Kunst als Brücke zwischen den Kulturen: Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung [1. Aufl.] 9783839417324

Globalisierung und Migration können zu interkulturellen Spannungen führen. Ist Kunst in der Lage, eine Brücke zwischen d

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Kunst als Brücke zwischen den Kulturen: Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung [1. Aufl.]
 9783839417324

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1. Einleitung zu Teil I (Musik der Freiheit)
2. Einleitung zu Teil II (Kunst für mehr Identität und Solidarität)
I. MUSIK DER FREIHEIT – EINE ANALYSE AFRO-AMERIKANISCHER MUSIK IM LICHT DER SCHWARZEN BÜRGERRECHTSBEWEGUNG
1. Herkunft der afro-amerikanischen Musik
1. 1 Ursprungsland Afrika
1. 2 Entwicklung in den USA – Von den Anfängen bis zur Abschaffung der Sklavenwirtschaft durch das Civil Rights Act vom 9. April 1866
1. 3 Entwicklung in den USA – Vom Ende der Sklavenwirtschaft bis zur Aufhebung der Segregation durch das Civil Rights Act vom 2. Juli 1964
2. Zeitgeschichtlicher Hintergrund: Die schwarze Bürgerrechtsbewegung
2. 1 Allgemeine Analyse
2. 2 Martin Luther King jr. – Gewaltloser Widerstand und Integration
2. 3 Malcolm X – Kampf um Recht und Anerkennung
2. 4 Martin Luther King jr. vs. Malcolm X
3. Interpretation ausgewählter Liedtexte
3. 1 Das Spiritual
3. 2 Der Blues
4. Bedeutung der afro-amerikanischen Musik in der Gesellschaft
4. 1 Der Musiker als Staatsbürger
4. 2 Der Musiker als Held und Märtyrer
4. 3 Rezeption der afro-amerikanischen Musik in der Zeitschrift Down Beat (1955-1964)
5. Hip-Hop: Moderne Sklavenerzählungen?
5. 1 Zur Bedeutung der afro-amerikanischen Musik für afro-amerikanische Schriftsteller
5. 2 Hip-Hop in der Tradition der Sklavenerzählungen
5. 3 Tupac Shakur – Ein moderner afro-amerikanischer Erzähler
5. 4 Die Beziehung von Hip-Hop zu Sklavenerzählungen
5. 5 Hip-Hop – Neue Hoffnung
II. KUNST FÜR MEHR IDENTITÄT UND SOLIDARITÄT – EINE ANALYSE DER BEDEUTUNG UND MÖGLICH KEITEN DER KUNST IN DER GESELLSCHAFT
6. Die Bedeutung der Kunst in der Antike
6. 1 Platon: Ambivalenz bezüglich des Werts der Kunst
6. 2 Aristoteles: Unterschiedlicher Nutzen der Kunst
6. 3 Zwischen den Positionen Platons und Aristoteles
7. Identität durch Kunst
7. 1 Differenzen und Analogien zwischen klassischer und Alltagskunst
7. 2 Differenzen und Analogien zwischen Kunst und Wissenschaft
7. 3 Die Ausdrucksfähigkeit der Kunst
7. 4 Die Vermittlung von Erfahrung durch Kunst
7. 5 Die Kunst in der Gemeinschaft
8. Solidarität durch Kunst
8. 1 Wahrheit als eine Frage des Vokabulars
8. 2 Durch Kunst zu neuen Überzeugungen
8. 3 Weniger Grausamkeit durch Kunst
8. 4 Mehr Solidarität durch Kunst
Schlusswort
Anhang
Abkürzungen
Bibliographie

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Jürg Martin Meili Kunst als Brücke zwischen den Kulturen

Kultur und soziale Praxis

Für María

Jürg Martin Meili ist als (Mittelschul-)Lehrer und freischaffender Journalist tätig.

Jürg Martin Meili

Kunst als Brücke zwischen den Kulturen Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2010 auf Antrag von Prof. Dr. Georg Kohler und Prof. Dr. Therese Steffen als Dissertation angenommen. Publiziert mit freundlicher Unterstützung der AllBlues Konzert AG.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Jürg Martin Meili Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1732-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Einleitung | 13

1. 2.

I.

Einleitung zu Teil I (Musik der Freiheit) | 15 Einleitung zu Teil II (Kunst für mehr Identität und Solidarität) | 27

MUSIK DER F REIHEIT – EINE ANALYSE AFRO - AMERIKANISCHER M USIK IM LICHT DER SCHWARZEN B ÜRGERRECHTSBEWEGUNG | 31 1.

Herkunft der afro-amerikanischen Musik | 33

1. 1 Ursprungsland Afrika | 33 1. 2 Entwicklung in den USA – Von den Anfängen bis zur Abschaffung der Sklavenwirtschaft durch das Civil Rights Act vom 9. April 1866 | 46 1. 3 Entwicklung in den USA – Vom Ende der Sklavenwirtschaft bis zur Aufhebung der Segregation durch das Civil Rights Act vom 2. Juli 1964 | 56 2.

Zeitgeschichtlicher Hintergrund: Die schwarze Bürgerrechtsbewegung | 65 2. 1 Allgemeine Analyse | 66

2. 2 Martin Luther King jr. – Gewaltloser Widerstand und Integration | 83 2. 3 Malcolm X – Kampf um Recht und Anerkennung | 96 2. 4 Martin Luther King jr. vs. Malcolm X | 105 3.

Interpretation ausgewählter Liedtexte | 111

3. 1 Das Spiritual | 111 3. 2 Der Blues | 129

4.

Bedeutung der afro-amerikanischen Musik in der Gesellschaft | 145 4. 1 Der Musiker als Staatsbürger | 145 4. 2 Der Musiker als Held und Märtyrer | 156

4. 3 Rezeption der afro-amerikanischen Musik in der Zeitschrift Down Beat (1955-1964) | 168 5.

Hip-Hop: Moderne Sklavenerzählungen? | 185

5. 1 Zur Bedeutung der afro-amerikanischen Musik für afro-amerikanische Schriftsteller | 186 5. 2 Hip-Hop in der Tradition der Sklavenerzählungen | 190 5. 3 Tupac Shakur – Ein moderner afro-amerikanischer Erzähler | 201 5. 4 Die Beziehung von Hip-Hop zu Sklavenerzählungen | 209 5. 5 Hip-Hop – Neue Hoffnung | 211

II. KUNST FÜR MEHR IDENTITÄT UND SOLIDARITÄT – EINE ANALYSE DER BEDEUTUNG UND MÖGLICH KEITEN DER K UNST IN DER GESELLSCHAFT | 213 Die Bedeutung der Kunst in der Antike | 215 6. 1 Platon: Ambivalenz bezüglich des Werts der Kunst | 215 6. 2 Aristoteles: Unterschiedlicher Nutzen der Kunst | 225 6. 3 Zwischen den Positionen Platons und Aristoteles | 235 6.

7.

Identität durch Kunst | 243

7. 1 Differenzen und Analogien zwischen klassischer und Alltagskunst | 243 7. 2 Differenzen und Analogien zwischen Kunst und Wissenschaft | 248 7. 3 Die Ausdrucksfähigkeit der Kunst | 250 7. 4 Die Vermittlung von Erfahrung durch Kunst | 253 7. 5 Die Kunst in der Gemeinschaft | 260

8.

Solidarität durch Kunst | 267

8. 1 8. 2 8. 3 8. 4

Wahrheit als eine Frage des Vokabulars | 267 Durch Kunst zu neuen Überzeugungen | 277 Weniger Grausamkeit durch Kunst | 280 Mehr Solidarität durch Kunst | 286

Schlusswort | 291 Anhang | 298 Abkürzungen | 304 Bibliographie | 306

Vorwort

„Are you a Hobby-Afro-American?“ Diese Gegenfrage stellte mir die schwarze Gospelsängerin Hedreich Nichols auf meine Frage, ob für sie das Spiritual Oh Freedom1, das sie vor ein paar Minuten gesungen habe, immer noch einen Wunsch nach mehr Freiheit verkörpere. Anlässlich einer Konzertrezension für den Landboten hatte ich 1998 die Gelegenheit, mit der Wahlglarnerin Hedreich Nichols nach ihrem Auftritt mit den Glarner Inspirational Singers im Stadthaussaal Winterthur ein kleines Interview zu führen.2 Ich wollte die Gelegenheit nutzen, Nichols’ Ansichten zum Thema der Sklaverei, Segregation und Rassendiskriminierung zu erfahren. Enttäuscht musste ich jedoch feststellen, dass die junge Sängerin kein großes Interesse an dieser Frage hatte, da für sie andere Probleme wesentlicher waren. In den USA geboren und aufgewachsen, lebte sie damals bereits seit zwei Jahren in der Schweiz und fühlte sich völlig integriert. Sie wusste allerdings über die Problematik Bescheid, wusste vom Leid der Sklaven und der segregierten Schwarzen, wusste, dass auch heute noch rassenbedingte Probleme in den USA bestehen, doch für sie war dies eben Geschichte. Geschichte, wie mir schien, an die sie lieber nicht erinnert werden wollte. Alle müssten ihren eigenen Weg in die Freiheit finden, erklärte sie mir, sie selbst habe ihren gefunden. Ihre Gegenfrage war berechtigt. Weshalb sollte ich als Schweizer, als Weißer, mich einem Thema widmen, das mich eigentlich nicht betrifft?

1

Vgl. Kap. 1. 2 (S. 55) und 3. 1 (S. 113).

2

Meili, Jürg. Halleluja – Gospel aus Glarus von Hedreich Nichols. In: Der Landbote. Nr. 201. 1. Sept. 1998. S. 13.

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Darauf gibt es nur eine Antwort: Musik! Schon als Kind saß ich stundenlang vor dem Plattenspieler und hörte Musik. Dann fing ich an, Gitarre zu spielen und alte Spirituals zu üben, deren Texte ich damals noch nicht verstand. Der freche Blues faszinierte mich bald mehr und mit der Zeit begann ich die Texte zu verstehen und mich zu fragen, wie sie entstanden waren. Dabei stieß ich auf die afro-amerikanische Geschichte, die mich tief bewegte. Diese wiederum weckte mein Interesse für die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA und die unterschiedlichen Bemühungen von Rev. Martin Luther King jr. und Malcolm X um mehr Gerechtigkeit für die Afro-Amerikaner. Gewiss, ich selbst bin kein Afro-Amerikaner. Doch vielleicht gelingt es mir aus der Ferne objektiver als aus unmittelbarer Nähe über die Problematik von Schwarz und Weiß in den USA zu schreiben und die afro-amerikanische Musik diesbezüglich zu analysieren, die für mich persönlich immer eines bedeutet hat: Freiheit! Je mehr ich den Einfluss der afro-amerikanischen Musik auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung erforschte, desto mehr interessierten mich Fragen philosophischer Natur, welche die Thematik auf eine abstraktere Ebene führten, und ich fragte mich, inwiefern die Kunst generell einen Einfluss auf die Gesellschaft ausübt, ob Kunst generell zu mehr gegenseitiger Verständigung und zu mehr Respekt zwischen den Kulturen beitragen kann. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang speziell meinem Doktorvater Georg Kohler, der mir durch Vorlesungen, Seminare und inspirierende Gespräche immer wieder viel Mut und wertvolle Anregungen gab, philosophischen Fragen – ob bezüglich Kunst, Gesellschaft oder Politik – nachzugehen. Auch möchte ich Therese Steffen für ihre wertvollen Inputs bezüglich der Fragen zu Sklaverei, Segregation und Rassismus in den USA und der literarischen Verarbeitung dieser Thematik herzlich danken. Herzlicher Dank gebührt selbstverständlich auch Urs Bitterli für seine konzeptionelle Anregung des 1. Teils und konstruktive Kritik sowie seine Sensibilisierung für fremde Kulturen. Gerne möchte ich auch meinen Studien- und Arbeitskollegen Thomas Gering, Matthias Schaedler, Paul Schneeberger, Christof Münger und Thomas Lattmann danken, die mir mit Rat und Tat und anregenden Diskussionen beim Abfassen der Arbeit zur Seite standen. Besonderen Dank schulde ich auch meiner Familie, insbesondere meinen Eltern Heino und Marietheres Meili-Portmann, die meine Interessen

V ORWORT

| 11

finanziell und moralisch immer nach Kräften förderten. Dank gebührt auch meiner leider verstorbenen Patin Sylvia Meili sowie meinen amerikanischen Verwandten in New York, welche mir Amerika näher brachten und mein Interesse an der Musik immer unterstützten. Last but not least möchte ich mich ganz herzlich bei meiner Frau Maria Eulalia Quintanilla Monge bedanken, die auch in schwierigen Zeiten immer zu mir gestanden hat, sowie ihrer Familie in Sevilla (Spanien), bei der ich immer wie einer der Ihren willkommen bin.

Einleitung

Globalisierung und Migration sind Schlagwörter, welche die heutige Diskussion in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens dominieren. Dass Globalisierung und Migration unabänderliche Tatsachen des 21. Jahrhunderts sind, wird dabei kaum in Frage gestellt. Vielmehr dreht sich die Diskussion darum, ob Globalisierung und Migration als unausweichliches Übel oder als großartige Chance betrachtet werden müssen. Die Probleme scheinen dabei häufig im Vordergrund zu stehen, während sich die Chancen bedeutend weniger aufdringlich präsentieren. Eines der großen Probleme ist in diesem Zusammenhang das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Kulturen.1 Durch den unterschiedlichen kulturellen Hintergrund scheinen Probleme sowohl auf zwischenmenschlicher wie auch zwischenstaatlicher Ebene oft unausweichlich, die Gräben zwischen den Kulturen oft unüberwindbar zu sein, was oft zu verbalen Gefechten, verbissenen Kämpfen oder sogar zu Kriegen führt. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen muss allerdings nicht zwangsläufig zu Konflikten führen. Vielmehr können sich unterschiedliche Kulturen gegenseitig auf vielfältige Arten bereichern, sofern ein fruchtbarer Dialog und gegenseitiges Verständnis vorhanden sind oder angestrebt werden. Dabei stellen sich folgende zwei Fragen: Wie können unterschiedliche Kulturen in einen fruchtbaren Dialog treten? Und: Wie kann gegenseitiges Verständnis gefördert werden?

1

Vgl. dazu: Huntington, Samuel P. Der Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. (Originaltitel: The clash between civilizations) München 1998.

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Eine der Möglichkeiten, den Dialog, das gegenseitige Verständnis resp. die Verständigung zwischen den unterschiedlichen Kulturen zu fördern, ist meines Erachtens die Kunst. Doch kann und soll sie dies wirklich? Und wenn ja: Wie kann Kunst2 als Brücke zwischen den Kulturen3 dienen? Um diese Fragen zu untersuchen, möchte ich im ersten, soziohistorischen Teil anhand der afro-amerikanischen Musik zeigen, dass die Kunst – im Speziellen die Musik – in der amerikanischen Gesellschaft für mehr Toleranz und Akzeptanz oder sogar für Respekt und Achtung zwischen Weißen und Farbigen hilfreich war und immer noch ist. Im zweiten, sozio-philosophischen Teil soll vom ersten Teil ausgehend auf einer theoretischen Ebene untersucht werden, ob und warum und wie es der Kunst möglich sein kann, als Brücke zwischen den Kulturen zu fungieren. Dabei stellt sich in einem ersten Schritt die Frage: Was ist Kunst? Oder: Was will, kann oder soll sie sein? Diesbezüglich soll der Fokus nicht auf ästhetische Aspekte gerichtet werden, sondern darauf, was die Kunst auf sozialer Ebene zu leisten vermag, sowohl im individuellen, wie im gesellschaftlichen Bereich. Diese Fragen sollen vorwiegend am Beispiel der afro-amerikanischen Musik und ihres Einflusses auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung veranschaulicht werden. Dabei werden auch kulturphilosophische, ethnologische sowie soziologische Fragen gestreift. Nachdem der Frage nachgegangen worden ist, was die Kunst in Bezug auf die Verständigung und Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen

2

Im ersten Teil steht die afro-amerikanische Musik im Zentrum der Untersuchug. Im zweiten Teil wird der Begriff „Kunst“ ausgeweitet und ist zunächst ganz allgemein aufzufassen. Je nach Zusammenhang und Interpretation können unter diesem Begriff auch Kunstwerke, Künstler, Ästhetik, ästhetische Erfahrung oder sogar bloss Handwerk u.v.m. subsumiert werden. Der Begriff wird im Verlauf der Untersuchung jeweils genauer hinterfragt, interpretiert oder definiert.

