. Besonders die Eheschließungen deutscher Männer mit tschechischen Frauen erschienen ihnen unverhältnismäßig hoch, da dies „eine ständige Verlustquelle für das Deutschtum“ war.23 So heirateten 1925 26 deutsche Frauen einen tschechoslowakischen Mann, aber mehr als doppelt so viele (55) deutsche Männer eine tschechoslowakische Frau. Hintergrund dieses Unterschiedes ist wohl die hohe Zahl deutscher männlicher Studenten und Berufsanfänger, die ihre Partner in der tschechisch dominierten Umgebung fanden. Der Bund der Deutschen in Böhmen eröffnete ein Wohnheim für nach Prag kommende deutsche Dienstmädchen. Sie sollten dadurch „in keine schlechte Gesellschaft geraten und [...] unserem Volke erhalten bleiben“.24 Wegen der Kritik an dem österreichischen System wurde für die erste tschechoslowakische Volkszählung 1921 die Kategorie „Umgangssprache“ durch „Nationalität“ ersetzt. § 3 des Gesetzes zur Volkszählung vom 8. April 1920 definierte Nationalität als „Stammeszugehörigkeit, deren äußeres Hauptkennzeichen in der Regel die Muttersprache ist“.25 Als europäisches Unikum wurde in der Tschechoslowakei die jüdische Nationalität anerkannt. Der deutsche Generalkonsul in Prag, Fritz von Gebsattel, vermutete hinter der Unterstützung der zionistischen Pläne durch den ního města Prahy za léta 1926–1929 [Statistischer Bericht der Hauptstadt Prag für die Jahre 1926–1929]. Praha 1933, 96; 1930–1933: Statistická zpráva hlavního města Prahy za léta 1930–1933 [Statistischer Bericht der Hauptstadt Prag für die Jahre 1930–1933]. Praha 1937, 92; 1935–1937: Měsíční zprávy 1934–1937. Für 1938 liegen keine Zahlen vor. 23 Lehovec, Prag, 98. 24 Der Bundesgau und -bezirk Prag des Bundes der Deutschen und deren Bundesgruppen. Ein geschichtlicher Rückblick von Alfred von Klement. Prag 1938, 23. 25 Zitiert nach Čapková, Kateřina: Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918– 1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918– 1938]. Praha 2005, 41.

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tschechoslowakischen Nationalausschuss die Absicht, die Deutschen zu schwächen. Zugleich glaubte er, dass natürlich eine nicht unerhebliche Anzahl der sozial höher stehenden Judenschaft treu beim Deutschtum verbleiben und wohl weiterhin dem Deutschtum erhalten bleiben wird.26

Der zweiten Volkszählung in der Ersten Republik, die im Jahr 1930 durchgeführt wurde, lag eine veränderte Definition von Nationalität aufgrund eines Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts aus dem Jahr 1924 zu Grunde. Das Konzept der „Stammeszugehörigkeit“ wurde im Vielvölkerstaat Tschechoslowakei aufgegeben und durch das Kriterium Sprache ersetzt: „Nationalität wird meist durch die Muttersprache definiert. Eine andere Nationalität als die, die durch die Muttersprache bezeugt wird, kann nur dann angegeben werden, wenn die Person weder in der Familie noch im Haushalt seine Muttersprache spricht und die Sprache dieser Nationalität beherrscht. Juden können die jüdische Nationalität angeben.“27 Nach der „Objektivierung“ der jüdischen Nationalität bei der Volkszählung 1930 stieg der Anteil der Jüdisch-Nationalen in Prag 1930 um etwa vier Prozent. Dieser Zugewinn ging zu gleichen Teilen auf Kosten der tschechoslowakischen wie der deutschen Nationalität.28

Der echte Prager kommt vom Land – Migration Das Wachstum Prags beruhte vor allem auf dem Zuzug. Dies gilt insbesondere für den absoluten wie relativen Zuwachs der Deutschen in Prag, der nicht durch natürliche Reproduktion zu erklären ist. Während seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jährlich Tausende Tschechen nach Prag gezogen waren, war der Zuzug von Deutschen nach Prag weitgehend ausgeblieben. So wohnten 1910 in Wien mehr als 2.000 Menschen aus dem Kreis Cheb (Eger) in Prag hingegen nur 640.

26 Bericht des Generalkonsuls von Gebsattel in Prag an das Auswärtige Amt vom 28. 1. 1919. In: Alexander, Manfred (Hg.): Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Innenpolitik und Minderheitenprobleme in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Teil I. Von der Staatsgründung bis zum ersten Kabinett Beneš (1918–1921). Berichte des Generalkonsuls von Gebsattel, des Konsuls König und des Gesandten Professor Saenger. München/Wien 1983, 139. 27 Offizielle Definition des tschechoslowakischen Innenministeriums für die Volkszählung vom 1. Dezember 1930. Zitiert nach: Boháč, Praha, 33–34. 28 Vgl. Čapková, Uznání, 96.

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Absolute Zahl Einheimisch

Nationalität Tschechoslowakisch

Prozent

Andere Herkunft Einheimisch Andere Herkunft

282.196

342.548

45,2

54,8

Deutsch

8.691

21.738

28,5

71,5

Jüdisch

2.245

3.714

37,7

62,3

Anders

56

2.117

2,1

97,9

Ausländer

1.723

11.619

13,1

86,9

Insgesamt

294.921

381.736

43,6

56,4

Tabelle 3: In Prag geborene und zugezogene Einwohner 192129

Im Jahr 1921 waren demnach nur 43,6 Prozent der Prager Bevölkerung auch in Prag geboren. Bei den Prager Deutschen war dieser Anteil mit 28,5 Prozent noch geringer. Dass er unter der jüdischen Bevölkerung vergleichsweise hoch war, lag daran, dass die starke Landflucht von Juden in der Ersten Republik bereits weitgehend abgeschlossen war. Nationalität

1925

1926

1927

1928

1929

1930

1931

Tschechoslowaken

76.234

78.291

95.604

117.376

119.604

99.617

94.431

Deutsche

6.285

7.055

7.928

9.284

10.053

10.540

11.032

82.519

85.346

103.532

126.660

129.657

110.157

105.463

Nationalität

1932

1933

1934

1935

1936

1937

1938

Tschechoslowaken

95.742

92.186

94.410

93.740

93.791

92.405

137.023

Deutsche

11.370

12.568

13.583

14.252

12.993

13.725

15.990

107.112

104.754

107.993

107.992

106.784

106.130

153.013

Gesamt

Gesamt

Tabellen 4a und 4b: Jährliche Zuwanderung von Tschechoslowaken und Deutschen aus dem Inland nach Prag 1925–193830 29 Vgl. Boháč, Praha, 55. 30 Daten vgl. Statistická zpráva 1925, 24; Statistická zpráva 1926–1929, 74–75; Statistická zpráva 1930–1933, 70–71; Měsíční zprávy 1934–1938. Für die Jahre 1934 bis 1938 liegen

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Statistische Angaben über die Zuwanderung nach Prag liegen ab 1925 vor. Jährlich kamen etwa 100.000 Menschen neu nach Prag, was etwa 10 bis 15 Prozent der Gesamtbevölkerung der Stadt ausmachte. Diesem gewaltigen jährlichen Zustrom stand eine etwas geringere Abwanderung entgegen. So lag im Spitzenjahr 1929 die Zuwanderung bei über 140.000 Menschen,31 während im selben Jahr knapp 110.000 Personen abwanderten. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise ging die Zuwanderung auf jährlich etwa 120.000 zurück. Die Abwanderung blieb mit jährlich 110.000 Menschen stabil. Der effektive jährliche Bevölkerungszuwachs durch Migration lag somit zwischen 4.000 bis 20.000 Personen. Im Gegensatz zur Meldepflicht der Zuwanderer wurde die Abmeldepflicht der Abwanderer nicht so gewissenhaft befolgt, so dass deren Zahl in der Realität höher war. Das städtische Statistische Amt von Prag schätzte Mitte der 1930er Jahre den durchschnittlichen effektiven Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung in den 1920er Jahren auf jährlich 15.000.32 Geht man davon aus, dass der Anteil der in Prag Verbleibenden bei deutschen und tschechischen Zuwanderern stabil war, so stieg die Zahl der Deutschen in der Stadt bis 1937/38 auf ca. 50.000 bis 55.000. Die Wanderungsbewegungen hingen größtenteils von der Konjunktur ab. Am Ende der prosperierenden 1920er Jahre erreichte die Zuwanderung von Tschechen ihren Höhepunkt. Die Verarmung der deutschen Grenzgebiete infolge der Weltwirtschaftskrise drängte hingegen die Deutschen vermehrt in die Hauptstadt, die bedeutend weniger unter der Krise zu leiden hatte.33 Für die deutschen Arbeitssuchenden aus der Provinz eröffnete der Prager Bezirksverband des Bundes der Deutschen in Böhmen (BDB) eine Armenküche in der Altstadt. Der BDB rechnete damit, dass die Welle der deutschen Zuwanderung nur so lange bestehen bleiben würde, bis wieder draußen in den Gauen die Schornsteine der Fabriken und Werke rauchen […] und jeder arbeitswillige Volksgenosse in seiner Heimat sein Auskommen finden wird.34

31

32

33

34

keine Angaben über Personen sonstiger Nationalität und Zuwanderung aus dem Ausland vor. Neben der Zuwanderung von Tschechoslowaken und Deutschen aus dem Inland kamen etwa 4.000 Personen anderer Nationalität aus dem Inland hinzu sowie etwa 9.000 Personen aus dem Ausland. Vgl. Barvínek, V. K.: Přistěhovalectví do Prahy [Die Zuwanderung nach Prag]. In: Věstník hlavního města Prahy [Amtsblatt der Hauptstadt Prag], 36 (1929) H. 25, 660–662, hier 660. Vgl. Kural, Václav: Konflikt místo společenství? Češi a Němci v československém státě (1918– 1939) [Konflikt statt Gemeinschaft? Tschechen und Deutsche im tschechoslowakischen Staat (1918–1939)]. Praha 1993, 104–105. Klement, Der Bundesgau, 24.

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25000

20000

15000

10000

5000

0 1925

1926

1927

1928

1929

1930

1931

1932

1933

1934

1935

Deutsche aus Böhmen

Deutsche aus Mähren und Schlesien

Deutsche aus der Slowakei und Karpathoukraine

Deutsche aus dem Ausland

1936

1937

1938

Deutsche Gesamt

Grafik 2: Zuwanderung von Deutschen aus der ČSR nach Prag 1925–193835

Von 1918 bis 1938 verdoppelte sich die Zuwanderung von Deutschen aus allen Landesteilen der Tschechoslowakei nach Prag. Waren es 1925 noch etwas über 6.000, die sich in der Hauptstadt niederließen, so stieg ihre Zahl 1935 auf über 14.000. Die Entwicklung verlief in allen Landesteilen parallel. Die Deutschen aus Böhmen dominierten mit drei Vierteln der Zuwanderer, gefolgt von Personen aus Mähren und Schlesien. Die meisten Deutschen kamen aus Ústí nad Labem (Aussig), Cheb (Eger), Karlovy Vary (Karlsbad), Chomutov (Komotau), Litoměřice (Leitmeritz), Mariánské Lázně (Marienbad), Liberec (Reichenberg), Žatec (Saaz), Teplice (Teplitz) und Děčín (Tetschen). Mitte der 1930er Jahre stieg die Zuwanderung von Deutschen aus allen Städten Böhmens rapide an. Während aus dem stark industrialisierten Aussig im Jahr 1925 242 Deutsche nach Prag gezogen waren, waren es 1936 639 (Faktor 2,64). Etwas geringer war der Zuwachs beim Zuzug aus dem schwächer industrialisierten Eger. Dieses hatten 1925 182 Deutsche mit Ziel Prag verlassen, 1936 waren es 345 (Faktor: 1,89).36 Interessant sind diese Zahlen, wenn wir die Nationalität der Neu-Prager mit ihrer Heimatgemeinde in Beziehung setzen: Aus Regionen, in denen die Deutschen 35 Zu den Daten vgl. Statistická zpráva 1925, 24; Statistická zpráva 1926–1929, 74–75; Statistická zpráva 1930–1933, 70–71; Měsíční zprávy 1934–1938. Die Zahl der deutschen Zuwanderer aus dem Ausland für die Jahre 1925, 1927 und 1928 ist nicht bekannt. 36 Zu den Daten vgl. Statistická zpráva 1925, 24; für das Jahr 1936: Měsíční zprávy 1936.

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weniger als 20 Prozent stellten, kamen 23,8 Prozent der deutschen Neu-Prager. So lassen sich zwei Hauptgruppen von deutschen Neu-Pragern feststellen: eine kleine Gruppe von etwa über einem Viertel, die bereits in einer tschechisch dominierten Umwelt aufgewachsen war und mit der tschechischen Sprache und Kultur vertraut war, sowie eine größere Gruppe von fast drei Viertel der deutschen Zuwanderer, die aus deutsch dominierten Regionen stammten.37 Aus tschechisch dominierten Regionen stammte auch eine ganze Reihe von deutschsprachigen Schriftstellern, die sich in der Zwischenkriegszeit als kulturelle Vermittler und Übersetzer betätigt hatten. So kam der in Pilsen geborene Oskar Baum (1883–1941) nach dem Besuch der jüdischen Blindenanstalt Hohe Warte bei Wien 1902 nach Prag38 und Rudolf Fuchs (1890–1942), in Poděbrady (Podiebrad) geboren, verließ für den Besuch der deutschen Realschule in der Mikulandská (Nikolandergasse) seine Heimatstadt, um anschließend an die Prager deutsche Handelsakademie zu wechseln. Der Journalist Ludwig Winder (1889–1946) stammte hingegen aus der deutschsprachigen südmährischen Gemeinde Šafov (Schaffa). Er kam nach dem Besuch der deutschen Handelsakademie in Olmütz und Wanderjahren in der böhmischen Provinz (Teplitz und Pilsen) kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Prag, wo er eine Anstellung als Kulturredakteur der Deutschen Zeitung Bohemia gefunden hatte.39 Die Zuwanderung, aber auch die Abwanderung erfolgte in jährlich wiederkehrenden Wellen. Im Herbst erreichte die Zuwanderung ihren Höhepunkt. Schulabsolventen traten ihre Ausbildungs- oder Arbeitsstelle an oder schrieben sich an weiterführenden Mittel- oder Hochschulen ein. Im Frühjahr war dagegen die Abwanderung am höchsten. Saisonarbeit in der Landwirtschaft dürfte der Grund hierfür gewesen sein.40 Prag war mit zwei Universitäten, zwei technischen Hochschulen und einer Reihe von Akademien nicht nur Hochschulzentrum des Landes; auch die Prager Mittelschulen hatten eine starke Anziehungskraft. So schrieben sich 1928 mehr als 13.000 Studenten – zehn Prozent der Zuwanderer – an Prager Hoch- und Mittelschulen ein.41

37 Vgl. Boháč, Praha, 60. Für die Landesteile außerhalb Böhmens liegen keine Zahlen vor. 38 Serke, Jürgen: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien/Hamburg 1987, 131–141. 39 Ebd., 147–157, 249f. 40 Vgl. Praha milionovým městem již letos? [Wird Prag schon dieses Jahre eine Millionenstadt?]. In: České slovo, 18. 1. 1939, Nr. 15, 6. 41 Barvínek, Přistěhovalectví, 662.



Demografischer Wandel in Paul Eisners Prag

71

Die Stadtteile Die Mehrheit der Prager Deutschen lebte traditionell in der historischen Innenstadt, hauptsächlich in Staré Město (Altstadt) und Nové Město (Neustadt). Seit der Jahrhundertwende ging jedoch die Bedeutung Inner-Prags für die Deutschen stark zurück. Bereits 1910 war die Mehrheit (54,5 Prozent) der Deutschen außerhalb der alten Stadtmauern zu finden.42 Lag der Anteil der Deutschsprechenden in der Altstadt 1880 noch bei 22,4 Prozent, so war er bis 1921 auf 8,4 Prozent Deutsche und auf 4,2 Prozent Jüdisch-Nationale zurückgegangen. Die Deutschen folgten einer allgemeinen Tendenz. Das alte Prag mit seinen engen Gassen und oftmals feuchten Häusern genügte den modernen Ansprüchen nicht mehr, und die Menschen zogen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bevorzugt in die modernen Viertel der nahen Vorstädte. Die Viertel Karlín (Karolinenthal), Smíchov (Smichow) und Žižkov (Žižkow). Besonders die Královské Vinohrady (Königliche Weinberge), Vyšehrad (Wischehrad) und Holešovice (Holleschowitz) galten als attraktiv. Straßenbahnen, Busse, die Eisenbahn und der allmählich sich verbreitende Autoverkehr ermöglichten die weitgehende Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort. Die stärkste absolute Zuwanderung durch Deutsche erlebten die zentrumsnahen Wachstumsviertel Holleschowitz, Weinberge, Dejvice (Dejwitz) und Bubeneč (Bubentsch). Allein in Holleschowitz verdreifachte sich die Zahl der Deutschen in nur neun Jahren: 1921 lebten dort 1.211 Deutsche; 1930 waren es bereits 3.753. Ähnliche Entwicklungen sind auch in Dejwitz und Bubentsch zu beobachten, wo sich die Zahl der Deutschen auf jeweils über 1.000 bzw. 2.000 gegenüber 1921 mehr als verdoppelt hatte. Das hatte auch Folgen für die Lokalpolitik: In Bubentsch-Dejwitz erhöhte sich die Stimmenzahl für die deutschen Parteien zwischen 1927 und 1931 von 1.280 auf 1.906 und die deutschen Parteien gewannen damit zwei Mandate in die Ortsvertretung.43 Die größte Konzentration von Deutschen, über 20 Prozent, war Anfang der 1920er Jahre in der Unteren Neustadt und den Weinbergen zu finden.44 Hier lebte 1930 jeder dritte Prager Deutsche; 1921 war es jedoch noch fast jeder zweite gewesen. Es handelte sich vor allem um den Pfarrbezirk Sv. Jindřich (Sankt Heinrich), eingegrenzt vom Stadtpark (durch den heute die Stadtautobahn, die sog. Magistrale, führt), Václavské náměstí (Wenzelsplatz), Na Příkopě (Graben) und Na Poříčí (Porschitsch), wo die deutsche Bevölkerung über 20 Prozent ausmachte. Im „Stadtparkviertel“ waren auch die bedeutendsten deutschen Kultureinrichtungen wie das Deutsche Kasino, das Volksbildungshaus Urania und die Redaktionen der deutschen Tageszeitungen zu finden. 42 Vgl. Boháč, Praha, 37. 43 Zu den Zahlen vgl. Das deutsche Prag. In: Prager Montagsblatt, 28. 9. 1931, Nr. 39, 6. 44 Boháč, Praha, 37.

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Weitere Schwerpunkte der Prager Deutschen waren Josefov ( Josefstadt) mit etwa 15 Prozent, das Gebiet um den Altstädter Ring, die Neustadt, abgesehen vom Gebiet unmittelbar am Ufer, und mit dem Bau neuer Siedlungen hinter dem Hradschin auch die Burgstadt mit etwa zehn Prozent deutscher Bevölkerung. Unter den zentrumsnahen Vorstädten waren bei den Deutschen die Weinberge, und zwar besonders die Wohngebiete hinter dem Museum, und der an Smichow angrenzende Teil der Kleinseite und Bubentsch beliebt. Hier war jeder zehnte Einwohner deutscher Nationalität.45 Wie sehr der Wohnort in Prag vom jeweiligen Einkommen abhing, wurde dem Schriftsteller, Kulturhistoriker und Journalisten Johannes Urzidil (1896–1970) schon in früher Kindheit bewusst. Die Familie lebte ursprünglich in der Krakauer Gasse (Krakovská) in der Nähe des Wenzelsplatzes. Als Johannes Urzidil drei Jahre alt war, zog die Familie in das populäre Karolinenthal. Da das Kurzwarengeschäft der Mutter kurze Zeit später Bankrott ging, musste die Familie in die tschechisch dominierte Arbeitervorstadt Žižkow umziehen. Erst als sich die finanzielle Situation der Familie wieder gebessert hatte, konnten sich die Urzidils wieder eine teurere Wohnung in der Weinberger Lužická ulice leisten.46 Später wohnte Urzidil erneut in Karolinenthal, in der Palackého ulice, heute Křižíkova. Von den meisten Kulturschaffenden aus dem Kreis um Paul Eisner kennen wir die Adressen. Mit Ausnahme von Ludwig Winder, der mit seiner Familie im nach der Assanierung am Ende des 19. Jahrhunderts sehr teueren, aber besonders unter den Prager Juden erneut beliebten Josefstadt wohnte, lebte keiner in einem ausgesprochen deutschen Viertel wie etwa dem Stadtparkviertel.47 Der gebürtige Prager Willy Haas war zwar in der Masná (Fleischmarktgasse) 7 in der Josefstadt aufgewachsen, wohnte später in Dejwitz, in der Velvarská 88. Oskar Baum wohnte zuerst in Prag-Weinberge, in der Mánesova ul. 7 und später am Havlíčkovo náměstí 3 im tschechischen Arbeiterbezirk Žižkow.48 Nicht weit entfernt, ebenfalls in PragWeinberge, finden wir Otto Pick (1887–1940) in der Slezská ul. 34. Nur drei Häuserblöcke entfernt, in der Moravská ul. 45, lebte sein Redaktionskollege von der Prager Presse, Paul Eisner. Für einen Besuch bei Rudolf Fuchs in der Korunní ul. 144 hätten Pick und Eisner also nur eine Viertelstunde zu Fuß gehen müssen.49

45 46 47 48 49

Lehovec, Prag, 94–95. Serke, Böhmische Dörfer, 183–201. Ebd., 153. Kneidl, Pravoslav: Prager Jahre deutschsprachiger Autoren. Praha 2003, 145. Ebd., 197, 200, 206, 211.

Demografischer Wandel in Paul Eisners Prag



73

Ausländer und Flüchtlinge Der Zerfall des Habsburgerreiches hatte aus vielen Menschen in Prag Ausländer gemacht. 40.000 Tschechen kehrten in den ersten Nachkriegsjahren allein aus den Vereinigten Staaten in ihr Heimatland zurück. Hinzu kamen etwa 100.000 Tschechen aus den anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie.50 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs an der Ostfront setzte aufgrund der herrschenden Bürgerkriegswirren eine große Migrationswelle aus Russland und der Ukraine nach Prag ein. Russen bildeten im Jahr 1921 die drittgrößte Ausländergruppe nach rückkehrenden Auslandstschechen und Deutschen. Jahr

1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933

Deutsche 1.748





1934 1935 1936 1937 1938

2.010 2.317 2.111 2.091 4.026 3.17851 3.053 3.441 3.003 4.760

Tabelle 5: Zuwanderung von Deutschen aus dem Ausland 1926–1938 nach Prag52

Die Zuwanderung von Deutschen aus dem Ausland nach Prag verdoppelte sich im Jahre 1933 und blieb während der 1930er Jahre konstant auf hohem Niveau. Mit der Machtübernahme Hitlers begannen Flüchtlinge aus Deutschland in die Tschechoslowakei zu strömen. Hinzu kamen in geringerem Maße nach dem Wiener Februarputsch auch österreichische Emigranten, die jedoch meist im Brünner Raum blieben. Zwischen 1933 und 1937/38 gewährte die Tschechoslowakei zwischen 10.000 und 20.000 Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich zumindest vorübergehend Asyl.53 In der Tschechoslowakei waren durchschnittlich 1200 bis 1500 deutsche Emigranten offiziell gemeldet. Den höchsten Stand – 2014 – hatte die Emigration am 1. November 1934 erreicht. Ende August 1938 waren es noch

50 Fialová, Dějiny obyvatelstva, 316. 51 Die Zahl umfasst auch Deutsche mit tschechoslowakischem Pass. 52 Die Daten vgl. Statistická zpráva 1926–1929, 76–77; Statistická zpráva 1930–1933, 70–71; Měsíční zprávy 1934–1937. Keine Angaben für die Jahre 1927, 1928 und vor 1926. 53 Die Schätzungen über die Gesamtzahl der Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich gehen weit auseinander. Vgl. dazu Heumos, Emigration, 413; Röder, Werner: Drehscheibe – Kampfposten – Fluchtstation. Deutsche Emigranten in der Tschechoslowakei. In: Becher, Peter/Heumos, Peter (Hg.): Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933–1939. München 1992, 15–29.

74

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1432.54 Milena Jesenská schätzte die Zahl der 1937 inoffiziell in Prag lebenden deutschen Flüchtlinge jedoch auf 3500.55 Unter den Flüchtlingen findet sich etwa der Publizist, Filmkritiker und Drehbuchautor Willy Haas (1891–1973), der nach dem Ersten Weltkrieg Prag verlassen hatte und nach Berlin gegangen war. Er emigrierte 1933 nach wiederholten Hausdurchsuchungen aufgrund seiner jüdischen Abstammung nach Prag, wo er als Feuilletonredakteur unter anderem für die Prager Presse arbeitete und somit Paul Eisners Kollege war.56 Bereits nach dem „Anschluss“ Österreichs waren etwa 4000 bis 5000 österreichische Staatsbürger in die Tschechoslowakei geflüchtet. Als Reaktion auf den immer stärker werdenden politischen Druck von Seiten der Prager Regierung verließen 1937/1938 viele deutsche Flüchtlinge die ČSR wieder.57 1938 begann mit der Zuspitzung des politischen Konflikts zwischen Sudetendeutschen und Tschechen eine erneute, aber umso größere Flüchtlingswelle in das Binnenland und speziell nach Prag. Aufgrund der Sudetenkrise und des Münchener Abkommens flohen bis Anfang Dezember 1938 nach offiziellen Angaben über 150.000 Personen aus den Grenzgebieten in das Binnenland. Das Fürsorgeministerium zählte darunter 11.600 Deutsche und fast 15.000 Menschen jüdischer Religion. Dabei ist jedoch zu beachten, dass ein Großteil der Emigration nach und aus Prag ohne Registrierung durch tschechoslowakische Behörden erfolgte und die tatsächlichen Zahlen deshalb höher zu veranschlagen sind. Offizielle Quellen geben die deutsche Zuwanderung nach Prag mit knapp 22.000 Personen – davon etwa 16.000 aus dem Inland – an. Zwischen Oktober und Dezember 1938 meldeten sich etwa 6400 Deutsche in Prag polizeilich an.58 Flüchtlinge in Lagern und anderen Sammelunterkünften, für die Prag nur eine Station auf 54 Vgl. Blodig, Vojtěch: Die tschechoslowakischen politischen Parteien und die Unterstützung der deutschen und österreichischen Emigration in den 30er Jahren. In: Glotz, Peter u. a. (Hg.): München 1938. Das Ende des alten Europa. Essen 2000, 251–270, hier 253. Čapková, Kateřina/Frankl, Michal: Nejisté útočiště. Československo a uprchlíci před nacismem 1933–1938 [Ein unsicherer Zufluchtsort. Die Tschechoslowakei und die Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus 1933–1938]. Praha 2008, 29–31. 55 Jesenská, Milena: Lidé na výspě [Menschen am Rande]. In: Přítomnost, 14 (1937) H. 43, 684–687 hier 685. Wieder abgedruckt in: Jesenská, Milena: Nad naše síly. Češi, Židé a Němci 1937–1939 [Über unsere Kräfte. Tschechen, Juden und Deutsche 1937–1939]. Praha 1997, 5–13, hier 5. 56 Haas, Willy. In: Heuer, Renate (Hg.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Band 10, München 2002, 89–108, hier 89. 57 Röder, Drehscheibe, 29. Zuletzt: Čapková/Frankl, Útočiště, 246–253. 58 Die Zahlen sind den polizeilichen Meldedaten aus allen Stadtteilen Prags entnommen. Vgl. Měsíční zprávy 1938.

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Demografischer Wandel in Paul Eisners Prag



der weiteren Flucht ins Ausland war, wurden von den Statistikern nicht berücksichtigt. Die Zahl der aus den Sudetengebieten geflohenen tschechischen Einwohner war jedoch weitaus größer. 4500

4000

3500

3000

2500

2000

1500

1000

500

0 Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Dezember

Grafik 3: Zuwanderung von Deutschen aus dem Inland nach Prag 193859

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 15. März 1939 in Prag und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren versuchten vor allem jüdische Prager, das Land zu verlassen. Ludwig Winder gelang Ende Juni 1939 zusammen mit seiner Frau und seiner älteren Tochter der illegale Grenzübertritt nach Polen und die Weiterreise über Skandinavien nach England, während seine jüngere Tochter in Prag blieb und gegen Kriegsende in Bergen-Belsen umkam.60 Johannes Urzidil und seine jüdische Frau konnten ebenfalls 1939 mit gefälschten Papieren über Italien und London in die USA ausreisen. Willy Haas verschlug die Flucht über Italien gar nach Indien, wo er als Drehbuchautor und zeitweise für die britische Armee als Zensor tätig war. Rudolf Fuchs floh 1939 ebenso wie Franz B. Steiner und Otto Pick nach London, kam aber 1942 bei einem deutschen Fliegerangriff ums Leben. Oskar Baums Ausreise nach Palästina scheiterte an der Bürokratie. Er starb nach einer Darmoperation im Jüdischen Krankenhaus in Prag 1941. Paul Eisner blieb ebenfalls in Prag und überdauerte den Krieg mit seiner nichtjüdischen Frau in der Wohnung in der Moravská ul. 45.61 59 Die Zahlen sind den polizeilichen Meldedaten entnommen. Die Meldepflicht galt ab einer Aufenthaltsdauer von sechs Wochen. Vgl. Měsíční zprávy 1938. Unter den deutschen Zuwanderern waren kaum Studenten, da die deutschen Prager Hochschulen aufgrund der Sudetenkrise geschlossen blieben und erst im Januar 1939 wieder öffneten. 60 Serke, Böhmische Dörfer, 147–157. 61 Zu den Umständen dieses Überlebens vgl. den Artikel von Daniel Řehák in diesem Band.

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Religion Im Gegensatz zum politischen und kulturellen Leben in Prag, das sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine deutsche und eine tschechische Welt aufteilte, blieben die religiösen Einrichtungen sowohl in der Habsburgermonarchie als auch in der Tschechoslowakei meist ungeteilt. Allein die deutschen Protestanten hatten eine von den tschechischen Glaubensbrüdern getrennte Kirche mit eigenem Religionsunterricht und teilweise eigenem Schulwesen. Die katholische und die jüdische Glaubensgemeinschaft besaßen dagegen einheitliche, übernationale Strukturen. Die Prager Deutschen bildeten in allen Pfarreien eine Minderheit und nur die Pfarreien Sv. Havel (St. Gallus) und Sv. Jindřich (St. Heinrich) in der Unteren Neustadt boten regelmäßig Messen in deutscher Sprache an.62 Prag war bis zum Ersten Weltkrieg eine weitgehend katholische Stadt: Die christliche Bevölkerung machte 97,1 Prozent aus, und die Katholiken hatten einen Anteil von 92,6 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Die Staatsgründung des Jahres 1918 brachte jedoch gewaltige konfessionelle Veränderungen mit sich, die aus dem bisher fast rein katholischen Prag innerhalb eines Jahrzehntes eine konfessionell gemischte Stadt mit knapper katholischer Mehrheit machten. 200.000 bis 225.000 Prager wandten sich zwischen 1910 und 1921 von der katholischen Kirche ab. Eine starke antikatholische Welle hatte besonders die tschechische städtische Gesellschaft erfasst, da die katholische Kirche als Symbol der alten Macht galt.63 Eine Gruppe tschechischer katholischer Priester hatte sich im Januar 1920 von der römisch-katholischen Kirche abgespalten und die „Tschechoslowakische Kirche“ gegründet, die sich landesweit zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft entwickelte.64 Im evangelischen Lager kam es zur Vereinigung aller tschechischen Protestanten zur „Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder“. Im Gegensatz dazu konnte die katholische Kirche ihre Position unter den Prager Deutschen weitgehend behaupten.

62 Cohen, Politics, 218–221. Ders., Deutsche, 63. 63 Vgl. Havránek, Jan: Prag in der Zeit der Industrialisierung. In: Glettler, Monika u. a. (Hg.): Zentrale Städte und ihr Umland. Wechselwirkungen während der Industrialisierungsperiode in Mitteleuropa. St. Katharinen 1985, 98–105, hier 103. 64 Vgl. Marek, Pavel: Církevní krize na počátku první Československé republiky (1918–1924) [Die Krise der Kirche am Beginn der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918–1924)]. Brno 2005.

1.026

16.342

125.552

624.744

Andere Christen

Jüdisch

Ohne Bekenntnis, andere, unbekannt

Gesamt

30.429

604

7.406

67

38

4

2.036

20.274

5.959

39

5.900

3

0

3

3

11

Deutsch Jüdisch

Tabelle 6: Konfession und Nationalität in Prag 1921 und 193066

85.599

Tschechoslowakische Kirche

766

27.120

Evangelisch: böhm. Brüdergemeinde Deutsch evang. Andere Kirchen65

Orthodox

368.339

Röm.-kath.

Tschechoslowakisch

968

1.795

1.014

289

2.136

1.527

5.633

Ausländer

2.163 12.394

133

308

164

34

387

275

862

Andere, unbekannt

1921 (Ausländer gesondert)63

676.657

127.296

31.751

2.274

85.960

3.296

30.961

395.119

Gesamt

782.083

123.915

18.014

1.473

133.717

1.489

42.275 36.947 134 5.194

461.200

Tschechoslowakisch

45.819

1.671

8.088

165

81

18

4.104 71 3.981 52

31.692

Deutsch

8.230

180

8.044

2

0

1

3 – 1 2

2

Jüdisch

12.691

872

1.279

1.154

124

4.703

960 50 24 886

3.597

Andere, unbekannt

1930 (inkl. Ausländer)64

Nationalität tschechoslowakischer Staatsangehöriger

848.823

126.638

35.425

2.794

133.922

6.211

47.342 37.068 4.140 6.134

496.491

Gesamt



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Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Mehrheit der Juden in den böhmischen Ländern an der deutschen Kultur und Gesellschaft in den Städten orientiert. Prag wurde das Zentrum der jüdischen Bevölkerung in Böhmen. In der Stadt lebten 1930 fast die Hälfte aller böhmischen Juden.69 Während der Antisemitismus in den deutschen Grenzgebieten am Ende des 19. Jahrhunderts viele Anhänger fand und dort das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden belastete, war die Prager deutsche Gesellschaft dagegen relativ immun. Juden, die sich der deutschen Kultur und Nation zugehörig fühlten, waren angesichts der schwindenden Zahl der Prager Deutschen eine willkommene Verstärkung gegen die zunehmende politische und soziale Benachteiligung durch die Tschechen. In den schütter werdenden Reihen des Prager Deutschtums war das Judentum aufgestiegen. Seine Emanzipation habe starke geistige Kräfte gelöst, habe sie größtenteils dem Deutschtum eingegliedert,70 beschrieb dies treffend der Kunsthistoriker Oskar Schürer. Der Liberalismus war das einigende Band zwischen dem deutschen Bürgertum in Prag und den Prager Juden, die Teil dieses Bürgertums sein wollten. Umgangssprache/Nationalität

1900

1921

1930

Tschechoslowakisch

55,4

51,4

50,9

Deutsch

44,4

23,3

22,8

Jüdisch



18,6

22,7

Anders

0,2

5,6

3,6

Tabelle 7: Nationalitätenverteilung bzw. Umgangssprache der Prager Juden 1900, 1921, 1930 in Prozent71

65 Zahlen aus: Boháč, Praha, 84. 66 Ausländer wurden ihrer Nationalität entsprechend den jeweiligen tschechoslowakischen Staatsbürgern hinzugezählt. 67 Hierzu zählten u. a. das Augsburger Bekenntnis (Ostschlesien), die Augsburger evangelische Kirche (Slowakei, Karpatoukraine), die Reformierte Kirche (Slowakei, Karpatoukraine), die Böhmisch-Mährische Brüdergemeinde („Herrnhuter“), die tschechoslowakischen Baptisten und Methodisten. 68 Sčítání lidu 1930, Bd. 1, 200. 69 Vgl. Boháč, Praha, 32. 70 Schürer, Oskar: Prag: Kultur, Kunst, Geschichte. 2. Aufl., Wien/Leipzig/Prag 1935, 366. 71 Die Zahlen für 1900 und 1921 stammen aus Boháč, Praha, 85; für 1930 aus Statistická zpráva 1930–1933, 58–59, inkl. Ausländer.



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Mit dem zunehmenden Aufstieg der tschechischen Nationalbewegung kam es unter den Juden in Böhmen zu einer Veränderung ihrer nationaler Orientierung. Mehr und mehr Juden begannen, ihre Kinder auf tschechische Schulen zu schicken. Das deutsche Monopol für höhere Bildung war 1882 endgültig mit der Teilung der Prager Universität gebrochen. Durch diese verstärkte Abwendung der Juden von der deutschen Kultur sank die Zahl der Deutschen in Prag beträchtlich. Machten Juden um 1900 in Prag I.–VII. nicht weniger als 46 Prozent der damals 17.928 deutschsprachigen Prager aus, sank ihr Anteil bis 1921 auf weniger als ein Viertel (7.406 von 30.429).72 Ihr Anteil ging bis 1930 auf 17,7 Prozent (8.088 von 45.819) zurück. Anders ausgedrückt waren 1921 ein Viertel der Prager Juden Deutsche (7.426 von 31.751). Der Anteil der Deutschen unter den Prager Juden blieb bis 1930 mit 8.088 von 35.425 stabil. Unter der jüdischen Bevölkerung Prags bekannten sich 1921 51,5 Prozent zur tschechoslowakischen, 23,3 Prozent zur deutschen und 18,6 Prozent zur jüdischen Nationalität.73 Zur jüdischen Nationalität bekannten sich seit 1921 hauptsächlich Juden, die 1900 noch als Umgangssprache deutsch angegeben hatten. Die weit verbreitete Gleichsetzung der Prager Juden mit den Deutschen der Stadt war bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zutreffend. Bis 1930 veränderten sich die Zahlen in Prag kaum. Der tschechoslowakische wie der deutsche Anteil unter den Prager Juden nahm nur geringfügig zu Gunsten der Jüdisch-Nationalen ab, die ihren Anteil in Prag auf knapp 23 Prozent vergrößern konnten.74 Ähnlich wie bei den Katholiken teilten sich tschechische und deutsche Juden weitgehend gemeinsame religiöse und wohltätige Einrichtungen. Einzig die zionistischen Gruppen bauten sich ein eigenes Netzwerk von Vereinen und Verbänden auf. Traditionell hatten besonders die wohlhabenden Juden ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu den deutschen Gruppierungen in der Stadt. Bis 1918 war es für die tschechischen Juden kaum möglich, den Gottesdienst in den Synagogen und den Religionsunterricht in tschechischer Sprache gegen den Widerstand der „pro-deutschen“ Gemeindeführung durchzuführen.75 72 Cohen, Gary B.: Deutsche, Juden und Tschechen in Prag: das Sozialleben des Alltags, 1890– 1914. In: Godé, Maurice u. a. (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague/Deutsche, Juden und Tschechen in Prag 1890–1924. Montpellier 1996 (= Bibliothèque d‘études germaniques et centre-européennes, Bd. 1), 55–69, hier 58. 73 Vgl. Boháč, Praha, 86. 74 In Böhmen bekannten sich 1930 34 Prozent der Juden zur deutschen Nationalität und 46 Prozent zur tschechoslowakischen, im mährischen Landesteil dagegen 52 Prozent zur jüdischen, 30 Prozent zur deutschen und nur 18 Prozent zur tschechoslowakischen Nationalität. Vgl. Kulka, Otto Dov: History and Historical Consciousness: Similarities and Dissimilarities in the History of the Jews in Germany and the Czech Lands, 1918–1945. In: Bohemia, 46 (2005) H. 1, 68–86, hier 74. 75 Cohen, Politics, 221–228; ders., Deutsche, 63.

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Nach der Gründung der Tschechoslowakei setzte aber rasch ein Umschwung ein. Bei den Vorstandswahlen der jüdischen Kultusgemeinde im September 1922 wurde erstmals der Vertreter der tschechisch-jüdischen Bewegung, August Stein, zum Vorsitzenden gewählt. Die deutsche Opposition drohte mit der Gründung einer eigenen „Reformgemeinde“, wenn es zu einer „Unterdrückung“ der Deutschen kommen sollte.76 Eine diplomatische Lösung wurde darin gefunden, dass jedem das Recht zugesprochen wurde, in seiner Sprache in und mit der Kultusgemeinde zu kommunizieren. Angesichts des Volkszählungsergebnisses, wonach sich nur 25 der Prager Juden zur deutschen Nationalität bekannten, konstatierte Stein: „Die Tschechisierung des jüdischen Rathauses ist eine tatsächliche Entwicklung.“77 Bei der hier etwas genauer betrachteten Gruppe um Eisner stammten nur Johannes Urzidil und Rudolf Fuchs nicht aus jüdischen Familien, wobei Urzidils Frau Gertrud Thieberger Tochter eines Rabbiners war. Die rasche Veränderung in der sprachlichen und kulturellen Orientierung der Prager Juden vom Deutschen zum Tschechischen prädestinierte diese Gruppe geradezu für die Rolle der kulturellen Vermittler.

Berufswelt und soziale Stellung Prag wurde nach der Staatsgründung das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Deutschen in der Tschechoslowakei. Trotz der ökonomischen Potenz Reichenbergs und anderer Städte im Grenzgebiet kamen die Deutschen der böhmischen Länder an dem vielfach ungeliebten Prag nicht vorbei. In der neuen Hauptstadt befand sich der Regierungssitz, das Abgeordnetenhaus und der Senat – also jene Institutionen, in denen die Deutschen ihre Interessen umzusetzen versuchten. Prag war Sitz des deutschen Kreditwesens (z. B. der Kreditanstalt der Deutschen) und verschiedener deutscher Zentralverbände. Im deutschen Bildungswesen hatte Prag mit seinen Mittel- und Hochschulen sowie dem Sitz deutscher Tageszeitungen und Verlage zudem eine wichtige Stellung inne. Durch die Produktionen des Neuen Deutschen Theaters oder die Vortragsreihen der Urania behauptetet Prag seine Position im deutschen Kulturleben des Landes. Mit der Aufwertung Prags als Hauptstadt des neuen Staates erhoffte sich der Hochschullehrer und Minister Franz Spina eine „Demokratisierung [an] Haupt und Gliedern“ der Prager Deutschen, 76 Národní archiv ČR [Nationalarchiv der Tschechischen Republik, im Folgenden NA]. Předsednictvo ministerské rady, 1918–1945 [Präsidium des Ministerrates, im Folgenden PMR], Inv. Nr. 383, Sign. 3, Karton 3, 193. Bericht des Präsidiums der politischen Landesverwaltung vom 28. 9. 1922 an das Innenministerium über die Zeit vom 17. bis 23. September 1922. 77 Aus der Prager jüdischen Gemeinde. In: Selbstwehr, 16 (1922) H. 43, 5.

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denn der tschechische Staat mit seiner starken deutschen Minderheit muss das deutsche Element naturnotwendig in den Prager Zentralen gebührend berücksichtigen, deutsche Beamte und Diener werden vielleicht nicht gerne nach Prag gehen, aber sie werden es müssen. Deutsche wirtschaftliche und industrielle Unternehmen sind vielfach heute schon in Prag zentralisiert; Kristallisationspunkte besonders in jenen Schichten, die wir in der jetzigen sozialen Zusammensetzung des Prager Deutschtums oft schmerzlich vermisst haben, werden sich einstellen.78

Die deutsche Bevölkerung Prags war in den Bereichen Handel, Geldwesen, Militär, Staatsdienst sowie als Rentiers, Selbstständige und Personen ohne Angaben überdurchschnittlich repräsentiert.79 In den Branchen Handel, Banken und Verkehr sowie im öffentlichen Dienst und den freien Berufen konnten sie ihre Positionen auch in der Ersten Republik aufgrund ihrer Ausbildung, Erfahrung und ihres Kapitals behaupten. Stellung im Beruf

Deutsche

Tschechoslowaken

Absolut

Prozent

Absolut

Prozent

Selbstständige

11.628

25,4

113.938

14,6

Beamte

11.598

25,3

86.084

11,0

Angestellte

2.688

5,9

67.623

8,6

Arbeiter

4.265

9,3

180.610

23,1

Berufstätige Familienmitglieder

147

0,3

6.287

0,8

Ohne bes. Angabe

13.137

28,7

294.145

37,6

Bedienstete

2.356

5,1

33.367

4,3

Zusammen

45.819

100

782.053

100

Tabelle 8: Berufliche Stellung von Deutschen und Tschechen 193080

Die größte Gruppe der Deutschen in Prag waren selbständige Ärzte, Anwälte, Unternehmer und Handwerksmeister. Obwohl die Prager Deutschen in der Stadtverwaltung bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kaum mehr vertreten waren, 78 Spina, Franz: Was bedeuten die Prager deutschen Wahlen. In: Deutsche Zeitung Bohemia, 12. 6. 1919, Nr. 63, 2. 79 Vgl. Boháč, Praha, 125–126. 80 Lehovec, Prag, 95–96.

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erklärt sich der hohe Anteil deutscher Beamte durch die Konzentration von deutschen Schulen, Hochschulen und Kliniken in Prag; hinzu kamen staatliche Unternehmen wie die Post und die Eisenbahn. Das Sprachengesetz vom Februar 1926 verpflichtete die Staatsangestellten, binnen eines Jahres einen Nachweis über die Kenntnis der tschechoslowakischen Sprache zu erbringen. Bereits 1924 organisierte der Verein der deutschen Staatsangestellten in Prag einen Tschechischkurs mit einem Lehrer der Deutschen Universität, „da der genannten Staatsangestelltengruppe die Notwendigkeit der Erlernung der tschechischen Sprache immer klarer“ wurde.81 Die mit allgemeinen Sparmaßnahmen begründete Entlassungswelle im noch aus Habsburger Zeiten überbesetzten Staatsapparat, die im Jahr 1925 einsetzte, verschonte auch die Tschechen nicht.82 Leider finden sich weder für Prag noch auf Landesebene Angaben über die Nationalität und die Zahl der Staatsangestellten.83 Die berufliche Zusammensetzung der Prager Juden war noch spezifischer. War ihnen im 19. Jahrhundert der Eintritt in den Staatsdienst noch möglich, wurde dies ab 1900 immer schwieriger. Eine Beamtenlaufbahn war aber gerade nach der großen Wirtschaftskrise der 1870er Jahre nicht nur für jüdische Hochschulabsolventen sehr attraktiv. Wenn ein Jude im alten Österreich im Staatsdienst die gleiche Stufe der Karriereleiter erreichen wollten wie ein Christ, so musste er entweder die doppelte Leistung bringen – oder sich taufen lassen, so Christoph Stölzl.84 Unter den 3.000 Angestellten des Prager Magistrats waren 1909 nur 23 Juden. In Prag galt die Regel, dass ein Jude kein politischer, in den böhmischen Kronländern kein Justiz- oder Finanzbeamter werden konnte. Laut Max Brod (1884– 1968) konnte ein Jude nur aufgrund höchster Protektion in den Staatsdienst gelangen. Als Franz Kafka (1883–1924) letztendlich bei der Arbeiterversicherung eine Anstellung fand, kommentierte er dies gegenüber Max Brod 1917: Eine Versicherung ist für einen Juden unerreichbar […] Es ist unbegreiflich, wie die beiden Juden es dorthin geschafft haben, die dort sind […] und wiederholen wird sich so etwas nicht.85 81 Archiv Univerzity Karlovy [Archiv der Karlsuniversität, AUK]. Rektorát Německé univerzity v Praze [Rektorat der Deutschen Universität in Prag], Inv. Nr. 9–16, Bd. 1030/23, Karton 5. Schreiben des Vereins der deutschen Staatsangestellten in Prag an das Rektorat der deutschen Universität vom 14. 2. 1924. 82 Vgl. Boháč, Praha, 128. 83 Zur Problematik der Nationalitäten und der Staatsangestellentenfrage vgl. Kučera, Jaroslav: Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachfrage in den tschechisch-deutschen Beziehungen 1918–1938. München 1999 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 43), 277–297. 84 Stölzl, Christoph: Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden. 2. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin 1989, 80. 85 Zitiert nach Stölzl, Kafkas böses Böhmen, 81.



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Während die Beamten, Freiberufler und Angestellten unter den Deutschen stark vertreten waren, gehörten 1930 von 45.81986 deutschen Beschäftigten nur 4.265 (9,3 Prozent) der Arbeiterschaft an. „Das Proletariat der Hauptstadt Prag ist tschechisch. Deutsche Arbeiter gibt es hier nur vereinzelt und über die ganze Stadt verstreut, deshalb schwer organisierbar“, so der Sozialdemokrat 1934.87 Emil Strauß verglich die Verteilung deutscher Arbeiter in der Stadt mit „Pilze[n] im Wald (aber nicht nach dem Regen)“.88 1930 war dennoch fast jeder zehnte Prager Deutsche ein Arbeiter, unter den Tschechen war es hingegen fast jeder Vierte. Den höchsten Anteil an deutschen Arbeitern in einem Fachbereich gab es bei den Typografen im tschechoslowakischen Druck- und Verlagszentrum. Sie bildeten zusammen mit den Buchdruckern den Kern der deutschen Sozialdemokratie in Prag.89 Für den gesamten Wirtschaftsbereich gilt, dass nur eine Minderheit der Deutschen tatsächlich Arbeiter waren, sondern es sich mehrheitlich um Verwaltungsangestellte handelte. Aufgrund der relativ erfolgreichen Behauptung ihrer wirtschaftlichen Position können in der Zeit der Ersten Republik etwa zwei Drittel der Prager Deutschen dem Besitz- und Bildungsbürgertum zugerechnet werden. So stellten die Deutschen 1930 etwa zehn Prozent der gesamten Lehrerschaft, knapp zwölf Prozent der freien Berufe und 13,5 Prozent der Beschäftigten im Versicherungswesen. Dem Bürgertum stand aber ein wachsendes Heer schlecht bezahlter Angestellter entgegen, die die Basis der deutschen Sozialdemokratie in der Stadt bildeten.90 40 Prozent der Angestellten in der Tschechoslowakei verdienten in der Ersten Republik soviel wie ein Arbeiter.91 Auch in der Gruppe um Paul Eisner stammte die Mehrheit aus großbürgerlichen Familien. Es gab jedoch auch einige Ausnahmen. Der in Poděbrady geborene Rudolf Fuchs musste bereits als 13jähriger Nachhilfeunterricht geben, um seinen Aufenthalt in Prag mitzufinanzieren, da die Firma seines Vaters Konkurs ging.92 Auch Ludwig Winder kam es relativ einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Lehrer an der jüdischen Gemeindeschule in Holešov (Holleschau) bei Zlín. 86 Zu den 41.701 Prager Deutschen mit tschechoslowakischem Pass im Jahr 1930 kamen noch etwa 4.000 Ausländer deutscher Nationalität hinzu. 87 Vgl. Der Sozialdemokrat, 6. 7. 1934. 88 Strauß, Emil: Die deutsche Arbeiterbewegung Prags im Wandel der Jahrzehnte. In: Schönfelder, Richard (Hg.): Die deutsche Sozialdemokratie in Prag. Festschrift zum 30jährigen Bestehen der Bezirksorganisation Prag der DSAP. Prag 1936, 7–37, hier 18. 89 Havránek, Prag in der Zeit der Industrialisierung, 101. 90 Cohen, Deutsche, 60–61; Franzel, Emil: Das Prager Deutschtum – ein soziologisches Problem. In: Schönfelder, Richard (Hg.): Die deutsche Sozialdemokratie in Prag: Festschrift zum 30jährigen Bestehen der Bezirksorganisation Prag der DSAP. Prag 1936, 53–57. 91 Mai, Gunther: Europa 1918–1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart u. a. 2001, 124. 92 Serke, Böhmische Dörfer, 250.

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Neben der Tätigkeit als Übersetzer, Schriftsteller und Journalisten suchten die kulturellen Vermittler ein sicheres Einkommen in einer Festanstellung. Eisner selbst war Übersetzer bei der tschechischen Handels- und Gewerbekammer, wo auch Rudolf Fuchs seit 1923 eine Anstellung innehatte. Johannes Urzidil war bis 1933 Presseattaché an der deutschen Botschaft in Prag. Otto Pick hingegen gab seine Karriere als Bankbeamter auf, um sich ganz dem Übersetzten und Schreiben widmen zu können. Ludwig Winder, Oskar Baum und Willy Haas arbeiteten als Freiberufler.

Zusammenfassung Für die Deutschen in den böhmischen Ländern wurde Prag durch den Wegfall Wiens, den zentralistischen Staatsaufbau und der Siedlungsschwerpunkte der Deutschen in den Grenzgebieten zur Hauptstadt. Das Bild der Prager Deutschen als stabile oder eher schrumpfende Gruppe stimmt nur für die Jahre der Habsburgermonarchie und muss für die Zwischenkriegszeit revidiert werden. Die mit der Statusänderung der Stadt verbundenen überproportionalen Zuwanderung von Deutschen nach Prag veränderte die bestehende Gruppe der Prager Deutschen bezüglich ihrer sozialen Zusammensetzung. Prag lockte nicht nur die Bildungsschichten, sondern auch eine für Prag neue Gruppe von kleinen und mittleren Angestellten, die zu einer zunehmenden Konkurrenz für die etablierte, liberale deutsch-jüdische Oberschicht wurden.93 Die Gründe für die Zuwanderung nach Prag waren oft ökonomischer Natur. Zudem verfügte Prag über die einzige deutsche Universität und eine von zwei deutschen technischen Hochschulen im Land. Die Stadt bot auch für Deutsche gute Berufschancen. Die Weltwirtschaftskrise mit ihren katastrophalen Auswirkungen auf die exportorientierte Leichtindustrie in den Sudetengebieten förderte die Abwanderung der deutschen Bewohner. Prag, das bei der weltweiten Rezession relativ glimpflich davon gekommen war, wurde für Deutsche zunehmend attraktiv.94 Obwohl die Ansiedlung wohlhabender Prager Deutscher und deutschsprechender Juden in den neu entstandenen Villenvierteln am Stadtrand nicht organisiert war, wurde sie in der tschechischen Presse als Gefahr dargestellt. Mehrere Teile von Bubentsch und Holleschowitz wurden „Klein-Berlin“ genannt. 1937 bis 93 Hartmund Binder weist etwa darauf hin, dass viele Prager Gymnasiasten, Studenten, Lehrer, Hochschullehrer, Verwaltungsbeamten, Journalisten und Prager deutsche Autoren nicht in Prag geboren waren. Binder, Hartmut: Paul Eisners dreifaches Ghetto. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag. In: Reffet, Michel (Hg.): Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker/Le monde de Franz Werfel et la morale des nations. Bern u. a. 2000, 17–137, hier 68. 94 Vgl. Pooley, Colin G.: The Role of Migration in the Development of Non-dominant Ethnic Groups in Europe, 1850–1940. In: Engman, Max (Hg.): Ethnic Identity in Urban Europe. New York 1992, 359–373.



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1940 wurde in der Nähe des Messepalastes zwischen den Straßen Rudolfova (heute Veletržní), Bubenská und U vozovky (heute U smaltovny) ein zweiteiliger Wohnblock errichtet, der noch heute im Volksmund „Malý Berlín“ heißt. Auf diese Projekte reagierte die tschechische Presse wie zum Beispiel die Národní listy (Nationalblätter) oftmals aggressiv: Es ist eine neue Kolonisierung. Am schlimmsten ist Prag VII. betroffen, wo sich die Deutschen einkaufen. […] An den Orten, wo es am schönsten ist, findet man immer Deutsche. Sie breiten sich derart aus, dass unsere Leute neben ihnen wie Versprengte wirken.95

Der nationaldemokratische Stadtverordnete Titěra beklagte die Art und Weise, wie sich durch die deutsche Zuwanderung Gaststätten, Märkte und Straßen veränderten. Ausländische Besucher würden sich in Prag darüber wundern. Er kam zu dem Schluss, dass „unser Prag noch keine internationale Stadt ist, um sich diesen Luxus [einer bilingualen Stadt, A. A.] erlauben zu können, [...] da hier nie so viel Französisch und Englisch gesprochen werden wird“.96 Die Prager Deutschen lebten zwar auch in den Jahren der Ersten Republik weiterhin fast ebenso isoliert von ihrer tschechischen Umgebung wie in der Habsburgermonarchie, die Symbole und Institutionen der bürgerlichen Prager deutschen Gesellschaft hatten jedoch stark an Bedeutung eingebüßt und wurden ab der Mitte der 1930er Jahre weitgehend im Rahmen eines bis dahin unbekannten Nationalismus und Antisemitismus ersetzt. Obwohl die Mehrheit der deutschen Zuwanderer sich meist in einem sicheren Angestelltenverhältnis befand, waren die meisten mit ihrer politischen und sozialen Lage in Prag wie in der Republik allgemein unzufrieden. Sie brachten eigene Organisationsformen mit. Schutzvereine wie der Bund der Deutschen Nordmährens oder der Deutsche Böhmerwaldbund eröffneten in Prag Vertretungen. Am deutlichsten zeigte sich die Heimatverbundenheit der Migranten unter den Studenten der Prager deutschen Hochschulen. Viele Studentenvereinigungen waren landsmannschaftlich organisiert. Die Mehrheit der Zuwanderer hatte Probleme bei der Anpassung an die neue Umgebung. Für die Prager Deutschen galt der Minderheitenschutz nicht, da sie den dafür notwendigen Bevölkerungsanteil von 20 Prozent 95 Němci uprostřed Prahy [Die Deutschen in der Mitte Prags]. In: Národní listy, 14. 3. 1936, Nr. 73, 3. Vgl. dazu Soukupová, Blanka: Pražská společnost středních vrstev v letech 1930– 1938 [Die Prager Mittelschicht 1930–1938]. In: Moravcová, Mirjam (Hg.): Město a jeho kultura. Sborník k padesátinám docenta PhDr. Zděnka Pince [Die Stadt und ihre Kultur. Sammelband zum 50. Geburtstag von Doz. PhDr. Zděnek Pinc]. Praha 1996 (= Lidé města, Bd. 6), 66–92, hier 68–70. 96 Aus der Rede des Stadtverordneten Titěra am 6. 10. 1930. In: Věstník hlavního města Prahy, 37 (1930) H. 41, 998.

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bei weitem verfehlten. So musste auch der Schriftverkehr mit den örtlichen Behörden auf Tschechisch erfolgen. In Folge der politischen Veränderungen in der deutschen Gesellschaft Prags und der Zuwanderung entstand zu Beginn der 1930er Jahre eine Reihe neuer politisch rechter Vereinigungen. Auch die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden deutsch-völkischen Gruppierungen erhielten verstärkt Zulauf. Die soziale Zusammensetzung der Mitglieder der Institutionen der Prager bürgerlichen Gesellschaft wie des Deutschen Hauses verengte sich hingegen während der Ersten Republik immer weiter. Diese Selbstabgrenzung verlief konträr zur sozialen Erweiterung der deutschen Bevölkerungsgruppe durch die Zuwanderung. Deshalb stagnierte die Zahl der Mitglieder der traditionellen Vereine der deutschen Oberschicht ebenso wie die der Wähler der bürgerlichen Parteien. Mitte der 1930er Jahre brach sie schließlich ein.97 Die liberal-bürgerlichen Vereine versuchten meist erfolglos, sich gegen den Ansturm der nationalen Kräfte zu wehren und wurden von ihnen übernommen.98 Die Gruppe von Übersetzern und Mittlern um Eisner unterschied sich formal nur wenig von den übrigen Prager Deutschen. Kulturelle Vermittler hatten mehrheitlich einen bürgerlichen bis großbürgerlichen Hintergrund. Neben dem freilich auch vertretenen Beruf des freien Autors und Übersetzers standen sie mehrheitlich in einem Angestelltenverhältnis. Ihre Bilingualität beschränkte sie nicht in der Wahl der Wohnortes innerhalb von Prag. Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen „Neuprager“, die die nationale Radikalisierung in Prag auf deutscher Seite trugen, hatten die meisten kulturellen Vermittler um Eisner einen jüdischen Familienhintergrund. Als Vermittler zwischen den Kulturen scheiterte der Kreis um Eisner angesichts der politischen Ereignisse der Jahre 1938/39. In der Folge verließen die meisten kulturellen Vermittler Prag, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen.

97 Strauß, Die deutsche Arbeiterbewegung, 33. 98 Alle Prager deutschen Vereine wurden im Laufe des Jahres 1938 gleichgeschaltet. Allein der Verein deutscher Schriftsteller und Künstler Concordia und der Frauen-Erwerbverein konnten bis dahin ihre Unabhängigkeit bewahren. Vgl. Gebhart, Jan/Kuklík, Jan: Druhá republika 1938–1939. Svár demokracie a totality v politickém, společenském a kulturním životě [Die Zweite Republik 1938–1939. Der Konflikt zwischen Demokratie und Totalität im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben]. Praha/Litomyšl 2004, 143.

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Ein Nachlass zu Lebzeiten. Eisners Schaffen während der Okkupation In seinen Erinnerungen schreibt der Schriftsteller Viktor Fischl (1912–2006), dass Paul Eisners Verbleib im „Protektorat Böhmen und Mähren“ auf eine Namensverwechslung seitens der Behörden zurückzuführen sei. Nach seiner Ankunft im britischen Exil habe er eine Aktion zu Eisners Rettung eingeleitet und den Schriftsteller H. G. Wells gebeten, sich für ein Affidavit bei den britischen Behörden einzusetzen, damit Eisner so schnell wie möglich aus der besetzten Tschechoslowakei ausreisen könne. Die britische Botschaft in Prag habe jedoch die Ausreisedokumente irrtümlicherweise auf einen Mann namens Paul Eisler ausgestellt, der zwar überrascht gewesen sei, aber rasch seine Ausreise angetreten habe.1 Für eine Korrektur dieses Irrtums sei keine Zeit mehr geblieben, so Fischl. Wenige Monate später wurde auch Innerböhmen von NS-Deutschland besetzt, und die Aktion ließ sich nicht wiederholen. Daraufhin sei auch der gemeinsame Plan von Eisner und Fischl gescheitert, in Großbritannien eine Übersetzeragentur mit dem Schwerpunkt „östliche Literaturen“ zu gründen. Fischl, der Paul Eisler im Exil traf, hoffte bis zum Kriegsende, dass Eisner überlebt, damit er eines Tages von diesen Rettungsversuchen erfahren würde.2 Diesen Grund für Eisners Verbleib im „Protektorat“ erwähnte Fischl bereits in einem Brief an Karl Pick, den Bruder des Schriftstellers und Übersetzers Otto Pick. Dieser hatte sich an Fischl gewandt, weil er in der Exilzeitschrift Čechoslovák (Der Tschechoslowake) auf das Pseudonym „Faber“ gestoßen sei, das er irrtümlicherweise Eisner zuschrieb, der dieses während seiner Tätigkeit für die Prager Presse benutzt hatte.3 Nachdem die Ausreise nach Großbriannien gescheitert war, versuchte Eisner, in die Vereinigten Staaten zu gelangen, um sich dort für die Popularisierung

1 Emingerová, Dana: Dva životy (Setkaní s Viktorem Fischlem) [Zwei Leben (Begegnung mit Viktor Fischl)]. Praha 2002, 59–60. 2 Fischl, Viktor: Nezapomenutelný Pavel Eisner [Der unvergessliche Paul Eisner]. In: Národní politika, 10 (1978) H. 7/8 (111/112), 6. Vgl. dazu auch Emingerová, Dva životy, 59–60, und Eisner, Pavel: Mladému příteli [An einen jungen Freund]. In: Kulturní politika, 1 (1946) H. 13, 6. 3 Ministerstvo zahraniční věcí [Archiv des Außenministeriums, im Folgenden MZV]. Londýnský archiv 1939–1945 [Londoner Archiv 1939–1945], K. 533. Karl Pick an Viktor Fischl, 3. 2. 1941, und Viktor Fischl an Karl Pick, 8. 2. 1941. Vgl. auch Faber [Viktor Fischl]: Dálky [Die Fernen]. In: Čechoslovák, 3 (1941) H. 5, 1.

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der tschechischen Wissenschaft einzusetzen.4 Die Okkupationsbehörden erlaubten ihm jedoch nicht, mit der gesamten Familie auszureisen. Der Handlungsspielraum für ihre Ausreise wurde immer enger. Eisner verblieb schließlich mit seiner Familie im „Protektorat“, da er befürchtete, dass seine Familie aufgrund der drohenden Kriegsgefahr in Europa endgültig zerreißen würde.5 Zwei Faktoren, die über Eisners Zukunft unter dem Okkupationsregime entscheiden sollten, waren seine jüdische Herkunft sowie die „arische Abstammung“ seiner Ehefrau Margarethe.6 Während seine jüdische Herkunft und zugleich auch seine Artikel gegen die Nationalsozialisten Eisner in Lebensgefahr zu bringen drohten,7 bot ihm die deutsche Nationalität seiner Frau für längere Zeit den notwendigen Schutz.8 Dass Eisner das Okkupationsregime überlebte, verdankte er mehreren Umständen: Hier muss unter anderem eine weitere Verwechslung durch die Prager Gestapo genannt werden, diesmal zwischen zwei Personen namens Paul Eisner. Gleichwohl ist nicht ganz auszuschließen, dass es sich hierbei um eine Familienlegende handelt. Eisners Name stand außerdem auf einer Liste prominenter „jüdischstämmiger“ Tschechoslowaken, die bei Präsident Emil Hácha unter Berufung auf ihre Verdienste um das „tschechische Volk“ die Erteilung eines sogenannten „Ehrenariertums“ ersuchten. Dadurch wollten sie sich vor den im „Protektorat“ geltenden antijüdischen Gesetzen retten. Die Entscheidung lag jedoch letztlich beim Amt des Reichsprotektors und fiel in allen Fällen negativ aus. Bis Ende 1944 blieben immerhin die jüdischen Ehepartner aus „Mischehen“ vor den Deportationen bewahrt.9 Des Weiteren sei auch Eisners Einlieferung in die Infektionsabteilung des Prager Krankenhauses Na Bulovce während der letzten Kriegsmonate erwähnt, wodurch sich Eisner der drohenden Deportation in ein Konzentrationslager entziehen konnte. Die Einlieferung kam vermutlich durch die Hilfe des mit ihm befreundeten Arztes und Schriftstellers Ota Dub (1909–1987) zustande, der in dem Krankenhaus arbeitete. Eisner schrieb hier noch im April 1945 sein Buch über die tsche4 Literární archiv Památníku národního písemnictví v Praze [Tschechisches Literaturarchiv, im Folgenden LA PNP]. Bestand Ladislav Stehlík. Paul Eisner an Ladislav Stehlík, 14. 3. 1939. 5 LA PNP. Bestand Ladislav Stehlík. Jan Ort [Pavel Eisner] an Ladislav Stehlík, 14. 6. 1939, 22. 6. 1939, und 7. 9. 1939. 6 Es fällt auf, dass über das Schicksal von Margarethe Eisner-Wagner im „Protektorat“ bislang nichts bekannt ist. 7 Vgl. z. B. Ort, Jan [Eisner, Pavel]: Raumleři a prostorníci [Räumler]. In: Lidové noviny, 24. 3. 1937, Nr. 151, 1–2; ders.: Trucpunčochy [Trotzstrümpfe]. In: Ebd., 11. 11. 1937, Nr. 566, 1–2; ders.: Nositelé kultury [Kulturträger]. In: Ebd., 5. 1. 1938, Nr. 6, 1. 8 LA PNP. Bestand Václav Černý. Jan Ort [Pavel Eisner] an Václav Černý, 26. 8. 1939. 9 Kárný, Miroslav: Die Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben des Protektorats und die Geschichte des „Ehrenariertums“. In: Theresienstädter Studien und Dokumente, 5 (1998), 7–39.



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chische Sprache Bohyně čeká (Die Göttin wartet),10 das er der Ärztin Drahomíra Rotterová widmete. Diese hatte ihm vor der drohenden Deportation geholfen, seine Sachen zu ordnen.11 Dass er zu Kriegsende isoliert im Krankenhaus schrieb, war allerdings für ihn nichts Neues. Eisner blieb während der gesamten Okkupation als Autor, Übersetzer und Publizist tätig, auch wenn er unter Pseudonymen veröffentlichen musste. Schon Ende 1939 beschrieb er seine Situation, die sich bis zur Befreiung Prags nicht wesentlich ändern sollte: „Ich muss Arbeit haben, um es geistig auszuhalten, genauso, wie ich sie haben muss, wenn die Familie nicht buchstäblich Hungers leiden soll.“12 Im Folgenden wird auf der Basis bisher unbekannter Quellen die Arbeit rekonstruiert, die Paul/Pavel Eisner das geistige und materielle Überleben im Protektorat ermöglichte.

Der Beginn der Ausgrenzung: Eisners Schaffen zwischen 1938 und 1940 Mit der Errichtung der sogenannten Zweiten Republik verlor Eisner seine Erwerbsmöglichkeiten: Die Prager Presse wurde aufgelöst,13 und die Lidové noviny (Volkszeitung) bekamen eine neue, linientreue Redaktion, womit sie zugleich auch ihr gesellschaftliches Prestige einbüßten. Eisner, der bis zum Herbst 1938 fast täglich für diese zwei renommierten Tageszeitungen und darüber hinaus für mehrere Literaturzeitschriften geschrieben hatte, gab dennoch nicht auf und suchte nach neuen Publikationsmöglichkeiten. Seine finanzielle Situation verschlechterte sich jedoch rasch mit seiner Entlassung als Zeitungsjournalist, so dass er gezwungen war, sich mit Hilfe seiner Bekannten Aufträge für kommerzielle Übersetzungen, Sprachkurse und Nachhilfe bei Seminararbeiten und Dissertationen zu organisieren. Nach der Besetzung des tschechischen Landesteils durch die Wehrmacht am 15. März 1939 wurde die Abfindung, die Eisner nach seiner Entlassung erhalten hatte, vom Finanzamt einbehalten. Es wurde ihm somit unmöglich gemacht, frühere Schulden zu begleichen.14 10 Eisner, Pavel: Bohyně čeká: Traktát o češtině [Die Göttin wartet : Ein Traktat über das Tschechische]. Praha 1945, 9–10. Vgl. auch Štorch-Marien, Otakar: Tma a co bylo potom [Die Dunkelheit und was danach kam]. Praha 1972, 277. 11 Dies geht hervor aus: LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek (ungeordnet). Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, 17. 7. 1945. Aus Dankbarkeit beauftragte Eisner Rotterová nach dem Krieg mit der Redaktion einiger seiner Bücher. 12 LA PNP. Bestand Ladislav Stehlík. Jan Ort [Pavel Eisner an Ladislav Stehlík], 18. 9. 1939. 13 Zum Ende der Prager Presse vgl.: LA PNP. Bestand Arne Novák. Pavel Eisner an Arne Novák, 30. 12. 1938. 14 LA PNP. Bestand Ladislav Stehlík. Jan Ort [Pavel Eisner] an Ladislav Stehlík, 18. 9. 1939.

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Trotz der existenziellen Probleme setzte Eisner seine publizistische Tätigkeit bis 1940 fort, und zwar unter dem Pseudonym Jan Ort,15 das er bereits seit Anfang der 1930er Jahre für seine Artikel in den Lidové noviny benutzt hatte. Er veröffentlichte nun vor allem in der von Václav Černý (1905–1987) herausgegebenen Literaturzeitschrift Kritický měsíčník (Kritisches Monatsblatt), eine der damals bedeutendsten tschechischen Kulturzeitschriften, die sich darum bemühte, die Qualität der Beiträge auf einem ähnlichen Niveau zu halten wie in der Ersten Republik. Diese Zeitschrift bot auch Autoren jüdischer Herkunft wie den Dichtern Jiří Orten, Hanuš Bonn, Jiří Weigner und Pavel Levit ein vorübergehendes literarisches Asyl. Darüber hinaus arbeitete Eisner auch für die Zeitschrift Naše doba (Unsere Zeit), in der er das Pseudonym Karel Babor benutzte. Dieses leitete sich von Jana Baborová ab, dem fiktiven Pseudonym von Eisners Ehefrau.16 Nachdem die politisch unangepassten Zeitschriften immer mehr der Verfolgung ausgesetzt waren und ihre jüdischen, unter Pseudonymen schreibenden Autoren zunehmend denunziert wurden, wandte sich Eisner der Buchproduktion zu. So arbeitete er mit dem Übersetzer und Lektor des großen Verlags Družstevní práce (Genossenschaftsarbeit), Jiří Pober (1910–1976), sowie mit den Kleinverlegern Rudolf Kmoch (1903–1968), Stanislav Plzák (1911–?) und insbesondere seinem Freund Jaroslav Podroužek (1913–1954) zusammen.17 Bisher war zwar bekannt, dass Eisner während des Zweiten Weltkriegs mehrere Übersetzungen angefertigt und eigene grundlegende Arbeiten abgeschlossen hatte, doch wie sich erst in jüngster Zeit herausstellte, war die Zahl seiner Übersetzungen erheblich größer. Viele Projekte blieben jedoch unvollendet oder sind nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangen.

Quellen Um Eisners Projekte während der Okkupation zu erforschen, war zunächst eine bibliografische Recherche auf der Grundlage seiner vielfältigen Pseudonyme erforderlich. Als Vorteil stellte sich dabei heraus, dass Eisner selbst seine Pseudonyme 15 Eisner wählte das Pseudonym nach eigener Aussage als Hommage an seinen verstorbenen Mitschüler Jan Ort, der 1918 der Spanischen Grippe zum Opfer fiel, die Eisner selbst wie durch ein Wunder überlebte. Vgl. LA PNP. Bestand Ota Dub. Pavel Eisner an Ota Dub, undatiert („Drahý pane doktore, vy dva jste zcela skvělí,…“). 16 Unter diesem Pseudonym publizierte Eisner beispielsweise einen Essay über Karel Hynek Mácha: Babor, Karel [Pavel Eisner]: K Máchovu jazyku [Zu Máchas Sprache]. In: Naše doba, 47 (1940), 404–409. 17 Nähere Informationen zu diesen Kleinverlagen finden sich in: Slovník českých nakladatelství 1849–1949 [Lexikon der tschechischen Verlage 1849–1949, zusammengestellt von Aleš Zach]. In: http://www.slovnik-nakladatelstvi.cz (letzter Zugriff: 23. 7. 2010), und Lexikon české literatury [Lexikon der tschechischen Literatur]. Praha 1985–2008.



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nach dem Krieg aufgedeckt hatte. Eine weitere wichtige Quelle stellt sein Brief an Willy Haas vom 8. Juli 1946 dar, in dem Eisner die Themen aufzählte, mit denen er sich beschäftigte und die er zum Teil in Bücher umsetzte.18 Die Zahl von Eisners Werken, die im „Protektorat“ entstanden sind, lässt sich anhand der Erinnerungen Viktor Fischls rekonstruieren, der Eisners Äußerung aus der Nachkriegszeit wie folgt wiedergab: „Was mich angeht, habe ich in jenen Höllenjahren sieben eigene Sachen aufs Papier gebracht und 25 Bände aus der Weltpoesie übersetzt.“19 Außerdem bieten Eisners Briefe an Václav Černý aus den ersten Okkupationsjahren sowie seine Übersetzungsbände unter dem Pseudonym Jan Ort, die sich im Nachlass Arno Kraus befinden und deren Impressum jeweils korrigiert ist, Aufschluss über sein umfangreiches Schaffen.20 Das Pseudonym Jan Ort war allerdings nicht so sicher, wie Eisner dachte, denn in einigen bibliografischen Nachschlagewerken kann es schon für das Jahr 1935 nachgewiesen werden, was wohl auf die Kenntnisse mancher Bibliothekare zurückzuführen ist.21 Die wichtigste und detailreichste Quelle bildet jedoch die umfangreiche Sammlung der leider nur bruchstückhaft überlieferten Briefe, die Eisner in den Kriegsjahren an seinen Verleger und Mäzenen Jaroslav Podroužek schrieb. Sie sagen zwar wenig über Eisners psychischen Zustand in der Zeit permanenter Bedrohung aus, sie belegen jedoch die Beziehungen zwischen dem wohlwollenden Verleger und seinem Autor. Eisner benutzte aus Gründen der Geheimhaltung in den meisten Briefen die weibliche Form und unterzeichnete mit den Abkürzungen W., Wg. oder Wgr. Diese standen für den Nachnamen seiner Frau Margarete Wagner. Einige der Briefe sind auch mit dem Pseudonym Dominik Dlouhý unterschrieben, das Eisner nach dem Krieg weiter benutzte. Aus Sicherheitsgründen fehlt zwar auf allen Briefen das Datum, dieses lässt sich jedoch zumindest annähernd nach den darin besprochenen und später auch realisierten Buchprojekten feststellen. Unter den Briefen befindet sich zudem ein Durchschlagpapier mit der maschinenschriftlich angefertigten Liste

18 Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar. Nachlass Willy Haas, Sign. 89.95.22. Paul Eisner an Willy Haas, 8. 7. 1946. Der Brief wurde von Michael Wögerbauer ediert in: Eisner, Pavel: Sehr verehrter Herr Doktor Willy Haas. In: Landeszeitung, 21. 10. 2008, Nr. 22, Beilage, 3. 19 Fischl, Nezapomenutelný, 6. 20 LA PNP. Bestand Václav Černý. Sämtliche Briefe Eisners an Václav Černý aus den Jahren 1939 bis 1942 unter dem Pseudonym Jan Ort oder der Abkürzung D. W. für Dagmar Wagnerová. Eisners publizierte Übersetzungen aus dem Nachlass von Arno Kraus sind Bestandteil der Bibliothek des PNP. 21 Lugs, Jaroslav: Bibliografie československé knihovědy [Bibliografie der tschechoslowakischen Buchkunde]. Praha 1935, 95; Brambora, Josef: Bibliografie československých prací filologických za rok 1935 [Bibliografie der tschechoslowakischen philologischen Arbeiten für das Jahr 1935], Teil II. Praha 1938, 192.

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der meisten von Eisners Übersetzungen aus dieser Zeit. Jeder Eintrag enthält die Angabe des Autors, Titels und Verlags.22 Eisners umfangreiches Schaffen während des „Protektorats“ lässt sich nach mehreren Kategorien ordnen. Neben der Gliederung in Autorenwerke und Übersetzungen lassen sich seine Arbeiten wie folgt einteilen: in solche, die während des Krieges publiziert wurden; solche, deren Veröffentlichung für die Zeit nach dem Krieg vorgesehen war sowie solche, die nicht publiziert wurden oder verschollen sind. Zeitungsbeiträge werden hier nicht berücksichtigt.

Eisners Mitarbeit an Anthologien Zu den wichtigsten übersetzerischen Leistungen Eisners während des „Protektorats“ gehören vier Anthologien, die die Bedeutung und Wahrnehmung Böhmens und der böhmischen respektive tschechischen Geschichte in der Weltliteratur, insbesondere in der deutschen Poesie, reflektieren. Alle vier Publikationen – Věčné Čechy (Das ewige Böhmen, 1939), Ohlasy z Čech (Stimmen aus Böhmen, 1940), Město vidím veliké… (Ich sehe eine große Stadt…, 1940)23 und Ta krásná země ( Jenes schöne Land, 1941) – erschienen in der Edition Kořeny (Wurzeln) des Verlags Toužimský a Moravec. Eisners Beitrag zu diesen Anthologien, die in den ersten Jahren der Okkupation erschienen, war grundlegend, auch wenn er sich unter verschiedenen Pseudonymen verstecken musste. Offiziell erschienen diese Chrestomathien unter der Schirmherrschaft des deutschen Bibliophilen und Literaturagenten Vincy Schwarz (1902–1942), der bis heute als ihr Herausgeber gilt.24 Tatsächlich wurde dieses Projekt bereits Ende der 1930er Jahre von Paul Eisner entworfen, was unter anderem aus einem in den Lidové noviny veröffentlichten Literaturrätsel hervorgeht.25 Eisner gab 1941 außerdem zusammen mit Vincy Schwarz die Sammlung Očima lásky (Mit den Augen der Liebe, 1941) im Verlag Fr. Borový heraus, die Gedichte tschechischer Autoren über Prag umfasste.26

22 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek (ungeordnet). 23 Zu Eisners (Mit-)Autorschaft vgl.: LA PNP. Bestand Václav Černý. Pavel Eisner an Václav Černý, 29. 12. 1939, sowie Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, 21. 8. 1948. 24 Štorch-Marien, Tma a co bylo potom, 134–135. Vgl. auch Václavek, Ludvík: Německý antifašista a český literát Vincy Schwarz [Der deutsche Antifaschist und tschechische Literat Vincy Schwarz]. Šumperk 1966, 20. Als Beleg kann nicht zuletzt der Literaturwettbewerb Prag in der Literatur angeführt werden. 25 Vgl. etwa Lidové noviny, 11. 11. 1935, Nr. 564, Beilage Literární pondělí [Literarischer Montag], Nr. 9, 5. 26 Pilz, Jaroslav: Národní 9 [Nationalstraße 9]. Praha 1969, 113.



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Diese Kořeny-Anthologien, die Eisner fast symbolisch noch vor dem Kriegsausbruch mit der Übersetzung des mittelalterlichen Epos Oráč z Čech (Der Ackermann aus Böhmen, 1938) eingeleitet hatte und die von der Zensur als Provokation hätten empfunden werden können, wurden von den Autoren der Vor- und Nachworte, wie dem Germanisten Vojtěch Jirát (1902–1945), dem Dichter Jaroslav Seifert (1901–1986) oder dem Schriftsteller Vladislav Vančura (1891–1942), gedeckt. Diese Edition war für Eisner im wahren Sinn des Wortes schicksalhaft: Bereits ihr erster Band antizipierte nämlich Eisners künftiges Schicksal, seine literarische Auseinandersetzung mit dem Tod, der ihn ständig bedrohte. Außerdem sind folgenden Sammlungen zu nennen, an denen Eisner als Übersetzer maßgeblich beteiligt war: die Anthologie Skrytý Michelangelo (Der versteckte Michelangelo), die 1940 im Verlag Toužimský a Moravec erschien und eine Sammlung literarischer Texte des Renaissancekünstlers enthielt;27 eine Auswahl von Michelangelos Gedichten und Briefen, die von einem Herausgeber namens Josef Šup unter dem Titel Titán a člověk (Der Titan und Mensch) im Verlag ELK (Evropský literární klub, Europäischer literarischer Klub) publiziert wurde; eine Anthologie mit erotischer Volkspoesie, die der Verlag Družstevní práce 1940 publizierte – diese trug den Titel Láska v písních celého světa (Liebeslieder aus der ganzen Welt) und wurde von Jaroslav Seifert autorisiert;28 die vom Verlag Klub 777 bibliofilů (Der Klub der 777 Bibliophilen) herausgegebene Volksliedersammlung Ukolébavky (Wiegenlieder, 1941), für die Arno Kraus und Jaroslav Podroužek verantwortlich zeichneten;29 eine von der Zensur gekürzte und durch Podroužek beim Verlag Plzák gedeckte Anthologie der slawischen Volkspoesie mit dem Titel Matky (Mütter, 1941);30 die im Verlag Kmoch veröffentlichten Dětské písně z celého světa (Kinderlieder aus der ganzen Welt, 1941); der vom selben Verlag übernommene kommerzielle Nachtrag zur Sammlung fernöstlicher erotischer Poesie Milování pod palmami (Liebe unter Palmen, 1942);31 die bei Plzák publizierte Anthologie Veselé pohádky 27 Zu Eisners Autorschaft vgl. die spätere Ausgabe von 1977: Michelangelo, Požár smyslů [Sinnenbrand]. Übersetzt von Pavel Eisner. Praha 1977. 28 Vgl. Eisners unter dem Pseudonym Jan Ort erschienene Übersetzung eines serbischen Liebesliedes in: Panorama, 18 (1940) H. 1, 27. Sie wurde im selben Wortlaut auf Seite 274 der Anthologie abgedruckt. 29 Eine maschinenschriftliche Fassung der Anthologie befindet sich in Eisners Nachlass im LA PNP. 30 1950 wurde er vom Verlag Melantrich unter dem gleichen Titel und in erweiterter Fassung (vgl. S. 26) sowie 1975 neu aufgelegt, nachdem Eisners Tochter in die Schweiz emigriert war, erneut in Zürich unter dem veränderten Titel Mamince (Der Mutter). 31 In einem undatierten Brief an Podroužek („Milý příteli, k milé zásilce po pořádku,…“ [Lieber Freund, anlässlich Deiner liebenswürdigen Sendung, alles der Reihe nach…]) bezeichnet Eisner die Anthologie als „Angeberei“, die Podroužek Geld bringen sollte. Zur Wahl des damals nicht eben üblichen Ausdrucks „Lieber“ vgl. auch die Artikel Ort, Jan [Eisner, Pavel]: Týden

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(Lustige Märchen, 1942), an denen Eisner zusammen mit Jaroslav Podroužek arbeitete und die ebenda erschienene Auswahl tschechischer Volkspoesie Kvítí milodějné (Liebeskräuter, 1944). Diese betrachtete Eisner als Konkurrenzunternehmen zur einflussreichen und mehrmals aufgelegten Melantrich-Sammlung Láska a smrt (Liebe und Tod, 1938) der bedeutenden tschechischen Lyriker František Halas und Vladimír Holan, die neue Maßstäbe für Anthologien von Volksliedern setzte. Darüber hinaus war Eisner als Lektor, Herausgeber oder Verfasser von Begleittexten an mehreren Büchern beteiligt, die heute nur schwer zu identifizieren sind. Ein solches Projekt stellte die im Verlag Plzák erschienene Anthologie von Erzählungen und Balladen über die Arbeit und den arbeitenden Menschen mit dem Titel Modlitby rukou (Handgebete, 1942) dar, die aus verschiedenen früher veröffentlichten Texten zusammengestellt war und in der die biografischen Anmerkungen eine ähnliche Struktur wie diejenigen in den oben erwähnten Anthologien aus den Jahren 1939 bis 1941 haben.32 In solchen Fällen handelt es sich also nicht um Übersetzungen Eisners, sondern eher um von ihm empfohlene Titel.

Eisners literarische Einzelübersetzungen Eisner beteiligte sich als Übersetzer nicht nur an einer Vielzahl von Anthologien, sondern übersetzte während der Kriegsjahre auch Werke einzelner Autoren. Angeführt seien hier die tschechischen Übersetzungen des Librettos von Mozarts Zauberflöte der Autoren Emanuel Schikaneder und Carl Ludwig Giesecke (Kouzelná flétna, B. M. Klika 1939);33 Max Dickmanns spanischsprachigen Romans Madre América (Matka Amerika, ELK 1940); Ludwig Marcuses Ignatius von Loyola von (Ignác z Loyoly, Beaufort 1940);34 des zweibändigen Werkes von Erwin Louis Gustav Weill Praha, kamenný sen (Toužimský a Moravec 1940/41), das unter dem Pseudonym Augustin Vojtěch erschien;35 El Hakim von John Knittel (ELK

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slovíčkářův [Die Woche der Wortkünstler]. In: Lidové noviny, 30. 1. 1937, Nr. 53, 1–2. Vgl. auch Ders.: Milování… do skonání [Lieben… bis in den Tod]. In: Ebd., 14. 2. 1937, Nr. 81, 12. In Briefen an Podroužek schlug Eisner als Titel V potu tváře své (Im Schweiße seines Angesichts) bzw. Mozoly (Schwielen) vor. LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Undatierte Korrespondenz zwischen Eisner und Podroužek. Schikaneder, Emanuel: Kouzelná flétna [Die Zauberflöte]. Übersetzt von Pavel Eisner. Praha 1957. Vgl. dazu Štorch-Marien, Tma a co bylo potom, 221. Ebd., 221 u. 261. Anm. d. Übersetzers: Ein Buch Prag, ein steinerner Traum (oder ähnlich) des aus Wien stammenden jüdischen Autors konnte nicht festgestellt werden. Weill wurde am 30. 11. 1941 mit dem Transport H, einem der ersten Transporte, aus Prag nach Theresienstadt deportiert.



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1941), Georg Büchners Erzählung Lenz (Básník Lenz, Podroužek 1942);36 Adam de la Halles mittelalterliche Pastorale Le Jeu de Robin et de Marion (Robin a Marion, Kmoch 1942);37 von Nestroys Aphorismen (Aforismy, Podroužek 1942); Eduardo Zalamea Bordas 4 años a bordo de mí mismo (Čtyři roky na palubě duše, Škeřík 1942); von Cervantes’ Novellen Der eifersüchtige Extremadurer, Musternovelle und Das Zigeunermädchen (O žárlivém Estramadurci, Příkladná novela, Cikánečka, Podroužek 1942, 1943, 1944); einer Auswahl aus Petrarcas Sonetten unter dem Titel Vzývání (Beschwörung, Podroužek 1944);38 sowie von Dante Alighieris Vita nuova (Nový život, Podroužek 1944, 1945). Eisner übersetzte diese Bücher unter den Pseudonymen Jaroslav Dlouhý, Emil Janovský, Dagmar Wagnerová und Taťána Peřinová.39 Viele von Eisners Übersetzungen, die von der Zensur nicht genehmigt wurden oder wegen Papiermangels nicht erscheinen konnten, wurden entweder sofort nach dem Krieg oder Jahre später publiziert. Hier sind vor allem Übersetzungen zu nennen wie Die Abenteuer Sindbads des Seefahrers (Podivuhodná dobrodružství námořníka Sindibáda, Hnyk 1945);40 Villons Gedichte (Básně, Aventinum 1946); eine Anthologie von mittelalterlichen französischen Fabliaux unter dem Titel Smích staré Francie (Das Lachen des alten Frankreichs; Družstevní práce 1948); Richard Halliburtons Reisebericht Seven League Boots (Sedmimílové boty, Podroužek 1948); einen Roman Henri Boscos (Já, Pascal Dérivat, Podroužek 1948); eine erweiterte Fassung der Anthologie Matky. Kniha slovanské poezie lidové (Melantrich 1950; Mütter. Das Buch der slawischen Volkspoesie); eine Auswahl aus den Gedichten Heinrich Heines unter dem Titel Flétny a dýky (Flöten und Dolche; Podroužek 1949) sowie eine Auswahl aus dessen Werk (Výbor z díla, Svoboda 1951); eine Walt Whitman-Anthologie unter dem Titel Demokracie, ženo má! (Demokratie, mein Weib!, Podroužek 1945);41 Tři pohádky (Drei 36 Erschienen unter dem Namen Miroslav Drápals. Vgl. Zamlčovaní překladatelé 1948–1989 [Verschwiegene Übersetzer 1948–1989]. Praha 1992, 32. 37 Es handelt sich um eine wesentliche Überarbeitung der Übersetzung Karel Projsas, die zur Grundlage für die Herausgabe beider Spiele wurde. Vgl. Halle, Adam de la: Hra pod loubím – Robin a Marion [Laubenspiel – Robin und Marion]. Praha 1956. 38 1949 erschien ebenfalls Eisners Studie Milenec Petrarca. Ders.: Milenec Petrarca [Petrarca, der Liebhaber]. Praha 1949. 39 Taťána Peřinová war Podroužeks Freundin. 40 Vgl. Homolková, Božena: Práce Pavla Eisnera z oboru germanistiky a germanoslavistiky [Die Arbeiten Paul Eisners in den Fächern Germanistik und Germanoslawistik]. Praha 1959/60, 127. Unveröffentlichte Magisterarbeit, die am Lehrstuhl für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität eingereicht wurde. Dort ist sie auch einsehbar. 41 In Briefen an Podroužek bezeichnete Eisner Whitman mit dem Pseudonym Walter Weissmann, dem Namen eines unbedeutenden Schriftstellers. LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Undatierte Korrespondenz zwischen Eisner und Podroužek.

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Märchen) von Puschkin (Podroužek 1948); Longfellows Hiawatha (Melantrich 1952); Carl Crows Master Kung (Učitel Kung, Aventinum 1949); Leo Rostens humoristischer Roman The Education of Hyman Kaplan (Pan Kaplan má třídu rád, Podroužek 1946); eine Anthologie aus den Werken J. W. Goethes (zusammen mit Otokar Fischers Übersetzungen, Svoboda 1949); einen Roman seines Freundes Božo Lovrić (Kuzmaničova loď [Kuzmanič’ Schiff] Kvádr 1946); Übersetzungen aus Máchas deutschsprachigen Versuchen des Ignaz Mácha (Okusy Ignaze Máchy, Československý spisovatel 1956);42 und das mittelalterlicher französische Epos La Chastelaine de Vergi (Paní z Vergi, SNKLHU 1959), das posthum für Bibliophile publiziert wurde.

Manuskripte Aus Eisners Briefwechsel mit dem Verleger Podroužek geht hervor, dass er neben den publizierten noch andere Übersetzungen angefertigt hatte, von denen einige Ende der 1950er Jahre als Manuskripte zugänglich waren, heute jedoch als verschollen gelten.43 Zu erwähnen sind hier eine Sammlung der Prosa Leopardis, die Anthologie Věčná Provence zpívá (Die ewige Provence singt),44 die Troubadour-Lyrik enthielt und den Angaben mancher Autoren zufolge publiziert wurde;45 die vollständige Übersetzung der Lais von Marie de France;46 die Sonety Krymskie (KrimSonette) des polnischen Dichters Adam Mickiewicz;47 Barret Brownings Sonnets from the Portuguese als Portugalské sonety;48 eine Anthologie mit alten italienischen 42 Eisner, Pavel: Na skále [Auf dem Felsen]. Praha 1945, 110. 43 Diese Quellen standen noch Božena Homolková zur Verfügung, als sie ihren Überblick über die Arbeiten Paul Eisners aus den Fächern Germanistik und Bohemistik verfaßte. Vgl. Homolková, Práce Pavla Eisnera. 44 Vgl. ohne Angabe des Übersetzers Z písní trobadorů [Aus den Liedern der Troubadoure]. In: Kritický měsíčník, 5 (1942), 12–26. Vgl. auch Eisners Briefe an Václav Černý vom 13. Januar 1941 und 8. April 1941. LA PNP. Bestand Václav Černý. Eisner bittet hier um Hilfe bei der Auswahl des Materials für die geplante Anthologie, schließlich wurden jedoch nur die oben genannten Texte abgedruckt. Jahre später nutzte Černý das Material für seine berühmte Anthologie Vzdálený slavíkův zpěv (Der ferne Gesang der Nachtigall, 1963). Er erwähnt hier Eisner mit keinem Wort. 45 jz [ Jaroslav Závada]: Jubileum Pavla Eisnera [Paul Eisners Jubiläum]. In: Lidové noviny, 15. 1. 1949, Nr. 12, 5. 46 Das erhaltene Manuskript trägt den Titel Dvanáctero příběhů o lásce a smrti (Zwanzig Geschichten über Liebe und Tod). Im Briefwechsel bezeichnete es Eisner mit der Abkürzung MDF. Vgl. auch Homolková, Práce Pavla Eisnera, 128. 47 Ebd., 130. 48 Ebd., 131.



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Sonetten unter dem Titel Stará Ausonie zpívá (Die alte Ausonie singt);49 eine Auswahl von Sonetten, die Eisner in einem Brief an Černý als eine „Anthologie der weißen Rasse“ bezeichnete;50 eine Anthologie mit der Dichtung des Dolce Stil Nuovo; altägyptische Písně Nilu (Lieder des Nil); eine Anthologie mit altgriechischen oder philosophischen Texten unter dem Titel Chrysippův smích (Das Lachen des Chrysippos); eine Anthologie namens Hejna, satiry ve verších (Schwärme, Satiren in Versen); fünf Bücher, die Essays über Weltliteratur enthielten; eine Textsammlung mit Auszügen aus dem Werk von Napoleon, Nietzsche und Schopenhauer sowie eine zweisprachige Ausgabe altrussischer Epik, die „als intelligentes Lehrbuch des Russischen“ gedacht war. Eisner arbeitete außerdem an zwei thematischen Anthologien tschechischer und mährischer Lieder mit den Titeln Panenky (Mädchen) und Chlapci (Knaben),51 an korrigierten Neuauflagen seiner älteren Übersetzungen aus dem Werk der Louise Labé (Sonety krásné provaznice Louïzy Labé, J. V. Pojer 1930), an einer kurzen Monografie über den altägyptischen Herrscher Tutanchamun, die er einst als Mitglied der Freimaurerloge Freilicht zur Eintracht auf Deutsch herausgebracht hatte,52 und an vielen anderen Projekten, von denen nichts näheres bekannt ist. Die Publikation dieser Übersetzungen scheiterte nach dem Krieg an der neuen, komplizierten Genehmigungsordnung,53 die die Leser vor ‚falscher‘ Literatur schützen sollte,54 an der Rationierung infolge des vermeintlichen Papiermangels und an der zunehmenden Politisierung des Verlagswesens insgesamt.55

Eisners Arbeiten zur tschechischen Literatur und Sprache Während der Okkupation schuf Paul Eisner zugleich seine wichtigsten Werke über die tschechische Sprache, die alle erst nach dem Krieg erscheinen konnten. Es 49 Eisners Übersetzungen von italienischen Sonetten erschienen zwischen 1946 und 1947 in der Zeitschrift Svobodné slovo (Freies Wort). Im Nachlass seiner Familie befindet sich ein Manuskript mit dem Titel Altes italienisches Sonett. Vgl. ebd., 129. 50 LA PNP. Bestand Václav Černý. Pavel Eisner an Václav Černý, 28. 3. 1947. 51 Im Nachlass der Familie Eisner befindet sich ein Band mit Volksliedern Panenky a pacholíci (Mädchen und Knäblein, 265 Seiten). Vgl. Homolková, Práce Pavla Eisnera, 123. 52 Eisner, Paul: Tut-Ench-Amun, der vor Osiris Gerechtfertigte! In: Die drei Ringe, 10 (1934) H. 7/8, 128–135. 53 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek (ungeordnet). Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, 17. 7. 1945. 54 Janáček, Pavel: Literární brak (Operace vyloučení, operace nahrazení, 1938–1951) [Schundliteratur (Operation Ausschließen, Operation Ersetzen, 1938–1951)]. Brno 2004, 144–145. 55 Zach, Aleš: Nakladatelství [Das Verlagswesen]. In: Dějiny české literatury 1945–1989 [Geschichte der tschechischen Literatur 1945–1989]. Bd. I. 1945–1948, Praha 2007, 61–73.