3

Analog zur Kunst steht im ersten Teil die afro-amerikanische Kultur im Vergleich mit der weissen amerikanischen Kultur im Zentrum. Im zweiten Teil wird der Begriff „Kultur“ ebenfalls ausgeweitet und ist zunächst ganz allgemein aufzufassen. Je nach Zusammenhang und Interpretation können unter diesem Begriff staatliche, religiöse oder geographische Gemeinschaften sowie solche, die es aufgrund der Hautfarbe oder anderer Kriterien gibt, subsumiert werden. Der Begriff wird im Verlauf der Untersuchung jeweils genauer hinterfragt, interpretiert oder definiert.

E INLEITUNG | 15

leisten kann – und wo eventuell auch Gefahren lauern –, soll erörtert werden, ob sich daraus allenfalls normative Forderung ergeben könnten – z.B. nach Zensur oder gezielter Förderung – beziehungsweise ob solche Maßnahmen angebracht oder eher kontraproduktiv wären. Diese Arbeit ist nicht eine geradlinige Abfolge von Überlegungen und Gedankengängen. Vielmehr werden verschiedene Aspekte aus Philosophie, Geschichte, Soziologie, Ethnologie sowie Musik- und Literaturwissenschaft aufgegriffen, unter verschiedenen Aspekten beleuchtet und zueinander in Beziehung gebracht. Es wird also versucht, ein Bild zu entwerfen, welches sich aus verschiedenen Puzzleteilen zusammensetzt. Wie dies in den jeweiligen Teilen geschieht, soll nun dargelegt werden.

1. E INLEITUNG

ZU

T EIL I (M USIK

DER

F REIHEIT )

We Shall Overcome4 – die Freiheitshymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung – erschütterte am 28. August 1963 das Weiße Haus in Washington. 250.000 weiße und schwarze Demonstranten sangen an jenem Tag vor dem Capitol We Shall Overcome, und Rev. Martin Luther King jr. verkündete in seiner berühmten Rede I Have a Dream5 seinen Traum. Ein Traum, der auf ein glücklicheres Leben für weiße und schwarze Amerikaner verwies. Ein Traum, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle verhieß. Doch nicht alle Amerikaner träumten diesen Traum oder sangen We Shall Overcome. Während die schwarze Bürgerrechtsbewegung mit dem Marsch auf Washington6 ihren Höhepunkt erreichte, waren noch lange nicht alle Probleme bezüglich der Rassentrennung in Amerika aus dem Weg geräumt. Aber zumindest wurden die Probleme von einer breiten Öffentlichkeit und der Regierung erkannt. Der Gesang der Freiheitslieder wurde von den Politikern nicht überhört, und am 2. Juli 1964 wurde das Bürgerrechtsgesetz – Civil Rights Act – unterzeichnet.

4

Vgl. Kapitel 3. 1. 3 (S. 125).

5

King, Martin Luther. I Have a Dream. Washington, James Melvin. (Hg.). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. Vgl. auch Kapitel 2. 1 (S. 83).

6

Vgl. Kapitel 2. 1 (S. 82).

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Damit waren allerdings erst die rechtlichen Missstände beseitigt. Die rassenbedingten Vorurteile gegenüber Afro-Amerikanern verflogen nicht von einem Tag auf den anderen. Diese Vorurteile waren vor über dreihundert Jahren mit den ersten Sklavenschiffen nach Amerika gekommen und bildeten – wie die Sklaven selbst – mit den begleitenden Ungerechtigkeiten einen Teil des täglichen Lebens in den USA. Ungerechtigkeiten, die mit der Unterdrückung schwarzer Sklaven durch weiße Sklavenhalter einhergingen und sich teilweise in Sklavenaufständen, viel häufiger aber in der afroamerikanischen Musik bemerkbar machten. Obwohl die Sklaven mit dem Ende des Sezessionskriegs (1861-1865) auch in den Südstaaten die Freiheit erhalten hatten, endete das an Schwarzen verübte Unrecht nicht. So drückten die Afro-Amerikaner ihre Hoffnung und ihr Leid weiterhin in ihrer Musik aus, einer Musik, die vielleicht eher mit Musik der Unfreiheit betitelt werden müsste, als mit Musik der Freiheit.

1. 1 Fragestellung Weshalb Musik der Freiheit? Diese Frage – obwohl eine Grundfrage des ersten Teils dieser Arbeit – ist philosophischer Natur. Konkreter stellt sich zunächst die Frage nach dem Zusammenhang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der afro-amerikanischen Musik. Dazu gibt es Zeugnisse: Einerseits betonten nämlich Martin Luther King jr. und andere Führer der Bürgerrechtsbewegung, wie wichtig die Musik für die Bewegung sei, anderseits nahmen Musiker Bezug auf die sozio-politische Situation und Geschichte, die ihre Musik beeinflussten. Äußerungen dieser Art, die auf eine gegenseitige Stimulation zwischen der afro-amerikanischen Musik und der Bürgerrechtsbewegung verweisen, bilden den Gegenstand der folgenden Untersuchungen. Damit ergibt sich folgende zentrale Fragestellung: Inwiefern beeinflussten einander die afro-amerikanische Musik und die schwarze Bürgerrechtsbewegung? Diese Kernfrage wird im Folgenden von fünf Seiten beleuchtet. Zunächst stellt sich die Frage nach der Herkunft der afro-amerikanischen Musik: Wo liegen die Wurzeln der afro-amerikanischen Musik, und wie entwickelte sich diese Musik – vor und nach dem Sezessionskrieg – in den USA? Hierzu ist es unerlässlich, einige musiktheoretische Aspekte zu betrachten, doch soll vor allem auf das soziale Umfeld fokussiert werden, in

E INLEITUNG | 17

welchem die afro-amerikanische Musik entstanden ist. Dies geschieht in drei Schritten. Erstens stellt sich die Frage nach dem Ursprungsland Afrika. Was charakterisierte die afrikanische Musik, und in welchem sozialen Kontext wurde sie praktiziert? Zweitens ist die Entwicklung dieser Musik in den USA während der Sklaverei zu untersuchen. Inwiefern entwickelte sich die afrikanische Musik zur afro-amerikanischen Musik? Schließlich soll gezeigt werden, wie sich diese neue Musik nach der Abschaffung der Sklavenwirtschaft entfaltete. Welche Formen nahm die afro-amerikanische Musik in der Freiheit an? Der zeitgeschichtliche Hintergrund bildet den zweiten Schwerpunkt. Untersuchungsgegenstand ist die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die Art und Weise, wie sie sich manifestierte. Zunächst werden die wichtigsten Organisationen, deren Anliegen, Ziele sowie deren Aktivitäten aufgezeichnet. Des Weiteren werden die beiden wichtigsten Figuren im Kampf um die Gleichberechtigung – Rev. Martin Luther King jr. und Malcolm X – einander gegenübergestellt. Dabei soll das Augenmerk auf deren Äußerungen in Bezug auf die afro-amerikanische Musik gerichtet und der Frage nachgegangen werden, wie das musikalische Erbe von der Bürgerrechtsbewegung absorbiert und reflektiert worden ist. Mit anderen Worten: Welche Rolle spielte die afro-amerikanische Musik in der Bürgerrechtsbewegung? Da Martin Luther King jr. und Malcolm X immer wieder auf die afroamerikanische Musik und deren Liedtexte hinwiesen, bildet die Interpretation einiger ausgewählter Liedtexte den dritten Schwerpunkt der Untersuchungen. Wie können Spirituals und Bluessongs charakterisiert werden, und inwiefern sind sie sozio-politisch gehaltvoll? Hierzu werden zunächst die Spirituals und der Blues allgemein erläutert und anhand der gewonnenen Erkenntnisse einige spezifische Liedtexte untersucht. Im vierten Kapitel wird die Bedeutung der afro-amerikanischen Musik in der Gesellschaft behandelt. Obwohl ein Musiker nicht Politiker ist, übt er einen gewissen Einfluss auf soziale und politische Veränderungen in der Gesellschaft aus. Er nimmt gesellschaftliche Strömungen in seine Musik auf und reflektiert sie oder verkörpert mit Wort und Tat eine soziopolitische Haltung. Dies kann er einerseits als einfacher Staatsbürger tun, andererseits tut er dies in verstärkter Form gewissermaßen als Held und Märtyrer7. Als durchschnittlicher Staatsbürger wird der Musiker zwar we-

7

Diese Begriffe werden im Kapitel 4. 2 (S. 156ff.) genauer erläutert.

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niger beachtet, doch heißt dies nicht, dass er dadurch sozio-politische Strömungen weniger mitträgt. Vielmehr bildet der einfache Musiker mit seiner Musik die Basis, auf welcher der erfolgreiche Musiker zum Helden und Märtyrer wird und eine breite Beachtung erlangt. Der Musiker als Held und Märtyrer wird von der Gesellschaft stärker wahrgenommen. Somit ergeben sich für den vierten Schwerpunkt folgende drei Fragen: Wie reagierte die schwarze und weiße Gesellschaft auf die afro-amerikanische Musik? Wie stellte sich der Musiker als Staatsbürger, als Held und als Märtyrer zum Rassenproblem in den USA? Und wie wirkte er allenfalls auf soziopolitische Veränderungen ein? Im fünften Kapitel werden nicht mehr explizit die Auswirkungen der Musik auf die Bürgerrechtsbewegung untersucht. Doch da sich die Situation der Afro-Amerikaner nach der Unterzeichnung des Civil Rights Act nur rechtlich verbesserte, soll untersucht werden, inwiefern der Hip-Hop – eine weitere Variante der afro-amerikanischen Musik – sich auf die Lebenssituation der Afro-Amerikaner auswirkte. Hierzu wird zunächst aufgezeigt, inwiefern sich der Hip-Hop oder die Rap-Musik auf die afro-amerikanische Musik beziehungsweise die Slave Narratives – die Sklavenerzählungen – zurückverfolgen lässt. Dies soll erstens daran abgelesen werden, wie afroamerikanische Schriftsteller und ihre Werke durch die afro-amerikanische Musik während der letzten zweihundert Jahre beeinflusst wurden. Zweitens soll ein Überblick über den Ursprung und die Entwicklung des Hip-Hop und der Rap-Musik gegeben sowie aufgezeigt werden, dass diese Kultur mit einer langen Tradition oraler Überlieferung und Historiographie in Zusammenhang steht. Dann soll auch verdeutlicht werden, dass die Hip-HopKultur immer wieder auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung und deren Exponenten Bezug genommen hat und immer noch nimmt. Schließlich soll anhand einer Analyse des berühmten Rap-Gedichts Dear Mama des verstorbenen Künstlers Tupac Shakur vor Augen führen, dass Kunst als eine Brücke zwischen den Kulturen dienen kann und dies bisweilen auch tut.

E INLEITUNG | 19

1. 2 Forschungsstand und Quellenlage Eine Verknüpfung der afro-amerikanischen Musik mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gibt es bis heute in der Fachliteratur nicht. Doch erfreuen sich beide Themenkreise großer Popularität. Dies birgt Chancen und Gefahren in sich. Zu beiden Themen wird zwar viel, aber einiges nur gerade wegen dieser Popularität veröffentlicht. Nicht alle Publikationen stammen jedoch vom selben Autor, und populäre Themen ihrer Popularität wegen zu verdammen, wäre genauso kleinlich und kurzsichtig, wie sie aus diesem Grund aufzugreifen. Allerdings lässt sich selbst bei den seriösen Werken eine gewisse Emotionalität nicht leugnen. Dies ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, denn beide Themen erhitzen auch heute noch die Gemüter. Viele Autoren, die schwarzen in stärkerem Masse als die weißen, werden zudem durch persönliche Erfahrungen motiviert. Um ein möglichst unverzerrtes Bild zu zeichnen, ist es deshalb unerlässlich, schwarze und weiße Autoren gleichermaßen zu berücksichtigen. Bereits der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville wies in seinem 1835 veröffentlichten ersten Teil der Aufzeichnungen De la démocratie en Amérique auf ein politisches und soziales Pulverfass bezüglich der Sklaven- und Rassenfrage hin.8 Rund fünfundzwanzig Jahre später entfachte sich an diesen Fragen der amerikanische Bürgerkrieg, welcher zwar das Sklavenproblem, jedoch nicht das Rassenproblem löste. Die wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber den Afro-Amerikanern blieben bestehen. Dies führte zwar nicht zu einem erneuten Bürgerkrieg, aber zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Diese und der weltweite Kampf um die Dekolonisation waren Anlass für eine Flut von Publikationen zur Sklavenfrage, welche in den unterschiedlichsten Facetten behandelt wurde. Wirtschaftliche und politische Aspekte wurden ebenso stark berücksichtig wie soziale oder kulturelle.9

8

Alexis de Tocqueville und sein Freund Gustave de Beaumont bereisten 1831 Amerika offiziell, um das fortschrittliche Strafvollzugswesen des anderen revolutionär definierten Staates der westlichen Welt zu studieren. Tocqueville, Alexis de. De la démocratie en Amérique. Paris 1981. Bd. I, S. 453-480.

9

Hierzu zwei Beispiele: Deburg, William L. Van. Slavery & Race in American Popular Culture. London 1984. / Wirz, Albert. Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem. Frankfurt am Main 1984.

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Zur Bürgerrechtsbewegung sind in der Forschung zwei Hauptrichtungen zu erkennen, eine konziliantere und eine militantere. Dabei bewertet die erste die Bewegung im allgemeinen trotz aller negativen Aspekten positiv, während die zweite vor allem die unerfüllten Träume und unerreichten Ziele betont. Falls die schwarze Bürgerrechtsbewegung nicht losgelöst betrachtet wird, so wird sie entweder im Zusammenhang mit anderen Bewegungen der fünfziger und sechziger Jahre aufgegriffen, oder dann werden deren Postulate mit den heutigen Realitäten verglichen.10 Die umfassendste Sammlung von Schriften zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung wurde 1989 in achtzehn Bänden von David J. Garrow veröffentlicht.11 Es erscheinen jedoch jährlich zu diversen Teilaspekten neue Publikationen12, darunter auch Zeitschriften-13 und Zeitungsartikel14, welche die Thematik unter neuen Gesichtspunkten betrachten und enger oder weiter fassen.

10 Hierzu zwei Beispiele: Eyermann, Ron / Jamison, Andrew. Social Movements – A Cognitive Approach. University Park (Pennsylvania, USA) 1991. / Williams, Clarence G. (Hg.). Reflections of the Dream, 1975-1994. Cambridge (Massachusetts, USA) / London (England) 1996. 11 Garrow, David J. (Hg.). The Civil Rights Movement in the United States in the 1950’s and 1960’s (Bd. 1-18). Brooklyn (N.Y., USA) 1989. 12 Eine der neuesten deutschsprachigen Publikationen stellt Black Perspectives von Peter Michels dar, der eigene Tonbandaufnahmen zu verschiedenen Bewegungen im Kampf um mehr Gleichheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung auswertet.

Der

Zusammenhang

dieser

Berichte

zu

verschiedenen

afro-

amerikanischen und karibischen Bewegungen im Kampf um ethnische und kulturelle Selbstbehauptung besteht einzig in den afrikanischen Wurzeln. Vgl. Michels, Peter. Black Perspectives – Berichte zur schwarzen Bewegung (Bd. I + II). Bremen 1999. 13 Hierzu ist speziell die seit 1992 vierteljährlich erscheinende Zeitschrift African American Review (AAR) zu erwähnen, die immer wieder im Rahmen afroamerikanischer Literatur auf Aspekte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung oder auf moderne Rassenprobleme eingeht. Vgl. African American Review – Division on Black American Literature and Culture of the Modern Language Association. Terre Haute (Indiana) – Indiana State University 1992-. 14 Hierzu zwei Beispiele: Die Neue Zürcher Zeitung hat in ihrem Artikel Die Wiederentdeckung des Pogroms von Tulsa die blutigen Rassenunruhen von 1921 aufgenommen und ist mittels Interviews zum Schluss gekommen, dass sich die

E INLEITUNG | 21

Früher als Negermusik15 belächelt, wird die afro-amerikanische Musik heute als fester Bestandteil in der zeitgenössischen Kultur immer wieder unter neuen Aspekten thematisiert. Neben dem Tratsch und Klatsch der Unterhaltungsindustrie erscheinen wissenschaftliche Publikationen, in denen diese Musik unter ethnischen, soziologischen oder auch musiktheoretischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Einer der Ersten, der die afroamerikanische Musik ernst nahm und unter musiktheoretischen Aspekten untersuchte, war der Musiker und Komponist Gunther Schuller. Ihm gelang es nicht nur, diese Musik unter ethnisch-soziologischen Gesichtspunkten nach Afrika zurückzuverfolgen, sondern auch, sie mittels musiktheoretischen Untersuchungen zu analysieren und die Verbindungen zu den afrikanischen Wurzeln aufzuzeigen.16 Der schwarze Autor LeRoi Jones – später nannte er sich Amiri Baraka – leistete mit Blues People17 einen wesentlichen Beitrag zur afroamerikanischen Musik. Seine provokativen soziologischen Ausführungen zur Geschichte der afro-amerikanischen Musik ergaben neue Sichtweisen und stellten gemäßigtere Werke wie Die Story vom Jazz18 von Marshall W. Stearns in Frage. Der rebellische LeRoi Jones vertritt allerdings zuweilen eine gefährlich militante Position, die den nüchternen Betrachtungen der Blues-Experten

Situation für die heutigen Schwarzen nur teilweise verbessert hat. Vgl. Schmid, Ulrich: Die Wiederentdeckung des Pogroms von Tulsa – Aufklärungsarbeiten nach Dezennien des Schweigens. In: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 137. 17. Juni 1999. S. 7. Ebenfalls hat Die Zeit mit ihrem Artikel Feind und Helfer das Thema kritisch unter die Lupe genommen, indem sie auf heutige Missstände bezüglich der New Yorker Polizei im Umgang mit Andersfarbigen hingewiesen hat. Vgl. Pinzler, Petra: Feind und Helfer. In: Die Zeit. Nr. 31. 29. Juli 1999. S. 7. 15 Der Begriff Neger wird in speziellen Fällen gebraucht, soll jedoch keinesfalls den Afro-Amerikaner abwerten. 16 Schuller, Gunther. Early Jazz – Its Roots and Musical Development. New York 1968. 17 Jones, LeRoi. Blues People – Schwarze und ihre Musik im weissen Amerika. (Originalausgabe: Blues People. 1963.) Übersetzt von einem Berliner Studentenkollektiv. Lektoriert durch: Manfred Riedel. Darmstadt 1969. 18 Stearns, Marshall W. Die Story vom Jazz. (Originalausgabe: The Story of Jazz. New York 1956.) Übersetzt von Hanns Krammer. München 1959.

22 | K UNST ALS B RÜCKE ZWISCHEN DEN K ULTUREN

Paul Oliver19 oder Giles Oakley20 nicht immer standhält. Generell treten immer wieder zwei gegensätzliche Positionen hervor. Einerseits wird die afro-amerikanische Musik als kraftvolle Komponente im Prozess sozialer Veränderungen wahrgenommen, beispielsweise in den Werken Free Jazz – Black Power21 oder The Power of Black Music22. Anderseits wird sie als verbindendes Element zwischen Schwarzen und Weißen, beispielsweise in Blacks, Whites and Blues23 oder Cats of Any Color24, dargestellt. Hierzu ist interessant, dass oftmals berühmte Interpreten der afro-amerikanischen Musik anders bewertet werden als einfache Bluesmusiker.25 Die Texte dieser Bluesmusiker wurden erstmals umfassend in Poetry of the Blues26 des weißen Jazzmusikers Samuel Charters untersucht, dessen Analyse noch heute beachtet wird. Ihm gegenüber steht der schwarze Theologe James Cone, der durch seinen persönlichen Hintergrund die Texte der Spirituals und des Blues weniger als poetische Kraft reflektierte, sondern

19 Oliver, Paul (Hg.). The New Grove – Gospel, Blues and Jazz. London 1986. 20 Oakley, Giles. The Devil’s Music – A History of the Blues. London 1976/19832. 21 Carles, Philippe / Comolli, Jean-Louis. Free Jazz – Black Power. (Originalausgabe: Free Jazz – Black Power. Paris 1971.) Übersetzt von Frederica und Hansjörg Pauli. Frankfurt am Main 1973. 22 Floyd, Jr., Samuel A. The Power of Black Music. New York 1995. 23 Tony Russel zeigt darin, dass sich schwarze und weiße Musik nicht gegenseitig ausgeschlossen, sondern sich vielmehr gegenseitig stimuliert haben. Seine Untersuchungen gehen allerdings nur bis in die dreißiger Jahre, daher werden sie in der vorliegenden Arbeit nur am Rande beachtet. vgl. Russel, Tony. Blacks, Whites and Blues. New York 1970. 24 Lees, Gene. Cats of Any Color – Jazz, Black and White. New York 1994. 25 Beispielsweise versucht Alan Pomerance in Repeal of the Blues zu zeigen, wie berühmte schwarze Entertainer auf die Rassenfrage eingewirkt haben, während Alan Lomax unbekannte schwarze Musiker entdeckt und anhand von ihren Aussagen und ihrer Musik die afro-amerikanische Welt in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts skizziert hat. Vgl. Pomerance, Alan. Repeal of the Blues. Secaucus (New Jersey, USA) 1989. / Lomax, Alan. The Land Where the Blues Began. New York 1993. 26 Charters, Samuel. The Poetry of the Blues. New York 19636.

E INLEITUNG | 23

den sozialhistorischen Zusammenhang beleuchtete und damit in The Spirituals and the Blues27 entsprechende Resultate erzielte. Auf ethnologischem Gebiet wurde der Grundstein von Paul Oliver mit Savannah Syncopators und Alex Haley mit Roots gelegt.28 Professor Alex Haley, der kurz vor der Veröffentlichung von Roots die Autobiographie von Malcolm X herausgegeben hatte, gelang es, mit Roots die kulturellen Wurzeln des Blues darzulegen und seine eigene Abstammung von der Mandinke-Gesellschaft in Gambia zu beweisen. Die Mandinke-Musik und die Mandinke-Gesellschaft bildeten auch den Ausgangspunkt für die Aufsatzsammlung Schwarze Rhythmen, welche im Zusammenhang mit der gleichnamigen BBC-Fernsehsendung, im Original Repercussions, entstand und die afro-amerikanische Musik unter verschiedenen Aspekten zu ihren Wurzeln zurückverfolgte.29 Als Quellengrundlage dienen die Liedtexte der Spirituals und des Blues. Eine der ersten Sammlungen von Spirituals wurde in The Books of American Negro Spirituals30 1925 und 1926 veröffentlicht. Die Texte lassen sich allerdings auch anderweitig, z.B. in Liederbüchern, finden. Dabei ist zu beachten, dass die Spirituals größtenteils Volksgut sind und somit häufig in verschiedenen Variationen auftreten, da die Originalfassung nicht festgelegt oder nicht mehr vorhanden ist. Ähnlich verhält es sich mit den Bluestexten: Während die neueren Texte auf einen Autor zurückzuführen sind, wurden vor allem die älteren Texte immer wieder kopiert und reinterpretiert. Somit ist auch bei den Bluestexten eine traditionelle Komponente zu erkennen. Da Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung wie Martin Luther King jr. und Malcolm X sich immer wieder auf die afro-amerikanische Mu-

27 Cone, James H. The Spirituals and the Blues. Maryknoll (New York) 1972/19912. 28 Die Erkenntnisse beider Werke fliessen mittels der Aufsatzsammlung Schwarze Rhythmen in diese Arbeit ein. 29 Unter anderem brachte Professor Alex Haley 1972 anlässlich einer Vorlesung in London Musiker aus Gambia auf die Bühne, welche die Gefangennahme seines Ur-Urgrossvaters Kunta Kinteh durch Sklavenjäger erzählten. vgl. Haydon, Geoffrey / Marks Dennis (Hg.). Schwarze Rhythmen. (Originalausgabe: Repercussions.) Übersetzt von: Ossi Urchs und Sigi Höhle. München 1986. S. 8. 30 Johnson, James Weldon / Johnson, J. Rosamond. The Books of American Negro Spirituals. Binghamton (New York) 19443.

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sik bezogen, erweisen sich deren Äußerungen als interessante Quellen. Vor allem die Autobiographien von Malcolm X und Coretta Scott King31, aber auch Martin Luther Kings Warum wir nicht warten können32 erhellen die Argumentation der Bürgerrechtsvertreter. Dabei soll nicht primär der Wahrheitsgehalt dieser Aussagen im Zentrum stehen, denn dieser kann auch ohne böse Absicht verklärt erscheinen. Vielmehr soll damit gezeigt werden, wie sich die Bürgerrechtsvertreter zur afro-amerikanischen Musik stellten und damit eine breite Öffentlichkeit beeinflussten. Des Weiteren dienen vice versa die Äusserungen der Musiker in Bezug auf die Bürgerrechtsbewegung als Quellen. Diese sind in Biographien und Autobiographien oder dann in Interviews mit Reportern zu finden. Vor allem die Zeitschrift Down Beat33 liefert reichhaltiges Material. Sie widerspiegelt nicht nur die Äußerungen der Musiker, sondern repräsentierte als weltweit anerkannte Musikzeitschrift zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung die öffentliche Wahrnehmung der Interaktion zwischen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der afro-amerikanischen Musik. Die Literatur, auf welche bei der Besprechung des zeitgenössischen HipHops Bezug genommen wird, umfasst sozio-kulturelle und historische wie auch musikalische und poetische Aspekte. Als Sekundärliteratur sollen hauptsächlich folgende Arbeiten dienen: Greg Dimitriadis’ Performing Identity/Performing Culture – Hip Hop as Text, Pedagogy, and Lived Practice34, Guthrie P. Ramsey, Jr.’s Race Music – Black Cultures from Bebop to

31 King, Coretta Scott. Mein Leben mit Martin Luther King. (Originalausgabe: My Life with Martin Luther King, Jr. New York 1969.) Übersetzt von Christa Wegen. Stuttgart 1970. / Malcolm X. The Autobiography of Malcolm X. Haley, Alex (Hg.). London / Melbourne / Sydney / Auckland / Bombay / Toronto / Johannesburg / New York 1966. 32 King, Martin Luther, Jr. Why We Can’t Wait. Washington, James Melvin. (Hg). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. 33 Down Beat – Music from Coast to Coast. Chicago (Illinois) 1934-. (Januar 1955 - Dezember 1964). 34 Dimitriadis, Greg. Performing Identity/Performing Culture – Hip Hop as Text, Pedagogy, and Lived Practice. New York 2001.

E INLEITUNG | 25

Hip-Hop35 und Robert H. Cataliottis The Music in African American Fiction36. Für zeitgenössisches Material werden auch Quellen aus dem Internet verwendet. Auch wird auf Internetseiten wie wikipedia.org oder youtube.com verwiesen.

1. 3 Methodik und Aufbau Eine Analyse der afro-amerikanischen Musik vorzunehmen ist eine Aufgabe, die in doppelter Hinsicht endlos erscheinen mag. Zum einen gibt es bekanntlich immer wieder neue Erkenntnisse, je mehr die Forschung ins Detail geht. Zum anderen ist die afro-amerikanische Musik nichts Abgeschlossenes, sondern lebt und wandelt sich heute genauso stark wie früher auch schon. Junge Musiker verknüpfen ihre neuen Ideen und Ansichten mit den musikalischen Vorgaben ihrer Idole, verdammen ihre musikalischen Väter, um sich mit ihren musikalischen Großvätern zu verbünden, und kreieren neue musikalische Ausdrucksformen, die sich schließlich wieder in die Tradition einfügen. Ebenso unmöglich mag es erscheinen, die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Zu vielfältig sind ihre Erscheinungsformen, die sich ebenso vielfältig im Süden wie im Norden manifestierten. Die Probleme von damals, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, lösten sich zudem nur teilweise und erscheinen heute oft einfach in anderer Form. Die Verbindung beider Themenkreise – mathematisch gesprochen die Schnittmenge – ermöglicht allerdings eine sinnvolle Forschung. Mit diesem neuen Ansatz soll gezeigt werden, ob und wie sich eine gegenseitige Beeinflussung der afro-amerikanischen Musik und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung ergab, und welche Resultate sich daraus ableiten lassen. Im Fokus der Untersuchung steht der Zeitraum zwischen dem eigentlichen Beginn der Bürgerrechtsbewegung 1955 und der Unterzeichnung des

35 Ramsey, Jr. , Guthrie P. Race Music – Black Cultures from Bebop to Hip-Hop. Berkley/Los Angeles/London 2003. 36 Cataliotti, Robert H. The Music in African American Fiction. New York/London 1995.

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Civil Rights Act 1964. Allerdings darf der historische Kontext nicht unbeachtet bleiben, um diese Zeitspanne zu interpretieren. Somit ist es unerlässlich, die historische Entwicklung der afro-amerikanischen Musik sowie der sozio-politische Strömungen, die zur Bürgerrechtsbewegung hinführten, zu untersuchen. Zudem sollen Fragen bezüglich der Lebensqualität der AfroAmerikaner heute in Bezug auf moderne Musikrichtungen erörtert werden und damit den ersten Teil abrunden. Gemäß der Fragestellung gliedert sich der erste Teil in fünf Schwerpunkte. Anhand dieser wird die Thematik von fünf unterschiedlichen Seiten her beleuchtet, wobei die Fragen am Anfang präzisiert und die Teilergebnisse am Ende der jeweiligen Hauptkapitel aufgeführt werden. Zunächst wird auf musiktheoretischer Ebene gezeigt, dass die afroamerikanische Musik der afrikanischen Musiktradition entstammt. Mittels ethnologischer Erkenntnisse wird im Folgenden auf die sozialhistorischen Aspekte eingegangen. Danach wird verfolgt, wie sich die afroamerikanische Musik in den USA entwickelte. Dabei treten zwei Hauptlinien in Erscheinung: Aus der Musik in der Kirche entwickelten sich die Spirituals, aus der Musik auf den Feldern entstand der Blues. Interessanterweise entsprechen diese beiden Linien tendenziell der sozialen Unterteilung der afro-amerikanischen Gesellschaft. Während die Spirituals vor allem von der Mittelschicht gesungen wurden, wendete sich die Unterschicht dem Blues zu, was sich wiederum in der Beziehung der afro-amerikanischen Musik zur Bürgerrechtsbewegung niederschlug. Die beiden Hauptlinien trennten sich durch die Migrationswelle der Afro-Amerikaner vom Süden in den Norden. Der Blues entfaltete sich zu seiner vollen Blüte im urbanen Norden der Vereinigten Staaten, während die Spirituals vor allem im ländlichen Süden gepflegt wurden. Diese beiden Linien können nach den allgemeinen Betrachtungen zur Bürgerrechtsbewegung weiterverfolgt werden, da die beiden Hauptexponenten und Gegenpole der Bürgerrechtsbewegung diesen Linien größtenteils entsprechen: Während Rev. Martin Luther King jr. aus dem Süden die Linie der Spirituals vertrat, repräsentierte der Schwarzenführer Malcolm X aus dem Norden den Blues. Demgemäß bezogen die beiden Kontrahenten unterschiedliche Positionen in ihren Äußerungen zur afro-amerikanischen Musik. Dies wiederum führt zu unterschiedlichen Resultaten in Bezug auf die Beeinflussung der Bürgerrechtsbewegung durch die afro-amerikanische Musik.

E INLEITUNG | 27

Im dritten Teil wird untersucht, inwiefern sich die Spirituals und der Blues unterscheiden. Dabei werden musikalische Aspekte nur am Rande betrachtet, während die Liedtexte ins Zentrum rücken. Da bei weitem nicht alle Texte interpretiert werden können, wird eine repräsentative Auswahl getroffen. Sie ergibt sich einerseits aus dem verfügbaren Material, andererseits aus der Popularität der Lieder. Zudem werden verschiedene soziopolitische Bezugspunkte zur Bürgerrechtsbewegung in den Texten berücksichtigt, damit möglichst alle Aspekte abgedeckt sind. Anhand der Resultate aus diesen Interpretationen soll gezeigt werden, weshalb die Bürgerrechtsführer immer wieder auf das musikalische Erbe der Afro-Amerikaner verwiesen haben und ob sich neben den Unterschieden allenfalls auch Gemeinsamkeiten zwischen den Spirituals und dem Blues manifestieren. Nicht zuletzt sollen die Musiker zu Wort kommen. Auch hierbei wird eine Auswahl getroffen, wobei darauf geachtet wird, dass schwarze und weiße Musiker gleichermaßen berücksichtigt werden. Zudem soll untersucht werden, wie die Gesellschaft die afro-amerikanische Musik und ihre Interpreten im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung rezipierte. Hierbei wird erstens unterschieden, wie der Musiker einerseits als Staatsbürger, andererseits als Held und Märtyrer wahrgenommen wurde. Zweitens soll gezeigt werden, inwiefern der schwarze und der weiße Musiker als Alltagserfahrung und integrative Kraft auf die Bürgerrechtsbewegung wirkten. Abschließend werden die heutigen Probleme sowie die moderne afroamerikanische Musik und Kultur beleuchtet. Die Resultate werden am Ende der jeweiligen Kapitel sowie im Schlusswort zusammengefasst.