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handelt sich hauptsächlich um seine Essays über Karel Hynek Mácha, die unter dem Titel Na skále (Auf dem Felsen, Voleský 1945) erschienen,56 sowie um die Lobgedichte Sonety kněžně (Sonette an die Fürstin, Podroužek 1945), das feuilletonistische Traktat Bohyně čeká (Aventinum 1945), das Buch Čeština poklepem a poslechem (Das Tschechische abgeklopft und abgehört, Podroužek 1948) und vor allem um sein Opus magnum Chrám i tvrz (Dom und Festung, Podroužek 1946), das Eisner in seinem Briefwechsel mit Podroužek als „Grammatik“ bezeichnete. Eisner folgte hierbei wahrscheinlich dem Vorbild des deutschen Lexikografen und Phraseologen jüdischer Herkunft Daniel Sanders (1819–1897), von dessen durch die Nationalsozialisten abgelehnten und vernichteten Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten der deutschen Sprache er meinte: „Hätten wir so etwas für das Tschechische, müssten wir dem Verfasser ein Denkmal setzen, und zwar keinesfalls in einer entlegenen Straße.“57 Verglichen mit Sanders Werken wirkt Eisners Ansatz allerdings viel ungezwungener und spielerischer, worin sich der Einfluss Vladislav Vančuras erkennen lässt. Vančuras dezidierte Literatursprache war Eisner Vorbild in gedruckten Texten wie in Manuskripten, insbesondere in Briefen. Eisner zeigte ebenfalls ein reges Interesse an der Volkspoesie, das nicht nur in seinen Übersetzungen und Anthologien, sondern auch in seinen Analysen, wie Tři kapitoly o lidové písni (Drei Kapitel über das Volkslied, Voleský 1948) und Malované děti (Gemalte Kinder, Práce 1949), zum Ausdruck kommt. Studien zur Volksliteratur waren nicht nur während des Protektoratsregimes, sondern auch im Staatssozialismus opportun. Eisner interessierte sich zudem für die Phraseologie der Volksliteratur. Übliche und weniger geläufige Redewendungen aus dem Volksmund stellten dabei mitunter den Ausgangspunkt für seine sprachwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten dar. Diese Studien entstanden in einem positiven Gedankenaustausch mit seinen Freunden, teilweise aber auch in einer Atmosphäre verzweifelter Vereinsamung. Mehrere Zeugnisse geben über die Entstehung der beiden wichtigsten Arbeiten aus der Zeit und die Atmosphäre in Eisners Freundeskreis Auskunft. Jarmila Dubová, die Ehefrau des Schriftstellers und Arztes Ota Dub, erinnerte sich zum Beispiel an die Umstände, unter denen Chrám i tvrz entstand: Ich und mein Ehemann lebten während der Besatzungszeit unter sehr gefährlichen Verhältnissen. Die Erinnerung an P. Eisner, den wir damals näher kennenlernten, bleibt in mir wie ein sonniger Lichtstrahl. Die Eisners wohnten nicht weit von uns und kamen

56 Zwei von Eisners Studien über Mácha wurden unter den Pseudonymen Jan Orel und Vít Sochor im Sammelband Věčný Mácha (Der ewige Mácha, 1940) abgedruckt. Vgl. auch Babor, K Máchovu jazyku. 57 Ort, Jan [Eisner, Pavel]: Jazyk Třetí říše [Die Sprache des Dritten Reiches]. In: Přítomnost, 15 (1938) H. 10, 157–158.



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fast regelmäßig Sonnabendvormittag vorbei.58 In kurzer Zeit lockten ihre Besuche den Karikaturisten F. Bidlo und die Schriftsteller J. Weil, Motyčka-Donát und Jarmila Svatá an. Eisner brachte Kapitel aus Dom und Festung mit, an dem er zu jener Zeit arbeitete, las aus ihnen vor und dann diskutierten wir darüber. Er war offen sowohl gegenüber kritischen Meinungen als auch persönlichen Anmerkungen, und so gelangte in sein Werk der Name meines Ehemannes Ota Dub, denn der peinlich ehrliche Verfasser nannte auch die kleinste Quelle, aus der er schöpfte. Nicht häufig, aber regelmäßig kam ebenso Jaroslav Podroužek zu uns, ein lächelnder und elegant angezogener junger Mann, der von sich sagte, er sei ‚Buchbinder-Geselle‘ […]. Während der Okkupationszeit rettete er nicht nur Bücher, sondern auch Menschen. […] Wäre herausgekommen, dass er die Familie P. Eisners finanziell unterstützte, der wegen seiner jüdischen Herkunft nicht angestellt werden konnte, hätte es ihn das Leben gekostet. Und Eisner war kein Einzelfall. Dem Schriftsteller J. Weil half Podroužek so sehr, dass er schließlich in der Illegalität untertauchen konnte.59

Die Atmosphäre der gemeinsamen Treffen, bei denen Eisner und seine Freunde am Manuskript der Handschrift von Chrám i tvrz arbeiteten, hielt später auch Ota Dub selbst fest. Er wies darauf hin, dass Eisners bedrohliche Situation die Struktur des Buchs maßgeblich beeinflusst hatte. Eisner habe stets damit gerechnet, dass er verhaftet und ins Konzentrationslager verschleppt werden könnte.60 Der slowenische Dichter Božo Lovrić beschrieb seine Besuche bei den Eisners während des Kriegs hingegen aus einem persönlichen Blickwinkel. Er erinnerte sich insbesondere daran, dass sich Eisners existenzielle Belastungen der Besatzungszeit in seinen Essays über den romantischen Dichter Karel Hynek Mácha niederschlugen: Während des Zweiten Weltkriegs, eigentlich während der Weltkatastrophe, war ich bei Paul Eisner täglich zu Gast. Ich teilte mit ihm sowohl Gutes als auch Böses. Ich zitterte um sein Schicksal. Und genauso war auch Eisner bestrebt, mir die Mühen zu erleichtern, die mit jedem Tag größer wurden. Ich war glücklich, als ich ihm gute Nachrichten über die Alliierten übermitteln konnte. Wir trösteten uns gegenseitig, munterten einander 58 Die Familie Eisner wohnte während des gesamten Kriegs in der Moravská ulice 43. Ota Dub erwähnt dagegen in seinen Erinnerungen, dass die Eisners in der Šumavská ulice (ebenfalls im Prager Stadtbezirk Vinohrady) wohnten. LA PNP. Bestand Ota Dub, rukopisy vlastní [eigene Manuskripte]. Jak psal Pavel Eisner za okupace [Wie Paul Eisner in der Besatzungszeit schrieb]. 59 Dubová, Jarmila: Osudy lidí – osudy knih. Z dopisu čtenářky [Menschenschicksale – Bücherschicksale. Aus dem Brief einer Leserin]. In: Nové knihy, 31 (1992) H. 31, 5. Dass Podroužek auch Weil unterstützte, erfuhr Eisner erst nach dem Krieg. Vgl. LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek (ungeordnet). Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, 17. 5. 1949. 60 oD [Ota Dub]: Jak psal Pavel Eisner za okupace [Wie Paul Eisner in der Besatzungszeit schrieb]. In: Český fonoklub Jonáš (Klubový zpravodaj), (1980/1981) H. 9/10, 24. Vgl. auch die gleichnamige Maschinenabschrift dieses Textes im Nachlass von Ota Dub des LA PNP.

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auf und kämpften gegen den Geist der Verneinung. In einem solchen Geisteszustand entstanden die Essays, die Paul Eisner dem Dichter K. H. Mácha widmete und symbolisch Auf dem Felsen betitelte. Die darin enthaltenen Reflexionen bilden Angriffe gegen Tod, Nebel, Nacht, Vergänglichkeit und Nichtigkeit. Es sind Monologe, Selbstgespräche. Es sind Kämpfe, in denen der Autor seine Zweifel bezwingen und seinen Glauben an Sprache, Heimat, Freundschaft, Familie, Menschheit, Natur, Weltall und Kunst festigen wollte. Eisner ringt, um im ununterbrochenen Ringen Gott zu erkennen.61

Diese Erinnerungen zeugen von Eisners Leben, das nicht nur von der täglichen Angst vor einer möglichen Verhaftung durch die Gestapo bestimmt war, sondern auch von der Fürsorge seiner Freunde, die ihm einen doppelten Halt für sein Schaffen boten: Mit ihren kreativen Wortspielen unterstützten sie nicht nur die Entstehung von Eisners Texten, sondern halfen ihm auch psychisch.

Eisners Freundeskreis Eisners Werke wären ohne die Unterstützung seiner Freunde, darunter viele tschechoslowakische Intellektuelle, die er aus der Zeit der Ersten Republik kannte, während der Okkupation kaum zustande gekommen. Sein Freundeskreis war dabei zum Teil identisch mit demjenigen von Ota Dub und dessen Mitarbeiter Vincy Schwarz. Dieser wurde ebenso wie Vladislav Vančura hingerichtet. Eisner bewunderte Vančura, und bei ihren regelmäßigen Treffen sind wohl auch die ersten Ideen für das Buch Chrám i tvrz entstanden.62 Andere Bekannte und Freunde, wie der jüdische Schriftsteller Jiří Weil, mussten untertauchen, oder sie kamen ins Gefängnis, wie etwa der Chefredakteur des Kritický měsíčník Václav Černý, der im Widerstand tätig war. Die Personen, die Eisner im Versteck halfen, lassen sich auch anhand der Widmungen in den einzelnen Studien seiner Mácha-Monografie Na skále rekonstruieren: Neben Václav Černý waren es der Theaterkritiker und Übersetzer Edmond Konrád (1889–1957), der schon genannte Verleger Jiří Pober, der Rechtsanwalt und Bibliophile Kamil Resler (1893–1961), der Literaturwissenschaftler Jan Mukařovský (1891–1975), der Bibliophile und Übersetzer Karel Janský (1890– 1959), der Literaturwissenschaftler und Politiker Albert Pražák (1880–1956), der 61 Lovrič, Božo: P. Eisner a „Eureka“ [P. Eisner und „Heureka“]. In: Lidová demokracie, 8. 1. 1946, Nr. 6, 4. 62 Die Erstausgabe von Chrám i tvrz ist dem kurz zuvor hingerichteten Vančura gewidmet; dabei wird auch auf die gegenseitigen Besuche verwiesen. Zur Zusammenarbeit in den ersten Jahren des Protektorats vgl. Vančuras Vorrede zu Eisners Anthologie Ohlasy z Čech (Stimmen aus Böhmen, 1940).



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Dichter František Halas (1880–1960), der Übersetzer und Diplomat Josef Šup (1910–1980), der Verleger Jaroslav Podroužek, der Theaterregisseur E. F. Burian (1904–1959) sowie Růžena Sieberová, über die wir bis heute nichts wissen.63 Sie alle boten Eisner menschliche, intellektuelle und nicht zuletzt materielle Hilfe. Eisners Werk aus dieser Zeit wäre zudem ohne das Wohlwollen und das große Risiko der Prager Bibliothekare undenkbar, die ihm Bücher für seine Übersetzungen und Anthologien verschafften oder ihm sogar illegalen Zutritt zu den Bücherbeständen ermöglichten. Eisner selbst nannte an erster Stelle die Bibliothekare Bohumír Lifka (1900–1987) vom Náprstek-Museum und Miloslav Novotný (1894–1966) vom Nationalmuseum, des Weiteren die Dichter František Hrubín und Vilém Závada von der Universitätsbibliothek, Frau Kvapilová von der Prager Stadtbibliothek sowie Frau Sajcová vom Institut Français.64 Angesichts seiner umfassenden Beziehungen stellt sich die Frage, warum Eisners literarisches Werk während des „Protektorats“ nicht bereits zu seinen Lebzeiten erforscht und beschrieben wurde, als noch sehr viele Zeitzeugen von seiner illegalen Tätigkeit wussten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zunächst muss wohl Eisners psychische Verfassung als Überlebender der Shoah in Betracht gezogen werden. Seine Schuldgefühle haben es ihm vermutlich als unangebracht erscheinen lassen, über die eigenen Demütigungen und Leiden zu sprechen. Mit welchem Recht hätte er über seine alltäglichen seelischen Leiden erzählen dürfen, nachdem andere umgebracht worden waren? Wieso hätte man erfahren sollen, dass es nicht Vincy Schwarz gewesen war, der in den ersten Jahren der Okkupation die AnthologieProjekte über das Bild Böhmens in der Weltliteratur entwickelt hatte, sondern er selbst?65 Das einzige Bekenntnis zur eigenen Arbeit stellt ein dünner Ergänzungsband zur Anthologie Chvála Čech – Umlčená svědectví světových básníků (Ein Lob auf Böhmen – Totgeschwiegene Aussagen von Dichtern aus aller Welt, Toužimský a Moravec 1945) dar. Diese Anthologie enthält Gedichte, die von der Zensur nicht genehmigt wurden. Eisner bekannte sich hier zu seiner Teilnahme am Projekt, indem er die von ihm benutzten Pseudonyme preisgab.66 Den entscheidenden Anlass dazu bot allerdings das Gedenken an den Förderer der tschechischen Kultur Vincy Schwarz.67 Darüber hinaus erwähnte Eisner lediglich in einem Brief an seinen 63 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert („Drahý Jaroušku můj, rádi přijdeme v úterý…“). 64 Eisner, Pavel: Pětkrát o knihách [Fünfmal von Büchern]. In: Nová svoboda, 22 (1945) H. 5, 73–75. 65 Vgl. Václavek, Německý antifašista, 20. 66 Eisner, Pavel: Dobrý voják Vincy Schwarz [Der brave Soldat Vincy Schwarz]. In: Ders. (Hg.): Chvála Čech (Umlčená svědectví světových básníků) [Ein Lob auf Böhmen (Totgeschwiegene Aussagen von Dichtern aus aller Welt)]. Praha 1945, 17–23. 67 Tůmová, Jiřina: V. S. In: Ebd., 9–15.

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Verleger Podroužek, dass er für seine Übersetzungen, die er während des „Protektorats“ anfertigte, Autorenrechte angemeldet hätte. Diese Maßnahme verheimlichte er allerdings und schwieg ansonsten darüber. Ein weiterer Grund war auch dem Umstand geschuldet, dass ein großer Teil von Eisners damaligem Werk Übersetzungen ausmachten, die er selbst für einen reinen Broterwerb hielt und auf die er keineswegs stolz war. Eisner wollte sie auf keinen Fall mit seinem Namen verbunden wissen. Darüber hinaus verheimlichte er sein Schaffen der Öffentlichkeit, weil er Podroužek nicht als Verleger eines einzigen Autors bloßstellen wollte. In einem Brief an ihn merkte Eisner an: Sie schreiben über Ihren neuen Editionsplan, der auch meine fünf Bände umfassen sollte. Ich wiederhole: Es ist unmöglich, dass Sie als Verleger P[avel] E[isners] figurieren würden. Ich verlange [von Ihnen] im voraus eine Ausnahme, bei den Übersetzungen und Anthologien den Behörden und Zeitungen meinen Namen nicht bekanntzugeben.68

Hoffnung und Zukunftspläne vor dem Kriegsende Nach der langen Hoffnungslosigkeit wurde Eisner seit Ende 1944 wieder von mehreren Redakteuren und Verlegern umworben, die ihm bereits neue Aufträge in Aussicht stellten. Eisner drückte dies in einem Brief an Podroužek etwas salopp so aus, dass nun „diverse Leute auf Brautschau“ kämen.69 Eisners Vorstellungen über seine eigene Zukunft unterschieden sich jedoch von denen der Redakteure und Verleger beträchtlich. Wie aus dem Briefwechsel mit Podroužek hervorgeht, wollte Eisner seinem Gönner und Berater zurückzahlen, was dieser während des Krieges in ihn „investiert“ hatte. Eisner schrieb ihm dazu kurz vor Kriegsende: Ich habe seit je in mir einen Dämon, der mich gerade von Sachen weg zieht, die mich mir selbst und wohl allen Menschen gegenüber verpflichten. Sie bringen mich immerwährend auf den richtigen Weg zurück, vom Anbeginn unserer Kontakte an. Was Sie mit mir treiben, lässt sich nicht einmal als menschlich bezeichnen, Sie machen mich zum Spiritisten.70 68 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert („Drahý příteli, před odjezdem z  Vranova…“); Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert („Milý příteli, díky za včerejšek…“). 69 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert und unvollständig (Unterschrift „Dominik Dlouhý“). Es handelt sich vermutlich um Verleger, mit denen Eisner schon in der Anfangszeit des „Protektorats“ sowie in den ersten Kriegsjahren zusammenarbeitete. 70 Vgl. LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert („Drahý Jaroušku můj, rádi přijdeme v úterý…“).



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Das ist ein sehr wichtiger Hinweis auf Eisners unbeständige und reizbare Gemütszustände,71 die während der Besatzungszeit insbesondere auf den äußeren Druck der nationalsozialistischen Verfolgung zurückzuführen sind. Sie wurden von seinem Verleger und Freund Podroužek gemildert, der Eisners Potential – zum Wohl der künftigen Leser – erkannt hatte. Eisner fand sich mit dieser ‚altruistischen Investition‘ in seine Person ab und war seinem Verleger für den Rest des Lebens dankbar. Zu dieser Zeit erläuterte Eisner in einem weiteren Brief an Podroužek, in dem er sich erneut der weiblichen grammatikalischen Form bediente, seine neuen Editionspläne: Ich habe meine unveränderte Beziehung zu Ihnen bereits zum Ausdruck gebracht: größte Sympathien und unbegrenztes Vertrauen. Sie sind der erste Mensch, mit dem ich über bestimmte Dinge überhaupt reden kann. Ich habe befürchtet, dass mich Tilles Schicksal erwischt. Tille wollte – neben der Wissenschaft – ähnliche Sachen machen wie ich; erst als er nicht mehr konnte, hat er sich aus purer Verzweiflung [dem Verlag, D. Ř.] Janda verschrieben, d. h. diesem [Europäischen literarischen, D. Ř.] Klub; ausgerechnet er, der aufgrund seiner Bildung, seines Geschmacks und seines weitläufigen Bescheids über wahre Werte wusste, dass vielleicht jedes fünfzehnte Buch es wert ist, in die Hand genommen zu werden. Manchmal erschrecke ich davor, was alles ich ‚vorschlage‘. Nehmen Sie es, bitte, nicht wortwörtlich, ich mach’ bloß meinem Herzen Luft. Nur die ideale Partnerschaft mit Ihnen hat bewirkt, dass die Ideen für die ‚Insel‘ [gemeint ist der Insel-Verlag, D. Ř.] keine 200 mehr, sondern – in meinem Kopf – gute Tausend sind, und dass die Leipziger ‚Insel‘ sich daneben als reine Unschuld ausnimmt (dort war die Situation allerdings eine andere, die Aufgaben wurden anders aufgeteilt und anders erfüllt, während Sie die Möglichkeit haben, in der geeignetsten Produktion zu einem Diktator zu werden).72

Die Aussicht auf ein baldiges Ende seines Hausarrests veranlasste Eisner, die Pläne für einen gemeinsamen Verlag weiter voranzutreiben. Als zukünftige Lektorenkollegen wollte er den Romanisten Václav Černý und die beiden Slawisten Julius Heidenreich-Dolanský (1903–1975) und Jiří Horák (1884–1975) gewinnen. Eisners umfangreiche, jedoch nicht einmal ansatzweise realisierte Pläne sind eher Zeugnis dessen, dass er zur Bescheidung seiner Ambitionen gezwungen war.73 Zugleich äußerte sich darin seine Ungeduld. All dies antizipiert gleichsam die Entwicklung in 71 Zu Eisners Unbeständigkeit vgl. auch Kubka, František: Na vlastní oči. Pravdivé malé povídky o mých současnících [Mit eigenen Augen. Wahrhafte, kleine Geschichten über meine Zeitgenossen]. Praha 1959, 108–110. 72 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert [1944?] („Milý příteli, přiložený list byl už napsán…“). 73 In seinen Briefen an Podroužek sprach Eisner wiederholt von seinem Vorhaben, mit der Herausgabe einer Enzyklopädie des Slawentums dem Slawischen Institut zuvorzukommen. Es ist allerdings fraglich, ob dieses je eine solche Absicht gehegt hatte.

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den darauffolgenden Jahrzehnten, als Übersetzer wie Otto F. Babler (1901–1984),74 Gustav Francl (geb. 1920), Radovan Krátký (1921–1973) oder Jan Vladislav (1923–2008) oft unter ähnlich ungünstigen Bedingungen arbeiten mussten.75 Auch angesichts der geringen Größe des Verlags und Podroužeks angeschlagener Gesundheit schienen Eisners umfangreiche Editionspläne von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zwar bemühte er sich, Podroužek seine Opferbereitschaft und Missachtung des wirtschaftlichen Faktors auszureden, doch die politische Entwicklung nach der kommunistischen Machtübernahme vom Februar 1948 wie auch Podroužeks Krebserkrankung vereitelten die Realisierung dieses ambitionierten Verlagsprogramms endgültig.76

Bitteres Kriegsende Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete für Eisners Pläne einen unerwartet großen Schlag. Viele seiner zur Herausgabe bestimmten Schriften wurden aus Angst vor einer möglichen Hausdurchsuchung bei Verwandten seiner Ehefrau versteckt. Im Mai 1945 änderte sich die Lage plötzlich, als die Mitglieder der Revolutionsgarden die Wohnungen der Deutschen beschlagnahmten und plünderten. Eisner wurde dadurch um Teile seiner unveröffentlichten Manuskripte gebracht.77 Durch diese Erlebnisse bekam Eisner zugleich eine Vorahnung der künftigen Entwicklung, und seine Euphorie über die Befreiung fand ein jähes Ende. Ein weiterer Grund für die Ernüchterung war die Tatsache, dass sein Name auf einer Liste mit in Prag ansässigen Personen deutscher Nationalität stand, die im Zuge der Präsidialdekrete von 1945 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft gezwungenermaßen neu beantragt hatten, um so einer drohenden Abschiebung zu entkommen.78

74 Babler kann jedoch eher als Eisners Vorgänger betrachtet werden, der thematische Anthologien kleineren Umfangs produzierte. 75 Die Konzentration dieser Autoren auf die ältere bzw. die Volkspoesie war jedoch genauso wie bei Eisner durch die Zensur bedingt, die die Verlage zur Produktion von ‚einwandfreier‘ Literatur zwang. Vladislavs erste Buchproduktion war eine Anthologie deutscher Volkspoesie Milostný hlas (Die Liebesstimme), die 1944 von Václav Petr verlegt wurde. 76 Červená, Soňa: Stýskání zakázáno [Sehnen verboten]. Brno 1999, 39–48. 77 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert [1945?] („Drahoušku Jaroušku, čtvrtek odpoledne…“). 78 Seznam osob německé národnosti, žádajících za československou státní příslušnost [Verzeichnis der Personen deutscher Nationalität, die die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft beantragen]. In: Věstník hlavního města Prahy, N. F., 2 (1946), Zvláštní vydání [Sonderausgabe], 28. Für die Übermittlung des Verzeichnisses danke ich Ines Koeltzsch. Vgl. hierzu auch LA PNP. Bestand Václav Černý. Pavel Eisner an Václav Černý, 22. 8. 1946.



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Eisner betrachtete sich zwar zu jener Zeit als Tscheche,79 dies hinderte ihn jedoch nicht daran, sich mit seiner Autorität eines durch die Nationalsozialisten verfolgten Menschen für manchen inhaftierten Deutschen einzusetzen.80 Die Zukunft sorgfältig vorbereiteter Anthologien wie Věčná Provence zpívá oder Stará Ausonie zpívá, die in diversen Wohnungen versteckt wurden, blieb ungewiss. Aus Eisners Briefwechsel mit Podroužek geht hervor, dass zumindest die beiden letzteren Manuskripte gerettet werden konnten, da sie angeblich schon 1945 an die Druckerei weiter geleitet worden waren. Diese Angaben sind jedoch ohne Gewähr und können durchaus als Ausrede eines sich verspätenden Übersetzers seinem Verleger gegenüber gedeutet werden. Ungeachtet dessen, dass beide Anthologien nur als Manuskripte im Nachlass der Familie Eisner erhalten sind, verwiesen einige Rezensenten auf sie, als ob sie tatsächlich erschienen wären.81 Ansonsten konnte Eisner bis Ende 1948 beinahe alle Studien, Übersetzungen und Anthologien publizieren, deren Autoren oder Themen während des Krieges als nicht opportun galten oder die wegen Eisners schwierigen Stils nicht verlegt wurden. In den kommenden Jahren versuchte er außerdem, diejenigen Texte zu veröffentlichen, die der offiziellen Parteilinie nicht widersprachen, wie etwa seine Arbeiten zur „slawischen Volksliteratur“. Obwohl Eisner sich vorgenommen hatte, nach dem Krieg nicht mehr als Journalist zu arbeiten, begann er bereits 1945 Artikel in Svobodný zítřek (Freies Morgen), Kulturní politika (Kulturpolitik), Svobodné slovo (Freies Wort) und Svobodné noviny (Freie Zeitung), dem Nachfolgeblatt der Lidové noviny, zu veröffentlichen. In einem Brief an Podroužek äußerte er sich zu seiner erneuten Tätigkeit als Journalist wie folgt: Ich konnte nicht wissen, nicht einmal ahnen, dass ich zur Artikelschreiberei hätte gezwungen werden können, von der ich längst begriffen habe, dass sie nirgendwo hinführt. Ich tue es jedoch nur bis auf weiteres, das können Sie mir glauben.82

Eisner hielt dieses Versprechen allerdings nicht. Er konnte sich von der Last des Tagesjournalismus erst nach der kommunistischen Machtübernahme befreien, denn er ließ sich nicht auf ein Schreiben gemäß der Parteilinie ein.83

79 Vgl. dazu Firt, Julius: Knihy a osudy [Bücher und Schicksale]. Brno 1991, 163. 80 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert („Jaroušku drahoušku, dovolte po pořádku…“). 81 z [ Jaroslav Závada], Jubileum Pavla Eisnera, 5. 82 LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Pavel Eisner an Jaroslav Podroužek, undatiert [1945/1946?] („Drahý příteli, děkuji za psaníčko…“). 83 Vgl. LA PNP. Bestand Václav Černý. Pavel Eisner an A. J. Liehm, undatiertes Briefkonzept.

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Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Eisners literarische Produktion während des „Protektorats“ durch mehrere Umstände ermöglicht wurde.84 Abgesehen davon, dass er ohne die Namensverwechslung wohl ausgewandert wäre, war er als Autor jüdischer Herkunft auf den Schutz seiner nichtjüdischen Ehefrau angewiesen. Darüber hinaus darf man jedoch seinen Schaffensdrang nicht vergessen. Dieser trieb ihn ununterbrochen zur Arbeit, und das in einer Situation permanenten Bedrohungssituation, als er jahrelang mit der Verhaftung und Deportation rechnen musste. Er beschrieb diese Situation in einem seiner Essays von 1946: Ein solcher Mensch hatte nichts zu verlieren; er hatte keine Ahnung davon, dass unsere Beschützer und Wohltäter ihn mit einem nach Amerika entflohenen Namensvetter verwechselten und er selbst nun für den gemeinsten Behördenweg bestimmt sei, für die gemeinste Gaskammer. Weil er dies nicht wusste, konnte er nach dem vogue la galère leben. Keine Tapferkeit, bloß etwas Fatalismus.85

Auch wäre Eisners literarische Tätigkeit unter der nationalsozialistischen Bedrohung ohne seinen Freundeskreis nicht denkbar gewesen. Er hatte natürlich Glück, dass ihn niemand verriet. Im Gegenteil: Seine Freunde halfen Eisner, indem sie ihn besuchten, mit ihm diskutierten, ihn mit neuen Büchern versorgten und nicht zuletzt seine literarischen Arbeiten deckten. Einige unterstützten ihn und seine Familie auch finanziell. Sie alle riskierten ebenfalls ihr Leben. Das Risiko, das sie auf sich nahmen, war die Kehrseite der bis zum Anschlag auf Reinhard Heydrich in der tschechischen Gesellschaft allgemein verbreiteten Naivität; das betraf auch die konspirativen Aktivitäten der Intellektuellen vor allem unter der Amtsführung des Reichsprotektors Konstantin von Neurath. Eisner selbst war ein Beispiel dafür: In seinen Publikationen verwendete er das bereits bekannte Pseudonym aus der Zeit vor der Okkupation, ohne zu bedenken, dass er so sein Leben und das Leben seiner Helfer aufs Spiel setzte. Einer Aussage seines Freundes Ota Dub zufolge war er überhaupt sehr unvorsichtig und verstieß häufig gegen die strengen Regeln der „Rassengesetze“.86 Insofern ist es ein kleines Wunder, dass Eis84 Zur allgemeinen Situation der tschechischen Kultur in dieser Zeit vgl. Doležal, Jiří: Česká kultura za protektorátu. Školství, písemnictví, kinematografie [Die tschechische Kultur im Protektorat. Schulwesen, Literatur, Film]. Praha 1996. 85 Eisner, Na skále, 6–7. 86 Als zeitgenössische Veröffentlichung zur „Rassengesetzgebung“ vgl. Svatuška, Ladislav: Židovské předpisy v Protektorátu Čechy a Morava a vývoj rasového práva v Říši [Die Vorschriften für Juden im Protektorat Böhmen und Mähren und die Entwicklung des Rassengesetzes im Reich]. Praha 1940. Vgl. außerdem Petrův, Helena: Právní postavení židů v Protektorátu Čechy a Morava (1939–1941) [Die Rechtsstellung der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren (1939–1941)]. Praha 2000.



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ner das Kriegsende erlebte. Eisners Freund Vincy Schwarz wurde zum Beispiel unter dem bloßen Vorwand verhaftet, er habe eine Schweizer Zeitung verbreitet, die eine kritische Analyse der wirtschaftlichen Lage NS-Deutschlands gebracht hatte. Als Deutscher wäre er wohl wieder freigelassen worden, hätte sich seine Verhaftung nicht mit dem Terror nach Heydrichs Ermordung überschnitten. Bereits nach Heydrichs Ernennung zum Reichsprotektor-Stellvertreter im September 1941 hatte sich viel verändert: Kleine Vergehen, Betrügereien im Pressewesen, mangelnde Kooperation der Bürokratie, verlangsamte Weitergabe von Akten, verschiedene kleine Behinderungen und Provokationen nationalsozialistischer Würdenträger wurden auf härteste Weise geahndet. Darüber hinaus wurden aus den früheren präventiven Festnahmen nun abschreckende Hinrichtungen, die die Bürgerinnen und Bürger in die Defensive und teilweise in die Kollaboration trieben. Nach dem Krieg wurden viele Kulturschaffende vor sogenannten Säuberungskommissionen zur Rechenschaft gezogen und mussten sich aus dem Kulturbetrieb zurückziehen oder schieden sogar freiwillig aus dem Leben. Eisners Freunde und Bekannte hatten jedoch nicht gegen die „Ehre der Nation“ verstoßen. Sie gehörten nicht zu den Exponenten der tschechischen Kulturszene und konnten Eisner vermutlich auch deswegen mit bewundernswerter Ausdauer bis Kriegsende unterstützen. Eisners Werk, das in der Zeit des „Protektorats Böhmen und Mähren“ entstand, ist mit vielen Paradoxien behaftet. Angesichts seiner damaligen literarischen Produktivität war „seine Exkommunikation während des Kriegs“ nicht ganz sinnlos gewesen.87 Das unfreiwillige Ende seiner kraftraubenden Tätigkeit als Journalist brachte Eisner dazu, seine Kräfte zu konzentrieren. Rein quantitativ war es schließlich die produktivste Zeit seines Lebens. Dies wurde von der bisherigen Forschung kaum hervorgehoben – einerseits aus Gründen der politischen Korrektheit und andererseits auch aus Unkenntnis des genauen Ausmaßes seiner literarischen Tätigkeit während der Okkupation. Dieser Lebensabschnitt war für ihn bestimmend: nicht nur, weil er, seine Familie und seine Freunde auf eine harte existenzielle Probe gestellt wurden, sondern auch, weil es ihm gelang, den Kampf gegen die materielle Not mit einer außergewöhnlichen literarischen Produktivität zu verknüpfen. Im vollkommenen Widerspruch zu allem, was ihn damals umgab, schuf er sich und seinen Freunden eine Zukunftsperspektive, indem er ein verlegerisches Programm konzipierte, das starke Hoffnung ausstrahlte und das von den tschechischen Verlagen bis heute in vielerlei Hinsicht nicht umgesetzt werden konnte. Eisners enorme Aktivität gab ihm zugleich psychischen Halt in dem Maße, wie es unter den gegebenen Umständen eben möglich war. Im Rückblick scheint es, als hätte er mit seinen Arbeiten eine Art Nachlass zu Lebzeiten schaffen wollen. Das ist ihm gelungen, auch wenn fast die Hälfte seiner Übersetzungen, die während der 87 LA PNP. Bestand Václav Černý. Ota Dub an Václav Černý, 15. 12. 1946.

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Okkupation entstanden waren, nie erschien oder sogar verloren ging. Die andere und wichtigere Hälfte konnte indes gerettet werden. Diese Übersetzungen leben weiter, obwohl die meisten Leser bei manchen dieser Werke nicht einmal ahnen, dass sie von Paul Eisner stammen.88

88 Abschließend sei Václav Petrbok, Marek Přibil und Michael Wögerbauer für ihre Unterstützung gedankt.

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Pavel Eisner und das „Sudetendeutschtum“ Autoren wie Gilles Deleuze und Felix Guattari haben den besonderen Status der deutschsprachigen Prager Literatur und die politischen Implikationen des literarischen respektive literaturkritischen Diskurses im damaligen Kontext bereits beleuchtet.1 Hier soll es um den spezifischen ‚Fall Eisner‘ gehen. Auf die Mittlerrolle Pavel Eisners zwischen der deutschen und der tschechischen ‚Nationalgemeinschaft‘ ist immer wieder hingewiesen worden.2 Die unzähligen Publikationen des Literaturkritikers und Übersetzers – Romane, Zeitungsartikel und Beiträge, Textsammlungen, Übersetzungen und Vorträge – zeugen davon. In diesem Beitrag möchte ich anhand verschiedener Beispiele die politische Dimension von Eisners literaturkritischen Schriften und kultureller Vermittlung aufzeigen und genauer analysieren. So möchte ich hier zeigen, dass gerade mit dem Konzept der ‚Symbiose‘, das eine zentrale Rolle im literarischen Schaffen Eisners spielt, in der Tat nicht nur die kulturelle, sondern eben auch die politische Verbundenheit zwischen beiden nationalen Gruppen Böhmens beziehungsweise der Tschechoslowakei unterstrichen wurde. Durch seine Schriften über die deutschsprachige Produktion in Böhmen und in der Tschechoslowakei bot Pavel Eisner der deutschsprachigen Kultursphäre auch gleichzeitig eine kulturpolitische Alternative zu den „volkspolitischen Auffassungen“ der Anhänger des völkischen Gedankenguts in der Tschechoslowakei an. Unter dem Begriff ‚Sudetendeutschtum‘3 verstehen wir die lokale Deklination der sogenannten ‚deutschen Frage‘ durch die Anhänger der völkischen Ideologie, zu der sich zahlreiche Akteure des deutschsprachigen Kulturkreises in den Grenzgebieten des tschechoslowakischen Staates bekannten. Die kritische Auseinandersetzung Pavel Eisners mit jener Ideologie ist der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchung. Zu diesem Zwecke sollen die politischen Voraussetzungen und Implikationen von Eisners Definitionen der sudetendeutschen Literatur nachvollzogen werden. Weiterhin möchte ich am Beispiel seiner Mitarbeit am kulturpolitischen Projekt der Zeitschrift Witiko die Natur und die Konturen Eisners kultureller Vermittlung präzisieren. 1 Deleuze, Gilles/ Guattari, Felix: Kafka. Pour une littérature mineure. Paris 1975, 162. 2 Vgl. z. B. Kosatík, Pavel: Menší knížka o německých spisovatelích z Čech a Moravy [Ein kleineres Buch über die deutschen Schriftsteller aus Böhmen und Mähren]. Praha 2001, 200. 3 Vgl. u. a. Lehmann, Emil: Schriften über das Sudetendeutschtum: Eine Auslese von Büchern und Schriften als Grundstock einer Bücherei über das Sudetendeutschtum und die Sudetendeutschen Fragen. Reichenberg 1930, 24; Pfitzner, Josef: Das Sudetendeutschtum. Köln 1938, 62. Zur historischen Entwicklung des Begriffes siehe auch Hahn, Hans Henning (Hg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten. Frankfurt am Main u. a. 2007.

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„Was ist sudetendeutsche Literatur?“ Ein Kampf um die Deutungshoheit Zwar hatte der deutsch-österreichische Politiker Franz Jesser (DNSAP) bereits Anfang des 20. Jahrhunderts – im Kontext des Nationalitätenkampfes – den Begriff ‚sudetendeutsch‘ als politisches Instrumentarium und Mittel der Vereinheitlichung des „zersplitterten Deutschtums in Böhmen“ vorgeschlagen, doch der Oberbegriff ‚Sudetendeutsche‘, womit die gesamte deutschsprachige Bevölkerung der ehemaligen Kronländer bezeichnet werden sollte, begann sich erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wirklich durchzusetzen. Während der Verhandlungen von St. Germain um die Zukunft der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen benutzte der österreichische sozialdemokratische Politiker Karl Renner den Begriff ‚sudetendeutsch‘. Seine politische Schlagkraft erlangte der Begriff aber vor allem durch die Anhänger des Volkstumskampfs und der alldeutschen Bewegung in der Tschechoslowakei. Erich Gierachs 1919 im Egerer Böhmerlandverlag veröffentlichte Kampfschrift Katechismus für das deutsche Volk in Böhmen kam ein Jahr später bereits als Katechismus für die Sudetendeutschen heraus. 1925 änderte dann auch das Böhmerlandjahrbuch, das im Auftrage „aller deutschen Schutzvereine der Tschechei“ erschien, seinen Namen und wurde als Sudetendeutsches Jahrbuch nach dem Publikationsverbot durch die tschechoslowakischen Behörden von Deutschland aus weiter herausgegeben.4 Literatur und Literaturgeschichte spielten von Anbeginn eine wesentliche Rolle bei der Medialisierung des nationalen Gedankens. Als Referenztexte trugen sie unter anderem in Schule und Universität zur Bildung und Verbreitung des nationalen Bewußtseins bei. Im Kontext der nationalen Mobilisierung und in der Logik des damals bereits seit Jahrzehnten währenden Volkstumskampfs wurde die Herausgabe einer „sudetendeutschen Literaturgeschichte“ beziehungsweise „sudetendeutsche Kunstgeschichte“ zu einer regelrechten politischen Herausforderung.5 Es ist wiede4 Vgl. Jacques, Christian: Über die Erfindung des Sudetendeutschtums. Johannes Stauda ein sudetendeutscher Verleger. In: Hahn, Hans Henning (Hg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten. Frankfurt am Main 2007, 193–206. 5 Vgl. Kletzl, Otto: Für die Sudetendeutsche Kunst. Ein kulturpolitisches Programm. In: Sudetendeutsches Jahrbuch, 5 (1929), 109. Darin heißt es: „Wir wissen doch, dass das Sudetendeutschtum, dessen Geschichte eigentlich erst mit der Gründung des tschechoslowakischen Staates beginnt, keine von uns Deutschen gewollte und seit ich weiss nicht wie langer Zeit als notwendig und richtig erkannte Einheit darstellt, dass es vielmehr die von uns wohl oder übel gezogene Folgerung auf einen neuen Zustand ist, den wir gewiss nicht herbeigeführt haben. Das Sudetendeutschtum, auch als kultureller Begriff, ist daher noch vor allem das Kind einer schweren und notvollen Schicksalsstunde, mit dessen Fehlern und einer gewissen Unnatur wir eben jetzt zu rechnen haben. Insoweit es uns gelingt, dass so auferlegte aber auch als eigenes Schicksal zu meistern, es trotz und gegen seine sperrige und spröde Konstruktion zur



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rum kein Zufall, wenn jene Herausforderung vom Stauda Verlag angenommen wurde. Johannes Stauda hatte seine Tätigkeit als Verleger im Rahmen der Wandervogelbewegung begonnen und zählte in den 1920er Jahren zu den zentralen Figuren der deutschen irredentistischen Kreise. Sein nach dem Ersten Weltkrieg gegründeter Verlag verstand sich als wichtiges Sprachrohr der sogenannten Böhmerlandbewegung. Neben anderen Institutionen wie der Sudetendeutsche Verlag Franz Kraus, Reichenberg, half der Verlag Staudas bei der Verbreitung des Begriffs ‚Sudetendeutsch‘. 1924 gab der Literaturhistoriker Josef Nadler (1884–1963), ein Schüler August Sauers, sein Werk Das Schrifttum der Sudetendeutschen bis zur Schlacht am Weißen Berg heraus.6 Ein Jahr darauf publizierte der Wiener Literaturprofessor Rudolf Wolkan im Stauda Verlag eine Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern.7 Ebenfalls im Stauda Verlag konnte dann im Jahre 1929 der junge Schriftsteller und Literaturkritiker Josef Mühlberger (1903–1985) seine bearbeitete Doktorarbeit unter dem Titel Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten fünfzig Jahren veröffentlichen.8 Wie aus dem Briefwechsel Johannes Staudas mit Erwin Guido Kolbenheyer klar ersichtlich ist, handelte es sich hier sicherlich nicht um eine Modeerscheinung, sondern um Bemühungen, die im Kontext einer breiter angelegten „Kulturpolitik“ zu deuten sind.9 Die Analyse der soeben genannten literaturgeschichtlichen Werke zeigt aber auch, dass es noch Ende der 1920er Jahre keine Übereinstimmung darüber gab, was unter einer sudetendeutschen Literatur zu verstehen sei. Der Begriff ließ dabei unterschiedliche Interpretationen zu. In der Einführung seines Beitrags im 1933 erschienenen Band Písemnictví (Schrifttum) der Enzyklopädie Československá vlastivěda (Tschechoslowakische Heimatkunde) kommt Pavel Eisner auf die Schwierigkeit einer genaueren Definition dieses Begriffs zurück: Bliebe zu sagen, was wir unter ‚sudetendeutscher Literatur‘ verstehen. Es liegt auf der Hand, dass ein Gebiet, dass auf allen Seiten eine Einheit mit dem deutschen Meer bildet

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bestmöglichen Entfaltung und Leistung zu zwingen, insoweit können wir doch auch von uns sagen, dass wir fähig sind, unsere kulturellen Güter selbst zu verwalten.“ Nadler, Josef: Das Schrifttum der Sudetendeutschen bis zur Schlacht am Weißen Berg. Regensburg 1924. Wolkan, Rudolf: Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern. Augsburg 1925. Schon davor erschien in einer 1919 von Rudolph Lodgman herausgegebenen Protest- respektive Kampfschrift der Beitrag Wolkan, Rudolf: Die deutsche Literatur Böhmens. In: Lodgman von Auen, Rudolf/Ritter, Vinzenz Maria (Hg.): Deutschböhmen. Berlin 1919, 289. Mühlberger, Josef: Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten fünfzig Jahren. KasselWilhelmshöhe 1929, 272. Vgl. die Korrespondenz E. G. Kolbenheyers mit Johannes Stauda zwischen November 1921 und September 1929. Archiv Kolbenheyer. Kolbenheyer Gesellschaft e. V., Geretsried (BRD). Ohne Signatur. 42 Briefe und Postkarten.

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und dessen Menschen man in den bairischen, sächsischen, schlesischen Stamm unterteilt, in stammlicher Hinsicht keine eindeutigen Kriterien bietet, sodass nur die geographischen Fakten als Maßstab übrig bleiben, das heißt die geographische Herkunft des Autors.10

Gemäß des Prinzips der ‚Symbiose‘, das in Eisners literaturkritischen Konzeption zum regelrechten Paradigma erhoben wird, versuchte der Literarhistoriker in seinem Beitrag eine breitangelegte Definition dessen, was unter sudetendeutscher Literatur zu verstehen sei. Ausgehend von einer ‚Metissage‘ der deutschsprachigen Bevölkerung der Tschechoslowakei bezog sich Eisner allein auf das ‚topografische‘ Kriterium. Seiner Meinung nach waren deutschsprachige Schriftsteller wie Kafka und die Prager Juden durchaus als ‚sudetendeutsche‘ Schriftsteller zu bezeichnen. Eisners Auffassung unterschied sich hierin von der Herangehensweise von Literaturhistorikern wie Nadler. Selbst wenn Eisner die ethnografische Kategorie des ‚Stammes‘ nicht wirklich in Frage stellt, ist diese für ihn schließlich für die Konzeption einer Literaturgeschichte nicht relevant oder gar unzureichend. Man mag wie Ladislav Nezdařil Eisners literarhistorische Methoden als „psychologisch“ bezeichnen.11 Eisners Vorstellungen beinhalten vor allem eine integrative Dimension, die Nadlers verfolgten Absichten grundsätzlich entgegensetzt sind. Mit dem historischen Hinweis und der Behauptung der Integrität der Kronländer verfolgt Eisner in seiner Literaturgeschichte, die sich in mancher Hinsicht als Reaktivierung des Bohemismus-Gedanken interpretieren lässt, eine Legitimierung der Tschechoslowakischen Republik als multinationalen Staatsgebildes. Dies war selbstver10 „Zbývalo by říci, co rozumíme sudetskou literaturou. Je nasnadě, že území, jež na všechny strany tvoří spojité nádoby s německým mořem a o jehož člověka se dělí kmeny bavorský, saský, slezský, neposkytne jednoznačných kriterií kmenově povahových, takže jako vodítko zbude jen fakt místopisný, tj. místní původ autorův.“ Eisner, Pavel: Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů [Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR. Von 1848 bis in unsere Tage]. In: Československá vlastivěda. VII. Písemnictví [Tschechoslowakische Heimatkunde. VII. Schrifttum]. Praha 1933, 329; Eisner, Paul: Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR von 1848 bis 1933. Aus dem Tschechischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Michael Wögerbauer. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, 9 (2002/2003), 130. 11 Nezdařil, Ladislav: Česká poezie v německých překladech [Tschechische Dichtung in deutschen Übersetzungen]. Praha 1985, 244. Nezdařil konstatiert: „Sein Werk als Übersetzer hat einen dreifachen, natürlichen Ausgangspunkt. Am schwächsten, wenngleich geistreich, sind seine literarhistorischen Arbeiten, die auf Grundlage einer psychologischen Methode die Problematik der symbiotischen Literaturen herauszuarbeiten suchen, wie Eisner sie in der Anthologie ‚Němci v českých zemích‘ (1931), dann überblicksmäßig in ‚Německá literatura na půdě Čech [!] od r.  1848‘ (1933), wo er vor allem die nationalistischen Tendenzen Wolkans einer Prüfung unterzogen hat, sowie das essayistisch gestimmte Buch ‚Milenky‘ (1930) oder auch in den Studien ‚Na skále‘ (1945) und ‚Franz Kafka and Prague‘ (1950).“



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ständlich auch im Sinne des offiziellen Projektes einer volkskundlichen Enzyklopädie, welche die literarische Produktion der verschiedenen Sprachgemeinschaften des Staates umfassen sollte.12 Es ging einerseits darum, den Status und die Rechte der nationalen Minderheiten im Rahmen der Tschechoslowakischen Republik zu befestigen und zu legitimieren, andererseits aber auch darum, den Argumenten irredentistischer Bestrebungen entgegenzuwirken. In seiner Rezension vom 2. November 1933 hält Eisner in der Prager Presse zum Konzept des siebten Bandes der tschechoslowakischen Enzyklopädie fest: Das entscheidendste aber ist: der von Prof. A. Pražák und Dr. M. Novotný aufs beste redigierte Band fasst – zum ersten Male in einem wissenschaftlichen Sammelwerk – den Begriff ‚Tschechoslowakische Literatur‘ nicht im Sinne von tschechischer plus slovakischer Literatur, sondern er gibt dem Begriff seine übernationale, seine integral-territoriale Bedeutung.13

Nichtsdestotrotz scheint Eisner darum bemüht, ein differenziertes Bild der deutschsprachigen Kulturproduktion der Tschechoslowakei zu entwickeln. Selbst wenn Eisner die extremistischen Auswüchse des nationalen Kampfes anprangerte, deutete er dennoch den deutschen Kulturkampf, der sich in der Literatur widerspiegelt, als Kampf ums Überleben. Das Aufkommen der tschechischen Nationalbewegung und die Infragestellung ihrer Vormachtstellung in der Habsburger Monarchie zwang die deutsche Elite zur Reaktion. In seinem Deutungsversuch des Nationalitätenstreits, den sich die deutsche und die tschechische Sprachgemeinschaft bereits seit Jahrzehnten lieferten, unterschied Eisner aber zwischen einer legitimen deutschösterreichischen und einer aggressiven deutsch-preußischen Tradition, die sich im Dienste des pangermanischen Gedanken stellte. Dem Geiste eines Adalbert Stifters stehe der Bismarckkult, dem manche Autoren wie Karl Hans Strobl (1877–1946) oder Robert Hohlbaum (1886–1955) verfallen seien, gegenüber.14 Demnach sei 12 Im Vorwort von Albert Pražák und Miloslav Novotný zum 7. Band dieser Enzyklopädie heißt es: „Mit der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik entstand ein Staat, der in dem sich neben dem Tschechoslowakischen Volk auch Deutsche, Ungarn, Polen, Russinen und Juden wiederfanden, und unser Interesse erstreckt sich auf ihre Literatur, sofern sie auf unserem Gebiet leben, Die Tschechoslowakische Heimatkunde, die eine Skizze unserer Literaturgeschichte bietet, kann daher die Literatur dieser Nationalitäten daher nicht unberücksichtigt lassen. Die tschechische Öffentlichkeit wird somit zum ersten Mal die Literaturgeschichte unseres gesamten Staatsgebietes zugänglich gemacht, Böhmens, Mähren, Schlesiens, der Slowakei, des Kuhländchens (Hlučínsko) und der Karpatenukraine, allerdings nicht in landschaftlicher, sondern in nationaler Perspektive.“ Československá vlastivěda, VII. Písemnictví, 5. 13 Eisner, Paul: Das ist Heimatkunde. In: Prager Presse, 2. 11. 1933, Nr. 300, 7. 14 Eisner, Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR, 125: „Die geistige Politik dieser Literatur ist für die meisten ihrer Träger in das Dreieck Wien – Prag – Berlin eingeschrieben:

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laut des Literaturkritikers ‚sudetendeutsche‘ Kultur als Erbe der ersteren aufzufassen. Nach dem Verfall der Habsburger Monarchie stelle die Tschechoslowakische Republik den möglichen Rahmen, die deutschböhmische Kulturtradition fortzusetzen. Im Nachhinein mag diese Interpretation ein gewagtes Konstrukt zu sein. Im geopolitischen Kontext der damaligen Zeit und insbesondere in Anbetracht des bedrohlichen Aufstiegs des Nationalsozialismus lässt sie sich dennoch nachvollziehen. Eisners Auffassung, was unter sudetendeutscher Literatur zu verstehen sei, ist durchaus subversiv. Indem er unter diesem Begriff das gesamte deutschsprachige Literaturschaffen Böhmens beziehungsweise der Tschechoslowakei einbezieht, erscheinen die Werke der Heimatkunst, wenn nicht als Randerscheinungen, so doch nur als Teil dieser Gesamtproduktion. Trotz aller positiven Bewertungen „der literarischen Grenzlandarbeit“ warnte Eisner also vor den Gefahren eines überspitzten Provinzialismus, der als Rückzug hinter die nationalen Schranken zu deuten sei. Demnach sollten die verschieden nationalen Kulturen als unterschiedliche Niederschlagsformen universaler Werte zu verstehen sein. In diesem Sinne blieb Eisner dem Kosmopolitismus verpflichtet, welcher in den liberalen Kulturkreisen Prags verbreitet war.15 Die folgende Passage aus dem Werk Nadlers Das Schrifttum der Sudetendeutschen verdeutlicht den antinomischen Charakter der Auffassungen einer deutschsprachigen Literaturgeschichte in Böhmen, die vom Ethnischen ausging. Sie illustriert deutlich, wovor sich Eisner fürchtete, oder was er zumindest ablehnte. So schrieb Nadler: Immer mehr in den Hintergrund tritt dabei der Einfluss Wiens, das doch zuerst so anziehend und mit so vielen Intellektuellen aus Böhmen versorgt worden war – mit seinem österreichischen Programm hatte es zum Beispiel das umfassende Lebenswerk Kraliks und Schaukals völlig absorbieren können. Berlin verleibt sich zahlreiche Autoren aus Böhmen nicht nur physisch ein, sondern inspiriert viele auch aus der Ferne in pangermanischer Hinsicht: Große Wirkung entfaltet vor allem der Bismarck-Mythos, dessen Rezeption wir von Mauthner über Strobl bis Hohlbaum ununterbrochen begegnen; […] In der denkwürdigen Arena der tschechisch-deutschen Symbiose streiten Österreich und Deutschland um die deutsche Seele, wobei die Idee des Habsburgerreichs schon geraume Zeit vor ihrer materiellen Liquidierung erblasst und verlischt. Doch hat sie noch hinreichend Zeit und Atem, um im Stifterschen Werk denkwürdig mit der Seele der Hochwälder des Böhmerwaldes zu verschmelzen, im Werk Ebner-Eschenbachs die deutsch-österreichische Adelskultur mit dem Odem des tschechisch-mährischen Raumes zu tränken und zuletzt im Werk Rainer Maria Rilkes auf die sublimierteste und sublimste Weise auszuklingen.“ 15 Man denke hier zum Beispiel an das berühmte „Bon mot“ Johannes Urzidils: „Ich bin hinternational […] Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ es sich leben und durch die Gassen und Durchhäuser streichen.“ Urzidil, Johannes: Relief der Stadt. In: Prager Triptychon. Erzählungen. Salzburg/Wien 1997, 12.

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Die mitteldeutsche Prosa war die erste Triebkraft, der früheste Anstoß zu jenem gewaltigen Vorgange, der das gesamte Siedelgebiet innerlich deutsch machte und mit dem Mutterlande verschmolz. […] Wie die Aufnahme des Römischen die Wiedergeburt der altdeutschen Stämme aus dem Blut und der Kultur der Antike einleitete; so der schriftsprachliche Sieg des Mitteldeutschen die Wiedergeburt der Siedelvölker aus Geist und Blut des Mutterlandes.16

Wenn bei Nadler ebenfalls von einem „Verschmelzen“ die Rede war, dann aber eindeutig im Sinne der Gründung eines großdeutschen Reiches, wobei die böhmischen beziehungsweise sudetendeutsche „Siedelgebiete“ hier eindeutig als Peripherie eines „Germanenreiches“ gedeutet werden. Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Rudolf Wolkan, der durch seine Literaturgeschichte, wie er es in der Einführung seines Werkes erklärt, den „innigen Zusammenhang mit dem großen Stammlande“17 behaupten möchte. Man kann sich fragen, warum Eisners literaturgeschichtlicher Beitrag nicht gleichzeitig ins Deutsche übersetzt worden ist. Sicherlich wäre dieser Schritt von den völkisch gesinnten Kreisen als Einmischung interpretiert und abgelehnt worden. In seinem Essay, das für ein tschechischsprachiges Lesepublikum gedacht war, ging Eisner von den gleichen Prinzipien aus, die er auch in der deutschsprachigen Tageszeitung Prager Presse vertrat.

Die Zeitschrift Witiko: Hoffnungvolles Experiment oder Aporie? Anders verhält es sich aber mit dem Werk Josef Mühlbergers (1903–1985)18 und seiner Auffassung von der sudetendeutschen Literatur. Trotz aller Ambivalenzen schien das Projekt des jungen Schriftstellers im Kontext des Nationalitätenkampfes hoffnungsvoll zu sein. Auch Mühlberger sprach hier von einer „nationalen Mission“, und erklärte im Vorwort seiner Literaturgeschichte: Sie ist mit dem Bewusstsein geschaffen worden, vor allem den eigenen Landsleuten zu dienen. Ich war mir dabei der Verantwortung klar, die ich der Kultur eines auf sich selbst angewiesenen, vom großen Deutschtum abgesprengten deutschen Volksteiles schulde. In so enger Begrenzung wird die Luft stark stickig.19

Doch obwohl die Bearbeitung und Veröffentlichung der Doktorarbeit des jungen Schriftstellers und Literaturhistorikers von den Germanisten Erich Gierach und 16 17 18 19

Nadler, Das Schrifttum der Sudetendeutschen, 61–62. Wolkan, Die deutsche Literatur Böhmens, Augsburg, 1925, 5. Zum Leben Mühlbergers vgl. Becher, Peter (Hg.): Josef Mühlberger. München 1989, 112. Ebd., 6.

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Adolf Hauffen – beide Zentralfiguren des Volkstumskampfes – akribisch verfolgt worden war, hob sich das Werk Mühlbergers – zumindest in einem Punkt – deutlich von seinen Vorgängern ab. Im Gegensatz zu diesen räumte Mühlberger in seiner „sudetendeutschen Literaturgeschichte“ der Prager deutschsprachigen Literaturproduktion einen bedeutenden Platz ein. Auch er ging von den Nadlerschen Kategorien wie ‚Stamm‘ und ‚Landschaften‘ aus. Doch während Mühlberger das literarische Schaffen von Schriftstellern wie Max Brod, Franz Kafka oder Franz Werfel sehr positiv bewertete, beurteilte er das literarische Schaffen einiger Hauptfiguren der Heimatliteratur ziemlich scharf und sogar negativ. Über den kämpferischen Ton mancher Werke der deutsch-böhmischen Literatur um die Jahrhundertwende schrieb der junge Autor ironisch: Die Los-von-Rom Bewegung jener Jahre steigerte die kampfhafte Stimmung. Es ertönte die ganze Zeit von lauten Reden und Festen, von Kundgebungen, von der rauschenden Musik grosser Umzüge; was Wunder, das man da am liebsten Blechinstrumente verwendete, auch in der Dichtung.20

Als Mühlberger seine Literaturgeschichte herausgab, war er auch bereits seit einem Jahr der Mitherausgeber der Kunst- und Literaturzeitschrift Witiko21, die die Aufmerksamkeit der sudetendeutschen Kulturkreise, aber auch des Prager Kreises auf sich gezogen hatte. Die Herausgabe der ersten Nummer der neuen Kulturzeitschrift fiel mit dem symbolischen Jahr 1928, dem zehnjährigen Jubiläum der tschechoslowakischen Staatsgründung, zusammen. Die Prager Presse begrüßte die Herausgabe einer „repräsentativen sudetendeutschen Zeitschrift“, die – wie es Pavel Eisner betonte – „nicht bloss die sudetendeutsche Literatur pflegt, sondern auch dem Verhältnis der sudetendeutschen Dichter zu den tschechischen Autoren fortlaufende Aufmerksamkeit widmet“.22 Auch scheint es, dass die tschechoslowakischen Behörden diesem Projekt wohlwollend gegenüberstanden. In der Tat erschienen in der Zeitschrift Witiko ab 1929 regelmäßig Beiträge von Walter Maras beziehungsweise von Mühlberger selbst, die über die tschechische Literaturproduktion berichteten. Für die Anhänger eines deutsch-tschechischen Ausgleichs wie Max Brod,23 Otto Pick und Pavel Eisner bedeutete dies eine günstige Gelegenheit und eine bis dahin nie dagewesene Chance. Mit dem Konzept der „Durchgeistigung des Volkstumskampfs“, die der junge Herausgeber als Alternative zum alttradierten Volkstumskampf verstehen wollte, schien sich für die Akteure 20 Ebd., 20. 21 Vgl. Berger, Michael: Witiko (1928–1931). Eine Zeitschrift zwischen Provinz und Metropole. In: brücken, N. F., 1 (1991/1992), 51–65; Jacques, Christian: De l’invention de la germanité sudète. La revue Witiko (1928–1931). Strasbourg 2004, 392. 22 Eisner, Paul: Josef Mühlbergers Hus-Roman. In: Prager Presse, 5. 8. 1931, Nr. 208, 7. 23 Max Brod rechnete im Übrigen Mühlberger dem sogenannten Prager Kreis zu. Siehe Brod, Max: Der Prager Kreis. Stuttgart u. a. 1966, 64.



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des liberal gesinnten Prager kulturellen Lebens die Perspektive einer Aufweichung der Fronten anzubieten. So wollte es auch Pavel Eisner verstehen. „Schon der Titel zeigt“, merkte Eisner über die neue deutschsprachige Zeitschrift an, „zeigt dass es sich hier um die Wiederbelebung der Stifterschen Tradition handelt“.24 Im Nachhinein mag die wohlwollende Haltung der tschechoslowakischen Behörden gegenüber der Zeitschrift erstaunlich sein. Johannes Staudas Verlag war wenige Jahre zuvor wegen staatsfeindlicher Aktivitäten zensiert und 1925 sogar verboten worden. Der innen- und außenpolitische Kontext erklärt aber zum Großteil diese Haltung. Die Beteiligung von Ministern der deutschsprachigen Minderheit – der sogenannten „Aktivisten“ – an der Regierung war ein Faktor. Die Reaktivierung der Diskussionen um die Rechte der deutschsprachigen Minderheiten im Ausland spielte im Zusammenhang des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund sicherlich auch eine Rolle. Zudem hatte die Publikation einer deutschsprachigen Zeitschrift wie Witiko im Jahre des zehnjährigen Bestehens der tschechoslowakischen Republik (1928) auch eine symbolische Dimension. Über Art und Umfang einer Zusammenarbeit zwischen Eisner und Mühlberger gibt das bislang zu Verfügung stehende Archivmaterial wenig Auskunft. Die literarischen Beiträge beider Autoren weisen jedoch darauf hin, dass es zwischen den beiden Kritikern einige verbindenden Elemente gab. So schrieb Mühlberger im Witiko über Eisners Anthologie Die Tschechen: Die Anthologie Paul Eisners ist ein schönes Werk und in jedem Sinne lobenswert. Dabei ist sein Urteil immer treffend; auch den Größen des tschechischen Geisteslebens gegenüber ernst und sicher. Hus umschreibt er als Menschen des Mittelalters; er stellt den schädlichen Einfluss der hankaschen Fälschungen auf Palackys Geschichtsschreibung fest; Jirasek lässt er nur bedingt gelten. Bei Masaryk wäre vielleicht ein gewagtes kritisches Wort am Platze gewesen.25

Mühlbergers Lob blieb in mancher Hinsicht zweideutig und nicht ohne Vorbehalte. Nichtsdestotrotz bemerkte Mühlberger am Ende seiner Rezension von Eisners Anthologie: Das Buch ist in die Hände der Sudetendeutschen zu wünschen, die oft, gar arg umstellt von hässlichen Vorurteilen, das um sie aufsteigende Leben (denn als solches stellt sich das geistige Leben der Tschechen dar!) des anderssprachigen Nachbarvolkes gar nicht kennen. Wir können uns darüber freuen, dass ein derartiges Buch von deutscher Seite her auf den diesjährigen Geburtstagstisch der tschechoslowakischen Republik gelegt wurde.26 24 Eisner, Josef Mühlbergers Hus Roman, 7. 25 Mühlberger, Josef: Zwei deutsche Bücher über Tschechisches. In: Witiko, 3 (1931) H. 4, 353. 26 Ebd.

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Doch als Herausgeber einer „sudetendeutschen Zeitschrift im Dienste der Sudetendeutschen“ war sich Mühlberger des gefährlichen Charakters seines Unternehmens durchaus bewusst. Immer wieder wiesen Maras und Mühlberger auf scharfe Reaktionen der Leser hin.27 Es war auch Mühlberger klar, dass gewisse Schranken noch nicht überschritten werden konnten. So fühlte sich Mühlberger verpflichtet, einige Erklärungen und Richtigstellungen in seinem Artikel über die deutsch-tschechischen Beziehungen zu liefern: Dass wir Berichten über tschechische Dichtung besondere Aufmerksamkeit widmen und noch weitgehendere Aufmerksamkeit widmen wollen [...] hat mehrere Gründe; aber nicht diesen einen: Beziehungen zwischen hüben und drüben anzuknüpfen. Denn es sei festgestellt: wir glauben nur zum geringsten Teile an deutsch-tschechische Beziehungen auf dem Gebiete der Dichtung, Kunst und Kultur überhaupt.28

Trotz aller „Durchgeistigung“ behielt also der Volkstumskampf eine gewisse Legitimität und sollte weitergeführt werden. Bereits ein Jahr zuvor hatten die Herausgeber des Witiko anlässlich der Verleihung des neugegründeten Staatspreises für deutschsprachige Künstler aus der Tschechoslowakei, zunächst ohne weitere Erklärung, einen anonymen Brief mit deutlich antisemitischem Charakter drucken lassen, in dem Otto Pick direkt angegriffen wurde. Der „mutige Anonymus“, wie Otto Pick in seiner Antwort den Autor des Briefes nannte, hatte die Legitimität des „Juden“ Pick als Mitglied einer „deutschen Jury“ in Frage gestellt. Wenn 1929 ein Sonderheft der Zeitschrift Witiko den Prager Schriftstellern noch gewidmet werden konnte, sollte das Experiment in den folgenden Jahren nicht mehr wiederholt werden. In seinem Artikel Spielereien am Abgrund, der im Jahre 1931 in der Zeitschrift Die Wahrheit veröffentlicht wurde, richtete Otto Pick schließlich eine scharfe Kritik an die Herausgeber des Witiko und die sudetendeutschen Kulturinstitutionen wie die Gesellschaft für deutsche Volksbildung in der Tschechoslowakischen Republik. Schließlich brach Pick jegliche Beziehungen mit den Herausgebern ab.29 27 In seiner lobenden Kritik von Eisners Anthologie Landsleute. Deutsche Prosa aus der Čechoslowakei schrieb Walter Maras vorwurfsvoll: „Die einzige sudetendeutsche Stelle, die sich mit Fragen der tschechischen Literatur beschäftigt, ist unsere Zeitschrift. Es mag nicht unerwähnt bleiben, dass uns deswegen genug oft Vorwürfe gemacht werden“. Maras, Walter: Sudetendeutsche Prosa. In: Witiko, 3 (1931) H. 4, 283. 28 Mühlberger, Zwei deutsche Bücher, 353 29 Pick, Otto: Spielereien am Abgrund (Glossen zum Kulturbetrieb). In: Die Wahrheit, 10 (1931) H. 10, 6. Dort heißt es: „Die Deutschen Prags haben nämlich das Besserwissen gepachtet und ignorieren oder bestreiten unentwegt die unausgesprochenen Zusammenhänge zwischen der Schlaraffen- und der Prager deutschen Theaterwissenschaft, zwischen der Adalbert Stifter Gesellschaft und einem literarischen numerus clausus, zwischen der Reichenberger Gesellschaft für deutsche Volksbildung in der Tschechoslowakischen Republik und der



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Pavel Eisner änderte in jenen Jahren trotz alledem seine Meinung über Josef Mühlberger offensichtlich nicht. 1931 bereitete der junge Schriftsteller die Veröffentlichung seines Romans Hus im Konzil vor. Bereits Monate zuvor hatten mehrere tschechische Zeitschriften eine Übersetzung des Romans ins Tschechische angekündigt und diese Entscheidung des Schriftstellers begrüßt. Ursprünglich sollte Pavel Eisner die Übersetzung des Romans übernehmen. Schließlich fertigte sie jedoch Olga Laurin, die Gattin des Herausgebers der Prager Presse an. Pavel Eisner unterstützte dennoch Mühlberger, indem er eine positive Kritik des Werkes für die Prager Presse schrieb. „Es bleibt dabei“, konstatierte Eisner anlässlich der Herausgabe des Hus-Romans im Berliner Residenz Verlag, dass das erste Romanwerk des jungen Sudetendeutschen eine künstlerisch durchaus gültige Leistung ist, der überdies ideell eine große symptomatisch-programmatische Bedeutung zukommt: zum ersten Mal nach langer Zeit wird mit diesem Buch wieder an eine Tradition angeknüpft, die mit Eberts Wlasta und Meißners Zizka einsetzte, in Stifters Witiko gipfelte und dann abriss…30

Sicherlich fasste Mühlberger die Figur des Hus ganz anders auf „als die tschechischen Historiker und Belletristen“, wie es in der Cechoslowakischen Korrespondenz euphemistisch formuliert worden war. Für Eisner stellte jedoch Mühlbergers Roman eine Möglichkeit zur Erneuerung des deutsch-tschechischen Dialogs dar. Verglichen mit Karl Hans Strobls Roman Die Fackel des Hus (1929) schien Mühlbergers Kritik noch relativ gemäßigt.31 Eisners Unterstützung und die wohlwollenden Kritiken des Romans Hus im Konzil in den tschechischen Zeitschriften erwiesen sich jedoch als kontraproduktiv. Die negativen Reaktionen ließen auf sich nicht warten. Diese kam zunächst aus der Feder Ferdinand Demls, der in der nationalkonservativen Tageszeitung Bohemia einen Artikel mit dem Titel Karriere oder Charakter? veröffentlichte und Mühlberger Zusammenarbeit mit Eisner und der Prager Presse im Allgemeinen als Verrat und „peinlich“ bezeichnete. Eisners Gegenangriff in der Prager Presse veranlasste Deml dazu, seine Anschuldigungen erneut zu formulieren: Der Artikel hat recht eingehend den Umschwung Dr. Mühlbergers von seinem anfänglich deutschen Standpunkt, der noch nicht von dem Geiste der ‚Prager Presse‘ infiziert war, zu dem Kotau vor dem wegen seiner Deutschfeindlichkeit sattsam bekannten Blatt, vor allem vor Otto Pick, dem zuerst am meisten Angegriffenen, geschildert und Mühlbergers geistige Zugehörigkeit zu den ‚Prager Presse‘-Deutschen angeprangert.32 von ihr für das Jahr 1932 geplanten Goethefeier der Sudetendeutschen unter bewusstem Ausschluss der freiheitlich orientierten deutschen Kulturinstitutionen.“ 30 Eisner, Paul: Hus im Konzil. In: Prager Presse, 29. 7. 1931, Nr. 203, 6. 31 Strobl, Karl Hans: Die Fackel des Hus. Leipzig 1929, 560. 32 Deml, Ferdinand: Karriere oder Charakter? In: Bohemia, 30. 8. 1931, Nr. 202, 5.

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Von der „Provinz“ aus sollten dann Mühlberger für seinen angeblichen Verrat und Opportunismus durch den einflussreichen Schriftsteller völkischer Ausprägung Wilhelm Pleyer (1901–1974) erneut kritisiert werden. Es begann auch bald eine regelrechte Hetzkampagne gegen den jungen sudetendeutschen Schriftsteller und seine Zeitschrift Witiko, was sich für Mühlbergers Karriere als vernichtend erwies. Die Anspielungen auf Mühlbergers Homosexualität versperrten dem Schriftsteller jegliche Karriereaussichten. Die Herausgabe des Bandes Ringendes Volkstum33 zusammen mit Karl Franz Leppa (1893–1986) oder des Theaterstückes Ramphold Gorenz, die den „klassischeren“ völkischen Auffassungen eher entsprachen, konnte daran nichts ändern.

Die Radikalisierung der 1930er Jahre Eisner hielt an seiner positiven Beurteilung von Mühlbergers Werk fest. In seinem literaturhistorischen Beitrag für die Československá vlastivěda wird der Trautenauer Schriftsteller sogar als der Hauptvertreter der neuen, aufsteigenden Generation sudetendeutscher Schriftsteller dargestellt.34 Als die tschechoslowakische Enzyklopädie 1933 beim Sfinx Verlag herauskam, war Mühlberger aber bereits von der Doxa des sudetendeutschen literarischen Feldes stigmatisiert worden. Der Versuch, durch den Neuankömmling das sudetendeutsche literarische Feld umzupolen, war eindeutig gescheitert. Den kulturpolitischen Spagat, den Mühlberger mit Hilfe der Prager Schriftsteller versucht hatte, erwies sich als allzu gewagt. Die Reaktionen aus dem „Grenzland“, die Pavel Eisner anlässlich der Herausgabe einer Sammlung deutscher Lesetexte für die Oberklassen tschechischer Mittelschulen in der Prager Presse 1932 wiedergab, zeigen auch die kategorische Ablehnung jeglicher Annäherungsversuche seitens der „Volkstumskämpfer“. Eisner, der gleichzeitig auch die Gleichgültigkeit der tschechischen Literaturkritik gegenüber dem Lesebuch bedauerte, antwortete auf die Kritik einer Reichenberger Volksschullehrerzeitung: Die Typen missfallen ihm, sie sind nämlich z. T. Lateinschrift, und somit wäre an einen altfranzösischen und daher neudeutschen Belang gerührt. Es missfällt ihm aber auch der Text der Einleitungen, der ist ihm nicht deutsch genug [...] es stehen Fremdwörter 33 Leppa, Karl Franz/Mühlberger, Josef: Ringendes Volkstum. Vom sudetendeutschen Wesen. Karlsbad 1931, 239. 34 „Die Ansätze der Entwicklung nach Werfel sind einstweilen noch nicht absehbar; man sammelt die Kräfte und sucht nach Wegen. Der Trautenauer Josef Mühlberger schwankt in der Lyrik und der Erzählprosa zwischen dem sudetendeutschen Regionalismus und einem Schaffen mit allgemeingültigem Anspruch; der Roman ‚Hus auf der Kanzel‘ ragt daraus hervor und stellt die nach langer Zeit erste positive Gestaltung des Reformators in einem deutschen Buch dar.“ Eisner, Die deutsche Literatur, 197.



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darin. [...] Von dem ganzen Gejaure wird hier bloß darum Kenntnis genommen, weil es bezeichnend ist für eine Kulturguerilla, die nicht einmal zulassen möchte, dass tschechische Jugend an deutscher Heldensage, bei Goethe, C. F. Meyer, Jakob Wassermann, Thomas Mann und Hermann Hesse Deutsch lernt, wenngleich ein Deutsch mit Fremdwörtern.35

Die Ernennung Hitlers als Reichskanzler im Jahre 1933 und die politischen Erfolge der Sudetendeutschen Heimatfront (SHF) respektive der Sudetendeutschen Partei (SdP) Konrad Henleins in der Tschechoslowakei bedeuteten für die Anhänger eines Ausgleichs zwischen den beiden Sprachgemeinschaften der Tschechoslowakei das Ende. An einer Zusammenarbeit mit der deutschen Regierung zur Verbreitung der deutschen Kultur in der Tschechoslowakei, wie Eisner noch in der Zeitschrift Die Wahrheit 1928 vorschlug, war jedenfalls nicht mehr zu denken.36 In diesem Artikel wies Eisner damals schon auf den ambivalenten Charakter der Minderheiten- und Außenpolitik der Weimarer Republik hin. Zwar bemühte sich Stresemanns Politik auf eine friedliche Lösung der Minderheitenfrage. Dennoch wurde – unter anderem im Bereich der Kulturfragen – ein Großteil der Initiativen Vereinen überlassen, die die Interessen der sogenannten Auslandsdeutschen zu vertreten vorgaben. Nach 1933 wurde dieses Netzwerk als wichtiger Vektor der nationalsozialistischen Propaganda benutzt.37 Im „Sudetenland“ wurde nun von Henleins Verfechtern eine Politik verfolgt, die nach der Gleichschaltung der kulturellen Institutionen in den „Grenzländern“ trachtete. Ungeachtet dessen schrieb Pavel Eisner in der Prager Presse vom 2. November 1933: Die Kultur der in der Tschechoslowakei lebenden Volksstämme bildet gewiss keine homogene Einheit; aber Himmel und Erde, leibliche geistige Symbiose haben in manchen grundlegenden und vielen Einzelzügen Parallelitäten und Uebereinstimmungen in der Entwicklung, gegenseitige Einwirkungen, Entsprechungen und Ergänzungen erzeugt, die eine wechselseitige Verwobenheit dieser Kulturen ergeben. Sie war als unumstößliche Tatsache lange vor dem 28. Oktober 1918 da; die Folgerung aus der Tatsache heißt aber: 35 Eisner, Paul: Die Deutschen. In: Prager Presse, 30. 7. 1932, Nr. 200, 7. 36 In diesem Artikel warf Eisner den deutschen Behörden vor, der französischen Kulturaktion in der Tschechoslowakei nichts entgegensetzen zu wollen. „[…] der Tscheche, der deutsch lernen will (und das will er heute), der etwas von deutschem Geist erfahren will,“ bemerkte der Literaturkritiker, „er findet wahrlich kein deutsches Institut, keinen Klub, keinen Zirkel, keine anregende, psychologisch durchdachte, menschlich verpflichtende, liebenswürdig-bezaubernde Aufmunterung. Instinktverlassenheit, wohin man blickt. Die Inflationszeit bot eine ideale Gelegenheit, um das deutsche Buch in ganz Europa zu einer Waffe ohnegleichen zu machen“. Eisner, Paul: Kulturpropaganda. In: Die Wahrheit, 7 (1928) H. 5, 7–8. 37 Vgl. dazu Jaworski, Rudolf: Vorposten oder Minderheit? Der sudetendeutsche Volkstumskampf in den Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der CSR. Stuttgart 1977, 239.

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Erkenntnis der anderen Stammeskulturen im Lande als unbedingte Pflicht für einen jeden Tschechoslowaken, der über geistige Dinge aburteilen, die eigentlichen Dinge seines Volkes fördern oder auch nur in Wahrheit Politik treiben will.38

In den folgenden Jahren wiederholte Eisner abermals seinen Aufruf zu einer Zusammenarbeit und gegenseitiger Bereicherung der verschiedenen Kultursphären. Als der Schutzverband deutscher Schriftsteller in der Tschechoslowakei 1934 zur Gründung einer Sudetendeutschen Buchgemeinschaft aufrief, welche „den Fortbestand der sudetendeutschen Literaturwerke sichert und jedem begabten Autor die Möglichkeit verschafft, sein Werk dem eigenen Volke vorzulegen“, stimmte Eisner der Initiative ohne Vorbehalt zu.39 Einige Monate später setzte sich jedoch Wilhelm Pleyer für die Gründung eines Verbands sudetendeutscher Schriftsteller ein, welcher sich sogleich in den Dienst der politischen Propaganda der SHF stellte. Die Jahre nach 1933 zeugen von einer Intensivierung der Stellungnahmen Eisners gegen die politischen Entwicklungen in den Grenzgebieten. Eine offene Kritik des Prager Germanistikprofessors Herbert Cysarz (1896–1985), die Eisner im September 1934 in der Prager Presse publizierte, zeugt auch von diesem Engagement. Anlass seiner Reaktion war, dass die tschechoslowakischen Zensurbehörden die Anthologie Wir tragen ein Licht verbaten, für die Cysarz das Vorwort verfasst hatte. Eisner zufolge waren die Zensurmaßnahmen aufgrund des offenen offenen antisemitischen und chauvinistischen Grundtons des Vorwortes gerechtfertigt.40 Die Warnung vor den Gefahren des Antisemitismus wiederholte Eisner in jenen Jahren sowohl in tschechisch- als auch in deutschsprachigen Zeitschriften in regelmäßigen Abständen. Als Verfechter einer universalistisch ausgeprägten Kultur lehnte er weiterhin und ebenso vehement den provinziellen Rückzug ab, den die Propagatoren des Sudetendeutschtums vertraten. Schließlich aber sollten die Raumleři – um Pavel Eisners respektive Jan Orts41 Bezeichnung für die Verfechter der völkischen Ideologie zu übernehmen – die Oberhand behalten. Der Kampf um die Kulturinstitutionen endete in diesem Sinne mit einer eindeutigen Niederlage.

38 Eisner, Das ist Heimatkunde. 39 Vgl. Eisner, Paul: Eine sudetendeutsche Buchgemeinschaft. In: Prager Presse, 8. 3. 1934, Nr. 66, 8. 40 „In dem Vorwort durch sein Verschulden beschlagnahmten Anthologie ‚Wir tragen das Licht‘ sagt der Prager Universitätsprofessor Herbert Cysarz auch das folgende: ‚Und unsere Nachbarn (gemeint sind die Tschechen) müssten es begrüßen, dass ihre Besten fortan minder durch bestellte Makler ‚lanciert‘ würden, vielmehr durch lebendige Wechselwirkung das europäische Forum gewännen. Auch hier dürfen wir guten Europäer, die wir Europa im Inbegriff alles Echten und Eigenen aller Völker suchen, nicht jenen schlechten Europäern weichen, die zwischen all den wüchsig-schöpferischen Dingen nur im Trüben fischen.“ Eisner, Paul: „Wer ist das?“ In: Prager Presse, 9. 9. 1934, Nr. 246, 7. 41 Eisner schrieb während der nationalsozialistischen Besatzungszeit unter diesem Pseudonym.



Pavel Eisner und das „Sudetendeutschtum“

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Schlussbemerkungen Im Nachhinein mögen Eisners Kulturstrategien als Produkt eines „abstrakt denkenden Kopfes“42 – wie es Max Brod in seinem Buch Der Prager Kreis beschrieb – gedeutet werden. Brods Haltung einer „Distanzliebe“ zur deutschsprachigen Kulturwelt konnte ebenfalls nur wenig Erfolg verbuchen. Vielleicht mag auch die „[…] hoffende und wenn auch nicht geradezu naive, so doch kindhafte Stimmung des ‚Prager Kreises‘“,43 dem Eisner zuzurechnen ist, beim Scheitern der Strategien zur Vermittlung zwischen der Provinz und der Hauptstadt Prag eine Rolle gespielt haben. Die Aporie bestand sicherlich darin, dass der Appell für eine Entpolitisierung der Kulturfragen im politischen Kontext der Ersten Tschechoslowakischen Republik einen höchst politischen Akt darstellte. Paul Eisners Haltung gegenüber der sudetendeutschen Kulturwelt oszillierte daher zwischen „freundlichen“ und „feindlichen“ Vermittlungsstrategien.44 Seine Auffassung von einer sudetendeutschen Literatur zielte auf eine „Reterritorialisierung“ deutschsprachiger Kulturproduktion innerhalb der tschechoslowakischen Staatsgrenzen ab, was von völkisch gesinnten Kreisen nur als Angriff gedeutet werden konnte. Ein Erfolg von Eisners kulturpolitischen Vorstellungen hätte eine Umpolung des deutschsprachigen Kulturfeldes der Tschechoslowakei – das heißt unter anderem eine Annäherung der Prager und der regionalen Netzwerke, welche oft bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstanden waren – vorausgesetzt. Sicherlich schien es, wie im Fall der Zeitschrift Witiko, einige Öffnungen in der trennenden Mauer zu geben. Diese erwiesen sich alsbald als Trugbilder. Die wenigen Jahre, die den Verfechtern dieses Ausgleichs zur Verfügung standen, reichten nicht aus, um signifikante Erfolge zu erzielen.

42 Brod, Der Prager Kreis, 37. Allerdings kritisierte Brod hier Eisners Auffassung vom „dreifachen Ghettos“, in das der ‚Prager Kreis‘ eingesperrt gewesen sei. 43 Ebd. 44 Zu diesen Begriffen siehe Kostka, Alexander: Zwischen ‚feindlicher‘ und ‚freundlicher‘ Vermittlung. Deutsch-französische Kunstbeziehungen 1919–1937. In: Bock, Hans Manfred/ Krebs, Gilbert (Hg.): Berlin in den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Weimarer Republik/Berlin dans les relations culturelles et sociales entre France et Allemagne à l’époque de la République de Weimar. Tübingen 2005, 129–149.

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Im Banne des Heimat-Diskurses Zum terminologischen und ideologischen Vergleich der tschechischund deutschsprachigen Literaturbetrachtung in der Zwischenkriegszeit

Ich erinnere mich an die Diskussion nach dem Beitrag von Milan Tvrdík über Pavel Eisner an der vom DAAD veranstalteten Tagung deutscher, tschechischer und slowakischer Germanisten in Passau im Jahre 1992. Ausdrücke wie „heimatliche Scholle“, „Rassenattribut einer Slawin“, „Vestalin der Urseele des Stammes“ oder der Satz „Die Prager deutschen Juden schlugen ihre Wurzeln in einen Boden, der keine Nährstoffe […] hatte“, die Milan Tvrdík aus Eisner in seiner eigenen Übersetzung zitierte,1 ließen bei den deutschen Kollegen den Eindruck entstehen, er lobe hier einen Autor der „Heimatliteratur“. Und dabei fehlen in der Druckfassung des Beitrages von Milan Tvrdík Notizen zu Eisners Übersetzungen von slowakischen Volksliedern und Eisners volkskundliche Exkurse. Das Konzept der Literaturwissenschaft als Volkskunde geht ja unter anderem auf August Sauer zurück, bei dem Eisner zwischen 1911 und 1916 in Prag studierte, aber der Heimat-Diskurs prägte auch tschechische Konzepte der Literatur.2 Meine Ausgangsthese ist, dass Metaphern, die aus der Terminologie der Heimatliteratur stammen, in den 1930er Jahren als relativ unbedenklich galten und dass sie im Wortschatz der tschechischen Sprecher bis heute häufiger überlebt haben, als es in der deutschen Sprache der Fall ist, wo sie als belastet gelten. Deshalb müssen sie bei wörtlicher Übersetzung ins Deutsche befremden. Als Anregung für meinen Beitrag galt mir auch die Erfahrung mit dem Dolmetschen eines Diskussionsbeitrages des verstorbenen Brünner Dichters Josef Suchý ins Deutsche. Es war 1 Tvrdík, Milan: Paul Eisner – Vermittler deutschsprachiger Literatur der böhmischen Länder. In: Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland – ČSFR. Bonn [1993] (= DAAD, Dokumente und Materialien), 47–57, hier 52 und 53. 2 Überschneidungen mit meinen Bemerkungen zur Terminologie des Heimatdiskurses gibt es vor allem in der gründlichen Analyse von Georg Escher im vorliegenden Band. Für den Begriff „Nährboden“ weist er beispielweise einen wichtigen Beleg bei Josef Nadler (1912) nach. Gegenüber meiner Vermutung, dass im Jahr 1933 Eisner von den eklatantesten Beispielen früherer dem Heimatdiskurs verpflichteten Formulierungen abrückt, stellt Georg Escher auch für die Zeit nach 1945 fest, „wie mühelos die Rhetorik der 1920er und 1930er Jahre […] übernommen werden kann, obwohl sich ihre ideologischen Konnotationen dabei radikal ändern mussten”. Siehe außerdem den Beitrag von Václav Petrbok, der Eisners Besuch von August Sauers Einführung in die Literaturgeschichte anhand von Sauers Notizbüchern aus dem Nachlass belegen konnte.

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bei der Präsentation der Anthologie tschechischer Lyrik Der Lerchenturm, die er gemeinsam mit Josef Vogel und anderen Niederösterreichern im Verlag Atelier in Wien herausgab. Ich zögerte damals, Suchýs Ausdruck „hrouda“ (Scholle) wörtlich zu übersetzen, um seine Selbstdarstellung nicht in ein schiefes Licht zu rücken. In meinem Beitrag vergleiche ich den Sprachgebrauch von Pavel Eisner, Arne Novák, Milan Rusinský und Ivo Liškutín, um den Druck des Heimat-Diskurses auf damalige Literaturhistoriker und -kritiker zu skizzieren. Meine Stichproben aus Eisner werden sich vielleicht zum Teil mit dem Beitrag von Michael Wögerbauer überlappen. „Symbiose“ ist übrigens auch eine biologische Metapher, die jedoch im Kontext von Eisners Darstellung tschechisch-deutscher Kulturbeziehungen positiv konnotiert war, obwohl sie heute in postkolonialen beziehungsweise in neueren Studien als Terminus abgelehnt wird. Eine andere biologische Metapher, „Gastvolk“, klingt heute viel bedenklicher, weil sie eine parasitäre Beziehung zwischen den jüdischen Autoren und den Deutschen respektive Deutschböhmen nahelegen. In dem Rundfunkvortrag von Pavel Eisner, den Pavel Polák erwähnt, hört man neben der im Deutschen lexikalisierten Metapher „půda“ (Boden) auch einen Ausdruck, der heute auch auf Tschechisch, mehr aber wohl noch auf Deutsch aufhorchen lässt: „kulturní ornice“ (kulturelle Ackerkrume) – ein Fachbegriff für die „oberste Schicht des bearbeiteten Ackerbodens mit hohem Humusgehalt“.3

1. Biologische Metaphern haben das Denken über Literatur in den 1920er und 1930 Jahren geprägt. Sie trugen jedoch auch dazu bei, das Werk der Prager deutschen Autoren zu verunglimpfen, indem man ihnen die Wurzellosigkeit vorwarf. Im April 1918 schrieb Arne Novák für die Zeitschrift Česká revue (Tschechische Revue) seinen umstrittenen Essay Duch německé literatury v Čechách (Der Geist der deutschen Literatur in Böhmen),4 in dem er die ganze Geschichte der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern behandelt, letztendlich aber auf die Abwertung seiner deutschsprachigen Landsleute und Zeitgenossen abzielt: Viel weniger [sic] als aus dem zusammenhängend besiedelten Stammgebiet im Grenzland Böhmens und aus den inmitten des slawischen Elementes vorhandenen Sprachinseln stammt dieses Schrifttum von fremden Zuwanderern in das Bildungszentrum des böhmischen Staates, Parasiten am entnationalisierten Hof in der älteren Zeit und an politisch-publizisitschen Organen in der Gegenwart, die mit dem Boden und dem Volk 3 Drosdowski, Günther (Hg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Mannheim 1977, 82. Vgl. auch den Beitrag von Pavel Polák im vorliegenden Band. 4 Novák, Arne: Duch německé literatury v Čechách [Der Geist der deutschen Literatur in Böhmen]. In: Česká revue, 11 (1918) H. 7, 385–392.



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nicht zusammengewachsen sind und keinen Zusammenhang mit ihren Vorgängern aufweisen. […] Jeder deutschsprachige Schriftsteller auf böhmischem Boden, obwohl seine Wiege in einer Stadt oder in einer Dorfgemeinde in einer Gegend stand, die seit dem XVI. oder XVII. Jahrhundert verdeutscht wurde, war jederzeit bereit, nach Wien oder ins Reich zu gehen, dort seine eigene literarische Tätigkeit zu entwickeln, sein Geburtsland und dessen Kultur zu vergessen.5

Arne Novák hebt den Anteil jüdischer Autoren an der vor Max Brod existierenden Prager deutschsprachigen Literatur hervor und attestiert ihr lange vor der NS-Propaganda – dem antisemitischen Stereotyp folgend – ein „Parasitentum“, und Rassisten würden hinzufügen – „am tschechischen Volkskörper“: In der zweiten Periode, die seit den 70er Jahren über die Ankunft der realistischen Moderne hinaus anhält, herrscht unter dem deutschböhmischen Judentum das Genießerische vor, das zufrieden angenehme parasitäre Verhältnisse ausnutzt; ein künstlerisches Epigonentum und ein wohltuender Sensualismus verbinden sich mit einem philosophischen Quietismus und einer milden Resignation; eine eher seichte lyrische Reflexion, eine nachahmende dekorative Verskunst verdrängt das Interesse für den Roman und das Drama; eine witzige feuilletonistische Kritik ohne tiefere ideelle Wurzeln ergänzt diese parfümierte und leere Dichtung von Friedrich Adler, Hugo Salus und anderen.6

Novák verbirgt keineswegs seine Genugtuung darüber, dass die kulturzionistische Orientierung der Brod-Generation die Prager jüdischen Autoren ihren nichtjüdischen deutschsprachigen Zeitgenossen in Böhmen entfremdet: Die jüngste jüdische Generation unter den Deutschböhmen steht in krassem Gegensatz zu den Prinzipien ihrer Väter: Sie ist nicht bereit sich anzupassen und auf ihre rassische Eigenart zu verzichten, sondern begrüßt und pflegt alles, was rassisch jüdisch ist […] 5 Ebd., 387: „Daleko menší měrou než souvislý kmenový celek a než národnostní ostrůvky uprostřed živlu slovanského vytvářeli ji cizí přistěhovalci do vzdělanostního střediska českého státu, příživníci odnárodnělého dvora ve starší době a politicky publicistických orgánů v přítomnosti, nesrostší s půdou a s lidem, nesouvisející nikterak se svými předchůdci. […] Každý spisovatel německého jazyka na české půdě, i když jeho kolébka stála v městské či vesnické obci území od XVI. nebo XVII. věku poněmčeného, byl kdykoli ochoten odejíti do Vídně či do říše, rozvinouti tam vlastní činnost slovesnou, zapomenouti nadobro na rodnou svou zemi a její kulturu.“ 6 Ebd., 390–391: „V druhém období, jež od sedmdesátých let vytrvává až přes příchod realistické Moderny, ovládne [sic] v českoněmeckém židovstvu požitkářství, těžící spokojeně z příjemných poměrů příživnických; umělecké epigonství a lahodný sensualism pojí se s filosofickým kvietismem a s umírněnou rezignací; nehluboká lyrická reflexe, odvozené básnictví dekorační, zatlačí zájem o román a drama; vtipná feuilletonistická kritika bez hlubších ideových kořenů doplňuje toto navoněné a prázdné písemnictví Bedřicha Adlera, Huga Saluse a jiných.“

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verwirft die Wahnidee von einer deutsch-böhmischen Literatur als einer eigenständigen Einheit und gibt zu, Deutsch und die deutsche Dichtung sei für sie nur ein Kommunikationsmittel. Diese ehrliche Offenheit junger jüdisch-deutscher Schriftsteller in Prag, unter denen Max Brod und Fr. Werfel am bedeutendsten sind, erweckt Sympathien auf unserer Seite, aber das Auftauchen dieser Erneuerer […] bedeutet keineswegs eine Wiedergeburt der deutschen Literatur in Böhmen, sondern eher die Einsicht, dass dieser Begriff ein Wahngebilde war, das weder historisch noch philosophisch noch kulturell aufrecht zu erhalten war.7

Es scheint, dass Novák nur die erfolgreichsten Vertreter der Prager deutschen Literatur wahrnahm – nur Brod und Werfel werden genannt. Im Frühjahr 1918 über Kafka zu sprechen, war im tschechischen Kontext kaum denkbar. Kafka wurde von Arne Novák erst später registriert, vielleicht gerade dank Eisner. In seiner großen, 1800 Seiten umfassenden tschechischen Literaturgeschichte spendet er – zwei Jahrzehnte nach dem Essay – dem 1918 als Dichter verunglimpften Adler zwar durchaus Lob, doch nur für seine Übersetzungen in der dreibändigen Anthologie Poesie aus Böhmen (1893–1895). Novák nennt ihn einen „tiefen Kenner und feinfühligen Vermittler Vrchlickýs“ (zasvěcený a jemný tlumočník Vrchlického),8 der die Perspektive des am romanischen Kulturkreis orientierten tschechischen Dichters bei der Betrachtung der Literaturgeschichte des eigenen Volkes um Weltmaßstäbe bereicherte. Novák würdigt Eisners Auswahl der übersetzen Autoren und nennt neben dem übersetzten Stifter und Rilke auch Kafka, die er als die drei „dichterisch wertvollsten“ charakterisierte.9 Ähnlich despektierlich wie 1918 Nováks Einschätzung der mit dem Land nicht verwachsenen Autoren klingt F. X. Šaldas Urteil über die Prager deutschsprachige Literatur anlässlich der Besprechung von Brods Roman Tycho Brahes Weg zu Gott (1915). Die biologischen Metaphern fehlen hier allerdings: In Prag gibt es keine deutsche Literatur. Allerdings gibt es hier einige deutsche Literaten, mit demselben Recht, ebenso zufällig, wie einige von ihnen in Pest leben oder noch 7 Ebd., 391: „Nejmladší generace židovská mezi českými Němci staví se příkře k zásadám svých otců: není ochotna se přízpůsobiti a zříci plemenného svérázu, nýbrž hostí a pěstí všecko, co jest rasově židovské […] odhazuje blud o českoněmecké literatuře jako svébytném celku a přiznává, němčina a německé písemmnictví jest jí pouze prostředkem dorozumívacím. Tato otevřená pravdivost mladých židovských spisovatelů německých v Praze, z nichž Max Brod a Fr. Werfel jsou nejvýznačnější, vzbuzuje sympatie i na naší straně, avšak příchod těchto novotářů […] neznačí nikterak obrození německé literatury v Čechách, nýbrž přináší spíše poznání, že její pojem byl bludem, neudržitelným ani historicky ani filozoficky ani kulturně.“ (Übersetzt von Z. M.) 8 Novák, Arne: Přehledné dějiny literatury české [Die Geschichte der tschechischen Literatur im Überblick]. Olomouc 1936–1939, 871. 9 Ebd., 872.