2. E INLEITUNG (K UNST FÜR

ZU

T EIL II

MEHR I DENTITÄT UND

S OLIDARITÄT )

Platon verdammte die Kunst, Aristoteles bejubelte sie. Diese Aussage ist natürlich stark übertrieben, doch letztlich klafft die Diskussion um den Nutzen der Kunst für die Gesellschaft tatsächlich so stark auseinander. Bei differenzierterer Betrachtung sind die Positionen von Platon und Aristoteles nicht so weit auseinander, doch bilden sie sicherlich den Ausgangspunkt für die abendländische Diskussion über die Kunst.

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2. 1 Fragestellung Im zweiten Teil dieser Arbeit sollen deshalb zunächst die Positionen von Platon und Aristoteles sowie deren Argumentation genauer betrachtet werden. Ist die Kunst tatsächlich so verwerflich, wie sie bei Platon auf den ersten Blick erscheint? Ist alles letztlich bloß billige Nachahmung? Oder bedient Platon sich der Kunst gar selbst? Und wie begründet Aristoteles die Nützlichkeit der Kunst für die Gesellschaft, wenn bei Theateraufführungen gelogen, betrogen und gemordet wird? Fördern solche Aufführungen nicht die Verrohung der Sitten? Bereits in der Antike gab es vermittelnde Positionen, wie diejenigen von Plotin, Seneca oder Augustinus, welche auch aufgegriffen und kurz erörtert werden sollen, um das Spektrum der Positionen und Argumentationen zu ergänzen. Dabei wird immer wieder auf den ersten Teil rekurriert, um die Aussagen anhand der afro-amerikanischen Musik zu exemplifizieren. In einem zweiten Schritt werden die Aussagen des amerikanischen Philosophen und Soziologen John Dewey aufgegriffen, der mit seinem Werk Kunst als Erfahrung37 bereits sehr nahe an der Thematik dieser Arbeit ist, auch wenn seine Fragestellung eine andere ist. Dieses wichtige Werk des 20. Jahrhunderts, welches letztlich zeigt, dass Kunst Identität schaffen und diese vermitteln kann, soll deshalb bezüglich der Fragestellung der vorliegenden Arbeit beleuchtet werden. Die Argumentation soll anhand der Ausführungen des ersten Teils wiederum exemplifiziert und dadurch gestärkt werden. Im Gegensatz zu spezifischen Fragestellungen zur afroamerikanischen Musik im ersten Teil stellt sich somit im zweiten Teil die allgemeinere Frage, wie es der Kunst gelingt, Identität zu schaffen und diese zu vermitteln. Der amerikanische Professor für Philosophie und spätere Professor für vergleichende Literaturwissenschaft Richard Rorty griff die Gedanken von John Dewey auf. Doch er ging weiter und sah in der Kunst die Möglichkeit, neue Wahrheiten zu schaffen, denn er stellte sich gegen den althergebrachten Wahrheitsbegriff, der für ihn letztlich nur kulturrelativ zu verstehen ist. Für Rorty ist wichtiger, wie Grausamkeit vermieden und Solidarität ge-

37 Dewey, John. Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main 1980. (Originaltitel: Art as Experience, Capricorn Books, G. P. Punam’s Sons, New York 1958. Copyright 1934 by John Dewey.)

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schaffen werden kann. Beides scheint eher der Kunst und als der Philosophie zu gelingen. Wie dies gelingen soll ist darum eine weitere Frage des zweiten Teils dieser Arbeit, um damit letztlich die Frage, ob und wie die Kunst als Brücke zwischen den Kulturen fungieren kann, zu beantworten.

2. 2 Forschungsstand und Quellenlage So alt die Thematik bezüglich Kunst und ihr Einfluss auf die Menschen beziehungsweise die Gesellschaft auch ist, so schwierig ist es, eine klare Forschungsrichtung und deren Exponenten zu benennen. Heute kann zwar von Musiksoziologie oder Kunstsoziologie, auch von Kulturphilosophie – z.B. Pierre Bourdieu, Claude Lévi-Strauss u.v.m. – gesprochen werden, doch treffen diese Schlagwörter die Thematik dieser Arbeit nur begrenzt. Neben unzähligen Abhandlungen zur Ästhetik lassen sich spezifische Äußerungen zur Kunst und ihrem sozialen Einfluss nur bruchstückhaft ausmachen. So wird zur Einführung vor allem auf die Schriften von Platon, im Speziellen die Politeia38, sowie die Schriften von Aristoteles, vor allem die Politik39, zurückgegriffen. Zur Erläuterung dienen Werke wie Ästhetik und Kunstphilosophie40 von Jens Timmermann, Images of Excellence41 von Christopher Janaway, Platos Theorie der bildenden Kunst42 von Meike Aissen-Crewett, Was ist Kunst?43 von Michael Hauskeller, Das Problem der Kunst bei Platon44 von Elfriede Huber-Abrahamowicz, Die Kunstlehre des

38 Platon. Politeia (Der Staat), Eigler, Gunther (Hg.). Platon – Werke in acht Bänden griechisch und deutsch, Vierter Band, Darmstadt 20013. 39 Aristoteles. Politik. Gigon, Olof (Hg.). Stuttgart/Zürich 1971². 40 Timmermann, Jens. In: Betzler, Monika/Nida-Rümelin, Julian (Hg.). Ästhetik und Kunstphilosophie – Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1998. 41 Janaway, Christopher. Images of Excellence – Plato´s Critique of the Arts. Oxford 1995. 42 Aissen-Crewett, Meike. Platos Theorie der bildenden Kunst. Potsdam 2000. 43 Hauskeller, Michael. Was ist Kunst – Positionen der Ästhetik von Platon bis Danto. München 1998. 44 Huber-Abrahamowicz, Elfriede. Das Problem der Kunst bei Platon. Ebmatingen 1997.

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Aristoteles45 von August Döring sowie Monographien zu Platon46 von Michel Erler und zu Aristoteles47 von Otfried Höffe. Es könnten unzählige weitere Philosophen und deren Aussagen zur Kunst aufgegriffen werden; Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno sind nur einige davon. Auch wäre es interessant, Künstler und ihre philosophischen Überlegungen zur Thematik Kunst und Gesellschaft zu untersuchen (z.B. Dadaisten oder Situationisten); allen voran Kunstschaffende, welche auch oder vor allem als Philosophen bekannt waren, wie beispielsweise die Franzosen Albert Camus und JeanPaul Sartre. Um aber möglichst nahe bei der Thematik zu bleiben, sollen letztlich jedoch die beiden bereits erwähnten amerikanischen Philosophen John Dewey und Richard Rorty und ihre Werke Kunst als Erfahrung resp. Kontingenz, Ironie und Solidarität48 genauer untersucht werden, welche den diesbezüglichen Forschungsstand am besten widerspiegeln.

2. 3 Methodik und Aufbau Wie bereits angetönt, soll im zweiten Teil ein Überblick über die Problematik anhand bedeutender Philosophen der Antike gegeben werden. Dies ist insofern wichtig, als immer wieder auf diese Grundpositionen verwiesen wird. Danach werden die Positionen von John Dewey und Richard Rorty erörtert. Dabei steht nicht eine kritische Auseinandersetzung mit diesen im Vordergrund. Es soll vielmehr deren Argumentation mit den Ausführungen im ersten Teil veranschaulicht und für die Arbeit fruchtbar gemacht werden. Die Ergebnisse werden wie beim ersten Teil am Ende der jeweiligen Kapitel sowie im Schlusswort zusammengefasst.

45 Döring, August. Die Kunstlehre des Aristoteles. Hildesheim/New York 1972; Erstdruck: Jena 1876. 46 Erler, Michael. Platon. München 2006. 47 Höffe, Otfried. Aristoteles. München 1996. 48 Rorty, Richard. Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1989. (Originaltitel: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge University Press, Cambridge 1989.)

I. Musik der Freiheit Eine Analyse afro-amerikanischer Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung

1. Herkunft der afro-amerikanischen Musik

Die afro-amerikanische Musik bezieht ihre ureigentümliche Kraft aus den Wurzeln der afrikanischen Musiktradition. Diese These wird in der Folge unter zwei Gesichtspunkten erhärtet. Einerseits werden musiktheoretische Erkenntnisse erörtert, welche von der zeitgenössischen afro-amerikanischen Musik auf die afrikanischen Ursprünge verweisen. Andererseits wird das soziale Umfeld untersucht, in welches die afro-amerikanische Musik eingebettet ist. Dies geschieht in drei Schritten: Erstens stellt sich die Frage nach dem Ursprungsland Afrika. Was charakterisierte die afrikanische Musik und in welchem sozialen Kontext wurde sie praktiziert? Zweitens ist die Entwicklung dieser Musik in den USA während der Sklaverei zu untersuchen. Inwiefern entwickelte sich die afrikanische Musik zur afroamerikanischen Musik? Schließlich soll gezeigt werden, wie sich diese neue Musik nach der Abschaffung der Sklavenwirtschaft entfaltete. Welche Formen nahm die afro-amerikanische Musik in der Freiheit an?

1. 1 U RSPRUNGSLAND A FRIKA Die afrikanischen Sklaven, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach Amerika gebracht worden waren und auch dort blieben, sangen weder Spirituals noch Blues.1 Viel eher sangen die ersten auf den Feldern arbeitenden afri-

1

Van Deburg bemerkt dazu, dass die Frage nach dem Ursprung der Sklaverei anscheinend wenige Zeitgenossen interessiert hat. Nach ihm ist das älteste Dokument dasjenige eines Holländers, der zwanzig afrikanische Sklaven 1619 nach

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kanischen Sklaven in ihrer angestammten Tradition und in ihrer Muttersprache. Diese war ein rein afrikanischer Dialekt, der entweder auf Bantusprachen oder das Sudanesische zurückging und vielleicht mit westafrikanischen Elementen des Hamitischen, Koptischen, Kuschitischen oder der Berbersprache durchsetzt war.2 Da keine Aufzeichnungen existieren, die direkt auf die späteren Spirituals oder den Blues verweisen, stellt sich die Frage, ob und wie diese Stilrichtungen musiktheoretisch auf die afrikanische Musik zurückgeführt werden können. Die folgenden kurzen musiktheoretischen Erläuterungen dienen zudem zum Verständnis der Funktion der afrikanischen Musik als Kommunikationsmittel.

1. 1. 1 Musiktheoretische Aspekte zur afro-amerikanischen Musik Welche musiktheoretischen Charakteristika haben die Spirituals und der Blues mit der afrikanischen Musik gemeinsam? Hierzu werden im Folgenden die wichtigsten Punkte anhand der Ausführungen des Musikers und Komponisten Gunther Schuller, der unter anderem mit dem bekannten Jazztrompeter Miles Davis3 spielte, zusammengefasst.

a) Ursprünge Ursprüngliche afrikanische Musik und amerikanischer Jazz besitzen beide eine allumfassende Funktion im Leben. Die afrikanische Musik wird nicht nur aus der afrikanischen Philosophie und Religion, sondern aus der allgemeinen sozialen Struktur angeregt. Und anders als die klassische Musik Europas nimmt die afrikanische Musik keine autonome soziale Domäne

Jamestown (Virginia) zum Verkauf brachte. Vgl. Van Deburg, Slavery and Race, S. 5. Allerdings spricht Wirz davon, dass bereits die Spanier, die im 16. Jahrhundert als erste Europäer in Florida Fuß fassten, von afrikanischen Sklaven begleitet wurden. Vgl. Wirz, Sklaverei, S. 129. 2

Jones, Blues People, S. 9.

3

Zu Miles Davis: vgl. Kapitel 4 (S. 159 + S. 174).

H ERKUNFT DER AFRO - AMERIKANISCHEN M USIK | 35

ein. So ist es nicht verwunderlich, dass es kein Wort für Kunst in den afrikanischen Sprachen gibt, denn die afrikanische Musik besitzt auch heute noch nicht eine abstrakte, vom Leben losgelöste Funktion.4 In der afrikanischen Lebensweise stehen Wörter und deren Bedeutung in Relation zu musikalischen Klängen. So ist die Instrumentalmusik im Sinne der europäischen Musiktradition in der afrikanischen Musik undenkbar, höchstens als kurze Einleitung oder als instrumentalmusikalischer Ausklang. Grundsätzlich funktioniert Sprache nur in Verbindung mit Rhythmus. Alle verbale Aktivität, ob im alltäglichen Leben oder in Religion und Magie, ist rhythmisiert. Und so ist es nicht einfach Zufall, dass die Sprachen und Dialekte der Afrikaner in sich eine Art Musik sind, denn gewisse Silben besitzen spezifische Intensitäten, Längen und sogar Tonhöhen. Der enorme Klangreichtum dieser Sprachen besitzt Musikalität, welche in einer einfacheren Form im Scat-Gesang5 und der Bop-Lyrik6 des amerikanischen Jazz wiederzufinden ist.7

b) Rhythmus Der Rhythmus, wie oben bereits angetönt, bildet die zentrale Komponente in der afrikanischen wie auch in der afro-amerikanischen Musik. Dabei ist bekannt, dass das afrikanische Trommeln ursprünglich eine Form von Zeichensprache (z.B. für Jagdrufe) gewesen ist. In der Musik bildet der Rhythmus eine spezifische Form, die nicht nur als bloße Teilkomponente gewertet, sondern auch als klares Ausdrucksmittel erkannt werden kann. Dadurch nimmt der Rhythmus in der afro-amerikanischen Musik einen ganz besonderen Stellenwert ein.8 Lange Zeit vermochten abendländische Musiker und Musikwissenschaftler die afrikanische Musik gar nicht richtig einzuschätzen, weil sie zu

4

Schuller, Early Jazz, S. 4.

5

Scat-Gesang bezeichnet eine Art Gesang, bei dem Silben ohne Sinn gesungen werden.

6

Bop oder Be-Bop bezeichnet eine Art Jazz, die charakteristisch für die Zeit zwischen 1943-53 war.

7

Schuller, Early Jazz, S. 5.

8

Ebenda, S. 5-6.

36 | M USIK DER F REIHEIT

stark von europäischen Rhythmusvorstellungen geprägt waren, welche in klarer Opposition zum afrikanischen Rhythmusverständnis stehen. Mit Rhythmus ist nicht ein monotones Stampfen gemeint, sondern ein ausgeklügeltes Ineinanderflechten verschiedener Rhythmusmuster, die ein feines musikalisches Gewebe bilden. Allzulange wurde diese Musik als primitiv, als bloßes unkontrolliertes Trommeln belächelt. In Tat und Wahrheit sind die Kompositionen durch die verschiedenen Rhythmusmuster nicht nur in ihrem polyrhythmischen, sondern auch in ihrem formalen Aufbau hoch komplex. Zudem werden mit verschiedenen Rhythmen auch verschiedene Sprachmuster gesprochen. Daher können Rhythmen Geschichten erzählen und vermögen dadurch ein kulturelles Erbe zu erhalten.9

c) Form Es ist ein grundlegendes Missverständnis, dass die afrikanische Musikform primitiv sei. Afrikanische Musik – ob in großen Formen oder kleinen strukturellen Einheiten – ist erfüllt von zivilisierten Konzepten. Oft sind diese aber so komplex, dass früher Außenstehende Beobachter sie für formlos hielten. Oftmals ist auch die Form nicht in einem westlichen Muster, sondern in einer afrikanischen Eigenständigkeit anzutreffen, und somit nicht sofort erkennbar.10 In Bezug auf die afro-amerikanische Musik sind folgende drei formale Elemente der afrikanischen Musik von Bedeutung:11 1. Das Frage-und-Antwort-Muster 2. Das Konzept des wiederholten Kehrreims 3. Das Chorformat (für die meisten Unterhaltungs- und Kulttänze) Diese drei Elemente fanden nicht nur Eingang in die moderne afroamerikanische Musik, sondern erscheinen auch heute noch in den verschiedensten Variationen. Auch dürfen diese Formen nicht strikte voneinander getrennt werden, sondern können durchaus in übergreifende Variationen

9

Schuller, Early Jazz, S. 10-26.

10 Ebenda, S. 27. 11 Ebenda.

H ERKUNFT DER AFRO - AMERIKANISCHEN M USIK | 37

münden. So ist eine der bekanntesten Formen diejenige, dass ein Vorsänger eine Melodie improvisiert, während der Chor gemeinsam die vorgegebene Antwort erwidert. Gerade dieses Konzept ist besonders häufig im Blues, aber auch im Spiritual anzutreffen.12

d) Harmonie Aus der afrikanischen Tradition heraus ergab sich keine Harmonielehre in der afro-amerikanischen Musik, jedenfalls nicht in einem westlichen Harmonieverständnis. Normalerweise wird in der afrikanischen Musik unisono gesungen. Wenn sich Harmonien in den gemeinsamen Gesängen ergeben, so geschieht dies eher zufällig. So kann es beispielsweise vorkommen, dass sich zur Melodiestimme eine abweichende zweite Stimme gesellt, die jedoch nicht absichtlich eine Harmoniestimme bildet. Dies ist teilweise bei einer Überlappung der verschiedenen Stimmen im Frage-und-AntwortMuster der Fall. In derselben Art sangen auch die Sklaven in den USA. Erst später entwickelte sich in der afro-amerikanischen Musik ein harmoniebetonter Gesang, wobei der einstimmige Gesang auch heute noch dominiert.13 Wenn die Afrikaner Harmonien bilden, so erfolgt dies in einfachen Formen, beispielsweise, indem sie die Melodie um eine perfekte Quinte verdoppeln. Somit erscheint die Melodie allerdings immer noch homogen. Sie kennen auch keine Akkordfolgen, womit eine tonale Spannung von Melodie und Harmonie, wie etwa in der westlichen Musiktraditon, fehlt. Damit ist auch einleuchtend, weshalb die Afrikaner möglichst einfache Akkorde – ihrer einmal bewusst – verwenden. Aus der heutigen Sicht betrachtet ist es schwierig zu beurteilen, ob harmonische Eigenheiten der afroamerikanischen Musik eher aus der afrikanischen oder der westlichen Tradition stammen. Sicher ist, dass sich beide genügend überlappt haben, um problemlos eine Synthese zu bilden.14

12 Schuller, Early Jazz, S. 27. 13 Ebenda, S. 38-43. 14 Ebenda, S. 38-43.

38 | M USIK DER F REIHEIT

e) Melodie Sicher ebenso markant wie der Rhythmus ist die repetitive Form der Melodie, die sich – im Gegensatz zur sich entwickelnden Melodie im indischarabischen Raum – durch eine strenge Wiederkehr auszeichnet. Diese kurzen repetierten Melodiefetzen sind sicher der Sprache entnommen und werden dadurch verstärkt, dass sie, was später im Blues oder Jazz als Riff bezeichnet wird, äußerst prägnant sind. Somit wirken diese Melodien oft sehr einfach, sehr monoton und für westliche Ohren oftmals auch langweilig oder eben primitiv. Dabei wird allerdings übersehen, dass gerade diese Prägnanz eine äußerst starke Wirkung besitzt, die einerseits einlullend, oder dann äußerst aufpeitschend wirken kann. Zudem besteht eine starke Bindung zwischen Sprache und Melodie, zwischen Rhethorik und Gesang sogar, welche in die afro-amerikanische Musik eingeflossen ist und sich dort weiterhin manifestiert.15

f) Timbre Das Timbre ist generell die am wenigsten besprochene Komponente in der musiktheoretischen Literatur des Blues oder Jazz, obwohl es vielleicht eines der wichtigsten Erkennungsmerkmale dieser Musikgattung ist. Sogar Komponisten wie Igor Strawinsky, Darius Milhaud und Maurice Ravel begingen den Fehler, dass sie die Instrumentation und den Rhythmus des Jazz für die wichtigsten Ingredienzien hielten, aber Aspekte wie Improvisation und Tonbeugungen zu wenig beachteten. Oft wirken der Jazz, der Blues oder auch die Spirituals ungehobelt, unrein oder gar falsch. Dies steht jedoch in direktem Zusammenhang mit den afrikanischen Wurzeln dieser Musik, welche die Persönlichkeit des Musikers mehr in den Vordergrund stellt und ihm Freiheiten lässt, die in der westlichen Musiktraditon verschmäht würden. So ist es durchaus erlaubt, die Töne nach eigenem Gutdünken zu beugen und zu formen. Die Musiker sollen ihre persönliche Note einbringen, was sich natürlich bisweilen durchaus als Unreinheit manifestieren kann, aber auch darf. Gerade diese Individualität ist die Stärke und kommunikative Kraft der afro-amerikanischen Musik. Es darf sogar be-

15 Schuller, Early Jazz, S. 43-54.

H ERKUNFT DER AFRO - AMERIKANISCHEN M USIK | 39

hauptet werden, dass ein afro-amerikanischer Musiker ohne individuelle Qualität im strengsten Sinn kein wirklicher Musiker ist. Diese Individualität ist ein klares afrikanisches Charakteristikum, das in den Blues und die Spirituals hinübergerettet wurde. Dies, obwohl die meisten Instrumente, die in der afro-amerikanischen Musik Verwendung finden, westlichen Ursprungs sind.16

g) Improvisation Die Improvisation ist eine der musikalischen Komponenten der afroamerikanischen Musik, die in keines der vorangegangenen Themen hineinpasst, obwohl sie natürlich klar zu allen gehört. Die Improvisation von mehreren Melodielinien zur selben Zeit ist ein typisch afrikanisches Konzept, das in den meisten Formen der frühen Spirituals oder des Blues weitergeführt wurde. Sicherlich, die kollektive Improvisation wurde unter dem Einfluss der westlichen Musiktradition, z.B. durch ein musikalisches Arrangement, abgelöst. Doch gerade daran lässt sich erkennen, dass ursprüngliche schwarze Musik durch das Konzept des westlichen Arrangements dem westlichen Musikempfinden angepasst wurde.17 Natürlich muss eingestanden werden, dass die Improvisation, obwohl sie das Herz und die Seele der afro-amerikanischen Musik ist, auch in anderen volkstümlichen Musikarten vorkommt. Auch andere Komponenten, die in den vorangegangenen Abschnitten angesprochen wurden, werden sich in anderer Folkloremusik finden lassen. Die afro-amerikanische Musik lässt sich allerdings nicht einfach in Rhythmus als afrikanische Komponente respektive Melodie und Harmonie als westliche Komponenten unterteilen. Vielmehr müssen die Spirituals und der Blues als wichtiges Erbe Afrikas angesehen werden, deren Einzigartigkeit in den Wurzeln der afrikanischen Kultur liegt.

16 Schuller, Early Jazz, S. 54-57. 17 Ebenda, S. 57-62.

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1. 1. 2 Sozialhistorische Aspekte zur afro-amerikanischen Musik Die Eigenheiten der afrikanischen Kultur und deren Beziehung zur afroamerikanischen Musik werden in den folgenden Ausführungen unter sozialhistorischen Aspekten dargelegt. Dazu muss zunächst festgehalten werden, dass die afrikanischen Sklaven im neuen Kontinent Amerika ihrer kulturellen Identität entrissen wurden. Als eine prominente Persönlichkeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und allgemein als schwarzer Schriftsteller und Essayist bekannt, bezeichnet LeRoi Jones diese Tatsache als die härteste Bürde der schwarzen Sklaven im weißen Amerika. Wenn nämlich ein Afrikaner eines Stammes X zu einem Sklaven eines anderen Stammes Y in Afrika wurde, so blieb er immerhin ein Mensch mit demselben kulturellen Hintergrund. Genau dieser gleichwertige Hintergrund aber fehlte den Sklaven in Amerika. Somit wurden sie nicht nur der menschlichen Würde beraubt, sondern auch ihrer kulturellen Identität. Deshalb hatten die AfroAmerikaner einen doppelten Kampf zu führen: einen ersten, der ihnen die Freiheit zurückerstattete, und einen zweiten, der ihnen die Identität als gleichwertige Menschen wiedergab. Somit war es nur natürlich, dass die Sklaven einerseits versuchten, das fremde Kulturgut zu übernehmen, um dem Anspruch der fremden Macht zu genügen, und anderseits ihr eigenes Kulturgut bewahrten, um ihre Identität nicht zu verlieren.18 Demzufolge fanden immer wieder neue afrikanische Kulturelemente den Weg nach Amerika. Dies betont auch der Schweizer Historiker Albert Wirz. Denn obschon die Verschickung über den Atlantik in den Sklavenschiffen eine traumatische Erfahrung sein musste, war die Middle Passage, die Überfahrt übers Meer, allen Schrecken zum Trotz doch kein Bruch, sondern viel eher eine Brücke, über die ein kultureller Austausch stattfand.19 Die folgenden zwei Beispiele – welche die heutige Situation widerspiegeln – sollen anhand ethnologischer Erkenntnisse zeigen, wie der kulturelle Hintergrund der Sklaven ausgesehen haben muss. Ebenso werden damit die Stellung und Aufgaben eines Sängers oder Musikers in der afrikanischen Kultur erörtert. Daraus können wiederum Schlüsse zu Analogien zwischen

18 Jones, Blues People, S. 13-14. 19 Wirz, Sklaverei, S. 9-10.

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einem afro-amerikanischen Priester oder Redner und einem afrikanischen Sänger gezogen werden. Und schließlich wird anhand der zwei Beispiele veranschaulicht, inwieweit die Musik generell ein zentrales Element für die Bewahrung der kulturellen Identität eines schwarzen Sklaven im weißen Amerika gewesen sein muss.

a) Die Jali der Mandinke-Gesellschaft Noch heute gibt es Musiker aus Gambia, die Lieder über die Gefangennahme und die Versklavung ihrer Urväter singen.20 Im Verständnis der Afrikaner ist dies nichts Außergewöhnliches, denn ein Sänger ist immer auch ein wenig Historiker, wie der Afrikaner Sidia Jatta ausführt. Sidia Jatta, der Linguistik studierte und neben verschiedenen afrikanischen Dialekten fließend Französisch und Englisch spricht, entstammt einer Familie, welche zu den Mäzenen verschiedener Mandinke-Musiker gehört. Jatta vermeidet das Wort Sänger jedoch wohlweislich, denn ein Jali – am ehesten mit Barde zu übersetzen – unterscheidet sich grundsätzlich vom herkömmlichen europäischen Verständnis für Musiker oder Sänger. In Europa kann jeder Begabte, der den Wunsch hat, die Musik zu seinem Beruf zu machen, Musikunterricht nehmen. In der Mandinke-Gesellschaft, einer ethnischen Gruppe im Staat Gambia, ist ein Jali nicht einfach ein Jali aufgrund seines Berufes, sondern vor allem aufgrund seiner Abstammung. So wird jeder aus einer Jali-Familie Jali genannt, ob er diesen Beruf ausübt oder nicht.21 Die Mandinke-Gesellschaft gliedert sich – vereinfacht gesagt – in drei Klassen. An der Spitze der Hierarchie steht die Klasse der Adligen und Freien. Nach den Adligen kommt die Klasse der Handwerker. Zu ihr gehören die Schmiede, die Lederverarbeiter und die Jali. Und schließlich gibt es noch die Sklaven. Theoretisch gibt es diese Gruppe heute allerdings nicht mehr, weil die Verfassung seit der Unabhängigkeit den Besitz von Sklaven

20 Haydon / Marks, Schwarze Rhythmen, S. 8. 21 Jatta, Sidia. Zum Musiker geboren – Traditionelle Musik aus Gambia. In: Haydon, Geoffrey / Marks Dennis (Hg.): Schwarze Rhythmen, (Originalausgabe: Repercussions.) Übersetzt von: Ossi Urchs und Sigi Höhle. München 1986. S. 18.

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verbietet. In der Praxis jedoch gibt es immer noch Sklaverei, auch wenn die sogenannten Sklaven nicht mehr für ihre heute lediglich noch nominellen Herren arbeiten. Es gibt auch Fälle, in denen Sklaven sich selbst freigekauft haben und trotzdem nicht als zur Klasse der Freien gehörig angesehen werden.22 Die Klasse der Jali setzt sich aus zwei Untergruppen zusammen. Es gibt einerseits die echten Jali, geborene Musiker, die den Beruf ihres Vaters geerbt haben, andererseits sind da die Fina, Dichter und Lobsänger, die kein Instrument spielen. In der Jali-Hierarchie stehen die Fina auf einer unteren Stufe und haben einen Jali-Mäzen über sich. Obwohl also die Fina durchaus anerkannte Jali sind, bedeuten die echten Jali für sie, was die Adelsmäzene für die Jali selbst sind. Die Aufgaben eines Jali gehen weit über das Musizieren und das Singen unterhaltender Lieder hinaus. Ein Jali spielt nicht nur Musik und schöne Lieder zur Freude seiner Zuhörer, sondern er tritt auch als Vermittler zwischen Streitenden auf, um Frieden und Eintracht wiederherzustellen. Jali sind auch Heiratsvermittler und dienen als Unterhändler zwischen einem Brautwerber und den Eltern des Mädchens.23 So wie Schmiede und Kürschner Handwerker im eigentlichen Sinne des Wortes sind, könnte man die Jali bildlich als „Handwerker des erzählten Wortes“24 bezeichnen. Bei feierlichen Anlässen wie Hochzeiten und Namensgebungszeremonien, bei denen, begleitet von Ansprachen, Geschenke überreicht werden, dienen sie als Bindeglied zwischen Rednern und Zuhörern. Der Redner spricht normalerweise leise und der Jali überträgt diese Rede dann laut für das Publikum. Dabei entwickelt er sie weiter und schmückt sie dem Ereignis entsprechend aus. Kein Wunder also, dass die Jali heute wichtige Persönlichkeiten sind, denen die gegenwärtige gambische Politik Rechnung tragen muss. Ein Jali ist auch ein Bewahrer und Vermittler der gambischen Tradition und der mündlich überlieferten Geschichte Gambias. Das musikalische Repertoire der Mandinke beispielsweise enthält einige Stücke, deren Ursprung bis in das 12. Jahrhundert zurückgeht, in die Zeit des alten Mali-Reiches unter der Herrschaft von Sunjata, dem berühmtesten aller Herrscher von Manding. Eines dieser Stücke heißt Sunjata, weil es für ihn komponiert

22 Jatta, Zum Musiker geboren, S. 19. 23 Ebenda, S. 20. 24 Ebenda.

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wurde. Es tragen zwar nicht alle Stücke des Repertoires Personennamen als Titel, doch sind die meisten nach den Persönlichkeiten benannt, für die sie ursprünglich komponiert wurden. Einige Beispiele dafür sind Stücke wie: Fode kabaa, Kelefaa, etc. Natürlich gibt es auch zeitgenössische Stücke, die entweder ganz neue Kompositionen oder aber veränderte und weiterentwickelte Versionen alter Kompositionen sind.25 Auffällig ist, dass diese Kompositionen immer in einen historischen Kontext eingebettet sind und somit eine mündliche Überlieferung geschichtlicher Ereignisse darstellen. Dies ist insofern von Bedeutung, als die schwarze Gesellschaft in Afrika eine orale Gesellschaft ist, in der die Schriftlichkeit weitgehend fehlt. Dieser Umstand half den schwarzen Sklaven in Amerika, ihre kulturellen Werte weiterzuführen, denn es wäre ihnen kaum erlaubt worden, eine schriftliche Tradition zu pflegen.

b) Die Trommler der Dagbamba Über die vielfältigen Aufgaben der Musiker berichtet auch der Amerikaner John Miller Chernoff, der als Anthropologe und Trommler die afrikanische Trommelkunst während zehn Jahren studierte. Die Musik in afrikanischen Gesellschaften erfüllt Funktionen, die in anderen Gesellschaften von ganz verschiedenen Institutionen wahrgenommen werden. So vermitteln in Afrika die Musiker mit ihrer Musik philosophische und moralische Ideale: Respekt, Geduld, Flexibilität und Aufnahmebereitschaft, Besinnung, Gelassenheit in der Machtausübung, Toleranz gegenüber den Machtlosen, einen Sinn für Pluralismus und vieles mehr. Der Musik kommt bei vielen Arten gesellschaftlicher Aktivitäten eine entscheidende integrative, verbindende Funktion zu und bildet nicht selten die Antriebskraft zu sozialen Bewegungen im Grossen wie im Kleinen. Demgemäß haben die Musiker eine vielschichtige soziale Rolle bei gesellschaftlichen Anlässen. In vielen afrikanischen Gesellschaften sind Musiker anerkannte Autoritäten in Fragen der Geschichte und der Sitten. Insbesondere im westlichen Sudan, im ganzen