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unlängst lebten. Die Literatur ist nämlich etwas mehr als eine Gruppe von – noch so zahlreichen – Literaten, die auf einem Gebiet oder an einem Ort leben.10

Obwohl Brods Roman 1915 erschien, bespricht ihn Šalda erst 1918, nachdem 1917 die tschechische Übersetzung von Adolf Wenig11 erschienen ist. Die tschechischdeutschen politischen Kontroversen um den Status der deutschsprachigen Kultur in den böhmischen Ländern bestimmten Šaldas Formulierung mit. Erst 1923 sah Šalda – bei der Besprechung von Otto Picks Anthologie Deutsche Erzähler aus der Tschechoslowakei – ein, dass diese Literatur durchaus besondere Merkmale aufweist, die sie von der übrigen deutschsprachigen Literatur abheben. Und als er 1934 Richard Weiners Erzählband Hra doopravdy (Ein ernst gemeintes Spiel) gemeinsam mit Louis Ferdinand Célines Roman Voyage au bout de la nuit bespricht, vergleicht er Richard Weiner sogar mit Kafka, der in seinen Augen durch die französische Rezeption aufgewertet wurde: Ich will ihn nicht durch einen Vergleich mit einem großen Namen der Weltliteratur zunichte machen, aber trotzdem kann ich nicht verschweigen, dass er mit Dostojewski etwas Gemeinsames hat, gerade darin, wie er neue Plagen, neue Leiden entdeckt, in die sich manchmal ein seltsamer Nachgeschmack von Wollust mischt. Und einige Aspekte seiner konsequenten und weitsichtigen visionären Kraft erinnern an den verewigten Prager Deutschen Kafka, mit dem sich nun die Franzosen intensiv befassen.12

2. In diesem Kontext mutet Pavel Eisners Feststellung über den Ghetto-Charakter der Prager deutschen Literatur an, als wäre sie ihm von der tschechischen Perspektive Nováks und Šaldas geradezu aufgezwungen, als wären die Prager Juden durch den 10 Šalda, F. X.: Židovský román staropražský [Ein Alt-Prager jüdischer Roman]. In: Soubor díla F. X. Šaldy [F. X. Šaldas gesammelte Werke]. Bd. 19.: Kritické projevy [Kritische Äußerungen], 10 (1917–1918), 284: „V Praze není německé literatury. Avšak je zde několik německých literátů, týmž právem, touž náhodou, jako jich žije nebo žilo donedávna několik v Pešti. Literatura jest totiž něco jiného a něco více než skupina literátů, byť sebepočetnější, žijící v některém území nebo v některém místě.“ 11 Brod, Max: Tychona Brahe cesta k Bohu [Tycho Brahes Weg zu Gott]. Praha 1917. 12 Šalda, F. X.: Dvojí cesta do hlubin noci [Zweierlei Reise ans Ende der Nacht]. In: Šaldův zápisník, 6 (1933/34) H. 5, 155–160: „Nechci H. zabíjet srovnáváním s žádným velikým jménem světovým, ale přesto nemohu zamlčet, že má něco společného s Dostojevským právě v tom objevování nových muk, nových utrpení, prostouplých někdy podivně zvláštní pachutí rozkoše. A některými stranami svého důsledného a dalekozorného vizionářství připomíná zvěčnělého pražského Němce Kafku, kterým se začínají obírat nyní intenzívně Francouzi.“

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tschechischen Blick von außen in eine ungewollte Isolation hineinmanövriert worden. Pavel Eisner, der Herder-Anhänger,13 schreibt fast in Anlehnung an Nováks Feststellung über die mangelnde Verwurzelung dieser Autoren im einfachen Volk in seinem Essay Milenky (Geliebte): Die deutsche [sic!] Minderheit ohne Unterschied der Rasse hat hier keine tragenden sozialen Sockel,14 sie ist ein sozialer Überbau, unter dem nichts ist. Es fehlt der Granit der sog. Unterschichten, und gerade darauf will jeder Dichter ruhen. Wurzellos sucht der jüdische Dichter instinktiv den Ausgangspunkt und die Erlösung von der geistigen und seelischen Verzauberung und Verdammung, von diesem Ghetto in sich selbst. Und instinktiv flüchtet er sich zum tschechischen Weib. In ihm ist es alles in Überfluss vorhanden, was er vermisst. Ohne soziale Wurzeln kann man nicht schöpferisch leben. […] Man kann nur ein Vaihingersches Als ob leben; man kann in der kulturellen Esoterik des Geistes und des Wortes einen Ersatz für die direkt greifbaren, recht körperlichen Vitamine suchen, die dem Schöpfer sein organisches Milieu bietet. Aber mit diesem Surrogat kommt nur ein Schöpfer eines kleinen Formats aus. Wenn eine bedeutendere Erscheinung auftaucht – wir sehen es noch bei Brod und Werfel – beginnt sie einen elementaren Hunger nach Irdischem und Körperlichem zu spüren.15

Ein Hunger nach dem Boden, ja nach der Bodenständigkeit, eine Suche nach einem Gegengewicht zum Zerebralen im häufig jüdischen Mann, sei es z. B. Schurhaft in Brods Erzählung Ein tschechisches Dienstmädchen (1909), ist dann die slawische Frau. Ein Jahr nach Milenky entstand Pavel Eisners Vorwort Německá literatura v českých zemích (Die deutsche Literatur in den böhmischen Ländern) zur Anthologie Výbor z krásné prózy československé (Eine Auswahl aus der schönen tschechoslowakischen Prosa), auch hier verwendet er reichlich biologische Metaphern: 13 Er selbst bekennt sich in seiner Übersetzung der slowakischen Volkslieder zu Herder, wenn er die Übertragung als späten Nachtrag zu den ‚Stimmen der Völker in Liedern‘ bezeichnet. Eisner, Pavel: Slowakische Anthologie. Leipzig 1920 (= Insel-Bücherei, Bd. 130), 77. 14 „Nosný podklad“ könnte man auch mit „tragende Unterschicht“ übersetzen, die dann Arne Nováks erwähnter Bezeichnung Boden näher käme. Novák, Duch německé literatury, 387. 15 Eisner, Pavel: Milenky. Německý básník a česká žena [Geliebte. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau]. Praha 1930, 23: „Německá menšina bez rozdílu rasy nemá zde nosného sociálního podkladu, je to společenská nástavba, pod níž není nic. Schází žula těch takzvaných spodin, a právě v nich chce se každému básníku spočinout. Nemaje kořenů, hledá židovský básník pudově východisko a spásu z duchovního a duševního zakletí a prokletí, z toho ghetta v sobě. A pudově utíká se k české ženě. V ní je nazbyt všeho, co jemu schází. Bez sociálních kořenů nelze žít tvůrčím životem. […] lze žít vaihingerovským Als ob; lze hledat v kulturním esoterismu ducha i slova náhradu za ty přímo hmatatelné, přímo tělesné vitaminy, jež dá tvůrci jeho organické prostředí. Ale s tím surogátem vystačí jen tvůrce zcela malého formátu. Jakmile přijde větší zjev – uvidíme to na Brodovi a Werflovi – pocítí živelný hlad po zemi a tělech.“



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Da die deutsche Literatur, die in den böhmischen Ländern gediehen ist und gedeiht, nicht nur ein Teil des gesamtdeutschen Schrifttums, nicht nur eine repräsentative geistige Äußerung einer großen nationalen Minderheit im Staate ist: sie weist auch Werte auf, die unmittelbar an das Interesse des tschechischen Kulturmenschen appellieren, weil der Charakter und die Herkunft dieser Werte nur aus einer spezifischen Zusammenwirkung von Boden und geistigem Klima, aus einer unsichtbaren Zusammenarbeit von Scholle und Landschaft, aus dem Zusammenspiel von all dem, was einem Schöpfer die Heimat bieten kann; diese Heimat und dieses Herkunftsland, diese äußere und innere Heimat, die dem deutschen Stamm in den böhmischen Ländern den Begriff und das Wort Vaterland ersetzen muss, diese Heimat teilen diese Dichter mit den tschechischen Dichtern.16

Die Tschechen teilen also mit den Deutschen die Liebe zu demselben Land und sollten das nicht als Rivalität, sondern als einen verbindenden Zug wahrnehmen. Die allzu häufige Verwendung von Begriffen ‚Scholle‘, ‚Boden‘, ‚Rasse‘ (plemeno) erschwert die Einbeziehung von Eisners Argumenten in den heutigen Diskurs über die deutschsprachige Literatur aus Böhmen, und nicht zuletzt auch eine eventuelle Übersetzung von Eisners Texten für das heutige deutschsprachige Publikum, worauf auch Peter Demetz in einem Gespräch mit dem Verfasser hingewiesen hat. Viel akzeptabler klingt heute Eisners Formulierung aus dem literarhistorischen Überblick Německá literatura na půdě republiky československé (Die deutsche Literatur auf dem Boden der Tschechoslowakischen Republik), wo er über den „Regionalismus“ spricht: […] der reich gegliederte Regionalismus ist ein Zug, der lebhaft an die tschechische Literatur erinnert: Schließlich sind auch in ihr erga kai hémerai, die Taten und die Tage des Volks auf der Scholle ein unerschöpflicher Quell der Inspiration.17 16 Eisner, Pavel: Německá literatura v českých zemích [Die deutsche Literatur in den böhmischen Ländern]. In: Výbor z krásné prózy československé. Němci v českých zemích [Eine Auswahl aus der schönen tschechoslowakischen Prosa. Die Deutschen in den böhmischen Ländern]. Praha 1931, 5: „Neboť německá literatura, jež vyrostla a roste v českých zemích, je nejen platnou složkou celkové literatury německé, nejen reprezentativním duchovním projevem velké národní menšiny ve státě: má také hodnoty, jež bezprostředně apelují na zájem českého kulturního člověka, ježto si jejich povahu a původ vyložíme jen ze specifických vlivů půdy a duševního podnebí, z neviditelné spolupráce hroudy a krajiny, ze souhry všeho, co v umění může tvůrci dáti domov; ten domov a rodný kraj, ta vnější i vnitřní Heimat, jež německému kmeni v českých zemích nahrazuje pojem a slovo vlast – Vaterland, ten domov mají tito básníci společný s básníky českými.“ 17 Eisner, Pavel: Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů [Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR. Von 1948 bis in unsere Tage]. In: Československá vlastivěda. Díl VII. Písemnictví [Tschechoslowakische Heimatkunde. Bd. VII. Schrifttum]. Praha 1933, 325–377, hier 326: „[…] bohatě rozvětvený regionalismus je rys, který živě připomíná literaturu českou: vždyť i v ní jsou erga kai hémerai, díla i dnové lidu na hroudě, nevysychajícím

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Die verfremdende Verbindung des Fachbegriffs ‚Regionalismus‘, des griechischen Originaltitels mit der Übersetzung von Hesiods Lehrgedicht signalisieren eine ironische Distanz zu der Heimatliteratur. Manchmal habe ich den Eindruck, als verwende Eisner Begriffe wie ‚Scholle‘, ‚Rasse‘, ‚Heimat‘, die in dem Essay Milenky ebenfalls vorkommen, jetzt, nach der Machtübernahme Hitlers, plötzlich in einer ironischen Brechung, quasi als ein Zitatwort aus dem Diskurs der nationalistischen Provinz: […] um dieses Heimatland, diese Scholle in den Böhmischen Ländern kämpft der hier ansässige deutsche Stamm, und dieser Kampf spiegelt sich in vielen literarischen Äußerungen wider. 18

Ein paar Seiten weiter spricht er von der Existenz „verschiedener Heimatkünste“ („všelijakých ‚Heimatkunstů‘“), über „künstlerisch minderwertige Phänomene“ („o zjevech umělecky velmi podřadných, ba nulních“), die aber für die Erforschung deutsch-tschechischer Koexistenz und deren literarischer Darstellung bedeutend sind. Auch wenn er von einer sehr problematischen Koexistenz spricht, verwendet er das Wort ‚Symbiose‘.19 Eisner bevorzugt jetzt einen weniger metaphorischen Stil. In der Vlastivěda (Heimatkunde) schreibt Eisner zum Beispiel bei Watzlik über den Regionalismus, während er in seinem Milenky-Essay noch Ausdrücke „Scholle“, „Heimat“ und „Seele der Landschaft“ bemühte. Um vieles glücklicher ist Watzlik bei direkt regionalen Themen, die er mit einer beachtlichen mythologisierenden Kraft zu beseelen versteht […] mit elementaren Atavismen in den Wesen der heutigen Bergwelt. Unverhältnismäßig glücklicher ist Watzlik in den Werken eines unmittelbaren Regionalismus, die er mit einer bemerkenswerten mythenbildenden Kraft […] mit elementar wirkenden Atavismen in den Wesen des gegenwärtigen Berglandes ausstattet.20 pramenem inspiračním.“ – Vgl. in diesem Zusammenhang Eisner, Paul: Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR von 1848 bis 1933. Aus dem Tschechischen übersetzt, editiert und mit Einführung versehen von Michael Wögerbauer. In: Jahrbuch des Adalbert-StifterInstitutes des Landes Oberösterreich, 9 (2002/2003), 124-199, hier 126. Im Folgenden wird aus der deutschen Übersetzung zitiert. 18 Eisner, Die deutsche Literatur, 125. Eisner, Německá literatura, 13: „[…] o tuto domovinu, o německou hroudu v českých zemích bojuje německý kmen v ní usedlý, a tento boj se mnohými projevy obráží v literatuře.“ 19 Ebd., 130: „ein bestimmtes Phänomen oder ein Charakterzug für die Erkenntnis und die Erforschung der nationalen Symbiose und ihrer literarischen Rezeption von Bedeutung sind.“ Eisner, Německá literatura, 329: „[…] určitým projevem či rysem významným pro poznání a výzkum národnostní symbiosy v jejich slovesných odrazech.“ 20 Ebd., 138. „Nepoměrně šťastnější je Watzlik ve výtvorech bezprostředního regionalismu, jež dovede prodchnouti pozoruhodnou silou mýtotvornou […] živelnými atavismy v bytostech



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Sein älterer Essay ist ebenso kritisch gegenüber dem politisierenden Watzlik, distanziert sich aber allein schon durch die Wahl der Fachbegriffe weniger von ihm. Wo Watzlik die Heimatscholle verlässt, verfällt er einem ausufernden Manierismus, in eine verspielte läppische Schreibweise eines Sonderlings und einem unbewältigten Verbalismus, der jeder künstlerisch zielbewussten Architektonik zuwider läuft; mit glückbegabter Hand schreibt er dort, wo er sich völlig seinem heimatlichen Ort Neuern widmet und die Landschaft und deren Seele zu erfassen trachtet.21

Wenn Eisner über Komperts Erzählung Am Pflug schreibt, kommt die Scholle quasi als Zitatwort vor, das er gleich mit Hilfe von zwei objektivierenden Fremdwörtern übersetzt: Durch seine zentrale Forderung nach Arbeitsamkeit, Geselligkeit, nach einer ehrenhaften und vorbehaltlosen Zusammenarbeit zwischen den Religionen und ihren Menschen, mit seinem leidenschaftlichen Ruf nach der Scholle, der Agrarisierung und Manualisierung der Juden ist Kompert, der hier einen Teil des späteren zionistischen Programms vorweg nimmt, seiner Zeit weit voraus. 22

Es wäre schön, wenn meine Darstellung für den ganzen Text von 1933 zuträfe. Zu Recht kann man jedoch einwenden, später komme in dem Essay „Scholle“ doch wieder vor, ohne dass eine Distanz in Frage käme. Jakob Julius David, den Eisner sehr hoch schätzt, wird als „Stammesgenosse“ Komperts bezeichnet: Mit aufrichtigem Feuer schwärmte Kompert von der Scholle; sie tatsächlich und wesenhaft zu erleben, war seinem unverhältnismäßig größerem Stammesgenossen J. J. David gegönnt.23

pohorského dneška.“ 21 Eisner, Milenky, 7. „Kde se Watzlik uchyluje od rodné hroudy, upadá do přebujelé manýry, do podivínské hračkářské titěrnosti a nezvládnutého verbalismu, jenž dusí každou umělecky záměrnou architektoniku; šťastným tvůrcem je tam, kde přilne cele k nýrskému domovu a usiluje jen o podání krajiny a její duše.“ 22 Eisner, Die deutsche Literatur, 142. „Svým kmenovým požadavkem dělnosti, družnosti, čestného a bezvýhradného pracovního souručenství mezi vírami a jejich lidmi, svým vášnivým voláním po hroudě, agrarizaci a manualizaci Židů, je Kompert, předjímající část pozdějšího programu sionistického, daleko před svou dobou.“ Eisner, Německá literatura, 388. Der Übersetzer hat hier aus „kmenový požadavek“ bloß eine „zentrale Forderung“ gemacht. Die Schwierigkeiten, „kmenový požadavek“, „eine stammesmäßig artikulierte Forderung“ richtig zu begreifen und zu übersetzen, zeigt, wie fremd uns heute die Terminologie von „Stämmen“ und „Rassen“ geworden ist. 23 Eisner, Die deutsche Literatur, 146. Ders., Německá literatura, 340: „S upřímným zápalem horoval Kompert o hroudě; prožíti ji skutečně a bytostně dáno jeho nepoměrně většímu soukmenovci J. J. Davidovi.“

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Davids Charakteristik greift auf stereotype Vorstellungen und einen Wortschatz zurück, der überhaupt der Heimatkunst verpflichtet ist: Er ist eine stolze, aufrechte, knorrige Erscheinung, fand sich nie mit Wien und dem Geiste seiner Literatur ab und ist nur als Synthese seiner Stammesherkunft und des mährischen Bauerntums, der slawischen Landschaft und ihrer Menschen verständlich.24

Die Charakteristik der Titelgestalt aus Davids Erzählung Die Hanna zeigt zwischen dem Essay Milenky und dem Kapitel in der Vlastivěda keine Entwicklung, die sich bei Watzlik andeutete.25 Nur pleonastischer ist Eisner geworden. Manche terminologischen Extravaganzen, wie zum Beispiel „plemenná noetika“ (Rassenerkenntnis)26 in Bezug auf Ossip Schubins Frauengestalten, entfremden Eisners Text dem heutigen Leser. Eisners kritische Einstellung zur sudetendeutschen Heimatliteratur schlägt sich in seiner Wortwahl nur inkonsequent nieder. Die Anführungsstriche bei „hrouda“ und „domovina“ gelten beispielsweise in Passagen über die Egerländer Heimatliteratur eher der damit bezeichneten Thematik als dem Begriff selbst. Eisner hätte diese Terminologie überhaupt vermeiden müssen, um in seiner Geschichtsdarstellung die Optik der Heimatliteratur völlig auszuschließen. Bei Eisners Lob des jüdischen Autors Viktor Fleischer und seines Romans Wendelin und sein Dorf (1919)27 fragt sich der heutige Leser, ob vielleicht nicht nur die damalige Literatur dem Götzen Scholle und Heimat verfiel, sondern auch diejenigen, die den Götzen entlarven und den Tanz um ihn kritisch hätten reflektieren müssen. So lassen sich bei Eisner auch Urteile finden, die eine allzu oberflächliche Lektüre verraten. Es war sicher ein harter Brocken für den literarischen Feinschmecker Eisner, all diese Regionalliteratur zu verdauen. Wenn er dieses Kapitel nicht Mühlberger überlassen wollte, durfte er auch die Masse der Regionalliteratur nicht links liegen lassen, auch um dem enzyklopädischen Anspruch der Vlastivěda zu entsprechen. In seinem Artikel verwechselt Eisner Teschen in Schlesien (heute 24 Eisner, Die deutsche Literatur, 146. Ders., Německá literatura, 340: „Zjev drsný, nepodajný, sukovitý, který se nikdy nesžil s Vídní a duchem její literatury, vyložitelný jen jako syntéza plemenné krve a plně prožitého moravského selství, slovanské krajiny a jejich lidí.“ 25 Eisner, Die deutsche Literatur, 148: „in welcher das menschliche Individuum und die Scholle, auf der er geboren, subjektive, familiäre, landschaftliche, regionale, stammliche und nationale Determinanten untrennbar ineinander verschmelzen“. Ders., Německá literatura, 342: „[…] v níž nedílně splývá lidské individuum a jeho rodná hrouda, determinanty subjektivní i rodové, krajinné, regionální, kmenové, národní.“ 26 Eisner, Německá literatura, 345. 27 Ebd., 350: „Ne, nepropadli všichni křepčení kolem modly ‚hroudy‘ a ‚domoviny‘.“ [Nein, nicht alle sind dem wilden Tanz um die Götzen ‚Scholle‘ und ‚Heimat‘ verfallen.] Ders., Die deutsche Literatur, 160). Eisner distanziert sich hier von der damals häufigen (sowohl tschechischen als auch deutschen) Vorliebe für Heimatliteratur.



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Cieszyn bzw. Český Těšín) und Tetschen in Nordböhmen, die Stadt Děčín gegenüber Podmokly (Bodenbach), wenn er „der Tetschener K. W. Fritsch“ (děčínský K. W. Fritsch) schreibt.28 Er ist auch ungerecht, wenn er Fritschs Roman Um Michelburg mit den Werken von Pleyer, Fietz, Leibl und so vielen anderen gleichsetzt und pauschal abtut als „agitative und plakative Afterkunst von roher, manchmal sogar rabiater Machart, und zugestehen kann man ihr bestenfalls den Eifer ihrer politischen Intention“.29 Fritsch, einst Strobls Kollege im Landesfinanzamt in Brno (Brünn), hat gerade gegen die Schwarzweißmalerei bei der Darstellung des nationalen Konflikts, wie sie für Pleyer typisch ist, anschreiben wollen. Es steht allerdings fest, dass die letzten Kapitel des Romans weniger eindeutig wirken, als sie Fritsch dann später, als Mitglied der Kosmopolitischen Gesellschaft in Brünn, in einer Selbstdarstellung deutete.30 Ich glaube, Eisners Annäherung an Šalda und sein Abrücken vom Heimatdiskurs des Milenky-Essays ist nur teilweise geglückt. Als Šalda-Schüler bezeichnet ihn Arne Novák in den Přehledné dějiny literatury české (Die Geschichte der tschechischen Literatur im Überblick).31 Das galt von Seiten Nováks nicht unbedingt als Lob. Seit 1930 waren die beiden Literaturpäpste Šalda und Novák ja heftig zerstritten – nicht zuletzt wegen der Einstellung zu dem tschechischen Nationalisten Viktor Dyk und zu den „Ruralisten“, wie die Verherrlicher des Bauerntums Josef Knap, František Křelina, A. C. Nor und Jan Čarek in der tschechischen Literaturgeschichte bezeichnet wurden. Es ist heute schwer einzuschätzen, welche Kompromisse Eisner bei der Darstellung der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern machen musste beziehungsweise welchen Einfluss auf manche Formulierungen auch die Herausgeber des Bandes – Albert Pražák und Miloslav Novotný – hatten. Offensichtlich übernahm er manche ältere Formulierungen und wandelte nur einige ab. Sympathisch ist, dass er zwischen der selbstlosen Heimatliebe eines Jakub Julius David und der konjunkturalistischen Heimatliteratur der Zwischenkriegszeit zu unterscheiden versuchte. Romane von Watzlik oder Pleyer wurden von deutschen Verlagen wie Staackmann in Leipzig oder den Münchner Verlegern Albert Langen und Georg Müller gut honoriert oder vom Stuttgarter Institut für Auslandsdeutschtum großzügig gefördert. Eisners Sprache bei der Analyse dieser Literatur in der Vlastivěda, die zweifellose seine wichtigste Darstellung des Problems ist, weist leider Brüche auf. 28 Eisner, Německá literatura, 351 bzw. ders., Die deutsche Literatur, 161. 29 Ebd., 161–162; ders., Německá literatura, 351: „agitační a plakátové paumění faktury syrové a surové, jemuž lze leda přiznat horlivost politické tendence“. 30 Fritsch, Karl Wilhelm: Heinrich Herbatschek, Ist die Liebe tot? In: Die Wahrheit (Brünn), 3 (1921) H. 4, 55–57. Bei der Besprechung von Herbatscheks Roman weist Fritsch die vorherrschende Lesart seines Romans aus dem Jahre 1911 zurück: „Mein Um Michelburg hat man vielfach unsinnigerweise als ein nationales Propagandabuch angesehen…“ 31 Novák, Arne: Přehledné dějiny literatury české [Die Geschichte der tschechischen Literatur im Überblick]. 4. Aufl. Olomouc 1939, 872.

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3. Ein Bekenntnis zu Nadlers Literaturbetrachtung als Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften stellt Milan Rusinskýs literarische Studie Němečtí Slezané (Die deutschen Schlesier) dar.32 Der 1909 geborene Schüler Otokar Fischers schreibt einleitend über die Methode Nadlers, sie sei eine Reaktion auf die starke Verbreitung der Heimatkunst nach 1900 und eigentlich nur eine konsequente Umsetzung der Methode von Hippolyte Taine. Rusinský setzt voraus, dass Blut, Boden und ein gemeinsames historisches Schicksal einen Stamm – also die deutschen Schlesier – entstehen ließ, zu dem er Gerhart und Carl Hauptmann, Paul Keller, Hermann Stehr, aber auch Emil Hadina, Bruno Hans Wittek und August Scholtis zählt. Die Terminologie der Heimatkunst verkümmert oft zu einem leeren Argument, das eine tiefere Auseinandersetzung mit der Form und Wirkungsstrategie des Werkes ersetzt, wie beispielsweise im Fall von Emil Hadina: E. Hadinas künstlerische Begabung und Ausdruck wurzeln im Boden der österreichischen Donaulandschaft. […] Die Sehnsucht nach seinem Heimatland, nach den sonnigen Abhängen an der Donau beklagt er in seinen Novellensammlungen […].33

Es erweckt bei mir, der über Hadina seine Dissertation schrieb, den Eindruck, Rusinský geht mechanisch von Hadinas Geburtsort Wien aus. Seit seinem achten Lebensjahr war Hadina schon in Troppau, in Wien verbrachte er dann fünf Jahre 1913–1918 als junger Gymnasiallehrer. Diese Zeit war wohl wirklich für sein Werk prägend, eher aber dank der Kontakte mit Müller-Guttenbrunn und anderen Staackmann-Autoren. Wien ist in Hadinas frühen Novellen wie Suchende Liebe eher die verführerische Großstadt, der das „kerngesunde Leben“ in Thüringen gegenübergestellt wird.34 Die Arbeit begann Rusinský noch unter dem deutschen Titel Das Charakteristische des modernen schlesischen Schrifttums im Frühjahr 1932 in Münster bei K. H. Meyer und seinem Sekretär Eugen Lemberg zu schreiben und vollendete sie in München. Die Widmung an Otokar Fischer könnte wie ein Hohn wirken, wäre die Rezeption von Nadler nicht auch bei Otokar Fischers nachweisbar.35 Die der 32 Rusinský, Milan: Němečtí Slezané. Literární studie [Die deutschen Schlesier. Eine literarische Studie]. Opava 1933, 8. 33 Ebd., 32: „E. Hadina neustále tkví kořeny svého uměleckého nadání i výrazu v rakouské půdě podunajské krajiny. […] Stesk po rodném kraji, slunných stráních u Dunaje žaluje ve svých sbírkách novel.“ 34 Hadina, Emil: Suchende Liebe. Ein Buch von Frauen und Heimweh. Leipzig 1919. 35 Georg Escher erwähnt in seinem Beitrag im vorliegenden Band den Artikel Fischer, Otokar: Literaturhistorische Raumkunde. In: Prager Presse, 13. 1. 1929, Nr. 13, Beilage Dichtung und Welt, 1–3.



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Arbeit zugrunde liegende Opposition von Heimatkunst und Asphaltkunst prägt auch den vielerseits als skandalös empfundenen Artikel von Ivo Liškutín.

4. Auch Liškutín war Stipendiat an deutschen Universitäten, und in der Tschechoslowakei war er Schüler des konservativen Brünner Bohemisten Arne Novák. Liškutíns Identifizierung mit dem Heimatdiskurs – samt seinen antisemitischen Komponenten – hatte schwerwiegende Folgen für die Berufslaufbahn des Brünner Germanisten. Im Januar 1934 berichtet Ivo Liškutín, damals noch nicht 28 Jahre alt, über das Nové Německo (Das neue Deutschland), und glaubt den Tschechen, die nur von der linken Presse informiert seien, das Positive an der „Umschichtung“ in Deutschland erklären zu müssen.36 Die Bücherverbrennung, die Rassendiskriminierung, die Ausschaltung aller politischen Gegner betrachtet er als bedauerliche Begleiterscheinungen, die konstruktiven Kräfte im Dritten Reich, die nationale Aufbruchsstimmung seien ihm wichtiger. Der Absage Romain Rollands an das Nazi-Deutschland lässt er gleich die Antwort Rudolf G. Bindings folgen, der die Bücherverbrennung und den Antisemitismus als Randerscheinungen sieht, aber das gemeinsame Erlebnis und das allgemeine Bekenntnis „aller zu allen“, „zu Ahnen und Enkeln“, „zum Blut und zum Volk“ hervorhebt. Liškutín weist auf die Tradition der Ausschließung der Juden aus der deutschen Literatur bei Adolf Bartels und Josef Nadler hin. Er will die Auswahl der übersetzten Autoren in der Tschechoslowakei dahingehend korrigieren, dass nicht nur die Gebrüder Mann, nicht nur jüdische Autoren wie Emil Ludwig, Stefan Zweig, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger und Erich Maria Remarque, sondern auch Hans Carossa, Adolf Menschendörfer, Edwin Erich Dwinger, Karl Heinrich Waggerl und andere dem tschechischen Leser vorgestellt werden, die bisher „künstlich totgeschwiegen wurden“. Dass es damals – im Unterschied zu Hitlerdeutschland – in der Tschechoslowakei noch einen freien Büchermarkt gab, vergaß er offenbar. Das wichtigste Argument war für ihn:

36 Liškutín, Ivo: Nové Německo. Několik myšlenek k situaci [Das neue Deutschland. Einige Gedanken zur Situation]. In: Lumír, 60 (1934) H. 2, 72–81 u. 60 (1934) H. 3, 136–142. In dem Artikel schreibt Liškutín, der Hitler – im Unterschied zu Mussolini – nicht als Diktator bezeichnet, unter anderem: „Hitler gelang es den Kern der nationalsozialistischen Bewegung im Volk selbst zu wecken, dadurch bekommt die Aktion eine mitreißende elementare Kraft und schichtet das Volk nicht nur politisch, sondern auch kulturell um.“ [Hitlerovi se podařilo založit ohnisko národně socialistického hnutí v lidu samém, čímž akce dostává strhující živelnost a převrstuvuje národ nejen politicky, nýbrž i kulturně.] Ebd., 142.

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Die deutsche Seele ist in ihnen viel reichhaltiger enthalten als in denen, die wir übersetzten und in denen viel Asphaltliteratur steckt.37

Nach einem Sturm der Entrüstung, dem Bedřich Václavek, Vojtěch Jirát, Otokar Fischer, Antonín Matěj Píša, Pavel Eisner und andere ihre Stimme verliehen,38 versuchte Arne Novák seinen Schüler, der inzwischen von Will Vesper in der Neuen Literatur gelobt worden war, in Lumír zu verteidigen. Kesten oder Kästner sind auch für Arne Novák „Asphaltliteratur“;39 Kisch, dessen gesammelte Werke auf Tschechisch erscheinen, sei ein erstklassiger Journalist, aber kein Dichter, der eine solche aufwändige Werkausgabe verdiene. Novák verwirft die Antikriegsliteratur von Remarque, den Šalda für „seine Kunst zu sehen“ lobte.40 Er lehnt Remarques Romane ab, weil damit der Defätismus im tschechischen Volk gefördert und die tschechische Neigung zu einer Schwejkschen Haltung unterstützt werde. Diese Literatur bestreite die Möglichkeit eines Heldentums, eines sinnvollen Opfers, der Verantwortung und des Gewissens. Er fasst seine Verteidigung Liškutíns folgendermaßen zusammen: Wir glauben, im Sinne Viktor Dyks zu handeln, wenn wir bei den Autoren des Nachbarvolkes das billigen und achten, was wir auch von unseren Autoren verlangen […] wir sind beeindruckt von den Bemühungen des deutschen Nationalsozialismus, aus der Fülle des

37 Ebd., Nové Německo,138: „Duše německá jev nich mnohem bohatěji obsažena na rozdíl od těch, jež překládáme a v nichž opravdu mnoho literatury asfaltové.“ 38 B. V. [Václavek]: Hitlerovi panoši [Hitlers Knappen]. In: Index, 6 (1934) H. 4, 39; J. J. P. [Paulík]: Kursiva [In Kursivschrift]. In: Rozpravy Aventina, 9 (1933/34) H. 10, 87; P. Eisner: Nové Německo, nová germanistika a dva dotazy [Das neue Deutschland, die neue Germanistik und zwei Fragen]. In: Ebd., 9 (1933/34) H. 11, 95–96; L. [P. Levit]: Literární historik a asfalt [Ein Literaturhistoriker und der Asphalt]. In: Listy pro umění a kritiku, 2 (1934) H. 2, 10; V. Jirát: Jeden případ [Ein Fall]. In: Ebd., 2 (1934) H. 5, 33; O. Fischer: Lumír [Die Zeitschrift Lumír]. In: Lidové noviny, 8. 4. 1934, Nr. 177; AMP. [A. M. Píša]: Pour le roi de Prusse [Für den preußischen König]. In: Právo lidu, 15. 4. 1934, Nr. 128; amp. [A. M. Píša]: Poznámka [Eine Bemerkung]. In: Ebd., 6. 5. 1934, Nr. 149, 9; ders.: Na výsluní hakenkrajclerské přízně [Sich in der Hakenkreuzlergunst sonnen]. In: Ebd., 10. 6. 1934, Nr. 184, 9. 39 Novák, Arne: Lumír a literatura Nového Německa [Lumír und die Literatur des Neuen Deutschlands]. In: Lumír, 60 (1934) H. 6, 321–325. Auf Seite 322 heißt es : „Ist es wirklich nur ein wenig streng, wenn man Kestens oder Kästners Bücher, die unnötigerweise so überstürzt ins Tschechische übersetzt wurden, als Asphaltliteratur bezeichnet?“ [ Je opravdu jen trochu přísné, označí-li se knihy Kestenovy neb Kästnerovy, s tak zbytečným chvatem zčeštěné, jako literatuta asfaltová?] 40 Šalda, F. X.: Dva německé romány válečné [Zwei deutsche Kriegsromane]. In: Šaldův zápisník, 2 (1929-1930), H. 2/3, 75–80, insb. 75.



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gemeinschaftlichen Lebens des Volkes und aus seiner Zusammengehörigkeit mit Boden und Tradition Literatur zu schreiben.41

Liškutín sollte – so Novák – nicht nur die in Deutschland offiziell anerkannten Autoren nennen, sondern auch diejenigen, die von den vom germanischen Heidentum berauschten Hitler-Anhängern vernachlässigt werden – Autoren wie Jakob Kneip oder Franz Herwig, Servatius Josef Ponten oder Hermann Hesse, ja die von den Nazis verbrannten Werke Arnold Zweigs und Josef Roths.

5. Die vorliegende Untersuchung zur Wortwahl Paul Eisners im Kontext eines Teils der zeitgenössischen tschechischen Germanistik zeigt, dass Eisners Sprachgebrauch, der seine Milenky, aber auch seine Charakteristik etwa von Jakob Julius David heute so antiquiert erscheinen lässt, durchaus nicht nur auf seine Prägung durch August Sauer zurückgeht. Diese Terminologie war nämlich auch unter Tschechen ziemlich verbreitet. Der einflussreiche Germanist und Bohemist Arne Novák bekennt sich zu konservativen Werten wie „nationale“ oder „völkische Eigenständigkeit“ (národní osobitost, národní svébytnost), die er auch bei Autoren in NS-Deutschland zu finden glaubt.42 Metaphern wie „plemenná síla“ (Kraft der Rasse), und „kořenná rázovitost“ (wurzelhafte Eigenart), früher bedenkenlos verwendete Begriffe bei Nováks Charakteristik von Karel Matěj Čapek Chod,43 den er schätzte und der Šalda, dem Förderer der tschechischen Avantgarde, zuwider war, verlieren nach der Bücherverbrennung im Mai 1933 ihre Harmlosigkeit. Auch Arne Nováks Darstellung des Spätwerks des Brünner Prosaisten Josef Merhaut kommt an diesem Wortgebrauch nicht vorbei: „Rassenmystik des Blutes, eine läuternde Verherrlichung des Geburtsbodens“ (plemenná mystika krve, očistné zbožnění rodné půdy) würden vielleicht vor 1923 im Literarischen Echo, einer Zeitschrift, deren Mitarbeiter Arne Novák war, gar nicht auffallen.44 Nach 80 Jahren, in 41 Novák, Lumír a literatura, 321–322: „Myslíme, že jednáme v intencích Viktora Dyka, jestliže u autorů sousedního národa uznáváme a ctíme to, čeho žádáme po spisovatelích našich […] imponuje nám úsilí národního socialismu německého, vytvořiti literaturu z plnosti hromadného života lidového a s jeho souvislosti s půdou a tradicí.“ 42 Ebd., 323. 43 Novák, Přehledné dějiny, 1004: „Er brachte aus seiner Heimat eine Rassenstärke und eine knorrige Urwüchsigkeit mit, aber auch eine durchdringende Erkenntnis der Sitten, der Charaktere und der Sprache der tschechischen und deutschen Bevölkerung im äußersten Westen Böhmens. Román Jindrové (1921).“ [Přinesl si z rodného kraje plemennou sílu i kořennou rázovitost, ale i pronikavé poznání mravů, povah a jazyka českého a německého obyvatelstva na nejkrajnějším západě Čech.] 44 Ebd., 1013.

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einer Zeit, die die Nationen als „imagined communities“ wahrnimmt, scheint ein Ausdruck wie „Rassenmystik des Blutes“ durchaus bedenklich. Die katastrophalen Folgen des Nationalismus und der Rassenideologie haben uns dafür hellhörig gemacht. Die Polemik gegen Ivo Liškutín und seinen Artikel Nové Německo in der Zeitschrift Lumír zeigt die politischen Konsequenzen, die die mit dieser Metaphorik verbundene Literaturauffassung nach sich zog. Pavel Eisner, ein Schüler August Sauers, hat ähnliche Begriffe zuerst auch nicht gemieden, und erst seine Polemik gegen Liškutín zwang ihn, aus dem Bann des Heimatdiskurses auszubrechen.45 Eisner verwendet seine Beredsamkeit, um die Absurdität des Schimpfwortes „Asphaltliteratur“ zu beweisen und frühere ‚biologische‘ Metaphern in der Terminologie der Literaturbeschreibung zu desavouieren, indem er spöttisch fragt: Ja schon – was ist die Asphaltliteratur? Ist es eine Literatur der Literaten, der Vielschreiber? Ist es die Literatur einer sterilen großstädtischen Bildungsschicht, die der duftenden lockeren Scholle und ihren Wortkunstfrüchten den Rücken gekehrt hat, etwas in der Art so abscheulicher Asphaltler wie, sagen wir, Balzac und Baudelaire? […] Ist es die Literatur der faulenden Buchten im Unterschied zu den frohlockenden Stromschnellen, in denen vom Hochgebirge des Geistes sich das reine Schaffen herunterstürzt und den gesamten Volksacker befruchtet? Ist es die Literatur eines Itzig und der itziggewordenen Individuen?46

Pavel Eisner erklärt, er sei kein spezialisierter Naturwissenschaftler, um das zu untersuchen, was Dr. Liškutín als „ein erwachendes neues und gesundes Leben in der deutschen Literatur bezeichnet, das unaufhaltsam das Blut in alle Glieder treibt.“ Eisner bekennt sich zur Prager Germanistik einschließlich ihrer jüdischen Professoren Arnošt Kraus und Otokar Fischer, „die ohne nadlerische, cysarzische und andere Obstauflaufsorten“ auf ihrem Lehrstuhl auskommen.47 Mit dem Stichwort „Asphaltliteratur“ wurde auch Pavel Eisner für die Folgen der Verwendung der einst harmlos scheinenden Terminologie hellhörig.

45 Eisner, Nové Německo. 46 Ebd., 96: „Ano – co je to asfaltová literatura? Je to literatura literátská, pisálkovská? Je to literatura sterilního velkoměstského vzdělanectva v odklonu od vonné kypré hroudy a jejich slovesných darů, něco na způsob takových odporných asfaltiků, jako řekněme, Balzac a Baudelaire? […] Je to literatura zahnívajích zátok na rozdíl od jásavých peřejů, jimiž se z věčných velehor ducha vrhá skutečná čistá tvorba zúrodňující celou líchu národa? Je to literatura Iciků a individuí poicikovštělých?“ 47 Ebd., 95.

Lucie Kostrbová

Vrchlický – Sova – Březina. Eisners erste Buchveröffentlichung und ihre Kontexte Paul Eisners erste Publikation Tschechische Anthologie: Vrchlický – Sova – Březina, die im Juni 1917 als 21. Band der von Hugo von Hofmannsthal redigierten Österreichischen Bibliothek erschien, stellt eine der wichtigsten Quellen dar, wenn man sich mit Eisners frühem Verständnis von der kulturellen Vermittlung beschäftigt. Dies trifft umso mehr zu, als in seinem Nachlass nur sehr wenige Zeugnisse aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der frühen Tschechoslowakischen Republik überliefert sind. Was verstand Eisner zu jener Zeit unter kultureller Vermittlung? War er bereits damals der Auffassung, dass die Juden in den böhmischen Ländern die „organische […] Funktion einer Kulturbrücke zwischen den Völkern“ ausübten – wie er es später, Anfang der 1930er Jahre, formulieren sollte?1 Eisner konnte sich nach seiner eigenen Aussage weder mit den Deutschen – er lehnte insbesondere die ‚Assimilation‘ der böhmischen Judenheit an die deutsche Kultur ab – noch mit den Tschechen völlig identifizieren. Seine Hinwendung zur tschechischen Literatur spiegelt indes den Einfluss beider Sprachen und Kulturen wider, die er durch seine Arbeit als Übersetzer einander näher bringen wollte. Sein Verständnis von der „Kulturbrücke“ lässt sich daher keinesfalls als neutrales Medium bestimmen – als bloße Übertragung der tschechischen Literatur ins Deutsche, sondern vielmehr als Modifikation des zu Vermittelnden. Die räumliche Metapher der „Kulturbrücke“, die den Vermittler zwischen zwei gegensätzliche Bereiche (neu) zu verorten versucht, wobei diese gerade durch die Vermittlung verändert werden sollen, ist für die Prager deutschsprachige Judenheit der Generation Paul/Pavel Eisners symptomatisch. Scott Spector zufolge kam in der Vermittlungstätigkeit ihre Sehnsucht nach einem eigenen Raum zum Ausdruck.2 Bereits während des Ersten Weltkrieges, als sich die kulturelle Vermittlungsarbeit intensiviert hatte, unterschied sich Eisner deutlich von seinen Zeitgenossen wie Franz Werfel und Max Brod, deren Werke er in den 1920er und 1930er Jahren propagierte. Eisners ästhetische Ansichten erweisen sich vor allem im Vergleich zu seinen gleichfalls sehr aktiven Übersetzerkollegen, wie Otto Pick und Rudolf Fuchs, als traditionalistisch und 1 Eisner, Pavel: Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů [Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR. Von 1848 bis in unsere Tage]. In: Československá vlastivěda. VII. Písemnictví [Tschechoslowakische Heimatkunde. VII. Schrifttum]. Praha 1933, 325–377, hier 328. 2 Spector, Scott: Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin de Siècle. Berkley/Los Angeles/London 2000, 233.

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geisteswissenschaftlich geprägt. Er gab der Konzeption zweier getrennter Literaturen den Vorzug gegenüber dem künstlerischen Internationalismus und der Avantgarde. Seine Deutung der tschechischen Lyrik – denn bei einer Anthologie handelt es sich durch Auswahl und Übersetzung bereits um Interpretationen – wurde dabei von der Konzeption der Österreichischen Bibliothek maßgeblich beeinflusst. Als weitere wichtige Entstehungskontexte lassen sich die tschechische Literaturkritik und -geschichte benennen sowie ältere deutsche Übersetzungen tschechischer Poesie, parallel entstehende Übersetzungsprojekte, die Germanistik und neue psychologische Ansätze in der Literaturwissenschaft. Im Folgenden sollen diese verschiedenen Kontexte der Entstehungsgeschichte der Tschechischen Anthologie in Bezug auf Eisners Auffassung der kulturellen Vermittlung analysiert werden. Übergreifend wird danach gefragt, ob es sich bei der Vermittlung um eine bestimmte kulturelle Strategie handelte, mit deren Hilfe sich insbesondere jüdische Künstler und Intellektuelle verschiedenen ideologischen Zwängen zum Trotz ihren eigenen identitätsstiftenden Raum schufen.

1. Hofmannsthal und das Projekt der Österreichischen Bibliothek Die Österreichische Bibliothek, die zwischen 1915 und 1917 in 26 Bänden erschien, gehörte zusammen mit dem Kinderbuch über Eugen von Savoyen, der geplanten repräsentativen Publikation Ehrenstätte Österreichs und dem Literaturalmanach für das Jahr 1916 zu Hofmannsthals patriotischen Projekten.3 Die Österreichische Bibliothek ging auf seine Idee von Österreich zurück. Sie sollte die geistige Einheit der Monarchie veranschaulichen, das kulturhistorische Zusammengehörigkeitsgefühl bei allen ihren Bevölkerungsschichten fördern sowie das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der „heiligen“ Mission einer Monarchie erwecken, die sich als Erbin zweier Imperien verstand. In diesem Sinne schrieb Hofmannsthal in seiner „Ankündigung“ der Österreichischen Bibliothek: Unser Schicksal aber ist härter, unsere Sendung besonderer: uralter europäischer Boden ist uns zum Erbe gegeben, zweier römischer Reiche Nachfolger sind wir auf diesem, das ist uns auferlegt, wir müssen es tragen, ob wir wollen oder nicht: heilig und schicksalsvoll ist der Heimatboden.4

Die Edition war daher zum einen Schlüsselfiguren der Geschichte und Kultur Österreichs und der Habsburgerdynastie gewidmet, wie zum Beispiel Maria There3 Vgl. Lunzer, Heinz: Hofmannsthals politische Tätigkeit in den Jahren 1914–1917. Frankfurt am Main/Bern 1981, 318–327. 4 Hofmannsthal, Hugo von: Österreichische Bibliothek. Eine Ankündigung. In: Hofmannsthal, Hugo von: Reden und Aufsätze II. Frankfurt am Main 1979, 434.



Vrchlický – Sova – Březina. Eisners erste Buchveröffentlichung

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sia, Franz Grillparzer oder Ludwig van Beethoven,5 zum anderen präsentierte sie Volkspoesie.6 Hofmannsthal war von Anfang an klar, dass seine Edition nur dann Anspruch auf Universalität erheben könne, wenn sie die „slawischen Völker“ der Monarchie, vor allem die Tschechen, berücksichtigt. In seiner damaligen Kriegspublizistik stellte er daher die österreichische Idee in einen immer schärferen Gegensatz zu Deutschland.7 Dies wird auch in einem Brief an den Journalisten Bedřich Hlaváč8 vom Juli 1915 deutlich, in dem Hofmannsthal betont, dass Österreich gerade gegenüber Deutschland nicht seine deutsche Kultur, sondern vielmehr seinen multinationalen Charakter hervorheben solle: Dass der Deutsche draussen Grillparzer, Radetzky und Friedjung bereits kennt, ganz andere Dinge ihm aber gezeigt werden müssen, damit er ahnen lerne, welch ein besonderes, vielsäftiges Individuum Oesterreich sei […].9

Hofmannsthal teilte Hlaváč außerdem mit, dass in der Österreichischen Bibliothek bereits ein Buch über Comenius erschienen sei und er sich weitere Bände vorstellen könne, die tschechischen Persönlichkeiten gewidmet sind.10 Er dachte hier etwa an Jan Hus, Ján Kollár, Karel Havlíček, František Palacký sowie an die Dichter Josef Svatopluk Machar und Otokar Březina. Zudem regte er einen Band zur tsche5 Außerdem: Kaiser Joseph II., Prinz Eugen von Savoyen, Fürst von Metternich, Marschall Radetzky, Walther von der Vogelweide, Nikolas Lenau, Franz Schubert u. a. Vgl. hierzu Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit, 318. 6 So enthält beispielsweise der Band 24 eine Auswahl von Alpenerzählungen. Vgl. Pirkner, Max (Hg.): Alpensagen. Leipzig 1917. 7 Vgl. Hofmannsthal, Reden und Aufsätze II. 8 Bedřich Hlaváč (1868–1936) stammte aus einer tschechisch-jüdischen Familie und lebte zwischen 1895 und 1919 in Wien. In dieser Zeit schrieb er für diverse deutsch- und tschechischsprachige Zeitungen und Zeitschriften, darunter für Die Zeit, Čas (Die Zeit) und Naše doba (Unsere Zeit). Über den langjährigen Mitarbeiter der Zeit, Josef Redlich, knüpfte er Kontakt zu Hofmannsthal. Hlaváč, der mit Masaryk gut bekannt war, zog nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik nach Prag. Hier wurde er Chefredakteur der Wochenzeitung Tribuna (Die Tribüne) und veröffentlichte darüber hinaus Artikel in den Lidové noviny (Volkszeitung), Prager Presse und Rozvoj (Entwicklung). Zu seiner Karriere als Journalist und seiner Beziehung zu Masaryk vgl. Doubek, Vratislav/Kučera, Martin: Korespondence T. G. Masaryk – Bedřich Hlaváč [Die Korrespondenz T. G. Masaryk – Bedřich Hlaváč]. Praha 2001. 9 Stern, Martin (Hg.): Hofmannsthal und Böhmen (2). Die Rolle der Tschechen und Slowaken in Hofmannsthals Österreich-Bild der Kriegszeit und seine Prager Erfahrung im Juni 1917. In: Hofmannsthal-Blätter, (1969) H. 2, 102–127, hier 107. 10 Stern, Hofmannsthal und Böhmen. Siehe auch Comenius und die böhmischen Brüder. Ausgewählt und eingeleitet von Friedrich Eckstein. Österreichische Bibliothek Nr. 13. Leipzig o. J. [1915].

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chischen Volkspoesie an. In seinem Brief an Hlaváč brachte Hofmannsthal indirekt auch seine Hoffnung auf eine Zusammenarbeit mit tschechischen Autoren und Übersetzern zum Ausdruck. Hofmannsthals Behauptung, die deutschsprachigen Österreicher hätten mangelnde Informationen über die tschechische geistige Tradition und Literatur,11 legt nahe, dass sein eigenes Interesse für die Tschechen erst durch den Krieg geweckt wurde. Eine ganze Reihe von Ansätzen der kulturellen Annäherung fand bei ihm offenbar wenig Beachtung – nicht zuletzt die offene Bevorzugung der Tschechen seitens seines Freundes Hermann Bahr, der seit Anfang der 1890er Jahre in engem Kontakt zu tschechischen Intellektuellen stand.12 Die Österreichische Bibliothek brachte nicht den erwarteten Erfolg. Die einzelnen Bände fanden ein viel geringeres Echo, als Hofmannsthal gehofft hatte, und so musste das Projekt im Sommer 1917 schließlich aus finanziellen Gründen eingestellt werden. Die tschechische Literatur wurde einzig in der von Eisner zusammengestellten Anthologie gewürdigt. Als Hofmannsthal im Juni 1917 in Prag mit mehreren Übersetzern, Schriftstellern und Künstlern zusammentraf, war Eisner derjenige, der die Idee der Österreichischen Bibliothek am ehesten begrüßte. Der Prager Besuch stellte, wie in der Literatur schon mehrfach betont wurde, eine entscheidende Wende in Hofmannsthals Wirken während des Ersten Weltkriegs dar.13 Die in persönlichen Gesprächen zum Ausdruck gekommene starke antiösterreichische Haltung vieler tschechischer Intellektueller, wie etwa Jaroslav Kvapils, Arne Nováks, František Xaver Šaldas, Otokar Fischers, Blažena Fischerovás, Karel Kramářs und selbst Paul Eisners, hatte Hofmannsthal überrascht. Er war von ihrer Prinzipientreue und ihrem nationalen Bewusstsein geradezu schockiert. Seine späteren privaten Korrespondenzen zeugen 11 Hofmannsthal schrieb beispielsweise in einem Brief an Hermann Bahr vom 15. Oktober 1915: „Ich frage mich, wenn sie [die Tschechen, L. K.] etwas haben, was grosse Litteratur [sic, L. K.] ist, seien es Gedichte, Novellen, was immer, analog zu Puschkin, zu Gogol, zu Gontscharow – warum man es nicht kennt?“ Zitiert nach Stern, Hofmannsthal und Böhmen (2), 106. 12 Vgl. Ifkovits, Kurt (Hg.): Hermann Bahr – Jaroslav Kvapil. Briefe, Texte, Dokumente. Bern u. a. 2007, 461–672, sowie Kostrbová, Lucie: Mezi Prahou a Vídní. Česká a vídeňská moderna na konci 19. století [Zwischen Prag und Wien. Die tschechische und Wiener Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts]. Praha 2010 [im Druck]. 13 Vgl. Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit, hier 241–248; Stern, Hofmannsthal und Böhmen (2); Stern, Martin: Hofmannsthal und Böhmen (3). Hofmannsthals Plan einer „Tschechischen Bibliothek“ (1918). Ein Aufklärungswerk für die Deutschen. Mit unveröffentlichten Briefen und Notizen von und an Paul Eisner, Franz Spina und Ottokar Winicky. In: Hofmannsthal-Blätter, (1969) H. 3, 195–215; Stern, Martin: Hofmannsthal und Böhmen (4). Die Aufnahme der Prosaischen Schriften III in Prag und Hofmannsthals Haltung zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918. Mit einem unveröffentlichten Brief und Aufsatz von Arne Novák sowie Briefen von und an Otokar Fischer und Blažena Fischerová. In: Hofmannsthal-Blätter, (1970) H. 4, 264–286.



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von dieser Angst vor den Tschechen, zugleich aber auch von einer gewissen Bewunderung für sie. Im Januar 1918 schrieb Hofmannsthal dem Juristen, Kunsthistoriker und Industriellen Eberhard Bodenhausen: Die Entschlossenheit dieses Volkes gegen uns, und der Stolz darin und die Überhebung, die fast frevelhafte Vorwegnahme einer Zukunft – die ja so, wie sie sie träumen, nie kommen wird – und wie sie in diesem Kampf alles zusammennehmen, alles beieinander haben, ihre Vergangenheit ganz, ihre hussitischen Taten u. Leiden und Frevel u. Heiligtümer, ihre Jahrhunderte alle flügelschlagend mit ihnen – ich weiß nicht, mit was für einem Gefühl ich nach Haus gekommen bin, es war so vermischt, Beklommenheit und Sorge und etwas Fascination.14

Hofmannsthal begriff in Prag, dass seine österreichische Idee auf die meisten Tschechen nicht integrativ wirkte. Ein großer Teil der Intellektuellen und Politiker teilte Masaryks Interpretation der tschechischen Geschichte und den Gedanken eines unabhängigen Nationalstaates und unterstützte die tschechische Auslandsaktion. Hofmannsthals Prag-Besuch fand nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Manifests der tschechischen Schriftsteller statt. Die Schriftsteller wandten sich mit diesem Manifest an die tschechischen Reichstagsabgeordneten, deren loyale und aktivistische Politik sie ablehnten. Mit der Aussicht auf ein demokratisches Nachkriegseuropa der freien Völker forderten sie die tschechischen politischen Repräsentanten auf, die nationalen und staatsrechtlichen Interessen vehement durchzusetzen.15 Hofmannsthals Bemühungen, Schriftsteller wie etwa den politisch verfolgten Dichter Josef S. Machar für die österreichische Idee zu gewinnen, hielten seine tschechischen Kollegen daher von vornherein für vergeblich.16 Diese ideologischen Auseinandersetzungen und ihre Folgen stellten für Hofmannsthal den tragischen Abschluss der österreichischen Geschichte dar. In dem bereits zitierten Brief an Bodenhausen schreibt er den Tschechen die Rolle von Ketzern und fanatischen Reformatoren zu. Sie trügen nun zum endgültigen Niedergang Österreichs bei. Das „tausendjährige, heilige römische Reich deutscher Nation“ solle durch „ein[en] glatte[n], platte[n] Nationalstaat“ ersetzt werden, so Hofmannsthal.17 Dennoch versuchte er die tschechischen nationalen Bestrebungen zu lenken und zwar durch die Gründung einer Tschechischen Bibliothek. Diese sollte 14 Hugo Hofmannsthal an Eberhard Bodenhausen, 10. 7. 1917. Zitiert nach Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit, 246. 15 Das Manifest der čechischen Intellektuellen ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Stern, Hofmannsthal und Böhmen (2), 121–123. 16 In seinem Brief an Hofmannsthal vom 15. Januar 1918 lehnte Otokar Fischer die „österreischische Psyché“ bezeichnenderweise als „Konstruktion, Legende und Mythos“ ab. Siehe Stern, Hofmannsthal und Böhmen (4), 271. 17 Vgl. Hugo Hofmannsthal an Eberhard Bodenhausen, 10. 7. 1917. Zitiert nach Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit, 246.

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mehr Informationen bieten, und die ‚tschechische Frage‘ zugunsten einer gemeinsamen Zukunft lösen.18 Nach seinem Besuch in Prag war Hofmannsthal zu der Überzeugung gelangt, dass Böhmen über die Zukunft Österreichs entscheide. Er bemühte sich daher, der vermeintlichen tschechischen Destruktivität etwas Positives abzugewinnen – eine geistig und sittlich „regenerierende Kraft, die von hier aus für Österreich ausgehen könnte“.19 Hofmannsthal beauftragte Eisner, den er in einem seiner Briefe an Rudolf Pannwitz als seinen „Vertrauensmann“ bezeichnete,20 mit der Leitung der Tschechischen Bibliothek.21 Aus diesem Briefwechsel geht ebenfalls hervor, dass die konzeptionelle Ausrichtung der Bibliothek zum Großteil von Šalda beeinflusst wurde. Dieser war Eisners wichtigster Berater und zugleich der einzige tschechische Autor überhaupt, der dem Anthologie-Projekt während des Ersten Weltkriegs nicht ablehnend gegenüber stand, wenngleich er „vollkommenste Freiheit und Unbefangenheit der Mitarbeiter“ verlangte.22 Die Tschechische Bibliothek kam jedoch nicht mehr zustande. Eisner schickte viele seiner Übersetzungen noch während des Ersten Weltkriegs an Rudolf Pannwitz, der diese als Grundlage für sein 1919 veröffentlichtes Buches Der Geist der Tschechen heranzog. Eisner publizierte sie dann 1928 als Monografie unter dem Titel Die Tschechen. Diese Anthologie, die er Hofmannsthal widmete, stellte jedoch die tschechische geistige und literarische Tradition nicht mehr in den Kontext der österreichischen Idee, sondern in den der tschechoslowakischen Demokratie.23 Hofmannsthals übernationale, synthetische Idee Österreichs war wohl ein Grund dafür, warum Eisner gerade im Rahmen der Österreichischen Bibliothek die Rolle des Vermittlers ausübte. Er äußerte unter anderem in einem Brief an Rudolf Pannwitz vom September 1917 seine Furcht vor dem Nationalismus und zukünftigen Ereignissen:

18 Vgl. Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit, 244–245; Stern, Hofmannsthal und Böhmen (3), 195–215. 19 Zitiert nach Lunzer, Hofmannsthals politische Tätigkeit, 244. 20 Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 17. 9. 1917. Zitiert nach Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002, 248 (Fn. 3). 21 Vgl. Stern, Hofmannsthal und Böhmen (3), und Thirouin, Briefwechsel. 22 Paul Eisner an Hugo Hofmannsthal, 9. 1. 1918. In: Stern, Hofmannsthal und Böhmen (3), 198. 23 Pannwitz, Rudolf: Der Geist der Tschechen. Wien 1919; Eisner, Paul (Hg.): Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten. München 1928. Angesichts des veränderten politischen und literarischen Kontextes wäre es angebracht, Eisners Neuinterpretation nicht nur mit der ursprünglichen Vorstellung vom synthetischen Charakter der tschechischen Kultur – die er mit Hofmannsthal teilte –, sondern ebenfalls mit der Masaryks, Šaldas und anderen zu vergleichen.



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Ein Phänomen, dem ich mit fassungslosem Entsetzen gegenüberstehe, spielt sich hier [in den böhmischen Ländern, L. K.] ab. Ein Samen siedendsten nationalen Hochgefühls fegt über dieses Volk hin und begräbt alles andere.24

Eisner plädierte damit indirekt für eine Beendigung des Krieges und eine ‚nationale Verständigung‘. Hier kündigte sich bereits die von ihm später entworfene „positive Symbiose der Völker“ an. Diese Ideale sah er durch den Nationalismus bedroht. Eisner unterschied sich damit von Hofmannsthals Auffassung vom Krieg. Dieser sah zumindest zu Beginn im Krieg den Höhepunkt der vorausgegangen Krise der Moderne sowie auch eine regenerierende Kraft, die die Rückkehr zum „alten“ Österreich ermöglichen könnte. Hofmannsthal sehnte also eine vorliberale Epoche herbei, die weder vom Nationalismus noch von Industrialisierung und technischem Fortschritt gezeichnet sein sollte.25 Eisner betrachtete hingegen den Krieg konsequent als absoluten „Schrecken“, machte die Deutschen für dessen Ausbruch verantwortlich und fürchtete jede Art von Nationalismus. Durch seine Übersetzungstätigkeit wollte er einen Raum für eine interkulturelle Kommunikation schaffen. Eisner stellte sich hier bewusst auf die Seite der Minderheit, so wie er sich später unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen für die deutschböhmische Literatur einsetzte. Das Kennenlernen der Minderheitenkultur hielt er für die Pflicht der Mehrheitsgesellschaft. Zudem schätzte er damals das ethische (und „erotische“) Potenzial der Tschechen höher ein als das der Deutschen.26

2. Die Auseinandersetzungen um Jaroslav Vrchlický in der tschechischen Kritik Der während des Ersten Weltkriegs herrschende Papiermangel beeinflusste die Produktion der Österreichischen Bibliothek erheblich. Eisner wurde auf Grund dieser Schwierigkeiten vor zwei Möglichkeiten gestellt: Er hätte entweder mehrere Autoren in einer geringen Anzahl von Übersetzungen gleichzeitig vorstellen oder aber eine repräsentative Auswahl einiger weniger Autoren treffen können. Er entschied sich für die zweite Möglichkeit. Seine Auswahl der Dichter Jaroslav Vrchlický, Antonín Sova und Otokar Březina verrät einen ‚evolutionären‘ Deutungsansatz, der vor allem durch die Stilisierung Vrchlickýs zum Begründer der modernen 24 Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 21. 9. 1917. In: Thirouin, Briefwechsel, 248. 25 Vgl. Le Rider, Jacques: Hugo von Hofmannsthal and the Austrian Idea of Central Europe. In: Robertson, Ritchie (Hg.): The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective. Edinburgh 1994, 121–135, und Dalberg, Dirk: Hugo von Hofmannsthals „Idee Europa“. Eine ideengeschichtliche Analyse. In: Germanistische Studien, 4 (2006), 3–12. 26 In seinem Brief an Rudolf Pannwitz vom 8. Juni 1918 heißt es: „Instinkt und Gewissen ziehen mich zu den Slawen.“ Thirouin, Briefwechsel, 281.

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tschechischen Poesie auffällt. Darüber hinaus sind insbesondere Eisners Übertragungen der Lyrik Sovas von Bedeutung, da dieser Dichter ansonsten kaum ins Deutsche übersetzt wurde.27 Weniger überraschend war hingegen die Wahl Březinas, der dank der Übersetzungen durch Emil Saudek und Otto Pick bereits vor dem Ersten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum insbesondere von den Expressionisten intensiv rezipiert wurde. Březinas Werk geriet auch während des Krieges nicht in Vergessenheit. Mit Emil Saudeks und Franz Werfels Übersetzung von Větry od pólů (Winde von Mittag nach Mitternacht, 1920) erreichte die Březina-Rezeption nach dem Ersten Weltkrieg schließlich ihren Höhepunkt.28 Gleichzeitig erhielt Březinas Werk ebenso von tschechischen Autoren wie F. X. Šalda, Arne Novák, Miloš Marten, Emanuel Chalupný, Otokar Theer und Jakub Deml gebührende Anerkennung.29 In den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Anfänge der modernen tschechischen Lyrik zeitlich früher verortet und gemeinhin mit Karel Hynek Mácha oder wenigstens mit Jan Neruda assoziiert.30 Vrchlickýs Bedeutung war daher keineswegs unumstritten. Sovas und Březinas Dichtungen der 1890er Jahre stellten eine Reaktion auf Vrchlický dar, der wiederum die Verse tschechischer Vertreter des Symbolismus und der Dekadenz in der Literaturzeitschrift Lumír parodierte. Nach Vrchlickýs Tod 1912 wurde sein Schaffen vor allem von den Kritikern, die wie beispielsweise F. X. Šalda, F. V. Krejčí und Jiří Karásek der 1890er-Generation angehörten, aber auch von jüngeren Kritikern wie Arne Novák neu bewertet. Insbesondere Šalda, den Eisner als die größte Autorität betrachtete, setzte sich immer wieder mit Vrchlický auseinander und bekannte, dass Vrchlický für ihn ein lebenslanges Problem darstelle, den er immer wieder mit Qual neu zu lösen versuche.31 27 Eisner selbst publizierte später noch einmal weitere Übersetzungen Sovas in der Prager Presse. Siehe Nezdařil, Ladislav: Česká poezie v německých překladech [Tschechische Dichtung in deutschen Übersetzungen]. Praha 1985, 241–253 u. 354–356. 28 Vgl. Jähnichen, Manfred: Der Weg zur Anerkennung. Tschechische Literatur im deutschen Sprachgebiet 1861–1918. Berlin 1972, 289–304, und Nezdařil, Česká poezie, 254–273. 29 Vgl. dh [Dalibor Holub]: Schlagwort Otokar Březina. In: Forst, Vladimír u. a. (Hg.): Lexikon české literatury. Osobnosti, díla, instituce. I. A–G [Lexikon der tschechischen Literatur. Persönlichkeiten, Werke, Institutionen. I.  A–G]. Praha 1985, 316–320. 30 Erinnert sei hier etwa an das Buch Miloš Martens aus dem Jahr 1916, der Mácha für den Begründer der modernen tschechischen Poesie hielt: „Aber Máchas Poesie ist mehr als vom Dichter gesungenes Schicksal und Traum: man hört daraus die Quellen der tschechischen Lyrik rauschen, wie sie zum ersten Mal aufsprudeln, man ist Zeuge des jähen Erwachens von schöpferischen Trieben einer Rasse.“ Marten, Miloš: Akord. Mácha – Zeyer – Březina. Praha 1916, 12. 31 In der Einleitung gibt er zu: „Über Vrchlický zu schreiben; bereitete mir jedesmal unaussprechliche Qual, und diese Zeilen quälen mich doppelt, dreifach. Niemand sonst beschäftigte mich so häufig in meinen Gedanken wie Vrchlický, und zwar von seinen besten Jahren bis zu seinem Tod.“ Šalda, F. X.: Několik poznámek o Jaroslavu Vrchlickém [Einige Anmerkungen zu Jaro-



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Šalda begann seine negativen Urteile über Vrchlický, die er in den 1890er Jahren fällte, erst mit dem Erscheinen der Gedichtsammlungen Korálové ostrovy (Die Koralleninseln, 1908), Strom života (Der Lebensbaum, 1909) und Meč Damoklův (Das Damoklesschwert, 1913) zu revidieren. Im Vorwort zur Edition der Korrespondenz zwischen Vrchlický und seiner späteren Schwiegermutter, der Schriftstellerin und Übersetzerin Sofie Podlipská, schreibt Šalda über den Wandel von Vrchlickýs Poetik, dessen ihm bisher unbekannten früheren Schaffenskrisen und seine Entdeckung der westeuropäischen Dichtung.32 Während sich die junge Generation in den 1890er Jahren gegen den so genannten Eklektizismus Vrchlickýs profiliert hatte, sah Šalda zehn Jahre später in Vrchlickýs Einstellung zur tschechischen Literaturtradition das Grundproblem. Bereits in seiner 1909 veröffentlichten Arbeit Moderní literatura česká (Die moderne tschechische Literatur) bezeichnete Šalda die Mitarbeiter der Revue Lumír als „Unterbrecher der Tradition, so kurz und schwach sie auch gewesen ist“.33 Drei Jahre später zeichnete er in seinem Nachruf auf Vrchlický wiederum das tragische Porträt eines Dichters, der zwar „eine kulturelle Formation“ geschaffen habe, jedoch zwischen zwei gegensätzlichen Tendenzen – der Evokation der Vergangenheit einerseits und der Ausrichtung auf die „nationale“ Gegenwart und Zukunft andererseits – gespalten blieb. Darüber hinaus sei er nur wenig rezipiert worden und sein Gesamtwerk habe Šalda zufolge ein „Papierleben“ geführt.34 Ein Jahr später hingegen betonte Šalda in seinem Buch Duše a dílo (Seele und Werk) die Unterschiede zwischen Vrchlický und der tschechischen Moderne der 1890er Jahre. Er machte sie anhand einer Aufstellung von Gegensatzpaaren wie „Seitenblick/intuitives Sehen“, „Wortwörtlichkeit/Andeutung, Nuance“, „Eindeutigkeit/Mehrdeutigkeit“, „Repräsentativität, Offizialität/Randständigkeit“, „Welt/ Geist“ deutlich.35 Versteht man die Neubewertung Vrchlickýs zugleich als eine Bilanz der Bestrebungen der 1890er-Generation,36 liegt der Schluss nahe, dass die Vertreter der tschechischen Vorkriegsmoderne, Eisners Altersgenossen, andere Bezugspunkte

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slav Vrchlický]. In: Šalda, F. X.: Duše a dílo. Podobizny a medailony [Seele und Werk. Porträts und Medaillons]. Praha 1950, 94. Šalda, F. X.: Dvě rozhodná léta v životě Jaroslava Vrchlického: 1875–1876 [Zwei Entscheidungsjahre im Leben Jaroslav Vrchlickýs]. In: Dopisy Jaroslava Vrchlického se Sofií Podlipskou z let 1875–76 [Briefwechsel Jaroslav Vrchlickýs mit Sofie Podlipská aus den Jahren 1875 bis 1876]. Praha 1917, V–LXXIX. Wieder abgedruckt in: Šalda, F.  X.: Kritické projevy [Kritische Reden]. Bd. 10, Praha 1957, 36–88. Šalda, F. X.: Moderní literatura česká [Die moderne tschechische Literatur]. Praha 1909, 43. Šalda, F. X.: Smrt Jaroslava Vrchlického a jeho dílo [Der Tod von Jaroslav Vrchlický und sein Werk]. In: Česká kultura, 1 (1912) H. 1, 27–29. Wieder abgedruckt in: Šalda, F. X.: Kritické projevy [Kritische Reden]. Bd. 9, Praha 1954, 70–75. Šalda, Několik poznámek, 100–102. In diesem Zusammenhang ist vor allem auch Krejčís Vrchlický-Monografie zu erwähnen. Krejčí, F. V.: Jaroslav Vrchlický. Praha 1913.

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hatten und Vrchlický keine Schlüsselrolle zuschrieben. Dieses Desinteresse und die internationale Orientierung der jungen Autoren standen im Konflikt mit der Sehnsucht nach kultureller Kontinuität und überindividuellen Werten der älteren Generation. Als Beispiel kann hier die polemische Serie Sestup do podsvětí (Der Abstieg in die Unterwelt) von Arne Novák angeführt werden, die in der Zeitschrift Přehled (Überblick) 1913 erschien. Novák forderte die jungen Autoren auf, zur Tradition – das heißt für ihn zur Dichtergeneration der Literaturzeitschriften Ruch (Bewegung) und Lumír – zurückzukehren.37 In einer seiner polemischen Glossen stellte übrigens auch Šalda fest, dass „die junge Generation Vrchlickýs Werk nicht verdauen konnte und von ihm ganz oberflächlich beeinflusst wurde“.38 Eisner setzte somit in der Tschechischen Anthologie auf bewährte Größen. Er fasste darin die als abgeschlossen geltenden Literaturströmungen der Jahrhundertwende zusammen, von denen sich die junge Generation um Karel Čapek zu emanzipieren versuchte. Der traditionalistische Charakter von Eisners Auswahl wird besonders deutlich, wenn man ihr eine andere deutschsprachige Anthologie der tschechischen Poesie gegenüberstellt, an der sich Eisner ebenfalls als Übersetzer beteiligt hatte.39 In der 1916 von Franz Pfemfert in Berlin herausgegebenen Anthologie Jüngste Tschechische Lyrik waren siebzehn Dichter vertreten, die die verschiedenen literarischen Wellen seit den 1890er Jahren bis zur jüngsten Gegenwart repräsentierten. Es fehlten hier lediglich die Vertreter der Zeitschrift Lumír.40 Auf dem Umschlag der Anthologie befindet sich ein kubistischer Frauenakt von Josef Čapek, der schon zuvor in der ebenfalls von Pfemfert redigierten Berliner Zeitschrift Die Aktion abgedruckt worden war.41 Die Anthologie betonte durch ihre Auswahl die Beziehungen der tschechischen Poesie zu den modernen deutschen Kunstrichtungen. Franz Pfemfert erläuterte die Veröffentlichung der Anthologie „als einen politischen, völkerver37 Novák, Arne: Sestup do podsvětí [Der Abstieg in die Unterwelt]. In: Přehled, 12 (1913) H. 1, 12–13; Novák, Arne: Tři generace [Drei Generationen]. In: Ebd., 12 (1913) H. 2, 39–41. 38 Šalda, F. X.: Viktor Dyk o Jaroslavu Vrchlickém r. 1903 a r. 1912 [Viktor Dyk über Jaroslav Vrchlický in den Jahren 1903 und 1912]. In: Novina, 5 (1912) H. 22, 702–704. Wieder abgedruckt in: Šalda, Kritické projevy, Bd. 9, 108–110. 39 Vgl. Pfempfert, Franz (Hg.): Jüngste tschechische Lyrik. Eine Anthologie. Berlin-Wilmersdorf 1916. Hier war Eisner mit Übersetzungen von Viktor Dyk, Jiří Karásek, Josef S. Machar und Antonín Sova vertreten. 40 Die Anthologie enthält Gedichte von Otokar Březina, Jiří Karásek, Karel Hlaváček, Josef S. Machar, Antonín Sova, Viktor Dyk, Stanislav K. Neumann, Otokar Theer, Petr Bezruč, Fráňa Šrámek, Karel Toman, Richard Weiner, Otokar Fischer, Josef Kodíček, Josef Čapek und Stanislav Hanuš. 41 Čapek, Josef: Aktstudie. In: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, 6 (1916) H. 17/18, 240. Sowohl in dieser als auch in den folgenden Ausgaben der Zeitschrift Die Aktion wurden die tschechische Literatur, Musik, Architektur und Malerei ausschließlich von Prager deutschsprachigen Schriftstellern wie Max Brod, Otto Pick, Rudolf Fuchs u. a. präsentiert.



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bindenden Akt“.42 Die rote Farbe des Umschlags signalisierte zugleich die politisch links anzusiedelnde Ausrichtung der Herausgeber und ihrer Textauswahl. Der linke Ellbogen und der rechte Arm der Frauenfigur in Čapeks Zeichnung ähneln einem linksgerichteten Pfeil, womit die politische Orientierung noch deutlicher hervorgehoben wird. Im Vordergrund der Anthologie stehen soziale und nationale Themen: Bezruč wird als Dichter der Unterdrückten stilisiert, während aus dem Werk von Březina – ähnlich wie von Šrámek, Neumann, Sova und anderen – Gedichte mit Motiven der Lebensbejahung und Verbrüderung gewählt wurden. Die Anthologie kann daher auch als Antikriegsprotest verstanden werden.

3. Der Begründer der tschechischen Moderne. Eisners Vrchlický-Interpretation Obwohl beide Anthologien die tschechische Literatur in einem unterschiedlichen ideologischen Rahmen vermitteln, lassen sie sich nicht einfach als fortschrittlich versus konservativ bezeichnen.43 So griff Eisner in seiner Tschechischen Anthologie die Tradition der modernen tschechischen Poesie und interpretierte sie insbesondere in Bezug auf Vrchlický neu. Aus dessen umfangreichen Werk wählte Eisner 32 Gedichte aus 18 Sammlungen aus. Die meisten Leseproben stammen aus der Sammlung Meč Damoklův. Die früheren Sammlungen sind durch Gedichte vertreten, die Vrchlickýs Spätwerk antizipieren. Darin verzichtete Vrchlický auf die früher häufig übertriebene Rhetorik, schöpfte die Melodik aus dem Volkslied und verknüpfte die Motive der Einsamkeit, Desillusion, Stille und Versöhnung mit der Bereitschaft, Disharmonien zu überwinden und das Leben prinzipiell zu bejahen. Dieses von Eisner vermittelte Bild Vrchlickýs entsprach nicht nur den zeitgenössischen tschechischen Deutungsmustern, sondern ermöglichte zugleich neue Lesarten. Dies stellte beispielsweise auch Šalda in seiner kurzen Rezension fest, in der er betonte, dass Eisner „den Deutschen einen anderen Vrchlický als Grün oder Adler“ übersetzt habe.44 Statt eines repräsentativen Dichters, eines Schulbuchdichters lasse 42 Pfempfert, Jüngste tschechische Lyrik, 116. (Hervorhebung im Original.) 43 Das Konkurrenzverhältnis zwischen der Österreichischen Bibliothek und der Aktions-Lyrik spiegelt sich nicht zuletzt in Hofmannsthals Unkenntnis der tschechischen Kunstszene bzw. in deren propagandistischem Missbrauch wider. Die Zeitschift Die Aktion, die 1916 in ihrem Heft 20/21 das Vorkriegsgedicht Mädchen Fráňa Šrámeks in Picks Übersetzung veröffentlicht hatte, glossierte ironisch ihren Wiederabdruck in dem vom Hofmannsthal redigierten Österreichischen Almanach auf das Jahr 1916. Hier wurde sie als ein slowakisches Gedicht, das „im Felde aufgezeichnet und übersetzt vom Kadetten Wilhelm Haas“ angekündigt. N. N.: Ohne Titel. In: Die Aktion, 6 (1916) H. 20/21, 279. 44 Šalda, F. X.: Tschechische Anthologie: Vrchlický – Sova – Březina. Übertragungen von Paul Eisner. In: Kmen, 1 (1917) H. 16, 7–8. Wieder abgedruckt in: Šalda, Kritické projevy, Bd. 10, 233–234.

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die Auswahl einen intimen Dichter, einen Lyriker meditativen Zaubers und singbaren Melodie, einen Maler der grauen und wehmütigen tschechischen Landschaft zu Wort kommen.45

Gerade dieser inoffizielle Vrchlický hätte Šalda zufolge die jungen Leser ansprechen können, weshalb er sogar die Herausgabe einer vergleichbaren tschechischen Auswahl befürwortete.46 Wichtig ist hierbei Šaldas Anspielung auf Vrchlickýs frühere Übersetzer Edmund Grün und Friedrich Adler. Obwohl Eisner in seinen Übersetzungen einen anderen Vrchlický als diese präsentierte, knüpfte er in seinem Nachwort an die früheren Interpretationen teilweise an. In seinem Vorwort zur ersten deutschsprachigen Auswahl aus Vrchlickýs Werken von 1886 sah sich der aus Prag stammende Edmund Grün zu der Rechtfertigung gezwungen, warum ein Deutscher, ein Mitglied der „Kulturnation“, einen tschechischen Dichter, Repräsentanten einer kleinen Literatur, überhaupt ins Deutsche übersetze.47 Grün argumentierte dabei nicht nur mit dem künstlerischen Wert, sondern vor allem mit dem Universalismus und Anationalismus von Vrchlickýs Poesie. Gerade diese Züge wurden damals von der tschechischen Kritik als problematisch empfunden und als „Kosmopolitismus“ abgetan. An Grüns Interpretation knüpften später auch andere Übersetzer an, und zwar nicht nur Deutsche respektive deutschsprachige Juden. In seiner umfangreichen Auswahl aus Vrchlickýs Werken von 1893 stellte beispielsweise Eduard Albert, ein bekannter tschechischer Chirurg aus Wien, Vrchlický seinen Lesern als Dichter von gesamteuropäischer Bedeutung vor.48 Aufgrund dieser Deutung wurde Vrchlický in der Wiener Presse sogar als „tschechischer Goethe“ gefeiert. Albert gelang es somit, in manchen Wiener Kreisen das Bild von den Tschechen als einer europäisch orientierten Kulturnation wenigstens teil- und zeitweise zu etablieren.49

45 Šalda, Tschechische Anthologie. 46 Šalda schreibt in seiner Rezension: „[Eisners Auswahl ist, L. K.] ein Dienst, den die Tschechen Vrchlickýs Werk in einem größeren Ausmaße hätten erweisen müssen; sie hätten eine Anthologie seiner Gedichte erstellen müssen, die irgendwie abseits der offiziellen und repräsentativen Bahn seines Werkes liegen…“ [služba, již měl k dílu Vrchlického prokázati v širších rozměrech i někdo z Čechů; sestaviti z něho knihu těch básní, jež leží jaksi mimo oficiální a representační trati jeho díla…]. Šalda, Tschechische Anthologie, 233. 47 Grün merkt in seinem Vorwort an: „Es gibt Viele [in Österreich, L. K.], welche durch Uebersetzung böhmischer Poesien sich an ihrem Deutschthum zu versündigen glauben.“ Gedichte von Jaroslav Vrchlický. Autorisierte Übersetzung von Edmund Grün. Leipzig 1886, 7. 48 Vgl. Albert, Eduard: Neuere Poesie aus Böhmen. Anthologie aus den Werken von Jaroslav Vrchlický. Wien 1893. 49 Vgl. Kostrbová, Lucie: „Die sympathische Vision eines Volkes“ – das Übersetzungsprojekt Eduard Alberts Poesie aus Böhmen. In: Stifter–Jahrbuch, N. F., 23 (2009), 51–68.



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Vrchlický war um die Jahrhundertwende der bekannteste tschechische Dichter und wurde am häufigsten ins Deutsche übersetzt. In der Atmosphäre des vom Krieg angespornten nationalen Aufbegehrens hob Eisner die gleichen Aspekte in Vrchlickýs Schaffen hervor wie die früheren Übersetzer und spielte ebenfalls auf den Goethe-Vergleich an. In seinem Nachwort betonte Eisner insbesondere Vrchlickýs Verdienste um die „Europäisierung“ – das heißt um die „Entnationalisierung“ der tschechischen Poesie. Vrchlický habe ihm zufolge die tschechische Dichtung von den „Zügeln einer engen nationalen Bedingtheit“ befreit: „Ein Tor wird aufgerissen, und blendend und überwältigend dringen die Ströme westeuropäischer Kunst herein.“50 Eisner kam in seiner abschließenden Bewertung von Vrchlickýs Werk überraschenderweise Hofmannsthals Ideen ganz nahe: Er selbst ist eine wunderbare Synthese slawischer Veranlagung und romanischer und germanischer Einwirkungen mit den reichsten eigenen Mitteln, von ungeheurer Absorptionsfähigkeit und phänomenalem formalem Können.51

Es sei daran erinnert, dass Hofmannsthal die wichtigste Mission Österreichs im „Ausgleich der alteuropäischen lateinisch-germanischen Welt mit der neueuropäischen Slawenwelt“ sah.52 Vrchlický und nach ihm Březina hätten Eisner zufolge diese Synthese in umgekehrter Richtung verwirklicht: vom Slawen- zum Deutschtum. Das Motiv der Synthese ging später in Eisners Auffassung der tschechisch-deutschen Symbiose über, die ähnlich wie Hofmannsthals Konzeption auf der Vorstellung von der „Elastizität“ und der „fließenden Grenze“ zwischen den Kulturen beruhte, auf einem beständigen und wechselseitigen Beeinflussen und Ausgleichen.53 Eisner betrachtete nur jene Kunstwerke als „wirkliche“, die die Schwelle der Nationalliteratur überschritten: In seiner Tschechischen Anthologie traf dies auf die Poesie Vrchlickýs und Březinas zu.54 50 Eisner, Paul (Hg.): Tschechische Anthologie. Vrchlický – Sova – Březina. Übertragungen von Paul Eisner. Leipzig 1917, 97. 51 Eisner, Tschechische Anthologie, 96. Zur „tschechischen Synthese“ und zu den Tschechen als „künftigen Erben von Deutschen“ vgl. auch Pannwitz, Rudolf: Der Geist der Tschechen. Wien 1919, 121–125. 52 Hofmannsthal, Hugo von: Österreichische Idee. In: Hofmannsthal, Reden und Aufsätze II, 456–457. 53 Hofmannsthal, Österreichische Idee, 456. 54 Eisner ordnete Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre das Schaffen jüdischer Autoren wie Franz Werfel, J. J. David oder Max Brod dieser Schwelle zu. Ihre Romane wirkten ihm zufolge zugunsten der „deutsch-slawischen Synthese“, die sie bislang am besten umgesetzt hätten. Siehe Eisner, Paul: Vorwort. In: Landsleute. Deutsche Prosa aus der Čechoslovakei von Adalbert Stifter bis Franz Werfel. Praha 1930, 3–5; ders., Německá literatura na půdě ČSR; ders.: Německá literatura v českých zemích [Die deutsche Literatur in den böhmischen Ländern]. In: Němci v českých zemích. Výbor z krásné prózy Československé [Die Deutschen in

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Vrchlickýs „Absorptionsfähigkeit“ hielt Eisner genauso wie die „daseinsfrohe Sinnlichkeit“ für typisch tschechische oder slawische Eigenschaften – im Unterschied zur „für die Tschechen ungewöhnlichen Schönheit und Meditationsgabe“.55 Solche Assoziationsreihen wie Slawentum – Rezeptivität/Passivität – Natur – Weiblichkeit waren für die zeitgenössischen deutschen Wahrnehmungsmuster bezeichnend und ließen sich in unterschiedlichen Variationen ebenfalls in den Texten von Hofmannsthal, Bahr, Brod, Pick und anderen finden. Bei Eisner bildeten sie die Grundlage für seine späteren geschlechtsspezifischen Bestimmungen der tschechisch-jüdisch-deutschen „Symbiose“.56 Während die tschechische Kritik Vrchlickýs Rezeptivität in Frage stellte und als Epigonentum ablehnte, bewunderte Eisner 1917 die Fähigkeit, „sich ganz hinzugeben“ beziehungsweise die „Persönlichkeit hinströmen zu lassen“. Zugleich lässt er keinen Zweifel an der Besonderheit von Vrchlickýs Schaffen und seiner stilbildenden Kraft.57 Verglichen mit früheren Übersetzern und Interpreten besteht Eisners VrchlickýDeutung noch aus weiteren, bisher noch nicht angesprochenen Elementen. Seine Terminologie verrät zum einen den Einfluss von Nietzsches Unterscheidung zwischen der dionysischen und apollinischen Kunst, zum anderen psychologische und womöglich psychoanalytische Anregungen, die die zeitgenössische Literaturwissenschaft mitprägten.58 Eisner zufolge sei Vrchlický nicht nur der „größte Hellene unter den Tschechen“, sondern auch derjenige, auf dem „Tantalos’ Bann“ laste. Hierbei spielte er auf Vrchlickýs Gedichtsammlung Dědictví Tantalovo (Tantalos’ Erbe, 1888) an. Eisner ergänzte nun die frühere einseitige Verbindung Vrchlickýs mit Goethes universaler Schöpferkraft um Faustische Motive. Er erklärte die Produktivität des Dichters, die von Vertretern der tschechischen Moderne problematisiert wurde, als eine Schöpferkraft, die von der dämonischen Angst vor der Unbeständigkeit des Lebens und der Sehnsucht, alle seine Schönheiten auszukosten, getrieben werde – mit anderen Worten als Furcht vor Tod und Sinnverlust. Am Lebensende habe sich der Dichter von der Außenwelt abgewendet und wie Faust

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den böhmischen Ländern. Eine Auswahl aus der tschechoslowakischen schönen Prosa]. Praha 1931, 5–15. Eisner, Tschechische Anthologie, 96. Gemeint ist hier nicht nur die „erotische Symbiose“ zwischen der „Weiblichkeit“ und des „Tschechentums“ bzw. zwischen der „Männlichkeit“, des „Deutschtums“ und des „Judentums“, sondern auch die „geistige Symbiose“ im Sinne von Goethes „ewig Weiblichem“. Umgekehrt wird die Krise der deutschen Kultur in Österreich auf ihr Unvermögen zurückgeführt, fremde Anregungen aufzunehmen, die ihre eigene erstarrte Tradition beleben würden. Vgl. Fischer, Otokar: Otázky literární psychologie [Die Fragen der literarischen Psychologie]. Praha 1917.



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auf den „Weg zu den Müttern“ (Eisner) begeben,59 das heißt zu den ursprünglichen, chthonischen Quellen des Schaffens.60 Eisner hielt Vrchlický eindeutig für den Begründer der modernen tschechischen Poesie.61 Diese Bestimmtheit im Urteil fehlte der zeitgenössischen tschechischen Kritik und hier insbesondere Šalda, der ansonsten Eisners Auffassungen in vielerlei Hinsicht beeinflusste. Dagegen war eine mit Eisner vergleichbare Bewunderung Vrchlickýs bereits seit Jahrzehnten für die deutsch- und jüdisch-böhmischen Dichter und Kritiker bezeichnend, und zwar nicht nur für den älteren Schriftsteller Friedrich Adler, sondern auch für die Tschechisch lesenden Altersgenossen der tschechischen Moderne in den 1890er Jahren. Als charakteristisch kann die Äußerung des aus Kroměříž (Kremsier) stammenden jüdisch-deutschen Dichters, Kritikers und Kunstsammlers Adolph Donath gelten, der über die tschechischen Kritiker Vrchlickýs in der Zeitschrift Die Gesellschaft, dem zentralen Blatt der deutschen Moderne, schrieb: Weshalb aber Vrchlický angefeindet wird, kann aber kein vernünftiger, kunstsinniger Mensch begreifen. Er ist ja der Schöpfer der tschechischen Moderne und viele seiner Dichtungen sind streng modern.62

Eisner fühlte sich von Vrchlický ebenso angezogen wie Donath und andere zweisprachige böhmische Juden und Deutsche der Jahrhundertwende. So war Vrchlický beispielsweise in den beiden Gedichtsammlungen Moderne Dichtung vertreten, die Alfred Guth und Josef Adolf Bondy 1897 in Prag herausgegeben hatten.63 Vrchlickýs Tätigkeit als Übersetzer trug ebenfalls dazu bei, dass Eisner ihn schätzte. So übertrug Vrchlický unter anderem Dante, Goethe, Ariost und Hugo ins Tschechische. Außerdem übersetzte er die Poesie Friedrich Adlers und Hugo Salus,. Mit diesen wichtigsten Repräsentanten der älteren Prager deutschsprachigen Literatur stand er auch in persönlichem und schriftlichem Kontakt. Mit Vrchlickýs Übersetzertätigkeit beschäftigte sich Eisner vor allem in seiner Dissertation Lessing, Goethe und Schiller in tschechischen Übertragungen, die er 1918 an der Prager Deutschen Universität verteidigte. In dieser materialreichen Untersuchung bezeichnet

59 Eisner, Tschechische Anthologie, 97. 60 Vgl. Fischer, Otokar: Matky [Die Mütter]. In: Fischer, Otokar: Duše – slovo – svět [Seele – Wort – Welt]. Praha 1965, 231–244. 61 Dies wird beispielsweise in Eisners Nachwort deutlich, wo es heißt: „Die Sprache Březinas, Sovas und aller Heutigen ist ohne ihn vollkommen undenkbar.“ Eisner, Tschechische Anthologie, 97. 62 Donath, Adolph: Einiges über moderne czechische Lyrik. In: Die Gesellschaft, 12 (1896) H. 11, 1483. (Hervorhebung, L. K.) 63 Guth, Alfred/Bondy, Josef Adolf: Moderne Dichtung. 2 Hefte. Prag 1897.

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er Vrchlický (zusammen mit Čelakovský) als Schüler Goethes.64 Eisner hielt insbesondere Vrchlickýs Übersetzungen von Goethes Liedern für kongenial und seine Übertragung des Faust charakterisierte er als „die grösste Übersetzung der tschechischen Literatur“.65 Durch seine „tiefe und innige Beziehung zu Goethe“, die sich allmählich entfaltete, sei Vrchlický „der Grösste der tschechischen Literatur“ geworden.66 Seine „Rückkehr zu den Müttern“ an seinem Lebensende sei zugleich eine Rückkehr zu Goethe: Lang und an innerem Ringen und Wandlungen reich war der Weg Vrchlickýs, bevor er zu Goethe fand. Seinen äusseren Ausdruck findet dieser Prozess in motivischen Entlehnungen, Paraphrasen, Verherrlichungen Goethes, und er endet in der letzten Periode Vrchlickýs mit einer wunderbaren Erneuerung seiner ganzen dichterischen Persönlichkeit. Einige Gedichte aus dieser Zeit haben in der Intonation eine solche Verwandtschaft mit Goethe, wie sie nie und nimmer das Ergebnis bewusster oder unbewusster Imitation sein kann (so das Gedicht Hvězdám in Damoklův meč).67

4. Eisners Sova- und Březina-Interpretation Während Eisners Vrchlický-Interpretation die Einflüsse der tschechischen Kritik, der Germanistik und Hofmannsthals widerspiegelt, lehnt sich seine Deutung des Dichters Sova an Šalda an. Schon die Bezeichnungen „Seher“ und „verletzte Sensitivität“ im Nachwort zur Tschechischen Anthologie68 deuten auf Šaldas Studie über Sova Senzitiv a visionář (Der Sensitivist und Seher) aus Duše a dílo (Seele und Werk) hin.69 Eisner umschreibt Sova darüber hinaus als den „reichsten aller zeitgenössischer Dichter“, der in die tschechische Lyrik neue Ausdrucksmittel und Motive 64 Eisner, Paul: Lessing, Goethe und Schiller in tschechischen Übertragungen. Phil. Diss. Prag 1918, 19. Für diesen Hinweis danke ich Georg Escher. 65 Ebd., 90. 66 Ebd., 33 u. 107. 67 Ebd., 108. 68 Eisner, Tschechische Anthologie, 98. 69 Eisners Interesse am Werk Antonín Sovas kann auch durch seinen weiteren Lehrer, Franz Spina, ausgelöst worden sein. Eisner konnte sich später erinnern, wie Spina in seinen Seminaren begeistert Sovas Květy intimních nálad (Die Blumen intimer Stimmungen, 1891) analysiert habe: „Im Slawischen Seminar der Prager Deutschen Universität verlangte Prof. Spina von uns, diesen Zyklus zu lesen und zu interpretieren. Die Interpretation nahm einen für Philologen ungewöhnlichen Charakter an, denn Spina stand nach der Lektüre von Rybníky auf und rief: ‚Meine Herren, beachten Sie die unerhörte Ausdruckskraft dieser Gedichte, die aus nichts als flüchtigen Sensationen bestehen!‘“ Eisner, Pavel: Na okraj Květů intimních nálad [Am Rande über die Blumen intimer Stimmungen]. In: Rozpravy Aventina, 1 (1925/26) H. 1, 5.



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eingeführt habe.70 Eisner erwarb sich gerade bei der Übertragung von Sovas Poesie in die deutsche Sprache große Verdienste. Für die Tschechische Anthologie übersetzte er insgesamt 39 Gedichte aus neun Sammlungen, von Z mého kraje (Aus meiner Gegend, 1892) bis zu Žně (Ernte, 1913). Wie bei Vrchlický konzentrierte sich Eisner auch bei Sova auf die Lyrik.71 Den Höhepunkt von Eisners Dichtertriade bildet indes Otokar Březina. In der Tschechischen Anthologie wurde Březinas Werk durch 22 Gedichte aus allen seinen fünf Sammlungen präsentiert.72 Im Nachwort charakterisiert Eisner Březina als Dichter der Versöhnung und Überwindung von Zweifeln, irdischen Schmerzen und Gegensätzen durch die Liebe sowie als Dichter der kosmogonischen Vision von der Verbundenheit der gesamten Menschheit und der Hierarchie der Geister. Březinas Poesie zeichne sich, so Eisner, durch „religiöse, ethische und ästhetische Größe“ aus. Sie stelle die Essenz der tschechischen Kunst dar und transzendiere sie, wie dies auf ähnliche Weise schon Vrchlickýs Poesie vollbracht habe.73 Eisner und mit ihm eine ganze Reihe deutschsprachiger Autoren wie etwa Stefan Zweig oder Hermann Bahr sahen in Březina eine Synthese des „Slawentums“ und der „westlichen Tradition“. Für Hofmannsthal war er ein vollkommener Repräsentant der österreichischen Literatur.74 Der Literaturhistoriker Ladislav Nezdařil ist der Ansicht, dass Eisners BřezinaÜbersetzungen die am wenigsten gelungenen, ja verglichen mit anderen Übersetzern sogar die schlechtesten seien.75 Die übersetzungstheoretischen und interpretatorischen Vorzüge der Tschechischen Anthologie bilden daher in erster Linie Eisners Übertragungen der Poesie von Vrchlický und Sova. Anregend bleibt vor allem sein Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen beiden Dichtern und das nicht nur in Bezug auf ihre Vielseitigkeit. Eisner zog Parallelen zwischen den rhetorischen und melodischen Versen beider Dichter.76 70 Eisner, Tschechische Anthologie, 98–99. 71 Neben den genannten Werken sind unter anderem auch Sovas Gedichtsammlungen Ještě jednou se vrátíme (Wir kommen noch einmal zurück, 1900) und Lyrika lásky a života (Lyrik der Liebe und des Lebens, 1907) in der Anthologie vertreten. 72 Hierbei handelt es sich um Tajemné dálky (Geheimnisvolle Weiten, 1895), Svítání na západě (Morgenröte im Westen, 1896), Větry od pólů (1897), Stavitelé chrámu (Türmer des Tempels, 1899), und Ruce (Hände, 1901). 73 Eisner, Tschechische Anthologie, 99–101. 74 Wichtige Interpretationen von Březinas Arbeiten leisteten Hoffmann, Camill: Die tschechische Lyrik. In: Die Wage, 4 (1901) H. 24, 816–818, und Zweig, Stefan: Otokar Březina. In: Österreichische Rundschau, 19 (1909) H. 6, 444–450. Zur Vermittlung von Březinas Werk im deutschsprachigen Raum vgl. Jähnichen, Der Weg zur Anerkennung, 289–303. 75 Nezdařil, Česká poezie, 290–296. 76 Es fallen vor allem Parallelen zwischen dem bereits erwähnten Spätwerk von Vrchlický und Sovas Sammlung Lyrika lásky a života (Lyrik der Liebe und des Lebens, 1907) auf. Auch die Rhetorik des Sprechers in Sovas Sammlungen Zlomená duše (Gebrochene Seele, 1894), und

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5. Zusammenfassung Die unterschiedlichen Kontexte, in denen sich Eisners Anthologie verorten lässt, erfordern, die Frage der Vermittlung neu zu stellen: Wann wird zwischen wem und wie vermittelt? Zuallererst handelt es sich um Übersetzungen aus dem Tschechischen ins Deutsche. Gleichwohl ist klar, dass sich Eisner weder zu den Deutschen noch zu den Tschechen bekannte und sein Blick auf die tschechische Literatur ein bewusst äußerer ist.77 Eisner schuf sich ähnlich wie Otto Pick, Max Brod, Rudolf Fuchs und viele andere Zeitgenossen jüdischer Herkunft durch diese kulturelle Vermittlung einen eigenen, wenn auch fragilen Raum – einen Zwischenraum – zwischen Tschechen und Deutschen. Er ging dabei seinen eigenen, nicht immer geradlinigen Weg.78 Die tschechische Kritik thematisierte den Zusammenhang zwischen jüdischer Herkunft, seiner Zweisprachigkeit und der Vermittlungstätigkeit nicht. Šalda, der 1913 Picks Übertragung von Šrámeks Flammen glossierte, bezeichnete sie als Auftakt einer neuen Ära der Übersetzung tschechischer Literatur und als einen „würdigen Weg, auf dem die tschechische Poesie endlich nach Deutschland gehen kann“.79 Die tschechische Literatur brauche sich, so Šalda, nicht mehr künstlich den „Deutschen aufzwingen“, da sie aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten übersetzt werden würde. Wie Šalda und Pick bewertete auch Eisner Kunstwerke und Übersetzungen nach ästhetischen Kriterien. Pick und Eisner schrieben jedoch den Übersetzungen außerdem eine kulturpolitische Bedeutung zu: Sie sollten ethnisch-nationale Grenzen erodieren, die gegenseitige Wahrnehmung von Tschechen und Deutschen positiv beeinflussen beziehungsweise deren Selbstbild einer überlegenen KulturnatiDobrodružství odvahy (Das Abenteuer des Mutes) erinnert an viele Gedichte Vrchlickýs. In den 1920er Jahren wies insbesondere Otokar Fischer auf die Nähe zwischen Vrchlický und Sova hin. Vgl. Fischer, Otokar: K poetice Antonína Sovy [Zur Poetik Antonín Sovas]. In: Fischer, Duše – slovo – svět, 141–147. 77 Es sei hier an Eisners Worte in seinem Brief an Rudolf Pannwitz vom 8. Juni 1918 erinnert: „Sie halten mich für einen Tschechen. Ich bin es nicht. Nach dem Gesetz der stärkeren geistigen Attraktion gehöre ich den Deutschen. Instinkt und Gewissen ziehen mich zu den Slaven. So bin ich der Zerrissenste von allen.“ Thirouin, Briefwechsel, 281. 78 Max Brod verstand die Vermittlung beispielsweise auch als Strategie des Schaffens und der Stärkung seiner eigenen Position als zentraler Autorität der Prager deutschsprachigen Schriftsteller. Einerseits vereinnahmte Brod die Rolle der Vermittler für die deutschsprachigen jüdischen Schriftsteller, andererseits protestierte er gegen deren Wahrnehmung seitens tschechischer Schriftsteller und Kritiker als bloße Vermittler und verteidigte die ästhetischen Qualitäten ihrer Werke. Vgl. Vassogne, Gaëlle: Max Brod in Prag: Identität und Vermittlung. Tübingen 2009, 175–236. 79 Šalda, F. X.: Fráňa Šrámek: Flammen. In: Česká kultura [Die tschechische Kultur], 1 (1912) H. 6, 185–186. Wieder abgedruckt in: Šalda, Kritické projevy, Bd. 9, 118–119.