25 Jatta, Zum Musiker geboren, S. 30.

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Gebiet südlich der Sahara und nördlich der Küstenwälder besitzen sie häufig auch wichtige politische Funktionen.26 Dies soll nun anhand der Dagbamba-Trommler genauer erläutert werden. Dagbamba heißt ein Stamm, der ungefähr 300.000 Menschen zählt und im nördlichen Ghana beheimatet ist. Die Trommler dieses Stammes vermitteln als professionelle Musiker nicht nur ästhetische Werte, sondern auch historische Fakten. Die Geschichtsrezitation der Dagbamba-Trommler erinnert an homerische Epen und darf durchaus mit der klassisch griechischen Tradition verglichen werden. Zu festgelegten Jahreszeiten spielen und singen die Trommler moralisch erbauende Stücke aus der Geschichte der Dagbamba vor dem Haus des örtlichen Häuptlings. Dieser ist von seinen Frauen und Beratern umgeben und hört zu, während die ganze Bevölkerung am Spektakel teilnimmt.27 Die getrommelte Dagbamba-Geschichte hat allerdings eine ganz andere Funktion als Geschichte im Verständnis westlicher Wissenschaftler und Politiker. Für die Dagbamba-Trommelgelehrten macht es einen wesentlichen Unterschied, auf irgend etwas zu verweisen und es dann Tradition oder Wissen zu nennen oder auf eine Art zu leben und zu handeln, die von der Weisheit vergangener Generationen durchdrungen ist. Tradition ist etwas, das nur existiert, solange sich die Menschen ihr verpflichtet fühlen. Deshalb versuchen die Trommelgelehrten immer auch mit ihrem Wissen ein Vorbild für die anderen zu sein.28 Weil die Dagbamba-Trommler überzeugt sind, dass ganz unterschiedliche Menschen in Dagbon miteinander leben müssen, versuchen sie ihr Wissen zu nutzen, um das gemeinschaftliche Zusammenleben positiv zu gestalten. Dies erfolgt dadurch, dass das Zusammenleben durch das Trommelspiel veranschaulicht wird. Das unterschiedliche Trommeln stellt beispielsweise einen Zwist zwischen zerstrittenen Individuen dar und zeigt mittels gegenläufiger Rhythmen die Unsinnigkeit von Streitereien zwischen verfeindeten Menschen auf.29

26 Miller Chernoff, John. Die Trommeln von Dagbon. In: Haydon, Geoffrey / Marks Dennis (Hg.): Schwarze Rhythmen. (Originalausgabe: Repercussions.) Übersetzt von: Ossi Urchs und Sigi Höhle. München 1986. S. 155. 27 Ebenda, S. 161-162. 28 Ebenda. 29 Ebenda.

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Nicht analytische Erläuterungen, sondern anschauliche Anekdoten bilden die Schwerpunkte der Geschichtsrezitation. Zudem werden moralische oder philosophische Werte vermittelt. Dies geschieht allerdings nicht mittels Dogmen, sondern mit Sprichwörtern. Die Dagbamba-Trommler bezeichnen Geschichte und ihre traditionelle Lebensart als „das Alte Gesprochene“, und die Trommler sagen: „Das Alte Gesprochene stirbt nicht in Dagbon.“30 Ein Dagbamba-Trommler, der im Ruf hoher Bildung steht und in einer schwierigen Situation um Rat gebeten wird, erzählt daher normalerweise eine Geschichte oder zitiert ein Sprichwort. Aber er predigt keine allgemeine Prinzipien. So sagen die Dagbamba: „Sprichwörter braucht der Mensch.“31 Das am besten begründete Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeit findet sich bei den Dagbamba denn auch im Bereich künstlerischer Begabung. Dagbamba-Trommler sind gemäß Miller Moralisten – im positiven Sinn – mit einer hoch entwickelten Vorstellung von Geschichte und zwischenmenschlichen Beziehungen. Und doch sind sie, um es nochmals zu wiederholen, Musiker.32 Bei diesen zwei Beispielen zur Illustration der kulturellen Eigenart Afrikas stellt sich natürlich die Frage, inwiefern sie auch tatsächlich den kulturellen Hintergrund der afrikanischen Sklaven in Amerika widerspiegeln. Diese Frage ist allerdings schwierig zu beantworten, da es auf der Seite der Schwarzen keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt, und auf der Seite der Weißen wenig Interesse für die schwarzen Gesänge und die schwarze Kultur vorhanden war.

30 Miller. Die Trommeln von Dagbon, S. 161. 31 Ebenda. 32 Ebenda, S. 161-162.

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1. 2 E NTWICKLUNG IN DEN USA – V ON DEN A NFÄNGEN BIS ZUR A BSCHAFFUNG DER S KLAVENWIRTSCHAFT DURCH DAS C IVIL R IGHTS A CT VOM 9. A PRIL 1866 Nachdem der amerikanische Präsident Abraham Lincoln im Jahre 1863 die Emancipation Proclamation im Tremont Temple in Boston verkündet hatte, sang die versammelte Zuhörerschaft : Sound the loud timbrel o’er Egyp’s dark sea; 33

Jehovah hath triumphed, His people are free.

Dieser freudige Aufschrei beendete eine Periode rechtlich abgesicherter Unterdrückung der Sklaven, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Bis zu dieser Proklamation musste allerdings ein weiter, mühsamer Weg beschritten werden, der viele Wunden hinterließ. Trotz der Wunden – oder gerade wegen diesen – wurde aber auch ein wesentlicher Teil westlicher Musikkultur kreiert, der bis heute auf die ganze Welt ausstrahlt. Wie sich die afro-amerikanische Musik während der Sklavenzeit entwickelte, ist Gegenstand der folgenden Untersuchungen, wobei diese unbedingt in Bezug auf die besondere Situation der Sklaven aufgezeichnet werden müssen. Demgemäß stellt sich die Frage: Wie entwickelte sich die afroamerikanische Musik in Interaktion mit dem sozialen Umfeld?

1. 2. 1 Allgemeine Entwicklung von der afrikanischen zur afro-amerikanischen Musik In ersten Aufzeichnungen über die Musik der ankommenden Sklaven wird von befremdenden Lauten und Klängen berichtet. Diese konnten vorerst nicht in ein bekanntes musikalisches Schema eingeordnet werden, doch wurde ihre eindringliche Kraft sehr wohl erkannt. George Pinckard beschreibt dies in seinen 1816 veröffentlichten Notes on the West Indies folgendermaßen:

33 Moore, Thomas. Miriam’s Song; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 13.

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They have great amusement in collecting together in groups and singing their favorite African songs; the energy of their action is more remarkable than the harmony of their music. [...] We saw them dance, and heard them sing. In dancing they scarcely moved their feet, but threw about their arms, and twisted and writhed their bodies into a multitude of disgusting and indecent attitudes. Their song was a wild yell de34

void of all softness and harmony, and loudly chanted in harsh harmony.

Das Unverständnis der Weißen gegenüber der schwarzen Musikkultur ging einher mit einem allgemeinen Unverständnis gegenüber der Mentalität der afrikanischen Sklaven. Sie wurden als wild und unkultiviert betrachtet, was sich gemäß den Sklavenbesitzern in ihrer Musik widerspiegelte. Der weiße Sklavenbesitzer Nicholas Cresswell beispielsweise beschreibt 1774 in seinem Journal den Gesang von Sklaven in Maryland folgendermaßen: „Their poetry is like the Music – Rude and uncultivated.“35 Die Sklaven sangen auf den Schiffen, die sie in die neue Welt brachten, in ihrer angestammten Art und Weise. Dieselben Gesänge sangen sie ebenfalls auf den Plantagen und versuchten damit, ihre Kultur und Tradition beizubehalten. Dies war jedoch schwierig, denn die Sklaven waren ihres ursprünglichen Stammes entrissen. Zudem wurden die Familien durch den Verkauf einzelner Familienmitglieder an unterschiedliche Sklavenhalter oft auseinandergezerrt und die einzelnen Angehörigen an ganz unterschiedliche Orte gebracht.36 Die südstaatlichen Pflanzer erkannten allerdings sehr wohl den Wert der Sklavenfamilien: als sicherstes Mittel zur Steigerung der Geburtenraten, als Mittel zur Produktionssteigerung, indem die Sorge um das Wohl der Familien die einzelnen Sklaven zu größeren Leistungen antrieb, sowie schließlich allgemein als Herrschaftsinstrument, da stabile Familien der Fluchtneigung entgegenwirkten. Die Pflanzer förderten deshalb Heiraten unter ihren Sklaven nach Möglichkeit; umgekehrt setzten sie die Drohung mit dem Verkauf von Familienmitgliedern zur Disziplinierung Widerspenstiger ein. Trotz dem Wert einer Sklavenfamilie wurde im Süden der USA

34 Pickard, George. Notes on the West Indies. 1816; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 14. 35 Cresswell, Nicholas. Journal 1774-1777. New York 1924; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 15. 36 Johnson / Johnson, Books of American Negro Spirituals I, S. 12-23.

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rund ein Sechstel aller Sklavenheiraten früher oder später von den Farmern durch Gewalt wieder beendet. Dies war möglich, weil es in den Südstaaten keine gesetzliche Anerkennung für Sklavenheiraten gab, weshalb die Sklavenfamilien weitgehend ohne Schutz blieben.37 Zur häufigen familiären Zerrissenheit kam die Tatsache, dass viele der afrikanischen kultischen Handlungen verboten wurden. Bezugnahmen auf die Götter oder Religionen Afrikas wurden von den weißen Herren nicht nur unterdrückt, weil sie alle religiösen afrikanischen Bräuche für barbarisch hielten, sondern auch, weil eine Verehrung der afrikanischen Götter – vor allem als kultisches Ritual – den Wunsch nach Freiheit steigerte. Die Weiterführung der angestammten Rituale erinnerte nämlich an die ursprüngliche Heimat, was wiederum die Gedanken an einen Fluchtversuch förderte. Zudem wurden wichtige kulturelle Instrumente wie die afrikanischen Trommeln von den Sklavenhaltern verboten, da das Trommeln außer zur Begleitung von Tänzen auch als Kommunikationsmittel und zum Anfachen von Revolten verwendet werden konnte.38 Da die Ausübung der afrikanischen Religionen verboten war, z.T. unter Androhung der Todesstrafe oder zumindest des Auspeitschens, musste ein anderer Weg gefunden werden, die eigene Kultur zu überliefern. Der nächstliegende Weg war derjenige zum Christentum, wobei die kultischen und rituellen Bräuche sich einer vollständigen Bedeutungsübertragung unterziehen mussten. Dies war in den katholischen Kulturen – im Gegensatz zu den protestantischen – der Neuen Welt einfacher, da die vielen verschiedenen Gottheiten der westafrikanischen Religionen durch die große Zahl von Heiligen in der katholischen Kirche ersetzt werden konnten. Diese Bedeutungsübertragung erfolgte mittels der Musik. Zwar wurde die christliche Religion übernommen, doch die ursprünglich afrikanische Musik wurde weitgehend beibehalten. Damit diente die Musik schon bald als Bindeglied der unterschiedlichen Kulturen, wobei eine Entwicklung und Anpassung unumgänglich war.39 So spielten und tanzten die Sklaven schon bald nicht mehr ihre traditionellen afrikanischen Stücke, sondern verwendeten eine neue, angepasste Form. Dies manifestierte sich im Gebrauch selbst entwickelter Instrumente

37 Wirz, Sklaverei, S. 152. 38 Jones, Blues People, S. 35-36. Vgl. auch Kapitel 1. 1 (S. 34ff.) 39 Ebenda, S. 34.

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– z.B. eines Vorläufers des Banjos – oder aus dem Alltag heraus entstandener Texte. Vor allem die Elemente der afrikanischen Kultur, welche von Nutzen für den Sklavenhalter waren, wurden geschätzt, z.B. das Singen von Arbeitsliedern, den Work Songs oder Work Chants. Diese rhythmische Unterstützung bei der Arbeit, welche schon bei der traditionellen afrikanischen Landwirtschaft angewendet worden war, wurde von den Weißen als leistungssteigernd erkannt und toleriert. Sklaven besaßen zudem einen größeren Marktwert, wenn sie ein Instrument spielten. Ähnlich dem Beherrschen von Lesen und Schreiben wurden die musikalischen Fähigkeiten eines Sklaven geschätzt. Dies ist am Beispiel von Beschreibungen entflohener Sklaven ersichtlich, welche Notizen wie „makes fiddles“, „can play upon the fiddle“ oder „artful and can both read and write and is a good fiddler“40 beinhalten.41 Gegen Ende der Sklaverei, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gewannen die Weißen erstmals Interesse an einigen Aspekten der schwarzen Kultur. Die Welle der Sklavenmusik wurde jedoch nicht von wirklichen Negern kreiert, sondern von weißen Künstlern, den Nigger Minstrels, welche die Schwarzen imitierten und um 1840 die Unterhaltungswelt im Sturm eroberten. Dies führte jedoch wiederum zu einem falschen Bild der Schwarzen, denn diese weißen Künstler malten sich zwar schwarz an, stellten aber ansonsten – mit Ausnahmen – vor allem die Vorurteile gegen die Sklaven dar. Dicke Lippen und flache Nasen unter schwarzem Krausehaar galten ebenso wie ständiges Grinsen zur Typologie der Afro-Amerikaner, was zur Folge hatte, dass die Minstrels am ehesten als Clowns verstanden werden müssen. Dies hatte den zusätzlichen negativen Aspekt, dass echte Schwarze, um Erfolg zu haben, die Stereotypen der Minstrels übernehmen mussten.42 Marshall W. Stearns, Professor am Institute of Jazz Studies des Hunter Colleges in New York, betont hingegen ausdrücklich, dass die MinstrelShows sehr viel dazu beitrugen, die Musik der amerikanischen Neger unter das Volk zu bringen. Zudem dienten diese Shows als Übungsfeld für die frühen Jazzmusiker. Der Einfluss der Minstrels auf die amerikanische Kultur könne somit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn im Verlauf

40 Southern, E. (Hg.). Readings in Black American Music. New York 1971; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 15. 41 Oakley, Devil’s Music, S. 15. 42 Ebenda, S. 21-24.

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der Entwicklung hätten die Minstrels das große Publikum ein für allemal mit einem Teil der Musik der Afro-Amerikaner vertraut gemacht.43 Zu einem ähnlichen Resultat kommt Van Deburg. Wenn auch über die Minstrels – und damit auch über die Situation im Süden vor dem Sezessionskrieg – gelacht wurde, so wurde doch die Problematik aufgezeichnet und thematisiert. Ob dies allerdings dazu beitrug, die rassenbedingten Probleme zu lösen oder bloß durch befreiendes Lachen Spannungen abzubauen, wagt auch Van Deburg nicht zu beurteilen.44 Die afrikanischen Sklaven verstanden es hervorragend, ihren Glauben und ihre Gewohnheiten der neuen Umgebung in den USA anzupassen und einzuflechten. Sie machten gegenüber den weißen Kultur- und Sozialmustern allerdings verschiedene Konzessionen: einige aus Zwang, andere aus einem passiven Anpassungsprozess heraus. Obwohl die Religion und die Musik der Afro-Amerikaner vielen Änderungen unterworfen waren, hieß dies nicht, dass die weißen Konventionen einfach übernommen wurden. Vielmehr wurden weiße Konventionen in die eigene Kultur integriert, um die angestammte kulturelle Identität, wenn auch in abgewandelter Form, zu bewahren.45 Die christliche Religion war zu einem gewissen Grad die erste Form, die es den Afro-Amerikanern erlaubte, sich auszudrücken. Damit begann eine Verschmelzung, oder wenigstens eine gewisse Kommunikation zwischen den verschiedenen Kulturen, die eine Veränderung in der afroamerikanischen Musik bewirkte. Die diskriminierende Seite der weißen Herren, die Ausschließung des Afro-Amerikaners aus der weißen Welt, bewirkte hingegen unweigerlich eine Beibehaltung der ursprünglichen Ausdrucksformen mit ihren charakteristischen Eigenarten. Ironischerweise war es also mehr die karitative Seite der weißen Kultur, welche zum Verderben der afrikanischen Musik in Amerika führte, während die diskriminierende Seite die Überbleibsel des afrikanischen Erbes konservierte.46 Wesentlich für die Entwicklung der afro-amerikanischen Melodie waren zwei Faktoren: zum einen die Bluestonleiter und zum anderen die Beziehung zwischen Sprachmuster und Melodiestruktur. Die Bluestonleiter

43 Stearns, Story vom Jazz, S. 108-118. 44 Van Deburg, Slavery and Race, S. 49. 45 Schuller, Early Jazz, S. 15. 46 Ebenda, S. 18.