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on hinterfragen. Die Vermittlung eröffnete Eisner einen breiten Wirkungsraum. Ungeachtet aller Gemeinsamkeiten unterschied sich Eisner wesentlich von Pick: Eisner nahm Abstand vom Werfel-Kreis und konzentrierte sich auf die ältere Generation tschechischer Modernisten, deren Argumente er übernahm. Gleichzeitig wirkten Eisners Übersetzungen auf die tschechische Kritik zurück, da Eisner sich der jüngeren Tradition der tschechischen Poesie zugewandt und diese wiederbelebt hatte. Seine Übersetzungen beeinflussten maßgeblich auch Rudolf Pannwitz‘ Überlegungen zum „tschechischen Geist“. Im Unterschied zu Eisner übersetzte Pick tschechische Autoren seiner Generation. Picks Interesse galt der mutual promotion, die Scott Spector wie folgt charakterisiert: Through this intense mediation of Czech literature to Germans, Prague German-Jewish literature to Czechs, and the latter to a broader German public, Pick was creating and expanding a domain that had not been recognized before. Prague German literature was no longer a peripheral branch of German culture, and neither was Czech literature a marginal European manifestation of mainly anthropological interest.80

Pick verfolgte das Ziel, die internationale Aufmerksamkeit auf Prag als einem Zentrum der europäischen Moderne zu lenken, in dem weder die Nationalität noch die Größe einer Kultur ein wesentliches Unterscheidungskriterium seien. Eisner blieb hingegen dem Konzept der Nationalliteraturen treu, das er später unter dem Einfluss deutscher volkskundlicher Ansätze durch die Verbindung mit Begriffen wie „Stamm“, „heimatliche Scholle“, „Erde“ oder „seelische Atmosphäre“ noch vertiefen sollte.81 Von Anfang an trat Eisner so als ein sonderbarer Alleingänger in Erscheinung.

80 Spector, Prague Territories, 204. Vgl. hier insb. das ganze Kapitel Middle Ground. Translation, Mediation, Correspondence, 195–233. 81 Vgl. Eisner, Německá literatura v českých zemích, 5–15; ders., Německá literatura na půdě ČSR, 325–377; ders., Landsleute, 3–5, sowie die Beiträge von Georg Escher und Zdeněk Mareček in diesem Band.

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Paul Eisner als slowakisch-deutscher Literaturvermittler I. Paul Eisner (1889–1958) wird meistens mit dem Prager deutschen – eventuell jüdischen – Milieu, mit der tschechisch-deutschen Kulturvermittlung und mit der Pflege der tschechischen Sprache assoziiert. Dass Eisner auch bei der Vermittlung der slowakischen Kultur in den deutschen Sprachraum eine bedeutende Rolle spielte, ist wenig bekannt.1 Dabei war Eisner einige Zeit intensiv in der slowakischdeutschen Literaturvermittlung tätig:2 1920 gab er im Verlag Das Riff in Bratislava Slowakische Volkslieder mit 19 Titeln und einem umfangreichen Kommentar heraus; im gleichen Jahr erschien als Band 103 der Leipziger Insel-Bücherei Eisners Slowakische Anthologie mit insgesamt 110 Titeln, von denen 17 bereits in den Slowakischen Volksliedern publiziert waren; im Band Volkslieder der Slawen präsentierte er 1926 ebenfalls im Leipziger Insel-Verlag eine relativ umfangreiche slowakische Abteilung mit über vierzig Beispielen, und zuletzt nahm er in die 1928 im Münchener Piper-Verlag erschienene Anthologie Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten auch fünf slowakische Autoren auf.3 Zu dieser Vermittlungstätigkeit befähigten Eisner sein Talent und Interesse wie sein Studium der Germanistik und Slawistik an der Prager deutschen Universität. Ein entscheidender Impuls zum Übersetzen ging wohl von Hugo von Hof1 In biografischen Lexika, wie zum Beispiel im Československý biografický slovník (Tschechoslowakisches biografisches Lexikon) oder im Slovenský biografický slovník (Slowakisches biografisches Lexikon), gibt es keinen Eintrag zu Paul Eisner. 2 Die Vermittlung slawischer Literaturen ins Deutsche zwischen 1917 und 1928 bezeichnet Marie-Odile Thirouin als Eisners erste Schaffensphase, es folgt zwischen 1928 und 1938 die Beschäftigung mit der tschechischen Literaturgeschichte und -kritik, 1938 bis 1948 die Beschäftigung mit der tschechischen Sprache, und 1948 bis 1958 die Übertragung großer internationaler Romane ins Tschechische. Vgl. Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002, 34–36. 3 Darüber hinaus wird Eisner in Richters Bibliografie Slowakische Literatur in deutschen Übersetzungen als Mitarbeiter der 1936 von Wilhelm Szegeda herausgegebenen Tschechoslovakischen Anthologie sowie als Mitübersetzer des 1945 uraufgeführten und in der deutschen Übersetzung von Gertruda Albrechtová 1964 erschienenen Dramas Meteor von Peter Karvaš angegeben. Da Eisners Anteil an diesen Arbeiten nicht festgestellt werden kann, wurden sie in der vorliegenden Arbeit außer Acht gelassen. Vgl. Richter, Ludwig: Slowakische Literatur in deutschen Übersetzungen. Eine Bibliographie der Buchveröffentlichungen 1900–1998. Martin 1999, 111 u. 174.

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mannsthal aus, der seit 1915 in seiner Österreichischen Bibliothek die Literatur auch der kleineren Völker der Monarchie vorstellen wollte.4 Als Band 21 dieses Projekts gestaltete Eisner 1917 die Tschechische Anthologie mit Jaroslav Vrchlický, Antonín Sova und Otokar Březina.5 Aufgrund kriegsbedingter finanzieller Schwierigkeiten musste jedoch die Österreichische Bibliothek 1917 eingestellt werden. Eisner plante nun mit Hofmannsthal die Gründung einer Tschechischen Bibliothek, wie er 1918 in einem Brief an Rudolf Pannwitz mitteilt: Hofmannsthal, dem ich anlässlich seines Prager Besuches die Idee der Gründung einer Tschechischen Bibliothek nahegelegt habe, schrieb mir zu Anfang Jänner, dass er mit einem deutschen Verleger unterhandle, und forderte mich zur Abfassung eines Prospektes für ein solches Unternehmen auf.6

Aber auch die Tschechische Bibliothek konnte nicht realisiert werden: Die bilateralen Beziehungen waren nach 1918 denkbar schlecht und die westlich orientierten tschechischen Intellektuellen an einem Kulturaustausch gerade mit Österreich nicht übermäßig interessiert. So richtete Eisner seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Projekt: Die Slowaken haben die herrlichsten Schätze an Volksliedern, Märchen, Sagen und anderen Hervorbringungen der Volksseele. Aus dem Slowakischen wurde bis heute in keine europäische Sprache auch nur eine Zeile übersetzt. […] Wäre hier nicht, und sei es im bescheidensten Ma[sss]tabe, etwas zu machen?7

4 Hofmannsthal realisierte das Projekt mit dem Verleger Anton Kippenberg vom Insel-Verlag, zwischen 1915 und 1917 erschienen insgesamt 26 Bände. 5 Schon in Hofmannsthals Österreichischem Almanach auf das Jahr 1916 war ein Gedicht von Otokar Březina erschienen, nämlich Meine Mutter (im Original: Moje matka) in der Übertragung von Emil Saudek. Siehe Hofmannsthal, Hugo von (Hg.): Österreichischer Almanach auf das Jahr 1916. Leipzig o. J. [1915], 35–36. 6 Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 22. 1. 1918. In: Thirouin, Briefwechsel, 260–261. 7 Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 11. 1. 1919. In: Ebd., 299. ­– Die slowakische Volksdichtung fand nach Ludwig Richter bis zum Ersten Weltkrieg tatsächlich nur wenig Beachtung, „in diesem Bereich sollte sich die Rezeptionssituation erst nach dem Umsturz von 1918 wesentlich ändern“. Richter, Ludwig: Geschichte der Rezeption slowakischer Literatur im deutschen Sprachraum. In: Šmatlák, Stanislav/Petrík, Vladimír/Richter, Ludwig: Geschichte der slowakischen Literatur und ihrer Rezeption im deutschen Sprachraum. Bratislava 2003, 279. – Allerdings waren schon vor Eisner einige wenige Übersetzungen im Umlauf: Im Westslawischen Märchenschatz von Josef Wenzig von 1912 ­– es handelt sich um den Nachdruck eines Bandes von 1857 – befanden sich auch neun slowakische Märchen, und in Hugo Sonnenscheins Slovakischen Liedern von 1919 kommen – wenn auch nicht gekennzeichnet – vier Volkslieder in Übersetzung vor. Diese konnte aber Eisner im Jänner 1919 noch nicht gekannt haben. Richter, Slowakische Literatur, 65.



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Dieser Brief war ebenfalls an den Dichter und Philosophen Rudolf Pannwitz adressiert, in dem man spätestens seit Erscheinen seiner Krisis der europäischen Kultur 1917 „einen neuen Herder“ gesehen hatte.8 Eisner teilte Pannwitz’ Begeisterung für Herders Ideen und den von ihm propagierten „Geist der Gemeinsamkeit der Völker“ und ihrer „Eigenart“. In diesem Sinne interessierte er sich allgemein für die Volksdichtung und hegte weitere Pläne: Auf den slowakischen Band möchte ich čechische und mährische Volkslieder / je einen Band / folgen lassen. Die Fülle des Materials ist erdrückend und ich wünschte, nur den hundertsten Teil dieser Schätze heben zu können.9

Auch mit Hofmannsthal hielt Eisner weiter Kontakt, er sandte ihm Proben seiner Übersetzungen zu und Hofmannsthal leistete ihm Unterstützung bei der Suche nach einem Verlag für seine Volkslieder: Lieber Herr Eisner, die mähr. Lieder vorgestern hier erhalten und heute mit großem Vergnügen weit mehr als die Hälfte davon durchgelesen. […] – Ich schreibe nun morgen, spätestens übermorgen darüber – und ausführlich – an Professor Kippenberg, den Inhaber des Inselverlages […].10

Eisner suchte seit Anfang 1919 nach einem Verleger und verhandelte neben Anton Kippenberg auch mit Eugen Diederichs, Ernst Rowohlt, Efraim Frisch und mit Richard Kola vom Musarion-Verlag.11 Die ersten Ergebnisse seiner Arbeit konnte er mit den Slowakischen Volksliedern 1920 in der Verlagsanstalt Das Riff in Bratislava präsentieren.12 Der Band ist als eine Art Einführung in die slowakische Volksdichtung konzipiert; er bringt ausführliche Überlegungen zum Charakter dieser Dichtung und damit verbunden zum Wesen der slowakischen ‚Volksseele‘. Neben dem erläuternden Text werden auch etliche konkrete Beispiele vorgestellt, die manchmal mit recht pathetischen Zwischentexten aneinandergereiht sind, wie etwa mit dem folgenden: Ein Seufzer […]. Kindlichste, süßeste Verspieltheit (die Onomatopoen der Versanfänge denke man sich zu Quarten gesungen, die wie die Engelschöre Gustav Mahlers klingen) […]. Daneben das Adagio religioso der Adoration (schon formal ein reines Weltwunder).13

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Vgl. Thirouin, Briefwechsel, 13. Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 23. 5. 1919. In: Ebd., 306. Hugo von Hofmannsthal an Paul Eisner, 19. 7. 1919. In: Ebd., 299. Vgl. ebd., 305. Dieser Verlag wurde von Richard Messer (bzw. Meßleny oder Meszlényi) geleitet, der in Prag als Gymnasialprofessor und Lektor an der Karlsuniversität tätig war. 13 Eisner, Paul: Slowakische Volkslieder. Bratislava 1920, 14.

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Im November 1919 entschied sich auch der Insel-Verlag für einen Band slowakischer Volksdichtung,14 der 1920 erschien. Eisner leitete ihn mit einem Herder-Zitat ein15 und bezeichnete ihn im Nachwort als „späte[n] Nachtrag zu den ‚Stimmen der Völker‘“.16 Der Band enthält über hundert Lieder in vier Abteilungen: Was die Mädchen singen, Was die Burschen singen, Rede und Widerrede und Gestalten und Schicksale. Bezüglich allgemeiner Aussagen über die slowakische Volksdichtung verweist Eisner auf die Slowakischen Volkslieder zurück: „Das Notwendigste, was ich von diesen Hervorbringungen der slawischen Volksdichtung sagen zu müssen glaubte, habe ich an anderer Stelle niedergelegt.“17 Obwohl Hofmannsthal in seinem oben zitierten Brief von mährischen Liedern geschrieben hatte, lautete der Titel des Insel-Bandes nun Slowakische Anthologie. Die terminologische Unklarheit löst ein kurzer Kommentar Eisners am Ende des Bandes auf: Die Lieder stammen entweder aus der Slowakei oder aus der sogenannten Mährischen Slowakei, also aus der Gegend von Kyjov (Gaya), Uherské Hradiště (Ungarisch-Hradisch), Neugedein18 und Břeclav (Lundenburg).19 Recherchen nach den Vorlagen der in der Slowakischen Anthologie übersetzten Lieder verweisen sowohl auf Ján Kollárs Národnie spievanky (Volkslieder)20, als auch auf František Sušils Moravské národní písně (Mährische Volkslieder)21. Folgerichtig erschienen die Gedichte im Band Volkslieder der Slawen dann entweder in der Abteilung Tschechen oder in der Abteilung Slowaken. In diesem 1926 erschienenen Band setzt Eisner seine Erläuterungen zum Charakter der Volksdichtung fort; diesmal bezieht er alle slawischen Literaturen mit ein. Sein Interesse und seine Arbeit an der Volksdichtung legitimiert er hier grundlegend: Die Daseinsberechtigung für seine Arbeit erblickt der Herausgeber in zwei Tatsachen: in der außerordentlichen Bedeutung des slawischen Volkslieds für die Erkenntnis des slawischen 14 Vgl. Thirouin, Briefwechsel, 323. 15 „Die ihr in Dunkel gehüllt, der Menschen Sitte durchwandelt, / Ihre Thaten erspäht, ihre Gedanken umwacht, / Und den Verbrecher ergreift, wenn er am mind’sten es ahnet, / Und den Verwegenen stürzt, dicht an der Krone des Ziels; / Die ihr den Übermuth dämpft, den Tollen über die Schnur jagt, / Tief in die eigene Gruft seines umflammenden Wahns; / Die ihr aus Gräbern hervor die Unthat bringet, dem Seufzer, / Der in der Wüste verstummt, Athem gewährt und Geschrei, / Euch weih’ ich die Stimme des Volks der zerstreueten Menschheit,  / Ihren verholenen Schmerz, ihren verspotteten Gram.“ Eisner, Slowakische Anthologie, o. S. 16 Ebd. 17 Ebd., 77. 18 Hier kann wohl nicht das westböhmische Kdyně gemeint sein; wo es aber in der mährischen Slowakei ein Neugedein gibt, konnte nicht herausgefunden werden. 19 Eisner: Slowakische Volkslieder, 6. 20 Vgl. Kollár, Ján: Národnie spievanky [Volkslieder]. 2. Aufl., 2 Bde., Bratislava 1953 (Erstausgabe 1834/1835). 21 Vgl. Sušil, František: Moravské národní písně [Mährische Volkslieder]. 3. Aufl., Praha 1941 (Erstausgabe 1835).



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Seelen- und Geisteslebens und in der geringen Beachtung, die Westeuropa diesen wichtigen Dokumenten der slawischen Volksseele zuwendet. […] ohne Kenntnis des Volkslieds, seiner musikalischen Seite vor allem, bleibt die slawische Kunstmusik unverständlich in ihrer Entstehung, ihrem eigentlichen Wesen und ihrer Bedeutung als Ausdruck der Volksseele […]. Das slawische Volkslied ist ein völkerpsychologisches, kunst- und kulturhistorisches Dokument von unvergleichlicher Bedeutung.22

Erst gegen Ende der zwanziger Jahre gab Eisner wieder Kunstdichtung heraus. Neben der Übersetzung einzelner tschechischer Autoren23 ist vor allem das epochale Werk Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten zu nennen, das Eisner 1928 im Münchner Piper-Verlag veröffentlichte. Das Projekt ist, wie Eisner im Vorwort schreibt, älteren Datums: Gedanke und Entwurf des Buches gehen auf das Jahr 1917 zurück, wo Hugo von Hofmannsthal, in der bessern Erkenntnis tschechischer Geistesdinge eine deutsche Notwendigkeit erblickend, mit dem Herausgeber eine Tschechische Bibliothek begründete, die in der Ungunst der Zeit über Manuskripte nicht hinausgedieh. Auf jene Konzeption wird hier zurückgegriffen, an sie von neuem angeknüpft, in der Meinung, daß die erkannte Notwendigkeit von 1917 auch eine Notwendigkeit von 1928 ist.24

Eisner stellte in seiner Anthologie in zumeist eigenen Übersetzungen insgesamt 57 Autoren vor, darunter fünf Slowaken. Das Buch ist in vier große Abschnitte unterteilt: Der Abschnitt Gott und Staat enthält historisch-politische Texte, der Abschnitt Seele Lyrik, der Abschnitt Welt Prosa und der Abschnitt Das deutende Wort Texte zur Ästhetik und Literaturkritik. Slowakische Autoren finden sich symptomatischerweise nur in der Lyrik und in der Prosa. Vertreten sind Svetozár Hurban Vajanský mit dem Gedicht Štrbské pleso (Der Štrba-See), Hviezdoslav mit einer Passage aus Ecce homo,25 Ivan Krasko mit dem Gedicht Hostia (Gäste), Ján Kalinčiak mit dem Kapitel Die Hellebarde aus der Novelle Reštavrácia (Die Wahl) und Martin Kukučín mit dem Ausschnitt Ondráš holt die Gans aus der Erzählung Neprebudený (Der Tölpel)26. Alle Übersetzungen aus dem Slowakischen stammen von Eisner selbst. Er machte damit als einer der ersten slowakische Gedichte in deutscher Sprache zugänglich.27 22 Eisner, Paul (Hg.): Volkslieder der Slawen. Ausgewählt, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Paul Eisner. Leipzig 1926, 5. 23 Eisner übersetzte zum Beispiel Karel Hynek Mácha, Otokar Březina, Emanuel Lešehrad, František Xaver Šalda, Jaroslav Durych oder František Halas. 24 Eisner, Paul (Hg.): Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten. München 1928, 7. 25 Die slowakische Vorlage dieses Gedichts konnte leider nicht ausfindig gemacht werden. 26 Beide Kapitelüberschriften wurden von Eisner hinzugefügt. 27 Davor gab es in deutscher Sprache nur einige wenige slowakische Gedichte im Band Europäische Lyrik der Gegenwart 1900–1925 zu lesen. Diesen hatte Josef Kalmer 1927 in Wien und Leipzig herausgegeben – mit Beispielen von Ivan Krasko, Vladimír Roy und Martin Rá-

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II. Eisner war einer der ersten und fleißigsten Übersetzer slowakischer Volks- und Kunstdichtung ins Deutsche. Auffallend ist an seiner Arbeit, wie sehr er die slowakische Literatur aus der tschechischen Perspektive darstellt – und sich damit an einem kulturellen Hierarchisierungsprozess beteiligt, der das tschechoslowakische Verhältnis vor wie nach der Gründung des gemeinsamen Staates in fast allen Lebensbereichen prägte. Zu dieser Behauptung können folgende Argumente aus dem textuellen wie paratextuellen Bereich angeführt werden. Erstens: Eisner subsummiert die slowakische Literatur in seiner Anthologie von 1928 hinweislos unter den Titel Die Tschechen. Man muss dieses Vorgehen nicht als hegemoniale Geste deuten, sondern kann es ganz im Gegenteil auf einen besonders hohen Identifikationsgrad zurückführen: Die Zusammengehörigkeit der Tschechen und Slowaken wurde nach 1918 extrem propagiert, und selbst slowakische Politiker machten oft keinen terminologischen Unterschied, wie etwa Ferdinand Peroutka 1918/19 in Budování státu (Der Aufbau des Staates) berichtet: Nehmt so einen Štefánik – er war so erfüllt von der Empfindung der Einheit beider Stämme, dass er bei seiner ganzen auswärtigen Arbeit während des Krieges über die slowakische Frage gar nicht eigens sprach […]. Wenn er über die Tschechen sprach, meinte er damit auch die Slowaken. Er erklärte, dass die Tschechen Slowaken sind, die in den tschechischen Ländern leben, und die Slowaken sind Tschechen, die in der Slowakei leben.28

Die Gründung des tschechoslowakischen Staates betrachtete man als Korrektur des Zerfalls des Großmährischen Reiches, Tschechen und Slowaken als Zweige eines einzigen „Stammes“ und das Tschechische, Mährische, Schlesische und Slowakische als Varianten einer einzigen Sprache. Albert Pražák schreibt dazu 1945 in Národ se bránil (Die Nation wehrte sich): Wir haben uns während des Krieges mit dem Hinweis befreit, dass wir und die Slowaken ein Volk sind, dass wir eine Sprache sprechen, dass wir Tschechoslowaken sind, dass wir eine unteilbare tschechoslowakische Nation bilden und tschechoslowakisch sprechen. […] Dem gaben auch die Wissenschaft, die Philologie, die Literaturgeschichte, die Geschichte, die zus. Auch nach Eisner erschienen bis zum Zweiten Weltkrieg nur noch zwei Anthologien mit slowakischer Kunstdichtung. Vgl. Richter, Geschichte der Rezeption slowakischer Literatur, 286. 28 „Vezměte takového Štefánika – byl tak naplněn pocitem jednoty obou kmenů, že při celé své zahraniční práci za války ani o slovenské otázce zvláště nepromluvil […]. Mluvil-li o Češích, myslil tím i Slováky. Vyjadřoval se, že Češi jsou Slováci, kteří bydlí v českých zemích, a Slováci jsou Češi, bydlící na Slovensku.“ Peroutka, Ferdinand: Budování státu [Der Aufbau des Staates]. Bd. 1, Praha 1991, 282.



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Geografie, die Soziologie, die heimische wie die fremde, sogar auch die wissenschaftlich tätigen Slowaken selbst ihren Segen.29

Freilich hätte Eisner seine Anthologie unter Verwendung obiger Terminologie auch Die Tschechoslowaken nennen können.30 Zweitens: Eisner schreibt die slowakischen Eigennamen in der tschechischen Form, also Ján Kalinčiak mit kurzem Vornamen und Kalinčiak mit „á“ statt „ia“.31 Auch Ján Kollár und Pavol Jozef Šafárik, die Eisner in der allgemeinen Einleitung – ohne Hinweis auf ihre slowakische Herkunft – erwähnt, sind in der tschechischen Form geschrieben. Zwar sind beide selbst gegen eine sprachliche Trennung des Tschechischen und Slowakischen aufgetreten, doch fällt Eisners Arbeit in eine Zeit, da diese längst vollzogen war. Darüber hinaus hätte Eisner als ausgebildeter Slawist sensibler differenzieren können. Drittens: Eisner behandelt die slowakische Literatur der tschechischen weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht gleichwertig. 52 tschechischen Autoren stehen nur fünf slowakische gegenüber. Mit Hurban Vajanský, Hviezdoslav, Krasko, Kalinčiak und Kukučín wählt Eisner unumstrittene Klassiker, die – bis auf Krasko – auch in tschechischen Verlagen oder in tschechischer Sprache erschienen waren,32 29 „Osvobozovali jsme se za války poukazem, že jsme se Slováky jeden národ, že mluvíme jednou řečí, že jsme Čechoslováci, že tvoříme nedílný československý národ a mluvíme českoslovenštinou. […] Sankci k tomu dala […] i věda, filologie, literární historie, historie, národopis, sociologie, domácí i cizí, ba i vědecky pracující Slováci sami […].“ Pražák, Albert: Národ se bránil. Obrany národa a jazyka českého [Die Nation wehrte sich. Die Verteidigung der Nation und der tschechischen Sprache]. Praha 1945, 380–381. Hervorhebung im Original. 30 Übrigens nahm auch ein weiterer bedeutender Literaturvermittler in den deutschsprachigen Raum, Arne Novák, in seinen Überblickswerken Die tschechische Literatur von der Vogelperspektive (Prag 1923) und Die tschechische Literatur (Potsdam 1931) die slowakische Literatur ohne paratextuellen Hinweis in seine Darstellungen auf. 31 Kalinčiak war allerdings als Direktor des Evangelischen Gymnasiums in Těšín (Teschen) mit dem Tschechischen bestens vertraut. 32 Von Hurban Vajanský war zum Beispiel 1927 in Prag bei Jan Otto Herodes a jiné básně (Herodes und andere Gedichte) erschienen; von Hviezdoslav 1912, ebenfalls bei Otto, Básně biblické (Biblische Gedichte), dann 1919 in Prag ohne Angabe des Verlegers Krvavé sonety (Blutige Sonette), und schließlich 1920 in der Edition Slovenské besedy (Slowakische Gespräche) bei František Bačkovský Vybrané básně (Ausgewählte Gedichte). Nur von Krasko war bis 1928 kein einziger Band in einem tschechischen Verlag erschienen. Kalinčiaks Reštavrácia wurde dagegen mehrmals herausgegeben: 1900 im Brünner Verlag František Sláma in einer tschechischen Fassung von Karel Kálal; 1920 in einem Nachdruck von 1871 vom Prager Verleger František Bačkovský, und 1928, wieder in Prag, von Leopold Mazáč. Auch Kukučín war im tschechischen Landesteil mit mehreren Ausgaben präsent: 1913 und noch einmal 1920 war bei František Topič der Band Výbor z povídek Martina Kukučína (Eine Auswahl von Erzählungen Martin Kukučíns) erschienen; 1918 der Band Dvě povídky ze Slovenska (Zwei Erzäh-

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und die auch in der erstmals 1907 publizierten deutschsprachigen Geschichte der čechischen Litteratur33 von Jan Jakubec und Arne Novák prominent vertreten sind. Während Eisner die tschechische Literatur bis in die aktuelle Gegenwart präsentiert – mit Nach- und Zwischen­kriegs­autoren wie Jiří Wolker, Josef Hora, Konstantin Biebl, Vítězslav Nezval, Jaroslav Seifert, František Halas, Vilém Závada, Jaroslav Durych, Vladislav Vančura oder Karel Čapek – führt er die slowakische Literatur nur bis zur Moderne; Vertreter der 1920er Jahre wie Ján Smrek, Ladislav Novomeský, Jozef Cíger Hronský oder Milo Urban werden nicht vorgestellt. Die von Eisner vorgenommene Auswahl bestätigt die in tschechischen Kreisen vorherrschende Meinung vom geringeren Entwicklungsstand der slowakischen Literatur. Sogar ein slowakenfreundlicher Intellektueller wie František Xaver Šalda – dessen Meinung für Eisner immer maßgebend war – schrieb 1928 im Artikel Centralism a partikularism v písemnictví našem i cizím (Zentralismus und Partikularismus in unserem und im fremden Schrifttum): Es geht darum, dass die slowakische Literatur die tschechische Literatur bald einholt, mit ihr auf die gleiche Entwicklungsstufe gelangt: denn nur so wird sie mit ihr wetteifern können und in diesem Wetteifer liegt die ganze höhere Entwicklungsfähigkeit unserer zukünftigen Literatur.34

Viertens: Eisner beschreibt die slowakische Literatur vorwiegend durch Messung an und Vergleich mit der tschechischen. Ich zitiere zunächst aus der Einleitung zum Lyrik-Teil der Anthologie Die Tschechen: Die slowakische Dichtung, die in noch höherem Maße als die tschechische von der nationalen Sendung in Anspruch genommen war, nimmt im ganzen eine parallele Entwicklung mit der Dichtung des Bruderstammes […]. Einen mit Svatopluk Čech annähernd vergleichbaren Dichter hat sie in Svetozár Hurban Vajanský, einen in der außerordentlichen Weite der dichterischen Horizonte an Vrchlický erinnernden in Hviezdoslav; Ivan Krasko bildet die Impulse der tschechischen Dichtergeneration von 1890 selbständig fort und ist der bedeutendste absolute Dichter der Slowaken.35 lungen aus der Slowakei) bei Jan Otto, und 1919 der Band Výbor povídek (Eine Auswahl von Erzählungen) bei František Bačkovský; die Novelle Neprebudený erschien 1918 in Pacov bei Přemysl Paček als zweiter Band der Knižnice československá (Tschechoslowakische Bibliothek). 33 Jakubec, Jan/Novák, Arne: Geschichte der tschechischen Litteratur. Leipzig 1907 (2. Aufl. 1913). 34 „[…] jde o to, aby slovenská literatura dohonila brzy literaturu českou, dostala se s ní na stejný vývojový stupeň: neboť jen tak bude s ní moci soupeřiti a v tomto soupeření je celá vyšší vývojnost naší příští literatury.“ Šalda, František X.: Centralism a partikularism v písemnictví našem i cizím [Zentralismus und Partikularismus in unserem und im fremden Schrifttum]. In: Šaldův zápisník [Šaldas Notizbuch]. Bd. 1, Praha 1990 (Erstausgabe 1928/29), 297–305, hier 304. 35 Eisner, Die Tschechen, 114.



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Interessanterweise nannte Šalda im weiter oben zitierten Artikel ebenfalls Parallelen, allerdings nicht zwischen Hurban Vajanský und Čech, sondern zwischen Hviezdoslav und Čech36 – woran man ablesen kann, wie beliebig solche Gleichsetzungen mitunter sein können. Auch für die Beschreibung der slowakischen Prosa bedient sich Eisner des Vergleichs: War die Geburt der tschechischen Prosa schwer, so mußte es jene der slowakischen in noch viel höherem Maße sein – aus inneren und äußeren Gründen. Immerhin brachte es die slowakische Prosa in einer ansehnlichen Reihe von Autoren zu den Früchten eines reifen Realismus, dessen Klassiker Martin Kukučín […] ist; ein Ahnherr Kukučíns, der köstliche Jan Kalinčák […] ist mit einer Episode seines besten Buches auch der Zeuger eines slowakischen Verwandten Schwejks.37

Der Verweis auf Hašeks Švejk ist für den deutschsprachigen Leser durchaus sinnvoll, denn dieser zunächst 1921–1923 in Heften erschienene Roman wurde international besonders intensiv rezipiert – Eisner erachtet ihn gar als das „weltberühmteste aller tschechischen Bücher“38 – und bereits 1926 erschien Grete Reiners Übertragung ins Deutsche.39 Schon bei der Präsentation der slowakischen Volksdichtung hatte Eisner auf Vergleiche mit dem Tschechischen gesetzt – beginnend bei der Sprache, die sonorer und lautlich ausgeglichener sei als das Tschechische, und endend beim Charakter der Volkslieder: Die tschechischen seien ironisch, aphoristisch und rationalistisch, die slowakischen dagegen lyrisch und pathetisch.40 Eisner verwendet in seiner Beschreibung übrigens selbst ein gehöriges Maß Pathos: Sein sanguinisch-cholerisches Temperament macht ihn [den Slowaken] zum geborenen Redner und Vortragskünstler. Tiefe Schwermut geht jäh in loderndes Pathos, dieses in die ausgelassenste Fröhlichkeit über. Als Hirte und Bewohner von Bergeinöden hat der Slowake ein nahes Gefühlsverhältnis zur Natur. […] Dazu kommt das slowakische Wort, das klangvoller und unberührter ist als das tschechische. […] Die slowakische Volks36 Šalda, Centralism, 299. 37 Eisner, Die Tschechen, 268. 38 Trotzdem schätzt Eisner Hašeks Švejk nicht übermäßig: „Gewiß ist er ein nicht alltägliches Stück Humors, eines Humors mit tieferer Bedeutung, die in der passiven Auflehnung der geknechteten Bürgerkreatur gegen den Götzen Staat beruht; als ein für die tschechische Literatur und den tschechischen Geist besonders bezeichnendes Buch kann er aber aus vielen Gründen nicht gelten […].“ Ebd., 268. 39 Außerdem fertigte der sächsische Satiriker Hans Reimann zusammen mit Max Brod 1927 eine Bühnenfassung an, und 1928 wurde der Schwejk mit großem Erfolg auf Erwin Piscators Berliner Bühne unter Mitwirkung von George Grosz und Bertolt Brecht aufgeführt. 40 Vgl. Eisner, Volkslieder der Slawen, 26.

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erotik zeigt ein dunkleres Herzblut als die tschechische; sie ist leidenschaftlicher und oft tragisch gefärbt. Auch die Soldatenlieder sind schwermütiger. Die düsteren sozialen Schicksale haben in einer Reihe slowakischer Lieder ihren dichterisch bedeutenden Niederschlag gefunden.41

Fünftens: Eisner wiederholt und bestärkt nationale Stereotype. An erster Stelle steht der Mythos von der Slowakei als Land der Lieder, der im Kommentar zu den Volksliedern der Slawen zum Tragen kommt: Die ganze Schaffenskraft dieses jahrhundertelang zu einem traurigen Lose verurteilten Analphabetenvolkes hat sich in seiner Volkskunst zusammengedrängt, vor allem im Lied, das weithin nach Mähren, Karpathorußland, Galizien, Ungarn ausstrahlt.42

An anderer Stelle schreibt Eisner: Es ist, als hätten sich alle schöpferischen Kräfte dieses kleinen, seit Aberzeiten dem widrigsten Geschick preisgegebenen Stammes ohne äußere Schicksale, ohne ragende Gestalten von Kriegern und Lenkern, ohne adelige oder auch nur bürgerliche Kultur, bestenfalls Bauern, meist aber Kätner, Hirten und wandernde Werkleute, vereinigt, um diese einzige Blüte zu treiben, wie der Baum, dem immer wieder die Äste abgehauen werden, allen Saft der Wurzeln in den letzten verbliebenen Zweig strömen läßt. Mehr als das: diese Lieder sind niemals poetische Petrefakte, sie leben ein ewig junges Leben und erstehen im Munde des Volkes immer wieder und in immer neuen Varianten.43

Auch in der deutschsprachigen Rezeption der slowakischen Literatur hat das Volkslied einen besonderen Stellenwert – bis 1997 erschienen nach Ludwig Richter etwa hundert Publikationen, die slowakische Volkslieder enthalten.44 Bei Eisner ist die Gewichtung zwischen Volks- und Kunstdichtung circa 140 zu nur fünf. Den Topos von der schönen, unberührten und von der Zivilisation noch nicht verdorbenen Natur greift Eisner mit der Präsentation von Hurban Vajanskýs Gedicht Der Štrba-See auf, das die Schönheit dieses Bergsees in der Tatra besingt. Auffällig ist an dem Gedichttitel, dass ihn Eisner nicht mit der deutschen Bezeichnung Tschirmer See wiedergibt – alle anderen Titel sind bei ihm übersetzt und auch in seinen Kommentaren verwendet Eisner üblicherweise die deutschen Ortsnamen. Ein weiteres, im tschechischen Raum verbreitetes Stereotyp bezieht sich auf die slowakische Mentalität als kindlich, naiv und instinktiv. Schon die slowakische Sprache befinde sich, so Eisner im Kommentar zu den Slowakischen Volksliedern,

41 42 43 44

Ebd., 26–27. Ebd. Eisner, Slowakische Volkslieder, 4. Richter, Slowakische Literatur in deutschen Übersetzungen, 55.



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[…] im glücklichen Kindesalter der Sprachen, ohne schriftmäßige Tradition, jedes Sediments von Phrase und Abstraktion bar, durch und durch dinghaft, scholleatmend, überreich an den glücklichsten Fügungen.45

Auch Šalda hatte die Slowakei in einem Essay von 1904/05 als „Land eines kindlichen Volkes“ (země dětského lidu) bezeichnet, „im Schlechten wie im Guten naiver als wir, in dem noch laut die dunklen Quellen der Instinkte sprechen“.46 Bei Eisner liest man ganz ähnlich: „Der seelische Fonds ist [beim Slowaken] viel größer als beim Tschechen. Er ist kindlicher, gläubiger, instinktsicherer und spontaner.“47 Gleichzeitig ist auch das Stereotyp der Urtümlichkeit in Gebrauch, das Karel Čapek in seinen Obrázky z domova (Bilder aus der Heimat) sogar bis ins biblische Alter zurückgeführt hatte: [Die Landschaft, G. Z.] ist weniger durch die Zivilisation modelliert, […] sie ist altertümlicher, epischer […]. Die Slowakei ist bis jetzt kein Land der Bauern; sie ist ein Land der Hirten geblieben. […] Hier kann man noch über die Schöpfung in einem nahezu biblischen Sinne sprechen.48

Zuletzt sei der wiederkehrende Vergleich des leidenden slowakischen Volkes mit Christus erwähnt, den Eisner mit der Wahl von Hviezdoslavs Ecce Homo aufgreift. Der Anfang des Gedichts identifiziert den zu betrachtenden Schmerzensmenschen mit dem Slowaken schlechthin: Hier habt ihr eines Menschen Ebenbild, der ward geboren – waises Kind der Slava – im Schummergeschoß des hohen Tatrazugs […]49

Hviezdoslav beschreibt den „homo slovacus“ als „bitterschwer, doch noch am Leben verbleibend“, und als „Jammerbild“: […] Gar unansehnlich der Wuchs, das Haupt, als hielt es bodenwärts ein Druck und er nicht wüßte ihn zu brechen mit seiner Faust; […] 45 Eisner, Slowakische Volkslieder, 19. 46 „[…] naivnějšího ve zlém i v dobrém, než jsme my, v němž hlasitě hovoří ještě temné prameny instinktů“. Šalda, František Xaver: Boje o zítřek [Kämpfe um das Morgen]. Praha 2000 (Erstausgabe 1904), 216. 47 Eisner, Volkslieder der Slawen, 26–27. 48 „[Kra­jina, G. Z.] je míň modelovaná ci­vilisací, […] je sta­ro­dáv­něj­ší, epičtějsí […]. Slovensko není dosud zemí sedláků; zů­sta­lo zemí pastýřů. […] Tady lze ještě mluvit o tvor­stvu ve smyslu téměř biblickém.“ Čapek, Karel: Obrázky z domova [Bilder aus der Heimat]. Praha 1953, 99. 49 Eisner, Die Tschechen, 140.

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[…] Ist’s traurig nicht, das Bild? Nicht peinlich anzusehn? […]50

Die Dichtung endet mit einem rechtfertigenden Appell: Und dennoch staunt nicht und entsetzt euch nicht, nehmt Ärgernis nicht, wenn ihr ihn so seht! Verachtet ihn nicht, brecht nicht euren Stab ob seinem Haupt und sprecht das Urteil nicht, nicht über ihn allein! […] nicht konnt er doch den Rahmen des Gebirgs anders ausfüllen […], mit […] großer Geschichte … nein, er konnt es nicht, so glaubt ihm nur!51

Auch Kukučíns Neprebudený ist ein schwacher und unterlegener Held. Er leidet allerdings nicht an politischer oder nationaler Unterdrückung, sondern am Druck, den die Dorfgemeinschaft auf ihn ausübt. Dem leidenden und unterjochten Slowaken steht als Antipode und aktiver, rebellischer Held der Räuber Jánošík gegenüber; ihm ist ein Gedicht in der Slowakischen Anthologie und eines in den Volksliedern der Slawen gewidmet. Er bildet nach Eisner, zusammen mit den Türkenkriegen, die epische Ausnahme in der sonst lyrisch dominierten slowakischen Volksdichtung.52 Auch Jánošík wird übrigens von Eisner mit kurzem „a“ geschrieben. Die angeführten Beispiele belegen, wie intensiv Eisner nationale Stereotype aufgreift, fortschreibt und in den deutschen Sprachraum verbreitet. Die meisten davon haben sich weit in das 20. Jahrhundert hinein gehalten.53 Die Pflege dieser tschechischen Stereotypen über die Slowaken und die davor aufgezählten Belege zeigen, dass sich Eisner an jener kulturellen Hierarchisierung beteiligt, gegen die sich die Slowaken mehr und mehr – und politisch letztlich erfolgreich – gewehrt haben.

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Ebd., 140–141. Ebd., 142. Eisner, Slowakische Volkslieder, 5–6. Die Vorstellungen über die Slowakei beschrieb Felix Vodička 1968 in seiner Studie Český li­ terární mýtus o Slovensku (Der tschechische literarische Slowakei-Mythos). Abgedruckt in: Patera, Ludvík/Chmel, Rudolf (Hg.): Kontext české a slovenské lite­ra­tury. Antologie českých a slovenských textů 1830–1989 [Der Kontext der tschechischen und slowakischen Literatur. Eine Anthologie tschechischer und slowakischer Texte 1830–1989]. Praha 1997, 214–224.



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III. In der ersten Dekade nach 1918 stand die slowakische Selbstrepräsentation auf schwachen Beinen,54 daher war Eisners Beitrag willkommen. In zeitgenössischen slowakischen Literaturzeitschriften finden sich zwar nur wenige Hinweise auf Eisners Übersetzungs- und Vermittlungstätigkeit, doch zu den Volksliedern der Slawen druckten die Slovenské pohľady (Slowakische Rundschau) im Jahr 1927 eine überaus positive Rezension ab: [Eisner, G. Z.] ist als ergebener Propagator und Interpret der slawischen Literaturen bekannt, besonders der tschechischen Literatur […] und der traditionellen slowakischen Literatur (Die ‚Slovakische Anthologie‘ erschien im Jahre 1920). […] Zu Recht weist er auf die Unterschiede zwischen dem tschechischen und dem slowakischen Volkslied hin, hebt die charakteristischen Merkmale des slowakischen Lieds hervor. […] Die Charakteristik ist als Ganzes so schön, dass es unmöglich ist, sie nicht wenigstens in den Hauptpunkten zu zitieren. Es ist bewundernswert, wie treffend sie ist.55

Eisners Übersetzungsarbeit wird hier ebenso gelobt, wie seine sachkundigen Kommentare: An jedem Vers ist offenbar, dass ein Dichter übersetzt hat. Die Übersetzungen sind gut, und das nicht nur von der rein dichterischen Seite, sondern auch von der musikalischen Seite, sie weichen vom ursprünglichen Rhythmus nur in den unumgänglichsten Fällen ab – sie sind genau von Kollár und von den Slowakischen Gesängen geschöpft. […] Eisner hat sich jedoch nicht nur auf das Vorwort beschränkt, sondern auch Anmerkungen angefügt, die bezeugen, dass er die Fachliteratur und die Sache selbst gut kennt. Schade

54 Eigene deutschsprachige Beiträge über die slowakische Literatur gab es erst in den 1930er Jahren, etwa in der Slavischen Rundschau oder in der Prager Rundschau. Im Detail handelt es sich etwa um Darstellungen von Andrej Mráz (Der slovakische Nachkriegsroman, 1936; Slovakische Prosa der Nachkriegszeit, 1937), Milan Pišút (Der Anteil der Slovaken an der Entwicklung der tschechoslovakischen Literatur, 1937), Flora Kleinschnitzová und Štefan Krčméry (Gelöste Zungen. Ein Kapitel aus dem letzten Jahrzehnte slovakischer Literatur), und Rudo Brtáň (Zeitgenössische slovakische Lyrik, 1939). Vgl. auch Richter, Geschichte der Rezeption slowakischer Literatur im deutschen Sprachraum, 281–284. 55 „[Eisner, G.  Z.] je známy ako oddaný propagátor a interpret slovanských literatúr, najmä literatúry českej […] a tradičnej slovesnosti slovenskej (‚Slovakische Anthologie‘ vyšla r. 1920). […] Správne poukazuje na rozdiely medzi ľudovou piesňou českou a slovenskou, vyzdvihuje charakteristické znaky slovenskej piesne. […] Celková charaktersitika je taká krásna, že nemožno jej aspoň v hlavných bodoch necitovať. Je obdivuhodné, aká je výstižná.“ Unbetitelte Rezension zu Eisners Volksliedern der Slawen, gezeichnet mit den Initialen J. B. In: Slovenské pohľady, 43 (1927), 538.

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nur, dass es nicht möglich war, auch die Melodien anzufügen. Aber auch so ist Eisners schöne Anthologie wertvoll. Wir sind ihm für sie dankbar.56

Mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei veränderten sich die Bedingungen radikal: die slowakisch-deutsche Literaturvermittlung fand nach 1939 direkt,57 ohne den tschechischen Umweg – und auch ohne Paul Eisner – statt.

56 „Na každom verši je zrejmé, že prekladal básnik. Preklady sú dobré, a to nielen so stránky čisto básnickej, ale i so stránky hudobnej, odchyľujúc sa od pôvodného rytmu len v prípadoch najnevyhnuteľnejších – presne sú čerpané z Kollára a zo Slov. Spevov. […] Eisner neobmedzil sa však len na úvodné slovo, ale pripojil i poznámky, ktoré svedčia, že dobre zná literatúru predmetu i vec samú. Škoda len, že nebolo možno pripojiť i melodie. Ale i takto je Eisnerova krásna antologia cenná. Sme mu za ňu vďační.“ Ebd., 539. 57 Siehe vor allem Mráz, Andreas: Die Literatur der Slowaken. Berlin/Wien/Prag 1943.

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Auf dem Felsen. Eisners Mácha-Rezeption aus heutiger Sicht Karel Hynek Mácha war für Paul Eisner ein immer wiederkehrendes Thema. Eisner begann sich seit dem hundertsten Todestag 1936 Máchas intensiver für den Dichter zu interessieren. In der Prager Presse veröffentlichte er zwischen 1936 und 1938 über 30 Texte, die sich direkt oder indirekt mit Mácha beschäftigten.1 Eisner selbst bezeichnet im Vorwort zu seinem Mácha-Buch Na skále (Auf dem Felsen) das Jahr 1939 als entscheidend für seine eigenen Forschungen über den Dichter. In diesem Jahr sei er von dem Literaturwissenschaftler Jan Mukařovský aufgefordert worden, eine Studie für den geplanten Sammelband Věčný Mácha (Der ewige Mácha) beizusteuern. Das sei, so Eisner, für ihn der entscheidende Impuls gewesen, Máchas Werk systematisch zu studieren und von der bisherigen, auf bloßen ‚Einfällen‘ beruhenden und schon deshalb nicht methodischen und in ihren Ergebnissen unverbindlichen Arbeiten zu einer systematischen Arbeit und einer wissenschaftlich fundierten Essaistik2

überzugehen. Wie vor allem die Aufsatzsammlung Na skále zeigt, beschäftigte sich Eisner während der gesamten Protektoratszeit immer wieder mit Máchas Werk. In dieser Studie klingen schon seine Okusy Ignaze Máchy (Versuche des Ignaz Mácha) von 1956 an, die eine Einleitung über Máchas deutschsprachige Anfänge, Kommentare zu den einzelnen auf Deutsch verfassten Gedichten und ihre Übersetzungen ins Tschechische enthalten. Die Okusy stellen sowohl zeitlich als auch qualitativ die Vollendung von Eisners Mácha-Forschungen dar. Ihre Veröffentlichung hat allerdings eine lange Vorgeschichte.3 1 Vgl. im Anhang zu dieser Studie das „Verzeichnis der Texte Paul Eisners zum Werk K. H. Máchas.“ Die dort angeführten Texte werden in der Folge in den Anmerkungen nur in Kurzform angeführt. 2 Eisner, Na skále, 5. 3 Eisner veröffentlichte 1936 in den Lidové noviny die Übersetzung von sieben deutschsprachigen Gedichten des Dichters. Siehe Eisner, Z německých básní Karla Hynka Máchy, 1; ders., Mé slasti, 2. – Gleichzeitig kündigte Arne Novák in derselben Zeitung an, dass Eisner für einen Sammelband über Mácha „eine genaue Studie über die Jugendgedichte Máchas“ schreibt. Novák, Arne: Německé básně K. H. Máchy [Deutschsprachige Gedichte K. H. Máchas]. In: Lidové noviny, 17. 5. 1936, Nr. 249, 9. Ein Brief Eisners an Václav Černý von 1939 belegt jedoch, dass es sich um einen unveröffentlichten Beitrag handelte, der ursprünglich in Nováks 1937 herausgegebenen Sammelband Karel Hynek Mácha. Osobnost, dílo, ohlas (Karel Hynek Mácha. Person, Werk, Nachhall, 1937) erscheinen sollte. Vgl. Literární archiv Památníku

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Mit den Okusy vermittelte Eisner dem tschechischen Publikum einen weniger bekannten und eher marginalen Teil von Máchas Werk. Demgegenüber sind seine deutschen Mácha-Übersetzungen sichtlich bestimmt von der Bemühung, den deutschsprachigen Rezipienten höchste ästhetische Werte zu vermitteln. Relativ vollständig verzeichnen Karel Polák und Ladislav Nezdařil Eisners Tätigkeit auf diesem Gebiet:4 Übereinstimmend führen sie die Übersetzung des Gedichts Noc národního písemnictví [Tschechisches Literaturarchiv, im Folgenden LA PNP]. Bestand Václav Černý. Pavel Eisner Václavu Černému [Paul Eisner an Václav Černý], 14. 5. 1939. Eisner kündigte außerdem 1937 in der Prager Presse ohne Angabe des Übersetzers eine vom Verlag Vilém Šmidt geplante Übertragung von Máchas Jugendgedichten ins Tschechische an. Vgl. Eisner, Erinnerungen an Petr Bezruč, 12. Dafür, dass es sich um eine eigene Übersetzung Eisners handeln sollte, spricht seine Vertrautheit mit der Übersetzungsmethode, die noch dazu mit der von Eisner später bei den Okusy verwendeten identisch ist. Zu ihrer Charakteristik vgl. ders.: Okusy Ignaze Máchy, 121; Králík, Oldřich: Máchovy německé básně [Máchas deutschsprachige Gedichte]. In: Host do domu, 4 (1957) H. 3, 134; Povejšil, Jaromír: K překladatelské praxi Pavla Eisnera [Zur Übersetzungspraxis Paul Eisners]. In: Časopis pro moderní filologii, 74 (1992) H. 1, 14–15. Das Projekt des Verlags wurde jedoch nicht umgesetzt. Rund zwei Jahre später erschien in der Zeitschrift Kritický měsíčník (Kritisches Monatsblatt) Eisners Übersetzung dreier (!) deutschsprachiger Gedichte Máchas. Siehe Eisner, Karel Hynek Mácha. Dvě [sic!] německé básně, 278–280, und die Studie dess., Máchova truchlorouška, 202–208. Diese systematische Studie über Máchas deutschsprachige Anfänge als Dichter ist höchstwahrscheinlich identisch mit dem von Eisner im Brief an Černý erwähnten Text, der demnach eine späte Verwirklichung des ursprünglich für den Novákschen Sammelband vorgesehenen Beitrags darstellt. Im Vorwort zu Na skále erwähnt Eisner seine „druckfertige Studie über Máchas Anfänge als Dichter“ und in der Studie V zajetí kolovrátku (Im Bann des Leierkastens), die auch Teil dieses Buchs ist, verweist er auf die einleitende Studie zur Übertragung von Máchas deutschsprachigen Texten, die schon wenig später im Verlag Jaroslav Podroužeks erscheinen sollte. Vgl. hierzu Eisner, Na skále, 5 u. 110. Soweit mir bekannt ist, wurde keiner dieser Pläne umgesetzt. Dass Eisner Mácha für Podroužek faktisch neu übersetzte, belegen zwei Briefe Eisners an den Verleger mit dem Incipit „Drahý příteli, díky a zas po pořádku…“ [Teurer Freund, danke, und wieder der Reihe nach...] und „Drahý příteli Jaroslave, mám hezkou neděli…“ [Teurer Freund Jaroslav, ich habe einen schönen Sonntag...]. LA PNP. Bestand Jaroslav Podroužek. Der Herausgeber Karel Janský informiert im Anmerkungsapparat zu den Spisy Karla Hynka Máchy darüber, dass Eisner handschriftliche Übersetzung verloren gegangen sei. Wenn damit die Handschrift der Übersetzung für Jaroslav Podroužek gemeint ist, so bedeute dies, dass Eisner einige Gedichte für die Okusy Ignaze Máchy bereits zum dritten Mal übersetzte. Vgl. Spisy Karla Hynka Máchy I. Básně a dramatické zlomky [Karl Ignaz’ Máchas Werke I: Gedichte und dramatische Fragmente]. Praha 1959, 469. – Ich danke Daniel Řehák, der mir diese Materialien zur Verfügung stellte. 4 Polák, Karel: Překlady z K. H. Máchy do cizích jazyků [Die fremdsprachigen Übersetzungen des Werks K. H. Máchas]. In: Hartl, Antonín (Hg.): Věčný Mácha [Der ewige Mácha]. Praha 1940, 215–238, und Nezdařil, Ladislav: Karel Hynek Mácha. In: Ders.: Česká poezie v německých překladech [Tschechische Dichtung in deutschen Übersetzungen]. Praha 1985, 92.



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(Nacht) in der Anthologie Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten (1928) sowie sieben in der Prager Presse abgedruckte Sonette an, die im selben Jahr als Privatdruck herausgegeben wurden.5 Nezdařil verzeichnet auch die Übersetzung dreier weiterer Gedichte mit den Titeln Jest pěvcův osud světem putovati (Dem Sänger ist beschieden, durch die Welt zu ziehen), V svět jsem vstoupil (Die Welt hab ich betreten), Aniž křičte, že vám stavbu bořím (Und schreiet nicht, wenn ich den Bau Euch niederreiße).6 Nicht einmal er erwähnt jedoch die Möglichkeit, dass sich Eisner an einer Übersetzung des Máj (Der Mai) versucht hätte, obwohl er in seiner Bibliografie auch bruchstückhafte und verlorene Übersetzungsmanuskripte berücksichtigt. Nezdařil betont hingegen sogar, dass Paul Eisner, der bei seinen Übersetzungen ins Deutsche vermutlich keinen einzigen tschechischen Dichter ausgelassen habe, sich an keinen einzigen Vers aus dem Máj gewagt hätte.7 Das Gegenteil bezeugen Eisners eigene Worte: Unlängst habe ich eine englische Übersetzung von Máchas Máj gelesen, der mir mit den sprachlichen Imponderabilien des Originals viel besser zurande kommt als irgendeine deutsche Übersetzung, mein eigenes Fragment nicht ausgenommen.8

Wenn also Eisner später des Öfteren von der Unübersetzbarkeit des Máj spricht, so stützt er sich vermutlich auch auf seine eigenen Erfahrungen als Übersetzer. Eisners oben zitierte Selbsteinschätzung seiner Schriften über Mácha, die er bis 1939 veröffentlicht hatte, ist durchaus zutreffend. Diese Phase von Eisners Auseinandersetzung mit Mácha scheint von einem unsystematischen Vorgehen, methodologischer Unschärfe, Disparatheit und einem hohen Maß an Intuition gekennzeichnet gewesen zu sein. Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Texte auch von außen mitbestimmt wurden, etwa durch das Medium – vor allem die Tageszeitung Prager Presse –, seine Genres, die Arbeitsbelastung und andere Determinanten. In Eisners Texten zu Mácha wird ab den 1940er Jahren ein Schub an Akribie sowie textueller und intertextueller Kohärenz deutlich. Gleichwohl kann sich Eisner auch hier nicht ganz von einer eher „bloß einfallsgeleiteten“ Essayistik lösen. Das trifft vor allem auf eine Reihe von Texten, wie Symposion máchovské (Mácha-Symposion), V mlhách (Im Nebel), Básník noci? (Ein Dichter der Nacht?) zu,9 in denen Mácha einseitig und in gewissem Maße absichtlich als großer „Träger des Lichts“ und als Dichter „des Tags“ und „des Lebens“ interpretiert wird. Das ist verständlich, wenn man die Situation des Autors und der gesamten Bevölkerung während der

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Eisner, Die sieben Sonette, 4–5. Ders., Drei Gedichte, 2. Nezdařil, Karel Hynek Mácha, 103. Eisner, Experiment s jazykem, 316. Ders., Symposion máchovské, 265–271; ders., V mlhách, 25–29; ders., Na skále, 151–171.

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NS-Besatzungszeit im Blick behält.10 Auf manche fachliche Mängel machten schon einige zeitgenössische Rezensenten der Aufsatzsammlung Na skále aufmerksam. Sie kritisierten die unzureichende Berücksichtigung des kulturgeschichtlichen Kontextes und vor allem des Sprachgebrauchs.11 Diese Umstände führen dazu, dass Eisners Forschungsergebnisse zu Mácha nur bedingt erfassbar sind. Dennoch ist es möglich, einige zeitbedingte Interpretationslinien in Eisners Texten über Mácha auszumachen. Zudem gibt es zwischen Eisners Texten vor und nach 1939 trotz der Veränderungen des Diskurses und seiner Funktion – die Funktion offensichtlicher interkultureller Vermittlung verschwindet in der zweiten Phase – Berührungspunkte und Verbindungen. Nichtsdestotrotz sind Eisners Mácha-Texte sehr heterogen. Ihre Gemeinsamkeit besteht vielmehr in einer ständigen Widersprüchlichkeit, die unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist also angebracht, Eisners Forschungen zu Mácha durch das Prisma sich wiederholender Antithesen und Paradoxe zu betrachten, und zwar schon deshalb, weil sie einige von Eisners Bestand habenden Einschätzungen über Mácha enthalten. Wie berechtigt eine solche Perspektive ist, belegen wohl die folgenden Überlegungen. Mácha ist für Eisner immer ein rein tschechischer Dichter: ein Prototyp und Ideal des tschechischen Dichters,12 in dem Seele und Geist der Nation manifest werden,13 treu seiner Herkunft, unablässig tschechische Fragen bedenkend,14 und mit seinem ganzen Leben der tschechische Egozentriker non plus ultra;15 er ist für 10 Der kroatische Schriftsteller Božo Lovrič behauptete, dass Eisner mit seinen während der Besatzungszeit geschriebenen Essays über Mácha einen Ausweg aus seiner persönlichen Krise gesucht habe: „Während des Zweiten Weltkriegs, eigentlich einer Weltkatastrophe, war ich Paul Eisners täglicher Gast. […] Als Leidensgenossen haben wir uns gegenseitig getröstet, aufgemuntert und gegen den Geist der Verneinung gekämpft. In dieser seelischen Verfassung entstanden Paul Eisners Essays, die er symbolisch ‚Na skále‘ nannte und die dem Dichter K. H. Mácha gewidmet waren. Diese Überlegungen sind eine Art Angriff auf den Tod, das Ungewiss-Nebelhafte, die Nacht, die Vergänglichkeit und die Nichtigkeit. Es handelt sich eigentlich um Monologe, um Gespräche mit sich selbst, um Kämpfe, in denen der Autor versucht hat, seine Zweifel zu überwinden und den Glauben an Sprache, Heimat, Freundschaft, Familie, Menschheit, All und Kunst zu stärken. Eisner kämpft, um in einem ununterbrochenen Kampf Gott zu entdecken.“ Lovrič, Božo: P. Eisner a Eureka [P. Eisner und Eureka]. In: Lidová demokracie, 8. 1. 1946, Nr. 6, 4. – Ich danke Daniel Řehák, der mich auf Lovričs Text aufmerksam gemacht hat. 11 Havel, Rudolf: Rez. zu Pavel Eisner, Na skále. In: Listy filologické, 70 (1946) H. 4/5, 212– 214; Kvapil, Josef Š.: Rez. zu Pavel Eisner, Na skále. In: Kritický měsíčník, 7 (1946) H. 17/18, 406–409. 12 Eisner, Variationen auf ein großes Thema, 7; ders., Ein Jahrhundert Mácha, 4. 13 Eisner, Die tschechische Literatur vor dem Richterstuhl, 6. 14 Eisner, Máchova truchlorouška, 208; ders., Na skále, 23–24. 15 Eisner, Na skále, 24.



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Eisner ein unglaublich tschechischer Kopf,16 der mit nationaler Philosophie,17 oder lapidar gesprochen, aber mit um so mehr Nachdruck, Tscheche ist.18 Wenn Eisner Máchas unberührte tschechische beziehungsweise slawische Originalität verteidigt, so geht er dabei – in Reaktion auf den Reichenberger Professor Karl Nowak – sogar so weit, den Einflussung der deutschsprachigen Kultur auf den tschechischen Dichter zu leugnen.19 Zugleich sieht er Mácha jedoch als einen einzigartigen, genialen Einzelgänger, der außerhalb der „Ordnung“, außerhalb der tschechischen Gesellschaft, Literatur und Tradition seiner Zeit steht.20 Er interpretiert ihn als einen absoluten, kosmischen Dichter, einen Dichter der Ur-Erfahrung und eines tiefen metaphysischen Suchens,21 einen Geist, der aus sich selbst schöpft und nur sich selbst verantwortlich ist, einen Menschen, der – auf Befehl Gottes in sich und der Sterne über seinem Haupte – absolut, mündig und souverän ist.22

Sein grundlegender Beitrag bestehe darin, dass er – unabhängig von den Forderungen seiner Zeit – die existenziellen Probleme des Subjekts und also allgemein menschliche und in ihrer Grundlage übernationale Konstanten in die tschechische Literatur eingeführt habe.23 Das erinnert entfernt an das Dilemma, in dem sich einige Kritiker am Ende der 1830er und Anfang der 1840er Jahre befanden, als sie in engem Zusammenhang mit der Neubewertung von Máchas Werk erklärten, Dichtung sollte „genial“, individuell-exklusiv, unabhängig von einer gesellschaftlichen Funktion und subjektiv wahr sein, ohne dass sie jedoch die Forderung einer nationalen Eigenart aufgab.24 Im Gegensatz zur Betonung von Máchas „Tschechentum“ steht seit den 1940er Jahren auch, dass sich Eisner vor allem mit Mácha als einem zweisprachigen

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Ebd., 165. Eisner, Symposion máchovské, 271. Ebd. Eisner, Die tschechische Literatur vor dem Richterstuhl, 6. Eisner, Otokar Březinas Sendung, 345; ders., Poznámka k velké věci z května 1936, 1; ders., Karel Hynek Mácha, 5–6; ders., Valdice. Mácha – Durych, 6; ders., Mácha und Erben, 6; ders., Básník a Baťa, 39. Eisner, Otokar Březinas Sendung, 345–346; ders., Eine Mácha-Studie, 8; Eisner, Torso und Geheimnis, 7. Eisner, Obrana Máchovského roku, 2. Eisner, Karel Hynek Mácha, 5; ders., Eine Mácha-Studie; ders., Symposion máchovské, 270. Vgl. dazu z. B. Otruba, Mojmír: Souvislost a smysl předbřeznového zápasu o Máchu a jeho dílo [Die Kontexte und der Sinn des Streits um Mácha und sein Werk im Vormärz]. In: Česká literatura, 5 (1957) H. 3, 255–279.

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Dichter beschäftigte, der sich in seinen Anfängen nach deutschen Mustern richtete. Bis zu seinem Tod sei sein Schaffen latent zweisprachig geblieben.25 Allein schon Eisners Begriff „Tschechentum“ in Bezug auf Mácha ist sehr ambivalent. Eisner verwendet ihn oft pauschal und ohne genauere Bestimmung und vereinzelt in Bezug Máchas Wahl tschechischer literarischer Stoffe.26 Betrachtet man den weiteren Kontext, so zeigt sich, dass dieses „Tschechentum“ viel grundsätzlicher mit Máchas einzigartiger Sprachkompetenz zusammenhängt, die Eisner ausschließlich mit der Muttersprache assoziiert; mit seiner Fähigkeit, das Potential des Systems der tschechischen Sprache und besonders seiner spezifischen klanglichen Qualitäten voll auszuschöpfen.27 In diesem Sinn ist Mácha für Eisner ein Genie des Tschechischen und ein Dichter, der in seiner höchsten Leistung für immer unübersetzbar bleiben muss.28 Máchas „Tschechentum“ leitet Eisner also vom ästhetischen Wert dessen auf Tschechisch verfasster Verse im Gegensatz zu dessen deutschsprachigen Versen ab. An einer weiteren Stelle begründet Eisner dieses „Tschechentum“ wiederum ganz anders, und zwar mit der moralischen Kraft von Máchas Werk, die für Eisner in ihrem unablässigen Widerstand gegen die Kräfte der Destruktion, im Akzeptieren der Verantwortung „für alle Dinge der Schöpfung“,29 sowie in der kämpferischen Neigung zum irdischen Sein typisch „tschechisch“ ist.30 Hier kommt auch Eisners Konzeption der tschechischen Kulturgeschichte zum Tragen, die er als ein auf alltäglich angewandten ethischen Prinzipien basierendes, unmystisches und unekstatisches, nüchternes und rationales Suchen nach Gott versteht.31 Eisner löste Máchas Werk häufig aus dem zeitlichen Kontext seiner Entstehung heraus. Das geschah hauptsächlich in den 1920er und 1930er Jahren. Eisner zeichnete Mácha hier als eine „wunderbare Erscheinung“. Mit ihm habe die tschechische Dichtung begonnen.32 Er hielt ihn für einen gottbegnadeten Dichter,33 der aus dem absoluten Nichts der damaligen tschechischen Literatur geboren worden und mit seiner von der literarischen Tradition unbeschwerten, revolutionären Tat gleich-

25 Eisner, Na skále, 75. 26 Eisner, Máchova truchlorouška, 208; ders., Na skále, 23–24. 27 Eisner, Poznámka k velké věci; ders., Zur Translatur von Máchas Máj, 3; ders., Zur Translatur des Máj, 8; ders., Na skále, 100–101; ders., Okusy Ignaze Máchy, 21–22. 28 Eisner, Der Mai, 6; ders., K. H. Máchas Máj, 6; ders., Poznámka k velké věci; ders., Zur Translatur von Máchas Máj, 3; ders., O věcech nepřeložitelných, 236; ders., Zur Translatur des Máj [1938]; ders., Okusy Ignaze Máchy, 120–121. 29 Eisner, Pavel: Symposion máchovské, 270–271. 30 Eisner, Na skále, 164–165. 31 Eisner, Otokar Březinas Sendung, 345. 32 Eisner, Der Weg des Dichters, 10; ders., Karel Hynek Mácha, 5; ders., Torso und Geheimnis. 33 Eisner, Máchas Máj. Eine sprachästhetische Untersuchung, 7.



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sam schlafwandlerisch „in medias res“ gegangen sei.34 Diese Interpretation, die von indeterministischen Positionen ausgeht, die zeitbedingt und an und für sich nicht verbindlich sind, hat bei Eisner auffällige Gegenpole: Eisner räumte – wohl unter dem Einfluss von Mukařovskýs Studie Příspěvek k dnešní problematice básnického zjevu Máchova (Beitrag zum dichterischen Phänomen Mácha)35 – ein, dass Mácha an die barocke Tradition anknüpfte.36 Er charakterisierte Mácha als einen reflektierenden und keinen „natürlichen“ Dichter37 und sogar als einen von den „am meisten reflektierenden Theoretikern der Wortkunst unter den tschechischen Dichtern überhaupt“.38 Zugleich betonte Eisner die komplizierte Entwicklung Máchas von den ersten dichterischen Versuchen bis zu seinem „Eigenen und Wahren“ und den damit verbundenen Prozess geduldiger Selbstperfektionierung.39 Den Mythos von Máchas „an ein Wunder grenzendes, plötzliches Auftreten“ dekonstruiert er dann systematisch, wenn er in den Okusy Karla Ignaze Máchy und in einigen Texten aus der Sammlung Na skále Máchas deutschsprachige Anfänge als Dichter auf ihre Inspirationsquellen hin untersucht und gleichzeitig die Kontinuität zwischen Máchas deutsch- und tschechischsprachigem Schaffen betont. Keineswegs frei von Paradoxen ist auch Eisners nun zu analysierende und zu überprüfende Hypothese, Mácha habe sich an deutschsprachigen Versformen orientiert. Ihr kommt im Kontext von Eisners Mácha-Forschungen besondere Bedeutung zu, da sie nicht nur neu und gewagt war, sondern zugleich die Grundlagen von Máchas gesamtem Schaffen berührt. In der Einleitung zu seinen Okusy Ignaze Máchy konstatiert Eisner beim Versuch, zu belegen, wie tief Mácha bei der Rezeption der Gesetzmäßigkeiten des deutschen Verses vorgedrungen sei, dass einige von Máchas deutschsprachigen Versen, die nur schöne Tonfolgen zu sein scheinen, nach dem „germanischen“ Alliterationsprinzip beziehungsweise nach dem Prinzip des Stabreims gebaut seien.40 Er geht jedoch in seiner Behauptung noch weiter, wenn er sagt: […] nicht wenigen Klangfolgen in Máchas tschechischen Gedichten ähnelt dem Stabreim aufs Haar. […] Das lässt sich nicht beweisen, aber wir wagen die Einschätzung, dass Mácha viele seiner ,zvukosledy‘ (Klangfolgen) nach dem nicht schriftlich kodifizierten deutschen Alliterationsprinzip organisiert hat.41 34 Eisner, Danse macabre in der tschechischen Literatur, 3; ders., Na skále, 102; ders., Okusy Ignaze Máchy, 22–23. 35 Vgl. Eisner, Zum Phänomen K. H. Mácha, 7. 36 Eisner, Valdice, Mácha, Durych. 37 Eisner, Mácha-Glossen, 6. 38 Eisner, Na skále, 53. 39 Ebd., Na skále, 115–116 bzw. 78. 40 Eisner, Okusy Ignaze Máchy, 14. 41 Ebd., 18.

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Eisner zieht somit die Möglichkeit in Erwägung, dass der lautlichen Instrumentierung, die für ihn eine der wichtigsten Quellen der einzigartigen tschechischen Musikalität von Máchas Versen ist, in gewissem Maße ein nicht tschechisches, ja sogar ein der tschechischen Literatur ganz fremdes organisatorisches Prinzip zugrunde liegt. Bemerkenswert ist dabei auch das Maß an Intuition, mit dem Eisner zu seiner Hypothese gelangte. Betrachtet man einige Formulierungen in Eisners sehr kurz gehaltener Charakteristik des Alliterationsprinzips und die angeführten Beispiele, so wird schnell klar, dass seine theoretische Kenntnis des Problems beschränkt war.42 Das Alliterationsprinzip kann man sich als einen Normenkanon vorstellen, durch dessen Anwendung eine bestimmte Versart entsteht, und zwar der sogenannte alliterierende Vers (Stabreimvers).43 Das konstitutive Element des alliterierenden Verses ist der alliterierende Reim (Stabreim), der – vereinfacht gesagt – durch übereinstimmende Anlaute einiger Wörter im Vers entsteht. Die Verteilung dieser Reimkomponenten ist im Unterschied von der traditionellen Alliteration, wie wir sie zum Beispiel aus der tschechischen Literatur kennen, abhängig von der Wortart und dem semantischen Potential der einzelnen Wörter im Vers, von ihrer Abfolge, das heißt der Wortfolge im Vers, von ihren syntaktischen Beziehungen zwischen ihnen und den Akzentverhältnissen im Vers. Eine bestimmte Rolle bei der Umsetzung des alliterierenden Reims spielt auch die Länge des Verses und seine Gliederung, die weitere lautliche Komposition des Verses, aber auch die lautliche Komposition der umgebenden Verse. Vereinfacht gesagt, hat der alliterierende Vers in seiner vollendeten Form dreizehn Charakteristika, die jenseits der geläufigen Alliteration verschiedenes Gewicht haben. Alles zielt darauf ab, dass die semantisch dominierenden Wörter im Vers betont werden und sein Rhythmus unterstützt wird: der alliterierende Reim verleiht der Aussage größeren Nachdruck, steigert seine Ausdruckskraft, betont das gedankliche und gefühlsmäßige Potential des Verses und hebt es hervor. Andreas Heusler charakterisierte ihn wie folgt: „Dieser Versstil neigt dazu, jeden Inhalt auf

42 Ebd., Okusy Ignaze Máchy, 14. 43 Vgl. hierzu Heusler, Andreas: Über germanischen Versbau. Berlin 1894; Heusler, Andreas: Deutsche Versgeschichte mit Einschluss des altenglischen und altnordischen Stabreimverses I, Berlin/Leipzig 1925; Heusler, Andreas: Deutsche Versgeschichte mit Einschluss des altenglischen und altnordischen Stabreimverses III. Berlin/Leipzig 1929; Heusler, Andreas: Die altgermanische Dichtung. Potsdam 1941; Saran, Franz: Deutsche Verslehre. München 1907; Saran, Franz: Deutsche Verskunst. Berlin 1934; Kayser, Wolfgang: Kleine deutsche Versschule. Bern 1946; Kayser, Wolfgang: Kleines literarisches Lexikon. Bern 1966; Paul, Otto/ Glier, Ingeborg: Deutsche Metrik. München 1961; Hoffman, Werner: Altdeutsche Metrik. Stuttgart 1981; Schweikle, Günther/Schweikle, Irmgard: Metzler Literatur-Lexikon. Stuttgart 1984; Breuer, Dieter: Deutsche Metrik und Versgeschichte. München 1991; Ricklefs, Ulfert (Hg.): Das Fischer Lexikon Literatur. Frankfurt am Main 1996.



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einen Kothurn zu heben.“44 Der Stabreim ist also nicht nur ein euphonischer Effekt, sondern er hängt mit dem inneren Versbau zusammen. Heusler glaubt, dass die Entstehung des alliterierenden Verses in einem engen Zusammenhang mit der altgermanischen Runenmagie steht.45 Angewendet wurde das Alliterationsprinzip wohl schon lange vor dem fünften Jahrhundert n. Chr., also in der Zeit der „urgermanischen Spracheinheit“. Der früheste erhalten gebliebene alliterierende Vers stammt aus der Zeit um 400 n. Chr. Die genauere Lokalisierung des Orts, wo das Alliterationsprinzip entstand, ist nicht gesichert. Wir wissen lediglich, dass es über Jahrhunderte hindurch in verschiedenen Variationen und Präferenzen seiner Unterarten von allen Germanen verwendet wurde und für einen Großteil der literarischen Produktion verbindliche Norm war. Bei den Westgermanen fand die Hegemonie des Alliterationsprinzips im 9. Jahrhundert n. Chr. im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Endreims nach romanischem Muster ihr Ende. Das Alliterationsprinzip verschwand allerdings nicht ganz und taucht in verschiedenen individuellen Abwandlungen besonders bei deutschsprachigen Dichtern immer wieder auf. Eisner selbst äußerte sich zur Kontinuität des Alliterationsprinzips folgendermaßen: In einer aufgelockerten Version lebte das Alliterationsprinzip im Unterbewusstsein weiter und lebt bis heute fort. Bei den deutschen Dichtern handelt es sich um eine Art Trieb, eine Notwendigkeit – und nicht nur bei den Deutschen. […] In der deutschen Dichtung findet man spielerisch treffende Beispiele alliterierender Verse von Dichtern verschiedener Schulen und Richtungen, und bei Goethe ist das nicht anders als bei den Romantikern, und so geht es bis heute – in einem solchen Maß, dass es vielleicht kein gutes deutsches Gedicht ohne ausdrucksvolle Alliterationen an inhaltlich exponierten Stellen der Dichtung gibt. […]46

Es überrascht, dass Eisner in diesem Kontext Klopstock nicht erwähnt, obwohl er ihm sonst einen richtungsweisenden Einfluss auf Máchas Anfänge als Dichter zuschreibt. Für Mácha war Klopstocks Werk vermutlich sogar entscheidend, da dieser das Prinzip der Alliteration aktiv nutzte und seine rhythmischen Innovationen zu den Anfängen dieses Prinzips zurückkehrten.47 Eisner berücksichtigte auch einen weiteren Zusammenhang, der seine Hypothese gestützt hätte, nicht. Während sich der alliterierende Reim durch seine vielseitige Regulierung von der einfachen Alliteration unterscheidet, weist dieser Reim 44 45 46 47

Heusler, Die altgermanische Dichtung, 32. Heusler, Über germanischen Versbau, 135–136. Eisner, Okusy Ignaze Máchy, 14–15. Vgl. z. B. Baumann, Barbara/Oberle, Birgitta: Deutsche Literatur in Epochen. 2. Aufl., Ismaning 1996, 65–66; Muncker, Franz: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Berlin 1900, 126–127.

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auffällige Parallelen zur Organisation der Lautfolgen von Máchas Versen auf, wie sie Mukařovský in der Studie Máchův Máj (Máchas Mai) beschrieb. Über diese Studie äußerte sich übrigens Eisner in der Prager Presse sehr lobend.48 Die Übereinstimmung der beiden Organisationsprinzipien kann allerdings auch rein typologisch sein. Im Extremfall wäre es allerdings auch möglich, die von Mukařovský identifizierten Lautfolgen Máchas als wesentlich modifizierte und weiterentwickelte individuelle Varianten des Alliterationsreims zu betrachten. Wir haben gesehen, dass Eisner die Möglichkeit, die von ihm formulierte Hypothese zu beweisen, ausdrücklich ablehnte. Er hat in dem Sinne Recht, als es offensichtlich keine Methode gibt, die im Endergebnis die Feststellung rechtfertigen würde, dass der Aufbau dieses oder jenes Verses von Mácha nach dem Alliterationsprinzip aufgebaut sei. Man kann allerdings anhand einer Analyse des dichterischen Gesamtwerks Máchas bis zu einem gewissen Grade zeigen, ob der Einfluss des Alliterationsprinzips in seinem Werk als Ganzes feststellbar ist oder nicht – wobei der Begriff „Einfluss“ hier keineswegs im Sinn der traditionellen Komparatistik, das heißt als mechanische und direkte Übertragung eines bestimmten Phänomens aus einer Quelle in ein aufnehmendes Milieu zu verstehen ist. Eine quantitativ-qualitative Untersuchung der Zahl und Qualität der alliterierenden Verse in Máchas Werk kann nur eine beschränkte Aussagekraft haben.49 Mit der Qualität der Verse ist ausschließlich das Maß gemeint, in welchem sich diese einer idealen, vollen Umsetzung des Prinzips der Alliteration nähern. Ein grundsätzliches Limit einer solchen Analyse stellt das Fehlen eines ähnlich bearbeiteten, neutralen Vergleichsmaterials dar, das erst die Anwendung von statistisch exakten Methoden ermöglichen würde. Die vorliegende Analyse ergab in Máchas Gedichten insgesamt 863 potentielle Verse, die die wichtigsten Bedingungen dafür erfüllen, um als nach dem Prinzip der Alliteration gebildete Verse zu gelten. Sie bilden 16,4 Prozent von Máchas dichterischem Werk. Das heißt, dass beinahe jeder sechste Vers von Mácha die grundlegenden Charakteristika eines alliterierenden Verses aufweist. Circa ein Drittel davon erfüllt fast alle Kriterien einer Alliteration. Wichtig ist, dass sowohl die Frequenz als auch die Qualität in den deutschsprachigen Gedichten Máchas höher ist als in den tschechischsprachigen. Das Gegenteil wäre ein wichtiges Indiz gegen Eisners Hypothese, und zwar vor allem aus zwei Gründen: Einerseits ist das Prinzip 48 Eisner, Máchas Máj. Eine sprachästhetische Untersuchung, 7. 49 Das sprachliche Ausgangsmaterial dieser Untersuchung besteht aus allen tschechisch- und deutschsprachigen Gedichten, die in den schon erwähnten Spisy Karla Hynka Máchy. I. Básně a dramatické zlomky enthalten sind. In den Korpus wurden auch Verse aus dem Abschnitt Zlomky básní (Gedichtfragmente) aufgenommen. Ausgeschlossen bleiben allerdings einige dramatische Fragmente, so zum Beispiel aus Máchas erst posthum erschienenen Tragödien Král Fridrich (König Friedrich), Boleslav, Bratrovrah (Der Brudermord) und Bratři (Die Brüder).



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der Alliteration stark an das germanische beziehungsweise deutsche Sprachmaterial gebunden, und andererseits folgte Mácha in seinem Frühschaffen im Allgemeinen fremden Modellen getreuer als in den Folgejahren. In seiner späteren Schaffensphase ging er mit literarischen Impulsen souveräner um und formte sie so um, dass sie seinen spezifischen Intentionen eher entsprachen. Eine analoge Bedeutung hat die sehr niedrige Frequenz potentiell alliterierender Verse in Gedichten, in denen sich Mácha von Volksliedern inspirieren ließ. Diese sogenannte Ohlasy-Poesie (Widerhall-Poesie) knüpfte ausschließlich an die slawische Volksliteraturtradition an, der das Prinzip der Alliteration fremd war. Zu klareren Ergebnissen als die quantitativ-qualitative Analyse kann die Systemanalyse führen. Sie versucht eine der Schlüsselfragen der Lautinstrumentationen zu lösen: die Frage nach der Zu- respektive Unzufälligkeit der beobachteten Phänomene. Die Unzufälligkeit muss dabei in diesem Fall nicht identisch sein mit einer rational kontrollierten Intention des Autors. Die Systemanalyse besteht also in der Suche nach einer Mikro- und Makroorganisation von Máchas alliterierenden Versen, die zumindest so eindeutig ausfallen muss, dass Zufälligkeiten ausgeschlossen sind. Die auf diese Weise organisierten Formen müssen daher in dem analysierten Korpus mit einer solchen Regelmäßigkeit auftreten, dass man dabei den bloßen Zufall ausschließen kann. Das zu Grunde liegende Material erlaubt eine Systemanalyse auf zwei Ebenen. Man kann sich die einzelnen alliterierenden Verse bei Mácha vorstellen als Häufungen verschiedener Qualitäten, die alliterierenden Versen eigen sind. Die Anzahl und Kombination dieser Qualitäten kann verschieden sein, je nachdem, inwieweit der jeweilige Vers den Prinzipien der Alliteration folgt. Auf der Ebene der Mikrosysteme ist es dann möglich, Regelmäßigkeiten im Sinn von Kombinationsmustern zu suchen. Es gilt außerdem festzustellen, wie häufig bei Mácha die verschiedenen Formen von Alliteration vorkommen. Auf einer zweiten Untersuchungsebene wird dann die Verteilung der alliterierenden Verse in Máchas Dichtungen dargestellt. Der Hauptteil der Systemanalyse untersucht daher die Konzentration der alliterierenden Verse in den einzelnen Dichtungen, die relative räumliche Verteilung der alliterierenden Verse (Häufungen, regelmäßige Abstände zwischen den Versen etc.), ihrem Abstand zu Anfang und Ende der Dichtungen und ihrer inneren Gliederung (dem Vorkommen potentiell alliterierender Verse an Strophengrenzen) und ihrer Nähe zum semantischen Zentrum der Dichtungen. Die Ergebnisse der Systemanalyse können hier aufgrund des umfangreichen Datenmaterials nicht im Detail vorgestellt werden. In allen genannten Bereichen sind aber auffällige Regelmäßigkeiten feststellbar. Obwohl keine dieser Regelmäßigkeiten so beschaffen ist, dass sie für sich allein Eisners Hypothese belegen könnte, gewinnen sie eine solche Aussagekraft, da sie sich gegenseitig ergänzen und gemeinsam mit den Ergebnissen der quantitativ-qualitativen Analyse ein solches Potential haben. In der gebotenen Kürze führe ich eine Auswahl der Ergebnisse an:

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1. Ignorieren wir solche Eigenschaften von Alliteration, deren Vorkommen nicht unbedingt durch ihre gemeinsame Funktion innerhalb der Alliteration bedingt sein muss, so zeigen Máchas alliterierende Verse auf fast ideale Weise ein gemeinsames Vorkommen zweier Eigenschaften, die beide in einer je unterschiedlichen, spezifischen Verteilung von Komponenten des Reims bestehen: die eine Eigenschaft ist abhängig von der Wortart der versbildenden Worte und ihrer Position im Vers; die andere Eigenschaft hängt von ihrer jeweiligen Position relativ zur Verszäsur ab. Für Verse, auf die das erste Charakteristikum zutrifft, gilt in 92,33 Prozent der Fälle zugleich das zweite Charakteristikum. 2. Die quantitative Analyse des Vorkommens der einzelnen Typen von Máchas alliterierenden Versen, also jenen Versen, die die gleichen alliterierenden Eigenschaften vereinen, führt zum Schluss, dass die Verse der vier häufigsten Typen insgesamt 43,78 Prozent aller alliterierenden Verse in Máchas Werk ausmachen. Der Rest verteilt sich auf 58 Typen. Die im massiven Auftreten einiger weniger Typen bestehende Regelmäßigkeit ist frappierend. 3. Die Werte, die die Verteilung alliterierender Verse in den einzelnen Werken K. H. Máchas bezeichnen, weisen eine beachtliche Streuung auf. Einerseits gibt es Dichtungen mit einer extrem hohen Konzentration von alliterierenden Versen: In einigen Dichtungen bilden sie 40 oder mehr Prozent aller Verse, in weiteren neun ein Drittel oder mehr.50 Andererseits begegnen wir extrem niedrigen Konzentrationen solcher Verse beziehungsweise sogar Fällen, in denen sie gar nicht vorkommen.51 Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen erwecken den Eindruck, dass es sich um eine organisierte Verteilung alliterierender Verse handelt. 4. Zu einem ähnlichen Schluss führt auch ein Vergleich der Konzentration alliterierender Verse in Dichtungen, die in zeitlicher Nähe zu einander entstanden sind. Die Datierung von Máchas Versen in vielen Fällen problematisch; auf Grund des aktuellen Wissensstandes lassen sich mit annehmbarer Genauigkeit nach Entstehungsperioden drei umfangreichere Werkgruppen unterscheiden. Die Dichtungen 50 Do památních listů 3, 42,86 Prozent; Hoj, byla noc!, 41,67 Prozent; Der Freitag in der Karwoche, 40 Prozent; Do památních listů 2, 40 Prozent; Znělky 8, 38,46 Prozent; Kde k nebesům modrým, 36,36 Prozent; Znělky 3, 35,71 Prozent; Die Trümmer, 33,33 Prozent; Zelených na lukách, 33,33 Prozent; V chrámu, 33,33 Prozent; Ohlas písní národních 3, 33,33 Prozent; Ivan, 33,33 Prozent; Na hrobě sestřiným, 33,33 Prozent. 51 Do památních listů 1, 0 Prozent; Ohlas písní národních 6, 0 Prozent; Ohlas písní národních 11, 0 Prozent; Pod okénkem mé milenky, 0 Prozent; Holubice, 0 Prozent; Má děva ještě dřímá, 0 Prozent; Kleslá, 0 Prozent; Znělky 6, 0 Prozent; Dvě písně z Cikánů 2, 0 Prozent; Otec vzpomene rodině, 0 Prozent; V přírodě jak vše se jindy smálo, 0 Prozent; Glaube, Hoffnung, Liebe, Vertrauen, 0 Prozent; Ó harfo dávnověká, 2,86 Prozent; Romance, 3,57 Prozent.



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aus der konzentriertesten und zeitlich am genauesten abgrenzbaren Schaffensperiode – von Dezember 1831 bis Januar 1832 – weisen eine auffällig gleichmäßige Konzentration potentiell alliterierender Verse auf und zwar in zwei aufeinander folgenden Wellen. In den Gedichten vom Dezember 1831 und im vermutlich ersten Gedicht von 1832 – Abaelard Heloíze – ist eine deutlich erhöhte Konzentration von Alliteration feststellbar. In keinem Gedicht sinkt sie unter 20 Prozent, übersteigt allerdings auch in keinem die 30-Prozent-Marke. Unmittelbar nach dem Jahreswechsel sinkt diese Konzentration. Noch auffälliger ist die Ausgeglichenheit unter den Dichtungen, was die Konzentration der Alliteration betrifft – die Schwankungsbreite ist nicht höher als 4,33 Prozentpunkte. 5. Am häufigsten kommen alliterierende Verse bei Mácha an der ersten und letzten Position der Strophen beziehungsweise Absätze vor. Diese Tendenz wird noch weiter erhöht durch die überdurchschnittliche Häufigkeit von Strophen und Absätzen, in denen alliterierende Verse gleichzeitig, das heißt sowohl an der ersten als auch an der letzten Position vorkommen. Solche Regelmäßigkeiten sind zudem im Einklang mit der Eigenart des Alliterationsprinzips, dessen Funktion gerade darauf beruht, das semantische Potential exponierter Passagen des Verses oder einer Dichtung zu betonen. Kommen wir zum Schluss noch einmal auf Eisner zurück. Es wurde bereits gesagt, dass Eisners Texten über Mácha ein intuitiver Zugang eigen ist, der bei der Formulierung der Hypothese von der Wirkung des Alliterationsprinzips auf die Struktur der Máchaschen Verse Bedeutung hatte. Unsere Untersuchungen zur wissenschaftlichen Relevanz dieser Hypothese führten zum Ergebnis, dass Paul Eisner in seiner Intuition sehr hellsichtig sein konnte.

Verzeichnis der Texte Paul Eisners zum Werk K. H. Máchas Danse macabre in der tschechischen Literatur. In: Prager Presse, 8. 4. 1922, Nr. 97, 3. Tschechische Literatur. Zur Aesthetik des tschechischen Verses. In: Prager Presse, 6. 6. 1924, Nr. 156, 4. Die tschechische Literatur vor dem Richterstuhl. In: Prager Presse, 9. 6. 1925, Nr. 158, 6. Tschechische Literatur. Eine italienische Studie über K. H. Mácha. In: Prager Presse, 14. 8. 1925, Nr. 222, 6–7.

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Der Weg des Dichters. In: Prager Presse, 6. 11. 1927, Nr. 305, 10. Tschechische Klassikerausgabe. In: Prager Presse, 24. 7. 1928, Nr. 204, 6. Máchas Máj. Eine sprachästhetische Untersuchung. In: Prager Presse, 20. 3. 1929, Nr. 79, 7. Germanoslavica. In: Prager Presse, 21. 11. 1929, Nr. 316, 8. Otokar Březinas Sendung. In: Slavische Rundschau, 1 (1929) H. 5, 345–351. Novellistische Trilogie und Romankommentar. In: Prager Presse, 26. 3. 1930, Nr. 85, 6. Das Werk Karel Hlaváčeks. In: Prager Presse, 5. 7. 1930, Nr. 183, 10. Vítězslav Nezvals Gedichte der Nacht. In: Prager Presse, 29. 7. 1930, Nr. 206, 6. Prinzipien der Euphonie im lyrischen Kunstwerk. In: Prager Presse, 26. 6. 1931, Nr. 172, 10. Experiment s jazykem [Sprachexperiment]. In: Lumír, 59 (1932/33) H. 6, 314– 318. K. H. Máchas… In: Prager Presse, 21. 1. 1933, Nr. 21, 7. Dichterbildnisse. In: Prager Presse, 30. 5. 1933, Nr. 148, 8. Der Mai. In: Prager Presse, 22. 6. 1933, Nr. 170, 6. K. H. Máchas Máj. In: Prager Presse, 15. 8. 1934, Nr. 221, 6. Poznámka k velké věci z května 1936 [Anmerkung zu einer großen Sache vom Mai 1936]. In: Lidové noviny, 10. 5. 1936, Nr. 236, 1–2. Dík jedné edici [Dank an eine Edition]. In: Lidové noviny, 11. 5. 1936, Nr. 237, 5. Z německých básní Karla Hynka Máchy. [Aus Karl Ignaz Máchas deutschsprachigen Gedichten]. In: Lidové noviny, 17. 5. 1936, Nr. 249, Beilage, 1 Stín – klín [Schatten – Schoß]. In: Lidové noviny, 16. 6. 1936, Nr. 300, 9. Jak vypadal? [Wie hat er ausgesehen?]. In: Lidové noviny, 26. 7. 1936, Nr. 371, 1–2. Jezero klidné v křovích stinných [Ein ruhiger See in schattigen Gebüschen]. In: Lidové noviny, 6. 9. 1936, Nr. 447, 7. Mé slasti [Meine Freuden]. In: Lidové noviny, 5. 11. 1936, Nr. 554, 2. Stý svazek Pantheonu [Der hundertste Band des Pantheons]. In: Lidové noviny, 6. 12. 1936, Nr. 612, 1–2.



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Die sieben Sonette. In: Prager Presse, 21. 6. 1936, Nr. 170, Bilderbeilage Die Welt am Sonntag, Nr. 25, 4–5. Drei Gedichte. In: Prager Presse, 8. 11. 1936, Nr. 305, Bilderbeilage Die Welt am Sonntag, Nr. 45, 2. Zur Translatur von Máchas Máj. In: Prager Presse, 8. 11. 1936, Nr. 305, Bilderbeilage Die Welt am Sonntag, Nr. 45, 3. Pantomime. In: Prager Presse, 12. 3. 1936, Nr. 72, 8. Die gestrichene Zueignung. In: Prager Presse, 17. 4. 1936, Nr. 107, 6. Zum Phänomen K. H. Mácha. In: Prager Presse, 1. 5. 1936, Nr. 121, 7. Karel Hynek Mácha. In: Prager Presse, 3. 5. 1936, Nr. 122, 5–6. Valdice. Mácha – Durych. In: Prager Presse, 14. 5. 1936, Nr. 133, 6. Mácha-Glossen. In: Prager Presse, 28. 5. 1936, Nr. 147, 6. Noch einmal Valdice. In: Prager Presse, 4. 6. 1936, Nr. 153, 8. Die Zeitschrift U. In: Prager Presse, 5. 6. 1936, Nr. 154, 8. Das Stadtkind. In: Prager Presse, 14. 6. 1936, Nr. 163, 7. Manifest für den wahren Mácha. In: Prager Presse, 25. 6. 1936, Nr. 174, 8. Variationen auf ein großes Thema. In: Prager Presse, 3. 7. 1936, Nr. 181, 7. Mácha und Erben. In: Prager Presse, 26. 8. 1936, Nr. 233, 6. Eine Mácha-Studie. In: Prager Presse, 1. 10. 1936, Nr. 268, 8. Gottes Trümmer. In: Prager Presse, 9. 11. 1936, Nr. 305, 6. Mácha und Březina. In: Prager Presse, 13. 11. 1936, Nr. 310, 8. Der Zeichner Mácha. In: Prager Presse, 20. 11. 1936, Nr. 317, 8. Ein Jahrhundert Mácha. In: Prager Presse, 29. 11. 1936, Nr. 326, 4. O věcech nepřeložitelných [Über unübersetzbare Dinge]. In: Slovo a slovesnost, 2 (1936) H. 4, 230–238. Obrana Máchovského roku [Eine Verteidigung des Mácha-Jahrs]. In: Literární noviny, 9 (1936/37) H. 5, 2. Básník a Baťa [Der Dichter und Baťa]. In: Panorama, 15 (1937) H. 2, 37–40 u. 15 (1937) H. 3, 69–72. Anti-Mácha. In: Prager Presse, 23. 1. 1937, Nr. 23, 8.