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stellte ein klares Merkmal der eigenständigen musikalischen Ausrichtung der Afro-Amerikaner dar. Die Schwarzen verwendeten vorwiegend pentatonische Tonleitern und erweiterten diese mit gewissen Tönen, den BlueNotes, welche dann die Bluestonleitern ergaben. Allerdings führte die pentatonische Leiter nicht zwingend zum Blues. Wichtig war die Tatsache, dass der Afro-Amerikaner gar nicht in Tonleitern dachte und sang, sondern vielmehr ein tonales Zentrum bestimmte, um das herum er Melodien bildete. Dass sich daraus eine Bluestonleiter bildete, aus westlicher Sicht am ehesten als Mischung zwischen Dur- und Molltonleiter zu betrachten, war jedoch in keiner Weise zwingend.47 In einem ständigen Prozess musikalischer Assimilation wurden die afrikanischen Rhythmen zu einfacheren Mustern weiterentwickelt und mit der Musik europäischer Einwanderer vermischt, was sich vor allem in sozialen und religiösen Ritualen manifestierte. Afro-amerikanische Begräbnisprozessionen ließen beispielsweise eine Verschmelzung von europäischer Marschmusik und afrikanischer Musik erkennen. Ebenso verbanden sich anglo-amerikanische Hymnen mit afrikanischen Gesängen. Daraus entstand das Spiritual sowie dessen weltliches Gegenstück, der Blues.48

1. 2. 2 Musikalische Entwicklung auf dem Feld Das Singen auf den Feldern beinhaltete weit mehr als bloßes Musizieren während der Arbeit. Für den Sklavenhalter bedeutete der Gesang eine Erwerbssteigerung, da singende Sklaven härter arbeiteten. Für den Sklaven selbst war das Singen eine eigentliche Überlebensstrategie. Dazu weiß der schwarze Musiker Booker White 1976 in einem BBC-Interview von einer alten Frau zu berichten, die ihm über die Sklavenzeit folgendes gesagt hat: [...]the men and women would be in the fields ploughing and chopping and they would „sing them songs so pitiful, and so long“ till they would be crying; but „when they see the boss coming they would make like a gnat got in their eye. ’Cos you

47 Schuller, Early Jazz, S. 43. 48 Ebenda, S. 18-19.

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know, the boss didn’t want them to feel that-a-way, you know, they had to be cool, 49

play it cool, you know“.

Dass der Work Song in den Vereinigten Staaten seine besonderen Eigenschaften und Formen annahm, hatte verschiedene Gründe. Es bestand ein wesentlicher Unterschied zwischen der Bearbeitung der eigenen Felder im eigenen Land und der Zwangsarbeit in einem fremden Land. Wenn auch die physischen Gegebenheiten, die als Anregung für einen Work Song nötig waren, immer noch bestanden, so änderten sich doch die Verhältnisse, in denen die Arbeit ausgeführt wurde, radikal. Zum einen machte es unter dem Joch der Sklaverei, wie LeRoi Jones ausführt, wenig Sinn, Liedtexte zu singen wie „[n]ach dem Pflanzen, wenn die Götter Regen bringen, werden meine Familie und meine Vorfahren so reich sein, wie sie schön sind.“50 Zum anderen konnte nicht mehr auf die ursprünglichen Götter Bezug genommen werden. Der Work Song musste also im Prozess seiner Formung in Amerika zuerst des afrikanischen Rituals entkleidet werden und sich neue kulturelle Bezugspunkte suchen. Dabei bestand die Schwierigkeit nicht nur in der Sprache, die angepasst werden musste, sondern auch in der Bedeutung der Texte, denn die alten Fischer-, Weber- und Jägerlieder ergaben keinen Sinn mehr.51 Die Sklaverei war somit ein Katalysator für die Work Songs. Die afrikanischen Sklaven sangen ihre monotonen heimatlichen Gesänge bei der Arbeit nämlich weiter, obwohl sie vielleicht verboten oder völlig aus ihrem Zusammenhang gerissen waren. Doch indem ein Bezug zu den aktuellen Gegebenheiten hergestellt und damit ein Grund für ein Verbot hinfällig wurde, veränderten sich die ursprünglichen Gesänge und wurden zu Work Songs. Nach und nach beschäftigten sich die Work Songs mit Themen, die außerhalb der afrikanischen Erfahrung lagen. Dabei stellte zunächst das bloße Hinzufügen von Fremdwörtern in Französisch, Spanisch und hauptsächlich Englisch eine Angleichung an die neuen Umstände dar, wodurch sich eine kulturelle Erneuerung ergab.52

49 BBC Interview. Booker White. Memphis (Tenn., USA) 1976; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 17/18. 50 Jones, Blues People, S. 35. 51 Ebenda. 52 Ebenda, S. 37.

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Dies soll mit folgendem kreolischen Lied aus den Südstaaten verdeutlicht werden, wobei zu beachten ist, dass sowohl französische als auch afrikanische Wörter (kursiv) darin enthalten sind: Ouendé, ouendé, macaya! Mo pas barasse, macaya! Ouendé, ouendé, macaya! Mo bois bon divin, macaya! Ouendé, ouendé, macaya! Mo mange bon poulet, macaya! Ouendé, ouendé, macaya! Mo pas barasse, macaya! Ouendé, ouendé, macaya!

53

Die englische Übersetzung lautet: Go on! go on! eat enormously! I ain’t one bit ashamed - eat outrageously! Go on! go on! eat prodigiously! I drink good wine! - eat ferociously! Go on! go on! eat unceasingly! I eat good chicken - gorging myself! 54

Go on go on! etc.

LeRoi Jones interpretiert dieses Lied dahingehend, dass es von Interesse sei, und vielleicht mehr als Zufall, dass die Teile des Liedes, die den Exzess betonen, in afrikanischer Mundart und somit für die meisten Weißen unverständlich sind. Diejenigen Abschnitte des Liedes aber, die sich wohlerzogen, wenn auch etwas wirklichkeitsfremd präsentieren, sind in der Sprache der Herren abgefasst.55

53 Ursprünglich wurde dieses Lied von einem gewissen Lafcadio Hearns niedergeschrieben. Erstmals veröffentlicht wurde es von H.E. Krehbiel. Krehbiel, H.E. Afro-American Folksongs. New York 1914; zit. Jones, Blues People, S. 37. 54 Jones, Blues People, 37-38. 55 Ebenda, S. 38.

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Ein neues Element bildete die Sprache selbst. Oft wurden syntaktische und rhythmische Gewohnheiten der Muttersprache beibehalten und in die Fremdsprache übertragen, was sich oft in einem – für ungeübte Ohren – unverständlichen Slang manifestierte. Das heißt aber keinesfalls, dass die Lieder keinen Sinn haben, wie während der Sklavenzeit zum Teil fälschlicher Weise behauptet wurde. Genau genommen sind die Work Songs oft wenig mehr als höchst rhythmische Textstücke, wobei diese Texte – ebenso wie Texte der afrikanischen Lieder – genauso wichtig sind, wie die Musik selbst.56

1. 2. 3 Musikalische Entwicklung in der Kirche Die Kirche war ein wichtiger Ort für die Entwicklung der afroamerikanischen Musik. Innerhalb der Kirche war der Sklave nämlich – wenn auch unter weißer Zensur – frei, sich sozial und kulturell auszudrücken. Somit bedeuteten die Spirituals weit mehr als bloße religiöse Lieder zur Ehre Gottes. Sie stellten ein Element dar, das den sozialen Zusammenhalt und die soziale Zusammengehörigkeit förderte, indem sie biblische Themen wie die Vertreibung aus der Heimat und die Unterdrückung durch fremde Herrscher aufgriffen und damit auf die Situation und die Wurzeln der Sklaven verwiesen. John Lovell hebt in seinem Artikel The Social Implications of the Negro Spiritual57 hervor, dass diese Lieder, welche vordergründig zur Ehre des Herrn gesungen wurden, oft auch einen Aufruf zum Ungehorsam gegenüber dem weißen Herrn darstellten. Die Sehnsucht nach himmlischer Freiheit konnte durchaus als Sehnsucht nach irdischer Freiheit verstanden werden. Die ägyptische Unterdrückung des auserwählten Volkes im Alten Testament wurde als Parallele zur aktuellen Wirklichkeit verstanden und gab somit Hoffnung und Kraft, die Knechtschaft auszuhalten.58

56 Jones, Blues People, S. 38-39. 57 Lovell, John. The Social Implications of the Negro Spiritual. In: Katz, Bernard (Hg.). The Social Implications of Early Negro Music in the United States. New York 1969; zit. Cone, Spirituals and Blues, S. 13. 58 Cone, Spirituals and Blues, S. 13. Genauere Ausführung folgen dazu in Kapitel 3. 1. (S.111ff.).

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Anderseits war die Aufforderung zur Flucht und Revolte kaum unübersehbar, weshalb kirchliche Lieder wie das folgende Oh Freedom oft verboten wurden. Oh Freedom! Oh Freedom! Oh Freedom, I love thee! And before I’ll be a slave, I’ll be buried in my grave, And go home to my Lord and be free.

59

Die weißen Herren hatten ein ambivalentes Verhältnis zum Gottesdienst ihrer Sklaven. Einerseits wollten sie sehr wohl, dass die Schwarzen ihre Freiheit in der Transzendenz suchten und den Lord, den Herrn, verehrten. Sie erhofften damit, dass die Sklaven mit den zehn heiligen Geboten Moses auch ihre eigenen Verordnungen auf den Plantagen befolgten. Die Prediger, deren Aufgabe es war, ihre schwarzen Brüder und Schwestern zur Folgsamkeit zu erziehen, unterwanderten den Willen ihrer weißen Herren jedoch oft. So erklärt ein Ex-Sklave Folgendes: When I starts preaching I couldn’t read or write and had to preach what Master told me, and he say tell them niggers iffen they obeys the Master they go to Heaven; but I knowed there’s something better for them, but daren’t tell them ’cept on the sly. 60

That I done lots. I tells ’em iffen they keeps praying, the Lord will set ’em free.

Es entwickelten sich also zwei Hauptströmungen in der afroamerikanischen Musik. Einerseits führte sie auf den Feldern, bei der Arbeit, zum Blues hin, andererseits entfaltete sie sich in der Kirche, bei gesellschaftlichen Zusammenkünften, zu den Spirituals. Diese beiden Richtungen waren zu Beginn näher beisammen und gingen mit der Zeit eigene Wege. Die beiden Stämme stammen jedoch aus derselben Wurzel, der afrikanischen Kultur, und gediehen im selben sozialen Umfeld, der Sklaverei.

59 Cone, Spirituals and Blues, S. 29. Vgl. auch Kapitel 3. 1 (S. 113). 60 Matthews, D. Slavery and Methodism. Princeton 1965; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 18.

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1. 3 E NTWICKLUNG IN DEN USA – V OM E NDE DER S KLAVENWIRTSCHAFT BIS ZUR A UFHEBUNG DER S EGREGATION DURCH DAS C IVIL R IGHTS A CT VOM 2. J ULI 1964 Nach der Abschaffung der Sklavenwirtschaft (1866) waren alle AfroAmerikaner von ihren rechtlichen Fesseln befreit und nicht mehr länger der absoluten Kontrolle der Weißen unterworfen. In dieser neuen Freiheit mussten sie jedoch zuerst einen Weg in die Selbständigkeit finden, der oft mit Unsicherheit, Instabilität und einer Art Isolation gepflastert war. In dieser neuen Situation beschritt die afro-amerikanische Musik ebenfalls neue Wege. Wohin die Wege des Blues und der Spirituals in der Freiheit führten, wird im Folgenden aufgezeigt.

1. 3. 1 Die Musik der privilegierten Afro-Amerikaner Die neue Situation war von einem Umstand begleitet, der bis anhin keine allzu große Beachtung gefunden hatte. Es gab zwar schon während der Sklaverei die Unterteilung zwischen den Haussklaven und den Feldsklaven, also eine soziale Abstufung, doch letztendlich waren alle Schwarzen Sklaven. Die wenigen Freigelassenen (ca. 500.000) oder erfolgreich Entflohenen stellten eine verschwindend kleine Minderheit dar. Mit der neuen Freiheit bildete sich unter den Schwarzen eine Hierarchie, wie sie auch in der weißen Gesellschaft herrschte. Die soziale Schere zwischen schwarzer Mittel- und Unterschicht öffnete sich je länger desto mehr. Dabei orientierte sich interessanterweise die Mittelschicht mit allen Mitteln an der weißen Gesellschaft, versuchte sie zu imitieren und hoffte, sich mit ihr schließlich verschmelzen zu können. Eines der Mittel dazu war die klare Abgrenzung von der schwarzen Unterschicht. Um es mit den Worten von LeRoi Jones zu sagen: „Die Neger, die in der sozialen und ökonomischen Hierarchie ganz oben waren, wurden auch die fanatischsten Nacheiferer der weißen Gesellschaft, während die Masse der Neger es damit viel weniger eilig hatte.“61

61 Jones, Blues People, S. 83.

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Dies führte dazu, dass die Mittelschicht vor allem Spirituals sang und hörte, welche sich klar von der anrüchigen Musik – dem sich heranbildenden Blues – in den Kneipen und Bars abhoben. Um sich von der schwarzen Unterschicht abzugrenzen, führten zu Beginn des 20. Jahrhunderts manche Kirchen der Schwarzen an Weihnachten und Ostern sogar Werke von Bach oder Händel auf und ließen Gospelgruppen oder -sänger nur noch als eine Konzession an die älteren Kirchenmitglieder aus den ländlichen Regionen auftreten.62 Anderseits übten die Spirituals einen enormen Einfluss auf die weiße Gesellschaft aus und bildeten schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigentliche Brücke zwischen den verschiedenen Kulturen. Das beste Beispiel hierfür stellten die Fisk Jubilee Singers dar, die mit ihren Spirituals die Fisk Universität, die 1866 in Nashville, Tennessee, gegründet worden war, vor ihrem finanziellen Untergang retteten. Fisk drohte anfangs der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts wegen finanzieller Probleme die baldige Schließung. George L. White, der Schatzmeister und Musiklehrer der jungen Universität, bat darum um Erlaubnis, eine Gruppe von Sängern und Sängerinnen auf eine ausgedehnte Tournee durch den Norden zu schicken, um so die nötigen Geldmittel zu beschaffen. George L. White hatte keine formelle Musikausbildung, aber er hatte ein hervorragendes Gespür für Harmonien und einen Instinkt für die Ausbildung von Gesangsstimmen. Zunächst widerstrebte es Whites Studenten, die heiligen Lieder der Generationen, die in Knechtschaft gelebt hatten, der Öffentlichkeit vorzustellen. Aber nach einer Weile gewann White ihr Vertrauen. Er und seine gerade freigelassenen Studenten begannen eine „beseelte Mission“63, die eine kulturelle Revolution in Amerika in Gang setzte. Zwischen 1871 und 1878 übergaben die Jubilee Singers der Schatzkammer von Fisk 150.000 Dollar, genug Geld, um die Jubilee Hall zu bauen, das erste festinstallierte Gebäude, das in den Vereinigten Staaten für die Ausbildung von Schwarzen errichtet wurde. Der Theologe Henry Ward Beecher drückt dies am 16. Oktober 1887 in London, anlässlich einer Rede für die Freedmen’s Aid Society so aus: Er glaube, es habe niemals so etwas Außerordentliches wie den Bau

62 Jones, Blues People, S. 75-76. 63 Seroff, Doug. Im Namen des Herrn. In: Geoffrey / Marks Dennis (Hg.), Schwarze Rhythmen, (Originalausgabe: Repercussions.) Übersetzt von: Ossi Urchs und Sigi Höhle. München 1986. S. 41.