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Máchas Máj als Oper. In: Prager Presse, 4. 2. 1937, Nr. 35, 8. Der Knabe mit dem Saitenspiel. In: Prager Presse, 17. 3. 1937, Nr. 76, 8. Alois Jiráseks Temno: 160.000 Exemplare. In: Prager Presse, 8. 4. 1937, Nr. 97, 8. Die Literaturforschung und Mácha. In: Prager Presse, 12. 5. 1937, Nr. 130, 8. Ein Germanismus bei K. H. Mácha. In: Prager Presse, 9. 6. 1937, Nr. 157, 8. Erinnerungen an Petr Bezruč. In: Prager Presse, 22. 9. 1937, Nr. 261, 12. Máchas Máj französisch. In: Prager Presse, 30. 10. 1937, Nr. 298, 8. Gedichte auf Mácha. In: Prager Presse, 10. 12. 1937, Nr. 338, 8. Ein Unvergänglicher über Vergänglichkeit. In: Prager Presse, 22. 12. 1937, Nr. 350, 8. … die Blume, weil sie verwelkt. In: Prager Presse, 22. 2. 1938, Nr. 52, 10. Der neue Josef Hora. In: Prager Presse, 31. 5. 1938, Nr. 140, 8. Zur Translatur des Máj. In: Prager Presse, 16. 6. 1938, Nr. 153, 8. Ohnmacht der Beschwörung. In: Prager Presse, 16. 10. 1938, Nr. 257, 5. Torso und Geheimnis. In: Prager Presse, 31. 12. 1938, Nr. 321, 7. Máchova truchlorouška [Máchas Trauerflor]. In: Kritický měsíčník, 2 (1939) H. 5/6, 202–208. Karel Hynek Mácha. Dvě německé básně [Karel Hynek Mácha. Zwei deutschsprachige Gedichte]. In: Kritický měsíčník, 2 (1939) H. 7, 278–280. V mlhách [In den Nebeln]. In: Kritický měsíčník, 3 (1940) H. 1, 25–29. K Máchovu jazyku [Zu Máchas Sprache]. In: Naše doba, 47 (1940) H. 7, 404– 409. Máchovo vtělení v tvar [Máchas Verkörperung als Form]. In: Hartl, Antonín (Hg.): Věčný Mácha [Der ewige Mácha]. Praha 1940, 147–178. Symposion máchovské [Mácha-Symposion]. In: Hartl, Antonín (Hg.): Věčný Mácha. Praha 1940, 265–271. Na skále. Dvanáct zastavení máchovských [Auf dem Felsen. Zwölf Stationen auf dem Weg zu Mácha]. Praha 1945. Okusy Ignaze Máchy [Versuche des Ignaz Mácha]. Praha 1956.

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Paul Eisner als Übersetzer der Duineser Elegien Paul Eisner gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der literarischen Übersetzung aus dem Deutschen ins Tschechische und dem Tschechischen ins Deutsche. Vor allem die Bandbreite von Eisners Übersetzungstätigkeit ist ebenso beachtlich wie die Tatsache, dass er bedeutende Werke zum richtigen Zeitpunkt übersetzte. Es gibt jedoch Zweifel, was die Qualität einiger seiner Übersetzungen anbelangt. Der Literaturwissenschaftler Ladislav Nezdařil führt in seiner umfangreichen Arbeit Česká poezie v německých překladech (Tschechische Dichtung in deutschen Übersetzungen) einige Einwände gegen Eisners Lyrikübersetzungen an.1 Natürlich beschränkt sich Nezdařil auf Übersetzungen tschechischer Autoren.2 Zugleich hebt er aber auch Eisners Bedeutung für die Vermittlung hochwertiger deutschsprachiger Literatur ins Tschechische hervor: […] wenn einem des Deutschen unkundigen Tschechischen die Bedeutung Johannes von Saaz’, Alfred Döblins, Adalbert Stifters, R. M. Rilkes, die Bedeutung Heinrich Manns und vor allem die Bedeutung Franz Kafkas und Thomas Manns verständlich ist, so ist das vor allem und bei einigen von diesen Schriftstellern ausschließlich Eisners Verdienst.3

Eindeutig positiv bewertet Ladislav Nezdařil Eisners breiten Horizont und sein Gefühl für den Stil der übersetzten Werke: In weitem Bogen umspannen seine Übersetzungen aus dem Deutschen eine ganze Plejade deutscher Autoren; überall ist das Bemühen spürbar, den individuellen Stil unterscheidbar zu machen und seine Merkmale zu erhalten. Vor allem Eisners Übersetzungen Franz Kafkas und Thomas Manns zeugen von Respekt und Ehrerbietung.4

Zwiespältig bleibt aber Nezdařils Gesamteinschätzung von Paul Eisners Übersetzungskunst: 1 Vor allem ist von Eisners virtuosem Umgang mit der Sprache und expressionistischer, hyperintellektueller Diktion die Rede, worauf Nezdařil anhand von Beispielen aus der Übersetzungstätigkeit Eisners näher eingeht. Vgl. Nezdařil, Ladislav: Česká poezie v německých překladech [Tschechische Dichtung in deutschen Übersetzungen]. Praha 1985, v. a. 243– 248, hier bes. 243 und 246. 2 So zum Beispiel auf: Karel Hynek Mácha, Karel Jaromír Erben, Jan Neruda, Jaroslav Vrchlický, Josef Václav Sládek, Karel Hlaváček, Otokar Březina, Antonín Sova, Josef Hora, Karel Toman, Viktor Dyk, Vítězslav Nezval, Bohuslav Reynek, Vilém Závada, Jaroslav Seifert, Jan Zahradníček, Vladimír Holan, František Halas, Konstantin Biebl und František Hrubín. 3 Nezdařil, Česká poezie, 244. 4 Ebd., 245.

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Er war sprachlich ungewöhnlich begabt, mit dem Hang eines Suchenden zur Sprachvirtuosität und in seiner Diktion gewissermaßen überspannt und intellektualistisch und stellte sein inspirierendes und nie ruhendes Übersetzertalent in den Dienst vieler Persönlichkeiten der deutschen und der tschechischen Literatur.5

Die Mängel von Eisners Übersetzungskunst sieht Nezdařil in einem Zusammenhang mit Eisners eigener Dichtung, die in der Sammlung Sonety kněžně (Sonette an die Fürstin, 1945) enthalten ist: In 80 trochäischen bzw. jambischen Sonetten sind Apotheosen der tschechischen Sprache und ihre Entwicklungsgeschichte in Versen, von der anonymen tschechischen Fabel vom Füchslein und dem Kruge bis zur stilistischen Eigenart Vladislav Vančuras enthalten. Das Prinzip spontaner Dichtung fehlt hier aber. Ersetzt wird es durch modernistische Archaismen, die mit einer funktionalen Sprachauffassung verbunden sind. Eisners Vers steht für einen zwar interessanten, oft aber gewaltsamen sprachlichen Ausdruck, der bald den Eindruck der spielerischen Lösung eines Rebus erweckt und bald geistreicher Versuche, die zugleich alte Wortfunde zu neuem Leben erwecken sollen. Ohne wirklich dichterische Invention lässt Eisner hier künstliche, aber doch interessante und gelehrte Archaismen und Substantiv-Neologismen vorbeidefilieren: mučec, hlod, dvojdcerstvo, besídkolaškovníci, erk, dechlost usw., weiters auch Adjektivbildungen wie (lnavý, píďový, zběžský, hostajný, jurodivý usw.); ähnliches machte er mit Verben (tarasuje se, chlapá se, pulérovat, kohobovat, pakostiti usw.) und Adverbien (dařivě, měrně, dárně, drbně usw.), ohne dass es ihm dabei gelänge, dadurch die tschechische Dichtersprache zu bereichern.6

Die hier angeführten Wörter sind – mit Ausnahme des Substantivs hlod und des Adjektivums jurodivý – im Gegenwartstschechischen nicht gebräuchlich, und einige Neuschöpfungen sind ohne Kontext ganz und gar unverständlich. In Eisners Übersetzung von Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien (1923) kommen viele Dutzend Wörter vor, die die Wörterbücher der tschechischen Sprache nicht kennen. Dieser Hang zu Neuschöpfungen hat offensichtlich tiefere Gründe, denn der ausgebildete Philologe Paul Eisner konnte nicht ignorieren, dass er so viele Neologismen schuf, die in ihrer Mehrheit nicht weniger ungelenk sind als jene der „Wiedererwecker“ des 19. Jahrhunderts. Doch war das Tschechische zu Eisners Zeit schon eine grammatisch und lexikalisch außergewöhnlich reiche Sprache. Oft wird betont, dass Eisner perfekt zweisprachig gewesen sei. Als publizistisches Kürzel kann man das akzeptieren, doch nur, wenn man sich bewusst ist, dass es keine perfekte Zweisprachigkeit gibt. Die moderne Neurolinguistik bringt zahlreiche Belege dafür, dass beim Generieren angeblich gleich gut beherrschter 5 Ebd., 243. 6 Ebd., 245.



Paul Eisner als Übersetzer der Duineser Elegien

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Sprachen verschiedene Gehirnregionen ganz unterschiedlich beteiligt sind. In einer Sprache ist die Spracherzeugung mit einer niedrigeren Gehirnaktivität verbunden als in der zweiten Sprache.7 Bei Paul Eisner war – wenigstens zur Zeit seiner Tätigkeit als Übersetzer und Publizist in der Zwischenkriegs- und Kriegszeit – das Tschechische seine unumstrittene Hauptsprache. Wenn sich Eisner beim Übersetzen umfangreicher Prosatexte in hohem Maße „beherrschen“ konnte, so hätte er das wohl auch beim Übersetzen von Rilkes Gedichtsammlung Duineser Elegien schaffen können. Es hätten so stilistisch geglättete Texte entstehen können, in denen einige von Rilkes Denkfiguren, Themen und Motiven vorgekommen wären. Der Abstand zum deutschen Original wäre aber viel größer als bei Eisners Pionierleistung gewesen, die Jan V. Pojer 1930 in Brno (Brünn) herausgab.8 Eisners Ehrgeiz beim Übersetzen der Duineser Elegien war mit Sicherheit, Rilke als Dichter und Denker und zugleich als einen Virtuosen lyrischer Sprachgewalt vorzustellen. Eisner wollte aber offensichtlich keine der angeführten Qualitäten zu Gunsten einer anderen aufopfern. Ich sehe gerade darin den großen Vorteil, zugleich aber auch den Nachteil seiner Übersetzung. Hanuš Karlach übersetzte Rilkes Prosatexte und gab die bisher umfangreichste Rilke-Anthologie unter dem Titel … a na ochozech smrt jsi viděl stát (... und in den Türmen war der Tod). Er sieht die Geschichte der tschechischen Rilke-Übersetzungen als eine Geschichte „manchmal größerer und manchmal kleinerer Fehlschläge“.9 Zur Frage einer übertriebenen Anpassung von Rilkes Poesie an die Poetik des Übersetzers merkt Karlach an: Hauptberufliche Dichter, zum Beispiel Vladimír Holan, haben sich Rilkes eher wie eines Ausgangsmaterials bedient und ihn an ihre Poetik angepasst. Das tat in ziemlich hohem Maße auch Ladislav Fikar. Es ist logisch, dass das Ergebnis rilkescher war, wenn es nicht – wie bei Holan – um einen meisterhaften Dichter ging. Aber so verhielten sich auch einige professionelle Übersetzer; zum Beispiel Paul Eisner, der – ob nun wegen des Rhythmus, der Farbe oder aus anderen aus Gründen, mit Neologismen oder anders gewaltsam in diesen Text eingreift, und eine sonst relativ zugängliche Struktur undurchsichtig macht; er machte sie hermetischer, als sie sonst ist.10

7 Gerdes, Adele: Spracherwerb und neuronale Netze. Die konnektionistische Wende. Marburg, 2008. McGroarty, Mary E.: Neurolinguistics and cognitive aspects of language processing. Cambridge 2008. 8 Rilke, Rainer Maria: Elegie z Duina [Duineser Elegien]. Brno 1930. 9 Karlach, Hanuš: Rilke – básník plodných nejistot [Rilke – ein Dichter fruchtbarer Unwägbarkeiten]. In: Rilke, Rainer Maria: …a na ochozech smrt jsi viděl stát [...und in den Türmen war der Tod]. Praha 1990, 343. 10 Ebd., 345.

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Hanuš Karlach kann man zustimmen, wenn es um „die Neologismen und gewaltsamen Eingriffe“ geht. Das Problem entsteht bei der Einschätzung der „relativ zugänglichen“ Struktur der Duineser Elegien. Wir müssen uns nämlich einige Fragen stellen, die einerseits die literaturwissenschaftliche Interpretation und andererseits die Übersetzung von Rilkes Lyriksammlung betreffen. Seit 1923 wurden weltweit unzählbare Monografien und Studien in Fachzeitschriften veröffentlicht, die Rilkes späte Lyrik, vor allem die Duineser Elegien literaturästhetisch, philosophisch, theologisch, religionswissenschaftlich, psychologisch, psychoanalytisch und unter vielen anderen Aspekten interpretierten. Das Übersetzen dieser Lyriksammlung stellt immer noch ein großes Problem dar. Davon zeugen ebenso die vielen Rilke-Werkanthologien in verschiedenen Sprachen, die meist die späten Lyriksammlungen außen vor lassen. Auch die meisten tschechischen Rilke-Übersetzer haben sich an dem gedanklich und künstlerisch ausgereiften Werk nicht versucht. Eisners Übersetzung der Duineser Elegien war daher ein sehr gewagtes Unterfangen und aufgrund ihrer frühen Entstehungszeit überaus verdienstvoll, machte sie doch eine ganze Dichtergeneration mit einem der wichtigsten Werke der europäischen Dichtung bekannt. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als sich die künstlerische Individualität beispielsweise eines Jan Zahradníček, Vladimír Holan oder eines Jiří Orten zu entfalten begann. Ohne diese Dichter ist die moderne tschechische Lyrik nicht vorstellbar. Holans und Ortens Einfluss auf die Nachkriegsgeneration war riesig. Und gerade für diese Dichter war der späte Rilke schon in den 1930er Jahren eine wichtige Quelle dichterischer Inspiration. Nach Eisners Übersetzung griffen jedoch auch spätere Generationen von Dichtern und Lesern. Jiří Grušas Übersetzung, die in den 1960er Jahren entstand, zirkulierte ab Ende der 1970er Jahre nur in Samisdat-Abschriften. Hanuš Karlachs Rilke-Anthologie von 1990 präsentierte sieben Gedichte in „nicht-eisnerscher“ Übersetzung – und zwar die Erste, Zweite, Sechste und Siebte Elegie in der Übersetzung Jiří Grušas. Die Übertragung der Dritten, Vierten und Zehnten Elegie stammte von Jindřich Pokorný. Die weitreichende Bedeutung von Eisners Übersetzung ist schon daraus ersichtlich, dass die tschechischen Leser auf eine zweite Ausgabe einer Gesamtübersetzung der Duineser Elegien, jene, die Jiří Gruša 1999 im Prager Verlag Mladá fronta veröffentlichte, 69 Jahre lang warten mussten. Liest man nur Eisners Übersetzung, ohne sie mit dem Original oder anderen Übersetzungen zu vergleichen, so empfindet man die erwähnten Neologismen, syntaktischen Inversionen, aber auch die rhythmische Nachahmung des Originals, die im tschechischen unnatürlich klingt, als störend. Die innere Stimme, die nach der Lektüre des Originals haften bleibt, ist die Stimme eines modernen, hochkonzentrierten Dichters, dem Eisners exaltierter Ausdruck fremd ist. Trotzdem wäre es ein schwerer Fehler, wenn wir das neue dichterische Sprechen, das Paul Eisner aus Rilkes Sammlung ins Tschechische übertragen konnte, gleichsam mit dem Wust

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neuromantischen Altertümelns und wortschöpferischer Experimente dem Vergessen anheimstellen wollten. Ein tiefes Eintauchen in die grundlegenden Fragen und Zusammenhänge von Leben und Tod, das Überschreiten der Grenze verschiedener Lebensformen, die Wahrnehmung neuer Formen von Zeit und Raum und ihre Verknüpfung, die Öffnung gegenüber Anderem, das das Sichtbare und das Unsichtbare verändert, das alles verlangt ein Deornamentalisieren der Ausdrucksweise. Hier scheitert Paul Eisner in gewissem Maße, jedoch nicht, weil er etwa den Sinn von Rilkes Werk nicht erfassen konnte, sondern eher, weil er die literaturgeschichtliche und volkskundliche Forschung nicht ausblenden konnte. Gerade darin sehe ich das „Tragische“ von Eisners Zweisprachigkeit: in dieser erlernten, mit unglaublichem Fleiß erarbeiteten Kenntnis des Tschechischen, die zwar in vielem das sprachliche Wissen eines von Kindheit an im Tschechischen Aufgewachsenen übertrifft, der aber die natürlichen Hemmungen fehlen. Eisners Unvermögen, angesichts solcher Sprachskrupel gegenüber der tschechischen Sprache zu schweigen, irritiert zwar, soll aber nicht den ernsthaften Versuch trüben, Rilkes Spätwerk zu interpretieren. Aus der schon erwähnten isolierten Lektüre kann das nicht hervorgehen, und deshalb ist es nötig, Eisners Übersetzung sowohl mit dem Original als auch den anderen Übersetzungen zu vergleichen. In seiner späten Lyrik gibt Rilke der syntaktischen Gliederung den Vorzug vor der Gliederung des Verses, um so den ideell neuen Inhalt hervorzuheben – beim Vergleich des Originals mit den Übersetzungen Paul Eisners, Jindřich Pokornýs und Jiří Grušas vergleiche ich deswegen einzelne Verse oder Versgruppen, die syntaktische Einheiten bilden. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die Eingangs- und Schlusspassagen der Vierten Elegie. Nach dem Text des deutschen Originals11 führe ich zunächst die Übersetzung Eisners an,12 dann folgt die Übersetzung Jindřich Pokornýs13 und schließlich die Übersetzung Jiří Grušas:14 Die vierte Elegie I. Strophe 1. Rilke: O Bäume Lebens, o wann winterlich? 1. Eisner: Ó, stromy žití, ó, kdy zimní už? 1. Pokorný: Ó kdy vás mrazí, stromy života? 1. Gruša: Ó, stromy života, kdy tedy na zimu? 11 Rilke, Rainer Maria: Die Vierte Elegie. In: Ders.: Duineser Elegie. Leipzig 1923, 17–19. 12 Rilke, Elegie z Duina (Brno 1930), 32–33. 13 Rilke, Rainer Maria: …a na ochozech smrt jsi viděl stát. Praha 1990, 192. Übers. von Paul Eisner, Ladislav Fikar, Jindřich Flusser, Jiří Gruša, Vladimír Holan, Hanuš Karlach, Jan Löwenbach, Jindřich Pokorný, Václav Renč, hier zit. nach der Übersetzung von J.  Pokorný. 14 Rilke, Rainer Maria: Elegie z Duina. Praha 1999, 19. Übers. von Jiří Gruša.

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Rilke: 2. Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zug3. vögel verständigt. Überholt und spät, 4. so drängen wir uns plötzlich Winden auf 5. und fallen ein auf teilnahmslosen Teich. Eisner: 2. My nejsme svorni. Ne jak stěhovaví 3. jsou ptáci zpraveni jsme. Předstiženi 4. a pozdě vtíráme se náhle větrům 5. a padáme na bezúčastnou tůň. Pokorný: 2. My nejsme zajedno: jen tažný pták 3. je vyrozuměn předem. Po jiných 4. a pozdě vylétáme větrům vstříc 5. a dopadáme na lhostejnou tůň. Gruša: 2. V nás není shoda. A není v nás 3. směr tažných ptáků. Zpozdile, pozdě, 4. se vnucujem větru a padáme 5. dolů na netečnou tůň. 6. Rilke: 6. Eisner: 6. Pokorný: 5. Gruša: 6.

Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewußt. Kvést, chřadnout je nám vědomo v týž čas. Současně víme, co je kvést i schnout. […] Vadnout a kvést je nám v jediný čas.

Rilke: 7. Und irgendwo gehn Löwen noch und wissen, 8. solang sie herrlich sind, von keiner Ohnmacht. Eisner: 7. A někde ještě lvi jsou, nevědoucí, 8. dokud jsou nádherní, co bezmoc je. Pokorný: 7. A někde ještě kráčejí lvi krásní, 8. doposud nevědouce o bezmoci.

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Gruša: 6. [...] A někde se ještě 7. toulají lvi a jejich nádhera 8. neví nic o bezmoci. II. Strophe Rilke: 1. Uns aber, wo wir Eines meinen, ganz 2. ist schon des andern Aufwand fühlbar. Eisner: 1. Však my, když něco cele myslíme, 2. již o druhé znát péči. Pokorný: 1. Nicméně tam, kde jedno míníme, 2. již cena jiného se dává poznat. Gruša: 1. My ale míníme jednu věc vážně 2. a už je cítit tíha té druhé. Rilke: 2. [...] Feindschaft 3. ist und das Nächste. Treten Liebende 4. nicht immerfort an Ränder, eins im andern, 5. die sich versprachen Weite, Jagd und Heimat. Eisner: 2. [...] Nepřízeň 3. nám statek nejbližší. Což milenci 4. vždy na kraj nestoupají, jeden ve druhém, 5. již dálku slibovali si a lov a domov. Pokorný: 3. Duch protiv je nám vskutku nejbližší. 4. I milenci, byť sobě slíbí dálku, 5. domov i hon, vždy k mezím v druhém dojdou.

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Gruša: 2. [...] Nenávist 3. umíme nejlíp. Neboť i ti, kteří milují, 4. se jeden v druhém ženou až na sráz, 5. i když si slíbí lov, dálku a domov! Letzte Strophe Rilke: Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt es ins Gestirn und gibt das Maß des Abstands ihm in die Hand? Wer macht den Kindertod aus grauem Brot, das hart wird, – oder läßt ihn drin im runden Mund, so wie den Gröps von einem schönen Apfel? … Mörder sind leicht einzusehen. Aber dies: den Tod, den ganzen Tod, noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös zu sein, ist unbeschreiblich.15 Eisner: Kdo zjeví dítě tak, jak stojí? Kdo je v hvězdu postaví, dá míru vzdálenosti mu v ruku? Kdo že smrtku uhněte z šedého chleba, který tvrdne, – nechá ji v oblých ústech jako jadrník krásného jablka? … Ach, do vrahů tak snadno vidět. Ale to zde: Smrt, tu celou smrt, než počal’s ještě žít, mít něžně v sobě, zloby necítit, je nevýslovné.16 Pokorný: Kdo vypodobní dítě, tak, jak je? A postaví je v kruhu hvězd, a míru dálky mu odevzdá? Kdo dětskou smrt z šedých a tvrdnoucích skýv uhněte či v ústech nechá jako ohryzek skvostného jablka? … Jak snadno lze 15 Rilke, Duineser Elegien, 19. 16 Rilke, Elegie z Duina (Brno 1930), 301–347, ebd., 36.



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pochopit vraha. Ale to, že smrt, celou smrt někdo dřív, než začal žít, obsáhne v sobě něžně, bez hněvu, vyjádřit nelze.17 Gruša: Kdo ale ukáže podstatu dítěte? Najde mu hvězdu a do ruky dá mu měřítko odstupu? Uhněte dětskou smrt z korání tmavého chleba – nebo ji ponechá v okrouhlých ústech jak ohryzek krásného jablka? … Uhádnout vrahy je snadné. Tohle však: přijmout smrt, celou smrt, smírně a před životem a přitom – nebýt zlý, neumím popsat.18

Schon aus den zitierten Passagen ist klar, wie unterschiedlich der Zugang Paul Eisners auf der einen Seite und Jindřich Pokornýs und Jiří Grušas auf der anderen Seite zur Übersetzung der Duineser Elegien ist. Während Eisner sich intuitiv vom Strom des lyrischen Kommentars mitreißen lässt und versucht, Rilkes ungewöhnliche Gedanken wenigstens durch ein Abstufen des Ausdrucks zu konturieren, wo er sie nicht ganz fassen kann, zielen Pokorný und Gruša eher auf eine Gesamtinterpretation von Rilkes Text ab. Jindřich Pokorný stellt die Geschlossenheit des lyrischen Ausdrucks in den Mittelpunkt, und das auch auf Kosten dessen, dass er so die Art nur andeutet, wie Rilke das Gemeinte aus sinnlicher Anschaulichkeit zu immer stärkerer Abstraktion entwickelt. Dem gegenüber bietet Gruša eine philosophisch vertiefte Interpretation, die dem tschechischen Leser in Rilke einen sehr originellen Denker vorstellt, wobei wiederum der lyrische Dichter etwas in den Hintergrund gerät. Für den heutigen Leser ist Grušas Übersetzung insofern unverzichtbar, als er Rilkes Streben nach einem höchst abstrakten Ausdruck systematisch hervorhebt, und das sogar dort, wo Rilke nicht zur philosophischen Kategorie des personifizierten Abstraktums greift. Angesichts der Sinnschichten, die Jahrzehnte psychologisierender, theologisierender oder anders aprioristischer Interpretationen über Rilkes Werk gelegt wurde, hat dieser Gestus des Übersetzers Gruša etwas unglaublich Befreiendes. Gruša holte Rilke aus dem Café des Fin de Siècle in die Gegenwart, in der wir nach den Grundbausteinen unserer Identität Ausschau halten können. Als 17 Rilke, Elegie z Duina (Praha 1990), 194. 18 Rilke, Elegie z Duina (Praha 1999), 22.

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künstlerisch wertvoll erschien Gruša in den Duineser Elegien vor allem der gedankliche Tiefgang und Rilkes dichterischer Mut – die Bereitschaft, denkerisch bis zum Äußersten zu gehen und die grundlegenden Tabus des menschlichen Lebens zu untersuchen. Heute sind etwa Rilkes Betrachtungen zum Verhältnis von Leben und Tod, auf die verschiedenen Formen des Lebens oder die Abgründigkeit menschlichen Liebesempfindens immer noch als bloß interessanter Fall von „künstlerischer Imagination“ annehmbar. In den Duineser Elegien gibt es viele sehr ungewöhnliche Vorstellungen, die weit mehr sind als nur paradoxe Spiele der Phantasie. Eine schwere Aufgabe sowohl für den Interpreten als auch den Übersetzer ist zum Beispiel die gegensätzliche Raumvorstellung von Innen und Außen etwa im bisher noch nicht zufriedenstellend übersetzten Begriff „Weltinnenraum“. Die Unterschiede zwischen Innen und Außen, zwischen der Sphäre des „Ich“ und der Welt außerhalb des Ich, zwischen Subjekt und Objekt des Betrachtens verfließen in Rilkes Elegien. Schon vor der Entstehung der Duineser Elegien gibt es in Rilkes Dichtung Bilder des Ineinanderübergehens des lyrischen Subjekts mit dem Sein der Natur. Der sich ausweitende Raum verleiht dem Sein einen zunehmenden Glanz, und die Vorstellung einer Metamorphose des Äußeren in ein Inneres gewinnt an Kraft. Das Äußere wird paradoxerweise kleiner, verschwindet jedoch nicht und bleibt als Äußeres präsent. Schwerwiegende Folgen für die Übersetzung der Duineser Elegien hat auch die Auffassung der lyrischen Figur des Engels, die von christlichen Theologen Jahrzehnte hindurch in der katholischen Tradition interpretiert wurde, obwohl sie bei Rilke die reine Bezüglichkeit, also ein verhältnismäßiges Sein symbolisiert. Auch haben die scheinbar der Neuromantik oder der Sezession entliehenen Symbole des Vogels (des Vogelflugs), der Rose, der Pflanze, des Windes (und überhaupt des Strömens), des Baums und des Mailieds bei Rilke tiefere Bedeutungen und Bezüge als in der zeitgleichen Lyrik. Wenn wir Eisners intuitive Übersetzung mit Grušas philosophischer Interpretation vergleichen, so kann man feststellen, dass Eisner in mehreren Fällen, wenn er in Interpretationsnotstand gerät, bei einer verkrampften Nachahmung des Originals Zuflucht sucht. Im Fall der Duineser Elegien ist diese Verkrampftheit Eisners (einige Jahre nach der Veröffentlichung des Originals!) jedoch verständlich, brauchten doch auch die Interpreten im literarhistorischen Kontext Jahrzehnte, bis sie den Sinn von Rilkes späten Texten wenigstens annähernd erfassen konnten. In dieser Hinsicht hatten Jindřich Pokorný und Jiří Gruša wesentliche Vorteile gegenüber Paul Eisner. Zudem konnten sie bei der Übersetzung auch auf Eisners Lösung zurückgreifen, auch wenn sie dies vermutlich nicht taten. So erhob vor allem Jiří Gruša als ein philosophisch gebildeter Dichter den Anspruch auf eine originelle Übersetzung des Rilkeschen Meisterwerks. Der grundlegende und immer noch inspirierende Beitrag Paul Eisners zum Übersetzen der Duineser Elegien beruht im Bemühen, auch im Tschechischen etwas



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von Rilkes Phonozentrismus und dramatisch abgestufter Polyphonie im Selbstgespräch des lyrischen Subjekts zu erhalten, ohne dass dabei der mitreißende Strömen von Rilkes dichterischem Denken gestört würde. So wird zum Beispiel im bereits zitierten Schluss der Vierten Elegie der beruhigte Fluss der Meditation von einem Vers unterbrochen, der klanglich-stilistisch darauf abzielt, die Begeisterung ob des ausgeglichenen Akzeptierens des Todesmysteriums zu evozieren: […] Aber dies: den Tod, den ganzen Tod, noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös zu sein, ist unbeschreiblich.

Ich habe den vokalischen Verlauf des syntaktischen Ganzen (mit dem Übergang) fett hervorgehoben, in dem der Vokal „o“ kein bloßer Vokal der hinteren Reihe ist, der im Kontrast zu den e-Vokalen steht. Shizuteru Ueda, ein japanischer RilkeÜbersetzer und bedeutender Philosoph der Schule von Kyoto charakterisiert den Ausruf „oh“ in Rilkes Epitaph folgendermaßen: Der Ausruf „evoziert die Erfahrung und gibt die Erfahrung zurück an die Sprache […].“19 Im Tschechischen kann man diese Verse begreiflicherweise nicht in eine vergleichbare euphonische Form bringen. Aus dem Vergleich der drei Übersetzungen ins Tschechische wird somit deutlich, dass Paul Eisner bemüht war, eine Atmosphäre gefühlsmäßiger Anspannung und einer Mitteilung in einem nicht meditativ gestimmten Ton zu schaffen – so etwa durch jambische Auftakte, Zäsuren, mit denen er jambisch stilisierte Halbverse schafft, mit Rufworten wie „ach“ oder auch dem Adjektiv „nevýslovné“ (unausgesprochen). Im Unterschied zu ihm benutzten Jindřich Pokorný und Jiří Gruša die entpoetisierten Ausdrücke „vyjádřit nelze“ beziehungsweise „neumím popsat“. Die Übersetzung Jindřich Pokornýs und vor allem die sehr „zivile“ Übersetzung Jiří Grušas aus den 1960er Jahren sind stark von der schweren Krise der poetischen Wörter im Zweiten Weltkrieg und in den 1950er Jahren sowie von der allgemeinen Desillusionierung gegenüber großen Ideen gezeichnet. Die sogenannte Poesie des Alltags brachte alte Genres in die Büros und bescheidenen Wohnungen, in denen nur geringe Sachen und gewöhnliche Worte beheimatet sind. Die stilistische Verschiebung vieler sprachlicher Mittel in Richtung von Poetismen musste sich beim Übersetzen ins Tschechische bemerkbar machen. In Rilkes ungewöhnlichem Verhältnis zur Sprache – einerseits als einem Medium, das sich immer formt, und andererseits als geheimnisvolles Wesen, das auch 19 Zu Shizuterus Überlegung vgl. Maraldo, John C.: Filosofie Šizuteru Uedy [Die Philosophie des Ueda Shizuteru]. Übers. von Antonín Konečný. In: ZEN 4. Světové duchovní proudy [ZEN 4. Geistliche Weltströmungen]. Bd. 11. Bratislava 1991, 127–138, hier 134. Engl. Original: Ders.: Zen, Language and the Other. The Philosophy of Ueda Shizuteru. In: Kuroda Institute, Fall/Winter 1989, 21–26.

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mit seinem „Körper“ spricht und atmet – können wir zwar eine fetischistische Eigenart des großen Dichters sehen, beim Übersetzen seiner Gedichte darf sie jedoch nicht ganz unterschlagen werden. Ich glaube, dass uns Paul Eisner, gerade weil er das begriffen hat, als Übersetzer der Duineser Elegien Rainer Maria Rilkes noch immer etwas zu sagen hat.

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Der Horizont von Pandoras Tempel. Zu Eisners Übersetzung von Goethes Pandora Karl Kraus 1 Aber schon ist niemand mehr imstande, sie zu erkennen; niemand imstande, die Notwendigkeit zu messen, aus welcher dieser große bürgerliche Charakter zum Komödianten, dieser Wahrer goethischen Sprachgutes zum Polemiker, dieser unbescholtene Ehrenmann zum Berserker geworden ist. (Walter Benjamin, Karl Kraus)1

Im Herbst 1925 schrieb Paul Eisner – mitten in einem Text über die zeitliche Bedingtheit von Jaroslav Vrchlickýs Werk: Oft ist ein destruktiver Revisionist auch einer, der neuen Ruhm schafft. Karl Kraus hat manch servile Altersdichtung Goethes zerrissen. Dann hat er das Podium betreten und hat Tausenden Deutschen, die Goethe bis dahin durch die Brillen diplomierter Trottel, das Wunder der Wunder verkündet, das Allerheiligste der deutschen Dichtung: Goethes Pandora.2

In einem Brief an Otokar Fischer verortete Eisner seine erste Begegnung mit Goethes „Festspiel“ in der Zeit seine Universitätsstudien, das heißt irgendwann in zwischen 1911 und 1916: Dieses Motiv greift mir ans nackte Herz. Sie wissen, was für ein Verhältnis ich zu Wedekind habe. Nach seiner Pandora habe ich als Student die Goethesche gelesen, von der ich an der Universität nichts gehört hatte. Ich habe sie gleich mit der Faustschen Helena assoziiert und war Feuer und Flamme. Dann hat sie Karl Kraus in Prag gelesen. Das war unvergesslich.3 1 Benjamin, Walter: Karl Kraus. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II./1, Frankfurt am Main 2006, 365. Der Text ist im März 1931 in der literarischen Beilage der Frankfurter Zeitung erschienen. 2 Eisner, Pavel: K případu Vrchlického [Zum Fall Vrchlický]. In: Tvorba, 1 (1925/26), 12–13, hier 12. Zu Kraus, Aktualisierung von Goethes Werk vgl. z. B. Simon, Dietrich: Karl Kraus. Stimme gegen die Zeit. In: Karl Kraus. Ausgewählte Werke. Bd. 3 (1925–1933): Vor der Walpurgisnacht, Berlin 1977, 693–784, v. a. 757–763. 3 Brief Paul Eisners an Otokar Fischer, 25. 2. 1929. Literární archiv Památníku národního písemnictví [Tschechisches Literaturarchiv, im Folgenden LA PNP]. Bestand Otokar

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Es blieb jedoch nicht bei der bloßen Faszination. Ab 1927 gab František Borový in Zusammenarbeit mit Otokar Fischer Goethes Spisy (Werke) heraus. Möglicherweise war es Fischers Verdienst, dass an der Edition auch Paul Eisner beteiligt wurde. Vojtěch Jirát zählt Paul Eisner (neben František Kubka) in einem Text über Fischers Projekt zu den „älteren Schriftstellern, die jedoch bisher nicht als Übersetzer in Erscheinung getreten sind“. 4 Für den Band Dramata (Dramen, 1931) Eisner übersetzte neben Iphigenie auf Tauris („Ifigenie v Tauridě“) die Pandora.5 Seine ÜbersetFischer. In den Beständen des LA PNP gibt es zwei Ausgaben von Goethes Pandora, beide im Nachlass von Paul Eisner. Man kann voraussetzen, dass Eisner während seiner Studienzeit an der Universität von Otokar Fischers und František Zavřels gemeinsamem Projekt einer Übersetzung und Inszenierung von Lulu (Erdgeist) (in Buchform Praha 1914) gehört hat. Gegen Ende seiner Studien hat sich Eisner notwendigerweise sehr intensiv mit Goethe beschäftigt, und zwar vor allem in seiner 1918 verteidigten Dissertation Lessing, Goethe und Schiller in tschechischen Übersetzungen. Josef Čermák verweist auf die „Angabe Kurt Krolops“, der Kraus, Vorlesung vom 10. Dezember 1910 als die erste von 95 Vorlesungen in den böhmischen Ländern bezeichnet, die in der Rede- und Lesehalle deutscher Studenten in der Krakovská ulice 14 in der Prager Neustadt stattfand. Vgl. Čermák, Josef: Ze zákulisí prvních přednášek Karla Krause v  Praze [Ein Blick hinter die Kulissen der ersten Karl Kraus-Vorträge in Prag]. In: Navrátil, Ivo/Macurová, Naděžda (Hg.): Karl Kraus jičínský rodák a světoobčan/In Jičín geboren, in der Welt zu Hause. Semily 2004, 262–273, hier 266, sowie Krolop, Kurt: Karl Kraus a Češi [Karl Kraus und die Tschechen]. In: Hojda, Zdeněk/Prahl, Roman (Hg.): Český lev a rakouský orel v 19. století [Böhmischer Löwe und österreichischer Adler im 19. Jahrhundert]. Praha 1996, 310–327. 4 Jirát, Vojtěch: Fischerův soubor Goethovy tvorby v Pantheonu [Fischers Goethe-Auswahl im Pantheon]. In: Čin, 3 (1931/32), 706–709, hier 708. 5 In Eisners Korrespondenz mit Otokar Fischer finden sich einige Bemerkungen über die Arbeit an der Übersetzung. Eisner erwähnt im Nachwort zur Pandora einerseits Fischer und andererseits Antonín Stanislav Mágr als seine Mitarbeiter bei der Übersetzung, vgl. auch eine Stelle in einem undatierten Brief Fischers, wo von Mágrs Bericht über eine aktuelle russische Edition von Goethes Werk, also auch der Pandora die Rede ist, die Eisner gern – wie er schreibt – einsehen würde. Mágr war auch an der Vorbereitung der Anthologie Die Tschechen beteiligt, die 1928 in München erschien; er übersetzte Texte von Josef Holeček und Vladislav Vančura. In einem undatierten Brief P. Eisners an O. Fischer (LA PNP, Bestand Fischer) ist zu lesen: „Die ganze Zeit über, die ich weg bin, habe ich Angst, Sie könnten die Pandora für definitiv halten. In Ihrer Korrektur gibt es noch einige Druckfehler. Außerdem habe ich noch einige Verse verbessert. In den Druckfahnen erhalten Sie die endgültige Fassung für Novák. Wenn dann die Fassung für Borový etwas besser sein wird, soll mich das nur freuen.“ An selber Stelle vermerkte Eisner: „Zweisprachigkeit: Steht wohl kaum im Widerspruch zu Ihrer Theorie. Sie stand dann auch mit meiner eigenen Theorie im Widerspruch. Es gibt bei mir innere Situationen und Zustände, die zum tschechischen Ausdruck hindrängen, andere zum deutschen, das ist alles. Die tschechischen sind weniger, seltener, schmerzvoller und brauchen ein heftiges Erleben. So ist in der Pandora ein nicht festzumachendes Drama versteckt.“ Gleich darauf betont Eisner noch einmal „alle Änderungen, die Sie verlangt haben“. Am 14. 2. 1929 teilt Eisner Fi-



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zung der Pandora erschien schon im Februar 1930 in Arthur Nováks bibliophiler Edition, die mit Zeichnungen von Jan Konůpek – ein 1883 geborener bekannter Prager Grafiker und Illustrator) versehen war. Die Arbeiten an dieser Edition sind in einem Konvolut von Briefen Paul Eisners an Arthur Novák dokumentiert, das im Anhang zu diesem Essay erstmals veröffentlicht wird. Eisner leitete die Edition mit den Worten ein: „Die Arbeit an der Übersetzung ist F. X. Šalda gewidmet. Der Übersetzer.“6

scher mit: „Ich sende Ihnen die Pandora. Sie ist nicht fertig, es ging mir nur darum, dass Sie sie sehen. An einer Stelle scheint mir, dass die Kopistin einen Vers ausgelassen hat – aber das ist jetzt nicht wesentlich. Das Wesentliche ist, dass Sie mir Ihr allgemeines Urteil mitteilen.“ Am 19. 2. 1929 informiert Eisner Fischer: „Teurer Herr Professor, ich erlaube mir, einige Korrekturen zur Pandora beizulegen, damit Ihrer liebenswürdigen Mühen weniger sein können“. Am 25. 2. 1929 Eisner bekennt gegenüber Fischer: „ihre kritischen Bemerkungen zur Pandora haben Sie zu meinem Wohltäter gemacht. […] Mit dem Überarbeiten habe ich schon begonnen, es wird zum Nicht-mehr-Wiedererkennen sein. Ansonsten gelingen die Trimeter natürlich immer nur à peu près. Zweierlei Fremdheit trennt sie von der Seele des Tschechischen: die auf Deutsch wiedergegebene griechische Antike, die Tradition der Hellade, die uns die Tradition nicht vererbt hat, und die deutsche Besinnlichkeit.“ Und am 2. 7. 1929 schreibt Eisner Fischer: „Die bis zur Unkenntlichkeit umgeackerte Pandora habe in der ersten Fahnenkorrektur an Arthur Novák abgegeben. Den letzten Fahnenabzug lege ich Ihnen für Borový vor. Jetzt gehe ich die Einleitung an. Das ist leicht und schwer zugleich.“ (LA PNP, Bestand O. Fischer). – Am 4. 7. 1929 teilt Eisner einem anderen Empfänger, Arne Novák (LA PNP, Bestand Arne Novák) mit: „Oft denke ich bei der Arbeit an Sie. Meine Pandora ist gesetzt und wird also schon Ende August gedruckt in Ihren Händen liegen. Ich plane Rilkes Duineser Elegien und einige andere schwere Sachen und beginne mit einem tschechischen Buch über die deutsche Literatur in den Böhmischen Ländern.“ Am 26. 9. 1929 beschreibt Eisner Fischer einen Streit mit  Borový um das Honorar – Eisner spricht von „Grobheiten“: „Ich habe ihm deswegen eröffnet, dass die Pandora nicht bei ihm erscheinen wird.“ – Und weiter: „Überhaupt fühle ich mich in diesem Land immer beengter. Es besitzt eine schöne Sprache und hier und da eine schöne Frau – die Männer sind eine Bagage [Lumpenpack]. Auf die eine oder andere Weise alle. Eine feige, perfide Bagage. Dreckige.“ (22. 7. 1930). Eisner dankt Fischer im Voraus für die Rezension der Übersetzung der Pandora. Siehe Fischer, Otokar: Goethes Pandora tschechisch. In: Prager Presse, 27. 7. 1930, Nr. 205, Beil. Dichtung und Welt, Nr. 30, I–III. Am 2. Mai 1931 informiert Eisner Arne Novák: „Ich mache für Fischer die Iphigenie – ganz harte Arbeit. Ich plane, meine Pandora für die zweite Auflage durchzusehen; sie wird bei Borový erscheinen. Das ist – wie jedes Durchsehen – wieder eine Arbeit, die Freude macht.“ (LA PNP, Bestand Arne Novák). 6 Es scheint, dass Eisner und Šalda lange Zeit intensive Kontakte pflegten. Vgl. die einschlägigen Stellen in der Korrespondenz Eisners mit Pannwitz aus den Jahren 1917–1922. In: Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002. Siehe außerdem einen Brief Paul Eisners an Otokar Fischer aus der Mitte der 1930er Jahre: „Verstehen Sie doch, bitte: Sie, Šalda, Fraenkl, Sie sind in letzter Zeit in dieser

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Teil dieser Edition ist auch Eisners Nachwort zu Goethes Pandora vom Juli 1929,7 das mit einer Verbeugung vor Karl Kraus schließt: Die Pandora ist ein Werk, das verwunderlicherweise auch gebildeten Deutschen wenig bekannt ist. Das größte Verdienst um die Durchsetzung dieses Werk hat sich Karl Kraus mit seinen einflussreichen Rezitationen des Werks und seiner Rehabilitierung als bedeutsames Werk erworben. Das Erlebnis einer solchen Rezitation stand auch am Anfang dieser Übersetzung.8

„Rehabilitierung als bedeutsames Werk“ 1: Epimetheus – die gähnende Vergänglichkeit. Vom einem erotischen Analogon zu einer Deklaration von Zeitlichkeit Es ist anzunehmen, dass Eisners Interpretation von Goethes Pandora teilweise an Kraus’ „Rehabilitierung“ anknüpft, die im Zeichen von Wedekinds Vision ephemerer Weiblichkeit stand.9 In dem bereits erwähnten Brief an Otokar Fischer vom Prager und tschechischen Welt die einzigen, die mich überhaupt mein eigenes Leben fühlen machen.“ (LA PNP, Bestand Otokar Fischer). 7 Eisner, Pavel: Goethova Pandora [Goethes Pandora]. In: Rozpravy Aventina, 5 (1929/30) H. 25, 294. 8 Eisner, Pavel: Goethova Pandora [Goethes Pandora]. In: Goethe, Johann Wolfgang: Pandora. Slavnostní hra [Pandora. Ein Festspiel]. Übers. von Pavel Eisner. Praha 1930, 69–77, hier 77. Vgl. auch den Ausspruch Otokar Fischers: „Jeder neue Forscher oder Übersetzer findet über einen anderen Umweg zu Goethe. Bei uns hat z. B. Pavel Eisner eingestanden, dass für ihn ein Rezitationsabend von Karl Kraus der entscheidende Impuls war […].“ Novák, Bohumil: Rozhovor s Otokarem Fischerem [Ein Gespräch mit Otokar Fischer]. In: Rozpravy Aventina, 7 (1931/32) H. 27, 1. Man vgl. auch die Einstellung Friedrich Rothes zu Kraus’ Vortragskunst: „sein Vortrag erweckte mumifizierte Texte wie Goethes Festspiel Pandora zum Leben“. Rothe, Friedrich: Karl Kraus. Die Biographie. München/Zürich 2003, 321–353, 325 (= Kap. Der Vorleser und sein Publikum). 9 „In der Pandora skizzierte Goethe die ewige Unbefriedigtheit der Sehnsucht, porträtierte Schönheit und Liebe als Elemente der Seele, als das Irrationale selbst, bannte das Johannisfeuer seiner Leidenschaft für das Leben und verlieh der Jugend eine eifersüchtig strahlende Glorie. Und mit der Kraft dieser Leidenschaft lösen sich Raum und Zeit auf und über ein ganzes Jahrhundert hinweg leuchten die dämonischen Strahlen von Goethes Pandora zu einer anderen Pandora – der, die Frank Wedekind erschienen ist.“ Eisner, Goethova Pandora, 75. Vgl. auch Kraus, Karl: Die Büchse der Pandora. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. von Dietrich Simon, Kurt Krolop, Roland Links. Band I. 1902–1914: Grimassen, Berlin 1977, 51–61. Karl Kraus erwähnt Wedekinds Stück Erdgeist schon im Text Der Fall Hervay vom 8. 7. 1904. Ebd., 39–40. Zum Verhältnis Kraus – Wedekind vgl. auch Rothe, Karl Kraus, 190–202; Rothe, Friedrich: Karl Kraus und Frank Wedekind. In: Navrátil/Macurová, Karl



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25. Februar 1929 hob Eisner die Figur von Prometheus, Bruder Epimetheus hervor. Dies stand ganz im Einklang mit dem Ende von Goethes Text ist, der seiner Zeit die traditionelle Überlieferung des Pandora-Mythos tiefgreifend veränderte:10 Goethes Epimetheus, ein alter Mann, lehnt nämlich seines Bruders „Fabel“ von Pandoras „Geburt“11 strikt ab. An der einzigen Pein, die Pandora auf die Erde brachte, leidet, so scheint es, gerade Epimetheus – an einer schmerzhaften Sehnsucht nach Pandoras Nähe und Berührung. Dieses Sehnen entfremdet ihn der Gegenwart. In seinem Brief an Fischer formuliert Eisner: Prometheus ist so sehr wie Faust beim Meer, voll von zivilisatorischer Tatkraft, von Tagansicht des Daseins; Epimetheus Schwindel erregender abyssi petitio, Sehnsucht nach dem süßen nihil in der Schönheit und der Frau.12

Eisner erinnert aber gleichzeitig daran, dass Goethe – wohl um Pandoras Macht zu bekräftigen – „mit ihrem aus dem Traum, der Schönheit, der Frau herrührenden Taumel“ auch die Linie des Prometheus bestärkte. Dies wird besonders in der Figur von Prometheus, Sohn Philerotus deutlich, der verzweifelt in den Wellen stirbt und an der Spitze der Bacchanalien aus den Wellen wiederkehrt. Auf Philerotus Auferstehung vom Tode folgt Epimetheus Abwendung von der Sehnsucht, das heißt der introvertierten Jagd nach einer schmerzvoll-schönen Erscheinung. Um seine Tochter, Epimeleia, zu retten, beginnt Epimetheus einen Kampf: Er findet die Gegenwart für sich wieder und vergisst – offensichtlich vorübergehend – die süße Vergangenheit. Prometheus vollzieht im abschließenden Zwiegespräch mit Eos eigentlich die umgekehrte Bewegung, als er plötzlich enttäuscht von der sorglosen, bloß gegenwartsbezogenen Vernachlässigung des „Vergangenen“ durch die Menschen spricht.13 Hier bot Goethes Text Karl Kraus und auch Paul Eisner Bilder, die an die Dilemmata ihrer – und nicht nur ihrer – Zeit, an die Sehnsüchte in Zeiten der Krise rührten. Ernst Cassirer paraphrasierend sah Eisner im Sommer 1929 im Nachwort zur bibliophilen Edition der Übersetzung14

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Kraus jičínský rodák a světoobčan, 105–112. Zu jener Zeit, als Eisner Goethes Pandora übersetzte, entstanden einige Adaptationen von Wedekinds Text. Anfang 1929 hatte Pabsts Film Die Büchse der Pandora Premiere, in demselben Jahr begann Alban Berg die Arbeit an einer Opernfassung. An Goethes Adaptation knüpfte am Ende des 19. Jahrhunderts Jaroslav Vrchlický an. Vrchlický, Jaroslav: Epimetheus. In: Ders.: Bozi a lidé. Další zlomky epopeje [Götter und Menschen. Weitere Bruchstücke der Epopöe]. Praha 1899, 105–116. Goethe, Pandora, 45. LA PNP. Bestand Otokar Fischer. Brief vom 25. 2. 1929. Ebd., 67–68. Eisner verweist auf Cassirers Buch Idee und Gestalt (Berlin 1924).

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Goethe in der Pandora am Scheideweg zwischen einem individualistischen Ideal, das nach Entfaltung aller individuellen Kräfte strebt, und dem sozialen Ideal, das nach einer allumfassenden Ordnung des Lebens verlangt.

Er fügte hinzu: „Und wie zeitgemäß ist die Pandora.“15

„Rehabilitation der Bedeutung“ 2: Eine (zeitliche) Allegorie der Hoffnung? Einzig die Hoffnung blieb in dem niemals wankenden Hause Unter der Mündung noch im Gesäß und konnte heraus nicht Flattern, da jene [Pandora] zuvor dem Gefäße den Deckel noch aufdrückt […]. (Hesiod, Werke und Tage.)16 Nur die Intrige wäre vermögend gewessen, die Organisation der Szene zu jener allegorischen Totalität zu führen, mit welcher in dem Bilde der Apotheose ein von den Bildern des Verlaufes Artverschiedenes sich erhebt und der Trauer Einsatz und Ausgang zugleich weist. (Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels)17

In dem zitierten Nachwort schrieb Eisner: Robert Petsch meint gewiss auch ganz zu Recht, dass sich Goethe von der Rückkehr der ‚Schönheit‘ auf die Erde einen neuen Aufbau der versunkenen europäischen Welt versprach, (und wie zeitlich die Pandora für uns in diesem Sinn ist, in dem Maße, dass 15 Eisner, Goethova Pandora, 73. 16 Hesiodos: Werke und Tage (Erga kai hemerai), Vers 97–99. Zit. nach Hesiods Werke übersetzt von Heinrich Gebhardt. Stuttgart 1861. Salač bemerkt dazu: „[…] Die Verse über die Hoffnung werden verschieden interpretiert; ich habe mich für die Auslegung entschieden, dass die Hoffnung in der Büchse bleibt und man also nicht hoffen kann, dass die Welt irgendwann besser sein wird; begründet habe ich diese Standpunkt im Artikel über den Mythus über Prometheus und Pandora bei Heroid. (In: Listy filologické, 43 (1916)“ (ebd., VI). Vgl. Salač, Antonín: Mythus o Prometheovi a Pandoře u Hesioda [Der Mythos des Prometheus und der Pandora bei Hesiod]. In: Listy filologické, 43 (1916) H. 2, 81–91; H. 3, 190–204. 17 Benjamin, Walter: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/1, Frankfurt am Main 2006, 409. Benjamin arbeitete an diesem Text ab 1916 und beendete ihn 1925.



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Karl Kraus die Marschverse der Soldaten unmittelbar auf den Weltkrieg bezog) und dass das vollendete Werk Goethes Vermächtnis an das deutsche Volk und die Menschheit werden sollte.18

Goethes Pandora ist ein Torso, der aus einem ersten Teil mit dem Titel Pandoras Rückkehr besteht. Vom zweiten Teil gibt es lediglich eine Skizze. Diese paraphrasiert Eisner in seinem Nachwort. Ihm zufolge sei es eine beachtliche Vision, ein utopisches Werk: Den Erdenmenschen wird die „geheimnisvolle Büchse der Pandora“ angeboten, diese aber zögern, was mit ihr zu tun ist. Epimetheus’ Tochter Epimeleia erklärt die Bedeutung des Geschenks der Pandora, prophezeit den Barbaren ein himmlisches Geschenk der Kunst, ein olympisches Ausgedinge reiner Anschauung und befreiender Bildlichkeit.

Danach erscheint Pandora persönlich: Sie prophezeit den Menschensöhnen ein kommendes Reich, zu dem Wissenschaft und Kunst in einer untrennbaren Synthese des tätigen menschlichen Geistes führen. Sie verspricht Schönheit, Ruhe, Gottesfurcht und einen ewigen Sabbath auf Erden.

So haben die Erdenmenschen eine zweite Chance erhalten, ihr Leben der „Schönheit“ zu öffnen: Prometheus zögert. Da öffnet sich die geheimnisvolle Büchse von selbst: die Zuseher erblicken einen Dom, in dem die Daimonen der Wissenschaften und Künste sitzen. Pandora bestimmt Phileros und Epimeleia zu den Wächtern des neuen Tempels.

Eisner schließt seine Paraphrase der Skizze mit den Worten: „Endlich tritt die Elpora thraseia – die vertrauensvolle Hoffnung – auf und spricht die abschließenden Worten der Apotheose zu den Zuschauern.“19 So wie Epimetheus einer Vision der Vergangenheit entgegen blickt, kann Eisner angesichts der fühlbaren Krise die utopische Vision aus Goethes Zeiten, der Hauch eines dauernden Traums fasziniert haben. Nur dass – wie Eisner nicht zu erinnern vergaß – „die Skizze niemals ausgeführt wurde. Was sie vorgab, war so groß, dass nicht einmal Goethe die Kraft zur Umsetzung fühlte.“ Das faszinierte ihn ebenso wie die Tatsache, dass nicht einmal der Torso des Schauspiels „aufgeführt wurde, was beinahe symbolisch ist“.20 18 Eisner, Goethova Pandora, 72–73; das gilt auch für die folgenden Zitate. Robert Petsch ist u. a. Autor des Buchs Einführung in Goethes Faust (Prag 1910, Verlag des deutschen Vereines zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse). 19 Eisner, Goethova Pandora, 294. 20 Ebd.

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Vielleicht wäre es vor diesem Hintergrund nicht abwegig, Eisners Übersetzung von Goethes Pandora als eine Geste zu verstehen, die irgendwo zwischen Verzauberung und Trauer angesiedelt ist. Ich gebe also Eisners (und wohl nicht nur sein) bezaubertes und trauerndes Antlitz zu bedenken. Ich gebe zu bedenken, dass Paul Eisner als Autor des widerstrebenden Textes Příspěvek k anketě o současné duchovní krizi (Ein Beitrag zur Umfrage über die geistige Krise der Gegenwart) in Frage kommt, der auch solche Urteile enthält: der heutige Mensch […] würde den Niedergang aller Institutionen ertragen, denn die Persönlichkeit vermag auch ein noch so beklagenswertes äußeres Chaos in einen Kosmos innerer Autonomie zu verwandeln. Doch der Mensch hat aufgehört, Persönlichkeit zu sein. Er hat den Sinn für die Werte verloren. Er ist verwildert. Er ist verstaubt.21 21 Eisner, Pavel: Příspěvek k anketě o současné duchovní krizi [Ein Beitrag zur Umfrage über die geistige Krise der Gegenwart]. In: Rozpravy Aventina, (5) 1929/30 H. 13/14, 148. Der Text ist Teil einer Diskussion, die vor allem durch das Buch La trahison des clercs des französischen Intellektuellen Julien Benda Ende der 1920er Jahre auch in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit ausgelöst wurde. Das Buch erschien bereits 1929 auf Tschechisch unter dem Titel Zrada vzdělanců in der Übersetzung von Věra Urbanová. (Anm. d. Ü.: Auf Deutsch erschien das Buch erst 1978 mit einem Vorwort von Jean Améry.) Eisner verwendet in seiner Bilanz die gleiche Begrifflichkeit wie F. X. Šalda, dem zufolge „ein verzweifelter Kampf um die menschliche Persönlichkeit ausgefochten wird“. Bedroht ist das, was Goethe „das höchste Glück der Menschenkinder“ nannte. Šalda, František Xaver: Nepokoj a nejistoty evropské [Europäische Unruhe und europäische Unsicherheiten]. In: Šaldův zápisník, 2 (1929/30), 51–52. In diesem Text stellt Šalda jedoch die Verunsicherung neben dem Hinweis auf die zivilisatorischen Umstände in Zusammenhang mit der radikalen Kompliziertheit des Begriffs „Menschenleben“ in den Konzepten der Psychoanalyse und des Marxismus: „In Marx’ und Jungs Zeit sieht das Problem der Persönlichkeit naturgemäß ganz anders aus als in Goethes. Aber die Poesie und die Kunst der Persönlichkeit bleiben im Grunde dieselben. Es geht auch weiterhin um eine harmonisierende Kunst.“ In: Ebd., 57. An anderer Stelle schrieb Šalda: „Persönlichkeit ist, wie Goethe sagte, das höchste Glück des Menschen.“ Šalda, František Xaver: O smysl kultury [Über den Sinn der Kultur]. In: Šaldův zápisník, 3 (1930/31), 107. Zugleich türmt er Hindernisse auf, indem er Goethe als klassizistischen Erzieher zur Persönlichkeit, also als Fremden, charakterisiert: „Aber bei aller Achtung gegenüber Goethe: sein kultureller Dom ist mir ein Dom ohne lebendigen Gott, ohne Lebensgott; sein Dom ähnelt mir allzu sehr einem Museum. Sein Dom war allzu exklusiv; einerseits nahm er nicht die dämonischen Kräfte des Lebens in sich auf, andererseits die menschliche Kollektivität; beide waren ihm zu trübe, stürmisch, unsicher und – vital.“ Ebd., 110–111. Die von Julien Benda ausgelöste Diskussion fand unter anderem in den Zeitschriften Čin (Die Tat) und Rozpravy Aventina (Die Besprechungen des Aventinum-Verlags) statt. Im Čin nahmen etwa Pavel Fraenkl, Zdeněk Smetáček, Josef Ludvík Fischer, Jan Blahoslav Čapek, Jan Blahoslav Kozák und František Fajfr an der Umfrage teil, in den Rozpravy Aventina schrieb neben Paul Eisner auch Josef Heyduk zu diesem Thema. Arne Novák äußerte sich in einem Gespräch mit Oldřich Králík; weitere Beiträge lieferten Jaroslav Durych und Emanuel Rádl.



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Es ist weiters Eisners Skepsis zu bedenken, was das Verstandenwerden betrifft. Er äußerte mehrmals, dass er für einen Kreis verwandter Seelen arbeite.22 Darauf deutet auch die gezielte Distribution der bibliophilen Ausgabe der Übersetzung mit handschriftlichen Widmungen hin. Darauf weist auch Eisners Brief an Arne Novák vom 16. September 1930 hin: Diese Arbeit wurde von Anfang an mit dem klaren Bewusstsein unternommen: dass sie ganz und gar den Wenigen und Wertvollen, nur einer Handvoll auserwählter Köpfe bestimmt sei. Zeugen können bestätigen, wie ich davon gesprochen, welche ich direkt genannt habe: Arne Novák, Šalda, Fischer, Fraenkl – Schluss. Auch der Verleger teilte diese Ansicht, und so haben wir uns gesagt, dass es dieses Mal gar keine Redaktionsexemplare geben werde. Tatsächlich gab es keine, und es wird keine geben, und das České slovo referierte darüber nur, weil Herr Münzer23 sich ein persönliches Exemplar erbat. Es gibt nichts Schöneres, als wenn die Hand, der das Geschenk gewidmet ist, solch eine geistige Botschaft mit Gefälligkeit annimmt. Sie haben es so angenommen, dass Sie selbst

22 Eine fatale Erschwernis sah Eisner auch in der Fremdheit von Goethes Pandora im tschechischen Kontext und vor allem der tschechischen Sprache: „Der tschechische Übersetzer steht hier vor dem Tor zweier fremder Welten: der mit dem deutschen Geist verbundenen Antike.“ Zit. nach Eisner, Goethova Pandora, 294. 23 Es handelt sich um Jan Münzer (1898–1950), Übersetzer, Publizist, Literaturkritiker, gelegentlich auch Dichter; Eisner erwähnt ihn schon im Februar 1918 in einem Brief an Rudolf Pannwitz im Zusammenhang mit Problemen bei der Übersetzung von Prosatexten F. X. Šaldas ins Deutsche. Vgl. Thirouin, Briefwechsel, 240–242. Zwischen 1928 und 1931 arbeitete Münzer als Leiter der Reihe Pandora im Verlag Adolf Synek. Dort erschien 1930 als 22. Band Goethes Text Die neue Melusine (Nová Meluzína), in der Übersetzung von Marie Dolejší. Jan Münzer übersetzte neben Emil Ludwigs Goethe-Monografie (Praha 1932) auch Kraus’ Tragödie Die letzten Tage der Menschheit (Poslední dnové lidstva, Praha 1933). Der Popularisierung Karl Kraus’ in der tschechischen Kultur widmete sich Münzer schon in den Jahren davor: „Informationen über ihn veröffentlichte er schon ab 1925 (in der Tribuna), berichtete ausführlich über seine Vorträge in Prag (im Plán 1930–32) und veröffentlichte etliche Übersetzungen aus seinem Werk in Zeitschriften.“ mhs [Marcella Husová]: Jan Münzer. In: Opelík, Jiří (Hg.): Lexikon české literatury [Lexikon der tschechischen Literatur]. Bd. 3/I, Praha 2000, 377. Münzer leitete außerdem die „Zeitschrift für Kulturfragen“ Dnešek (Heute) während ihres gesamten Erscheinungszeitraums vom Oktober 1930 bis August 1931. Im März 1931 erschien dort auch eine Übersetzung von Kraus’ Text Technisch-romantisches Abenteuer (Technoromantické dobrodružství, 19. 3. 1931, Nr. 13, 410–414). Im Oktober 1930 veröffentlichte Eisner ebenfalls im Dnešek eine Reihe kleiner Reflexionen unter dem Titel En passant. In der Glosse Goethovo výročí (Das Goethe-Jubiläum), deren Autor offensichtlich Münzer war, lesen wir, dass „Eisners Pandora-Übersetzung unter den tschechischen Übersetzungen einen Ehrenplatz einnimmt“. N. N.: Goethovo výročí [Das Goethe-Jubiläum]. In: Dnešek, 28. 5. 1931, Nr. 18, 561.

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zum Schenkenden geworden sind und dass nun wieder Sie auf meinen Dank Anspruch haben.24

Man (be)denke aber Paul Eisner auch als einen, der an der Hoffnung arbeitet, die sich aus der Nähe der „Splitter“ nährt, in die Šalda das Phänomen „der klassischen Kultur von Weimar“ zerschlagen sah: In Deutschland wütet eine Rassenmystik dunkelster Observanz; mörderische, toll gewordene Triebe eines höchst materiellen Egoismus und niedrigster Gier wüten unter den Völkern; der Brand eines Zweiten Weltkriegs bedroht die gesamte westeuropäische Zivilisation. Inmitten dieser entfesselten Triebe, wo keine Schroffheit brüsk genug ist, um nicht schon morgen von einer noch schärferen Schroffheit übertroffen zu werden, liegt am Boden die Splitter der klassischen Kultur von Weimar; und sie nur zu erwähnen, zeugt heute von einer heimlichen, blutigen Ironie.25

Karl Kraus 2: Nachsatz Beinahe am Vorabend des Goethe-Jubiläums, rief Eisner 1931 in den  Rozpravy Aventina (Die Besprechungen des Aventinum-Verlags) zu einer De-Philologisierung Goethes auf – zu einer „Revision, zu einer Anwendung auf das Heute“: „Goethe ist wahrlich nicht tot“, schreibt Eisner – „er ist für uns ein größerer Revolutionär, als es scheint“.26 Im November 1932 kam Karl Kraus nach Prag, um zum gefeierten Mittelpunkt einer von Studenten veranstalteten Goethe-Reihe im Vortragssaal der Städtischen Bücherei zu werden. Im Zentrum des Programms stand damals ein einziger Text Goethes, die Pandora. Im Dezember 1932 erschien dann in Kraus’ Fackel eine Art Resümee der Fahrt nach Prag. Teil des Texts Goethe-Feier bei den Tschechen war – neben Fischers einleitenden Worten – auch ein Nachdruck von Eisners Artikel für die Prager Presse. Und Eisners Notizen zur Kraus’ Auftritt ähneln einem Bericht über ein vollkommenes Wunder, ein Mysterium, eine Offenbarung des 24 Paul Eisner an Arne Novák, 9. 9. 1930. LA PNP. Bestand Arne Novák. Eisner schrieb damals an Otokar Fischer: „Von Arne Novák kam ein wahrlich herrlicher Brief zur Pandora. Das ist eben ein Mensch.“ LA PNP. Bestand Otokar Fischer. Nováks Dankeskarte vom 3. 9. 1930 wird aufbewahrt in: LA PNP. Bestand Pavel Eisner II. Im Text Goetheana stellte Eisner eine Liste der im Bezug auf Goethe kompetenten Leute zusammen. Hier führt er an: František X. Šalda, Arne Novák, František Götz, Otokar Fischer, Pavel Fraenkl, Albert Vyskočil, des Weiteren Karel Čapek, Jaroslav Durych, Vladislav Vančura, Vítězslav Nezval, Karel Toman sowie Tomáš Garrigue Masaryk, Arnošt Kraus und Vojtěch. Jirát. Siehe: Eisner, Pavel: Goetheana. In: Rozpravy Aventina, 6 (1930/31) H. 37, 434. 25 Šalda, František Xaver: Goethe. In: Šaldův zápisník, 4 (1931/32), 292. 26 Eisner, Goetheana, 434.



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Wortes, die „unsere Tage“ für die Zukunft segnet. Nicht umsonst schreibt Eisner gleich zu Beginn: „Den Saal füllt drangvoll tschechische und deutsche Jugend, die Zukunft von Land und Staat.“27

Anhang 1: Paul Eisner an Arthur Novák,28 22. 3. 1929. Papier mit dem Briefkopf Prager Presse, Maschinenschrift. Werter Meister, ich lege Ihnen die Pandora vor. Sie wurde im kritischen Feuer Šaldas, Fischers, Mágrs und Picks gestählt und überstand all diese Stürme hervorragend. Das wichtigste ist allerdings, dass sie Ihnen gefällt, denn nur dann kommen Sie auf den Geschmack, der für Ihre werte Arbeit notwendig ist. Zu den Formalitäten: Fr. Borový gab schriftlich bekannt, dass er keine Einwände dagegen habe, dass die Pandora in meinem Wortlaut, die bei ihm im Herbst 1929 herauskommt,29 schon davor bei Ihnen als bibliophiler Druck in einer Auflage von 100 Stück erscheint, und das ohne Ersatz für ihn; als einzige Bedingung will er bloß ein Gratisexemplar als Beleg. Der Pandora werde ich eine Einleitung beigeben, die ich so verdichten werde, dass sie im Vergleich zum Umfang des Werks nicht unverhältnismäßig lang wird. Sie werden mir sicher glauben, dass es mich sehr freuen würde, wenn Sie die Arbeit annähmen, und doppelt, wenn sie bald erschiene. Für Werbezwecke erscheinen Leseproben in den Rozpravy Aventina, im Akord und im Kmen.30 Ich freue mich sehr auf Ihr liebenswertes Urteil, und ich wünsche Ihnen wunderschöne Ostern. Ganz Ihr Eisner 27 Kraus, Karl: Goethe-Feier bei den Tschechen. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Bd. 3 (1925– 1933): Vor der Walpurgisnacht, 565–570. 28 Dieser wie auch die nachfolgenden Briefe werden im LA PNP, Bestand Arthur Novák, aufbewahrt. 29 Der Band Dramata (Dramen) erschien schließlich erst 1931; an der Übersetzung beteiligten sich Otokar Fischer, Paul Eisner, Jan Kamenář a Erich A. Saudek. 30 Úryvek z Pandory [Ausschnitt aus der Pandora]. In: Rozpravy Aventina, 5 (1929/30) H. 25, 295; Z Goethovy Pandory [Aus Goethes Pandora]. In: Akord, 2 (1929) H. 5, 141–144. Im Almanach Kmen (Der Stamm) wurde keine Leseprobe veröffentlicht.

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Anhang 2: Paul Eisner an Arthur Novák, undatiert. Vermutlich zwischen März und November 1929, Papier mit dem Briefkopf Prager Presse, Maschinenschrift. Werter Meister, seien Sie mir bitte nicht böse, aber Sie wissen nicht, wie wichtig die Pandora für einige meiner weiteren Arbeiten ist. Ich werde so schnell wie möglich auf Urlaub fahren. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Sie schön bitte, die Pandora in ihrer editierten Schönheit erscheinen zu lassen. Sie werden letzten Endes zu Recht sagen: schon wieder so ein Rindvieh, das nicht weiß, was ein Druck von Novák ist. Aber ich habe im Leben nichts gehabt, was mir so ans Herz gewachsen ist und was ich so ungeduldig herbeisehne. Ich bitte Sie also, erbarmen Sie sich. Ganz Ihr Eisner

Anhang 3: Paul Eisner an Arthur Novák, 21. 11. 1929. Papier mit dem Briefkopf Prager Presse, Maschinenschrift. Werter Meister, indem ich heute der Druckerei das Imprimatur für die Pandora erteilt habe, bleibt mir nichts weiter übrig, als Ihnen für das liebenswürdige und warme Interesse zu danken, mit dem Sie die Geburt der tschechischen Pandora begleitet haben. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass der Erfolg wenigstens einigermaßen Ihrem unschätzbaren Verdienst entsprechen wird. Sie waren so liebenswert, mich auf die Möglichkeit gedruckter Widmungen aufmerksam zu machen. Gewiss gewähren Sie F. X. Šalda und Arne Laurin und von den Kritikern Otokar Fischer und Arne Novák eine solche Vorzugsbehandlung. Was die Autorenexemplare betrifft, die Sie mir gewähren wollen, so bitte ich, dass vier mit gedruckten Widmungen versehen werden: 1) A. St. Mágr 2) Otto Pick 3) Dr. František Samek31 4) Franz Spina 31 Es handelt sich um František Samek (1871–1940), einen sozialdemokratischen Politiker und Journalisten.



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Was die Rezensionsexemplare betrifft, so sind wir übereingekommen, dass wir nur auf die Meinung einiger weniger Leute Wert legen. Aus meiner Sicht sind das die schon genannten Otokar Fischer und Arne Novák. Über die anderen geruhen Sie selbst zu entscheiden und dabei nur auf Ihren Nutzen zu achten – ich habe keine Ahnung, von welcher Bedeutung für Ihre verlegerischen Unternehmungen dieser oder jener Griesgram ist. Wenn für Sie z. B. die Rozpravy Aventina wichtig sind, kann ich dort für einen ausgiebigeren Aufsatz sorgen. Wenn das Ausland von Bedeutung ist, wäre das vor allem Willy Haas (Literarische Welt), der Tschechisch spricht und der, wenn Sie ihn mit einer gedruckten Widmung beehren würden, sicherlich Hymnen schreiben würde. Ich danke Ihnen noch einmal herzlich. Ganz Ihr Eisner

Anhang 4: Paul Eisner an Arthur Novák, undatiert. Chronologische Einordnung geschätzt, Papier mit dem Briefkopf Prager Presse, Maschinenschrift. Werter Meister, schelten Sie mich bitte nicht, aber ich habe keine Ruhe, wenn ich die Pandora nicht vor dem Druck noch einmal sehe. Ich sähe es nicht gern, wenn Ihnen diese wirklich große Arbeit auch nur ein einziger kleiner Fehler verunstalten würde. Ich selbst habe bei der letzten Korrektur, die in meinen Händen war, kein Imprimatur gegeben. Ich versichere Ihnen, dass es keine Autorenkorrekturen mehr geben wird. Für die Ankündigung usw. könnten Sie mit Gewinn die wahrheitsgemäße Anmerkung verwenden, dass unsere Pandora nicht nur die erste Übersetzung ins Tschechische ist, sondern dieses Werk bisher für überhaupt nicht übersetzbar gehalten wurde. Das behaupteten noch im Sommer 1929 ernstzunehmende Kenner Goethes wie z. B. Prof. Kippenberg32, der Eigentümer des Insel-Verlages. Viel Schönes für die Saison wünscht Ihr ergebener Eisner

32 Anton Kippenberg (1874–1950). Von 1905 bis 1950 leitete er den Insel Verlag, der Goethes Texte verlegte.

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Anhang 5: Paul Eisner an Arthur Novák, 7. 5. 1930. Papier mit dem Briefkopf Prager Presse, Maschinenschrift. Werter Meister, ich bin entzückt und danke, danke vielmals. In der Redaktion hieß es: die schönste Festgabe zum hundertjährigen Goethe-Jubiläum 1932. Das sage auch ich. Aber deswegen wird es nicht erst 1932 so weit sein? Nicht wahr? Ich scherze, ich weiß, dass das Buch früher erscheinen wird, und warte gern. Ganz Ihr Eisner

Anhang 6: Paul Eisner an Arthur Novák, 21. 5. 1930. Papier mit dem Briefkopf Prager Presse, Maschinenschrift. Werter Meister, ich habe Freitag früh eine Audienz beim Präsidenten der Republik und würde ihm gerne auch die Pandora zeigen. Wenn es schon ein Exemplar gäbe, wäre ich glücklich. Wenn sich so ein Exemplar bis Donnerstagabend anfertigen ließe, so würde ich die Kosten dieser Extraarbeit gerne tragen. Ihr von Herzen ergebener Eisner

Anhang 7: Paul Eisner an Arthur Novák, 30. 5. 1930. Papier mit dem Briefkopf Prager Presse, Maschinenschrift. Werter Meister, Die Pandora habe ich durch eigenes Verschulden erst gestern, am Feiertag erhalten. Schon lange hatte ich keinen solchen Feiertag mehr. Herrlich ist das, ein Inbegriff von Vollendung und Schönheit. Die Harmonie von Druck und Inhalt ist vollkommen. Es besteht kein Zweifel, dass es sich – was Bücher betrifft – um eine der glänzendsten Festgaben zu Goethes Hundertjahrfeier 1932 handelt. Ich kann



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mir gratulieren, dass ich mit einem solchen Druck in der tschechischen Literatur debütiere. Ich bin sehr froh, dass Sie meiner Bitte entsprochen und ein Exemplar für Willy Haas angefertigt haben. So ein Druck muss auch im Ausland gerühmt werden, und Haas wird sich darum kümmern. Wenn Sie wissen werden, was ein Exemplar kostet, teilen Sie mir das bitte mit, damit ich meine Bestellung tätige. Ich brauche Exemplare für den Herrn Präsidenten u. a. Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Der Autor kann Ihnen leider nicht danken: An seiner Stelle tut das der Übersetzer, und das in der wahrhaft vollen Überzeugung, er handle in procura. Ihr ganz ergebener Eisner

Michael Wögerbauer

Mediale Strategien der Vermittlung im Wandel. Eine quantitative Analyse von Paul Eisners Beiträgen in tschechoslowakischen Periodika (1918–1938)*

Die von Paul Eisners propagierte und popularisierte Idee der „deutsch-tschechischjüdischen Symbiose“ wurde schon oft und zu Recht kritisiert. Am gründlichsten hat sich wohl Hartmut Binder die historisch-soziologische Stichhaltigkeit von Eisners Prag-Bild in Zweifel gezogen.1 Im vorliegenden Band widmen sich einige Beiträge dieser Problematik und analysieren dabei vor allem die zeitgenössischen Ideen, die an die von Eisner vertretenen Ideen der „Symbiose“ und des „dreifachen Ghettos“ grenzen oder ihnen zugrunde liegen, und die Widersprüche, die diesen Ideen zu eigen sind.2 Der vorliegende Versuch hat dem nichts hinzuzufügen;3 er versucht in einem viel oberflächlicheren Sinn, gleichsam aus der Vogelperspektive, Eisners Denken als ideelle Triebfeder eines kulturellen Vermittlers der Zwischenkriegszeit ernst zu nehmen. Um diese Tätigkeit als alltägliche Praxis analysieren zu können, wird es im Folgenden um Paul Eisner als Publizist und Journalist gehen, der „sich in seinen Beiträgen für die Idee einer Symbiose von Tschechentum und Deutsch*

Diese Studie entstand im Rahmen des Forschungsvorhabens „Geschichte der tschechischen Literatur im übernationalen Kontext“ (MSM 6007665803) des tschechischen Ministeriums für Schulwesen, Jugend und Körpererziehung. 1 Binder, Hartmut: Paul Eisners dreifaches Ghetto. In: Reffet, Michel (Hg.): Le monde de Franz Werfel et la morale des nations/Die Welt Franz Werfels und die Moral der Völker. Bern u. a. 2000 (=Bohemia. Publikationen der Internationalen Franz Werfel-Gesellschaft, Bd. 1), 17–138. 2 Vgl. etwa die Beiträge von Georg Escher und Zdeněk Mareček in diesem Band. 3 Es ist aber doch auf die Wirkungsmacht von Eisners soziologisierendem Narrativ vom „dreifachen Ghetto“ des „Prager Deutschtums“ für die Kulturhistoriografie hinzuweisen. Es wurde auch von Autoren wie Barbara Köpplová übernommen, die in ihrer Dissertation die Kulturrubrik der Prager Presse vor diesem Hintergrund analysierte. Vgl. Köpplová, Barbara: Prager Presse. Založení listu a jeho kulturně politická úloha v letech 1921–1925 [Die Prager Presse. Die Gründung des Blattes und seine kulturpolitische Aufgabe 1921–1925]. Praha 1986, 164– 166. Köpplová begründet die besondere Bedeutung der Kulturrubrik der Prager Presse mit eben jenem Narrativ von der politischen, nationalen und sozialen Isolation, das Paul Eisner als einer der wichtigsten Kulturredakteure des Blattes verbreitet habe. Die Autorin übernimmt das Narrativ allerdings nicht direkt von Eisner, sondern vermittelt durch die Dissertation von Krolop, Kurt: Ludwig Winder (1889–1946). Sein Leben und sein erzählerisches Frühwerk. Ein Beitrag zur Geschichte der Prager deutschen Literatur. Halle–Wittenberg 1967, 33.

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tum einsetzt.“4 Die Fragestellung der vorliegenden Studie lautet demnach, wie sich Eisners Praktiken und Strategien der kulturellen Vermittlung in den Periodika der Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1938 wandelten.5 Eine Analyse dieser journalistischen Strategien setzt voraus, dass man Eisners Ideen und Texte nicht als Beiträge zur historischen Soziologie einer Koexistenz von Tschechen, Deutschen und Juden in Prag oder den böhmischen Ländern liest. Vielmehr ist zunächst Eisners Verhältnis zu den von ihm genutzten Medien interessant. Eine Ausgangsthese lautet, dass ein, wenn nicht sogar der Schwerpunkt in der Publizistik Paul Eisners die Sprache darstellt. Doch dieser Linguozentrismus beruht freilich nicht auf einer Entscheidung Eisners. Vielmehr hat sich die (Mutter-)Sprache spätestens seit dem 19. Jahrhundert als fester Kern nationaler Identitätskonstruktionen etabliert. Es soll jedoch gezeigt werden, dass Eisners Verhältnis sowohl zur Sprache als auch zu ihrer Rolle in Massenmedien ein durchaus skeptisches war.6 Vor diesem Hintergrund soll dann der Frage nachgegangen werden, inwieweit Eisner als Feuilletonist seine Ideen von kultureller Vermittlung verwirklichen konnte und mit welchen medialen Strategien er das tat. Die Untersuchung zielt letztlich auf den Wandel ab, dem diesen Strategien unterlagen. Den Hauptteil stellt deswegen eine quantitative Analyse von Eisners Beiträgen in tschechoslowakischen Periodika dar. Für diesen Zweck wurden Stichproben für die Jahre 1918–1922, 1925–1926, 1930–1931 und 1937–1940 vorgenommen.7 Die Beiträge wurden nach einer einschlägigen Kartothek des Instituts für tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften ausge-

4 So wird Eisners Tätigkeit in der Prager Presse charakterisiert bei Köpplová, Prager Presse, Anhang, 3. 5 Dadurch sollen jedoch nicht die anderen Medien aus dem Blick geraten, die Pavel/Paul Eisner ebenfalls benützt, um seine Vorstellungen von der „Überwindung des (dreifachen) Ghettos“ und der „deutsch-tschechisch-jüdischen Symbiose“ umzusetzen. Die übrigen Studien zu den „Medien der Vermittlung“ sind ihnen gewidmet. 6 Es ist nicht auszuschließen, ja sogar wahrscheinlich, dass hier die – vor allem im Beitrag von Michal Topor betonte – Inspiration von Karl Kraus eine Rolle spielt. Die Skepsis gegenüber der Sprache als Trägerin nationaler Identität ist auch bei anderen kulturellen Vermittlern in Prag zu finden. Darauf kann jedoch in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. 7 Die Grundlage für diesen Versuch einer quantitativen Untersuchung bildet eine Personalbibliografie von Zeitschriftenbeiträgen, die als Kartothek im Institut für tschechische Literatur der Tschechischen Akademie der Wissenschaften (Ústav pro českou literaturu AV ČR, im Folgenden ÚČL AV ČR) vorliegt. In ihr sind auch Eisners Beiträge in tschechoslowakischen Periodika (nicht in ausländischen!) erfasst; inwieweit diese tatsächlich vollständig verzeichnet sind, konnte nicht überprüft werden.



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wertet und nach Medium, Textsorten,8 Inhalt,9 Sprache beziehungsweise Sprachgebiet10 und behandelter Epoche11 gruppiert. Die quantitative Analyse einer großen Anzahl von Texten anhand einiger weniger Parameter und über den vergleichsweise langen Zeitraum von 1918 bis 1938 hat freilich den Verzicht auf eine inhaltliche Betrachtung der Texte zur Folge. Ihr Ziel ist es, eine Hypothese darüber aufzustellen, in welchem Maße sich Eisner der Printmedien und insbesondere des Schlüsselmediums Zeitung – und vor allem seines Stammblatts Prager Presse – bediente, um im Sinne seiner Ideen als kultureller Vermittler tätig zu sein. Wie änderten sich diese Strategien im Kontext der Zeit?

Die Sprache und ihre Medialisierung Sprachlich motivierte Konflikte gab es auch in der Zeit vor der Entstehung des modernen Nationalismus.12 Es sei nur ein wenig bekanntes Beispiel aus der Mitte des 18. Jahrhunderts erwähnt, das der Prager Ästhetikprofessor Josef Georg Meinert von seiner 1748 im deutschsprachigen Aussig an der Elbe (Ústí nad Labem) geborenen Mutter überliefert hat. Sie sei als junges Mädchen – also irgendwann um die Mitte der 1760er Jahre – auf ein Fest nach Litoměřice (Leitmeritz) gegangen und habe Folgendes erlebt: Ich war einst mit mehreren Mädchen von Aussig da, wir liefen die Gasse auf und nieder, überall versagte man uns in böhmischer Sprache und Unfreundlichkeit ein Nachtlager, endlich in der ‚Goldenen Sonne‘ erlaubte man uns, auf dem Ziegelboden des Vorhauses 8 Das Kriterium „Textsorte“ wird von den Angaben dieser Kartothek übernommen, wobei ich die tschechischen Ausdrücke, nach denen in der Kartothek die Textsorten unterschieden werden, aus pragmatischen Gründen teilweise zusammengefasst habe: Artikel (článek), Feuilleton (fejeton, causerie), Essay (esej), Glosse (glosa), Leitartikel (úvodník), eigene Dichtung (báseň), Rezension (recenze, referát), semantische Plauderei (sémantická causerie), Übersetzung (překlad). 9 Für die Kategorie „Inhalt“ wurden lediglich die Titel der Beiträge und die in der Kartothek angegebenen Kurzbeschreibungen der Texte ausgewertet. 10 Eisner thematisiert in seinen Beiträgen folgende Sprachen oder Sprachgebiete: Deutsch, Jiddisch, Italienisch, Englisch, Französisch, Russisch, Serbo-Kroatisch, allgemein Slawisch, Slowakisch, Tschechisch. 11 Es werden folgende „Epochen“ unterschieden: Mittelalter, Barock, der Zeitraum 1750–1850, der Zeitraum 1850–1918 und die Gegenwart des erwachsenen Paul Eisner (nach 1918). 12 Es ist hier nicht der Ort, auf die verschiedenen Nationalismustheorien und ihre Konzeption des Zusammenhangs von Sprache und Nation einzugehen. Miroslav Hroch verbindet die erste, „Phase A“ genannte (Vor-)Stufe der Entwicklung der nationalen Identität mit dem Interesse von Gelehrten an der Kultur und Geschichte einer ethnischen Gruppe. Vgl. Hroch, Miroslav: V národním zájmu [Im Interesse der Nation]. Praha 1999, 15.

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zu sitzen. Wie froh waren wir am anderen Tage, als wir den Pokmetizzer Berg hinaufwanderten. Nein, unter dem böhmischen Volke wollten wir nicht tot sein, sprachen wir zu einander, indessen kam’s anders.13

Hier handelt es sich keineswegs um den sprachlich-romantischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel zeigt jedoch, dass es schon im 18. Jahrhundert an der nordböhmischen Sprachgrenze einen Begriff von „Volk“ gab, für den einerseits die Umgangssprache konstitutiv war und dem andererseits stereotype Charaktereigenschaften wie etwa „Unfreundlichkeit“ zugeschrieben werden konnten. Das bedeutet noch nicht, dass diese Stereotype auch politisch aufgeladen und systematisiert waren. Das wurde erst unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Damit individuelle oder regionale Konflikte zur öffentlichen Frage werden können, muss es ein Publikum geben, das durch massenhaft verbreitete und zugängliche Foren („Medien“) konstituiert wird, in denen sich ständig eine „öffentliche Meinung“ bildet, formt, verändert beziehungsweise verhandelt wird.14 Erst die Rückwirkung dieser medial gemachten öffentlichen Meinung, deren früheste Formen in der Habsburger Monarchie etwa Ernst Wangermann anhand der „Broschürenflut“ unter Joseph II. analysiert hat, kann im politischen System entscheidungsrelevant werden.15 Die zuvor nicht oder nur in bestimmten (Konflikt-)Fällen reflektierte Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird erst dann politisch relevant, wenn Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen in der medialen Öffentlichkeit um (Entscheidungs-)Macht streiten.16 Für den nationalistischen Diskurs ist Sprache dabei ein doppelt paradigmatischer Wert. Das heißt, sie fungiert – zumindest in Mitteleuropa – als Leitdifferenz nationaler 13 Meinert, Josef Georg: Meine Mutter. Ein deutschböhmisches Frauenleben aus dem 18. Jahrhundert. Graz [o. J.], 5. Der Schluss des Zitats spielt darauf an, dass das Mädchen wenig später nach Leitmeritz heiratete und dort während des Baus der Festung Theresienstadt eine Gaststätte betrieb. Das Ehepaar Meinert lehrte seinen Sohn nicht Deutsch und Tschechisch, sondern Deutsch und Französisch. 14 Ich denke hier an die Entstehung einer kritischen und auch politischen – an der res publica interessierten – bürgerlichen Öffentlichkeit, wie sie Jürgen Habermas für Westeuropa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dargestellt hat. Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962. 15 Wangermann, Ernst: Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. Wien 2004. 16 Die politische Funktion medialer Repräsentationen alltäglicher interethnischer Konflikte und Vorurteile mit Folgen bis hin zu massenhaften Gewalttätigkeiten hat etwa Michal Frankl am Beispiel des tschechischen Antisemitismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt. Vgl. Frankl, Michal: „Emancipace od židů.“ Český antisemitismus na konci 19. století [„Emanzipation von den Juden.“ Der tschechische Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts]. Praha 2007.



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Zugehörigkeit und kommuniziert sich ständig selbst als solche. Sie ist Hauptkriterium und selbstverstärkendes Medium von Gruppenidentität.17 Es ist kaum denkbar, dass ein anderes diskursives Medium – Trachten, Architektur, Musik, Denkmäler und andere Symbole, ja nicht einmal biologistische Konzepte wie „Rasse“ – für sich allein und im selben Maße Medium und Kriterium von Gruppenidentitäten sein könnte. Auch die bekannten Denkmal- und Architekturkonflikte am Ende des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind – zumindest aus heutiger Sicht – ohne die Voraussetzung sprachlicher Gruppenidentität nur schwer vorstellbar. Paul Eisner versuchte in seinem Skeptizismus gegenüber der Sprache als verbindendem und trennendem Kriterium von Identitäten, diese Dominanz sprachlicher über nichtsprachliche Diskursmittel anzuzweifeln und letzteren teilweise sogar den Vorrang einzuräumen, indem er mit einem material-kulturellen Nationsbegriff arbeitet, aus dem sich eine gewisse territoriale Schließung ergibt. Trotz der für Eisner kennzeichnenden Vagheit und Unklarheit ist diese Territorialität aber nicht identisch mit dem gleichzeitig aktuellen lebensräumlichen Nationsbegriff, der von der Wirkung natürlicher – etwa geografischer und klimatischer – Einflüsse bei der Formung ähnlicher „nationaler“ Eigenschaften ausgeht.18

17 Eine Analyse dieser gegenseitigen Bedingtheit von Sprache und Nation und der Rückkopplung war zu Eisners Zeit Allgemeingut, hatte doch schon Wilhelm von Humboldt in der sogenannten Einleitung zum Kawi-Werk wie selbstverständlich festgestellt: „Jede Sprache empfängt eine bestimmte Eigenthümlichkeit durch die Nation und wirkt gleichförmig bestimmend auf diese zurück. […] Die Sprache aber besitzt auch die Kraft, zu entfremden und einzuverleiben, und teilt durch sich selbst den nationellen [sic] Charakter, auch bei verschiedener Abstammung, mit.“ Zit. nach Höhne, Steffen: Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache und Kommunikation bei der Konstitution nationaler Identität. In: brücken, N. F., 12 (2004), 117–133, hier 118. 18 In der von Steffen Höhne unter Berufung auf Jochen A. Bär verwendeten Unterscheidung verschiedener Nations-Diskurse ist der kulturelle Nationsbegriff wie folgt charakterisiert: „Aus den Vorstellungen eigenständiger und vor allem unterscheidbarer Kulturen entsteht ein kulturell determinierter Nationsbegriff, der kulturelle Artefakte zum Ausdruck und Eigentum des Kollektivs erklärt.“ Diese Kategorie (a) wird unterschieden vom „politischen Nationsbegriff der Aufklärung“ (b), dem „sprachlichen Nationsbegriff der Romantik“ (c), dem „lebensräumlich-charakterlichen Nationsbegriff “ (d) und dem „genetischen Nationsbegriff “ (e). Vgl. Höhne, Erfindung von Traditionen, 119.

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„Das Schicksal dieses Landes ist die Symbiose.“19 Paul Eisners Denken kulturellen Austauschs Um die problematische Vorrangstellung der Sprache bei der Identitätsbildung dreht sich Paul Eisners Konzept von der deutsch-tschechischen „Symbiose“. Doch wendet es sich gegen sie. Eisner stellt dem Leitkriterium Sprache die Idee eines relativ einheitlichen, wenngleich mehrsprachigen kulturellen Raums entgegen. Diese Idee ist freilich durchaus weder originell noch frei von Klischees und weist eine strukturelle Nähe zu den Konzepten Josef Nadlers auf. Im Süden des deutschen Sprachraums sei, so Eisner, der Einfluss Italiens beziehungsweise Frankreichs prägend, spiele der Katholizismus eine wichtige Rolle, im Osten die Nachbarschaft der Slawen. Deswegen seien die Deutschböhmen charakterlich den Tschechen näher als den Reichsdeutschen: Sie seien nicht „prussifiziert“, nicht pedantisch, hätten einen Sinn für die kleinen Freuden des Lebens, seien nicht mit jener dümmlich-ernsten Eile infiziert, die aus Berlin eine Maschine und aus dem Individuum ihre Schmiere gemacht habe. Als negative Eigenschaften der Deutschböhmen sieht er den Mangel an großen Konzepten, geringe Ausdauer, plötzliche Begeisterung, die schnell sich in Asche und Katzenjammer verwandle. Das ist – pointiert formuliert – die Grundlage von Eisners These von der „landestümlichen Symbiose“.20 Diese verortet er – bewusst jenseits der Sprache – vor allem in der Alltagskultur. So existiere die „Symbiose“ in Politik und Wirtschaft bereits, weil sie eigentlich unumgänglich sei. Eisner betont die den Tschechen und Deutschböhmen gemeinsame materielle Kultur: „Glauben Sie mir: die Konfession des Schweinsbratens, der Knödel und des Urquell hat weitgehendere Folgen als viele andere.“21 Eisner verbindet das mit einem Heimatgefühl, das sich auf die Landschaft bezieht, also die Bindung an die natürliche Lebensumgebung und stützt sich dabei auf 19 Vgl. die Überschrift von Kapitel 1 Úděl této země je symbiosa aus Eisner, Pavel: Milenky. Německý básník a česká žena [Geliebte. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau]. Praha 1930, 11. 20 Vgl. Faber [Paul Eisner]: Vokabeln. In: Prager Presse, 20. 1.  1938, Nr. 19, 7. 21 Eisner, Pavel: Kapitola o česko-německém soužití [Ein Kapitel über das tschechisch-deutsche Zusammenleben]. In: Přítomnost, 4 (1927) H. 19, 294–296, hier 294. Eine ähnliche Formulierung findet sich in dem Vortrag Eisner, Pavel: Závislost české a německé kultury. Přednáška proslovená v cyklu přednášek ‚Válka Čechů s Němci?‘ Masarykova lidovýchovného ústavu v Praze [Die Abhängigkeit der tschechischen und deutschen Kultur. Vortrag im Rahmen des Zyklus ‚Krieg der Tschechen gegen Deutsche?‘ des Masaryk-Volksbildungsinstituts in Prag]. Praha o. J. [wahrsch. 1929]. Dieser Privatdruck ist in der Nationalbibliothek der Tschechischen Republik unter der Signatur NKP (54E13331) verloren gegangen. Zitiert wird aus einer unpaginierten Ausgabe aus dem Nachlass des Buchforschers Jan Thon. Literární archiv Památníku národního písemnictví v Praze [Tschechisches Literaturarchiv, im Folgenden LA PNP]. Bestand Jan Thon, ungeordnet.



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einen eher volkskundlichen Kulturbegriff. Als Zeugen dienen ihm deutschsprachige Künstler aus den böhmischen Ländern: Adalbert Stifters Witiko, Rainer Maria Rilkes Dichtung, aber auch Gustav Mahlers Musik;22 in manchen Texten fügt er noch die bildende und angewandte Kunst und Volkskultur (etwa die Glaskultur, bemalte Fächer etc.) hinzu.23 Diese Kunst sei in ihrem Boden verwurzelt und bekenne sich zu ihm; in Norddeutschland, so Eisner, sei sie lange auf Unverständnis gestoßen, weil die sich darin ausdrückende „Seele“ einer Region, die Mentalität, nicht verständlich sei. Eisner knüpft in seinem Denken der „Symbiose“ offensichtlich an aus der Volkskunde stammende Ideologeme an, wie sie der Prager Germanist August Sauer, an dessen Lehrstuhl Eisner 1911 bis 1916 studierte, schon um 1906 mehrfach präsentierte,24 und wie sie dessen Schüler Josef Nadler in seiner monumentalen Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften anwendete und weiter entwickelte.25 Auf diese Weise relativiert er den Begriff der Sprachnation zugunsten des „naturgegeben Einflusses“ der heimatlichen Landschaft, der noch sichtlich von positivistischen Begriffen wie „Einfluss“ und „Milieu“ ausgeht und bei Eisner im neuromantischen Sinn ins Geisteswissenschaftliche abgewandelt wird. Die deutschböhmische Kultur ist ihm ein Objekt der Heimatkunde (vlastivěda); sie zu kennen, so schrieb Eisner in einem von ihm gestalteten Schullesebuch, müßte das ernstliche Streben eines jeden wirklich gebildeten Tschechen sein. Weit bedeutsamer noch als die Tatsache, daß viele von den deutschböhmischen Dichtern in der deutschen Kulturwelt hohes Ansehen genießen und der eine oder der andere zum Bestande der Weltliteratur gehört, spricht aus allen die gemeinsame Heimat; oft ergänzt ihre Aussage von der heimatlichen Scholle, den Menschen und der Seele des Landes geradezu gesetzmäßig und schicksalhaft die Aussagen und Gestaltungen tschechischer Dichter.26

Das sei nicht bloße Versöhnlichkeit, sondern unumgängliche Notwendigkeit. Der Verzicht auf die Kenntnis der zweiten Landeskultur wäre ein unverzeihlicher Fehler, und das in zweierlei Hinsicht: einerseits für die positive Zusammenarbeit, 22 Eisner, Závislost české a německé kultury. 23 Vgl. Eisner, Paul: Ein Fächer von Manes. In: Prager Presse, 13. 3.  1938, Nr. 71, 7. 24 Sauers Konzept hat zweifellos mit der Wiederentdeckung der historischen Eigenart der katholischen Länder innerhalb des deutschen Sprachraums zu tun, so etwa des Barock (bspw. durch Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr in Österreich, Josef Pekař und Arne Novák in den böhmischen Ländern). 25 Im Beitrag von Georg Escher in diesem Band werden diese Überschneidungen genauer analysiert. 26 Landsleute. Deutsche Prosa aus der Čechoslovakei von Adalbert Stifter bis Franz Werfel. Auswahl und Einleitung von Paul Eisner. Anmerkung und Wörterbuch von O. Lederer. Praha 1930, 4 (=Deutsche Lektüre. Sbírka německé četby pro školy a širší veřejnost [Sammlung deutscher Lektüre für Schulen und die breitere Öffentlichkeit], Bd. 6).

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andererseits für die Durchsetzung im politischen Wettbewerb zwischen den Nationalitäten. Gegen den Sprachnationalismus richtete sich auch Eisners Medienkritik. Die Presse kolportiere und interpretiere Ereignisse für ihre Sprachgemeinschaft, also häufig im Sinne des sprachlichen Nationalismus. Eisner nennt als Beispiel einen Fall von Raubmord, in dem die nationale Zugehörigkeit von Täter und Opfer offensichtlich ohne Bedeutung war, in der Berichterstattung aber eine tragende Rolle spielte.27 Es käme in den Zeitungen zu einer Rückkopplung nationaler Identitätsbildung. Kulturelle Vermittlung bedeutet für Eisner die Durchbrechung des geschlossenen Systems Sprachnation: Für die Deutschböhmen wäre das eine Art Verbindung zu ihrem Land als ganzem, denn die nach Eisner zur Universalität neigende deutsche Kultur könne sich so die slawische Kultur aneignen. Die slawische Kultur könne jedoch über die Vermittlung der Deutschböhmen ihren Weg nach Europa finden. Nicht zufällig schreibt er den deutschsprachigen Juden Prags eine wichtige Rolle als Vermittler zu – aus Eisners Sicht keineswegs ein Stereotyp, sondern Teil seiner Umwelt. Die nicht zu übersehende gegenseitige Ignoranz von Deutschböhmen und Tschechen habe verschiedene Gründe: Eine tragende Rolle spiele die schon erwähnte Publizistik, zu dem die Bequemlichkeit und nicht zuletzt die Unkenntnis der Sprache. Über seine Pressekritik verbindet Eisner die These von der „Symbiose“ und vom „dreifachen Ghetto“ der deutschsprachigen Prager Literatur. Die deutschsprachige Presse sei nach Eisner in Händen von Journalisten, von denen nicht wenige jüdischstämmig seien,28 denen durch den Antisemitismus „ihre Minderwertigkeit in nationalibus“ bewusst gemacht werde und die in der Folge „die schwersten Waffen beim Ringen um Zentralisierung, Germanisierung und den antislawischen Bemühungen“ lieferten: „Es entsteht der psychoanalytische, nationalistische Veitstanz der ihrer Herkunft nach zweifelhaften, in Wort und Gestus aber um so eifrigeren Germanen aus der Neuen Freien Presse und einigen anderen Redaktionen sowohl in als auch außerhalb Böhmens.“29 Darin erblickt Eisner den Grund dafür, dass sich diese jüdischen Intellektuellen mit deutscher Identität zum Teil als größere Chauvinisten gebärdeten als etwa die Deutschen in den Randgebieten der Tschechoslowakei. Dieses Missverständnis ortet Eisner bei Friedrich Adler,30 und er 27 Eisner, Závistlost české a německé kultury. 28 Ebd. 29 Eisner, Paul: Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR von 1848 bis 1933. Aus dem Tschechischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Michael Wögerbauer. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, 9 (2002/2003), 124– 199, hier 128. 30 Ebd., 129 und 155. Friedrich Adler (1857–1938), Schriftsteller und Rechtsanwalt, war gemeinsam mit dem ebenfalls radikal assimilatorischen Hugo Salus (1866–1929) in der Prager Dichtervereinigung Concordia tonangebend.



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zitiert Fritz Mauthner als Beispiel „des groben Chauvinismus, der gerade bei einem Juden höchst peinlich ist.“31 Eine vergleichbare „chinesische Mauer“ zwischen den Kulturen sieht Eisner auf tschechisch-jüdischer Seite, die er wohlweislich übergeht, da hier seine soziologisierende Vereinfachung nicht so einfach anwendbar wäre. Diese strikte und durch den „Übereifer jüdischer Assimilanten“ noch gesteigerte Trennung zwischen Deutschböhmen und Tschechen sei bisher nur in der Musik und dem Nachtleben überwunden worden – hier klingt Eisners These von der erotischen „Symbiose“ zwischen den beiden Sprachgemeinschaften an.32 Als negative Beispiele mangelnder Kooperation gelten ihm kulturelle Institutionen wie die Universitäten, Volksbildungswerke und Kulturvereine, zum Beispiel die Concordia.33 Eisners polemische Strategie ist das einseitige Herausstreichen des Negativen. Ähnlich argumentiert er auch, dass der Nationalismus der Prager Juden größer sei als jener der Sudetendeutschen in den Grenzgebieten.34 Eisner stützt sich auf die Zeitschrift Witiko, die der junge Josef Mühlberger 1928 bis 1931 mit dem Ziel der Vermittlung zwischen Deutschen und Tschechen in Eger herausgab – ein vereinzeltes positives Beispiel, dem freilich viele andere, von Eisner unerwähnte entgegenstehen, die eindeutig und bewusst im „Volkstumskampf “ engagiert waren. Für die Tschechen gäbe es einen national-metaphysischen und einen national-nationalistischen Grund, die „Symbiose“ zu unterstützen und zu beschleunigen: einerseits die Integration in die geistige Kultur Europas; andererseits die in Wirklichkeit erst zu leistende Schaffung der Tschechoslowakei, die Umsetzung des Begriffes „Heimat“ in den Köpfen der Menschen, die seit 1918 in diesem Land lebten. Die „Symbiose“ als Schicksal: Gelinge sie nicht, so werde die Tschechoslowakei scheitern.

Eisners Tätigkeit als Journalist: Versuch eines quantitativen Profils Die Tschechische Anthologie von 1917 stellte den jungen Paul Eisner als Übersetzer von Lyrik vor. In Zeit und Kontext gleich sind Eisners frühe Zeitungsartikel: Je ein Beitrag von 1917, 1918 und 1919 besteht aus Übersetzungen von Einleitungen 31 Eisner, Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR von 1848 bis 1933, 129. Der Sprachphilosoph und Schriftsteller Fritz Mauthner (1849–1923) wurde durch die nationalistischen Romane Der letzte Deutsche von Blatna (1887) und Die tschechische Handschrift (1897) unrühmlich bekannt. 32 Ausgeführt in Eisner, Milenky; ders.: Erotische Symbiose. In: Prager Presse, 23. 3. 1930, Nr. 82, 4. 33 Der deutsch-jüdische Kreis Concordia (gegründet 1871 in Prag) bildete das kulturelle und künstlerische Zentrum für deutschsprachige Schriftsteller und Künstler in Böhmen. 34 Es handelt sich natürlich um eine maßlose Übertreibung, die Eisner dazu dient, positive Beispiele wie Josef Mühlberger mit den „leitartikelnden semitischen Übergermanen“ zu kontrastieren. Eisner, Die deutsche Literatur, 156.

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beziehungsweise Begleitworten aus Anthologien ins Tschechische.35 Ende November 1920 stand fest, dass Eisner bei der Prager Presse arbeiten würde.36 Von April 1921 bis Jahresende verfasste er für die neue Zeitung 55 Beiträge. Weit mehr als die Hälfte davon (31) waren wiederum mehrheitlich Übersetzungen von Lyrik. Es dominieren die neuere bis neueste tschechische Dichtung ab Jaroslav Vrchlický (1853–1912) sowie vereinzelt Slowakisches und Russisches. Ganz anders die Prosa-Übersetzungen: Hier sind das „goldenen Zeitalter“ des Humanismus37 ganz im Sinne des Masarykschen Narrativs der tschechischen Geschichte bestimmend. Eisners Originaltexte ordnen sich nahtlos in dieses Profil ein. Es handelt sich fast ausschließlich um Rezensionen, Artikel und Glossen zu jenen Autoren, die er auch übersetzt. Seine Tätigkeit als Redakteur der Prager Presse ist 1921 im Großen und Ganzen eine Fortsetzung seiner tschechischen und slowakischen Anthologie in einem anderen, breitenwirksameren Medium. Eisners vermittelt Belletristik, indem er sie übersetzt und kommentiert. Doch das erste Jahr könnte eine Ausnahme darstellen; möglich, dass ältere Arbeiten zum Abdruck gelangten und nicht das aktuelle Schaffen. Zieht man jedoch auch das Jahr 1922 hinzu, verstärkt sich der bisherige Eindruck noch. 75 % aller Veröffentlichungen dieser ersten beiden Jahre waren Übersetzungen. Drei Viertel davon sind lyrische Texte und zwar fast ausschließlich tschechische und slowakische. Bis auf eine einzige Übersetzung aus Havlíček Borovskýs Tiroler Elegien (1852, Erstveröffentlichung 1861) war die ausgewählte Lyrik zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung nicht älter als 50 Jahre. Bei der Prosa dominiert der Humanismus bis auf zwei Beiträge zur deutsch-tschechischen Wechselseitigkeit.38 Bis 1922 kann man Paul Eisner als bewussten kulturellen Vermittler bezeichnen, der in Buchpublikationen und in der Prager Presse Übersetzungen und die oft dazu gehörigen literaturhistorischen Essays veröffentlicht. Dem deutschsprachigen 35 Der Kartothek des ÚČL zufolge wurde Eisners Nachwort zur Tschechischen Anthologie 1917 in den Národní listy (Nationalblätter, Nr. 55) auf Tschechisch abgedruckt; Werfels Vorrede zu Rudolf Fuchs Übersetzung von Petr Bezručs Schlesischen Liedern (Slezské písně, 2. Aufl. 1916) erschien in Eisners Übersetzung im Kmen (Der Stamm) 1917/18 (Nr. 31); Eisners Vorwort zur Slowakischen Anthologie (Leipzig 1920) wurde 1919 in den Národní listy publiziert. 36 Paul Eisner an Rudolf Pannwitz, 27. 11. 1920. In: Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002, 343. 37 Eisner übersetzte zu dieser Zeit tschechische Autoren aus der auch von T. G. Masaryk hervorgehobenen nichtkatholischen Tradition: Jan Hus (ca. 1369–1415), Petr Chelčický (ca. 1390 – ca. 1460), Kryštof Harant z Polžic a Bezdružic (1564–1621) und Jan Amos Komenský (1592–1670). 38 Der Kartothek des ÚČL zufolge handelte sich um eine Comenius-Übersetzung und eine Übersetzung der Schilderung von Karamsins Besuch bei Wieland und Herder, also zur slawisch-deutschen Wechselseitigkeit.



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Publikum vermittelte er die anerkannten Höhepunkte tschechischer (und slowakischer) Literatur: die neueste Lyrik und die Prosa des Humanismus. In der Stichprobe von 1926 präsentiert sich Eisners Konzept der kulturellen Vermittlung schon deutlich anders. Bei circa gleich vielen Publikationen (66) geht der Anteil der Übersetzungen im Kulturteil der Prager Presse auf weniger als ein Achtel zurück. Die neuere tschechische Lyrik bleibt, die humanistische Prosa hingegen fällt ganz weg. Worauf verlegt sich also der Schwerpunkt? Die Hälfte aller Beiträge sind Rezensionen, Literaturreferate und Literaturkritiken. Dabei spielen Lyrik und Lyrikanthologien weiterhin eine wichtige Rolle, doch auch Publikationen aus Literaturgeschichte, Poetologie (etwa Roman Jakobson) und erstmals neuere tschechische Prosa ( Jaroslav Hašek, Jakub Deml) werden in oft vergleichender Perspektive besprochen. Glossen, Artikel und andere Textsorten beschäftigen sich mit denselben Themen. Nur die Textsorte „Feuilleton“ im engeren Sinn ist weitgehend frei von der Beschäftigung mit Belletristik.39 Außerdem hat Eisner inzwischen auf Tschechisch zu publizieren begonnen. Quantitativ bleiben die zwei tschechischen Artikel in den Zeitschriften Kmen (Der Stamm)40 und Tribuna (Die Tribüne)41 für das journalistische Profil Paul Eisners 1926 vernachlässigbar. Ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nimmt Eisners journalistische Produktivität sehr rasch zu. Die zunächst relativ stabile Zahl seiner Beiträge (1921: 55, 1922: 41, 1926: 66) hat sich um 1930 mehr als verdreifacht (1930: 195, 1931: 181) und legt dann bis zum Zusammenbruch der Ersten Tschechoslowakischen Republik noch einmal um die Hälfte zu (1937: 303, 1938: 296). Der weitere Verlauf ist von den politischen Ereignissen verfremdet und bibliografisch noch zu wenig erschlossen, als dass er zu einem seriösen Vergleich herangezogen werden könnte. 1930 publizierte Eisner nur noch 85 Prozent (absolut 166) seiner Zeitungsartikel auf Deutsch. 1931 lag dieser Anteil sogar um zehn Prozent höher: 1930 und 1931 entfallen rund 90 Prozent der Veröffentlichungen auf deutschsprachige Medien. Die tschechischen Publikationen erschienen in der angesehenen Verlags39 Ich folge bei der Zuweisung der Textsorten der Einteilung jener Kolleginnen und Kollegen des ÚČL, die die retrospektive Datenbank aufgebaut und dabei die Originaltexte systematisch durchgesehen haben. Als „Feuilleton“ wurden für 1926 Texte bezeichnet, die Titel haben wie Moderner Tanz, Kettenbriefe, Acht Uhr morgens, Wimbledon oder Paris en passant. 40 Gemeint ist die literaturkritische Monatsschrift (1926–1929) des gleichnamigen Klubs moderner Verleger, die später von einem Jahrbuch abgelöst wurde. 41 Die von dem bekannten Publizisten Ferdinand Peroutka 1919 gegründete Tageszeitung (1919–1928) richtete sich vor allem an eine tschechisch-jüdische Öffentlichkeit. Ihre Beilage Moderní revue (Moderne Revue) erschien zunächst als ihre Beilage und wurde nach der Einstellung der Tageszeitung als eigenständige Zeitschrift weitergeführt. Vgl. Čapková, Kateřina: Mit Tribuna gegen das Prager Tagblatt. Der deutsch-tschechische Pressekampf um die jüdischen Leser in Prag. In: Schönborn, Sibylle: Grenzdiskurse. Zeitungen deutschsprachiger Minderheiten und ihr Feuilleton in Mitteleuropa bis 1939. Essen 2009, 127–139.

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zeitschrift Rozpravy Aventina (Die Besprechungen des Aventinum-Verlags; 1930: 8, 1931: 0)42 und vor allem in den Lidové noviny (Volkszeitung; 1930: 8, 1931: 8). Das ist interessant, gilt doch diese Zeitung ähnlich wie die Prager Presse als Organ der „Prager Burg“, also des Kreises um Tomáš Garrigue Masaryk. Entsprechend werden für Eisner die „Lidovky“ – das überrascht im Prinzip wenig – auch inhaltlich das tschechische Pendant zur Prager Presse. Er bemüht sich dort, vor allem die Prager oder böhmisch-mährische deutsche Literatur und die neuere deutsche Literatur in Übersetzungen und Rezensionen vorzustellen: Hier finden sich Rezensionen von Oskar Jellineks Das ganze Dorf und Josef Mühlbergers umstrittenem Roman Hus im Konzil sowie Übersetzungen von Gedichten Otto Picks und Hugo Salus’ ins Tschechische. In den Jahren 1937 und 1938 veröffentlicht Paul Eisner 87 Prozent seiner Beiträge auf Deutsch und ausschließlich in der Prager Presse. 1937 erscheint ein Sechstel aller Beiträge auf Tschechisch und das vor allem in den Lidové noviny (46/53). 1938 halbiert sich die Menge der tschechischen Beiträge, und die „Lidovky“ werden Eisners einzige tschechische Zeitung – daneben veröffentlichte er je einen Artikel im zionistisch orientierten Židovský kalendář ( Jüdischer Kalender) und im Kalendář česko-židovský (Tschechisch-jüdischer Kalender). Eisners Profil in den deutschen und tschechischen Medien ist nicht ganz gleich. 1937 und 1938 gehören knapp die Hälfte aller Beiträge Eisners (599) ins Fach der Rezension und Buchbesprechung (237). Die anfangs so bedeutenden Übersetzungen sind Ende der 1930er Jahre in der Prager Presse auf fünf Prozent (47) zurückgegangen. In den tschechischsprachigen Medien machen sie immer noch ein knappes Viertel aller Beiträge aus, wobei die neuere Literatur die Hauptrolle spielt: Camill Hoffmann und Otto Pick stehen neben Alfred Döblin; Rainer Maria Rilke neben Karl Kraus, Max Brod und Franz Kafka neben Lion Feuchtwanger. Gegen Jahresende 1937 beginnt die ältere Literatur mit ihren verbürgten Autoritäten eine wichtigere Rolle zu spielen: Neben einer Übersetzung aus Michelangelo stehen solche von Paul Fleming, Joseph von Eichendorff, Josef Dobrovský und Johann Wolfgang Goethe (in Beziehung zu dem 1937 verstorbenen T. G. Masaryk). Dieser Rückzug in die Literaturgeschichte vermittelt fast den Anschein, als würde Eisner auf die zunehmend dramatischen Ereignisse in der Weltpolitik reagieren, als wäre es zwischen Henlein und Hitler schwierig geworden, die neueste deutsche Literatur und besonders jene aus Prag zu propagieren. Auch das freie Feuilleton gewinnt mit 13 Prozent (40 Beiträgen) eine Bedeutung, die es bisher nicht hatte; stärker aber noch ist eine neue und originelle Variante, das Sprachfeuilleton (50 Beiträge, 17 Prozent). Eisner selbst nennt diese Rubrik in der Prager Presse „Vokabeln“. Es handelt sich um eine neue Art von monothema42 Es handelt sich um die Verlagszeitschrift des Prager Aventinum-Verlags, die auch Kritiken und Informationen zum kulturellen Leben enthielt. Dementsprechend der Untertitel List pro literaturu, umění a kritiku (Blatt für Literatur, Kunst und Kritik).



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tischem Feuilleton, das Paul Eisner im Februar 1936 zu veröffentlichen begann.43 Der erste Teil wurde 1938 sogar unter dem Titel Lebendes Tschechisch als Buch herausgegeben.44 In einem gewissen Sinn sind diese Sprachfeuilletons nicht das Eingeständnis eines Scheiterns, aber eine Relativierung: Hier steht die Sprache (auch) im Zentrum, doch als unumgängliches Medium der Vermittlung zwischen den Sprachgemeinschaften, die so viel an materieller Kultur gemeinsam haben.

Zusammenfassung Man mag mit Max Brod die Ansichten Paul Eisners über die Verhältnisse in Prag als „durchaus unfundiert und sachlich unrichtig, ja irreführend“45 ansehen oder auch die eingangs erwähnte systematische Kritik Hartmut Binders an Eisners Repräsentation von Prag teilen. Die Fragestellung der vorliegenden Studie zielte jedoch darauf ab, wie der Übersetzer, Dichter und Sprachessayist Eisner in seinem alltäglichen Medium Zeitung auf die Vorstellung von seiner Heimat reagiert: nämlich, dass ihr Schicksal die deutsch-tschechisch-jüdische „Symbiose“ sei. Eisner bemüht sich dabei um einen nicht-linguozentrischen, erweiterten Kulturbegriff. Damit kann er der regionalen Kulturgemeinschaft den Vorzug zu geben vor einer Sprachgemeinschaft, die in ihrer großflächigen Ausdehnung – im Fall der „Deutschen“ von den südlichen Alpen bis an die Nordsee – zwangsweise inhomogen erscheinen muss, wie sich das in August Sauers und Josef Nadlers Konzept der „deutschen Stämme und Landschaften“ widerspiegelt. Eisners feuilletonistisches Schaffen lässt sich somit als massenmediale Arbeit gegen die sprachlich-nationale Rückkopplung in Massenmedien, als Propagierung seiner Idee der „Symbiose“ lesen. Eisners journalistische Tätigkeit entwickelte sich in verschiedenen Phasen: Am Anfang standen schwerpunktmäßig Übersetzungen aus der tschechischen Prosa des Humanismus und der neueren und neuesten Lyrik. Eisner versah sie mit Kommentaren, Einleitungen und anderen begleitenden Texten und publizierte sie zum Großteil in der Prager Presse. In Bezug auf Eisners Bild könnte man von einem geradlinigen Import der „anderen“ Kultur in das deutschsprachige „Prager Ghetto“ und in das deutsche Ausland sprechen. Dieser Kulturtransfer entsprach auch im Allgemeinen dem Programm der Prager Presse, wie es Antonín Stanislav Mágr 1930

43 In der Prager Presse erschien Eisners erstes Feuilleton dieser Art am 26. Februar 1936. Zu dieser Textsorte vgl. Wögerbauer, Michael: Feuilletons am Ende einer Utopie. Paul Eisners Beiträge in der Prager Presse von 1938. In: Schönborn, Grenzdiskurse, 169–180, hier 173–176. 44 Eisner, Pavel: Lebendes Tschechisch. Prag 1938. 45 Brod, Max: Der Prager Kreis. Berlin u.  a. 1966, 37.

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formulierte.46 Die tatsächliche Reichweite der Prager Presse war für Eisners journalistische Praxis wohl eher zweitrangig. In einer zweiten Phase entwickelte sich der Übersetzer zu einem Kulturredakteur im umfassenderen Sinn: Er konzentrierte sich in der Prager Presse zunehmend auf die zeitgenössische Prager deutsch-jüdische, deutsch-böhmische und sudetendeutsche Literatur (und ihre Übersetzungen ins Tschechische), die sowohl im tschechischen als auch im gesamtdeutschen Kontext zu diesem Zeitpunkt größtenteils noch relativ unbekannt war – man denke an das Beispiel Franz Kafka. Die Vermittlung tschechischer Literatur in deutscher Sprache reduzierte sich dagegen auf relativ wenige Autoren, die – zum Beispiel František Ladislav Čelakovský und Božena Němcová – oft aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen. Manche haben aber auch – wie im Falle seiner Freunde F. X. Šalda und Otokar Fischer – mit Eisners persönlichen Präferenzen und Netzwerken zu tun. In der ganz anderen Situation der Jahre 1937 und 1938 kündigte sich in Eisners Schaffen bereits an, dass nicht nur die Vermittlung tschechischer Kultur und Sprache auf Deutsch an Bedeutung verliert; auch die neuere deutsch-böhmische und Prager deutsche Literatur vermittelte er immer weniger in den tschechischen Kulturkreis. Ins Zentrum rückten dagegen die Klassiker: Einerseits intensivierte sich die Vermittlung der „großen“ deutschen Literatur auf Tschechisch, andererseits setzte die intensive Beschäftigung mit dem tschechischen Klassiker Karel Hynek Mácha ein.47 Ende der 1930er Jahre wurden Eisners Utopie der „landestümlichen Symbiose“ schrittweise ihre politischen Voraussetzungen entzogen. Ende 1938 war das „Schicksal des Landes“ besiegelt. „Die Tschechen“, die Eisner den Deutschen 1928 als Kulturnation vorgestellt hatte,48 wurden ihm – mit Ausnahme des Themas Franz Kafka49 – nach 1938 das einzige Zielpublikum kultureller Vermittlung.

46 „Im Rahmen der Mission der ‚Prager Presse‘ hat die [Kultur-]Rubrik, soweit dies mit den Mitteln einer Tageszeitung möglich ist, die Aufgabe in erste Reihe das Ausland über das tschechoslowakische kulturelle Leben in seinem ganzen Ausmass zu informieren […].“ Zit. nach Köpplová, Prager Presse, 170. 47 Vgl. den Artikel von Marek Přibil. 48 Die 442 Seiten umfassende Anthologie Die Tschechen stellt sicherlich einen der Höhepunkte dieser Vermittlungsarbeit dar. Vgl. Eisner, Paul (Hg.): Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten. München 1928. 49 Vgl. hierzu den Artikel von Georg Escher.

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Die Grenzen der kulturellen Vermittlung. Eisners journalistische Auseinandersetzung mit dem Schulwesen in der Ersten Republik*

1936 begutachtete ein tschechischer Gymnasialprofessor ein für die deutschen Mittelschulen1 in der Tschechoslowakei bestimmtes Lesebuch negativ. In seinem Fazit erklärte er, dass er im ganzen Lehrbuch keinerlei Anzeichen für die in den neuen Lehrplänen geforderte staatsbürgerliche Erziehung gefunden hätte. Über den tschechoslowakischen Staat und über die Beziehung „unserer Deutschen“ zu „unserer Nation“ sei im Lesebuch nur wenig zu finden, und es mangle an deutschen Lesestücken mit einem tschechischem Schwerpunkt in geografischer oder kultureller Hinsicht. Um dies zu verändern und das Lehrbuch im späteren Approbationsprozess zu genehmigen, riet er den drei deutschen Autoren des beanstandeten Lesebuches ausdrücklich, den Schülern Texte und Übersetzungen von Paul Eisner, Rudolf Fuchs, Otto Pick und Georg Mannheimer anzubieten.2 Eisners Name erscheint hier in einer Reihe von Übersetzern, Herausgebern, Journalisten und Schriftstellern, die einen Austausch zwischen der deutschen und tschechischen Kultur anregten. Neben der Tatsache, dass die genannten „Kulturmittler“ keine eindeutige sprachlich-nationale Identität aufwiesen, verband sie außerdem der gemeinsame Wohn- beziehungsweise Wirkungsort Prag, ihre jüdische Herkunft sowie die Idee des böhmischen Landespatriotismus. Zugleich nahmen sie

*

Der Autor des Beitrags bedankt sich bei der Grantová agentura České republiky [Tschechische Forschungsgemeinschaft] für die Unterstützung des Projektes Střední školství v meziválečném Československu [Das Mittelschulwesen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, GA ČR 409/08/P249]. 1 Als Mittelschule bezeichnete man in Cisleithanien und in der Ersten Tschechoslowakischen Republik die allgemein bildenden höheren Schulen, die mit einer Maturaprüfung (Abitur) abgeschlossen wurden. Heute bezeichnet der Begriff ‚Mittelschule` (střední škola) in der Tschechischen Republik nicht nur diese Schulform, sondern er wird auch auf die berufsbildenden Fachschulen mit Abitur bezogen. 2 Národní archiv ČR [Nationalarchiv der Tschechischen Republik, im Folgenden NA]. Ministerstvo Školství [Schulministerium], 1918–1949, k. 1280, f. 10G2 – Nj. 1936–37. Tschechisches Gutachten zur Approbation des Lehrbuchs. Jelinek-Peschel-Streinz: Deutsches Lesebuch für die Mittelschulen. V. Band für die V. Klasse der Gymnasien, Realgymnasien, Reformrealgymnasien, 7. 1. 1936.

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nach 1918 eine äußerst loyale Haltung gegenüber der neuen Tschechoslowakischen Republik ein.3 Berücksichtigt man vor diesem Hintergrund die Empfehlung des tschechischen Gutachters an die deutschen Lehrbuchautoren aus dem Jahre 1936, wird der tschechisch-nationale Impetus der staatlich gelenkten Erziehung an den Schulen in der Tschechoslowakei deutlich. Auch in der Ersten Tschechoslowakischen Republik (ČSR) sollte die Schule, und im Folgenden wird vor allem vom Mittelschulwesen die Rede sein, die ihr schon im 19. Jahrhundert anvertraute Aufgabe erfüllen: Sie sollte das wohl wirkungsvollste Werkzeug des Nationalstaates bleiben und dafür sorgen, dass aus den Jugendlichen loyale Staatsbürger werden.4 In den Vielvölkerstaaten Mittel- und Osteuropas entdeckten die Protagonisten der jeweiligen nationalen Bewegungen das mögliche Mobilisierungspotential der Schule für die nationale Emanzipation, öfters gar in einer Opposition zur Intention des Reiches. Diese Situation, wo sich die Schule an der Schnittstelle zwischen dem Staat und der Nation befand, erbte auch die ČSR. Die fortschreitende Nationalisierung des Schulwesens in den böhmischen Ländern seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spiegelte sich selbstverständlich im Schulalltag wider. Die liberale österreichische Schulgesetzgebung ermöglichte einen Ausbau des nationalen Schulwesens. Seit 1882, als die Prager Universität in eine tschechische und in eine deutsche geteilt wurde, existierten in den böhmischen Ländern zwei sprachlich-nationale Bildungswege. Sie glichen einander in den allgemein postulierten Zielen, Bestimmungen und Problemen. Angesichts der fortschreitenden Industrialisierung der böhmischen Länder am Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich ein neuer Schultypus zunehmend durch: die Realschule beziehungsweise das Realgymnasium. Dieser Schultyp war pragmatisch orientiert und verdrängte allmählich das klassische humanistische Gymnasium mit seinen Unterrichtsfächern Latein und Altgriechisch. Anstelle der antiken und humanistischen Kultur wurde die jeweilige nationale Kultur mit dem an erster Stelle stehenden Muttersprachenunterricht zur Grundlage der Bildung. Das sogenannte Sprachenzwangsgesetz verhinderte, dass die jeweils andere Landessprache gelernt werden musste. Die so entstehende Konkurrenz vertiefte die Kluft zwischen Deutschen und Tschechen. Die Schule konnte deshalb kaum dazu verhelfen, beim deutsch-tschechischen Konflikt versöhnlich zu agieren. Die nationale Polarisierung bemächtigte sich mit vol-

3 Zur kulturellen Identität der böhmischen Juden vgl. Čapková, Kateřina: Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918–1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918–1938]. Praha 2005. 4 Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, 448.



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ler Wucht der Schule. Durch den Unterricht, der vor allem nationale Inhalte und Emotionen vermittelte, steigerte sich der Nationalisierungsprozess.5 Es ist daher interessant, welche Rolle der im Gutachten erwähnte Paul (Pavel) Eisner als Mittler zwischen der „tschechischen und deutschen Seele“ gerade in diesem, stark von nationalen Argumenten geprägten Bereich spielte. Wie nahm er die Schulfrage vor dem Hintergrund des latenten Nationalitätenkonflikts und der fortgeschrittenen „Versäulung“6 der beiden „nationalen Körper“ wahr? Wollte und konnte Eisner auch auf diesem Gebiet der schulischen Sozialisierung der heranwachsenden Jugend durch seine Mittlertätigkeit an der Überbrückung der Kluft zwischen Deutschen und Tschechen arbeiten? Es muss dem oben erwähnten tschechischen Begutachter der deutschen Lesebücher Recht gegeben werden. Nicht nur Eisners Texte, sondern Paul Eisner selbst war ohne weiteres prädestiniert dafür, eine aktive Rolle bei der Überbrückung der deutsch-tschechischen Animositäten im Schulwesen zu übernehmen. Nach dem Besuch der tschechischsprachigen Realschule in Prag studierte er von 1911 bis 1916 an der Prager deutschen Universität unter anderem Germanistik bei August Sauer und Slawistik bei Franz Spina. Eisner promovierte 1918 bei dem Philologen Reinhold Trautmann mit der Arbeit Lessing, Goethe und Schiller in den tschechischen Übersetzungen.7 Diese Fächer eröffneten ihm beste Chancen auf eine erfolgreiche Karriere im tschechoslowakischen Schulwesen der Zwischenkriegszeit. Seine Chancen stiegen zusätzlich, als im Schuljahr 1923/24 das seit 1867 gültige österreichische Sprachenzwangsgesetz aufgehoben wurde. In Folge dessen musste nun an jeder deutschen Mittelschule in der ČSR der Tschechischunterricht als Pflichtfach angeboten werden. Deutsche Schüler mussten in Gymnasien, Realgymnasien und Realschulen ab der Prima Tschechisch lernen. Fünf Jahre später wurde das Unterrichtsfach Tschechisch weiter aufgewertet und zum obligatorischen Bestandteil der Matura erhoben.8 Trotz des rasanten Anstiegs von Slawistik-Studenten an der Prager deutschen Universität, der sich auf diese Veränderungen zurückführen lässt, herrschte während der gesamten Ersten Republik ein Mangel an qualifizierten deutschen Tschechisch5 Vgl. beispielsweise Zahra, Tara: Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900–1948. Ithaca 2008. 6 Das Wort „Versäulung“ wurde zunächst als „Verzuiling“ für die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften in den Niederlanden angewendet, die sich in mehreren Lebensbereichen wie Monolithe gegenüberstanden. Für die nationale Problematik der böhmischen Länder verwendete sie in der Lehre der Freiburger Historiker Gottfried Schramm. 7 Vgl. den Beitrag von Václav Petrbok in diesem Band. 8 Meznik, Karl: Die neuen Verordnungen, besonders über das Tschechoslowakische. In: Mitteilungen aus dem höheren Schulwesen, 15. 3. 1928, 61–62. – Věstník Ministerstva školství a národní osvěty, 11 (1928) H. 63/64, Erlass Nr. 150.970/27–II.

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lehrern.9 Im Unterschied zu anderen Mittelschullehrern fanden sie nach ihrer Ausbildung schnell eine Stelle. Die Kenntnis der Staatssprache half ihnen außerdem, ihre berufliche Karriere, etwa bis zum Posten eines Schuldirektors, relativ rasch voranzutreiben.10 Große Nachfrage gab es allerdings nicht nur nach TschechischLehrern, sondern auch nach neuen Lehrbüchern und Lernbehelfen für Tschechisch als Fremdsprache. In diesem Bereich hätte Eisner, ein begnadeter Kenner der deutschen und tschechischen Literatur und ein vergleichend arbeitender Linguist, ausgezeichnete Möglichkeiten gehabt, seine sprachlichen Kompetenzen und Fähigkeiten, seine reichen Kenntnisse und Erfahrungen, seine didaktische Begabung und stilistischen Qualitäten für die kulturelle Vermittlung einzusetzen.11 Abgesehen von seinen bescheidenen – während des Studiums gesammelten – Erfahrungen als privater Hauslehrer12 und von seiner gelegentlichen Mitarbeit an einigen Heften der für den Deutschunterricht an tschechischen Schulen bestimmten Deutschen Lektüre,13 spielte Eisner im Schul- und Bildungssektor der ČSR keine wesentliche Rolle. Er beabsichtigte weder als Lehrer oder Lehrbuchautor noch als Ministerialbeamter, seine eigene Laufbahn mit dem Bereich des Schulwesens zu verbinden – eine Entscheidung, die wohl auch mit seinen gesundheitlichen Problemen zusammenhing.14 Die Tatsache, dass Eisner sich nicht in die pädagogische Tätigkeit stürzte, bedeutete jedoch keineswegs, dass er diesen für das deutsche-tschechische Verhältnis wichtigen Bereich absichtlich übersehen hätte. Ja, ich wage gar zu behaupten, dass ihm die Schule besonders nahe lag. Zu verdanken ist dies nicht nur seiner Bekannt9 Němec, Mirek: Von der Einsprachigkeit zum Bilingualismus? Das Mittelschulwesen und die Sprachenfrage in den böhmischen Ländern der Zwischenkriegszeit. In: Nekula, Marek/ Fleischmann, Ingrid/Greule, Albrecht (Hg.): Franz Kafka im sprachnationalen Kontext seiner Zeit. Sprache und nationale Identität in öffentlichen Institutionen der böhmischen Länder. Köln, Weimar, Wien 2007, 245–263, hier 251. 10 Vgl. Němec, Mirek: Erziehung zum Staatsbürger? Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918–1938. Essen 2009, 84–85. 11 Vgl. den Beitrag von Dagmar Žídková in diesem Band. 12 Vgl. Eisner, Pavel: Kapitola, v níž se rozpačitě obchází Krakonošova zahrada [Ein Kapitel, in dem man verlegen Rübezahls Garten umgeht]. In: Ders.: Rady Čechům, jak se hravě přiučiti češtině [Ratschläge für Tschechen, wie sie Tschechisch spielerisch dazulernen]. 2. Aufl. (Reprint der 1. Aufl. 1992), Praha 2002. Praha 1992, 33–39. 13 Eisner, Pavel: Prag in der deutschen Dichtung. Eine Anthologie. Text – Anmerkungen – Wörterbuch. Praha 1932 (= Deutsche Lektüre, Bd. 19). Eisner beteiligte sich als Mitarbeiter auch an weiteren Bänden dieser Reihe Vgl. Eisner, Pavel: Landsleute. Deutsche Prosa aus der Čechoslovakei von Adalbert Stifter bis Franz Werfel. Praha 1930 (= Deutsche Lektüre, Bd. 6). – Lehrbuchcharakter hat außerdem sein Werk Lebendes Tschechisch, das 1938 in Prag erschien. 14 Eisner litt unter Schwerhörigkeit. Vgl. hierzu den Beitrag von Václav Petrbok in diesem Band.



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schaft mit der jungen tschechischen Gymnasialprofessorin Marie Zaplatílková, die Eisner in einem Brief an Otokar Fischer als „Žižkover Artemis mit urtschechischem Blut in den Adern“ bezeichnete.15 Seine zahlreichen Kommentare, Feuilletons, Glossen, Kolumnen und Rezensionen – ich konnte etwa 50 ermitteln und es gibt wohl noch mehr16 – die er in beiden Sprachen zwischen 1924 und 1938 verfasste, beweisen sein über das Private hinausgehende Interesse an der Schulproblematik. Die meisten seiner Beiträge schrieb er für die regierungstreue deutschsprachige Tageszeitung Prager Presse, deren externer Redakteur er war. Einige Artikel erschienen ebenfalls in tschechischsprachigen Periodika, wie den Lidové noviny (Volkszeitung) und der Zeitschrift Čin (Die Tat). Mit Ausnahme der Besprechung eines Romans, den Eisner als Zustandsdokument der repressiven magyarischen Schulpolitik vor 1918 interpretierte,17 nehmen alle seine einschlägigen Artikel Bezug auf Probleme des deutschen und tschechischen Schulwesens in den böhmischen Ländern. Seine Aufmerksamkeit richtete Eisner dabei vor allem auf die tschechischen Mittelschulen. Auf das deutsche Schulwesen im Land beziehen sich explizit nur drei der ausgewerteten Texte. Darüber hinaus scheinen auch die Zeitungen, in denen Eisner seine Artikel veröffentlichte, das Urteil Christoph Stölzls zu bestätigen, dem zufolge Eisner „ja nicht irgendein leidlich objektiver Soziologe, sondern Anhänger der tschecho-jüdischen Idee und Publizist im Dienste der neuen Tschechoslowakei nach 1918“ gewesen sei.18 War also das überdurchschnittliche Interesse Eisners am tschechischen Schulwesen ein Ausdruck seiner voranschreitenden Assimilation an die tschechische Umgebung,19 und/oder Ausdruck seiner Loyalität zur Tschechoslowakei oder gar ein Hinweis auf einen möglichen staatlichen Auftrag? Inwiefern können wir dann für den Schulbereich über Eisner als Kulturmittler sprechen? Die Eisner von Stölzl unterstellte Begünstigung der tschechischen Seite verliert gleich bei der ersten Begegnung mit Eisners Artikeln an Überzeugungskraft. So setzte sich Eisner 1924 kritisch mit der im tschechisch-nationalen Lager häufig 15 Brief an Otokar Fischer, 12. 7. 1935. Zitiert nach Mourková, Jarmila: Von Paul Eisner zu Pavel Eisner. Einige von der Korrespondenz Pavel Eisners mit Otokar Fischer inspirierte Gedanken. In: brücken, A. F., 5 (1988/89), 11–24, hier 23. 16 An dieser Stelle möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ústav pro českou literaturu AV v Praze (Institut für tschechische Literatur an der Akademie der Wissenschaften in Prag) bedanken. Ein besonderer Dank gilt Věra Buriánková und Daniel Řehák für ihr Entgegenkommen und ihre Hilfeleistung. 17 Es handelte sich hier um den Roman Maroško študuje des slowakischen Schriftstellers Martin Rázus. Siehe E., P.: Maroško studiem [Maroško studiert]. In: Prager Presse, 10. 8. 1934, Nr. 216 (Morgenausgabe), 5. 18 Stölzl, Christoph: Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden. Frankfurt am Main 1989, 10. 19 Vgl. Mourková, Von Paul Eisner zu Pavel Eisner.

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vertretenen Meinung auseinander, an tschechischen Mittelschulen sei der Deutschunterricht als obligatorisches Fach nicht von nöten. Angesichts der geopolitischen Veränderungen nach der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg wurde etwa darauf hingewiesen, dass die deutsche Sprache eine halbtote Sprache ist, die zwar in reindeutschen Gegenden leben, in Mitteleuropa vegetieren, aber in der Fremde einfach unmöglich, verboten und verachtet sein wird. Die Hirne tschechischer Kinder mit ihr zu belasten, ist ebenso überflüssig […] wie lächerlich und beschämend!20

Solche Meinungen bekämpfte Eisner in seinem Artikel und setzte der nationalistischen Argumentation die reale staatliche Perspektive entgegen: Ich meine vielmehr die Tatsache, daß in diesem Staate Millionen Deutsche leben; daß zu diesen Deutschen, die es immer bleiben werden, ein kulturpolitisches Verhältnis gefunden werden muß; daß, dieses Verhältnis nicht gefunden werden kann, wenn die tschechische Jugend wahlweise in elenden Sprachkursen das Deutsche radebrechen lernt; daß eine durchaus nicht ausschließliche aber ständige Befassung mit der Welt des Deutschtums notwendig sein wird, um diesen Staat, von dem erst das äußere Mauerwerk aufgerichtet ist, zu dem zu machen, was er sein soll. So paradox es klingen mag: gerade die Erlangung der staatlichen Selbständigkeit hat dem tschechischen Volke die Möglichkeit einer Ignorierung deutschen Wesens und deutscher Kultur benommen, mögen die Werturteile und die Sympathien noch so negativ sein.21

Nur das Erlernen der jeweils anderen Sprache stellte für Eisner das Fundament eines friedlichen Zusammenlebens der Deutschen und Tschechen im Staat dar, und war daher für die Existenz des Staates äußerst bedeutend. Einige Jahre später sah das auch die tschechoslowakische Regierung ein. 1926 verabschiedete sie ein Gesetz, demzufolge der Deutschunterricht zum Pflichtfach an tschechischen Mittelschulen erhoben wurde.22 Einen weiteren kritischen Blick auf die tschechischen Mittelschulen warf Eisner 1927, als er sich zur Frage der obligatorischen Schullektüre an den tschechischen Mittelschulen äußerte. Im Vordergrund seiner Kritik stand das nationale Moment, das für die Wahl mancher tschechischen Autoren ausschlaggebend gewesen sei. 20 Weiskopf, Franz Carl: Das Slawenlied. Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei. Weimar 1951, 251. Hier handelt es sich zwar um einen literarischen und politisch nicht unparteiischen Roman, aber der kommunistisch gesinnte Weiskopf bemerkt in einer Fußnote am Ende des Buches, dass er „die Proklamationen, Artikel und Bekanntmachungen […] nach den Originalen bzw. deren Übersetzungen zitiert“. Ebd., 286. 21 P. E. [Eisner, Paul]: In babylonischer Gefangenschaft. In: Prager Presse, 14. 11. 1924, Nr. 314 (Abendausgabe), 4. 22 Vgl. Němec, Erziehung zum Staatsbürger?, 101.



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Eine ähnliche Meinung über die tschechische Schullektüre hatte bereits schon früher Franz Kafka vertreten, der feststellte, dass diese eher einem nationalpolitischen Programm als einem literarischen Anspruch folge.23 Eisner schlug daher eine Revision vor. An die Stelle der zwar von Eisner nicht genannten, aber wohl gemeinten Schriftsteller um den Almanach Ruch (Bewegung) sollten nun Tereza Nováková und Jan Herben das Genre des historischen Romans repräsentieren. Ihre Werke sind im Vergleich zur traditionellerweise bevorzugten Ruch-Gruppe frei vom Pathos der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und schienen daher für die Schüler an tschechischen Schulen der Ersten Republik geeigneter zu sein. Weiterhin plädierte Eisner für tschechische Autoren, wie beispielsweise Karel Havlíček, Karel Čapek und Tomáš G. Masaryk, die die tschechische Kultur auf der internationalen Bühne würdig repräsentierten. Diesem Kriterium sollte auch die Auswahl der Poesie entsprechen. Eisner vermisste in der Auswahl Jaroslav Vrchlický, Antonín Sova und insbesondere Josef Svatopluk Machar – „sowohl wegen der unendlichen Bereicherung für das Weltbild, die sein gewaltiger Zyklus ‚das Gewissen der Zeiten‘ gibt, als auch wegen der festen Männlichkeit seines Gesamtwerkes“. Sein Fazit ist bezeichnend: „Wenn man der Jugend heimatliche Autoren sechsten Ranges aufdrängt, ist es klar, daß für die Weltliteratur wenig übrig bleibt.“ Eisner empfahl außerdem Strindberg, Ibsen und Tolstoj anstelle der bis dato bevorzugten antiken Dramatiker Euripides und Aischylos. Interessant ist sein doppelsinniger Hinweis auf die ungenügende Repräsentation deutschsprachiger Autoren im Lesebuch: „Der ‚Volksfeind‘, ein Werk, das von den Pädagogen erfunden werden müßte, wäre es nicht vorhanden, läßt sich auch nicht blicken.“24 Die eindeutige Tendenz Eisners ist in beiden Artikeln festzumachen: eine radikale Abkehr von einer nationalgefärbten Literatur hin zu einer Literatur, die die Jugend im Sinne der sittlichen Erziehung zur Menschlichkeit anweist und ihnen den Blick von der nationalen Beschränktheit in die weite Welt und auf den unmittelbaren Nachbarn eröffnet. Hier ist ebenfalls ein taktvoller Wink enthalten, der in die Richtung des deutschen Lagers in der Republik wies. In der Einleitung zu seinem Artikel In babylonischer Gefangenschaft hob Eisner zwar hervor, dass die deutsche Politik nach 1918 in der Sprachenaneignung einlenkte und den Tschechischunterricht als Pflichtfach zur „nationalen Forderung“ erhob. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass sie von ihrer Arroganz und Überheblichkeit nicht losgelassen habe.25 Eisner kritisierte nicht nur, sondern konnte in vielen seinen Beiträgen auch loben. Seine Anerkennung zollte er mehrmals der ab 1929 im Státní nakladatelství 23 Nekula, Marek: „… v jednom poschodí vnitřní babylonské věže…“ Jazyky Franze Kafky [„…in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes…“. Franz Kafkas Sprachen]. Praha 2003 [dt. Ausgabe Tübingen 2003], 219 u. 321. 24 P. E.: Schullektüre. In: Prager Presse, 7. 4. 1927, Nr. 96 (Morgenausgabe), 6. 25 Eisner, In babylonischer Gefangenschaft.

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(Staatsverlag) erscheinenden Reihe Deutsche Lektüre. Sbírka německé četby pro školy a širší veřejnost (Eine Anthologie deutscher Lektüre für Schulen und die breite Öffentlichkeit), die für den Deutschunterricht an tschechischen Mittelschulen bestimmt war. Sie wurde von Hugo Siebenschein, Otokar Fischer, Josef Janko, Vojtěch Jirát, Arnošt Kraus, Jan Krejčí, Richard Messer, Arne Novák und Otto Pick herausgegeben.26 In seiner ersten positiven Kritik der Anthologie vom Oktober 1929 schrieb Eisner: Das neue Unternehmen ist ein weiterer Ausdruck der Erkenntnis von der unbedingten Notwendigkeit dem tschechischen Kulturkreis deutsche Kulturwerte zu erschließen; in diesem Sinne darf es als ein Dokument des zusehends erstarkenden Willens zur geistigen Symbiose der Völker in der Republik gelten. Damit ist schon gesagt, daß Sympathien für das neue Unternehmen Pflichtsache für alle sind, die über das Heute hinauszusehen vermögen.27

1930 und 1931 besprach Eisner ebenfalls die Neuerscheinungen der Reihe Deutsche Lektüre und urteilte: Ihre Daseinsberechtigung und Notwendigkeit schöpft sie vor allem aus der Tatsache, daß Studium und Kenntnis der deutschen Sprache heute wieder dem tschechischen völkischen Kulturprogramm durchaus einverleibt sind, zumindest aber niemand sich finden wird, der ihre politische und praktische Bedeutung leugnen wollte.28

Die letzte und ausführlichste Besprechung der Reihe erschien im Herbst 1937, also in einer in Mitteleuropa schon angespannten politischen Atmosphäre. Dies spiegelte sich auch im Inhalt wider, und man könnte Eisners Rezension sogar als einen Mahnruf verstehen. Nach dem Lob der Bände in methodischer, fachlicher und nicht zuletzt inhaltlicher Hinsicht, merkte Eisner an: [D]er gleiche Verlag hat unseren [in der Tschechoslowakei tätigen, M. N.] deutschen Slawisten eine analoge Reihe von Textausgaben für den Tschechisch-Unterricht an unseren deutschen Mittelschulen angeboten. Das Angebot wurde mit der Erklärung abgelehnt, ‚man‘ wolle ein ähnliches Unternehmen auf selbständiger Basis ins Leben rufen. Bei einigen von unseren deutschen Slawisten hat es eben schon damals ge-henleinelt. […] Nichts ist passiert […] vor vielen Jahren mit Recht verkrachten ‚Reihe‘ schlecht gemach26 Später kamen noch andere Germanisten hinzu, unter ihnen auch Paul Eisner. Vgl. Deutsche Lyrik aus der Tschechoslowakei. Auswahl und Einleitung von Otto Pick. Anmerkungen und Wörterbuch von O. Lederer. Praha 1931 (= Deutsche Lektüre, Bd. 16). – Während Eisner in diesem Band nur als Mitarbeiter erwähnt wird, gab Eisner den Band 19 der Reihe selbst heraus. Vgl. Eisner, Prag in der deutschen Dichtung. 27 P. E.: Deutsche Lektüre. Eine Bücherreihe des Prager Staatsverlages. In: Prager Presse, 18. 10. 1929, 6. 28 P. E.: Deutsche Lektüre. In: Prager Presse, 2. 1. 1930, 6.



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ten Bändchen steht unser Tschechisch-Unterricht an den deutschen Anstalten in diesem Betracht blank da.29

Nach dieser enttäuschten Feststellung stellte sich Eisner schließlich folgende Frage: Wie kommen aber unsere Schüler, wie kommen die sachtüchtigen und aktivistisch gesinnten unter unseren deutschen Mittelschul-Slawisten dazu, die ‚Haltung‘ von Menschen zu büßen, die willige Hilfe von sich weisen, selber aber in soviel Jahren nicht das mindeste zur Sache tun?30

Das Fragezeichen, mit dem Eisners Glosse vom 11. November 1937 endet, symbolisiert das Scheitern seiner Konzeption, die das tschechisch-deutsche Zusammenleben im Staat anregen sollte. Diese Konzeption beruhte auf dem guten Beispiel, das die tschechische Seite der deutschen liefern und das von der deutschen übernommen werden sollte. Welche Konzeption Eisner vertrat, verdeutlichte er – vielleicht unbewusst und ungewollt – im Jahre 1935 in einem in der tschechischen Zeitung Lidové noviny veröffentlichten Artikel Studenti (Studenten). Hier lobte er einen von der Rede- und Lesehalle der deutschen Studenten und dem Spolek posluchačů filosofie Karlovy University (Verein der Studenten an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität) veranstalteten deutsch-tschechischen Abend, wo über die Kunst der Übersetzung und Rezitation diskutiert wurde.31 Dabei machte er darauf aufmerksam, dass die tschechischen Vorträge und Diskussionsbeiträge von Akademikern stammten, die deutschen Beiträge dagegen nicht. Die anwesenden deutschen Professoren hätten an dem Diskussionsabend nur passiv teilgenommen. Den auffälligsten Unterschied kommentierte Eisner folgendermaßen: Es ist von altersher das Recht und die Sache der Mehrheit, dass sie sich als erste des Wortes und der Tat annimmt. Das, bitte, solltet auch ihr, tschechische Nichtakademiker, begreifen: die Mehrheit führt, als erste rein in die Tür und wieder raus, ‚à vous messieurs et mesdames‘.32

Überträgt man dieses Bonmot auf die Aktivitäten Eisners, wird seine Beachtung besonders der tschechischen Schule plausibler. Anhand des tschechischen Schul29 P. E.: Chamissos ‚Peter Schlemihls wundersame Geschichte‘. In: Prager Presse, 11. 11. 1937, 8. 30 Ebd. 31 Vgl. Čermák, Josef: Das Kultur- und Vereinsleben der Prager Studenten. Die Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag. In: brücken, N. F., 9/10 (2001/2002), 107–189, hier 169. 32 Ort, Jan [Eisner, Pavel]: Studenti [Studenten]. In: Lidové noviny, 10. 4. 1935, 7. (Übersetzung, M. N.) Im Original heißt es: „Je odevdávna právem většiny, aby se první ujímala slova i činu. To, prosím, pochopte již jednou také vy neakademici: většina vede, první do dveří, první z nich ven, ,á vous messieurs et mesdames‘.“

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wesens zeigte Eisner allgemein gültige und akzeptable Grundsätze und Lösungen von Problemen im Hinblick auf das Zusammenleben mehrerer Nationalitäten in einem Staat auf. Man hätte sie auch im Bereich des deutschen Schulwesens in der Republik applizieren können. In den ersten Jahren der Ersten Republik hatte Eisner noch den tschechischen nationalen Standpunkt kritisiert, doch seit Ende der 1920er Jahre verkehrte sich seine Kritik in ein Lob der tschechoslowakischen Schulpolitik. Das entspricht auch dem Wandel der tschechischen Schulpolitik, deren nationaler Egoismus ab 1928/29 deutlich abnahm. Dies war vor allem dem neuen Schulminister Ivan Dérer (1929–1934) zu verdanken, dessen Behörde nun auf die multiethnische Realität in der ČSR zu reagieren begann.33 Die Lehrbücher sollten durch ihren Inhalt die nationale und religiöse Verträglichkeit unterstützen, den Geist des Friedens pflegen und durch Weckung der Achtung vor den internationalen Verträgen und vor der Solidarität aller Nationen auf kulturellem Gebiet die Schüler zu wahrer Menschlichkeit erziehen.34

Auch in den neuen, seit 1933 gültigen Lehrplänen für die tschechoslowakischen Mittelschulen wurde die Erziehung zur Humanität als das Fundament der schulischen Sozialisation definiert.35 Konnte dieser theoretische Ansatz aber im Schulalltag umgesetzt werden und das tschechische Beispiel bei den Deutschen in der ČSR Schule machen? Der Aspekt der Humanität lässt sich auch in Eisners weiteren Aufsätzen zur Schulproblematik eindeutig nachweisen. Er hob ihn immer wieder als das höchste Ziel des Mittelschulwesens hervor. Höchstes Lob spendete er daher der sechsten Auflage des Čechischen Lesebuches für die Oberklassen deutscher Mittelschulen, das von Oskar Donath und Karl Federmann 1930 herausgegeben wurde. Seine Besprechung beendete er mit den Worten: „Das Buch kann nicht besser sein.“ Eisner argumentierte vor allem mit der Auswahl der Autoren und der Textproben, wobei er besonders Machars Geleitworte auf den Lebensweg hochschätzte:

33 Ich beobachtete diese Tendenz im deutschen Schulwesen der ČSR: Němec, Erziehung zum Staatsbürger?, 89–127, hier vor allem 113. – Zu einem ähnlichen Ergebnis für das slowakische Schulwesen kommt: Kázmerová, Lubica: Spolok profesorov Slovákov v rokoch 1921–1941 [Der Verein slowakischer Lehrer 1921–1941]. In: Historický časopis, 3 (2008), 461–476, hier 468. 34 Katschinka, Otto: Sammlung der Gesetze und Verordnungen betreffend das Schulwesen und Rechtsverhältnisse der Lehrer in der tschechoslowakischen Republik. Bd. VIII, Gablonz an der Neiße 1929, 400–401. (Hervorhebung M. N.) 35 Vgl. Entwurf der neuen Lehrpläne für die Mittelschulen in der Tschechoslowakei. Praha 1933.



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Dies eine merk dir vor allem, bitte: Wo da ein Mensch war, ein jeder hat dir versichert und du wirst es so noch oft hören, daß du Pflichten hast gegen Nation, Vaterland, Gesellschaft – glaub es nicht, es ist nicht wahr. Die erste und die Hauptpflicht hast du gegen dich selbst!36

Einen weiteren Artikel widmete Eisner 1933 dem Dichter Otokar Březina, den er als einen begnadeten Erzieher charakterisierte. Er habe schon 1902 durch seine frühen Dichtungen eine humanistische Erziehung stiften wollen. Eisner zitierte Březinas Vorstellung, die er sich zueigen machte: Von einem für die Jugend bestimmten Gedicht fordern wir eine klare, endgültige Linienführung, eine gewaltige musikalische Suggestion. Diese Eigenschaften finden wir nur in den Werken der Meister. […] Darum hinaus aus den Schulbüchern mit dem Lilettanten [sic!]. Wir wollen, dass der Jugendpoesie Sonnenlicht entströme, der starke Wind von Energie und Willen. Nichts Rührseliges, in unbestimmter Trauer Ergossenes; fort mit den Bildern des Zerfalls und des Todes! Es mögen die Verse singen wie brandendes Blut im Rhythmus von Freude und Gesundheit! Sie mögen in der jungen Seele wachhalten das Staunen angesichts der Schönheit und Rätselhaftigkeit der Dinge! Und zuhöchst die Bewunderung für die Werke, die entstanden sind durch die Kraft der Liebe, durch Selbstverleugnung. Tapferkeit und brüderliches Zusammenwirken der Völker! […] Aber was wir von einem Gedicht für die Jugend vor allem fordern, ist Innigkeit und Wahrheit; daß es geschaffen sei in einem heiligen Augenblick der Gnade. […] Und das es nicht bloß für die Jugend geschaffen sei, sondern für die ganze Menschheit.37

1937 behandelte Eisner schließlich noch einmal die von ihm bevorzugten Dichter Vrchlický und Machar, die das Humanitätsideal der „bei uns so wenig bekannte[n] und noch weniger erlebte[n] Antike“ in ihrer Dichtung wieder erweckten. Machars in Versen ausgedrücktes Gesetz „[…] sich selber treu sein und vor dem Gewissen // sich seines eigenen Tuns nicht schämen müssen“ stellte Eisner zufolge eine verpflichtende Lebensdevise für die Jugend dar.38 Die geforderte Abkehr von der „scheußlichen Guerilla der Nationalitätenkämpfe“ führe, so Eisner, eine Zuwendung zum Menschen herbei. Es soll daher der von Grillparzer prophezeite Weg auf umgekehrte Weise gegangen werden, das heißt von der „Bestialität“ zur „Humanität“ durch die „Überwindung der Nationalität“.39

36 P. E.: Ein tschechisches Lesebuch. In: Prager Presse, 24. 9. 1930, Nr. 263 (Morgenausgabe), 8. 37 P. E.: Schullehrer Březina. In: Prager Presse, 12. 7. 1933, Nr. 188 (Morgenausgabe), 6. 38 P. E.: Vrchlický – Machar. In: Prager Presse, 25. 3. 1937, Nr. 84 (Morgenausgabe), 8. 39 Ebd. Vgl. außerdem Grillparzer, Franz: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Hrsg. von Peter Frank/Karl Pörnbacher. Bd. 1, München 1960, 500.

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Diese Schulkonzeption bedeutete keineswegs eine Rückkehr zur vornationalen Bildung des 19. Jahrhunderts oder eine Verherrlichung des alten humanistischen Gymnasiums im Sinne einer Renaissance der Antike. Eisner distanzierte sich davon vehement und forderte ausdrücklich eine dem allgemeinen Humanitätsideal verpflichteten Gegenwartsbezug der Schulbildung und eine aus ihm abgeleitete pragmatische Orientierung der Schule. Jeder Unterricht müsse vom pragmatischen Zweck der modernen Zeit geleitet werden und moralisch integer sein. Deutlich wird dies anhand von Eisners Forderungen für den Tschechischunterricht an deutschen Schulen: Nein, wir können uns kaum helfen, aber ein Lehrbuch der Staatssprache für Staatsbürger anderer Nationalität als der tschechischen muss anders aussehen. Es darf keineswegs eine Satzstellung vermitteln, die weder in der gesprochen noch geschriebenen Sprache verwendet wird. […] Es darf die unschuldigen Kinder nicht verleiten, dass die Schönheit auf Tschechisch ‚Krásota‘ heißt. […] So kann die Volksbildung nicht sein.40

Seine Forderungen nach mehr Aktualität auch im Sprachunterricht und insbesondere nach einer Überbrückung der Kluft zwischen Deutschen und Tschechen brachte Eisner noch einmal in seinem Feuilleton Nicht absolut… vom Februar 1938 deutlich zum Ausdruck. Das tschechoslowakische Schulministerium hatte angekündigt, den Deutschunterricht für tschechische Schüler und den Tschechischunterricht für deutsche Schüler reformieren zu wollen. Eisner unterstützte in seinem Kommentar dieses Vorhaben aus zwei gewichtigen Gründen. Zum einen müssten die Lehr- und Lesebücher für den Tschechischunterricht für Deutsche „einer sprachlichen Zensur unterworfen werden“, weil „die Pennäler die Vokabeln, Formen und Wendungen lernen, die nicht der Sprache von heute angehören“. Zum anderen beanstandete Eisner die Sprachkompetenz der tschechischen Deutschlehrer. Er forderte die vollständige Kenntnis der Sprache von den Lehrenden und sah deshalb einen großen Vorteil darin, wenn Deutsch von Deutschen und Tschechisch von Tschechen gelehrt würde. Gleichwohl räumte er ein, dass das in der gegenwärtigen politischen Situation „Zukunftsmusik“ sei.41 Tatsächlich wurde schon in der Diskussion über den obligatorischen Sprachunterricht, die unmittelbar nach 1918 stattfand, von beiden nationalen Lagern gefordert, an den Schulen nur Lehrer der jeweils ‚eigenen‘

40 Eisner, Pavel: Pan ministr slíbil! [Der Herr Minister hat es versprochen!] In: Lidové noviny, 10. 3. 1936. (Übersetzung, M. N.) Im Original lautet es: „Ne, nemůžeme si pomoci: učebnice státního jazyka pro státní občany národnosti jiné než československé musí vypadat jinak. Nesmí vštěpovat slovosled, jímž nikdo nemluví, nikdo už nepíše. [...] Nesmí navádět nevinné dítky, že Schönheit se česky říká ‚krásota‘. […] tak nemůže být národní osvěta.“ 41 Eisner, Paul: Nicht absolut… In: Prager Presse, 20. 2. 1938, 6.



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Nation unterrichten zu lassen. Ein Austausch der Lehrkräfte fand daher nur sehr selten statt.42 Anstatt der erhofften „Zukunftsmusik“ wurde der „Militärmarsch“ gespielt. Im August 1938 ordnete das Schulministerium an, dass der Tschechischunterricht die deutschen Schüler in einer „angemessenen Form über die Organisation und den Geist der tschechoslowakischen Armee, über die Geschichte der tschechoslowakischen Kriegskunst [válečnictví] und über das Leben eines tschechoslowakischen Soldaten“ aufklären soll. Zugleich sollte ihnen „Wesentliches vom tschechoslowakischen Heereswortschatz [názvosloví vojenské] und militärischen Phraseologie [vojenská frazeologie]“ beigebracht werden.43 Damit endete Eisners Traum von einer deutsch-tschechischen Symbiose in der Tschechoslowakei definitiv. Eisner nahm vom tschechoslowakischen Schulwesen am 25. September 1938, also vier Tage vor dem „Münchner Abkommen“, in dem Feuilleton Den Kindern Abschied. Hier stellte er der tschechoslowakischen Politik ein durchaus gutes Zeugnis aus: Wir haben euch gelehrt, das Haß häßlich ist, daß der Mensch Bruder und Schwester sein soll dem Menschen, allen Menschen, daß alles Leben heilig ist. Wir haben euch gelehrt, immer die Wahrheit zu sagen; darum werdet ihr als Zeugen sprechen, daß wir euch nicht Haß gelehrt haben, sondern Liebe.44

Sein Feuilleton schloss er mit den Worten: „Und ihr sollt es ein klein wenig besser haben als wir.“45 Danach erlaubten die veränderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen Eisner nicht mehr, an seine fruchtbare publizistische Tätigkeit zum Thema „Schule“ anzuknüpfen.46

42 Vgl. z. B. die Debatte über das geplante Gesetz zum Schulunterricht in der anderen Landessprache an schlesischen Realschulen zwischen 1909 und 1917. Zemský archiv Opava [Landesarchiv Troppau]. Slezská zemská školní rada [Schlesischer Landesschulrat, SZŠR], k. 572, f. 2211/1. Schreiben des Bürgermeisters der Stadt Bielitz (Bielsko/Biała) an den Schlesischen Landesschulrat in Troppau, 28. 6. 1909. – Für die Zeit nach 1918 vgl. Němec, Erziehung zum Staatsbürger?, 262–263. 43 Ebd., 304–305. 44 Eisner, P.: Den Kindern. In: Prager Presse, 25. 9. 1938, Nr. 239 (Morgenausgabe), 5. 45 Ebd. 46 Ich konnte praktisch nur einen Artikel ermitteln, der die Sprachlehrbücher zum Thema hat: Faber [Eisner, Pavel]: Prší-li pak venku slečno? [Regnet es denn draußen, Fräulein?]. In: Kritický měsíčník, 7 (1946) H. 17/18, 421. Ferner gibt es zwei Artikel, die sich mit der Zukunft der akademischen Germanistik in der Tschechoslowakei beschäftigen. Vgl. ders.: O českou germanistiku [Über die tschechische Germanistik]. In: Ebd., 7 (1946) H. 1/2, 45–46, und ders.: K nové české germanistice [Zur neuen tschechischen Germanistik]. In: Ebd., 7 (1946), H. 17/18, 381–384.

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Fazit Dem Philologen Alexander Stich zufolge stellte Eisner ein in der böhmischen Kultur spezifisches und vom heutigen Standpunkt her sehr modernes Phänomen dar. Eisners Haltung würden wir heute [nach der politischen Wende von 1989, M. N.] als Mitteleuropäertum charakterisieren. Dieses Mitteleuropäertum überwand bewusst Grenzen und heißt jegliche Unterschiede als eine Quelle der Bereicherung willkommen.47

Die Würdigung Eisners durch den tschechischen Bohemisten gilt eindeutig auch für das Gebiet der Schule. Eisner bewies in diesem für nationale Ideologien stark anfälligen Bereich von Kultur und Politik sein Bemühen, die gegenseitige Abschottung der „böhmischen Völker“ abzubauen. Seine Kritik galt dem Denken in nationalen Kategorien, die seiner Meinung nach zugunsten der Humanität hätte verhindert werden müssen. Eisners Vorstellungen und Ideen im Bereich des Schul- und Bildungswesens hatten eine eindeutig „kulturvermittelnde“ Funktion. Sein Interesse schien auf den ersten Blick asymmetrisch, da er sich insbesondere mit dem tschechischen Schulwesen in der ČSR beschäftigte. Seine kritischen wie anerkennenden Artikel, die er auf Deutsch und später auch auf Tschechisch verfasste, baute er induktiv auf. Ausgehend von einem bestimmten Problem des tschechischen Schulwesens bot er jeweils eine allgemeine Lösung für die aus nationaler Sicht brisante Schulpolitik an, die ebenso auf den deutschsprachigen Schulbereich des Staates hätte übertragen werden können. Die Deutschen in der Republik hätten sich hier inspirieren lassen und diesem Beispiel folgen können. Eisner war sich allerdings der Grenzen seiner eigenen Tätigkeit, die von der politischen Realität im Staat abhing, bewusst. Die Frage des deutschen Schulwesens in der Tschechoslowakei gehörte zu den Schlüsselproblemen. Vor allem die radikalen Nationalisten in beiden Lagern engagierten sich in diesem Bereich mit überdurchschnittlicher Vehemenz. Deshalb hatte Eisner in diesem Bereich als bilingualer Prager Intellektueller jüdischer Herkunft keine leichte Aufgabe. Das war wohl auch einer der Gründe, warum er die Schulfrage nicht direkt zu beeinflussen versuchte. Seit Mitte der 1920er Jahre wirkte er insbesondere als einsichtsvoller Beobachter und Kommentator. Eisners Rechnung ging also nicht auf. Es war nicht möglich, die „Mauer“ des von ihm postulierten „dreifachen Ghettos“ ganz abzureißen. Es bleibt die Frage, ob auch deutsche, regierungsferne Zeitungen seine Kommentare publiziert hätten. Die loyale und von den tschechoslowakischen Deutschen eher ignorierte Prager Presse stellte kein geeignetes Sprachrohr für einen Appell an die deutschsprachige Öffent47 Stich, Alexandr: Bohemista Pavel Eisner [Der Bohemist Paul Eisner]. In: Eisner, Rady Čechům, 283–291, hier 283.



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lichkeit des Landes dar. So konnte Eisner die Werte- und Meinungsunterschiede zwischen der Hauptstadt einerseits und dem überwiegend deutschsprachigen Grenzgebiet der Tschechoslowakei andererseits nicht überbrücken. Im Nachhinein können wir bedauern, dass das tschechoslowakische Schulministerium Eisners Konzeption von Anfang an wenig Beachtung schenkte und seine Verdienste als Philologe nicht gezielter nutzte, wie es beispielsweise der eingangs erwähnte tschechische Gutachter 1936 forderte. Mit Unterstützung der Kulturmittler, die die „beiden Seelen“ der Böhmen am besten kannten, hätte man vielleicht doch eine tragbare Konzeption aufbauen können, um den sich unter den Deutschen verbreitenden pädagogischen Ansätzen eine Alternative entgegen zu setzen. Dies geschah allerdings nicht. Das chauvinistische Modell der sogenannten „Deutschkunde“, in dem der Sprachunterricht mit einem nationalistisch-rassistischen Diskurs verbunden wurde, war Eisners Bemühungen um eine Annäherung diametral entgegen gesetzt. Die „Deutschkunde“, die unter dem Deckmantel einer deutschen Heimatkunde firmierte, konnte sich in den deutschen Anthologien ungehemmt verbreiten und somit den Alltag an den deutschen Mittelschulen der Ersten Tschechoslowakischen Republik beeinflussen.

Pavel Polák

Pavel Eisner am Mikrofon Das tschechoslowakische Radio im Kontext der Ersten Republik Dem Zweiten Weltkrieg ging in (Mittel-)Europa ein ‚Funkkrieg‘ voraus. Der Kampf entbrannte zunächst nicht um Städte oder Länder, sondern um die öffentliche Meinung, ohne deren Beeinflussung der Krieg genauso wenig denkbar gewesen wäre wie ohne Panzer. Die Lenker der öffentlichen Meinung waren sich dessen bewusst, dass das gesprochene Wort ihre Empfänger viel eher, unmittelbarer und gefühlsmäßig stärker als Druckerzeugnisse erreichen würde. Die Kraft des Rundfunks zeigte sich etwa am 26. September 1938: An diesem Tag trat Adolf Hitler vor mehreren Tausend Anhängern im Berliner Sportpalast auf, und seine Rede wurde durch den Rundfunk überall im Deutschen Reich verbreitet.1 Allerdings nicht nur hier, denn sie wurde gleichzeitig von vielen Sendern in Italien, Ungarn, Großbritannien, Polen, Litauen, Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen, Niederlanden, Portugal, Spanien, Japan, Uruguay, Argentinien und den USA übertragen.2 Drei Tage vor dem „Münchner Abkommen“ versprach Hitler in seiner Rede im Berliner Sportpalast, dass das „Sudetenland“ seinen letzten Territorialanspruch darstellen würde. Kein anderes zeitgenössisches Medium hätte seine Worte so schnell an Millionen von Menschen auf der ganzen Welt vermitteln können. Hitlers Rede wurde ebenfalls von vielen deutschen Zuhörern in den tschechoslowakischen Grenzgebieten empfangen. Der ‚Funkkrieg‘ um ihre Meinung und insbesondere um ihre Loyalität wurde allerdings schon seit Anfang der 1930er Jahre geführt. Die Deutschen hörten in der Regel nicht die Prager, sondern die reichsdeutschen Sender, die von Goebbels Propagandaministerium gleichgeschaltet worden waren und überwacht wurden. In ihren Sendungen durften lediglich Meinungen verbreitet werden, die mit der NS-Ideologie konform gingen. Die NS-Propaganda trug dadurch erheblich zur Krise in den tschechoslowakischen Grenzgebieten bei. Der tschechoslowakische Rundfunk spielte in dieser Auseinandersetzung um Loyalität eine unrühmliche Rolle. Bereits 1932 hatte die Zeitschrift der jungen Sozialdemokraten Útok (Der Angriff ) den Mangel an demokratischer Propaganda kritisiert sowie die geringe Sendezeit, über die die Sendungen für die deutschsprachige Bevölkerung der ČSR verfügten. Mitte der 1930er Jahre hatten 1 Archiv Českého rozhlasu [Archiv des Tschechischen Rundfunks, im Folgenden AČR]. AF 3328/2, AF 3329/1, Tonband. Projev ve Sportovním paláci na shromáždění NSDAP v Berlíně (k Českoskovensku) [Rede im Sportpalast anlässlich der NSDAP-Versammlung in Berlin (zur Tschechoslowakei)], 26. 9. 1938. 2 Vaughan, David: Bitva o vlny [Der Kampf um die Radiowellen]. Praha 2008, 10.

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die deutschsprachigen Sendungen lediglich einen Anteil von 7,66 Prozent am gesamten Programm des tschechoslowakischen Rundfunks.3 Angesichts dessen war es völlig unvorstellbar, die deutschsprachige Zuhörerschaft für den tschechoslowakischen Rundfunk gewinnen zu wollen. Im Rückblick erscheint daher der „Kampf “ des tschechoslowakischen Radios um die Loyalität der deutschsprachigen Bevölkerung als vertane Chance.4 Der Rundfunk hätte dabei durchaus über die technischen Mittel verfügt, um die deutsche Zuhörerschaft in den Grenzgebieten erreichen zu können. In der Tschechoslowakei startete der Rundfunk oder das broadcasting 1923. Erst einige Jahre später setzte sich die tschechische Bezeichnung rozhlas durch, die erstmals vermutlich von einem Redakteur der Tageszeitung Národní listy (Nationalblätter) benutzt wurde.5 Zu einem Massenmedium avancierte das Radio jedoch erst ab den 1930er Jahren, als die Zahl der Zuhörerschaft beziehungsweise der Konzessionäre in die Höhe schnellte: Hatte der tschechoslowakische Rundfunk Mitte der 1920er Jahre noch 17.000 Zuhörer, war ihre Zahl 1930 schon auf über 300.000 angewachsen. Sieben Jahre später verzeichnete der tschechoslowakische Rundfunk bereits mehr als eine Million Zuhörer, unter denen alle Nationalitäten des Landes vertreten waren.6 Im Hinblick auf die Verbreitung der Rundfunkempfänger brauchte die ČSR den Vergleich mit anderen europäischen Ländern nicht zu scheuen. Der Spitzenreiter war Großbritannien, wo im Jahr 1934 auf 1000 Einwohner 134 Rundfunkempfänger entfielen. In der Tschechoslowakei waren es 39 Radioempfänger auf 1000 Einwohner, sechs mehr als etwa in Frankreich.7 Warum war der Rundfunk in der Tschechoslowakei so populär? Eine Antwort auf diese Frage kann der politische Kontext der 1930er Jahre geben. Spätestens während der Herbstkrise im Jahr 1938 wurde es deutlich, dass das Radio nicht nur eines 3 Ješutová, Eva (Hg.): Od mikrofonu k posluchačům. Z osmi desetiletí Českého rozhlasu [Zwischen Mikrofon und Zuhörern. Acht Jahrzehnte des Tschechischen Rundfunks]. Praha 2003, 96. Zur Geschichte des tschechoslowakischen Rundfunks vgl. auch Čábelová, Lenka: Radiojournal. Rozhlasové vysílání v Čechách a na Moravě v letech 1923–1939 [Das Radiojournal. Die Rundfunksendungen in Böhmen und Mähren 1923–1939]. Praha 2003. 4 Vgl. Vaughan, David: Bitva o vlny [Der Kampf um die Radiowellen]. Praha 2008. 5 Vgl. Hrdlička, Karel: Deset let československého rozhlasu [Zehn Jahre des Tschechoslowakischen Rundfunks]. In: Ročenka posluchače rozhlasu 1934 [ Jahrbuch des Rundfunkhörers 1934]. Praha 1933, 40–126, 51. 6 Zahlenangaben aus: Ročenka posluchače rozhlasu 1934 [ Jahrbuch des Rundfunkhörers 1934]. Praha 1933, 108; Ročenka československého rozhlasu 1938 [ Jahrbuch des tschechoslowakischen Rundfunks 1938]. Praha 1938, 130; Rozhlasová ročenka za období od 1. ledna 1938 do 15. března 1939 [ Jahrbuch des Rundfunks vom 1. Januar 1938 bis zum 15. März 1939]. Praha 1939, 38. 7 Patzaková, Anna J. (Hg.): Prvních deset let československého rozhlasu [Die ersten zehn Jahre des Tschechoslowakischen Rundfunks]. Praha 1935, 684.



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der wichtigsten Unterhaltungsmedien darstellte. So hieß es auch im Jahresbericht des tschechoslowakischen Rundfunks von 1938 resümierend: Es lässt sich nicht leugnen, dass die politische Lage in der Welt mit ihren raschen Wendungen den Bedeutungszuwachs der Berichterstattung im Rundfunk nach sich zog, denn Millionen von Zuhörern wollen und sollen über sie sofort Bescheid wissen.8

Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen dem Rundfunk und der deutschen Bevölkerung in der Tschechoslowakei? Wenngleich der tschechoslowakische Rundfunk in seinem Programm der deutschen Bevölkerung kein ihrer Größe entsprechendes Sendeangebot einräumte, überging er sie bei der Programmgestaltung nicht völlig. Am 25. Oktober 1925 startete das Radiojournal – wie der tschechoslowakische Rundfunk damals offiziell hieß – seine deutschsprachige Sendung, „um seinen Pflichten unseren Mitbürgern, den deutschen Konzessionären gegenüber nachzukommen“.9 Dreimal pro Woche strahlte der tschechoslowakische Rundfunk die deutschsprachige Sendung aus, und zwar dienstags, freitags und sonntags um jeweils 18.15 Uhr. In den ersten Jahren dauerte sie eine Dreiviertelstunde, wobei die Sendezeit in den folgenden Jahren weiter zunahm. Diese Entwicklung stellte sich dennoch als ungenügend heraus, und so kritisierte etwa Karel Čapek 1935 in einem Artikel für die Lidové noviny (Volkszeitung): Es ist die Frage, ob wir nicht ein bisschen mehr Einfluss darauf nehmen können, wie sich unsere Deutschen entwickeln. Wir haben uns eher darum gekümmert, dass ein tschechischer Straßenarbeiter irgendwo in Graslitz arbeitet, als darum, wie sich der politische und kulturelle Charakter der drei Millionen Deutschen in unserem Staat herausbildet. Wir haben kaum dafür gesorgt, dass unsere Deutschen durch unseren deutschsprachigen Rundfunk statt durch die Sender aus Leipzig oder Breslau informiert und formiert wurden.10

Die deutschsprachige Sendung diente in erster Linie der Information und Bildung. Sie umfasste daher vor allem literarische Beiträge und Musikübertragungen. Prager Theaterschauspieler wie etwa Karel Reissmann rezitierten ins Deutsche übertragene Gedichte von Jan Neruda oder Adolf Heyduk. Auch mehrere deutschsprachige Prager Autoren, darunter beispielsweise Hugo Salus, lasen Auszüge aus ihren Werken vor.11 Sonntags wurden regelmäßig Musik- und Opernkonzerte übertragen. 8 Potůček, Jaroslav: Zpravodajství [Berichterstattung]. In: Ročenka československého rozhlasu 1938 [ Jahrbuch des tschechoslowakischen Rundfunks 1938], 62–63, hier 62. 9 Patzaková, Anna J.: Vývoj československého rozhlasu [Die Entwicklung des tschechoslowakischen Rundfunks]. In: Dies. (Hg.), Prvních deset let, 13–655, hier 91. 10 Čapek, Karel: Závěry [Schlussfolgerungen]. In: Lidové noviny, 26. 5. 1935. Wiederabgedruckt in ders.: O demokracii, novinách a českých poměrech [Über Demokratie, Zeitungen und die tschechischen Verhältnisse]. Praha 2003, 143–144. 11 Patzaková, Vývoj československého rozhlasu, 91.

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Die deutschsprachige Sendung des Tschechoslowakischen Rundfunks stand unter der Obhut des 1917 in Prag gegründeten Volksbildungsvereins Urania. Sein Ziel war die Verbreitung humanistischer Ideale und engagierte sich daher insbesondere in der Kinder- und Erwachsenenbildung. Der Verein nutzte zudem die neuen Medien, denn neben der Rundfunksendung betrieb er zugleich auch das einzige ‚deutschsprachige‘ Kino in Prag.12 Die Urania pflegte von Beginn an engen Kontakt zu Intellektuellen und Künstlern in der Weimarer Republik. So würdigte beispielsweise der Schriftsteller Thomas Mann, der 1933 in die Schweiz emigriert war und Ende 1936 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhielt,13 die Aktivitäten der Urania in einer Rundfunkansprache von 1936: Bei meinen verschiedenen Aufenthalten in Prag hatte ich ja Gelegenheiten, mich mit diesen musterhaften Einrichtungen bekannt zu machen – Einrichtungen, die die große und schöne Möglichkeit bieten, weiten Kreisen der Bevölkerung geistiges Gut, Bildungsgut auf freie und genussreiche Weise zugänglich zu machen.14

Die Rundfunksendungen der Urania waren anspruchsvoll und richteten sich vorwiegend an ein intellektuelles Publikum. Sie fanden daher in der breiten Öffentlichkeit nur wenig Anklang.15 Ab 1926 sendete die Urania täglich und ihr Anteil an der Gesamtproduktion des tschechoslowakischen Rundfunks wuchs allmählich. Einen wichtigen Schritt zur Ausweitung der deutschen Zuhörerschaft ging der tschechoslowakische Rundfunk mit dem Bau des neuen Senders Praha II (Prag II). Dieser sendete ab dem Frühjahr 1938 den ganzen Tag in deutscher Sprache.16 Gleichwohl kam dieser Schritt zu spät, und auch der neue Sender vermochte es nicht, die Position des NS-Rundfunks in den tschechoslowakischen Grenzgebieten zurückzudrängen. 12 Zum Selbstverständnis und den Tätigkeitsbereichen der Urania in Prag vgl. Von deutscher Kultur in der Tschechoslowakischen Republik. Fest­schrift zur Eröffnung des neuen UraniaHauses. Prag, 31. Oktober 1933, sowie zur deutschen Radiosendung der Urania Frankl, Oskar (Hg.): Fünf Jahre Deutsche Sendung in der Tschechoslowakischen Republik. Prag 1930, und ders. (Hg.): Der deutsche Rundfunk in der Tschechoslowakischen Republik. Zum 20jährigen Bestand der Prager Urania im Namen des Volksbildungshauses Urania in Prag und mit Unterstützung der tschechoslowakischen Rundfunkgesellschaft. Prag [1937]. 13 Zum Einbürgerungsprozess der Familie Mann in der Tschechoslowakei siehe Čapková, Kateřina/Frankl, Michal: Nejisté útočiště. Československo před nacismen 1933–1938 [Unsicheres Zufluchtsland. Die Tschechoslowakei und die Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland 1933–1938]. Praha 2008, 106–109. 14 AČR. AF 129/8, Tonband. Thomas Mann, Projev v Uranii [Ansprache in der „Urania“], 16. 10. 1936. 15 Vaughan, Bitva o vlny, 29. 16 Potůček, Jaroslav: Německé vysílání [Die deutsche Sendung] In: Ročenka československého rozhlasu 1938 [ Jahrbuch des tschechoslowakischen Rundfunks 1938], 76.



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Paul Eisners Beiträge für das Radiojournal Paul Eisner spielte im öffentlichen Leben der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine wichtige Rolle, die sich auch in seinen Arbeiten für den tschechoslowakischen Rundfunk manifestierte. Als Germanist und Slawist, Übersetzer und Publizist vermittelte Eisner in seinen Beiträgen den tschechischen Zuhörern die deutsche Kultur und umgekehrt. Er war daher am ‚Funkkrieg‘ um die öffentliche Meinung in der Tschechoslowakei unmittelbar beteiligt. Im Archiv des Tschechischen (ehemals Tschechoslowakischen) Rundfunks befinden sich lediglich zwei von Eisners Aufnahmen sowie einige Manuskripte seiner gesendeten Beiträge.17 Diese Lücke ist entstanden, weil viele Radiobeiträge aus der Zwischenkriegszeit aus Platzgründen nicht archiviert wurden. Darüber hinaus wurde der tschechoslowakische Rundfunk und sein Archiv während der NS-Besatzungszeit von der Reichsfunkgesellschaft zwangsverwaltet. Dabei sind ebenfalls viele Tonaufnahmen und gedruckte Quellen verschollen.18 Die wenigen überlieferten Quellen bestätigen, dass Eisner – wie in seinen Artikeln für die Presse – ein ausgezeichneter Stilist war und sich insbesondere für die Popularisierung der tschechischen Sprache und die Verbesserung der tschechisch-deutschen Beziehungen einsetzte. So las Eisner beispielsweise am 13. November 1936 in der Pause der Live-Übertragung von Mozarts Zauberflöte aus dem Prager deutschen Theater seinen Essay Dva národy na jednom území (Zwei Völker auf einem Gebiet) auf Tschechisch vor. In seiner Ansprache vertrat Eisner die Konzeption einer „positiven Synthese“, die ihm zufolge auf den Idealen der tschechoslowakischen Demokratie beruhen sollte. Er ging daher auch auf das Nationalitätenproblem der ČSR ein: „Wir haben zahlreiche Minderheiten, von denen die deutsche besonders wichtig ist.“ Eisner sprach hier von „Wir“, den Tschechoslowaken. Dieses postulierte „Wir-Gefühl“ legte er seiner Konzeption einer „positiven Synthese“ zugrunde. Er war zugleich der Auffassung, dass dieses Konzept von der tschechischen respektive

17 AČR. Sign. P10419, Manuskript. Eisner, Pavel: Dva národy na jednom území [Zwei Völker auf einem Gebiet], 13. 11. 1936; ebd. AF 247/8, Tonband. Ders., Křížem krážem češtinou [Kreuz und quer durch das Tschechische], o. D.; ebd. Sign. P09271, Manuskript. Ders., Výročí úmrtí R. M. Rilka [Todestag R. M. Rilkes], 27. 12. 1935; ebd. Sign. P09867, Manuskript. Ders., Co je vlastně demokracie? [Was ist eigentlich Demokratie?], 9. 5. 1936; ebd. Sign. P10109, Manuskript. Ders., Léto a optimismus [Sommer und Optimismus], 3. 7. 1936. 18 Ješutová, Od mikrofonu k posluchačům, 154. Miloslav Turek vom Archiv des Tschechischen Rundfunks, der mir bei der Recherche sehr behilflich war, führt dies auch auf das Alter der Tonträger zurück. Vor allem deutschsprachige Aufnahmen seien ihm zufolge nur unvollständig digitalisiert worden. Aufgrund ihres Alters könnten viel Tonträger nicht mehr überspielt werden.

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tschechoslowakischen Politik durchaus angestrebt würde. Dies bestätigte sich etwa in vielen Ansprachen des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš.19 Von Eisners gesellschaftspolitischem Engagement als Bürger der Tschechoslowakischen Republik zeugte auch seine Rundfunkansprache Co je vlastně demokracie? (Was ist eigentlich Demokratie?) vom Mai 1936, die jedoch nicht als Tonaufnahme überliefert ist. Eisner erkannte hier zwar an, dass die Diskussion eine demokratische Grundregel darstelle, fügte jedoch hinzu, dass es ausgeschlossen sei, „über die Berechtigung des tschechoslowakischen Staates zu diskutieren“.20 Eisner sah den eigentlichen Diskussionsbedarf im kulturellen Bereich. In seiner bereits erwähnten Rundfunkansprache Dva národy na jednom území stellte er fest: In Böhmen beziehungsweise in Mähren und Schlesien leben untrennbar verwoben zwei Völker, von denen jedes im Besitz eigener Kultur und eigener Geistesfrüchte ist. Und diese Früchte des Geistes bleiben den Mitbürgern der anderen Nationalität so gut wie unbekannt und verheimlicht. Es trennt sie eine Art chinesische Mauer.21

Eisner scheint dafür die Deutschen verantwortlich gemacht zu haben, denn er merkte in seiner Ansprache weiter an: „Im alten Österreich taten sich die Deutschen als Erbauer dieser chinesischen Mauer hervor – durch ihre hochmütige Missachtung des tschechischen geistigen Lebens.“ Und ergänzte, dass die Mitglieder des heutigen Mehrheitsvolkes dahingehend wirken müssen, diese unrühmliche, vernichtende Praxis nicht noch einmal zu wiederholen, die sich am österreichischen Deutschtum schlimm gerächt hat.22

Eisner warf den Tschechen die gleiche Missachtung vor, die ihnen vor der Gründung der Tschechoslowakischen Republik von den Deutschen zuteil geworden sei. Paul Eisner bekannte sich zum tschechoslowakischen Staat und forderte seine Landsleute zum gegenseitigen Kennenlernen auf. Er ging mit seinem eigenen Beispiel voran, denn er lehnte die deutsche Kultur nicht ab, im Gegenteil, er fühlte sich ihr zutiefst verbunden: „[U]nsere Deutschen pflügen einen alten Ackerboden, dessen geistige Fruchtbarkeit beträchtlich“ sei, so Eisner weiter in seinem Radiobeitrag. Beide Völker sollten ihm zufolge einander Verständnis zeigen, da die böhmischen Länder ihre gemeinsame Heimat sei.23 Eisner war sich seiner Vermittlerrolle bewusst und sprach daher im Tschechoslowakischen Rundfunk auch auf Deutsch. Aus dem Jahr 1938 sind vier Abschriften seiner deutschsprachigen Sendung Lebendiges Tschechisch erhalten geblieben. Eis19 20 21 22 23

AČR. Eisner, Dva národy na jednom území, 1. Ebd. Ders., Co je vlastně demokracie, 1. Ebd. Ders., Dva národy na jednom území, 2. Ebd., 2. Ebd., 2–3.



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ner erklärte hier den deutschen Zuhörern die Bedeutung und den Ursprung tschechischer Wörter. Gleichzeitig wies er sie auf die Germanismen im Tschechischen hin. Eisners Beiträge über die tschechische Sprache sind für den Zeitraum vom März bis Juni 1938 überliefert. Ihre Ausstrahlung war auch eine Folge der Bemühungen tschechischer Politiker, auf die deutschsprachige Bevölkerung in den tschechoslowakischen Grenzgebieten größeren Einfluss als bisher auszuüben.24 Inwiefern Eisner diese Bestrebungen vorwegnahm, legt sein Rundfunkbeitrag Wirkender deutscher Geist vom Juli 1936 nahe. Eisner bilanzierte darin die deutschsprachige Literatur, die im laufenden Jahr in der Tschechoslowakei Erfolg hatte. Es handelte sich in der Regel um Autoren, die in Deutschland verfolgt waren beziehungsweise um Werke, die nicht nur deutsche Themen behandelten. Eisner zufolge sei die deutsche Literatur seit jeher ein „Manifest an alle Menschen und die ganze Welt“ gewesen. Dieser Zielsetzung sei die offizielle Literatur im Deutschland des Jahres 1936 hingegen nicht gerecht geworden.25 Verglichen mit seinen Übersetzungen, Sachbüchern, literarischen Werken und Zeitungsartikeln spielten Eisners Rundfunkbeiträge für sein Gesamtwerk eher eine marginale Rolle. Er war kein begabter Redner; Schreibtisch und Bleistift lagen ihm viel näher. Dies spiegelte sich auch in den Beurteilungen des Programminspektors des tschechoslowakischen Rundfunks wider, der Eisner keinesfalls zugetan war. In seinen Bewertungen hob er immer wieder hervor: „tonlose, belegte, verengte, hohe, ungewöhnliche Stimme“, „etwas pathetische, sehr unangenehme Stimme“, „lautes Einatmen“.26 Aufgrund seiner Position im öffentlichen Leben der Ersten Republik fühlte sich Eisner wohl verpflichtet, nicht nur bei Diskussionsabenden in Vereinen und Klubs, sondern auch im Rundfunk über das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen beziehungsweise über die Wechselseitigkeit der tschechischen und deutschen Kultur zu sprechen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Eisner im Rundfunk eine viel größere Zuhörerschaft erreichen konnte. Die Zunahme seiner Radiobeiträge ab der zweiten Hälfte der 1930er Jahre deutet daraufhin, dass er sich seiner gesellschaftlichen Stellung immer stärker bewusst wurde.

24 AČR. Sign. P12137, Manuskript. Eisner, Paul, Lebendiges Tschechisch, 22. 3. 1938; ebd. Sign. P12352, Manuskript. Ders., Lebendiges Tschechisch, 12. 4. 1938; ebd. Sign. P12689, Manuskript. Ders., Lebendiges Tschechisch, 7. 6. 1938; ebd. Sign. P12723, Manuskript. Ders., Lebendiges Tschechisch, 21. 6. 1938. Ein Vermerk auf der ersten Abschrift vom 21. März 1938 weist auf die vorangegangene Folge von Eisners Sendung. Eisners Beiträge erschienen noch in demselben Jahr im Orbis-Verlag: Ders.: Lebendes Tschechisch. Das Tschechische, wie es wirklich ist. Prag 1938. 25 AČR. Sign. P10688, Manuskript. Eisner, Paul: Wirkender deutscher Geist, 24. 7. 1936. 26 Ebd. Ohne Signatur. Pavel Eisner – honorářová karta přednáškového oddělení [Paul Eisner – Honorarkarte der Abteilung für Vorlesungen].

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„But one cannot live without a people.“ Paul/Pavel Eisners Kafka-Lektüre und die Literaturwissenschaft Franz Kafka nimmt nicht nur in Paul/Pavel Eis­ners übersetzerischem Schaffen, sondern auch in seinen literaturkritischen Schriften eine zentrale Stelle ein. Abgesehen von den Übersetzun­gen von Kafkas Romanen ins Tschechische hat sich Eisner ungefähr seit 19281 bis zu seinem Tod 1958 in zahlreichen Essays, Vorträgen, Briefen und in Beiträgen für verschie­denste Perio­dika auf Deutsch und Tschechisch zu Kafka geäußert. Bekanntheit und Wirkung haben nament­lich zwei lange Essays von 1948 und 19572 erlangt; darüber hinaus gibt es zahlreiche kurze Texte, die sich mit Kafka befassen, sowie eine ganze Reihe von Aufsätzen, die der deutschsprachigen Literatur aus Prag und Böhmen im Allgemeinen gewidmet sind, wo aber Kafkas Werk oft prominente Erwäh­nung findet oder gar eine wesentliche Rolle in Eisners Argumentation spielt.3 1 Der vermutlich früheste Beleg für Eisners Beschäftigung mit Kafka findet sich in der Korrespondenz Eisners mit Otokar Fischer: Literární archiv Památníku národního písemnictví [Tschechisches Literaturarchiv, im Folgenden LA PNP]. Bestand Pavel Eisner, Korrespondenz Pavel Eisner – Otokar Fischer, undatierter Durchschlag eines Briefs mit hs. Vermerk „XII 1928“: „Každý z nás potřebuje tu a tam porodní bábu. Prosím Vás velice, čtěte přec jednou toho Franze Kafku, jeho Prozess, jeho Das Schloss, jeho Verwandlung a to ostatní. Je to nutné.“ [„Jeder von uns braucht ab und zu eine Hebamme. Ich bitte Sie dringend, lesen Sie doch einmal diesen Franz Kafka, seinen Prozess, sein Schloss, seine Verwandlung und das übrige. Es ist nötig.“] Vgl. auch Mourková, Jarmila: Od Paula Eisnera k Pavlovi Eisnerovi. Zamyšlení nad korespondencí P. Eisnera O. Fischerovi [Von Paul Eisner zu Pavel Eisner. Einige von der Korrespondenz Pavel Eisners mit Otokar Fischer inspirierte Gedanken]. In: Česká literatura, 38 (1990), 64–70, hier 66 [dt. Fassung in brücken, A. F., 5 (1988/89), 11–24]. 2 Eisner, Pavel: Franz Kafka a Praha [Franz Kafka und Prag]. In: Kritický měsíčník, 9 (1948) H. 3/4, 66–82; überarbeitete englische Version: Franz Kafka and Prague. Translated by Lowry Nelson and René Wellek. New York 1950; Eisner, Pavel: Franz Kafka. In: Světová literatura, 2 (1957) H. 3, 109–129. 3 Vgl. ebd., sowie ohne Anspruch auf Vollständigkeit Eisner, Pavel: Závislost české a německé kultury. Přednáška proslovena v cyklu přednášek ‚Válka Čechů s Němci?‘ Masarykova lidovýchovného ústavu v Praze [Die Abhängigkeit der tschechischen und deutschen Kultur. Vortrag im Rahmen des Zyklus ‚Krieg der Tschechen gegen die Deutschen?‘ des Masaryk-Volksbildungsinstituts in Prag]. Praha o. J. [wahrsch. 1929]; Eisner, Paul: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Landsleute. Deutsche Prosa aus der Čechoslovakei von Adalbert Stifter bis Franz Werfel. Praha 1930, 3–5; Eisner, Paul: Notiz über Franz Kafka. In: Prager Presse, 16. 7. 1931, Nr. 190, Beilage zur Nachmittagsausgabe, 8; Eisner, Pavel: Mezi národy. Kapitola retrospektivní [Zwischen den Nationen. Ein retrospektives Kapitel]. In: Lumír, 59 (1932/1933) H. 8, 448–

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Eines fällt dabei sofort auf: Sämtliche Texte Eisners über Kafka enthalten dieselbe leicht fassbare These, die intui­tiv von großer Plausibilität und Überzeugungskraft ist, und die sich seit Eisners ersten Publikatio­nen zu Kafka wohl präzisiert, aber kaum mehr verändert. Kafkas Werk sei wesentlich durch seine biografische Verortung in Prag geprägt und könne letztlich nur vor diesem Hintergrund gültig interpretiert werden: „Kafka war jedoch ein Prager, und er war ein deutscher Jude. Und erst damit kommen wir der Sache auf den Grund.“4 Welche Implikationen diese Verortung in Eisners Augen hat, fasst er 1938 in einer Rezension von Max Brods im Vorjahr erschienenen Kafka-Biografie5 für die Prager Presse zusammen: Der Prager Jude hat in höherer Wahrheit das Ghetto niemals verlassen. Wo immer Juden waren, kam eher eine Emanzipation zustande als in Prag. Denn überall suchte und fand der Assimilantismus organische Kanäle und einen organischen Nährboden: ein wirkliches Gast­volk. Nur in Prag schloß sich der Jude an eine soziologisch ganz unnatürlich beschaffene Minorität an. Vom deutschen Volke trennte ihn die räumliche Entfernung, Prag selbst hat niemals ein deut[s]ches Volk gesehen; vom tschechischen Volk trennte ihn die Sprache und das nationale Bekenntnis. […] Die volle Entscheidung brachte jedoch das S o z i a l e im unmittelbarsten Sinne. Der Pra­ger Jude war zu seinem Unglück ein Angehöriger der sogenannten gehobenen Stände. Auf das ‚Volk‘ war und blieb er angewiesen. […] In einer natürlicheren Diaspora, als es die Prager war, konnte der Jude die ihn wie sein eigener Schatten begleitende, verfolgende soziale ‚Gehobenheit‘ ausgleichen 453; Eisner, Pavel: Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů [Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR. Von 1848 bis in unsere Tage]. In: Československá vlastivěda. VII. Písemnictví [Tschechoslowakische Heimatkunde. Band VII: Schrifttum]. Praha 1933, 325–377 [dt. Übersetzung. von Michael Wögerbauer in: Jahrbuch des AdalbertStifter-Institutes des Landes Oberösterreich, 9 (2002/2003), 124–199]; Eisner, Paul: Anderthalb Jahrzehnte Literatur. In: Prager Presse, 7. 3. 1933, Nr. 66, Beilage Tomáš Garrigue Masaryk, 19–20 [bemerkenswert, weil Eisner Kafka hier unter „sudetendeutsche Literatur“ subsummiert]; Eisner, Paul: Zwei Literaturen und ein Argot. In: Warschauer, Frank (Hg.): Prag heute. Prag 1937, 35–47; Eisner, Pavel: Židé a Praha v literatuře [Die Juden und Prag in der Literatur]. In: Židovský kalendář, 19 (1938/1939), 118–121; Faber [Pavel Eisner]: Poznámka ke Kafkovi [Bemerkung zu Kafka]. In: Kritický měsíčník, 8 (1947) H. 7/8, 205–206. Eisner, Pavel: Franz Kafka and Prague. Translated by L. Mara. In: Books Abroad, 21 (1947) H. 3, 264–270; Eisner, Pavel: „Franz Kafka a Praha. Vzpomínky, úvahy, dokumenty“ [Rezension]. In: Kritický měsíčník, 9 (1948) H. 5/6, 143–147; Faber [Pavel Eisner]: Ke Kafkovi et cons. [Zu Kafka und Konsorten] In: Kritický měsíčník, 9 (1948), H. 9/10, 255–256; Ders.: Ke Kafkovým deníkům [Zu Kafkas Tagebüchern]. In: Kritický měsíčník, 9 (1948) H. 13/14, 325–326; Eisner, Pavel: Franz Kafkas Prozess und Prag. In: German Life and Letters, 14 (1961) H. 1, 16–25. Vgl. auch Čermák, Josef: Die Kafka-Rezeption in Böhmen (1913–1949). In: Krolop, Kurt/Zimmermann, Hans Dieter (Hg.): Kafka und Prag. Berlin 1994, 217–237. 4 „Kafka byl však Pražan, a byl to žid německý. A tím teprv jsme u podstaty věci.“ Eisner, Franz Kafka a Praha, 67. 5 Brod, Max: Franz Kafka. Eine Biographie (Erinnerungen und Dokumente). Prag 1937.



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durch den gemeinsamen höheren ‚Nenner‘ der Sprache, der Volkszugehörigkeit, des Nationalen, der Nation. In Prag konnte er es in Ansehung der ihn auf das unmittelbarste umgebenden Menschen nicht. […] Die Folge: eine schauerli­che Fremdheit zwischen dem Juden und seiner biologischen Umgebung. […] Überall gab es eben für den Juden ‚Volk‘ und eine Lebensrealität, also Lösung […] und Er-Lösung; in Prag gab es für ihn nur eine Fiktion, wenn er dumm war, und die metaphysischen Schrecken eines luftleeren Raumes, wenn er kapabel war, sie zu kapieren. Damit ist das großar­tige Phänomen Franz Kafka wahrlich nicht ‚erklärt‘. Wohl aber ein wenig geklärt, nämlich lokalisiert.6

Kafkas Werk ist für Eisner also zugleich Resultat und Ausdruck einer mehrfa­chen Exklusion durch soziale, religiöse, sprachliche oder nationale Barrieren. Diese sei prägend und typisch für Kafka, aber auch für fast alle anderen zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren aus Prag. In Eisners Tex­ten zur deutschsprachigen Literatur Prags fungiert Kafka oft als eigentlicher Kronzeuge für diese These, die Eisner in den Begriff ‚Ghetto‘ fasst und die später oft als Modell des ‚dreifachen‘ oder ‚mehrfachen Ghettos‘ zitiert wird. Damit einher geht stets die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer Koexistenz verschiedener Nationalitäten in Böhmen, die er mit dem Stichwort ‚Symbiose‘7 charakterisiert, einem zwar konfliktreichen, aber von gegenseitiger kultureller Stimulierung und Bereicherung geprägten Zusammenleben ethnisch-nationaler Kollektive in einem Raum. ‚Ghetto‘ und ‚Symbiose‘ bezeichnen bei Eisner also gewissermaßen die Eckpunkte in einem besonderen lokalen Spannungsfeld konkurrierender deutscher und tschechischer Konzepte nationaler Identität, in welchem sich die deutschsprachigen jüdischen Autoren aus Prag bewegten. Die Rede vom ‚mehrfachen Ghetto‘ hat bereits vor Eisner ihre Vorgeschichte,8 und Eisner war nicht der einzige, der ähnlich argumentierte,9 dennoch hat er sie wahrscheinlich am klars­ten und wirkungsvollsten auf den Punkt gebracht. Dem Modell wurde denn auch – zumeist in der Form des ‚dreifachen Ghettos‘ – ein 6 P. E. [Eisner, Paul]: Wie wurde Franz Kafka? In: Prager Presse, 19. 3. 1938, Nr. 77, 3. 7 Vgl. u. a. Eisner, Pavel: Milenky. Německý básník a česká žena [Geliebte. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau]. Praha 1930. 8 Vgl. Binder, Hartmut: Paul Eisners dreifaches Ghetto. Deutsche, Juden und Tschechen in Prag. In: Reffet, Michel (Hg.): Le monde de Franz Werfel et la morale des nations. Actes du Colloque Franz Werfel à l’Université de Dijon 18.–20. mai 1995. Frankfurt am Main 2000, 17–138; Escher, Georg: Ghetto und Großstadt. Die Prager Judenstadt als Topos. In: Jaworski, Rudolf/Stachel, Peter (Hg.): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Berlin 2007, 353–373. 9 Am deutlichsten Siebenschein, Hugo: Prostředí a čas. Poznámky k osobnosti a dílu Franze Kafky. [Umfeld und Zeit. Bemerkungen zu Person und Werk Franz Kafkas]. In: Ders. u. a. (Hg.): Franz Kafka a Praha. Vzpomínky, úvahy, dokumenty [Franz Kafka und Prag. Erinnerungen, Betrachtungen, Dokumente]. Praha 1947, 7–24.

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bemer­kens­wertes Nachleben in der tschechischen wie westlichen Literaturwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre zuteil, indem es unter anderem von Klaus Wagenbach in seiner bahnbrechenden Kafka-Biografie10 und im Umfeld der Kafka-Konferenz in Liblice 1963 von Eduard Goldstücker11 an prominenter Stelle wieder aufgegrif­fen wurde. Später entfaltete es seine Wirkung indirekt auch in der berühmten Kafka-Stu­die von Gilles Deleuze und Félix Guattari.12 Vom ersten Kafka-Boom nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre hinein tauchen Eisners Thesen in der Fachliteratur zu Kafka und dessen Pra­ger Zeitgenossen immer wieder unhinterfragt als soziohistorisches Beschreibungsmodell der Lebenswelt dieser Autoren auf, und auch für die heutige, kulturwissenschaftlich geprägte Forschung scheint Eisners Aufmerksamkeit für die Prozesse kollektiver Identitätsbildung und deren Auswirkungen auf die Literatur auf den ersten Blick von bestechender Aktualität. Hier stellen sich freilich mehrere Probleme. Zunächst erscheint das Modell vom mehrfachen Ghetto im Licht neuerer Forschung zur Sozialgeschichte der Prager Juden und zur Geschichte der Identitätskon­zepte und -politiken im Böhmen des frühen 20. Jahrhunderts als fragwürdig oder zumindest verkürzend. Zusammenfassend hat Hartmut Binder vor einiger Zeit überzeugend dargelegt, dass Eisners Darstellung keineswegs als historisch verifizierbares Deskriptiv der Lebens­welt der Prager Juden nach 1900 gelten kann.13 Abgesehen davon stellt sich bei genauerer Lektüre auch Eisners Begrifflichkeit selbst als äußerst unklar heraus. Dass man später zumeist von einem „dreifachen Ghetto“ sprach, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Eisner die Faktoren, die die ghettoartige Existenz der Prager deutschsprachigen Juden be­dingten, in verschiedenste heterogene Begriffe fasst – „ghetto kmenové“ (Stammesghetto), „ghetto sociální“ (soziales Ghetto), „ghetto umělcovy duše“ (Ghetto der Künstlerseele),14 „ghetto cerebrální“ (zerebrales Ghetto),15 „racial, religious ghetto“16 –, ohne dass dabei klar würde, wie diese genau gegeneinander 10 Wagenbach, Klaus: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend. Bern 1958, insb. 65–99; Wagenbach bezieht sich dabei auf Eisner, Franz Kafka and Prague. 11 Goldstücker, Eduard: Über Franz Kafka aus der Prager Perspektive 1963. In: Ders. u. a. (Hg.): Franz Kafka aus Prager Sicht. Prag 1966, 23–43; Kautman, František: Franz Kafka und die tschechische Literatur. Ebd., 44–78; Goldstücker, Eduard: Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen. In: Ders. (Hg.): Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin 1967, 21–46. Vgl. auch Goldstücker, Eduard: Zum Profil der Prager deutschen Dichtung um 1900. In: Philologica Pragensia, 5 (1962), 130–135. 12 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main 1976, insb. 24–39. 13 Binder, Paul Eisners dreifaches Ghetto. 14 Eisner, Německá literatura na půdě ČSR, 365. 15 Eisner, Židé a Praha v literatuře, 120. 16 Eisner, Franz Kafka and Prague (1950), 21.



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abzugrenzen wären. Auch in der späteren Forschungsliteratur, die Eisners Modell benützt und weiterentwickelt, gibt es in der genauen Benennung der bedingenden Faktoren beachtliche Schwankungen. Wie auch immer sich die mit der Metapher des Ghettos gemeinte Isolation begrifflich genau fassen lässt, eines bleibt sich gleich: Wir haben es mit einer Situation zu tun, die Eisner mit aus heutiger Sicht schockierender Deutlichkeit als defektiv bezeichnet: „unnatürlich“, „normwidrig“,17 „zrůdná“ (abartig, monströs), „pathologická“ (pathologisch).18 Gerade aus dieser defektiven Situation heraus schaffe Kafka aber Weltliteratur von zeitloser Gültigkeit und höchstem künstlerisch-ästhetischen Rang.19 Auf diesen erklärungsbedürftigen Gegensatz liefert Eis­ner keine Antworten, wie schon Eduard Goldstücker festgestellt hat.20 Die problematische Rhetorik macht zudem schnell deutlich, dass Eisners Beschäftigung mit der kollektiven Identität der säkularisierten Prager Juden im Umfeld virulenter Nationalismen nicht unbesehen zum Ausgangspunkt kulturwissenschaftlich ausgerichteter Forschung genommen werden kann. Schließlich mag auch die Tatsache erstaunen, wie unverändert Eisners Thesen zwischen 1928 und 1958 einen Zeit­raum von dreißig Jahren überstehen, der nicht nur von katastrophenhaften politischen Umbrü­chen und langen Phasen faktischen Publikationsverbots für Eisner geprägt war, son­dern auch – aus Sicht der Leser – von einem kontinuierlichen Anwachsen von Kafkas Werk durch die späten Publikationen aus dem Nachlass und den Briefwechseln. Eisner gelingt es erstaunlich gut, die erst später publizierten Teile von Kafkas Werk in seine Interpretation zu integrie­ren, ohne dass diese eine Veränderung erfahren würde. Das wirft zumindest die Frage auf, was genau die tatsächliche oder vermeintliche Erklärungskraft von Eisners Interpreta­tion so stark macht. Die zugleich sprunghafte und repetitive Art vieler seiner Texte, ihre argumentative Inkonsistenz und ihr oft deutlich erkennbarer Ad-hoc-Charakter machen es leicht, die Widersprüche aufzurechnen, in die sich Eisner verstrickt – so geht etwa Hartmut Binder vor.21 Dabei läuft man jedoch Ge­fahr, die Bedingtheit von Eisners Texten durch ihren oft journalistischen Entstehungskontext zu missachten, sie gewissermaßen überzubelasten und mit wissenschaftli­chen Ansprü­chen zu konfrontieren, denen sie nicht genügen und wohl auch nicht genügen wollten. Auf der an­deren Seite würde man es sich ebenfalls zu einfach machen, wollte man die für den damaligen Kontext zwar nicht ungewöhnliche, aber deswegen nicht minder 17 Eisner, Wie wurde Franz Kafka?, 8. 18 Eisner, Franz Kafka a Praha, 68, 79. 19 Eisner, Einleitung, 4; Eisner, Notiz über Franz Kafka, 8; Eisner, Německá literatura na půdě ČSR, 364. 20 Goldstücker, Zum Profil der Prager deutschen Dichtung um 1900, 130. 21 Binder, Paul Eisners dreifaches Ghetto, 46–52.

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problematische Rhetorik einfach als common sense der Zeit hinnehmen. So oder anders würde man einem Werk nicht gerecht, das sich zwischen Literaturkritik, Literaturge­schichtsschrei­bung und Kulturpolitik nur schwer einordnen lässt, und das trotz seiner augenfälligen Widersprüchlichkeit auch in der seriösen Kafka-Forschung nachhaltige Wirkung entfalten konnte. Im Folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, Eisners Arbeiten zu Kafka in ihrem zeitgenössischen Entstehungskontext zu verorten und auf die Implikationen ihrer Rhetorik hin zu lesen. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, was Eisners Kafka-Lektüre so attraktiv für die Nachkriegsgerma­nistik in West und Ost machte. Wie bereits aufgezeigt wurde, findet sich für Eisner der Zugang zu Kafkas literarischem Werk prinzipiell in einer Lokalisierung. Diese kommt durch die Berücksichtigung zweier Faktoren zustande, durch die er ein literarisches Werk im Allgemeinen jenes von Kafka im Besonderen determi­niert sieht: in der Herkunft des Autors und im Ort seines Wirkens. Mit dem Anspruch auf Erklä­rung, den Kategorien ‚Her­kunft‘ und ‚Wirkungsort‘ und dem sprachlichen Material, womit er sie charakterisiert – Scholle/hrouda, Blut/krev, Volk/lid, Stamm/kmen, Rasse/rasa – reiht sich Eisner in einen einflussreichen literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Dis­kurs ein, der sich in Böhmen schon um 1910 herum entwickelte. In der Germanistik findet er seinen wohl bekanntesten und umstrittensten Ausdruck bei August Sauer und Josef Nadler, die, unter anderem von der aufstrebenden Volkskunde inspiriert, Konzepte einer Nationalliteratur mit deterministischem Denken und pseudobiologischer Rhetorik verbinden.22 Innerhalb dieses Verständnisses literarischer Werke als kausal bestimmter Resultate der Zugehörigkeit des Autors zu einem (Volks-)Kollektiv sind die Positionen durchaus disparat. Ihre Spannweite reicht von konservativen Konzepten einer Nationalliteratur als Ausdruck der ‚Volksseele‘ bis hin zu explizit rassistischen Denkansätzen. Dieser Diskurs erlangt nach dem ersten Weltkrieg große Virulenz und enorme Verbreitung nicht nur in der deutschsprachi­gen, sondern auch in der tschechischen Literaturwissenschaft, beispielsweise bei F. X. Šalda oder Arne Novák.23 Spreche ich im Folgenden also von nadlerschem Denken, so ist dies einerseits eine rein prak22 Vgl. Meissl, Sebastian: Zur Wiener Neugermanistik der dreißiger Jahre. Stamm – Volk – Rasse – Reich. In: Amann, Klaus/Berger, Albert (Hg.): Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse – institutionelle Voraussetzungen – Fallstudien. Wien 1985, 130–146; Neuber, Wolfgang: Nationalismus als Raumkonzept. Zu den ideologischen und formalästhetischen Grundlagen von Josef Nadlers Literaturgeschichte. In: Garber, Klaus (Hg.): Kulturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts: ihr Werk im Blick auf das Europa der frühen Neuzeit. München 2002, 175–191; Müller-Funk, Wolfgang: Josef Nadler. Kulturwissenschaft in nationalsozialistischen Zeiten? In: Dürhammer, Ilja/Janke, Pia (Hg.): Die ‚österreichische‘ nationalsozialistische Ästhetik. Wien 2003, 93–110. 23 Vgl. den Aufsatz von Zdeněk Mareček im vorliegenden Band.



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tisch moti­vierte Abbreviatur für ein Denken, das vor und neben Nadler existierte; andererseits ist der Diskurs bei Nadler durchaus prototypisch ausgebildet, und es lassen sich gar direkte Verbindungen von Nadler zu Eisner finden, unter anderem in der Per­son ihres gemeinsamen Lehrers August Sauer oder in der nachweisbaren Rezeption Nadlers durch Eisner wie auch durch dessen engen Freund und Förderer Otokar Fischer.24 Worin liegen nun die Parallelen zwischen Eisners Ghetto-These und einem nadlerschen Verständnis von Literatur? Eisner argumentiert meistens mit Kafkas gesamtem Leben und Werk und geht kaum auf Einzeltexte oder die Entwicklung des Autors ein. Kafka verkörpert „tragedii německého žida z Prahy“ (die Tragödie des deutschen Juden aus Prag)25 schlechthin; sein Werk ist Ausdruck dieser Verkörperung, sein ganzes Leben und Schrei­ben zugleich Großmetapher und Resultat einer bestimmten raumzeitlichen Konstella­tion. Die­ses statische, vom Faktor Zeit abstrahierende Denken ist auch für den nadler­schen Diskurs charakteristisch. In Eisners Figur von Prag als Ghetto ist die doppelte Determinierung durch den Lebensraum und das biologistisch-ethnisch gedachte Kollektiv enthalten, die das literari­sche Werk Kafkas und seiner Zeitgenossen bestimmen soll. Prag hat für Eisner also ganz unmetaphorische Präsenz in Kafkas Werk. Die Absenz konkreter Referen­zen auf Prag in fast allen Prosatexten Kafkas ent­geht Eisner freilich nicht: „In Kafka’s work there is no Prague.“26 Sie bleibt für ihn jedoch in­nerhalb dieses Modells leicht erklärbar: Die Stadt sei nicht als bloße Staffage, son­dern auf viel weniger oberflächliche Art in Kafkas Werk enthalten, denn ein metaphysi­scher genius loci durchdringe die Texte und mache sie zum unmittelbaren, wahrhaftigen Produkt des Raums und deswegen auch ästhetisch wertvoller als eine konventionelle literarische Abbildung der baulichen Kulisse Prags.27 Dieses in seiner Struk­tur my­thische Denken findet sich einerseits bereits in den literaturkritischen Debatten in Prag zur Zeit des Ersten Weltkrieges, wo es unter dem Schlagwort des „Prager Romans“ um die identitätspolitischen Veror­tung von Nationallite­ratur im städtischen Raum geht;28 andererseits lässt es sich bei Nadler beobach­ten, wenn er 24 Vgl. Fischer, Otokar: Literaturhistorische Raumkunde. In: Prager Presse, 13. 1. 1929, Nr. 13, Beilage Dichtung und Welt, 1–3; Eisner, Závislost české a německé kultury, 8. Durchaus kritisch zu Nadler äußert sich Eisner jedoch in einem Brief an Fischer vom 29. 8. 1932. LA PNP. Bestand Pavel Eisner. Korrespondenz Pavel Eisner – Otokar Fischer. 25 Eisner, Franz Kafka a Praha, 67. 26 Eisner, Franz Kafka and Prague (1947), 265. 27 Dazu insbesondere Eisner, Franz Kafkas Prozess und Prag. 28 Vgl. u. a. Kisch, Egon Erwin: Ein Prager Roman. In: Bohemia, 86 (1913), Nr. 64, 1–2. Novák, Arne: Pražský román? [Ein Prager Roman?] In: Venkov, 12.  4. 1917, 2. Dazu Veselá, Gabriela: E. E. Kisch und der Prager deutschsprachige erotische Roman. In: Philologica Pragensia, 28 (1985), 202–215.

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etwa in der Vorrede zum ersten Band seiner monumentalen Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften die „Landschaft“ als „Nährbo­den“ bezeichnet, als Materielles, als Trägerin eines ganz bestimmten Menschenschlages, von der aus beidem, aus Blut und Erde, das Feinste, das Geistigste wie in goldenen Dämpfen aufsteigt.29

Durchaus zeittypisch ist auch die antiindividualisti­sche Rhetorik, die Eisners Texte über Kafka durchzieht. So heißt es beispiels­weise im Essay über die deutschsprachige Literatur Böhmens aus der Enzyklopädie Československá vlastivěda (Tschechoslowakische Heimatkunde) von 1933: „Mit seiner Monothematik eines innerlichen Golgotha […] vollendet Kafka die kulturelle Epoche eines übersteigerten Individualismus und bedeckt sie mit der marmornen Grabplatte seines Werks“,30 oder bereits zwei Jahre früher in einem deutschen Aufsatz: „Franz Kafka [war] der letzte ganz große Erfüller der aus dem Individuellsten kommenden, in das Allgemeinste zielenden Ich-Kunst.“31 Diese Rhetorik unterstreicht die Bestimmtheit des Einzelnen durch hypostasierte Megasubjekte wie „Stamm“, „Volk“ usw. und lässt sich so im nadlerschen Kontext sehen. Andererseits ist sie aber auch über diesen Kontext hinaus – etwa in der marxistisch orientierten Avantgarde – weit verbreitet. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Eisner an keiner Stelle auf Kafkas – zu Eisners Zeit allerdings erst lückenhaft bekannte – Beschäftigung mit dem Zionismus eingeht, dessen Rhetorik durchaus Parallelen zu einem nadlerschen Volksbegriff aufweist und in dessen Rahmen ein literarisches Werk ebenfalls als Ausdruck einer ‚Volksseele‘ verstanden werden kann. Wichtig ist das antiindividualistische Moment in Eisners Texten jedenfalls insofern, als die existenzielle Vereinzelung, die sich in den „metaphysischen Schrecken des luftleeren Raums“32 äußert, für ihn nicht in erster Linie ein Problem der individuellen Künstlerexistenz ist, sondern vielmehr eine genuin soziale Dimension aufweist. Wo Eisner die „Tragödie des deutschen Juden aus Prag“33 im Fehlen einer „organischen“ Verbindung mit einem „wirkliche[n] Gastvolk“34 sieht, ist in der Rede vom ‚mehrfachen Ghetto‘ stets das Konzept der ‚Symbiose‘ als Hintergrundfolie präsent und ergänzt sie auch in Bezug auf Kafka komplementär. Das Problem hätte sich, so könnte man weiter spekulieren, auf dem Land so nicht gestellt, denn 29 Nadler, Josef: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 1. Regensburg 1912, VII. 30 „Kafka […] svou monotematikou jástevní Golgathy dovršuje kulturní epochu vypjatého individualismu a klade na ni mramorový náhrobek svého díla.“ Eisner, Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů, 365. 31 Eisner, Notiz über Franz Kafka, 8. 32 Vgl. Eisner, Wie wurde Franz Kafka?, 3 33 Eisner, Franz Kafka a Praha, 67. 34 Vgl. Eisner, Wie wurde Franz Kafka?, 3



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dort hätte ja die Möglichkeit einer Annäherung an die „organische“ Gemeinschaft deutscher oder tschechischer Nationalität bestanden. Insofern hat Eisners Argumentation auch einen antiurbanen Zug, wie er für den kulturkonservativen Diskurs der Zeit charakteristisch ist. Auch hier gibt es Parallelen zu nadlerschen Konzepten: Eine ‚Symbiose‘ in ihrer geradezu biologischen Dynamik einer ganz unmetaphorisch körperlich gedachten Vermischung zweier Ethnien ist auch bei Nadler nicht negativ behaf­tet, wie Wolfgang Müller-Funk gezeigt hat.35 Freilich steht sie bei Nadler im Gegensatz zur negativ verstandenen Assimilation, welche in Anlehnung an einen alten antisemitischen Topos als Verstellung und Mimikry gesehen wird. Diese Unterscheidung ist jedoch bei Eisner nicht klar; „Symbiose“ und „Assimilantismus“36 sind bei ihm begrifflich kaum zu trennen, und das Modell der Symbiose bezieht sich sowohl auf die tschechisch-deutsche Koexistenz wie auch auf die jüdisch-deutsche oder jüdischtschechische Assimilation. Nadler wie Eisner gemeinsam ist aber die fundamentale Bedeutung, die sie einer „Volkszugehörigkeit“37 beimessen. „Bez lidu však nelze žít“/„But one cannot live without a people“38 wiederholt Eisner in seinem bekanntesten Kafka-Essay von 1948. Dieser Satz weist eine Mehrdeutigkeit auf, die für Eisners Kafka-Lektüre und ihre Stellung im zeitgenössischen Kontext bezeichnend ist. ‚Lid‘/‚Volk‘ lässt sich hier nämlich in mindestens dreierlei Sinn lesen: zum einen, wie bereits gesagt, als Echo eines nadlerschen Stammes- oder Volksbegriffs, zum anderen verweist ‚Volk‘ jedoch auch vager auf ein nationales Kollektiv im Allgemeinen, und schließlich gar auf eine soziale Kategorie im engeren Sinn, auf einen Klassenbegriff, wenn man so will – insbesondere im tschechischen Kontext der Zeit nach 1945 ist die Verbindung von ‚lid‘ und sozialer Klasse augenfällig. Für Eisners Beschäftigung mit Kafka ist diese Vagheit der Begriffe entscheidend. Sie bewirkt, dass die Kategorien ‚Herkunft‘ und ‚Lebensraum‘ nicht ausschließlich nadlersche Dimensionen aufweisen, sondern eine ganze Skala von Konnotationen eröffnen – nicht nur die durchaus in einem biologistischen oder rassisti­schen Sinn ethnisch gedachte Abstammung, sondern auch individuell-biografische Dimensionen ei­ner Familiengeschichte bis hin zu eigentlichen sozialgeschichtlichen Aspekten wie der Geschichte der Emanzipation der jüdischen Bevölkerung Böhmens oder der Ge­schichte des Prager Bürgertums. Indem Eisner die große Bedeutung der Emanzipation und Säkularisierung für die Identitätsbildung der böhmischen Juden und deren Problematik angesichts der virulenten Nationalismen im 20. Jahrhundert

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Müller-Funk, Josef Nadler, 98, 101–103. Vgl. Eisner, Wie wurde Franz Kafka?, 3 Ebd. Eisner, Franz Kafka a Praha, 71–72; englisch Eisner, Franz Kafka and Prague (1950), 37, 39.

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betont, bringt er – zwar häufig in kruder Verkürzung – sozialgeschichtliche Argumente ins Spiel, die im nadlerschen Diskurs so undenkbar wären. Auch die Kategorie ‚Boden‘ oszilliert bei Eisner zwischen einer für den nadlerschen Diskurs charakteristischen, geradezu me­taphysi­schen Beziehung von Raum, Autor und Werk und einer sozialgeschicht­lich angelegten Berücksichtigung des lebensweltlichen Umfelds des Autors, das sich in seinem Werk niederschlägt. ‚Prag‘ ist für Eisner so­wohl ein metaphysisch determinierender Raum als auch eine Abbreviatur für eine durchaus präzis zu fassende Beziehung zwischen dem literarischen Werk und dem soziohistorischen Kon­text, in welchem es entstand. ‚Prag‘ zeigt in Eisners Tex­ten über Kafka stets deutlich die charakteristische Doppelstruktur allen figurativen Sprechens: die gleichzei­tige Präsenz des pri­mären Wortsinns und einer sekundären Bedeutungsebene, wobei prinzipiell nicht zu entschei­den ist, welche Ebene dominiert. Diese Doppelstruktur hebt Eisners Texte ab von einer dogmatischen Art des biologistisch-neugermanisti­schen Diskurses und machte sie nach vielen Richtungen hin anschlussfähig für literaturwissenschaftliche Positionen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzten. Eisner verleiht der bereits existierenden Rede vom ‚mehrfachen Ghetto‘ den Charakter einer zugleich verfestigten und vagen Aussageform. Ihre vielfache Verwendungsfähigkeit erschließt sich in ihrer Eigenschaft als symbolisch überdeterminierter und zugleich offener To­pos. Er gibt Aspekten von Kafkas Werk wie Entfremdung und Gefährdung des Individuums, mit welchen sich die noch junge Kafka-Forschung die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders beschäftigte, eine scheinbar solide sozialgeschichtliche Basis und wirkte so als willkommenes Korrektiv gegenüber textimmanenten, von existenzialistischen Positionen beeinflussten Interpretationen, die in den 1950er Jahren dominierten, aber wegen ihrer exegetischen Züge zunehmend in die Kritik gerieten. In seinem ins Englische übersetzten langen Kafka-Essay von 1948 polemisiert Eisner denn auch explizit gegen einen Umgang mit Kafkas Texten, welcher den Entstehungskontext des Werks außer Acht lässt.39 Andererseits ist der Topos des drei- oder mehrfachen Ghettos auch fast beliebig dehnbar – das zeigt sich beispielsweise bei Heinz Politzer, der die Grenzen des „dreifachen“ Ghettos unter anderem durch „aufsässige Slawen“ (!) und „die Verwaltung der altöster­reichischen Beamtenschaft“ definiert,40 aber auch bei Deleuze und Guattari, die die Problematik einer „elitären“ Isolierung von „den Massen“ mit Kafkas Tagebuchnotizen zur Rolle der Literatur in einem nationalen Kollektiv in Beziehung setzen und daraus ihr wirkungsmächtiges Modell der „Kleinen Literatur“41 entwickeln. 39 Eisner, Franz Kafka a Praha, 66. 40 Politzer, Heinz: Franz Kafka: der Künstler. Frankfurt am Main 1978, 27 (engl. Original u. d. T. Franz Kafka: Parable and Paradox 1966). 41 Deleuze/Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, 24.



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Diese Anschluss- und Wandlungsfähigkeit der Rhetorik war ein Grund dafür, dass Eisner in der westlichen Nachkriegsgermanistik rezipiert wurde. Ein weiterer Grund ist in personellen Kontinuitäten zwischen der Prager Germanistik und der Kafka-Forschung im englischen Sprachraum zu suchen. Eisner wurde im englischen Sprachraum durch das tschechoslowaki­sche Exil von 1948 bekannt, besonders durch die Publikation einer englischen Fassung seines Essays aus dem Kritický měsíčník (Kritische Monatszeitschrift) in Buchform 1950,42 auf die sich unter anderem auch Wagenbach in seiner Kafka-Biografie von 1958 stützt. Bemerkenswerterweise hatte Eisner aber schon zuvor in der renommierten amerikanischen Zeitschrift Books Abroad zu Kafka publiziert.43 In den amerikanischen Fachzeitschriften wurde auch die Prager Debatte um Kafka weitergeführt, die ihren Anfang kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Umfeld des Kritický měsíčník und der ersten selbständigen tschechischen Publikation zu Kafka, des Sammelbandes Franz Kafka a Praha (Franz Kafka und Prag),44 nahm, und an der sich Eisner aktiv beteiligte.45 Zwar blieb Eisners Modell in der westlichen Kafka-Forschung nicht unwidersprochen. Am deutlichsten grenzt sich wohl Max Brod in seinem Prager Kreis dagegen ab, indem er das aktive Interesse der deutschsprachigen Autoren an der zeitgenössischen tschechischen Kultur, überhaupt die „Weltoffenheit“ der Generation des „Prager Kreises“,46 ins Feld führt. Dabei bleibt jedoch auch Brod durchaus innerhalb der eisnerschen Antinomie von ‚Ghetto‘ und ‚Symbiose‘ – er verschiebt lediglich den Akzent hin zu letzterer, zu den Indizien, die auf eine erfolgreiche Befreiung aus der für Brod zwar zweifellos als real, aber eben überwindlich erachteten Isolation der Prager deutschsprachigen Juden deuten. Eisners Schriften boten andererseits der marxistischen Literaturwissenschaft in der Tschechoslowakei zahlreiche of­fenkundige Anknüpfungspunkte. Der Ansatz, Literatur aus ihrem Entstehungskontext zu erklären, die antiindividualistische Rhetorik und insbesondere die postulierte Sehnsucht nach einer Verwurzelung im Volk fügen sich fast nahtlos in eine marxistische Betrachtung der Prager deut­schen Literatur 42 Vgl. die Literaturangaben in Anmerkung 2, sowie Krolop, Kurt: Pavel Eisner und Franz Kafka. In: Kafka a Čechy. Mezinárodní literárněvědná konference [Kafka und Böhmen. Internationale literaturwissenschaftliche Konferenz]. Praha 2007, 7–17, hier 12. 43 Eisner, Franz Kafka and Prague (1947). 44 Siebenschein u. a., Franz Kafka a Praha. 45 Vgl. Faber, Poznámka ke Kafkovi; Eisner, Franz Kafka a Praha; Eisner, „Franz Kafka a Praha. Vzpomínky, úvahy, dokumenty“; Eisner, Franz Kafka; Faber, Ke Kafkovi et cons.; Faber, Ke Kafkovým deníkům. Außerdem: Siebenschein, Hugo: Tragický pohádkář. (Protiexistencialistická poznámka k dílu F. Kafky) [Tragischer Märchenerzähler. (Eine antiexistenzialistische Anmerkung zum Werk F. Kafkas)]. In: Časopis pro moderní filologii, 32 (1948) H. 9, 75–79. Zur Geschichte der tschechischen Kafka-Rezeption vgl. Čermák, Die Kafka-Rezeption in Böhmen (1913–1949). 46 Brod, Max: Der Prager Kreis. Stuttgart 1966, 38.

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ein. Das können wir beispielhaft an Eduard Goldstückers Weiterentwick­lung des eisnerschen Topos vom mehrfachen Ghetto sehen, welche durch die Kafka-Konferenz von 1963 und deren Folgeveranstaltung von 1965 zur Prager deutschen Literatur Verbreitung fand.47 Goldstücker und seine Zeitgenossen greifen dabei besonders auf Eisners Argument von der Isolation von einem Volkskollektiv zurück und verstehen die deutschsprachigen jüdischen Bourgeoisie als eine dem Untergang geweihte soziale Schicht: Sie verschieben ‚Volk‘/‚lid‘ von einem nationalistischpseudobiologischen Begriff hin zur marxistischen Kategorie der sozialen Klasse – eine Verschiebung, die bereits bei Eisner angelegt ist. So findet bei Goldstücker das bereits konstatierte Paradox, dass aus einer defekti­ven Situation Literatur von höchster Gültigkeit entsteht, eine elegante Auflösung, indem er postuliert, dass die Werke Kafkas und seiner Zeitgenossen ihren dauerhaften Wert und ihre ästhetische Geltung gerade aus der prophetischen Vorwegnahme des Untergangs der Bourgeoisie bezögen, den diese Autoren durch ihre Isolation gewissermaßen am eigenen Leib vorausgespürt hätten.48 Indirekt knüpfen auch Gilles Deleuze und Félix Guattari an diesen Gedanken an. Sie berufen sich zwar auf Wagenbachs Darstellung der sozialgeschichtlichen Situation (mithin auf Wagenbachs Interpretation von Eisners Modell), benützen sie aber ähnlich wie Goldstücker zur Erklärung der über das Lokale eminent hinausgehenden Bedeutung von Kafkas Werk: Es ist gerade die spezifische sozialgeschichtliche Konstellation Prags, welche die Kräfte für die umfassende, Kafkas radikal innovatorischen Sprachgebrauch ermöglichende „Deterritorialisierung“ freisetzt.49 Diese argumentativen Parallelen zwischen Goldstücker und Deleuze/ Guattari sind keineswegs zufällig, wurde doch die Liblicer Kafka-Konferenz von der französischen Linken intensiv rezipiert. In vielerlei Hinsicht erweisen sich Eisners Schriften über Kafka als Angelpunkt in einem zumal aus heutiger Sicht ungemütlich wirkenden Kontinuum von rechtsnational-konservati­ver Literaturwissenschaft der 1930er und marxistisch orientierter Literaturwissenschaft der 1950er und 1960er Jahre. Deren Gemeinsamkei­ ten allein sind schon erstaunlich genug; dass sie sich ausgerechnet in Eisners Beschäftigung mit Kafka manifestie­ren, noch viel mehr. Wo sich die Anknüpfungspunkte insbesondere für die marxistische Nachkriegs-Literaturwissenschaft finden, ist zwar unschwer zu erkennen. Bemerkenswert bleibt jedoch, wie mühelos die Rhetorik der 1920er und 1930er Jahre, die sich bei Eisner so stark manifestiert, übernommen werden konnte, obwohl sich ihre ideologischen Konnotationen dabei radikal ändern mussten.

47 Vgl. die Literaturangaben in Anmerkung 11. 48 Goldstücker, Zum Profil der Prager deutschen Dichtung um 1900, 131–132. 49 Deleuze/Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, 24, 27.



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Schwierig zu beantworten bleibt außerdem die Frage, wie bewusst oder wie strategisch sich Eisner in der literatur­wissenschaftlichen Landschaft seiner Zeit positionierte, und welche Ziele er dabei verfolgte. Sich dem herrschenden Diskurs zu entziehen, war zweifellos schwierig, zumal für eine publizistisch so aktive Persönlichkeit wie Eisner. Der bloße Verweis auf einen ‚Zeitgeist‘ wird jedenfalls allzu rasch zur Apologie, die Verwerfungen überdeckt. Soll man in Eisners Kafka-Lektüre einen Versuch sehen, Kafka in der Darstellung als Autor einer zu überwindenden und letztlich überwundenen Zeit und Gesellschaft für tschechische, tschechojüdische50 oder später marxistische Positionen akzepta­bel zu ma­chen? Stützen ließe sich diese Lesart durch Eisners Befund, die Prager deutschsprachigen Juden hätten sich durch ihre Assimilation an eine Minderheit in eine ghettoähnliche Situation gebracht, was auf den defektiven Charakter einer ‚misslungenen Assimilation‘ hinweist. Ebenso könnten Eisners vielfache Hinweise auf die „slawischen“ Elemente in Kafkas Familiengeschichte, auf sein „unausdenkbar kompliziertes Blut“,51 als Indiz dafür genommen werden, dass es Eisner insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg darum gehe, Kafka für einen tschechischen Standpunkt akzeptabel zu machen, ja ihn gar für eine tschechische Tradition zu reklamieren. Dies wird Eisner von Oskar Seidlin in Books Abroad vorgeworfen.52 Dagegen spricht jedoch, dass Eisner gerade diese Lesart mehrfach deutlich verwirft. Kafkas Sympathie für die tschechische Kultur erachtet er nicht als aktiven und gangbaren Ausweg aus der selbstverschuldeten Isolation. In der im Umkreis des Kritický měsíčník geführten tschechischen Kafka-Debatte grenzt er sich wiederholt und prononciert ge­gen Hugo Siebenschein ab, der ähnlich wie Eisner argumentiert, aber weitergeht und Kafkas Kontakte zur tschechischen Kultur als Ausdruck eines bewussten Assimilationsversuchs an die tschechische Nation liest.53 Bereits 1929 hält Eisner einem Vortrag über die deutschsprachigen Autoren Böhmens explizit fest: „Gott bewahre, dass ich zur Tschechisierung raten würde.“54 Die geradezu metaphysische Züge annehmende Isolation, aus der Kafkas literarisches Werk in Eisners Auffassung erst seine Außergewöhnlichkeit schöpft, kann, so muss man annehmen, für Eisner nicht einfach durch eine demonstrative Hinwendung zu einer tschechischen Identität aufgehoben werden. 50 Die These, Eisner sei hier von Ideen der sogenannten tschechojüdischen Bewegung beeinflusst, vertritt Wögerbauer, Michael: ‚…tätiger Dienst am eigenen Volk‘. Paul Eisner als Denker und Propagator der deutsch-tschechisch-jüdischen Symbiose. In: Jahrbuch des AdalbertStifter-Instituts des Landes Oberösterreich, 9/10 (2002/2003), 117–123, hier 120. 51 Eisner, Notiz über Franz Kafka, 8. 52 Seidlin, Oskar: Franz Kafka – Lackland. In: Books Abroad, 22 (1948) H. 3, 244–246. 53 Eisner, „Franz Kafka a Praha. Vzpomínky, úvahy, dokumenty“, 145–146. Noch deutlicher: Eisner, Franz Kafka, 125. 54 „Chraň Bůh, abych radil ku počeštění […].“ Eisner, Závislost české a německé kultury, 7.

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Vorerst bleibt somit nur, das Paradox zu konstatieren, das aus Eisners Auseinandersetzung mit Kafka resultiert: Kafkas Isolation, die radikale Nicht-Zugehörigkeit seines Werks zu einer Raum-Zeit-Struktur, in welcher sich auch kollektive beziehungsweise nationale Identitäten verorten, ergibt sich ursächlich ausgerechnet aus einem bestimmten, ja singulären Raum, dem deutsch-jüdischen Prag des frühen 20. Jahrhunderts und aus Kafkas spezifischer Verortung. Sein Werk bleibt gewissermaßen negativ, gerade durch seine Ausgeschlossenheit aus einer ‚organischen‘ Raumstruktur, stets auf einen Raum bezogen. Diese überaus komplexe, widerspruchsvolle Bezogenheit des literarischen Werks auf den Raum und die Autorbiografie weist definitiv weit über die simplen Sicherheiten nadlerschen Denkens hinaus. Zugleich stellt sich jedoch die Frage, ob Eisners deutsch-tschechisch-jüdische „Symbiose“ in einem solchen Rahmen überhaupt zu realisieren wäre. Zumindest in Bezug auf Kafka erscheint diese auf den ersten Blick so sympathische Idee prekär, sie führt – zumal für die jüdische Bevölkerung Prags – offenbar in unauflösli­che Aporien. Darin liegt wohl nicht so sehr die Tragik des Autors Franz Kafka, sondern vielmehr jene des Au­tors Paul/Pavel Eisner.

Dagmar Žídková

Zur Rezeption des Werkes von Pavel Eisner in der populärwissenschaftlichen Linguistik1 Jeder, der heute über unsere Muttersprache nachdenkt, tut dies gewollt oder ungewollt im Schatten des großen tschechisch-deutschen Linguisten Pavel Eisner, dessen grundlegendes Werk ‚Dom und Festung‘ vor einiger Zeit wieder aufgelegt wurde.2 Zu den schönsten Momenten in der nicht leichten Arbeit eines Linguisten gehören zweifelsohne diejenigen, in denen er einige Ergebnisse seiner Untersuchungen auf unterschiedliche Art und Weise einem breiten Publikum, das unsere Muttersprache nutzt, vermitteln kann, und sich so unmittelbar der Nützlichkeit und der Früchte seiner eigenen Bemühungen bewusst werden kann.3

Ursprünglich sollten in diesem Beitrag zwei Felder behandelt werden, die von den Arbeiten Pavel Eisners profitieren können und die zugleich mit der kulturellen Vermittlung eng zusammenhängen – die Popularisierung der linguistischen Forschungen zum Tschechischen und die Didaktik und Methodik des Tschechischunterrichts. Während der Recherchen hat sich bestätigt, dass Eisner in der tschechischen Sprachwissenschaft eine feste Größe geworden ist. Seine Arbeiten werden vor allem in den letzten Jahren ausgiebig rezipiert. Eine ganz andere Situation ergibt sich für die Didaktik: Obwohl man in den neueren Lehrwerken und Kompendien zum Tschechischen, sei es als Mutter- oder als Fremdsprache, hier und da auf

1 In diesem Beitrag ist der Blickwinkel auf die Rezeption des Werkes von Pavel Eisner vor allem in den neueren populärwissenschaftlich orientierten Arbeiten zum Tschechischen aus der Feder tschechischer Linguisten gerichtet, die in Buchform erschienen sind. Öfters wurden auch Zeitschriften- und Rundfunkbeiträge rezipiert, in denen sich Eisner zum Tschechischen kompetent und mit viel Humor äußerte; auf diese Reaktionen wird hier nicht näher eingegangen. 2 Faltýnek, Vilém: Pavel Eisner o češtině [Paul Eisner über das Tschechische], 25. 5. 2003. http://www.radio.cz/cz/clanek/41016 (letzter Zugriff: 31. 10. 2008). 3 Balhar, Jan (Hg.): O češtině každodenní [Über das Alltagstschechische]. Brno 1984, 7.

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Dagmar Žídková

Passagen aus Eisners Werken stößt,4 figuriert sein Name in neueren didaktischen Abhandlungen kaum. Das ist für mich als Tschechischlektorin im deutschsprachigen Raum überraschend, denn ich bin überzeugt, dass Eisners bohemistische Werke, wie Lebendes Tschechisch, Bohyně čeká (Die Göttin wartet), Chrám i tvrz (Dom und Festung), Čeština poklepem a poslechem (Das Tschechische abgeklopft und abgehört),5 aber auch seine humoristische Erzählung Pan Kaplan má třídu rád (Herr Kaplan mag die Klasse)6 neben einer Fülle an sprachwissenschaftlich interessanten Informationen und Anmerkungen auch vielfältige Ratschläge und Inspiration für den Unterrichtsalltag bieten – und das für Vermittler des Tschechischen als Fremdsprache wie auch für Lehrer, die das Tschechische als Muttersprache unterrichten. Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Rezeption von Eisners Werk in populärwissenschaftlich orientierten linguistischen Publikationen. Einer seiner zahlreichen didaktischen Vorschläge soll hier dennoch zitiert werden: Wenn du, mein lieber Tscheche, die vielfältigen Besonderheiten und Kostbarkeiten deiner Muttersprache erkunden möchtest, finde einen Ausländer und versuche, ihm Tschechisch beizubringen. Er wird von dir lernen und du von ihm. Du wirst gezwungen sein, über das Tschechische zumindest ein bisschen nachzudenken, und schon das ist viel. Aber wenn der Ausländer nur ein bisschen intelligenter sein sollte, kann es passieren, dass er dich mit seinem Staunen oder mit einer Frage nicht auf einen, sondern auf hunderte von Charakteristika des Tschechischen aufmerksam macht, die dir bis jetzt überhaupt nicht bewusst waren (weil ihr das in der Schule nicht durchgenommen habt).7

Diese Worte fassen zugleich das zusammen, was für Eisners bohemistische Arbeiten bezeichnend ist und was sein Werk zum attraktiven Bezugspunkt für jene Autoren macht, die populärwissenschaftliche Abhandlungen zum Tschechischen schreiben. Eisner betrachtet das Tschechische als Sprache, die selbst für einen Muttersprachler 4 Stellvertretend für das Tschechische als Muttersprache siehe Schneiderová, Eva: Klíč k češtině aneb Na češtinu od lesa: pro 2. stupeň ZŠ i pro nižší ročníky víceletých gymnázií. [Der Schlüssel zum Tschechischen oder Mit List und Tücke an das Tschechische herangehen: für die Sekundarstufe II und die niedrigeren Klassen mehrjähriger Gymnasien]. Praha 2005, 27–28; stellvertretend für das Tschechische als Fremdsprache siehe: Hasil, Jiří/Hasilová, Helena: Tschechisch für Anfänger. Čeština pro německy mluvící začátečníky. Praha 1995, 179. 5 Eisner, Paul: Lebendes Tschechisch. Prag 1938; ders.: Bohyně čeká: Traktát o češtině [Die Göttin wartet: Ein Traktat über das Tschechische]. Praha 1945; ders.: Chrám i tvrz: Kniha o češtině [Dom und Festung: Ein Buch über das Tschechische]. Praha 1946; ders.: Čeština poklepem a poslechem [Das Tschechische abgeklopft und abgehört]. Praha 1948. 6 Eisner, Pavel: Pan Kaplan má třídu rád. Na motivy Leonarda Q. Rosse [Herr Kaplan mag die Klasse. Nach Leonard Q. Ross]. Zürich 1979. 7 Eisner, Bohyně čeká, 57. (Hervorhebung im Original.) – Ein ähnlicher Vorschlag in: Ders., Čeština poklepem a poslechem, 280.



Zur Rezeption des Werkes in der populärwissenschaftlichen Linguistik

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ein großes Überraschungspotenzial aufweist, als Sprache, die immens viele Facetten hat und in der immer etwas Interessantes und im europäischen Sprachvergleich Besonderes zu entdecken ist und als Kulturgut, auf das jeder Tscheche stolz sein kann, das aber von den Tschechen oft nicht genug geschätzt wird. Lassen wir wieder Eisner zu Wort kommen: Sie sind eine Nation mit einer wunderschönen Muttersprache. Sie sind eine Nation voller Gebildeter über den europäischen Durchschnitt hinaus. Und sie sind eine Nation ohne gebührende Sprachkultur. Und darauf werden sie noch lange warten. Denn cultura ist von colo, ich bestelle das Feld, abgeleitet. (Ähnlich wie Autor von auctor abgeleitet ist, und der wiederum von augeo, d. h., ich vermehre, jedoch nicht das beschriebene Papier, sondern die nationale Sprach- und die Redekultur).8

Obwohl bohemistische Werke von Pavel Eisner schon in den 1940er Jahren bekannt waren und intensiv und kritisch besprochen wurden,9 verschwand Eisners Name in

8 Eisner, Bohyně čeká, 56. (Hervorhebung im Original.) – Zum niedrigen Niveau der Sprachkultur bei den Tschechen äußerte sich Eisner in zahlreichen kritischen Anmerkungen, die man in allen seinen bohemistischen Arbeiten finden kann, vor allem aber in seinem Essay Bohyně čeká (hier neben der bereits zitierten Stelle auch Seiten 27 und 74). Eine dieser Anmerkungen nutzen die Linguisten Sgall und Panevová als Motto ihres Buches. Vgl. Sgall, Petr/ Panevová, Jarmila: Jak psát a nepsat česky [Wie man tschechisch schreiben soll und wie nicht]. Praha 2004. Im ersten Kapitel Vyjadřování knižní, hovorové a neutrální (Buchsprachlicher, umgangssprachlicher und neutraler Ausdruck) betrachten sie Eisners kritische Äußerung im heutigen Kontext. 9 Seine Bücher wurden sowohl in Fachkreisen als auch in der breiten Öffentlichkeit rezipiert. Zur fachwissenschaftlichen Rezeption vgl. bspw. die Rezension zu Chrám i tvrz von Skalička, Vladimír: Essayistická kniha o češtině [Ein essayistisches Buch über das Tschechische]. In: Slovo a slovesnost, 10 (1947/48) H.  1, 50–53; zu Čeština poklepem a poslechem vgl. bspw. Havel, Rudolf: Pavel Eisner: Čeština poklepem a poslechem [Pavel Eisner: Das Tschechische abgeklopft und abgehört]. In: Naše řeč, 33 (1949) H. 1/2, 31–33. – Zur Entstehungsgeschichte von Chrám i tvrz und seiner Aufnahme in der Öffentlichkeit vgl. Dubová, Jarmila: Osudy lidí – osudy knih [Menschenschicksale – Bücherschicksale]. In: Nové knihy, 26. 8. 1992, 5. Diesen Hinweis verdanke ich Daniel Řehák vom Institut für tschechische Literatur an der Akademie der Wissenschaften (ÚČL AV ČR). – Es ist anzumerken, dass die Reaktionen auf Eisners Werke unter den Sprachwissenschaftlern zum Teil sehr kritisch waren. Selbst anlässlich von Jubiläen sind kritische Töne in Bezug auf seine bohemistischen Arbeiten zu verzeichnen. Vgl. z. B. die Laudatio zu Eisners 65. Geburtstag: kp: Pětašedesátka Pavla Eisnera [Der 65. Geburtstag von Paul Eisner]. In: Literární noviny, 3 (1954) H. 3, 9.

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der Nachkriegszeit fast vollständig aus der öffentlichen Diskussion.10 Diese Situation spiegeln auch die populärwissenschaftlichen Abhandlungen zum Tschechischen wider, die zwischen 1948 und 1989 publiziert wurden.11 Der Name Eisner taucht in diesen Arbeiten bis in die 1990er Jahre nur sporadisch auf.12 Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Publikation des Brünner Bohemisten Jan Chloupek Knížka o češtině (Ein Büchlein über das Tschechische) dar,13 die im Jahre 1974 ver10 Stich, Alexandr: Bohemista Pavel Eisner [Der Bohemist Paul Eisner]. In: Eisner, Pavel: Rady Čechům, jak se hravě přiučiti češtině [Ratschläge für Tschechen, wie sie Tschechisch spielerisch dazulernen]. Hrsg. von Alexandr Stich. 2. Aufl., Praha 2002, 283–291, hier 283. Vgl. auch Matoušek, Petr: Tma pod svícnem? [Dunkelheit unter dem Kerzenständer?] In: Nové knihy, 22. 7. 1992, 1. 11 Das Spektrum der Arbeiten, die dem Tschechischen gewidmet sind und die für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren, reicht von kurzen Beiträgen, die einzelne orthografische, orthoepische, grammatische, lexikalische oder stilistische Phänomene behandeln – hier ist vor allem die Zeitschrift Naše řeč (Unsere Sprache) zu erwähnen – über thematisch relativ eng gehaltene Beitragssammlungen eines Einzelautors – wie zum Beispiel die auf die Etymologie ausgerichtete Arbeit von Dušan Šlosar Jazyčník oder verschiedene Publikationen zu den Vorund Nachnamen, etwa Jak se bude jmenovat? (Wie wird es heißen?) von Miloslava Knappová – bis zu Büchern, die unterschiedliche Aspekte des Tschechischen verständlich zu erläutern versuchten und die häufig von ganzen Autorenkollektiven verfasst wurden. Oft handelt es sich dabei um leicht überarbeitete Versionen von Zeitschriftenbeiträgen – wie zum Beispiel die Reihe O češtině každodenní (Über das Alltagstschechische), eine Sammlung von kurzen Beiträgen verschiedener Autoren des Instituts für tschechische Sprache der Akademie der Wissenschaften [ÚJČ ČSAV] in Brünn, die vor allem in der Tageszeitung Rovnost (Gleichheit) ab den 1950er Jahren erschienen sind, oder um Versionen beliebter Radiosendungen – wie zum Beispiel die Publikation Čeština všední i nevšední (Das Tschechische alltäglich und unalltäglich), die auf dem ab September 1946 vom Tschechoslowakischen Rundfunk ausgestrahlten Zyklus Jazykové koutky (Sprachecken) beruhte. 12 Beispielsweise bezeichnen Jelínek und Styblík Eisner als „ausgezeichneten Übersetzer aus verschiedenen Sprachen ins Tschechische“ und stellen einen seiner Texte zur hyperkorrekten Aussprache vor. Vgl. Jelínek, Jaroslav/Styblík, Vlastimil: Čtení o českém jazyku [Lektüre über die tschechische Sprache]. Praha 1971, 55. Auf dem Buchumschlag von Čeština za školou sind folgende Worte zu lesen: „Die Muttersprache ist ‚die Seele und die Besinnung einer Nation‘, wie Karel Čapek sagt. […] Unsere Muttersprache, ‚diesen Dom und diese Festung‘, Wert zu schätzen und zu lieben, hat bei uns eine lange Tradition, die auch in der Gegenwart bewahrt bleiben muss.“ Von wem die eingeführte metaphorische Bezeichnung des Tschechischen stammt, wird, im Unterschied zu den Worten Čapeks, nicht angegeben, was eine gängige Vorgehensweise in dieser Zeit war. Vgl. Hausenblas, Karel/Kuchař, Jaroslav (Red.): Čeština za školou [Das Tschechische nach der Schule]. 2. Aufl., Praha 1979. 13 Jan Chloupek (1928–2003), der viele Jahre in der Brünner Abteilung des ÚJČ ČSAV arbeitete, verbindet mit Eisner einerseits das starke Interesse am Sprachgebrauch in Mähren (bei Eisner wird dies vor allem in seinen Abhandlungen zum Volkslied deutlich), andererseits die Fähigkeit, Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Forschung zu popularisieren (im besten Sinne des Wortes).



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öffentlicht wurde. Schon der Buchtitel „verrät“ Chloupeks Affinität zu Eisner – die Anspielung auf den Untertitel von Chrám i tvrz ist wohl nicht zu übersehen. Noch deutlicher wird das im einführenden Abschnitt seines Buches, in dem Chloupek auf die Frage, welche Stelle sein Buch in der sprachwissenschaftlichen Produktion einnimmt und wie es mit der Tradition linguistischer Forschungen zusammenhängt, Folgendes antwortet: Das Buch ist keine Grammatik und will auch keine Grammatik ersetzen. Sein Ausgangspunkt sind Ergebnisse moderner Forschungen der tschechischen Sprachwissenschaft, aber sein Ziel ist es nicht, die sprachwissenschaftlichen Forschungen direkt zu bereichern, sondern den Leser (wie dies bei jeder Popularisierung der Wissenschaft der Fall ist). Soweit ähnelt das Buch einem anspruchsvolleren Lehrbuch. Aber bei einem Lehrbuch (besonders für Erwachsene) reicht es aus, wenn es Auskunft bietet, Knížka o češtině möchte jedoch Interesse wecken, möchte den Leser gewinnen. Insgesamt soll das Buch alles beinhalten, was ein gebildeter Mensch über das Tschechische wissen muss (d. h. das, was er aus der Schule mitnehmen sollte, aber auch das, was er zusätzlich lernen sollte); deshalb sind in diesem Buch diejenigen Aspekte betont, denen in der Schulpraxis meiner Meinung nach nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet wird.14

Ein regelrechter Boom in der Rezeption von Pavel Eisners Werken ist in der tschechischen populärwissenschaftlichen Linguistik erst ab den 1990er Jahren zu verzeichnen. Einer der Anstöße zur Wiederentdeckung und zum wachsenden Interesse an Eisners Werk war ohne Zweifel die Veröffentlichung des Buches mit dem bezeichnenden Titel Rady Čechům, jak se hravě přiučiti češtině (Ratschläge für Tschechen, wie sie Tschechisch spielerisch dazulernen) im Jahr 1992.15 Es handelt sich um eine Auswahl aus den besten Arbeiten von Eisner über die tschechische Sprache, wie auf dem Buchumschlag zu lesen ist. Dazu gehören für den Herausgeber Alexandr Stich16 neben den bereits erwähnten Werken Chrám i tvrz, Čeština poklepem a poslechem und Bohyně čeká die Verssammlung Sonety kněžně (Sonette an die Fürstin, 1945) sowie Abhandlungen zur volkstümlichen Poesie, etwa 14 Chloupek, Jan: Knížka o češtině [Ein Büchlein über das Tschechische]. Praha 1974, 8. (Hervorhebung im Original.) Vgl. auch Eisners Vorwort in Chrám i tvrz. 15 Bei der Titelwahl ließ sich der Herausgeber wohl von einem Kapitel aus dem Werk Chrám i tvrz inspirieren, das Rada Čechům, jak se hravě přiučiti češtině heißt, in dem das Thema des aktiven und passiven Wortschatzes behandelt wird. Vgl. Eisner, Chrám i tvrz, 220–222. Von diesem Kapitel fühlte sich Chloupek schon in den jungen Jahren angesprochen. Vgl. Chloupek, Knížka o češtině, 35. 16 Auch zwischen Alexandr Stich (1934–2003) und Pavel Eisner sind Parallelen zu verzeichnen. Dazu gehört nicht nur das rege Interesse am Tschechischen und die Fachkompetenz im Bereich der Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft, sondern auch das persönliche Schicksal. Eisner wurde wegen seiner Herkunft verfolgt, Stich musste die Prager Abteilung des ÚJČ ČSAV aus politischen Gründen verlassen.

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Malované děti (Die gemalten Kinder, 1949) und die Mácha-Studien Na skále (Auf dem Felsen, 1945) und Okusy Ignaze Máchy (Versuche des Ignaz Mácha, 1956).17 Stichs Wunsch, das linguistische Schaffen von Eisner anhand ausgewählter Texte der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und seine Aktualität aufzuzeigen, wurde erfüllt. Ein Reprint dieses Buches erfolgte wegen großer Nachfrage schon zehn Jahre später.18 Zur weiteren Intensivierung der Beschäftigung mit dem Werk von Pavel Eisner trug dann in den 1990er Jahren die neuerliche Veröffentlichung der zwei grundlegenden bohemistischen Werke Chrám i tvrz und Čeština poklepem a poslechem, diesmal in vollem Umfang, deutlich bei. Einige Werke von Eisner, darunter auch diese beiden, wurden schon in den 1970er Jahren im Züricher Exilverlag Konfrontation nachgedruckt. Zu diesen Ausgaben hatten jedoch vermutlich nur einige wenige Wissenschaftler Zugang, die in der damaligen Tschechoslowakei publizieren konnten, so dass anzunehmen ist, dass sie keinen breiteren Leserkreis erreichten.19 Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde in der tschechischen Bohemistik kaum eine populärwissenschaftliche Arbeit zum Tschechischen publiziert, die nicht in irgendeiner Weise Bezug auf Eisner nahm. Die Arbeiten sind hinsichtlich ihrer Publikationsform, ihres Umfangs und der Themenauswahl sehr unterschiedlich. Sie haben aber trotzdem eines gemeinsam – den Stil, in dem sie verfasst sind. Es wird weitgehend auf linguistische Fachtermini verzichtet, öfters werden zum Vergleich andere Sprachen herangezogen, es tauchen häufig humoristische Passagen auf, es wird versucht, den Leser zur Reflexion über die eigene Muttersprache zu animieren 17 Stich nahm in seine Auswahl lediglich Eisners Mácha-Studien nicht auf, die seiner Meinung nach einer eigenen Edition bedürften. Vgl. Stich, Alexandr: Ediční poznámka [Editorische Anmerkung]. In: Eisner, Rady Čechům, 292–293, hier 293. Wohl aus sprachlichen (und vielleicht auch aus chronologischen) Gründen verzichtete er auf das älteste bohemistische Werk Lebendes Tschechisch (1938), das genau die gleiche Form wie Čeština poklepem a poslechem hat und das zum Teil in das letztgenannte Buch aufgenommen wurde. Eisner selbst charakterisiert das Buch als „Fabers Zickzackfahrt durch das Gelände einer Sprache“, „[v]on A und aksamit bis žvaniti und žvatlati“. Eisner, Lebendes Tschechisch, 239. (Hervorhebungen im Original.) 18 Diese edierte Auswahl aus Eisners bohemistischen Texten wird sogar in manchen populärwissenschaftlichen Abhandlungen zum Tschechischen empfohlen. Vgl. Svozilová, Naďa: Jak dnes píšeme/mluvíme a jak hřešíme proti dobré češtině [Wie wir heute schreiben/reden und wie wir gegen das Tschechische sündigen]. Jinočany 2000. Hier werden neben den Originalausgaben der Werke Chrám i tvrz und Čeština poklepem a poslechem auch die Auswahl als zitierte Quelle angeführt. Vgl. außerdem Sgall/Panevová, Jak psát a nepsat česky. Hier wird ebenfalls die Originalausgabe des Buches Bohyně čeká erwähnt. 19 Selbstverständlich begünstigte die erneute Herausgabe von Eisners Werken in der Schweiz ihre Rezeption vor allem in der westeuropäischen Bohemistik. Beiträge, die außerhalb der Tschechoslowakei erschienen sind, bleiben hier jedoch unberücksichtigt. Zur Rezeption von Eisners Werk in der Schweiz vgl. den Beitrag von Michaela Kuklová in diesem Band.



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und zur weiteren Diskussion anzuregen.20 All dies sind auch Merkmale von Eisners Arbeiten über das Tschechische, die ihm eine Art Unsterblichkeit gesichert haben. Stich charakterisiert das mit folgenden Worten: Eisners Stil, expressiv, nachdrücklich und zum Geist des Adressaten durchdringend, ist gleichsam ein Ausdruck des Sich-Selbst-Berauschens an der tschechischen Sprache mit ihrem stilistischen Reichtum, und dies auch in historischer Dimension und im Kontakt mit weiteren Sprachen. Eisners Stil erinnert an die Sammlungen von Rudolf II., für den alles kostbar war, was den Facettenreichtum der Welt widerspiegelte, samt ihrer Unikate und Kuriositäten.21

Aber gerade dies war für einige Linguisten Anlass zu einer Kritik an Eisners bohemistischem Werk, die man auch heute noch hier und da finden kann. Die Autoren werfen ihm wegen seiner Emotionalität und Subjektivität vor allem Unwissenschaftlichkeit vor.22 Doch die stilistischen Mittel, die Eisner bei der Betrachtung des Tschechischen einsetzt, sind meiner Meinung nach meistens wohl überlegt und dienen dem beabsichtigten Zweck, nämlich das Interesse am Tschechischen zu wecken beziehungsweise zu intensivieren.23 Eisner ging es dabei nie um rein wissenschaftliche Abhandlungen, was in mancher Kritik offensichtlich nicht berücksichtigt wurde. Eisner wurde zum Meister auf dem Gebiet der Popularisierung der Sprachwissenschaft24 nicht nur aufgrund seines Schreibstils, sondern vor allem aufgrund seines 20 Zu Merkmalen der populärwissenschaftlichen Literatur vgl. bspw. Preußner, Ulrike: „Manners Makyth Man!“. Phraseologismen in der populärwissenschaftlichen Literatur. In: Hartmann, Dietrich/Wirren, Jan (Hg.): Wer A sägt, muss auch B sägen. Baltmannsweiler 2002, 325–340 (hier 325–326); ferner auch Hausenblas, Karel: Učební styl v soustavě stylů funkčních [Stil der Lehrbücher im System funktionaler Stile]. In: Naše řeč, 55 (1972) H. 2/3, 150–158, der auf die Herauskristallisierung des popularisierenden Stils innerhalb des Fachstils in den 1950er Jahren aufmerksam macht. 21 Stich, Bohemista Pavel Eisner. In: Eisner, Rady Čechům, 291. 22 Natürlich ist Eisner nicht immer objektiv – vor allem dann nicht, wenn er im Tschechischen eine Erscheinung beschreibt, für die er in einer anderen Sprache keine Analogie findet, und daraus oft unkritisch auf die Einzigartigkeit des Tschechischen schließt. 23 Eisner begründet oft auch direkt in seinen Texten, warum er dieses oder jenes Ausdrucks- oder Stilmittel verwendet. Mehrmals wiederholt er beispielsweise, „dass beim Erklären die anekdotische Komponente vernachlässigt wird“. Eisner, Bohyně čeká, 32. (Hervorhebung im Original.) In eigenen Abhandlungen zum Tschechischen versucht er diesen Mangel zu beheben. 24 Anfang des Jahres 1936 moderierte Eisner eine Diskussion über die Bilanz des ersten Jahrgangs der Zeitschrift Slovo a slovesnost (Wort und Literatur) und beteiligte sich an ihr aktiv. Dabei hob er die Kooperation der Forscher im Bereich der sprachlichen Phänomenologie mit den Trägern dieser Phänomenologie hervor: „Dadurch geschah es zum ersten Mal, dass ein Zeitschriftenorgan der strengen Wissenschaft sich um die Kooperation mit den Laien bemühte, dass – drastischer ausdrückt – die Professoren an Dichter, Schriftsteller, Essayisten

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Bildungs- und Kulturhorizonts, seiner Fachkompetenz auf mehreren Gebieten (insbesondere in der Sprach-, Literatur- und Musikwissenschaft), seiner langjährigen praktischen Erfahrungen mit der Sprache als Übersetzer,25 Journalist und Schriftsteller und nicht zuletzt aufgrund seines Einfühlungsvermögens, das in zahlreichen Passagen deutlich wird, in denen er sich in die Rolle eines Tschechischlernenden versetzt und das Tschechische „von Außen“ betrachtet. Es ist also kein Wunder, dass sein Name in den populärwissenschaftlichen Abhandlungen häufig vorkommt. Bei gewissen Publikationen scheint es in letzter Zeit geradezu zum guten Ton zu gehören, Eisners Werke in die Rubrik Doporučená literatura (Empfohlene Literatur) aufzunehmen.26 Meist sind hier jedoch nur die zwei bekanntesten seiner Werke zu finden: das Buch Chrám i tvrz, das Vladimír Skalička einst als „Lob auf die tschechische Sprache“ bezeichnete, und das Buch Čeština poklepem a poslechem, das Rudolf Havel wiederum als „ein unterhaltsames Wörterbuch der tschechischen Sprache“ charakterisierte. Die einzelnen Stichworte betrachtet Havel dabei als „kürzere oder längere philologische Feuilletons“.27 Andere bohemistische Arbeiten werden entweder selten erwähnt, etwa Eisners Abhandlungen zur volkstümlichen Poesie, oder überhaupt nicht, wie es beispielsweise beim Werk Lebendes Tschechisch der Fall ist.28 Die Art und Weise, wie auf Eisner rekurriert wird, ist trotzdem sehr vielfältig.29

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und Übersetzer als Menschen des gleichen bürgerlichen Rechts appellierten.“ Eisner, Pavel: Diskuse o bilanci I. roč. ‚Slova a slovesnosti‘ [Eine Diskussion über die Bilanz des 1. Jg. der Zeitschrift ‚Wort und Literatur‘]. In: Slovo a slovesnost, 2 (1936) H. 2, 130–133. Hier bestätigt sich Eisners Haltung, dass die Popularisierung der Sprachwissenschaft eine sinnvolle Arbeit sei, und dass die Verbindung der Wissenschaft mit der Welt der Leser intensiviert werden müsse. Sein Lieblingsthema, die Unübersetzbarkeit, behandelt er nicht nur in zahlreichen Passagen seiner in Buchform erschienenen Werke, sondern auch in einigen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln. Vgl. z. B. Eisner, Pavel: O věcech nepřeložitelných [Über unübersetzbare Dinge]. In: Slovo a slovesnost, 2 (1936) H. 4, 230–238. Vgl. Čmejrková, Světla u. a.: Čeština, jak ji znáte i neznáte [Das Tschechische, wie Sie es kennen oder auch nicht kennen]. Praha 1996; Svozilová, Jak dnes píšeme; Saturková, Jitka (Hg.): O češtině [Über das Tschechische]. Praha 2007; Loucká, Pavla: Zahrada ochočených slov: Jazyková zákampí [Der Garten der zahmen Wörter: Sprachecken]. Praha 2007; dies.: Dech, duch a duše češtiny [Der Atem, der Geist und die Seele des Tschechischen]. Praha 2008. Skalička, Essayistická kniha; Havel, Pavel Eisner. Čmejrkovás Beschreibung des Werkes Lebendes Tschechisch als „phraseologisches tschechisch-deutsches Wörterbüchlein“ ist irreführend: Das Buch beinhaltet nicht nur zahlreiche tschechische Sprichwörter und weitere phraseologische Redensarten, sondern auch andere lexikalische Erscheinungen. Die Arbeit umfasst 239 Seiten, was sicherlich den Umfang eines Wörterbüchleins (tschech. slovníček) sprengen würde. Vgl. Čmejrková u. a., Čeština, 247. Manche Autoren geben offen zu, dass sie sich von Eisner inspirieren ließen, andere nicht (obwohl der Bezug nicht selten ganz offensichtlich ist…). Dabei rezipieren sie nicht nur Eisners Gedanken und arbeiten sie weiter aus, sondern ahmen hier und da auch die formale Seite von



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Häufig dienen seine Worte als Informations- und/oder Inspirationsquelle für die Autoren,30 der Unterstützung der eigenen Ausführungen beziehungsweise der eigenen Argumentation,31 der Verdeutlichung eines Sachverhaltes,32 der Aktualisierung einer Erscheinung33 oder aber der Unterhaltung.34 Polemische Auseinandersetzungen mit Eisners Ausführungen oder gar ihre Korrektur sind in populärwissenschaftlichen Texten nur vereinzelt zu finden,35 was mit der Aufgabe dieser Literatur – wissenschaftliche Themen für Laien verständlich darzustellen – im Einklang steht. An dieser Stelle sollen zumindest ein paar Beispiele für die Bezugnahme auf Eisner in der populärwissenschaftlichen Literatur diskutiert werden. In manchem Kontext würde man Eisner wohl nicht erwarten, doch seine Ausführungen werden auch in Abhandlungen zur feministischen Linguistik einbezogen; ebenso in Texten zur Frauensprache, in denen sein patriarchales Modell in der Sprache fast nicht mehr wegzudenken ist. Die folgenden Worte von Eisner dienen beispielsweise als Einleitung zum Thema Genus in der Sprache: In den europäischen Sprachen manifestiert sich seit je die Herrschaft des Mannes über die Frau. Lateinisch homo ist der Mensch, aber auch der Mann: schon diese Dualität der Bedeutung sagt alles. Genauso in weiteren romanischen Sprachen: […] Ganz genau so das englische man, das deutsche man. Der englische Ausdruck für die Frau ist lediglich

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Eisners Werken nach. Vgl. bspw. die formale Gestaltung der Sammlung O češtině každodenní, die deutlich an Čeština poklepem a poslechem erinnert. Eine besondere Würdigung des Werkes von Eisner ist zu finden in: Čmejrková u. a., Čeština, 246–249. In dem dortigen Eisner-Porträt Bilingvistova láska k češtině (Eine zweisprachige Liebe zum Tschechischen) betonen die Autoren, dass gerade Eisners große Zuneigung zum Tschechischen ihn zu einer einzigartigen Größe auf dem Gebiet der tschechischen beziehungsweise tschechoslowakischen Bohemistik macht. Sein Name wird hier in einer Reihe mit Bohemisten wie Jan Gebauer, Josef Zubatý, Václav Ertl, Vilém Mathesius, Roman Jakobson, Bohuslav Havránek und Vladimír Šmilauer genannt. Vgl. z. B. Chloupek, Knížka o češtině; Sgall, Petr/Hronek, Jiří: Čeština bez příkras [Das Tschechische ohne Beschönigungen]. Jinočany 1992; Mates, Vladimír: Jména tajemství zbavená: Malá encyklopedie 250 nejčastějších příjmení [Namen, bei denen das Geheimnis gelüftet wurde: Kleine Enzyklopädie der 250 häufigsten Nachnamen]. Praha 1998; Sgall/Panevová, Jak psát a nepsat česky; Saturková, O češtině; Loucká, Zahrada ochočených slov; dies., Dech, duch a duše češtiny. Sgall/Hronek, Čeština bez příkras, 84; Horálek, Jan: …nejde jen o slova […es geht nicht nur um Worte]. Chomutov 2002, 204; Sgall/Panevová, Jak psát a nepsat česky, 13 und 154. Čmejrková u. a., Čeština, 120–121. Vgl. bspw. Svozilová, Jak dnes píšeme, 68. Vgl. u. a. Čmejrková, Světla: Jazyk pro druhé pohlaví. In: Daneš, František u. a. (Hg.): Český jazyk na přelomu tisíciletí [Die tschechische Sprache zur Jahrtausendwende]. Praha 1997, 146–158, hier 149. Čmejrková berichtigt beispielsweise Eisners Ausführungen zu den tschechischen Diphthongen. Siehe Čmejrková u. a., Čeština, 248.

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eine Ableitung von der Bezeichnung für den Mann – man : woman. Wenn eine Deutsche sagt: So etwas tut man doch nicht, und meint damit sich selbst, sagt sie etwas, was ihr eigentlich nicht zusteht; denn der ursprüngliche Sinn ihres Satzes war doch anders: so was tut ein Mann doch nicht. […] Das Tschechische ist zu den Frauen ein bisschen nachsichtiger als das Lateinische oder bspw. das Französische – insoweit nämlich, dass es die Wörter muž und člověk differenziert. Aber beachten Sie nur das phrastische Leben des Wortes člověk, und Sie werden sehen, dass die Nachsicht des Tschechischen in Bezug auf die Frauen nicht bis zur Gleichstellung führt: Der Mensch bekommt nämlich oft die Bedeutung muž, wir haben ganz geläufige Redewendungen, in denen das Tschechische zur Zweideutigkeit des lateinischen homo neigt. Eine Frau aus dem Volk sagt ohne zu zögern: můj člověk dělá na šachtě [mein Mensch arbeitet in der Kohlegrube], und versteht darunter ihren Ehemann.36

Mehrmals wird Eisner in Chloupeks Arbeiten erwähnt. Eine Passage aus Eisners Werk nutzt der mährische Linguist beispielsweise als Motto jenes Kapitels, in dem er sich mit dem Zeichencharakter der Sprache beschäftigt: Eine Sprache ist wie die Büchse der Pandora, die mit guten, aber auch unguten Gaben vollgestopft ist. Sie ermöglicht zu denken und nicht-zu-denken, geistreich zu sein genauso wie zu ‚blödeln‘; sie dient gleichsam Mácha wie jemandem, der Neuigkeiten verbreitet, der bekennenden Wahrheit eines Apostels und Märtyrers ebenso wie der durchtriebenen Lüge eines Schurken. Und schon dadurch, dass sie existiert, erzeugt sie ganz sonderbare Arten von Aberglauben.37

Eisners Anmerkung dienen als Einleitung auch den Autoren des Slovník nespisovné češtiny (Wörterbuch des nichthochsprachlichen Tschechischen): Manch ein Wort ist gewiss ordinär, wie es aus dem Munde des Volkes erwachsen ist. Und die Sprache der Prager Pepiks und die Sprache der Brünner Peripherie beinhaltet solche Ausdrücke und Wendungen und Figuren und Tropen, bei denen Sie beim Zuhören nicht

36 Eisner, Chrám i tvrz. Zitiert nach Čmejrková, Jazyk pro druhé pohlaví, 146–147. (Hervorhebung im Original.) Eine ähnliche Metaphorik kommt auch in Eisners Überlegungen zum Übersetzungsprozess vor, in denen er sich mit dichterischen Vorlagen auseinandersetzt. Er unterscheidet zwei Phasen: „[D]ie erste, weibliche, in der sich der Übersetzer passiv dem virilen Prinzip des Autors hingibt, und die zweite, männliche, in der sich der Übersetzer mit seinem Autor in einem Liebeskampf duelliert“. Vgl. Anonym: Přednášky v Pražském lingvistickém kroužku od března do června 1937 [Vorträge im Prager linguistischen Kreis von März bis Juni 1937]. In: Slovo a slovesnost, 3 (1937) H. 4, 256. 37 Chloupek, Knížka o češtině, 71.



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wissen, was Sie zuerst tun sollen: entrüstet sein und dann die sprachliche Invention anbeten oder sich vor ihr zuerst verneigen und erst dann das Gesindel vermaledeien.38

Die Behauptung, dass auch Grammatik und sogar Orthografie unterhaltsam erklärt werden können, unterstützen viele Passagen aus Eisners Werk. Sein didaktisches Potenzial wird hier sehr deutlich. Gerne wird zum Beispiel folgender Satz zitiert, anhand dessen die Schreibung von i/y im l-Partizip, die mit der im Tschechischen nicht gerade leichten grammatischen Regel der Kongruenz zwischen Subjekt und Prädikat zusammenhängt, verdeutlicht wird: „Její Veličenstvo královna anglická a císařovna indická a řidič Pepa Žandourek vypadli z vozu.“ [Ihre Majestät die Königin von England und die Kaiserin von Indien und der Fahrer Pepa Žandourek fielen aus dem Wagen heraus.]39 Diese kleine Beispielsammlung deutet schon das angesprochene breite Interesse an Eisners Werken an. Ein lohnender Untersuchungsgegenstand sind auch die Passagen, in denen auf sein Werk Bezug genommen wird. Man kann beispielsweise lesen: „Schon lange vor der Welle des Interesses an der Männer- und Frauensprache schrieb Pavel Eisner […]“;40 „Schon P. Eisner schrieb übrigens darüber, dass die Sprachkultur im eigentlichen Sinne des Wortes der bloßen ‚sprachlichen Korrektheit‘ weit überlegen ist“;41 „Pavel Eisner sagt über die künstlerische Stilisierung Folgendes: […]“;42 „In Bayern notierte Pavel Eisner ein kurioses Schimpfwort […]“;43 „Es war wieder einmal Pavel Eisner, der feststellte, dass das patriarchale Modell der Sprache […]“ und „[…] in dem zitierten Buch von Eisner, […], findet sich eine Reihe von Beobachtungen, die die heutige Betrachtung der Genusanordnung in der Sprache antizipieren“;44 „Wie Eisner sagt, […] können wir mittels der Wörter ouřada, bejku, vejráš schimpfen, aber hochsprachlich würden wir wohl überhaupt nicht schimpfen können“;45 „Falls Sie überlegen, wer der Autor dieser hochaktuellen Äußerung ist, werden Sie wohl überrascht sein, denn es geht nicht um einen gegenwärtigen 38 Slovník nespisovné češtiny: Argot, slangy a obecná mluva od nejstarších dob po současnost [Wörterbuch des nichthochsprachlichen Tschechischen: Argot, Slangs und Allgemeinsprache von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart]. 2. Aufl., Praha 2006, 8. 39 Neben anderen Autoren zitiert diesen Satz z. B. Čmejrková. Dies.: Jazyk a ženy aneb Feministická lingvistika. In: Saturková, O češtině, 18–23, hier 20–21. Sie führt den Satz auch in einem ihrer weiteren Texte ein, doch hier mit einem kleinen Tippfehler; der Fahrer heißt nicht Žambourek, sondern Žandourek. Vgl. Čmejrková u. a., Čeština, 147, und Eisner, Chrám i tvrz, 382. 40 Čmejrková, Jazyk pro druhé pohlaví, 146. 41 Sgall/Hronek, Čeština bez příkras, 84. 42 Chloupek, Knížka o češtině, 17. 43 Loucká, Dech, duch a duše češtiny, 64. 44 Čmejrková, Jazyk a ženy, 20–21. 45 Sgall/Panevová, Jak psát a nepsat česky, 53. (Hervorhebung im Original.)

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Autor“;46 „Ich muss Pavel Eisner Recht geben“.47 In allen diesen Sätzen schwingt implizit eine Anerkennung des Werkes und teilweise auch eine Hochachtung vor Eisners Leistung mit. Treffend fasst dies Chloupek zusammen: „[K]ein Forscher steht im luftleeren Raum, er ist immer Teil der Kontinuität der Wissenschaft: ständig lernt er etwas Neues, ständig nimmt er etwas auf.“48 Von Eisner können wir immer noch viel lernen, insbesondere im Hinblick auf die Wertschätzung der eigenen Muttersprache und die Art und Weise, wie Laien für die Sprachwissenschaft und ihre Forschungsergebnisse begeistert werden können. Dies bewegt mich dazu, den Worten eines Rezensenten zu widersprechen, der sagt, dass Bücher von Pavel Eisner „nicht in die globalisierte Gegenwart […] hineingehören“.49

Resümee Die anhaltende Attraktivität von Pavel Eisners bohemistischem Werk unterstreichen nicht nur die Neuauflagen seiner Werke, die allesamt vergriffen sind (selbst in Antiquariaten hat man meistens bei der Suche nach seinen Publikationen kein Glück), sondern auch ihre rege Rezeption vor allem in der populärwissenschaftlichen Linguistik. Dabei ist jedoch anzumerken, dass nicht alle Werke, die es verdienen würden, tatsächlich rezipiert werden. Positiv zu werten ist dagegen die Tatsache, dass das Interesse an Eisners Werk seitens der jüngsten Generation von Sprachforschern wächst.50

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Svozilová, Jak dnes píšeme, 68. Čmejrková, Světla: Cizinec se učí česky. In: Dies. u. a., Čeština, 119–121, hier 120. Chloupek, Knížka o češtině, 9. Rezension zu Chrám i tvrz von Milan Vacík. http://octopus.juristic.cz/archiv/62365/oct014 (letzter Zugriff: 11. 1. 2008). Der zitierte Satz wurde aus dem Kontext der Rezension herausgerissen. Vacíks Gesamtbeurteilung ist durchaus positiv. 50 Vgl. etwa einige Beiträge auf den internationalen studentischen Konferenzen interFaces.

Michaela Kuklová

„Ohneland“. Peter Lotars und Pavel Eisners Weg ins (Schweizer) Exil Einleitung Im Nachwort Učiň ji vyvolenou mezi dcerami Slova1 (Mach’ sie zur Auserwählten unter den Töchtern des Wortes) zur Exilausgabe des Buches Chrám i tvrz (Dom und Festung) schildert Dagmar Eisnerová das Schicksal und Lebenswerk ihres Vaters mit Liebe und Anteilnahme. Sie erwähnt hier unter anderem das „äußere Wunder“, das im Zusammenhang mit der vermeintlichen Verwechslung ihres Vaters mit einem Bankangestellten geschehen sei, der nach England ausreiste, während ihr Vater in Prag verblieb.2 Dank dieser Verwechslung sei Paul Eisner zumindest am Anfang der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entkommen. Infolgedessen habe er sich zu Hause isoliert. Er sei in ein ‚inneres Exil‘3 gegangen und habe ununterbrochen an seinen Büchern über die tschechische Sprache gearbeitet. Eisnerová bezeichnete dies in ihrem Nachwort als „inneres Wunder“. Im vorliegenden Beitrag wird Eisners Schicksal dasjenige des Schauspielers und Schriftstellers Peter (Petr) Lotar gegenübergestellt.4 Dadurch soll auf eine alternative 1 Eisnerová, Dagmar: Učiň ji vyvolenou mezi dcerami Slova [Mach’ sie zur Auserwählten unter den Töchtern des Wortes]. In: Eisner, Pavel: Chrám i tvrz: Kniha o češtině [Dom und Festung: Ein Buch über das Tschechische]. Zürich 1974, 664–671. 2 Vgl. dazu die Darstellung von Daniel Řehák in diesem Band. 3 Der aus den 1930er Jahren stammende und umstrittene Begriff der ‚inneren Emigration‘ bezieht sich vor allem auf den literarischen Widerstand im Dritten Reich. Vgl. Schmollinger, Annette: „Intra muros et extra.“ Deutsche Literatur im Exil und in der Inneren Emigration. Ein exemplarischer Vergleich, Heidelberg 1999; Wögerer, Erika: Innere Emigration und historische Camouflage in Österreich. Frankfurt am Main 2004. Im Falle von Pavel Eisner wird damit die erzwungene Lebensform als Überlebensstrategie gemeint, die sich bei ihm durch eine produktive Arbeitsphase mit einer intensiven Zuwendung zur tschechischen Sprache äußerte. Vgl. hierzu noch einmal den Beitrag von Daniel Řehák. 4 Peter Lotar wurde bisher sowohl in der tschechischen als auch der schweizerischen Literatur-, Theater- bzw. Medienforschung nur partiell reflektiert. Vgl. z. B. Stern, Martin: Die letzte Insel deutscher Sprache. Zur Exildramatik in der Schweiz 1933-1945. In: Rosenberger, Nikole/ Staub, Norbert: Prekäre Freiheit. Zürich 2002, 109–134, insb. 117; Černý, František (Hg.): Dějiny českého divadla IV [Geschichte des tschechischen Theaters IV]. Praha 1983, v. a. 369, 478, 566–567; Měšťan, Antonín: Z cizích luhů. Překlady do češtiny v 60. letech [Aus fremden Auen. Übersetzungen ins Tschechische in den 60er Jahren]. In: Denemarková, Radka (Red.): „Zlatá šedesátá.“ Česká literatura, kultura a společnost v letech tání, kolotání a … zklamání. [„Die goldenen Sechziger.“ Die tschechische Literatur, Kultur und Gesellschaft in den Jahren des Tauwetters, der Gärung und … der Enttäuschung]. Praha 2000, 67–71, insb. 69. Diesem

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Lebensgeschichte zwischen den Kulturen verwiesen werden, die zwar an die gleiche kulturelle und geistige Tradition anknüpfte, diese jedoch weit jenseits der tschechoslowakischen Grenzen aufzubewahren und fortzuentwickeln vermochte. Es wird vor allem auf die Schaffensmöglichkeiten hingewiesen, die ihm das ‚äußere Exil‘ eröffnete beziehungsweise verschloss. Eine zusätzliche Perspektive bieten die verständlichen Bemühungen um eine ‚Rückkehr‘ aus dem Exil, die in Lotars Fall an der politischen Entwicklung in der Tschechoslowakei nach 1945 scheiterte. Diese stand allen Bestrebungen um eine Demokratisierung der Öffentlichkeit im Wege, aus der allmählich auch Eisners Werk verdrängt wurde. Deswegen soll dessen Rezeption in der Schweiz skizziert werden, die nach 1968 – als Eisners Tochter Dagmar die ČSSR verließ – zu seinem literarischen Exil wurde.

1. Von Prag nach Solothurn – Lotars Weg ins Schweizer Exil Peter Lotar gehörte einer jüngeren Generation als Pavel Eisner an. 1910 in Prag geboren, stammte er jedoch wie Eisner aus einer zweisprachigen Familie. Seine Ausbildung verlief zuerst auf Deutsch, dann wechselte er auf die tschechische Handelsakademie.5 Nach dem Abschluss der Schauspielschule am Berliner Deutschen Theater bei Max Piscator gastierte er an deutschsprachigen Theatern in Berlin, Breslau, Moravská Ostrava (Mährisch-Ostrau) und Liberec (Reichenberg), bis er ein Engagement an den Städtischen Bühnen in Prag erhielt.6 In seiner Jugend und während seiner Ausbildung zum Schauspieler nahm er sowohl am tschechisch- als auch deutschsprachigen Kultur- und Theaterleben der tschechoslowakischen Hauptstadt teil. Wegen seiner antifaschistischen Aktivitäten wurde er zu Beginn des Protektorats per Haftbefehl gesucht.7 Lotar konnte von seinen Freunden rechtzeitig gewarnt Forschungsdesiderat soll meine Dissertation abhelfen, die voraussichtlich im Sommer 2011 publiziert wird. 5 Schweizerisches Literaturarchiv (im Folgenden SLA). Nachlass Peter Lotar, Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Der Nachlass von Peter Lotar ist ungeordnet. 6 Nach dem Abschluss der Schauspielschule in Berlin bekam Lotar ein Engagement bei Victor Barnowsky und Erwin Piscator (1929/1930). Danach spielte er an den deutschen Bühnen in Breslau (1930/1931), Moravská Ostrava (Mährisch Ostrau, 1931/1932) und Liberec (Reichenberg, 1932/1933). 7 Lotar arbeitete beispielsweise mit dem tschechoslowakischen Rundfunksender Radiojournal zusammen. In einem Brief vom 24. September 1938 bot Lotar dem Tschechoslowakischen Rundfunk Radiojournal seine zweisprachigen Kompetenzen an. Am 26. 9. 1938 ersuchte das Radiojournal die Direktion der Prager Stadttheater um Lotars Freistellung von Theaterproben, um für den Rundfunk zu arbeiten. Vgl. SLA. Nachlass Peter Lotar. Korrespondenz. Lotar war außerdem ein aktives Mitglied des Klubs der tschechischen und deutschen



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werden, und im Mai 1939 gelang es ihm im letzten Augenblick, in die Schweiz zu fliehen. Von Basel aus reiste er nach Solothurn weiter, wo er ins dortige Ensemble des Städtebundtheaters Solothurn-Biel aufgenommen wurde, das überwiegend aus Flüchtlingen bestand.8 Lotar schaffte es hier, nicht nur wieder als Schauspieler tätig zu werden, sondern arbeitete auch als Dramaturg und Theaterregisseur. Zudem begann er eine Karriere als Dramatiker. Nicht immer konnten Emigranten ihre künstlerische Laufbahn so bruchlos fortsetzen. Einer der häufigsten Gründe war die Sprachbarriere. Lotar war sich dessen bewusst, dass die Bedingung für eine erfolgreiche kulturelle Integration der Erwerb der Landessprache ist, und so eignete er sich den Schweizer Dialekt rasch und vollständig an. Er konnte sich zwar künstlerisch in der Öffentlichkeit äußern, aber der Preis, den er bezahlen musste, war der Verlust seiner Nächsten und der Heimat. So schreibt er in seinem autobiografischen Roman Das Land, das ich dir zeige: Eines morgens, früh, packe ich meinen Rucksack, breche auf in die Berge. Ich steige und steige, so schnell ich kann, als wolle ich das Belastende hinter mir lassen. Aber die Gedanken steigen mit. Ich sehe nicht das großartige Bild, das der Aufstieg darbietet. Ich sehe nur die Menschen, die ich zu Hause zurückgelassen habe. Mein ganzer Antifaschismus, welch ein Hohn! Hatte irgend etwas irgendwem genützt?9

Unmittelbar nach der Befreiung der Tschechoslowakischen Republik kehrte Lotar nach Prag zurück. Von der dortigen Nachkriegssituation war er erschrocken. Bei seinen Besuchen wurde ihm bewusst, dass die sich abzeichnende politische Entwicklung in der tschechoslowakischen Gesellschaft ihn nicht nur um seine künstlerische Freiheit bringen würde.10 Bühnenangehörigen. Vgl. hierzu Becker-Cajthalmová, Anna: Die antifaschistische Front der tschechischen und deutschen Bühnenschaffenden in den dreißiger Jahren. In: Interscaena ’73, Acta scaenographica, 3 (1973) H. 4, 33–63; Schneider, Hansjörg: Exiltheater in der Tschechoslowakei 1933–1938. Berlin 1979, 76–88. 8 Blubacher, Thomas: „Sorge in Freude und Leid in Vergessen wandeln!“ Das Städtebundtheater Biel-Solothurn unter der Direktion von Leo Delsen 1927–1954. In: Gojan, Simone/ Krafka, Elke (Hg.): Theater Biel Solothurn – Théâtre Bienne Soleure. Geschichte und Geschichten des kleinsten Stadttheaters der Schweiz. Zürich 2004, 20–26. 9 Lotar, Peter: Das Land, das ich dir zeige. Zürich 1985, 37–38. 10 Lotar beschrieb seine Rückkehr von Prag in die Schweiz mit folgenden Worten: „In einem Möbelwagen kehre ich zurück. Auf der Schweizer Gesandtschaft, im Palais Schwarzenberg auf dem Hradschin, gab man mir die Chance: mitzufahren mit dem Übersiedlungsgut des Herrn Legationsrates. Ich liege auf einem Sofa im Kastenwagen. Es ist finster und muffig wie in einer Gruft? Das passt gut. Zum zweitenmal begrabe ich meine Heimat. Ich fühle: mein Bruder hat recht. Als Siegesdenkmal haben sie einen gewaltigen Sowjet-Tank aufgestellt, ein vorweltliches Ungeheuer. Ist das die Zukunft? Gefressen werden, wenn man unbotmässig ist,

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Auch seine deutschsprachige Freundin, die jüdischer Herkunft war, hätte Lotar kaum nach Prag mitnehmen können.11 Aus diesen Gründen entschloss er sich für einen dauerhaften Aufenthalt in der Schweiz und beantragte hier 1949 die Staatsbürgerschaft. Bei dieser Entscheidung wog außerdem das tragische Schicksal seiner Prager Familienangehörigen schwer, von denen niemand den Krieg überlebte: Seine Eltern begingen unmittelbar vor Kriegsausbruch Selbstmord, seine Schwester wurde in einem Konzentrationslager ermordet, und sein Bruder starb an den Folgen einer Krankheit, die er sich ebenfalls in einem Konzentrationslager zugezogen hatte. 1950 beendete Lotar seine Zusammenarbeit mit dem Theater und dem Reiss Verlag und begann eine Laufbahn als freier Autor. Die folgende Schaffensperiode war von zahlreichen biografischen Hörspielen geprägt. Erst infolge der kulturellen Liberalisierung Ende der 1960er Jahre konnte Lotar auf die tschechischen Bühnen zurückkehren, diesmal nicht mehr als Schauspieler, sondern als Dramatiker mit eigenem Werk. In seinen unveröffentlichten Erinnerungen Shledání (Wiedersehen) beschreibt Lotar seine Befürchtungen vor dem Besuch: In den vergangenen dreißig Jahren lebte die Heimat nichtsdestotrotz weiter in mir und die Vorstellung des Wiedersehens verließ mich nie. Mir war allerdings auch das erbarmungslose Gesetz bewusst, dass jedes Wiedersehen beherrscht. Wir alle – hier und dort – vom Schicksal Gekneteten sind anders geworden. Werden wir uns wieder erkennen? Die Gabe, die ich als Gast mitbringe, ist eine Frucht vom Baum des Lebens. Dieser wurde von stürmischen Winden hin- und hergerissen, und dennoch hielt er stand. Er wurde unter einem fremden Himmel reif. In finsteren Zeiten musste er seine Äste breit machen, um Licht abzubekommen. Der Baum ist jedoch nach wie vor im heimischen Boden verwurzelt. Wird seine Frucht zu Hause willkommen geheißen?12

Im April 1968 inszenierte das Brünner Theater U bratří Mrštíků Lotars politisches Schauspiel Der Tod des Präsidenten in der Übersetzung František Kafkas und Pavel Kohouts.13 Lotar war bei der tschechischen Uraufführung in Brno (Brünn) anwesend. Auf der Rückkehr besuchte er auch Prag, wobei er nicht ahnen konnte, dass es sein letzter Besuch sein würde. das ist die eine Möglichkeit. Die andere, an seinem Schweigen zu ersticken. Nein, ich gehe dorthin, wo man sagen darf, was man denkt.“ Ebd., 206–207. 11 Zum Leben von Lotars Frau Eva Lübbert vgl. auch Kuklová, Michaela: Skoro pohádkový příběh jedné tanečnice [Die fast märchenhafte Geschichte einer Tänzerin]. In: Hovory. Sborník nadačního fondu Přemysla Pittra a Olgy Fierzové [Gespräche. Sammelband des Stiftungsfonds von Přemysl Pitter und Olga Fierzová], 8 (2002), 60–69. 12 SLA. Nachlass Peter Lotar, Essay. Lotar, Peter: Shledání [Wiedersehen]. 13 Ebd. Typoskript. Lotar, Peter: Der Tod des Präsidenten. Das Theaterstück wurde im Jahre 1966 in Göttingen uraufgeführt.



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Lotar starb 1968 an den Folgen eines Unfalls und erlebte den politischen Umbruch in der Tschechoslowakei 1989 nicht mehr. Der tschechischen Leserschaft wurde er schließlich nach der „Samtenen Revolution“ bekannt, als der Verlag Primus Lotars ersten autobiografischen Roman Eine Krähe war mit mir und das Hörspiel Vom Sinn des Lebens in tschechischer Übersetzung veröffentlichte.14

2. Lotar als Vermittler der tschechischen Kultur Das kleine kulturelle Umfeld Solothurn-Biel, das nie über eine regionale Bedeutung hinauskam, ermöglichte Lotar sich im hiesigen Theaterbetrieb zu etablieren. Darüber hinaus begann er, in verschiedenen Bereichen die tschechische Kultur zu vermitteln.15 Die Schuldgefühle gegenüber jenen, die er zu Hause zurückgelassen hatte, und die Tatsache, dass er sein Leben durch die Flucht retten konnte, riefen in ihm die Verantwortung gegenüber den Traditionen und geistigen Werten hervor, die ihn geprägt hatten und denen er von nun an seine ganze Arbeitskraft und Energie widmete. Lotar vertrat die demokratischen und humanistischen Ideale der Ersten Tschechoslowakischen Republik, die für ihn vor allem der Präsident Tomáš G. Masaryk und der Schriftsteller Karel Čapek repräsentierten. Er wollte in ihrem Sinne tätig sein. Lotars vermittelnde Tätigkeit im Schweizer Exil reicht von Übersetzungen tschechischer Autoren und erfolgreichen Aufführungen tschechischer Dramatiker bis hin zu seinem thematisch vor allem mit der tschechischen Umgebung verbundenen künstlerischem Schaffen und der Veröffentlichung politischer Überlegungen zur Situation in der damaligen Tschechoslowakei. Seine Übersetzungen tschechischer Dichter dürfen ebenfalls nicht vergessen werden. In seinen journalistischen Beiträgen reagierte Lotar unmittelbar auf die politischen Umwälzungen, die die demokratische Entwicklung in der Tschechoslowakei bedrohten und definitiv beendeten. Er bemühte sich dies der schweizerischen Leserschaft zu erläutern und näher zu bringen. Im Jahre 1939 veröffentlichte er in der Schweizer Presse anonyme Kommentare zur aktuellen politischen Lage im „Protektorat Böhmen und Mähren“ sowie zum Schicksal der tschechischen Nation,16 14 Lotar, Petr: …domov můj [Eine Krähe war mit mir]. Praha 1993; ders.: O smyslu života [Vom Sinn des Lebens]. Praha 1995. 15 Vgl. Kuklová, Michaela: Kulturpolitische Aktivitäten Peter Lotars zugunsten der tschechischen Kultur in der Schweiz. In: Zborník prispevkov zo VII. Konferencie Společnosti učiteľov nemeckého jazyka a germanistov Slovenska [Tagungsband der Gesellschaft der Lehrer der deutschen Sprache und der Germanisten aus der Slowakei]. Banská Bystrica 2004, 302–306. 16 Peter Lotar publizierte 1939/1940 unter dem Pseudonym Jan Ohneland, mit den Initialen P. L. oder anonym zahlreiche vor allem informativ ausgerichtete Beiträge in Schweizer Zei-

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was von ihm sehr mutig war. Hätten die Schweizer Behörden herausgefunden, dass der Autor ein Emigrant war, der bei der Einreise seine jüdische Herkunft verborgen hatte, hätte ihm die Ausreise gedroht, da Flüchtlingen in der Schweiz jegliche politische Aktivität untersagt war.17 Als er sich im Jahre 1969 über die Ereignisse des Prager Frühlings in der Neuen Zürcher Zeitung äußerte, besaß Lotar bereits seit 20 Jahren die schweizerische Staatsbürgerschaft. In seinem Essay Geist macht Geschichte stellte er unter anderem die These auf, dass das aktive Auftreten von tschechoslowakischen Schriftstellern, Philosophen, Dichtern und Studenten während des Prager Frühlings an den tschechischen Humanismus, den er bis auf Jan Hus und Petr Chelčický zurückführte, unwillkürlich angeknüpft und diesen gekrönt habe.18 Lotar übernahm somit unkritisch Masaryks Auffassung von der Kontinuität der tschechischen Geschichte.19 Eine solche Sicht auf die nationalen Traditionen war allerdings für die ganze Exilliteratur bezeichnend. Zu seinen wichtigsten literarischen und übersetzerischen Unternehmungen gehörte damals die 1969 im Kandelaber Verlag herausgegebene Anthologie Prager Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter. Lotar veröffentlichte hier 38 Gedichte von 29 Dichtern, die zwischen März und August 1968 in den Literární listy (Literarische Blätter) erschienen waren und die er selbst übersetzt hatte. Eine Auswahl war bereits ein Jahr zuvor in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.20 Es waren Autoren aller Generationen vertreten, die die politische Realität in der Tschechoslowakei aus verschiedenen Lebensperspektiven und unter diversen sozialen Bedingungen reflektieren. Diese Anthologie wird von dem bereits erwähnten Essay Geist macht Geschichte eingeleitet und am Ende des Buches befinden sich die Kurzbiografien aller Dichter, die von Lotars Freund Antonín Bartušek, einem Dichter, Museologen und Übersetzer verfasst wurden. Diese Zusammenarbeit war ein Ergebnis von Lo-

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tungen, wie zum Beispiel Die Nation, Solothurner Zeitung und National–Zeitung. Vgl. Kuklová, Kulturpolitische Aktivitäten Peter Lotars, 302–306. Vgl. dazu Bankowski, Monika u. a. (Hg.): Asyl und Aufenthalt. Die Schweiz als Zuflucht und Wirkungsstätte von Slaven im 19. und 20. Jahrhundert. Basel/Frankfurt am Main 1994; Behring, Eva/Kliems, Alfrun/Trepte, Hans-Christian (Hg.): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteraturen 1945–1989. Stuttgart 2004, 97–100; Měšťan, Antonín: Tschechische Exilschriftsteller in der Schweiz. In: Feuer, das ewig brennt. Frankfurt am Main 2001, 27–33. Lotar, Peter: Geist macht Geschichte. In: Ders.: Prager Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter. Bern 1969, 5–11. Zum ethischen Vermächtnis von Petr Chelčický bekannte sich auch Pavel Eisner durch seine Übersetzungen in der Prager Presse. Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Wögerbauer in diesem Band. Ders.: Prager Frühling und Herbst im Zeugnis der Dichter. 1. Frühling. In: Neue Zürcher Zeitung, 1. 9. 1968, 53; ders.: Prager Frühling, 2. Herbst. In: Ebd., 8. 9. 1968, 53.



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tars intensiven Kontakten, die er zu tschechischen Intellektuellen seit seiner Flucht in die Schweiz pflegte.21 In den Zeiten, die sich durch größere politische Freiheit auszeichneten, engagierte sich Lotar bei den Verhandlungen um Auftritte tschechischer Künstler in der Schweiz. Umgekehrt war er bemüht, schweizerische Dramatiker in der Tschechoslowakei bekannt zu machen.22 Auf jeden Fall kann Lotars Produktion am Städtebundtheater Solothurn-Biel in der Kriegszeit als erfolgreich bezeichnet werden. Einen Teil davon nahmen seine Inszenierungen von Theaterstücken tschechischer Autoren wie František Langer, Olga Scheinpflugová und Karel Čapek ein, die von der Presse positiv aufgenommen wurden. So schrieb zum Beispiel die Schweizer Regionalzeitung Oltner Tagblatt 1943 über Lotars Aufführung Matka (Die Mutter) von Karel Čapek: Der Regisseur des Stückes – Peter Lothar – hat in einer intelligenten Rede vor dem Vorhang den Kontakt des Zuhörers zum Dichter und zum Stoff in vorzüglicher Weise hergestellt. Beide, der szenische Interpret und der Dichter, zeigten das hochstehende Niveau und die Künstlerschaft der Tschechen. In diesem Volk lebt nicht nur eine Leidenschaft zur Kunst, sondern auch eine Berufung. In der Musik sowohl, wie im Drama, als ausübende Künstler und als starke Menschen stehen sie in der Spitzengruppe der europäischen Kunst. […] Peter Lothar ist also ein Mensch, der dem Willen Karl Capeks sehr nahe steht und deshalb ist seine Regieführung eine ausgezeichnete. Er verzichtet auf Regieideen im landläufigen Sinn und wird in überzeugender Weise Diener am Werk.23

Ein weiteres Stück, das Lotar als ein tschechisches betrachtete, war sein 1943 verfasstes Schauspiel Die Wahrheit siegt, das auch unter dem Titel Jesus, nicht Caesar inszeniert wurde.24 Es handelt von der Besetzung der Tschechoslowakei im März 21 Lotars Briefwechsel mit tschechischen Autoren, wie zum Beispiel František Langer, Ota Ornest, Ludvík Kundera und Pavel Kohout, stellt einen wesentlichen Teil seiner gesamten Korrespondenz dar. SLA. Nachlass Peter Lotar. Korrespondenz. 22 Lotar trat als Dramaturg und künstlerischer Leiter des Theaterverlags Reiss (1946–1949) mit tschechischen Theatern wie z. B. dem Národní divadlo [Nationaltheater], dem Divadlo E. F. Buriana [Theater E. F. Burians] oder dem Divadlo 5. května [Theater des 5. Mai] in Kontakt. Lotar setzte sich auch für andere Exildramatiker ein. Z. B. Fritz Hochwälders Theaterstücke vermittelte er nicht nur den schweizerischen Bühnen, sondern auch tschechischen. Das Heilige Experiment inszenierte Lotar im März 1943 am Städtebundtheater Solothurn-Biel, das Theater Divadlo 5. května in Prag führte am 1. 2. 1946 das Stück Hotel du Commerce unter dem tschechischen Titel Tlustý anděl z Rouenu auf. SLA. Nachlass Peter Lotar. Korrespondenz. Vgl. dazu Kuklová, Michaela: Lotars Theatertätigkeit auf tschechischen und schweizerischen Bühnen. Voraussichtlich Mai 2011. 23 SLA. Nachlass Peter Lotar. N. N.: Die Mutter. 2. Gastspiel des Städtebundtheaters SolothurnBiel. In: Oltner Tagblatt, 20. 11. 1943. 24 Ebd. Typoskript. Lotar, Peter: Die Wahrheit siegt. Ein Theaterstück; ders.: Die Wahrheit siegt. Olten 1945. Uraufführung in London am 11. 11. 1943 auf der Kleinkunstbühne Blue Danube Club. Den Anteil an der Vermittlung des Stückes hatte Berta Lübbert, Mutter von

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1939, die Lotar am Beispiel einer Familiengeschichte erzählt. Das Stück war ungeachtet seiner literarischen Qualität ein aktuell-politisches – und das zu einer Zeit, als auf den Schweizer Bühnen historische Stoffe überwogen. Auf Grund seiner politischen Dimension wurde daher das Stück auch nicht am Städtebundtheater Solothurn-Biel während des Zweiten Weltkrieges gezeigt, sondern 1943 in London uraufgeführt. Die Schweizer Premiere fand erst im März 1945 in Solothurn-Biel statt. Der Titel Die Wahrheit siegt deutet bereits an, dass sich Lotar wie viele andere tschechoslowakische Emigranten in der Schweiz – etwa Jan Milíč Lochmann oder Lotars bester Freund Přemysl Pitter, der Begründer des Hus-Chores in Zürich – zum politischen Erbe Masaryks bekannten. Auch Lotar wurde von der Tradition der tschechischen Reformation literarisch inspiriert. Lotar dramatisierte ebenfalls Stoffe, die in der tschechischen Kultur und Geschichte verankert waren. Er bearbeitete Čapeks Roman Der Krieg mit den Molchen und seine Geschichte Příběh starého kriminálníka (Geschichte eines alten Kriminellen) zu einem Hörspiel um.25 In seinem Theaterstück Miguel oder Stärker als der Tod adaptierte er den Roman Don Juan von Josef Toman.26 In den 1950er Jahren konzentrierte sich Lotar auf biografische Hörspiele, in denen er wichtige humanistische und demokratische Schriftsteller, Philosophen und Staatsmänner porträtierte. So überrascht es nicht, dass er dem Leben und Werk von T. G. Masaryk ein zweiteiliges Hörspiel widmete. Lotar schätzte wie Pavel Eisner auch die Lehre des Arztes und Philosophen Albert Schweitzer27 und teilte dessen Ehrfurcht gegenüber Lotars Freundin und späterer Ehefrau Eva Lübbert, die aus Deutschland nach England emigrierte. Vgl. dazu Kuklová, Skoro pohádkový příběh. – Zur Situation an den Schweizer Bühnen in der Kriegszeit vgl. Amstutz, Hans u. a. (Hg.): Schweizertheater: Drama und Bühne der Deutschschweiz bis Frisch und Dürrenmatt, 1930–1950. Zürich 2000; Blubacher, „Sorge in Freude und Leid in Vergessen wandeln!“, 20–26. 25 SLA. Nachlass Peter Lotar, Typoskript. Lotar, Peter: Der Krieg mit den Molchen. Das Stück wurde 1958 vom NWDR und dem Südwestfunk Baden–Baden gesendet. – Ebd. Lotar, Peter: Marco. Dieses Hörspiel wurde 1944 von den Sendern Radio Bern, Bayerischer Rundfunk, WDR Köln, Radio Saarbrücken, Südwestfunk Baden–Baden ausgestrahlt. Siehe auch SLA. Nachlass Peter Lotar. Korrespondenz mit Radiosendern. 26 Ebd., Typoskript. Lotar, Peter: Stärker als der Tod. 27 SLA. Nachlass Peter Lotar, Typoskript/Hörspiel. Lotar, Peter: Vom Sinn des Lebens; ders.: Vom Sinn des Lebens. Ein Gespräch. Aus Werk und Leben Albert Schweitzers. Bern 1953. Das Hörspiel wurde 1950 und 1955 zu Schweitzers Jubiläum von mehreren Sendern ausgestrahlt. Den Stoff hat Lotar zudem für Laientheateraufführungen und Vortragsreihen bearbeitet. Lotars Auseinandersetzung mit Schweitzer fand eine große Resonanz und sein Verdienst um dessen Lehre wurde im Allgemeinen gewürdigt. Nur selten wurde Lotar die belehrende Tendenz seiner biografischen Hörspiele vorgeworfen, die eine echte Auseinandersetzung zum Beispiel in Form eines Streitgesprächs verhindert habe. Vgl. dazu SLA. Nachlass Peter Lotar. N. N.: Gespräch mit Albert Schweitzer. Ein interessanter Versuch. In: Duisburger GeneralAnzeiger, 4. 2. 1955.



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dem Leben. Gerade das Medium Hörspiel ermöglichte ihm, ein breites Publikum zu erreichen.28

3. Eisner im Schweizer Exil Peter Lotar lernte den vielseitigen Kulturvermittler Pavel Eisner erst in den 1970er Jahren kennen, als ein Teil seines Werks posthum in die Schweiz ins „symbolische Exil“ ging. Die Beiträge in diesem Sammelband rekonstruieren das Leben und Werk von Pavel Eisner bis zum Jahre 1948 aufgrund intensiven Quellenstudiums, was aber für Zeit nach 1948 nicht geleistet wurde.29 Im Nachwort Učiň ji vyvolenou mezi dcerami Slova äußerte sich Dagmar Eisnerová nicht nur zum Schicksal ihres Vaters, sondern fasste auch die gesellschaftliche Stimmung in dieser Zeit zusammen: In diesem Kapitel [gemeint ist das Kapitel über Rübezahls Garten aus dem Buch ‚Dom und Festung‘, M. K.] erinnert sich der Autor an die Zeiten, als er als Student und beginnender Übersetzer Nachhilfe gegeben hat. Als er das Kapitel schrieb, ahnte er nicht, dass sich der Kreis seines Schicksals schließen wird. Immerhin konnte er noch übersetzen. Mit großen Schwierigkeiten, aber dennoch. Das reichte jedoch nicht. Und der ursprüngliche Autor Paul Eisner wurde totgeschwiegen, so gründlich, dass es nach seinem Tod nicht gelang, auch nur eine einzige seiner größeren Arbeiten durchzusetzen. Nicht einmal eine bescheidene Auswahl. Na ja, das ist jetzt das übliche Schicksal.30

Eisnerová war 1968 in die Schweiz emigriert, wo sie in den 1970er Jahren die Herausgabe von Eisners Werk im Exilverlag Konfrontace (Konfrontation) veranlasste,31 die von dem Verlagsgründer und Verfasser von Sachbüchern Petr Pašek betreut 28 Lotars Hörspiele wurden sowohl von deutschsprachigen Schweizer Sendern (Radio Basel, Radio Bern) als auch von deutschen Sendern (NWDR Köln, Hessischer Rundfunk) ausgestrahlt. Siehe ebd. Korrespondenz mit den Radiosendern. 29 Pavel Eisner wurde in folgenden Publikationen erwähnt: Nezdařil, Ladislav: Dějiny české poesie v německých překladech [Geschichte der tschechischen Dichtung in deutschen Übersetzungen]. Manuskript der Diplomarbeit, Nationalbibliothek der Tschechischen Republik, Praha 1952 [Der Autor dankt Petr Bezruč, Hugo Siebenschein, Bronislav Wellek, Pavel Eisner, A. St. Mágr.]; Kuba, Ludvík: Křížem krážem slovanským světem. [Kreuz und quer durch die slawische Welt]. Praha 1956. Das Vorwort zu diesem Buch verfasste Pavel Eisner. Siehe ebd., 7–23. Für diesen Hinweis möchte ich mich bei Václav Petrbok und Michael Wögerbauer bedanken. 30 Eisnerová, Učiň, 670–671. 31 Der Verlag Konfrontation brachte folgende Werke von Eisner heraus: Chrám i tvrz. I./II. Teil, September 1974.; Čeština poklepem i poslechem [Das Tschechische abgeklopft und abgehört]. Januar 1976; Sonety kněžně [Sonette an die Fürstin]. Dezember 1976; Bohyně čeká: Traktát o češtině [Die Göttin wartet: Ein Traktat über das Tschechische]. Oktober 1977; Übersetzung von Eisner, Pavel: Pan Kaplan má třídu rád. [Herr Kaplan mag die Klasse]. De-

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wurde. Der Schriftsteller und Publizist Jaroslav Strnad, der sich ebenfalls an der Edition beteiligte, merkte in seinem Artikel Kníže češtiny (Der Fürst des Tschechischen) in der Exilzeitschrift Zpravodaj. Časopis Čechů a Slováků ve Švýcarsku (Der Korrespondent. Die Zeitschrift der Tschechen und Slowaken in der Schweiz) zu dieser Edition an: Der Verlag Konfrontace gebührte allein dafür einen Ehrenplatz in der Literatur unseres Exils. Ich war überrascht. Die Bände fanden einen regen Absatz. Das hätte ich nicht erwartet. Dies war für mich jedoch ein Beleg, dass Eisner noch nach Jahren eine außergewöhnliche Stellung in der tschechischen Literatur einnimmt.32

Die Herausgabe von Eisners Werk bedeutete für die tschechischen Emigranten in der Schweiz, deren Zahl nach 1968 in die Zehntausenden ging, ein wichtiges kulturelles Ereignis.33 Der Erfolg lag nicht allein daran, dass die Bände auf Tschechisch verfasst waren, sondern dass sie die tschechische Sprache selbst thematisierten. Dies kommt auch in dem Ankündigungstext auf der Umschlagsseite des Buches Chrám i tvrz – der „Bibel der tschechischen Sprache“, wie sie Jaroslav Strnad nannte – deutlich zum Ausdruck. In diesem Text, der vermutlich von Dagmar Eisnerová stammt, heißt es: Für uns im Exil hat dieses Werk eine besondere Bedeutung: Wir wollen uns Teil der Flüchtigen bewahren und für unsere Gedanken Verkörperungen in Worten suchen, deren Wahrheit die Fülle des Geistes und die verkörperte Gestalt ausmacht. Damit von ihr, der Flüchtigen, gelte: Auf dass sie eine reiche und rüstige Sprache sei, in Ketten tanze, und nie lieblicher als in Ketten!34

Ähnliche Worte wählte Petr Lotar in seiner Rezension des Buches in der Neuen Zürcher Zeitung vom Mai 1975: Es ist eine wissenschaftliche Großtat in unwissenschaftlicher Gestalt, Roman, Beschwörung, dichterischer Hymnus, durchdrungen von Humor, spannend und lesbar für jederzember 1979. – Zur Geschichte und Orientierung des Verlags vgl. Zach, Aleš: Kniha a český exil 1949–1990 [Das Buch und das tschechische Exil]. Praha 1995, 72–81. 32 Strnad, Jaroslav: Kníže češtiny [Der Fürst des Tschechischen]. In: Zpravodaj, 22 (1989) H. 3, 32. Strnad war seit den 1970 Jahren Chefredakteur des Zpravodaj und zugleich Lektor im Verlag Konfrontation. 33 Aleš Zach, ein Kenner des tschechischen Verlagswesens, charakterisiert in seinem Buch das Profil des Verlags Konfontation mit diesen Worten: „Die Produktion des Verlags brachte vor allem während der Zusammenarbeit mit Strnad ein breites Spektrum tschechischer Dichtund Erzählkunst aus dem literarischen Exil nach dem Februar 1948 und dem August 1968 heraus. Unter den zahlreichen Reprints älterer Auflagen ragen die Arbeiten von P. Eisner hervor, dessen Werk ‚Dom und Festung‘ gleichzeitig zu den erfolgreichsten Titeln gehörte.“ Zach, Kniha a český exil, 73. 34 Eisner, Chrám a tvrz, Schutzeinband, Klappentext.



„Ohneland“. Peter Lotars und Pavel Eisners Weg ins (Schweizer) Exil

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mann. Eisner erforscht das Material der Sprache, ihre verborgendsten Geheimnisse, die unbegrenzten Möglichkeiten der Lautverschiebung, ihre sich kontrapunktisch durchdringenden prosodischen Elemente, die aus tschechischen Texten musikalische Kunstwerke werden lassen. Er deutet dem Leser das Universum dichterischer Bilder, führt ihn auf den Friedhof der vergessenen Wörter, dann zu den Wortkörpern, die auf unglaublichste Geist und Seele wandelten zu neuer Bedeutung.35

Lotar hob insbesondere die Umstände hervor, unter denen Eisners Text entstanden war sowie seinen Mut und Entschlossenheit, die existenzielle Krise zu bewältigen. Diese Überlegungen spiegelten offensichtlich seine eigenen Erfahrungen wider. Die tschechische Neuauflage von Eisners „Sprach-Bibel“ in der Schweiz hatte für Lotar, der 1986 im Schweizer Ennetbaden verstarb, nicht nur eine kulturelle, sondern zugleich eine persönliche Bedeutung, da er sein ganzes Leben lang mit geradezu übertriebener Vorsicht darauf achtete, dass seine Kenntnisse der tschechischen Sprache nicht durch den langjährigen Aufenthalt im Ausland Schaden nähmen.

Resümee Lotars vielfältiges Werk ist in jeder Hinsicht durch die vermittelnden Aktivitäten geprägt: Sie beziehen sich einerseits auf die Vermittlung der tschechischen Kultur in der deutschsprachigen Schweiz. Andererseits sah er sein zweites Hauptanliegen in der Verbreitung humanistischer und demokratischer Traditionen, die aber abgesehen von den geografischen Grenzen und nationalistischen Bestimmungen auf christlichen Werten beruhten. Lotar reflektierte sich selber auch in seiner schriftstellerischen Praxis als Vermittler.36 Diese Aufgabe, die er sich selber stellte, kann man auf seine Exilerfahrung zurückführen und ihr eine identitätsstiftende Funktion zuschreiben. Lotar hätte sich einen regen Kulturaustausch zwischen der Schweiz und der Tschechoslowakei gewünscht, aber die politischen Umstände hinderten ihn nicht nur daran, aus dem Exil in seine Heimat zurückzukehren; sie schränkten auch den Spielraum für die Umsetzung seiner Ideen und seiner Tätigkeit als Vermittler zwischen den Kulturen ein. 35 Lotar, Peter: Dom und Festung. Zur Neuausgabe von Pavel Eisners Werk. In: Neue Zürcher Zeitung, 13. 5. 1975, Nr. 108, 33. 36 So merkte Lotar in einem Brief an den Philosophen und Gründer des katholischen Vereins Opus Bonum Dr. Vladimír Neuwirth vom 22. 4. 1976 an: „Es geht darum, dass ich, der die Heimat schon vor bald vier Jahrzehnten als Antifaschist verlassen habe, meine eigentliche Aufgabe nicht mehr im engen Rahmen des Exils, sondern in der Vermittlung tschechischer kultureller Werte im Umkreis der deutschen Sprache erblickte.“ SLA. Nachlass Peter Lotar. Korrespondenz.

Kurt Krolop

Paul Eisner und die deutsche Literatur in der Tschechoslowakei∗ Am 8. Juni 1918, also wenige Monate vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, schrieb Pavel Eisner oder vielmehr damals noch Paul Eisner in einem Brief an Rudolf Pannwitz (1881–1969) dem nachmaligen Verfasser der viel gerühmten und viel diskutierten Schrift Der Geist der Tschechen:1 Erlauben Sie mir eine ‚tatsächliche Feststellung’. Sie halten mich für einen Tschechen. Ich bin es nicht. Nach dem Gesetz der stärkeren geistigen Attraktion gehöre ich den Deutschen. Instinkt und Gewissen ziehen mich zu den Slaven. So bin ich der Zerrissenste von allen. Daher meine peinigende Ungeduld, dass etwas geschehen möge, damit dieses Grauen [gemeint ist das Kriegsgrauen, K. K.] ein Ende nimmt. Ich vermag von mir zu abstrahieren und sehe wohl ein, dass das Sein der Völker von einem anderen Ethos regiert wird, als das der Individuen. Ich fühle aber ganz unmittelbar und heiss, dass das deutsche Volk von einer geistigen Pest heimgesucht wird, wie es in Europa noch keine gegeben hat. Und ich glaube an den unvergänglichen sittlichen Wert des protestierenden Gewissens. In concreto: hätte Deutschland zehn Geister ihres Ranges und ihres Willens, die ganze österreichische Slavenwelt wäre von einem anderen Geist erfüllt. Was die geistigen Tschechen mit immer neuem schmerzlichem Staunen hervorheben, ist nicht das Gebelfer der Politiker, der Presse, der so genannten Pressvertreter und ähnlichen Ungeziefers, sondern die schmähliche Konnivenz der Geister, welche die führenden sein müssten.2

Paul Eisner war am 16. Januar 1889 in Prag als Sohn des Handelsagenten Moritz Eisner und seiner Frau Klara geboren worden.3 Als er kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges öffentlich aufgefordert wurde, seinen nichttschechischen, deutsch-jüdisch klingenden Namen zu verändern, reagierte er:

∗ Eine erste Fassung des hier leicht veränderten Texts wurde abgedruckt in: Uherková, Daniela (ed.): Kafka a Čechy/Kafka und Böhmen. Sborník příspěvků z mezinárodní literárněvědné konference uspořádané Společností Franze Kafky v Praze [Sammelband von Beiträgen einer literaturwissenschatlichen Konferenz, die von der Franz-Kafka-Gesellschaft veranstaltet wurde]. Praha 2007. 1 Pannwitz, Rudolf: Der Geist der Tschechen. Wien 1919 (= Zeit- und Streitschriften des „Friede“, Bd. 3). 2 Thirouin, Marie-Odile (Hg.): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/Otokar Fischer/Paul Eisner. Stuttgart 2002, 281–282. 3 Blumesberger, Susanne (Hg.): Handbuch Österreichische Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert. Bd.1, München 2002, 270.

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Ich antworte, dass ich das nicht tue, es sei denn, dass ich von Amts wegen dazu gezwungen würde, und wenn das geschähe, würde es mir sehr leid tun. Warum das? Aus irgendeiner Vernarrtheit in den Namen Pavel Eisner? Das wahrlich nicht. Warum also? Ich könnte mein Nein! auf mannigfache Weise begründen, etwa durch die Erklärung, dass ich mich nicht meines Vaters schäme, des proletarischen Handelsagenten, der in den Sielen starb, wie ich, so hoffe ich, auch sterben werde.4

Ilja Ehrenburg nenne sich noch immer Ilja Ehrenburg, und nicht Ilja Čestigradov, Leon Blum noch immer Blum und nicht Lafleur, der Gesandte der Vereinigten Staaten in der Tschechoslowakei nenne sich noch immer Steinhardt und nicht Stonehard, Eisenhower noch immer Eisenhower, und nicht Ironcutter; infolgedessen sehe er auch keine Veranlassung anstatt Eisner Železny zu heißen.5 Seinen ursprünglichen Berufswunsch, Musiker beziehungsweise Dirigent zu werden, konnte er sich wegen eines früh auftretenden schweren Gehörleidens nicht erfüllen. Die Erinnerung daran scheint bei der Dedikation der im Bibliografischen Institut unter Meyers Klassikerausgaben erschienenen Anthologie Volkslieder der Slawen mitgewirkt zu haben. Sie lautet: „Gerhard von Keußler, dem deutschen Meister zu eigen.“ Gerhard von Keußler (1874–1949) war ein in Lettland geborener Baltendeutscher, der ursprünglich Naturwissenschaften studiert hatte, bevor er am Leipziger Konservatorium und an der Leipziger Universität Musikwissenschaft studierte, als Komponist und Leiter des Deutschen Männergesangsvereins nach Prag ging und 1912 unter anderem an der Prager Erstaufführung der 8. Symphonie von Gustav Mahler mitwirkte, nachdem die – wie aus den Memoiren von Heinrich Teweles hervorgeht – die Prager „arischen Gesangsvereine“ eine Zusammenarbeit abgelehnt hatten, da sowohl Mahler als auch Teweles Juden wären. Im Vorwort zu dieser Sammlung Volkslieder der Slawen ist mit besonderer Klarheit formuliert, was die geistige Motivierung dieser Sammlung gewesen ist: Nicht als slawische Ruhmeshalle wurde dieser Band zusammengetragen. Suchen wir uns in dem fremden Blut, um das eigene besser zu finden! Lernen wir, zurückgekehrt von der Wanderung durch die seelische Welt unzähliger Millionen und Abermillionen europäischer Menschen, die mit diesen Liedern geboren wurden, gelebt haben und hingegangen sind, das eigene herrliche Volkslied besser zu kennen! Eine solche bessere Kenntnis aber ist gleichbedeutend mit dem Bewußtwerden einer Blutgemeinschaft, die umfassender ist als die nationale. So möge dieses Buch dazu beitragen, Ost und West des Erdteils einander nahezubringen, das gemeinsame Vaterland zu erkennen und zu schaffen.6

4 Faber: Byl jsem [Ich war]. In: Kritický měsíčník, 6 (1945) H. 3/5, 140. 5 Ebd. 6 Eisner, Paul: Vorwort. In: Volkslieder der Slawen. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Paul Eisner. Leipzig 1927, 5–9, hier 8–9.



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Ein wahrhaft europäisches Programm, in dessen Sinne auch die Widmung an einen europäisch gesinnten deutschen Meister zu verstehen ist. Nach der Gymnasialzeit war er ab 1914 hauptberuflich in der Böhmischen Handels- und Gewerbekammer (Česká obchodní a živnostenská komora) tätig, zuletzt bis zu seiner Zwangspensionierung aus rassischen Gründen 1939 als Leiter der Übersetzungsabteilung. Daneben studierte er ebenfalls ab 1914 an der Philosophischen Fakultät der deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag Slawistik, Germanistik und Romanistik und legte 1918 seine Doktordissertation über das germanoslawische Thema Lessing, Goethe und Schiller in tschechischen Übersetzungen vor. Sein Betreuer war der Slawist Trautmann, der sprachwissenschaftliche Altgermanist Primus Lessiak und der Bohemist Franz Spina, von 1926 bis 1938 als Abgeordneter des Bundes der Landwirte Mitglied aktivistischer Regierungen der Tschechoslowakischen Republik. Franz Spina war es auch, der am 3. Juni 1919 bei Paul Eisners Heirat mit seiner deutschböhmischen Braut Margarete Wagner aus Liberec (Reichenberg) in der evangelischen Kirche zu Prag als Trauzeuge fungierte.7 Es sollte nicht vergessen werden, dass sie nach der im damaligen Protektorat einsetzenden Judenverfolgung sich als nichtjüdische Frau nicht von ihrem Mann trennte und ihm so das Überleben ermöglichte. Nach Gründung des deutsch geschriebenen tschechoslowakischen Regierungsblatts Prager Presse war Eisner als Mitarbeiter von deren Kulturteil auch ein externes Redaktionsmitglied dieser Zeitung. Noch während seines Studiums war er als Kulturvermittler tätig, zunächst und bis um 1930 fast ausschließlich durch seine Übersetzungen tschechischer Dichtung ins Deutsche, so bereits durch seinen bedeutenden Anteil an der berühmten Anthologie Jüngste tschechische Lyrik (1916) der Zeitschrift Die Aktion, sodann durch seinen Beitrag für die von Hugo von Hofmannsthal herausgegebene Sammlung Österreichische Bibliothek: Tschechische Anthologie: Vrchlický, Sova, Březina (1917), sowie seine Editionen Slowakische Volkslieder (1920), Slowakische Anthologie (1920), Volkslieder der Slawen (1926) und schließlich das umfassende kulturgeschichtliche Sammelwerk Die Tschechen. Eine Anthologie aus fünf Jahrhunderten (1928) mit der Widmung „Hugo von Hofmannsthal für Teilnahme und Förderung dankbar zu eigen“. Um 1930 verschob sich der Schwerpunkt der Mittlertätigkeit Eisners von Übersetzungen tschechischer Texte ins Deutsche zunehmend auf die Übertragung deutscher Literaturwerke ins Tschechische. Nicht zufällig steht an ihrem Anfang die Übersetzung von zwei Dramen für die Goetheausgabe von Otokar Fischer, die auch zu dem Vortragsrepertoire des Theaters der Dichtung von Karl Kraus gehörten, Iphigenie auf Tauris und Pandora. Eingeleitet wurde diese Wendung 1929 durch 7 Vgl. Thirouin, Briefwechsel, 307, Fußnote 174. Vgl. zudem Eisner, Paul: Der Pionier einer neuen deutschen Slawistik. In: Scholz, Hugo (Hg.): Franz Spina als Politiker, Wissenschaftler und Mensch. Braunau 1928, 27–29.

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einen Vortrag, den Paul Eisner im Anschluss an die Veröffentlichung des Buches Válka Čechů s Němci (Der Kampf der Tschechen mit den Deutschen, 1928) von Emanuel Rádl in der gleichnamigen Vortragsreihe unter dem Titel Závislost české a německé kultury (Die Abhängigkeit der tschechischen und deutschen Kultur) im Masaryk-Institut hielt und die auch in deutscher Übersetzung in der von Franz Spina mit herausgegebenen Slavischen Rundschau erschienen ist. Die kritischen Haupteinwände der Ausführungen Eisners richten sich gegen das wechselseitige Ignorieren: Die tschechische kulturelle Germanophobie wird langsam ein europäisches Unikum… Es gibt auch Ausnahmen, aber sie sind für den Gesamtzustand nicht entscheidend, der im großen und ganzen pathologisch ist.8

Womöglich noch stärker sind die Einwände Eisners nach der deutschen Seite hin: „Diejenigen, welche in der so genannten kulturellen Öffentlichkeit entscheiden, strotzen von Indolenz und Unterschätzung alles Tschechischen.“9 Die von Eisner auf tschechischer Seite gerügte „kulturelle Germanophobie“ galt nach seiner Auffassung vornehmlich für die deutschsprachige Literatur aus den böhmischen Ländern: nicht nur für Rainer Maria Rilke, dessen Weltruf sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre schnell verbreitet hatte, sondern auch für Franz Kafka, vor allem für die mangelnde Kenntnisnahme im Bereich der tschechischen Universitätsgermanistik. Jarmila Mourková weiß in ihren Ausführungen über den Briefwechsel Paul Eisners mit Otokar Fischer davon zu berichten, wie Eisner spätestens seit 1927, also nach Erscheinen der Kafkaschen Romanfragmente, Otokar Fischer offenbar vergeblich zur Kafka-Lektüre aufforderte. In einem undatierten Brief Eisners an Fischer heißt es, vielleicht unter Anspielung auf die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1929 an Thomas Mann, dass Franz Kafka ein Riese sei, der zehn Nobelpreise verdiene.10 Erst kurz vor seinem Tode, wie Josef Čermák

8 Eisner, Paul: Was können Deutsche und Tschechen kulturell einander in der Tschechoslowakei bieten? In: Slavische Rundschau, 1 (1929) H. 4, 334. Tschechische Fassung: Eisner, Pavel: Závislost české a německé kultury. Přednáška proslovena v cyklu přednášek ‚Válka Čechů s Němci?‘ Masarykova lidovýchovného ústavu v Praze [Die Abhängigkeit der tschechischen und deutschen Kultur. Vortrag im Rahmen des Zyklus ‚Krieg der Tschechen gegen Deutsche?‘ des Masaryk-Volksbildungsinstituts in Prag]. Praha o. J. [wahrsch. 1929]. 9 Eisner, Was können Deutsche, 335. 10 Vgl. Mourková, Jarmila: Od Paula Eisnera k Pavlovi Eisnerovi. Zamyšlení nad korespondencí P. Eisnera O. Fischerovi [Von Paul Eisner zu Pavel Eisner. Einige von der Korrespondenz Pavel Eisners mit Otokar Fischer inspirierte Gedanken]. In: Česká literatura, 38 (1990) H. 1, 64–70, hier 66.



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nachgewiesen hat, vergab Otokar Fischer die erste Diplomarbeit mit einem KafkaThema.11 In seinem Vortrag von 1929 hat Paul Eisner einen Begriff in die öffentliche Debatte geworfen, den er hinfort als Diagnose und Prognose für das Zusammenleben von tschechischer und deutscher Kultur in den böhmischen Ländern bereithielt und der auch als erster Satz sein, Hugo Siebenschein gewidmetes, nächstes Buch Milenky programmatisch einleitet: „Das Schicksal dieses Landes ist die Symbiose.“12 Auf die weltliterarische Beispiellosigkeit Franz Kafkas hatte Paul Eisner 1929 bereits mit Nachdruck hingewiesen, und er wiederholte diesen Hinweis auf die weltliterarische Geltung dieses Autors in der Einleitung zum sechsten Band der ebenfalls von Hugo Siebenschein herausgegebenen Reihe Deutsche Lektüre: Franz Kafka, heute in seiner einzigartigen Bedeutung nur wenigen vertraut, aber vorbestimmt, in einer nahen Zukunft als ganz große Erscheinung in die gesamtdeutsche Literatur einzugehen, verlegt sein dem Prager Erdkreis entstiegenes Mysterium der Gewissensschuld gerade in der entscheidenden Szene [im ‚Process’, K. K.] in das geheimnisatmende Dämmerlicht des Veitsdoms.13

Mittlerweile bekannter geworden ist der ausführliche Abschnitt über Franz Kafka im siebten Teil des Sammelwerks Československá vlastivěda (Tschechoslowakische Heimatkunde, 1933), der eine weitere Grundthese von Eisners genetischer KafkaInterpretation enthält: „Kafka ist auf seine Art Flucht aus dem Ghetto.“14 Von diesem Band sind ungefähr 80 großformatige Seiten der deutschen Literatur auf dem Territorium der damaligen Tschechoslowakei gewidmet, davon etwa 25 von Professor Arnošt Kraus verfasste Seiten dem Zeitraum bis 1848, das Übrige – es sind 11 Čermák, Josef: Recepce Franze Kafky v Čechách (1913–1963) [Die Rezeption Franz Kafkas in Böhmen (1913–1963)]. In: Kafkova zpráva o světě. Osudy a interpretace textů Franze Kafky [Kafkas Nachricht über die Welt. Schicksale und Interpretationen der Texte Franz Kafkas]. Praha 2000, 23–24. 12 „Údělem této země je symbiosa.“ Eisner, Pavel: Milenky. Německý básník a česká žena [Geliebte. Der deutsche Dichter und die tschechische Frau]. Praha 1930, 9 (Neuausgabe Praha 1992, 11). 13 Landsleute. Deutsche Prosa aus der Čechoslovakei von Adalbert Stifter bis Franz Werfel. Auswahl und Einleitung von Paul Eisner. Praha 1930 (= Deutsche Lektüre, Bd. 6), 4. Kafka gehört auch zu den deutschsprachigen Autoren, die als Texte für die Maturitätsprüfungen tschechischer Gymnasien und Realschulen in Frage kamen. Vgl. Maturitätstexte. Auswahl und Anmerkungen von Hugo Siebenschein. Praha 1931 (= Deutsche Lektüre, Bd. 12), 100– 101 u. 149. Es handelt sich um einen Auszug aus dem Text, den Max Brod unter dem Titel Der Bau herausgegeben hat. 14 „Kafka je svého druhu únikem z ghetta.“ Eisner, Pavel: Německá literatura na půdě ČSR od roku 1848 do našich dnů [Die deutsche Literatur auf dem Boden der ČSR. Von 1848 bis in unsere Tage]. In: Československá vlastivěda. Díl VII. Písemnictví [Tschechoslowakische Heimatkunde. Band VII: Schrifttum]. Praha 1933, 325–377, hier 365.

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ca. 50 Seiten – behandelt die Periode von 1848 bis zur unmittelbaren Gegenwart.15 Pavel Eisner hat hier stillschweigend Autoren miteinbezogen, deren Schaffenszeit zum Teil oder gänzlich schon vor 1848 lag, so zum Beispiel Charles Sealsfield und Adalbert Stifter, dessen Witiko Arnošt Kraus in seinem 1903 erschienenen Buch Stará historie česká v německé literatuře (Die alte böhmische Geschichte in der deutschen Literatur), obwohl sein historischer Einzugsbereich bis zum Tode Přemysl Otokars II. reicht, gar nicht berücksichtigt hatte. Neu ist auch der Nachdruck, mit dem Karl Kraus in diesen Zusammenhang einbezogen ist, und der ihm gewidmete Abschnitt schließt mit dem eindrucksvollen symbiotischen Kontrast: „Der Jičiner Jude ist das einzige Phänomen, das die deutsche Kultur unserer Tage dem Reichenberger Tschechen F. X. Šalda an die Seite stellen kann.“16 Dem am 12. Juni 1936 in Wien verstorbenen Karl Kraus gilt auch der ergreifende Nachruf, den Paul Eisner in der Prager Presse veröffentlichte: Die Feder ist nicht mehr, aus der ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ kamen, das De profundis einer gekreuzigten Menschheit. Die Stimme ist nicht mehr, die nicht bloß eine Höllenmaschine moralischer Vernichtung war, die auch – wie keine andere uns jemals vorgekommene – mit einer erschütternden Inbrunst, mit einer heiligen Glut zu werben wußte für den Geist, die Geltung des Geistes, die Stimme, die an einem Abend mehr wirkte als Schulen, Katheder und Bühnen. Es stehen an der Bahre des Streiters Karl Kraus Shakespeare und Gryphius, Wedekind und Strindberg, Offenbach und Nestroy, Pandora und Hannele Mattern.17

Paul Eisner erwähnt ebenfalls die erzieherische, die spracherzieherische Wirkung, die von Karl Kraus ausgegangen ist, und die er offensichtlich auch als Wirkung auf sich selbst auslegte: Wer würdig war, sein Leser zu sein, wurde von ihm zu einer prüfenden Wachheit vor allem in Hinsicht auf sich selbst erzogen, die an sich genügen würde, um Karl Kraus zu einem erzieherischen Genius zu stempeln.18

Weniger bekannt ist der Beitrag, den Paul Eisner für den im April 1937 im Prager Regierungsverlag Orbis von dem deutschen Exilschriftsteller Frank Warschauer (1892–1940) herausgegebenen Sammelband Prag heute verfasst hat, der unter dem Titel Zwei Literaturen und ein Argot erschienen ist. Es heißt in dieser höchst aufschlussreichen Studie unter anderem: 15 Diese beiden Aufsätze erschienen inzwischen in der Übersetzung von Michael Wögerbauer im Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich, Bd. 6 (1999), 153– 194 bzw. Bd. 9 (2002/2003), 124–199. 16 Ebd., 361. 17 Eisner, Paul: Karl Kraus gestorben. In: Prager Presse, 13. 6. 1936, Nr. 162, 7. 18 Ebd.



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Das Erlebnis Prags hat der deutschen Literatur viel Ansehnliches, Bedeutendes und überdies auch noch die große Dreifalt Rilke, Werfel, Kafka gegeben. Es ist denkwürdig und vielleicht eben darum noch nicht gesagt worden: auf den Wegen des Prager Erlebnisses, der Prager Symbiose entstehen die einzigen drei dichterischen Lebenswerke, die aus der sudetendeutschen Literatur in die Weltliteratur eingegangen sind: Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel. Braucht es noch Worte der Rühmung für den Genius einer Stadt, der in zwei Sprachen, in zwei Literaturen in alle Ewigkeit so fortzeugend fortwirkt?19

Trotz dieser rhetorischen Frage „braucht es noch Worte“ hat Paul Eisner doch noch Worte gebraucht, um Vor- und Nachteile der Prag spezifischen Sprachsymbiose auf deutscher Seite zu charakterisieren. Es lohnt, diese sicherlich auf zahlreichen eigenen Erfahrungen basierenden Ausführungen etwas extensiver zu zitieren: Die Sprachsymbiose der Stadt vom Gesichtspunkt der Deutschen: Sie wurde nicht genützt, man lebte auch sprachlich aneinander vorbei […] Aber den Gesetzen einer Symbiose entrinnt man nicht; und was ein Segen auch in allem Sprachlichen hätte werden können, wurde ein Fluch. Denn es ist ja so, daß die besinnliche Beherrschung und Verwendung einer fremden Sprache, der tägliche Umgang mit ihr mein Ohr für die Eigentümlichkeiten, Werte, Geheimnisse meiner Muttersprache zu schärfen vermag wie keine andere Sprachschule der Welt, und daß ein gedankenloses Hinleben in einem fremden ‚Sprachraum’ mich anfällig machen muß für ein unbewußtes und schleichend-tückisches Beeinflußtwerden. So wurde das Prager Deutsch in dem ignorierten tschechischen Ambiente ein phonetisch slawisiertes, lexikalisch, syntaktisch, phraseologisch von Austriazismen, Bohemismen, Pragensismen durchsetztes Deutsch, bis zur gelegentlichen wahren Unverständlichkeit für den Besucher aus dem Reich. Der Segen einer solchen Sprachsymbiose hingegen: der Prager Rainer Maria Rilke wird durch ein symbiotisch geschärftes Hörvermögen, durch die solcherart erlangte Wahrnehmungsfähigkeit für die zartesten Schwingungen und Bebungen des deutschen sprachlichen Klangkörpers zum Schöpfer einer unendlich fortwirkenden völlig neuen lyrischen Diktion; der sprachsymbiotisch belehrte Franz Kafka meißelt seine Gesichte einer metaphysischen Lebensverschuldung und Verstrickung in den Granit einer Prosa, deren deutsche Echtheit gleich neben Stifter zu stehen kommt.20

Bereits im ersten nach Kriegsende am 27. Juni 1945 erschienenen, von Václav Černý herausgegebenen Heft des Kritický měsíčník (Kritische Monatszeitschrift) war Pavel 19 Eisner, Paul: Zwei Literaturen und eine Argot. In: Warschauer, Frank: Prag heute. Unter Mitarbeit von Marguerite Gilberte Douhaerdt, Paul Eisner, Otokar Fischer, Willy Haas, A. I. Patzaková, Ernst Renaud. Zeichnungen von Adolf Hoffmeiser, Vlastimil Rada, Emil Weiss, Ludwig Wronkow. Prag 1937, 35–47, hier 44–45. 20 Ebd., 46–47.

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Eisner wieder vertreten und schaltete sich in dessen kulturpolitische Debatten ein, unter anderem über die Weiterexistenz und eventuelle Mission einer erneuerten tschechischen Germanistik, wo er die Auffassung vertrat, dass dieser Wissenschaftszweig nicht ausschließlich die Aufgabe haben könne, erste Anzeichen eines sich erneuernden Nationalsozialismus zu registrieren (denn dazu genüge ein gut funktionierender Intelligence Service), sondern dass es darum gehen müsse herauszustellen, was die Deutschen der Weltkultur gegeben haben. Nicht zuletzt erschien im neunten Jahrgang des Kritický měsíčník, wenige Tage vor dem Februar-Umsturz, am 20. Februar 1948 Pavel Eisners großer Essay Franz Kafka a Praha (Franz Kafka und Prag).21 Ein reichliches Vierteljahr zuvor, am 28. Oktober 1947, war ein gleichnamiger Sammelband mit dem Untertitel Vzpomínky, úvahy, dokumenty (Erinnerungen, Betrachtungen, Dokumente) und den Verfassern Hugo Siebenschein, Emil Utitz, Edwin Muir, Petr Demetz veröffentlicht worden.22 Beide Texte konnten in ihrem Heimtland nach dem Februar 1948 keine Wirkung mehr entfalten, doch hatte die Eisnersche Studie das Glück, von dem 1948 emigrierten Verleger Julius Firt (1897–1979) ins Englische übersetzt und in dessen neu gegründeten Verlag Arts 1950 unter dem Titel Franz Kafka and Prague publiziert zu werden.23 In dieser Übertragung ist sie – allerdings mit dreijähriger Verspätung – auch in die Sekundärliteratur über Kafka eingegangen. Berühmt wurde diese Studie vor allem durch das hier am ausdrücklichsten formulierte genetische Interpretationsmodell des dreifachen Ghettos, das als soziologische Erklärung für die besondere Situation der Prager deutschsprachigen Autoren jüdischer Herkunft angeboten wurde. Demnach wären sie zunächst innerhalb des Gesamtbereichs der Prager deutschsprachigen Minderheit durch ihre jüdische Herkunft isoliert gewesen, sodann als Bestandteil dieser Minderheit national getrennt von der tschechischen Bevölkerungsmehrheit und schließlich auch sozial abgeriegelt von den so gut wie geschlossenen tschechischen unteren Volksschichten. Dieses praktikable Modell ist insofern korrekturbedürftig, als es nicht ganz richtige Vorstellungen über den Stärkeproporz innerhalb der deutschsprachigen Enklave erweckt. Infolge der durch das Freizügigkeitsrecht eingeleiteten, durch ökonomische Motive und antisemitischen Umweltdruck beschleunigten Abwanderung der böhmischen Landbevölkerung jüdischer Konfession nahm deren Konzentration in der Landeshauptstadt kontinuierlich zu: Während 1880 etwa 20 Prozent aller böhmischen Juden in Prag lebten, waren es 1900 bereits fast 30 und 1930 über 45 Prozent, also fast die Hälfte. Umgekehrt proportional zu diesem Wachstumsprozess verhielt sich die ebenso gleichmäßig fortschreitende Abnahme der Gesamtanzahl 21 Eisner, Pavel: Franz Kafka a Praha [Franz Kafka und Prag]. In: Kritický měsíčník, 9 (1948) H. 3/4, 66–82. 22 Siebenschein, Hugo u. a. (Hg.): Franz Kafka a Praha. Vzpomínky, úvahy, dokumenty [Franz Kafka und Prag. Erinnerungen, Betrachtungen, Dokumente]. Praha 1947. 23 Vgl. Firt, Julius: Knihy a osudy [Bücher und Schicksale]. Praha 1991, 163.



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des deutschsprachigen Bevölkerungsanteils von Prag, so dass dessen nichtjüdische Komponente bereits 1900 eine Minderheit von nicht einmal einem Drittel ausmachte. Das ist die demografische Erklärung dafür, dass der seit Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich sich formierende rassisch und/ oder sozialdemagogisch motivierte Antisemitismus innerhalb der Prager deutschsprachigen Insel bis zuletzt keinen entscheidenden Einfluss auszuüben vermochte, dass diese Insel aber ganz unmittelbar mit den zumeist undifferenziert gebündelten, zuweilen äußerst aggressiv sich entladenden antisemitischen und antideutschen Ressentiments der tschechischen Umwelt konfrontiert war.24 Es ist verdienstvoll, dass der Originalwortlaut von Pavel Eisners Studie Franz Kafka a Praha (Franz Kafka und Prag) im Jahre 2001 in der von dem Ústav pro českou literaturu AV ČR (Institut für tschechische Literatur der tschechischen Akademie der Wissenschaften) edierten Anthologie wieder abgedruckt und einem weiteren Kreis von Lesern zugänglich gemacht worden ist.25 Fast genau ein Jahr vor Pavel Eisners Tod brachte die von Josef Škvorecký herausgegebene Zeitschrift Světová literatura (Weltliteratur) in ihrem Juni-Heft 1957 die Studie Franz Kafka auf der Grundlage der bisher erschienenen Kafka-Ausgabe des Fischer-Verlags einschließlich der von Willy Haas edierten Briefe an Milena, unter bemerkenswertem Ausschluss der Gespräche mit Kafka von Gustav Janouch, getreu dem von Eisner ausdrücklich formulierten Grundsatz: „Mein Artikel versucht Kafka aus Kafka auszulegen und nicht aus dessen Auslegern.“26 Wenn wir in Paul beziehungsweise Pavel Eisners ungemein reichem Lebenswerk speziell die mehr als vierzigjährige, von den 1920er bis zu den 1950er Jahren reichende kritisch würdigende Beschäftigung mit dem Leben und Werk Franz Kafkas überblicken, so ergibt sich vor allem, dass er zu den allerersten gehört hat, die Franz Kafka als eine weltliterarische Erscheinung gewertet und gerade auch im tschechischen Kulturkontext zu vermitteln versucht haben. Unbeschadet dieser weltliterarischen Geltung hat Eisner die These vertreten, dass Franz Kafka zusammen mit 24 Zu diesem Problemkomplex vgl. auch Krolop, Kurt: Das „Prager Erbe“ und das „Österreichische“. In: Zeitschrift für Germanistik, 4 (1983) H. 2, 166–178. Wieder abgedruckt in: Ehlers, Klaas Hinrich/Höhne, Steffen/Nekula, Marek (Hg.): Studien zur Prager deutschen Literatur. Eine Festschrift für Kurt Krolop zum 75. Geburtstag. Wien 2005, 157–170. 25 Přibáň, Michal (Hg.): Z dějin českého myšlení o literatuře. Antologie k Dějinám české literatury 1945–1990 [Aus der Geschichte des tschechischen Denkens über Literatur. Eine Anthologie zur Geschichte der tschechischen Literatur 1945–1990]. Bd. 1: 1945–1948, Praha 2001, 455–473. 26 „Má stať se pokouší vyložit Kafku z Kafky, nikoli z jeho vykladačů.“ Eisner, Pavel: Franz Kafka. In: Světová literatura, 2 (1957) H. 3, 109–129, hier 109. Das gleiche Heft enthält neben Paul Eisners Studie noch dessen Übersetzung von Kafkas Nachlasserzählung Der Bau (ebd., 132– 153) sowie eine Auswahl der sogenannten Zürauer Aphorismen in der Übersetzung von Rio Preisner (ebd., 130–131).

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Kurt Krolop

Autoren wie Rainer Maria Rilke und Franz Werfel genetisch nur von Prag her zu verstehen ist, und schließlich hat er besonders im Fall Kafka das fortwirkende Interpretationsmodell einer Flucht aus dem Ghetto aufgestellt, aus einem dreifachem Ghetto, aus dem deutschsprachige Prager Autoren jüdischer Herkunft auszubrechen hatten: aus einem religiösen, nationalen und sozialen.27 Was Paul Eisner persönlich betrifft, so hat es auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch eine ganze Weile gedauert, bis er Aufnahme in ein tschechisches Schriftstellerlexikon gefunden hat. Weder in dem gleich 1945 erschienenen zweibändigen Slovník soudobých českých spisovatelů (Lexikon der zeitgenössischen tschechischen Schriftsteller) von Jaroslav Kunc, noch in dessen Nachtrag für die Jahre 1945 bis 1956 kommt er vor,28 erst in dem im Vorfeld des sogenannten Prager Frühlings 1964 publizierten Slovník českých spisovatelů (Lexikon der tschechischen Schriftsteller) findet sich ein Stichwort „Pavel Eisner“ von Božena Wirthová.29 In seinem 1959 veröffentlichten Erinnerungsbuch Na vlastní oči (Mit eigenen Augen) hat František Kubka (1894–1969), ein ehemaliges Redaktionsmitglied der Prager Presse unter anderem sich seiner ehemaligen Redaktionskollegen erinnert, so an Arne Laurin, Antonín Stanislav Mágr, Otto Pick und Paul Eisner. Die Erinnerung an letzteren schließt mit Sätzen, in denen Anerkennung und Herablassung sich seltsam mischen, Reaktionen, die im tschechischen Bereich auch heute noch nicht selten anzutreffen sein mögen: Soeben war sein Buch ‚Dom und Festung‘ erschienen. Es wurde sehr gelobt. – Ich traf P. E. in der Straßenbahn. Ich schrie ihm ins Ohr: ‚Viel Schönes und Interessantes hab ich in Ihrem neuen Buch über die tschechische Sprache gelesen, Herr Doktor. Aber für mich ist die tschechische Sprache ein schönes Mädchen, zum Küssen! Kein Dom und keine Festung! Sie ist mein, ganz, durch und durch!‘ Pavel Eisners Stirn umwölkte sich. Doch ich glaube, er hat mich nicht verstanden.30

27 Krolop, Das Prager Erbe. 28 Kunc, Jaroslav (Hg.) Slovník soudobých českých spisovatelů. Krásné písemnictví v  letech 1918–1945 [Lexikon der zeitgenössischen tschechischen Schriftsteller. Das schöne Schrifttum 1918–1945]. 2 Bde., Praha 1945/1946; ders. (Hg.): Slovník českých spisovatelů beletristů: 1945–1956 [Lexikon der tschechischen Belletristik-Autoren: 1945–1956]. Praha 1957. 29 bw (= Božena Wirthová): Pavel Eisner. In: Slovník českých spisovatelů [Lexikon der tschechischen Schriftsteller]. Praha 1964, 91–92. 30 Kubka, František: Paul Eisner und Pavel Eisner. In: Augenzeuge meiner Zeit. Begegnungen mit Zeitgenossen aus Ost und West. Praha 1964, 65–66. Im Original heißt es: „Právě vyšla jeho kniha ‚Chrám i tvrz‘. Byla velmi chválena. – Setkal jsem se s P. E. v tramvaji. Křičel jsem mu do ucha: ‚Mnoho zajímavého a pěkného jsem se dočetl ve vaší nové knize, pane doktore, o české řeči. Ale pro mne je česká řeč krásné děvče. Jen je pomilovat! Žádný chrám a žádná tvrz! Je moje ... Celá. Skrz naskrz!‘ Pavel Eisner se zamračil. Ale myslím, že mi nerozuměl.“ Kubka, František: Paul Eisner a Pavel Eisner. In: Na vlastní oči. Pravdivé malé povídky o mých



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Hier irrte František Kubka. Auch wenn Pavel Eisner das trotz seiner Schwerhörigkeit gehört hätte, hätte er es durchaus verstanden.

současnících [Mit eigenen Augen. Kleine wahre Geschichten über meine Zeitgenossen]. Praha 1959, 110.

Personenregister Adam, Alfons  12, 59–86 Adler, Friedrich (Bedřich)  127, 128, 151, 152, 155, 227 Aischylos  239 Albert, Eduard  152 Albrechtová, Gertruda  161 Alexander, Manfred  66 Alighieri, Dante  95, 155 Altenberg, Peter  28 Amann, Klaus  262 Améry, Jean  210 Ammon, Ulrich  17 Antonicek, Theophil  31 Ariost  155 Auředníčková, Anna  15 Babler, Otto F.  104 Babor, Karel (Pseud. PEs)  90, 99 Baborová, Jana (fikt. Pseud. Margaretha Eisners)  90 Bachmann-Medick, Doris  9 Bačkovský, František  167, 168 Bade, Klaus J.  18 Badeni, Kasimir Felix Graf  22 Bahr, Hermann  10, 49, 144, 154, 157, 225 Balhar, Jan  271 Balzac, Honoré de  140 Bankowski, Monika  288 Bär, Jochen A.  223 Barnowsky, Victor  284 Barret Browning, Elizabeth  96 Bartelm, Adolf  137 Bartušek, Antonín  288 Barvínek, Václav Karel  68, 70 Baťa, Tomáš  179, 189 Baudelaire, Charles  140 Baum, Oskar  25, 58, 70, 72, 75, 84

Baumann, Barbara  183 Becher, Peter  73, 115 Becker-Cajthalmová, Anna  285 Beer, Antonín  27 Beethoven, Ludwig van  143 Behring, Eva  288 Benda, Julien  210 Beneš, Edvard  51, 52, 54, 66, 254 Benjamin, Walter  203, 208 Berger, Albert  262 Berger, Michael  116 Bezruč, Petr  150, 176, 190, 228, 291 Bidlo, František  99 Biebl, Konstantin  168, 191 Bílý, František  28 Binder, Harald  18 Binder, Hartmut  11, 22, 25, 30, 55, 56, 84, 119, 231, 259, 260, 261 Binding, Rudolf G.  137 Bismarck, Otto von  113, 114 Bláhová, Kateřina  18, 20, 29 Blodig, Vojtěch  74 Blubacher, Thomas  285, 290 Blum, Leon  296 Bock, Hans Manfred  123 Bodenhausen, Eberhard  145 Boháč, Antonín  60, 62, 66, 67, 70, 71, 78, 79, 81, 82 Bondy, Filip  25 Bondy, Josef Adolf  155 Bonn, Hanuš  90 Borda, Eduardo Zalamea  95 Borový, František (auch Verlag)  92 Bosco, Henri  95 Brahe, Tycho de  128, 129 Brambora, Josef  91 Brand, Gustav Simon  37 Brecht, Bertolt  169

Breuer, Dieter  182 Březina, Otokar  34, 141, 159, 162, 165, 179, 180, 188, 189, 191, 243, 297 Brod, Max  10, 56, 82, 116, 123, 127, 128, 129, 130, 141, 150, 153, 154, 158, 169, 230, 231, 258, 267, 299 Brod, Petr  64 Brtáň, Rudo  172 Brtek, Josef  32 Büchner, Georg  94 Budovec z Budova, Václav (Wenzel von Budowec)  28 Burger, Hannelore  18 Burian, Emil František  101 Čábelová, Lenka  250 Čapek-Chod, Karel Matěj  139 Čapek, Jan Blahoslav  210 Čapek, Josef  150, 151 Čapek, Karel  150, 168, 171, 212, 239, 251, 274, 287, 289, 290 Čapková, Kateřina  13, 19, 20, 21, 22, 25, 33, 64, 65, 66, 74, 229, 234, 252 Čarek, Jan  135 Carossa, Hans  137 Cassirer, Ernst  207 Čech, Svatopluk  168, 169 Čelakovský, František Ladislav  156, 232 Céline, Louis Ferdinand  129 Čermák, Josef  204, 241, 258, 267, 298 Černý, František  283 Černý, Karel Irenej  26, 27, 38 Černý, Václav  19, 20, 21, 24, 27, 41, 43, 88, 90, 91, 92,

308 96, 97, 100, 103, 105, 107, 175, 176, 301 Cervantes, Miguel de  95 Červená, Soňa  104 Chalupný, Emanuel  148 Chamisso, Adalbert von  241 Chelčický, Petr  51, 228, 288 Chloupek, Jan  274, 275, 279, 280, 281 Chmel, Rudolf  172 Chrysippos, Soli von  97 Čmejrková, Světla  278, 279, 280, 281, 282 Cohen, Gary B.  19, 22, 61, 63, 76, 79, 83 Cohen, Hermann  47 Comenius, Johann Amos  143, 228 Conze, Eckart  9 Crow, Carl  96 Cvrček, Josef  28 Cysarz, Herbert  122 Dalberg, Dirk  147 Daneš, František  279 David, Jakob Julius  133, 134, 135, 139, 153 Dehmel, Richard  28 Deleuze, Gilles  109, 260, 266, 268 Delsen, Leo  285 Demetz, Peter  60, 131, 132 Deml, Ferdinand  119 Deml, Jakub  148, 229 Denemarková, Radka  283 Dérer, Ivan  242 Dickmann, Max  94 Diederichs, Eugen (auch Verlag)  163 Dietrich, Margret  46 Dilthey, Wilhelm  28 Dlouhý, Dominik (Pseud. PEs)  91, 102 Dlouhý, Jaroslav (Pseud. PEs)  95 Döblin, Alfred  191, 230 Dobrovský, Josef  230 Dolejší, Marie  211

Personenregister Doležal, Jiří  106 Donath, Adolph  155 Donath, Oskar  242 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch  129 Doubek, Vratislav  143 Douhaerdt, Marguerite Gilberte  301 Drápal, Miroslav (Pseud. PEs)  95 Drosdowski, Günther  126 Dub, Ota  88, 90, 98, 99, 100, 106, 107 Dubová, Jarmila  98, 99, 273 Dudková, Veronika  7, 17 Dürhammer, Ilja  262 Dürrenmatt, Friedrich  290 Durych, Jaroslav  165, 168, 178, 180, 189, 210, 212 Dvořák, Rudolf  28 Dwinger, Edwin Erich  137 Dyk, Viktor  69, 135, 138, 139, 150, 191 Ebert, Karl Egon  119 Ebner-Eschenbach, Marie von  114 Eckstein, Friedrich  143 Ehlers, Klaas-Hinrich  22, 303 Ehrenfels, Christian  31 Eichendorff, Joseph von  230 Eichler, Ernst  35 Eisenhower, Dwight D.  296 Eisler, Paul  87 Eisner, Adolf  21 Eisner, Aron (Großvater PEs)  21, 37 Eisner, Dagmar (Tochter PEs)  19, 34, 93, 283, 284, 291, 292 Eisner, Elisabeth (Urgroßmutter PEs, geb. Wolfnerin)  21 Eisner, Juda ( Julius, Urgroßvater PEs)  21

Eisner, Klara (geb. Fischl, Mutter PEs)  20, 22, 37, 295 Eisner, Margaretha Amalie Julie (geb. Wagner, Gattin PEs)  30, 33, 45, 88, 297 Eisner, Moses Moritz (Vater PEs)  20, 21, 22, 23, 30, 37, 38, 295 Eisner, Sara (geb. Oppenheimer)  37 Emingerová, Dana  87 Engman, Max  84 Enzinger, Moritz  32 Epstein, Leo  59 Erben, Karel Jaromír  179, 189, 191 Ertl, Václav  26, 279 Escher, Georg  10, 13, 15, 17, 59, 125, 136, 156, 159, 219, 225, 232, 256–270, 259 Espagne, Michel  9 Essl, Karl  32 Euripides  239 Exner, Franz  23 Faber (Pseud. PEs)  87, 224, 245, 258, 267, 276, 296 Faber (Pseud. Viktor Fischls)  87 Fajfr, František  210 Faltýnek, Vilém  271 Federmann, Karl  242 Fejtová, Olga  64 Feuchtwanger, Lion  137, 230 Fialová, Ludmila  63, 73 Fierzová, Olga  287 Fietz, Alois  135 Fikar, Ladislav  193, 195 Firt, Julius  105, 302 Fischer, Josef  24, 25 Fischer, Josef Ludvík  210 Fischer, Otokar  11, 15, 19, 21, 24, 34, 35, 45, 49, 51, 96, 136, 138, 140, 144,



145, 146, 150, 154, 155, 158, 161, 203, 204, 205, 206, 207, 211, 212, 213, 214, 215, 228, 232, 237, 240, 257, 263, 295, 297, 298, 301 Fischerová, Blažena  144 Fischl, Adam  37 Fischl, Klara siehe Eisner, Klara Fischl, Moritz  37 Fischl, Rosalia (geb. Lichtenstern)  37 Fischl, Viktor  87, 91 Fleischer, Viktor  134 Fleischmann, Ingrid  236 Fleming, Paul  230 Forst, Vladimír  20, 26, 59, 148 Fraenkl, Pavel  205, 211, 210, 212 Francl, Gustav  104 Franěk, Jiří  21 Frank, Peter  47, 243 Frankl, Michal  19, 74, 222, 252 Frankl, Oskar  252 Freymond, Émile  31, 39, 40 Friedjung, Heinrich  143 Frisch, Efraim (auch Verlag)  163, 290 Fritsch, Karl Wilhelm  135 Fuchs, Rudolf  10, 15, 34, 59, 70, 72, 80, 83, 84, 141, 150, 158, 228, 233 Garber, Klaus  262 Gebauer, Jan  26, 279 Gebhard, Heinrich  208 Gebhart, Jan  86 Gebsattel, Fritz Freiherr von  65, 66 Geminder, Bedřich  43 Gerdes, Adele  193 Gierach, Erich  110, 115 Giesecke, Carl Ludwig  94 Gilman, Sander L.  35 Gindely, Anton/Antonín  23

Personenregister Glettler, Monika  76 Glier, Ingeborg  182 Glotz, Peter  74 Glücklich, Julius  28, 29 Godé, Maurice  10, 18, 79 Goebbels, Joseph  249 Goethe, Johann Wolfgang  12, 19, 32, 34, 36, 39, 40, 96, 119, 121, 122, 153, 154, 155, 183, 203–216, 230, 235, 297 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch  144 Gojan, Simone  285 Goldstücker, Eduard  260, 261, 268 Goll, Jaroslav  28 Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch  144 Götz, František  212 Gregory, J. J. (Pseud. J. J. Řeháks)  23 Greule, Albrecht  236 Grillparzer, Franz  41, 47, 143, 243 Grimm, Jakob  55 Groarty, Mary E.  193 Grosz, George  169 Grün, Edmund  151, 152 Gruša, Jiří  194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201 Gryphius, Andreas  300 Guattari, Felix  109, 260, 266, 268 Guth, Alfred  155 Haarmann, Harald  18 Haas, Sigmund  37 Haas, Willy  37, 51, 59, 72, 74, 75, 84, 91, 151, 215, 217, 301, 303 Habermas, Jürgen  222 Hácha, Emil  88 Hadina, Emil  136 Hadwiger, Julia  34 Hahn, Hans Henning  109, 110 Hájek, Jan  51

  

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Halas, František  94, 101, 165, 168, 191 Hálek, Vítězslav  27 Halle, Adam de la  95 Halliburton, Richard  95 Hanuš, Stanislav  150 Harant z Polžic a Bezdružic, Kryštof  228 Hartl, Antonín  176, 190 Hartmann, Dietrich  277 Hartmann, Moritz  21 Hašek, Jaroslav  169, 229 Hasil, Jiří  272 Hasilová, Helena  272 Haškovec, Prokop Miroslav  26, 38 Hauffen Adolf  31, 35, 39, 40, 116 Hauptmann, Carl  136 Hauptmann, Gerhart  136 Hausenblas, Karel  274, 277 Havel, Rudolf  273, 278 Havlíček Borovský, Karel  143, 228, 239 Havránek, Bohuslav  279 Havránek, Jan  62, 76, 83 Heidenreich-Dolanský, Julius  103 Heine, Heinrich  95 Henlein, Konrad  121, 230, 240 Herben, Jan  239 Herder, Johann Gottfried von  46, 128, 130, 163, 164, 228 Herwig, Franz  139 Hesiodos  208 Hesse, Hermann  121, 139 Heuer, Renate  74 Heumos, Peter  61, 73 Heusler, Andreas  182, 183 Heydrich, Reinhard  106, 107 Heyduk, Adolf  251 Heyduk, Josef  210 Hitchins, Keith  63

310 Hitlers, Adolf  61, 73, 121, 132, 137, 138, 138, 230, 249 Hlaváč, Bedřich  143, 144 Hoffman, Werner  182 Hoffmann, Camill  157 Hoffmeiser, Adolf  301 Hofmannsthal, Hugo von  19, 34, 45, 46, 47, 48, 49, 52, 54, 55, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 151, 153, 154, 156, 161, 162, 163, 165, 225, 297 Hohlbaum, Robert  113, 114 Höhne, Steffen  7, 223, 303 Hojda, Zdeněk  204 Holan, Vladimír  94, 191, 193, 194, 195 Holeček, Josef  204 Holub, Dalibor  148 Homolková, Božena  19, 23, 25, 30, 34, 95, 96, 97 Honzl, Jindřich  24 Hora, Josef  168, 190, 191 Horák, Jiří  103 Horálek, Jan  279 Horská, Pavla  63 Hrdlička, Karel  250 Hroch, Miroslav  221 Hronek, Jiří  279, 281 Hronský, Jozef Cíger  168 Hrubín, František  101, 191 Hugo, Victor  155 Hus, Jan  116, 117, 120, 143, 228, 230, 288 Husová, Marcella  211 Hviezdoslav  165, 167, 168, 169, 171 Ibsen, Henrik  239 Ifkovits, Kurt  10, 144 Iggers, Wilma A.  18 Irler, Hans  31 Jacques, Christian  12, 109– 123, 110, 116 Jahn, Bruno  31

Personenregister Jähnichen, Manfred  148, 157 Jakobson, Roman  229, 279 Jakubec, Jan  168 Janáček, Pavel  97 Janda, Bohumil (auch Verlag)  103 Janke, Pia  262 Janko, Josef  240 Janouch, Gustav  303 Janovský, Emil (Pseud. PEs)  95 Janowitz, Hans  34 Janský, Karel  100, 176 Jaworski, Rudolf  121, 259 Jelinek, Franz  233 Jelínek, Jaroslav  274 Jellinek, Oskar  230 Jesenská, Milena  15, 74 Jesser, Franz  110 Ješutová, Eva  250, 253 Jirásek, Alois  117, 190 Jirát, Vojtěch  93, 138, 204, 212, 240 Joseph II., Kaiser  143, 222 Kafka, František (Übersetzer)  286 Kafka, Franz  11, 13, 15, 18, 19, 21, 25, 30, 56, 59, 82, 109, 112, 116, 128, 129, 141, 191, 130, 232, 236, 237, 239, 257–270, 298, 299, 300, 301, 302, 303 Kafka, Herrmann  21 Kaiserová, Kristina  7 Kalinčiak, Ján  165, 167 Kalmer, Josef  165 Karady, Victor  13 Karásek, Jiří  148, 150 Karl IV.  32 Karlach, Hanuš  193, 194, 195 Kárník, Zdeněk  60 Kárný, Miroslav  33, 88 Karvaš, Peter  161 Kasper, Tomáš  31 Kästner, Erich  138

Katschinka, Otto  242 Kautman, František  260 Kayser, Wolfgang  182 Kázmerová, Lubica  242 Keller, Paul  136 Kesten, Hermann  138 Keußler, Gerhard von  296 Kieval, Hillel J.  11, 12, 18 Kindermann, Heinz  46 Kippenberg, Anton (Verleger)  162, 163, 215 Kisch, Egon Erwin  138, 263 Klackobor, Jaroslav (Pseud. Černý, K. I.) 27 Kleinschnitzová, Flora  172 Klement, Alfred von  65, 68 Kletzl, Otto  110 Kliems, Alfrun  288 Klika, B. M. (auch Verlag)  94 Klopstock, Friedrich Gottlieb  183 Kmoch, Rudolf (auch Verlag)  90, 93, 95 Knap, Josef  135 Knappová, Miloslava  274 Kneidl, Pravoslav  72 Kneip, Jakob  139 Knittel, John  94 Kodíček, Josef  150 Koeltzsch, Ines  7, 10–15, 10, 17, 104 Kohout, Pavel  286, 289 Kola, Richard (auch Verlag)  163 Kolbenheyer, Erwin Guido  111 Kollár, Ján  143, 164, 167, 173, 174 Komenský, Jan Amos siehe Comenius Kompert, Leopold  133 Konečný, Antonín  201 König, Christoph  31 Konrád, Edmond  49, 100 Konůpek, Jan  205



Köpplová, Barbara  219, 220, 232 Kořalka, Jiří  24 Kosatík, Pavel  109 Koschmal, Walter  18 Kostka, Alexander  123 Kostrbová, Lucie  10, 11, 12, 34, 141–159, 144, 152 Kováč, Dušan  10 Kozák, Jan Blahoslav  210 Krafka, Elke  285 Králík, Oldřich  176, 210 Kralik, Richard  114 Kramář, Karel  144 Krasko, Ivan  165, 168 Krátký, Radovan  104 Kraus, Arno  91, 92 Kraus, Arnošt V.  28, 39, 140, 212, 240, 299 Kraus, Carl von  31 Kraus, Franz (auch Verlag)  111 Kraus, Karl  47, 203, 204, 206, 207, 209, 211, 212, 213, 220, 230, 297, 300 Kraus, Vojtěch  212 Krčméry, Štefan  172 Krebs, Gilbert  123 Krejčí, František Václav  148, 149 Krejčí, Jan  240 Krejčí, Johann/Jan (Geologe)  23 Křelina, František  135 Kremnitz, Georg  18 Křivohlavá, Barbora  18 Křížek, Petr  64 Křížová, Markéta  10 Krolop, Kurt  22, 204, 206, 219, 258, 267, 295–304, 303 Kuba, Ludvík  291 Kubka, František  103, 204, 304 Kučera, Jaroslav  82 Kučera, Martin  143 Kučera, Petr  12, 191–202

Personenregister Kuchař, Jaroslav  274 Kudělka, Viktor  20 Kuklík, Jan  86 Kuklová, Michaela  7, 13, 276, 283–293, 286, 287, 289 Kukučín, Martin  165, 167, 169, 172 Kulka, Otto Dov  79 Kunc, Jaroslav  304 Kundera, Ludvík  289 Kural, Václav  68 Kutnar, František  28 Kvapil, Jaroslav  10, 144 Kvapil, Josef Š. 178 Kvapilová (Mitarbeiterin der Prager Stadtbibliothek)  101 Labé, Louïza  97 Langen, Albert (auch Verlag)  135 Langer, František  289 Laurin, Arne  214, 304 Laurin, Olga  119 Le Rider, Jacques  147 Lederer, Ota  225, 240 Ledvinka, Václav  62, 64 Leeuwen-Turnovcová, Jiřina van  22 Lehmann, Emil  109 Lehovec, Otto  63, 65, 72, 80 Leibl, Ernst  135 Lemberg, Eugen  136 Lenau, Nikolas  143 Leppa, Karl Franz  120 Lešehrad, Emanuel  165 Lessiak, Primus (Primož) 35, 40, 297 Lessing, Gotthold Ephraim  12, 19, 34, 36, 155, 156, 204, 235, 297 Levit, Pavel  90, 138 Lhota, Bohuslav  24 Liehm, Antonín Jaroslav  105 Lifka, Bohumír  101 Liliencron, Detlev von  28

311 Liškutín, Ivo  126, 137, 138, 139, 140 Lochmann, Jan Milíč  290 Lodgman von Auen, Rudolf  111 Longfellow, Henry Wadorth  96 Lotar, Eva (geb. Lübbert)  287, 289 Lotar, Peter  184–293 Loucká, Pavla  278, 279, 281 Lovrić, Božo  96, 99, 100, 178 Löwenbach, Jan V.  34, 195 Loyola, Ignatius von  94 Lübbert, Berta  289 Lübbert, Eva siehe Lotar, Eva Ludwig, Emil  137, 211 Luft, Robert  10, 18, 22 Lugs, Jaroslav  91 Lunzer, Heinz  142, 143, 144, 145, 146 Macek, Josef  32, 42 Mácha, Karel Hynek (Ignaz)  90, 96, 98, 99, 100, 148, 165, 175–190, 232, 276, 280 Machar, Josef Svatopluk  34, 135, 143, 145, 150, 239, 142, 243 Mackey, William F.  17 Macurová, Naděžda  45, 204, 206 Mágr, Antonín Stanislav  204, 213, 214, 231, 291, 304 Mahler, Gustav  163, 225, 296 Mai, Gunther  83 Mandeles, Eleonora  37 Mann, Georg  233 Mann, Heinrich  137, 191, 252 Mann, Thomas  121, 191, 252, 298 Mannheimer, Georg  233 Mara, L.  258

312 Maraldo, John C.  201 Maras, Walter  116, 118 Marcus, Ludwig  94 Mareček, Zdeněk  12, 125– 140, 159, 219, 262 Marek, Michaela  9 Marek, Pavel  76 Maria Theresia  142 Marie de France  96 Marten, Miloš  148 Marty, Anton  31 Marx, Karl  210 Masaryk, Tomáš Garrigue  51, 117, 143, 145, 146, 212, 224, 228, 230, 239, 257, 258, 287, 288, 290, 297, 298 Mates, Vladimír  279 Mathesius, Vilém  279 Matoušek, Petr  274 Matušíková, Lenka  17 Mauthner, Fritz  63, 114, 227 Mayer, Hans  47 Mazáč, Leopold  167 Meinert, Josef Georg  221, 222 Meissl, Sebastian  262 Meißner, Alfred  119 Mell, Max  46 Mendes-Flohr, Paul  13 Menschendörfer, Adolf  137 Merhaut, Josef  139 Merhaut, Luboš  23 Messer (Meßleny, Meszlényi), Richard (auch Verlag)  51, 163, 240 Měšťan, Antonín  283, 288 Metelka, Jindřich  28 Metternich, Fürst von  143 Meyer, Conrad Ferdinand  121 Meyer, K[arl?] H[einz?] 136 Meznik, Karl  235 Michalitschke, Walter  32 Michelangelo Buonarroti  93, 230 Mickiewicz, Adam  27, 96

Personenregister Míka, Zdeněk  60 Mitterbauer, Helga  9 Moravcová, Mirjam  85 Motyčka-Donát, Vladimír  99 Mourková, Jarmila  11, 19, 20, 21, 237, 257, 298 Mozart, Wolfgang Amadeus  94, 253 Mráz, Andrej  172 Mühlberger, Josef  111, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 134, 227, 230 Muir, Edwin  302 Mukařovský, Jan  100, 175, 181, 184 Müller-Funk, Wolfgang  262, 265 Müller-Guttenbrunn, Adam  137 Müller, Georg (auch Verlag)  135 Muncker, Franz  183 Muneles, Otto  32 Münzer, Jan  211 Mussolini, Benito  137 Mýcěnín, J. J. (Pseud. K. I. Černýs)  27 Nadler, Josef  111, 112, 114, 115, 116, 125, 136, 137, 140, 224, 231, 262, 263, 264, 265, 266, 270 Napoleon Bonaparte  97 Navrátil, Ivo  204, 206 Nebuška, Cyril  24 Nekula, Marek  18, 236, 239, 303 Nelson, Lowry  256 Němcová, Božena  232 Němec, Mirek  12, 233–247, 236, 238, 242 Neruda, Jan  27, 148, 191, 251 Nestroy, Johann Nepomuk  95, 300 Neuber, Wolfgang  262

Neumann, Stanislav Kostka  150, 151 Nezdařil, Ladislav  112, 148, 157, 176, 177, 191, 192 Nezval, Vítězslav  168, 188, 191, 212 Nietzsche, Friedrich  97, 154 Nor, A. C. (Pseud. Josef Kaváns)  135 Novák, Arne  89, 126, 127, 128, 129, 130, 135, 137, 138, 139, 144, 148, 150, 167, 168, 175, 176, 205, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 225, 240, 262, 263 Novák, Arthur  204, 205, 213, 214, 215, 216 Novák, Bohumil  206 Nováková, Tereza  239 Novomeský, Ladislav  168 Novotný, František  61 Novotný, Miloslav  101, 113, 135 Nowak, Karl  179 Oberle, Birgitta  183 Offenbach, Jacques  300 Ohneland, Jan  287 (Pseud. Peter Lotars)  Opelík, Jiří  26, 211 Oppenheimer, Sara siehe Eisner, Sara Orel, Jan (Pseud. PEs)  99 Ornest, Ota  289 Ort, Jan (Mitschüler PEs)  90 Ort, Jan (Pseud. PEs)  88, 89, 90, 91, 93, 98, 122, 241 Orten, Jiří  90, 194 Otruba, Mojmír  27, 179 Otte, Anton  64 Otto, Jan (auch Verlag)  26, 52, 53, 167, 168 Ouředníček, Eduard  28 Pabst, Georg Wilhelm  207 Paček, Přemysl  168 Palacký, František  117, 143 Panevová, Jarmila  273, 276, 279, 281



Pannwitz, Rudolf  11, 19, 34, 35, 45–57, 146, 147, 153, 158, 159, 161, 162, 163, 205, 211, 228, 295 Pařík, Arno  20 Pašek, Petr  291 Patera, Ludvík  172 Patzaková, Anna J.  250, 251, 301 Paul, Otto  182 Paulmann, Johannes  9 Pekař, Josef  225 Peřinová, Taťána (Freundin J. Podroužeks)  95 Peřinová, Taťána (Pseud. PEs)  95 Peroutka, Ferdinand  166, 229 Peroutková-Eisnerová, Dagmar siehe Eisner, Dagmar  Peschel, Franz  233 Pešek, Jiří  62, 64 Petr, Václav (auch Verlag)  104 Petrarca, Francesco  95 Petrbok, Václav  7, 12, 17–43, 18, 20, 23, 28, 29, 32, 45, 108, 125, 235, 236, 291 Petrík, Vladimír  162 Petrův, Helena  106 Petsch, Robert  208, 209 Pfemfert, Franz  34, 150 Pfitzner, Josef  109 Pick, Karl  87 Pick, Otto  10, 15, 34, 55, 56, 59, 72, 75, 84, 87, 116, 118, 119, 129, 141, 148, 150, 151, 154, 158, 159, 213, 214, 130, 233, 240, 304 Pilz, Jaroslav  92 Pinc, Zděnek  85 Pirkner, Max  143 Píša, Antonín Matěj  138 Piscator, Erwin  169, 284

Personenregister Piscator, Max  284 Pišút, Milan  172 Pitter, Přemysl  287, 290 Pleyer, Wilhelm  120, 122, 135 Plzák, Stanislav (auch Verlag)  90, 93, 94 Pober, Jiří  90, 100 Podlipská, Sofie  149 Podroužek, Jaroslav (auch Verlag)  89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 176 Pojer, Jan V. (auch Verlag)  97, 193 Pokorný, Jindřich  195, 196, 197, 198, 199, 200, 201 Polák, Karel  176 Polák, Pavel  12, 126, 249–255 Politzer, Heinz  266 Pollak, Ernst  34 Ponten, Servatius Josef  139 Pooley, Colin G.  84 Popper, Dr. J. (Mediziner)  38 Pörnbacher, Karl  47 Potůček, Jaroslav  251, 252 Povejšil, Jaromír  176 Práchyňský, J. R. (Pseud. Julius Roths)  27 Prahl, Roman  204 Pražák, Albert  100, 113, 135, 166, 167 Přemysl Otokar II.  300 Preußner, Ulrike  277 Přibáň, Michal  303 Přibil, Marek  12, 108, 175– 190, 232 Projsa, Karel  95 Purkyně, Jan Evangelista  7 Puschkin, Alexander Sergejewitsch  96, 144 Rada, Vlastimil  301 Radetzky, Josef Wenzel  143 Rádl, Emanuel  210, 297

313 Rathenaus, Walter  33 Rázus, Martin  165, 166, 237 Redlich, Josef  46, 143 Reffet, Michel  11, 22, 55, 84, 219, 259 Řehák, Daniel  13, 17, 19, 75, 87–108, 176, 178, 237, 283 Řehák, Jan Josef  23 Reicin, Bedřich  43 Reiman, Pavel  43 Reimann, Hans  169 Reiner, Grete  15, 169 Reinhard, Wolfgang  234 Reiss, Erich (auch Verlag)  286, 289 Reissmann, Karel  251 Remarque, Erich Maria  137, 138 Renaud, Ernst  301 Renner, Karl  110 Resler, Kamil  100 Reynek, Bohuslav  191 Richter, Ludwig  161, 162, 166, 170, 173 Ricklefs, Ulfert  182 Rietsch, Heinrich  31 Riff, Michael Anthony  25 Rilke, Rainer Maria  114, 128, 191–202, 205, 225, 230, 253, 298, 300, 301, 303 Ritter, Vinzenz Maria  111 Robertson, Ritchie  147 Röder, Werner  73, 74 Rohan, Bedrich  30 Rolin, Gustav  31, 30, 40 Rolland, Romain  137 Rosenberger, Nikole  283 Ross, Leonard Q. (Pseud. Leo Rostens)  272 Rosten, Leo  96, 272 Roth, Josef  139 Roth, Julius  27, 28, 38 Rothe, Friedrich  206 Rotterová, Drahomíra  89 Roubitschek, Maximilian  25

314 Rowohlt, Ernst (auch Verlag)  163 Roy, Vladimír  165 Ruberg, Uwe  31 Rudolf II.  277 Rusinský, Milan  126, 136 Saaz, Johannes von  191 Šafárik, Pavol Jozef  167 Šafránek, Jan  24 Sajcová (Mitarbeiterin d. Inst. Français de Prague)  101 Salač, Antonín  208 Šalda, František Xaver  33, 51, 128, 129, 135, 138, 139, 144, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 155, 156, 158, 171, 205, 210, 211, 212, 213, 214, 232, 262, 300 Salus, Hugo  127, 155, 226, 230, 251 Samek, František  214 Sander, Daniel  98 Saran, Franz  182 Saturková, Jitka  278, 279, 281 Saudek, Emil  34, 148, 162 Saudek, Erich A.  213 Sauer, August  19, 31, 32, 34, 35, 39, 40, 41, 111, 125, 139, 175, 225, 231, 235, 262, 263 Savoyen, Eugen von  142, 143 Schaukal, Richard von  114 Scheinpflugová, Olga  289 Scherke, Katharina  9 Schikaneder, Emanuel  94 Schiller, Friedrich von  12, 19, 34, 36, 155, 156, 204, 235, 297 Schmollinger, Annette  283 Schneider, Hansjörg  285 Schneider, Vera  7, 10 Schneiderová, Eva  272 Scholtis, August  136 Scholz, Hugo  32, 297

Personenregister Schönborn, Sibylle  229, 231 Schönfelder, Richard  83 Schopenhauer, Arthur  97 Schramm, Gottfried  235 Schroubek, Richard  32 Schubert, Franz  143 Schubin, Ossip  134 Schürer, Oskar  78 Schuster, Gerhard  46 Schwarz, Vincy  92, 100, 101, 107 Schweikle, Günther  182 Schweikle, Irmgard  182 Schweitzer, Albert  290 Sealsfield, Charles  299 Seidlin, Oskar  269 Seifert, Jaroslav  93, 168, 191 Sejk, Michal  17 Serke, Jürgen  70, 72, 75, 83 Sgall, Petr  273, 276, 279, 281 Shakespeare, William  300 Sieberová, Růžena  101 Silbernáglová, Marie  33 Simon, Dietrich  203, 206 Skalička, Vladimír  273, 278 Škrach, Vasil  51 Škvorecký, Josef  303 Sládek, Josef Václav  191 Šlosar, Dušan  274 Šmatlák, Stanislav  162 Smetáček, Zdeněk  210 Smetana, Bedřich  23 Šmidt, Vilém  176 Šmilauer, Vladimír  279 Smíšek, Antonín  38 Smrek, Ján  168 Sochor, Vít (Pseud. PEs)  98 Šolta, Rudolf  24 Soukupová, Blanka  85 Sova, Antonín  32, 34, 141– 159, 162, 239, 297 Spáčilová, Libuše  28 Spector, Scott  10, 11, 18, 141, 159 Spina, Franz  19, 32, 34, 35, 36, 40, 41, 42, 49, 50, 80,

81, 144, 156, 214, 235, 297, 298 Šrámek, Fráňa  150, 151, 158 Šrůtová, Magdalena  17 Staackmann, Ludwig (auch Verlag)  135, 137 Stachel, Peter  259 Staub, Norbert  283 Stauda, Johannes (auch Verlag)  110, 111, 117 Štefánik, Milan Rastislav  166 Stehlík, Ladislav  88, 89 Stehr, Hermann  136 Stein, August  80 Steiner, Franz B.  59, 75 Steinhardt, Laurence  296 Stempel, Bohuslav  24 Stern, Martin  19, 46, 49, 55, 143, 144, 145, 146, 283 Stich, Alexandr  246, 274, 275, 276, 277 Stiehler, Harald  18 Stifter, Adalbert  113, 114, 117, 119, 128, 153, 191, 225, 236, 257, 299, 301 Štítný ze Štítného, Tomáš  27 Stölzl, Christoph  82, 237 Štorch-Marien, Otakar  89, 92, 94 Strauß, Emil  83, 86 Streinz, Franz  233 Strindberg, August  239, 300 Strnad, Jaroslav  291, 292 Strobl, Karl Hans  113, 114, 119, 135 Styblík, Vlastimil  274 Suchý, Josef  125, 126 Šup, Josef  93, 101 Sušil, František  164 Sušová, Veronika  28 Švabinský, Max  55 Svatá, Jarmila  99 Svatuška, Ladislav  106 Svozilová, Naďa  276, 278, 279, 282



Synek, Adolf (auch Verlag)  211 Szabó, Miloslav  7 Taine, Hippolyte  136 Takebayashi, Tazuko  10 Taussig, Josef  25 Teweles, Heinrich  296 Theer, Otokar  148, 150 Thieberger, Gertrud siehe Urzidil, Gertrud[e] Thirouin, Marie-Odile  11, 19, 35, 45, 45–57, 45, 46, 47, 49, 53, 55, 146, 147, 158, 161, 162, 163, 164, 205, 211, 228, 295, 297 Thon, Jan  224 Tille, Antonín  28, 103 Toischer, Wendelin  31, 39 Tolstoj, Lew Nikolajewitsch  239 Toman, Josef  290 Toman, Karel  150, 191, 212 Topič, František  167 Topor, Michal  12, 203–217, 220 Toužimský a Moravec (Verlag)  92, 93, 94, 101 Trautmann, Reinhold  32, 35, 40, 41, 42, 235, 297 Trepte, Hans-Christian  288 Trnka, Antonín  28 Tůmová, Jiřina  101 Turek, Miloslav  253 Tutanchamun  97 Tvrdík, Milan  11, 125 Unger, Moritz  37 Urban, Milo  168 Urbanová, Věra  210 Urzidil, Gertrud[e] (geb. Thieberger)  80 Urzidil, Johannes  59, 72, 75, 80, 84, 114 Utitz, Emil  302 Vacík, Milan  282 Václavek, Bedřich  138 Václavek, Ludvík  92, 100 Vaihinger, Hans  130

Personenregister Vajanský, Svetozár Hurban  165, 167, 168, 169, 170 Vančura, Vladislav  93, 98, 100, 168, 192, 204, 212 Vassogne, Gaëlle  10, 158 Vaughan, David  249, 250, 252 Vážný, Václav  32 Velek, Luboš  18 Veselá, Gabriela  263 Veselík, Karel  28 Villon, François  95 Vladislav, Jan  104 Vlček, Jaroslav  38 Vodička, Felix  172 Vodnansky, Dr. (Mediziner)  37 Vogel, Josef  126 Vogelweide, Walther von der  143 Vojtěch, Augustin (Pseud. PEs)  94 Vojtík, Ladislav  24 Voleský, Karel (auch Verlag)  98 Vrchlický, Jaroslav  34, 55, 128, 141–159, 162, 168, 191, 203, 207, 228, 239, 243, 297 Vyskočil, Albert  212 Wagenbach, Klaus  260, 267, 268 Waggerl, Karl Heinrich  137 Wagner, Amalie (geb. Kaiser, Mutter Margaretha Eisners)  30 Wagner, Margaretha Amalie Julie siehe Eisner, Margaretha Wagner, Richard  30 Wagner, Wilhelm (Vater Margaretha Eisners)  30 Wagnerová, Dagmar (Pseud. PEs)  91, 95 Wangermann, Ernst  222

315 Warschauer, Frank  258, 300, 301 Wassermann, Jakob, 121 Watzlik, Hans  132, 133, 134, 135 Weber, Josef  23 Wedekind, Frank  203, 206, 207, 300 Weigner, Jiří  90 Weil, Jiří  99, 100 Weill, Erwin Louis Gustav  94 Weiner, Richard  129, 150 Weiskopf, Franz Carl  238 Weiss, Emil  301 Weissmann, Walter (= Whitman, Walt)  95 Wellek, Bronislav  291 Wellek, René  256 Wells, Herbert George  87 Wenig, Adolf  129 Wenzig, Josef  23, 162 Werfel, Franz  11, 22, 25, 35, 54, 55, 56, 84, 116, 120, 128, 130, 141, 148, 153, 159, 219, 225, 228, 236, 257, 259, 299, 300, 303 Werner, Michael  9 Whitman, Walt  95 Wieland, Christoph Martin  228 Wiemer, Gerald  35 Winder, Ludwig  25, 59, 70, 79, 83, 84, 219 Winicky, Ottokar  19, 144 Wirren, Jan  277 Wirthová, Božena  304 Wittek, Bruno Hans  136 Wögerbauer, Michael  7, 11, 12, 91, 108, 112, 126, 132, 219–232, 226, 231, 258, 264, 288, 291, 299 Wögerer, Erika  283 Wolfnerin, Elisabeth siehe Eisner, Elisabeth Wolkan, Rudolf  111, 112, 115

316 Wolker, Jiří  168 Wronkow, Ludwig  301 Zach, Aleš  90, 97, 291, 292 Zahra, Tara  235 Zahradníček, Jan  191, 194 Zand, Gertraude  12, 161–174 Zaplatílková, Marie  237 Závada, Jaroslav  96, 105 Závada, Vilém  101, 168, 191 Zavřel, František  204 Žídková, Dagmar  13, 236, 271–282 Zimmermann, Bénédicte  9 Zimmermann, Hans Dieter  258 Zubatý, Josef  279 Zweig, Arnold  137, 139 Zweig, Max  25 Zweig, Stefan  137, 157

Personenregister