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der Fisk Universität gegeben, die einem Schloss gleiche, das vom Fundament bis zum Giebel mit Gesang erbaut worden sei.64 Dies wurde erst durch die rechtliche Freiheit der Schwarzen möglich. Der Gospelgesang konnte sich also freier entwickeln als zur Zeit der Sklaverei und sich somit für ein breiteres Publikum entfalten. Doch hieß dies nicht, dass alle Schwarzen das Glück hatten, an einer Universität zu singen und sich ausbilden zu lassen. Für die meisten bedeutete die neue Freiheit einen Kampf ums tägliche Überleben. In der vorhergehenden Knechtschaft brauchte der Afro-Amerikaner sich nämlich nicht um die tägliche Nahrung zu sorgen, doch in der Freiheit war er plötzlich für sich selbst verantwortlich. Damit wirkte sich die rechtliche Veränderung der Situation der Schwarzen nicht nur auf die kirchliche, sondern ebenso nachhaltig auf die weltliche Musik aus, die sich erst in der Freiheit zum Blues und Jazz entwickeln konnte.

1. 3. 2 Die Musik der unterprivilegierten Afro-Amerikaner Gemessen an der relativen Formalisierung der weltlichen Musik der AfroAmerikaner war der Blues immer eine außerordentlich persönliche Musik. Im Gegensatz zu den Gesängen über Götter etc. wurde in den Bluestexten bereits im 19. Jahrhundert das Leben des Einzelnen und dessen individuellen Prüfungen und Erfolge auf der Erde betont. Es gab Gesänge, die das Verdienst und die Abenteuer von berühmten Gestalten oder „heroischen Archetypen“65 herausstrichen. Selbst durch die Erweiterung der Thematik blieb der Blues eine Gesangsart, die von den Taten der Sänger erzählte. „Heroische und feige Archetypen“ wurden benutzt, um irgendwelche Begebenheiten aus dem Leben des Sängers zu beleuchten. Diese stark persönliche Note kam auch daher, wie LeRoi Jones betont, dass der AfroAmerikaner neue Erfahrungen mit Amerika machen musste.66 Die Afro-Amerikaner konnten den Blues – mit dessen Ausdruck von Schmerz und Trauer – nur durch ihre spezielle Situation, in der sie lebten,

64 Beecher, Henry Ward. In: The Fisk Herald. März 1888; zit. Seroff, Im Namen des Herrn, S. 41. 65 Jones, Blues People, S. 94. Vgl. auch Kapitel 4. 2 (S. 156ff.). 66 Jones, Blues People, S. 94-95.

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entwickeln. Denn durch das amerikanische System der freien Marktwirtschaft wurde die Last eines glücklosen Schwarzen doppelt niederdrückend. Einerseits wurde er wegen seiner Hautfarbe diskriminiert, andererseits bot ihm dieses Wirtschaftssystem schon aus seiner Theorie heraus keine soziale Unterstützung. Das Konzept des Solos, die Vorstellung, dass ein Mensch allein sang oder spielte, war in der westafrikanischen Musik meist unbekannt. Wenn also der Blues eine Musik war, die sich aus der Anpassung des Schwarzen an die amerikanischen Ideen – sowie deren Übernahme – entwickelte, dann war der Blues auch eine Musik, die sich aus der besonderen Stellung des Afro-Amerikaners in den USA ergab.67 So individuell der Blues auf der einen Seite war, so wichtig war er auf der anderen Seite für das Kollektiv. Oftmals fühlte sich das Kollektiv nämlich über die persönlichen Erzählungen eines Sängers – eines umherziehenden Barden – verbunden, da jedes Individuum ähnliche Erfahrungen machte. Jeff Todd Titon, selbst erfahrener Bluesmusiker, betont in seinem Werk Early Downhome Blues, welches im Zusammenhang mit den Untersuchungen zu seiner Dissertation an der University of Minnesota entstanden ist, dass die Sänger wertvolle Mitglieder der schwarzen Gesellschaft waren, welche deren Sorgen formulierten und mit allen teilten. Auch die weißen Landbesitzer unterstützten diese Barden, da sie deren Gesang als ein Mittel gegen eine allfällige Unzufriedenheit der Arbeiter betrachteten. Die Musiker ermutigten zudem die Gesellschaft innerhalb ihrer Kultur zur gegenseitigen Solidarität und hielten so die Gemeinschaft zusammen. Sie manifestierten auch eine Alternative gegenüber den Standards der weißen Mittelklasse. Ohne den Blues wären die Ideale der Schwarzen viel näher bei den Idealen der weißen Mittelklasse gewesen. Dies hätte bedeutet, dass es noch schwieriger für die Schwarzen geworden wäre, eine eigenständige Identität in der afro-amerikanischen Kultur zu finden. Auch wenn die Blues-Sänger ihre Funktion vor allem als Unterhalter sahen, drückten sie signifikante Ideen, Emotionen, Standards und Verhaltensmuster ihrer Gesellschaft aus. Oder anders gesagt: Auch wenn die Samstagabend-Parties nicht als religiöse, soziale Rituale angesehen wurden, konnten sie doch genau diesen Zweck erfüllen.68

67 Jones, Blues People, S. 94-95. 68 Titon, Jeff Todd. Early Downhome Blues – A Musical and Cultural Analysis. Chicago / London 1977. S. 59-60.

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1. 3. 3 Vom Süden in den Norden Von der Sklaverei befreit, entflohen viele Schwarze der Armut und dem Chaos der Südstaaten in den Westen oder den Norden. Doch die Mehrheit blieb und war mit der Verbitterung der weißen Südstaatler über die Niederlage im Sezessionskrieg und damit dem weißen Rassismus konfrontiert.69 Unter diesen Bedingungen wurde der klassische Blues auf dem Land im Süden entwickelt, denn um die Jahrhundertwende lebte die Mehrzahl der Afro-Amerikaner noch in den ländlichen Gegenden der Südstaaten. Herumziehende Musikanten, Sänger, Barden oder wie sie sich auch immer nannten, entwickelten den Blues. Aber bereits um 1914 begann der große Exodus, eine Massenflucht aus dem Süden, für die es verschiedene – nicht nur wirtschaftliche – Gründe gab. In Massen zogen die Schwarzen in die Industriezentren des Nordens wie Chicago, Detroit oder New York. In den Jahren von 1910 bis 1920 zum Beispiel übersiedelten 60.000 AfroAmerikaner aus dem Süden in die Stadt Chicago.70 Langsam, aber unaufhaltsam – vor allem auch unter dem Einfluss der Großen Depression – änderte sich das Gesicht des Blues. Der klassische Blues wurde unzeitgemäß, und eine neue Ära verlangte nach neuen Helden, nach neuen Bezugsgestalten. Vor allem die Plattenindustrie, die in den zwanziger Jahren noch unzählige Aufnahmen von Blues-Interpreten in den ländlichen Regionen gemacht hatte, verzeichnete hohe Einbussen. Somit beschränkte sich die Aufnahmetätigkeit auf die Städte. Es waren nicht mehr die Sorgen des Landlebens, die besungen wurden, die man mit dem Blues vergessen wollte, sondern die urbanen Probleme, welche die alten Industriestaaten schon lange kannten. Während die klassischen Bluessänger Schallplattenaufnahmen machten, im Theater auftraten und im ganzen Land Vorstellungen gaben, hatte sich eine weitere, mehr private Art des Blues entwickelt, die in Nachtlokalen und bei sogenannten Miet-Parties entstand. Als Miet-Parties wurden die Zusammentreffen in Privatwohnungen oder - häusern bezeichnet, für die ein niedriges Eintrittsgeld als Beitrag zur Miete erhoben wurde. Dies war zumindest der Vorwand für die Party. Der Blues und der am Blues orientierte Jazz und Boogie Woogie der neuen Stadtbewohner waren härter, unbarmherziger und vielleicht sogar stoischer und

69 Oakley, Devil’s Music, S. 24-25. 70 Jones, Blues People, S. 131.

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hoffnungsloser als die früheren Formen. Andererseits konnte an diesen Parties mit der Musik eine Freiheit gelebt werden, wie dies anderenorts nicht möglich war.71 Der in Harlem (New York) aufgewachsene schwarze Schriftsteller und Essayist James Baldwin beschreibt in The Fire Next Time die Bedeutung der Miet- oder Waistline-Parties für die Schwarzen eindrücklich: [...]we sometimes achieved with each other a freedom that was close to love. I remember, anyway, church suppers and outings, and, later, after I left the church, rent and waistline parties where rage and sorrow sat in the darkness and did not stir, and we ate and drank and talked and laughed and danced and forgot all about „the [white] man“. We had the liquor, the chicken, the music, and each other, and had no need to pretend to be what we were not. This is the freedom that one hears in some gospel songs, for example, and in jazz.

72

a) Der Beginn des Boogie Woogies Als eigentliche Klaviermusik stieg der Boogie Woogie anfangs des 20. Jahrhunderts in den Partywohnungen und Musikautomaten-Lokalen des Nordens zu seiner größten Popularität auf, obgleich er bezeichnenderweise seinen Ursprung im simplen Blues der Schwarzen des ländlichen Südens hatte. Er schien eine für das Klavier bearbeitete Verschmelzung von gesungenem Blues (vocal blues) und den früheren Gitarren-Techniken der Country-Sänger zu sein. Im Einklang mit den traditionellen Stilarten der afroamerikanischen Musik war der Boogie Woogie zudem in erster Linie eine Musik der rhythmischen Kontraste und weniger eine der melodischen oder harmonischen Variationen. Dies lässt wiederum auf das afrikanische Erbe zurückschließen.73 Die Aggressionen und Spannungen im Ghetto der Großstadt konnten am besten durch den Boogie Woogie ausgedrückt und in Freude umgewandelt werden, indem das Piano die Leute zügellos zum Tanzen animierte und

71 Oakley, Devil’s Music; S. 157-160. 72 Baldwin, James. The Fire Next Time. New York 19633, S. 51-52. Vgl. auch Kap. 5. (S. 189). 73 Jones, Blues People, S. 155.

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ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit hervorrief. Die Botschaft des Boogie Woogies war – falls es eine gab –, dass nichts Sündhaftes oder Falsches daran war, sich eine gute Zeit zu machen und so dem Gefühl der rassenbedingten Unterlegenheit zu entfliehen. Mit dem Boogie Woogie wurde ein neues Ventil gefunden, um die Großstadtsorgen zu mildern.74

b) Der Beginn des Jazz Allgemein wird der Beginn des Jazz auf das Jahr 1917 datiert, da in diesem Jahr zum ersten Mal ein breites Publikum Jazz zu hören bekam. Doch sowohl Stearns wie auch Schuller führen die Schwierigkeiten aus, den exakten Beginn des Jazz zu eruieren, da sowohl der Begriff Jazz wie auch die Musik schon früher an verschiedenen Orten auftauchten. Höchst wahrscheinlich entstand der Jazz an mehreren Orten gleichzeitig. Doch im Zusammenhang mit dem ursprünglichsten Jazz, dem Dixieland Jazz, wird meistens die Stadt New Orleans als Ursprungsort erwähnt. Die Hauptströmung des reinen, traditionellen Jazz, der New-Orleans-Stil, überlebte die zwanziger Jahre jedoch nicht. Mit Chicago und New York, welche zu den neuen Zentren des Jazz wurden, ging der New-Orleans-Stil in Vergessenheit. In der Mitte der zwanziger Jahre suchten die Plattenfirmen nicht mehr länger nach heißen – hot, wie es in der Umgangssprache hieß – Jazzbands aus New Orleans, denn diese wurden in den Städten des Nordens leichter gefunden.75 Während der zwanziger Jahre entwickelte sich der Jazz von einer gelegentlichen Außenseitermusik zu einem Artikel, den es in jedem Haushalt gab. Diese Musik konnte zwar immer noch streng kritisiert werden, aber man konnte sie nicht mehr ignorieren, ohne Gefahr zu laufen, die Verbindung mit einem kennzeichnenden Element der amerikanischen Kultur zu verlieren. Unter diesem Aspekt dürfen die zwanziger Jahre zu Recht das Jazz Age, das Jazz Zeitalter, genannt werden. Damit wird nicht nur auf die musikalische Strömung verwiesen, sondern vielmehr auf den geistigen Zustand dieses Jahrzehnts: wild und rasend.76

74 Oakley, Devil’s Music, S. 160. 75 Schuller, Early Jazz, S. 63-64. / Stearns, Story vom Jazz, S. 144. 76 Stearns, Story vom Jazz, S. 143.

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Der Jazz nahm mit den Jahren die unterschiedlichsten Formen an und entwickelte sich in verschiedene Richtungen, z.B. Swing, Be-Bop, CoolJazz etc. Weit wichtiger war jedoch, ob er von Weißen – welche ihn in den zwanziger Jahren einem breiten Publikum näherbrachten – oder von Schwarzen gespielt wurde. Der Jazz wurde nämlich prinzipiell von zwei Seiten betrachtet. Zum einen wurde er als eine Musikform wahrgenommen, die sich durch gewisse Eigenheiten von anderen Musikformen unterschied, welche jedoch erlernt werden konnte. Zum anderen wurde der Jazz als eine Lebenshaltung aufgefasst, die sich musikalisch ausdrückte. Der Jazz nahm unter diesem Aspekt vielleicht die wichtigste Stelle als Vermittler zwischen Weißen und Schwarzen ein. Auch die verschiedenen sozialen Stufen der schwarzen Gesellschaft wurden durch den Jazz verbunden.77 Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren von einem Wirtschaftswachstum geprägt, das zwar Weiße und Schwarze nicht in derselben Weise erfasste, aber immerhin alle davon profitieren ließ. Der Blues entwickelte sich zu neuen Stilen wie dem Rhythm & Blues, dem Soul oder dem Funk. Alle diese Stilrichtungen hatten gemeinsam, dass sie mehr vom Rhythmus lebten als von der Melodie oder der Harmonie. Noch immer war diese Musik ein Ausdruck von Repression oder ein Ventil für rassenbedingte Zwänge und Aggressionen, noch immer wurde sie mit schwarz und wild in Verbindung gebracht, und noch immer verwies sie auf die Kultur Afrikas.78 Somit prägte die afrikanische Kultur die afro-amerikanische Musik bis in die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts (und mit dem Hip-Hop bis heute) einerseits durch das musikalische Erbe, andererseits durch die soziale Funktion des Musikers, der persönliche, zeitgenössische Lebensumstände beschrieb sowie ein historisches Bewusstsein weitervermittelte. Dabei entwickelte sich die Musik während der Sklaverei einerseits über die Gemeinde und deren Priester in der Kirche weiter, andererseits über die Arbeiter auf den Feldern, und nach der Aufhebung der Sklavenwirtschaft über die herumziehenden Sänger. Die schwarze Mittelschicht identifizierte sich vor allem mit den Spirituals, während sich die schwarze Unterschicht vor allem am Blues orientierte. Diese beiden Hauptströmungen erfuhren schließlich durch die Abwanderung großer Bevölkerungsgruppen aus den Südstaaten der USA eine weitere Diversifikation. Der fort-

77 Jones, Blues People, S. 186-187. 78 Oakley, Devil’s Music, S. 230.

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schrittliche Norden entwickelte den Blues und Jazz zu härteren Formen, während der Süden an den traditionellen Formen des Blues und der Spirituals festhielt.

2. Zeitgeschichtlicher Hintergrund: Die schwarze Bürgerrechtsbewegung

Say It Loud – I’m Black and I’m Proud1 sang der schwarze Soul-Sänger James Brown 1968 und gelangte mit diesem Song in die Top Ten der amerikanischen Hitparade. James Brown verwirklichte eine Traumkarriere wie kaum ein anderer. Am 4. Juni 19292 auf einer Südstaaten-Farm geboren und in Georgia bei einer Tante in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, brachte er es vom Baumwollpflücker, Schuhputzer und Wagenwäscher mit Talent und unbeugsamem Durchsetzungswillen zum mehrfachen Dollarmillionär. Gleichzeitig avancierte James Brown zum Symbol der Black-PowerBewegung und verkörperte ein neues Selbstbewusstsein der AfroAmerikaner, indem er laut singend verkündete: Say It Loud – I’m Black and I’m Proud. Doch es waren nicht alle Schwarzen so selbstsicher und kommentierten James Browns Aufruf wie beispielsweise der weniger bekannte Blues-Sänger Willie Cobb: „It’s easy for James Brown to say that; he’s a millionaire. I say, Sing It Low – I’m Black and I’m Poor.“3 Die Haltung von James Brown sowie diejenige von Willie Cobb widerspiegeln die Problematik der schwarzen Bürgerrechtsbewegung treffend.

1

Brown, James. Say It Loud – I’m Black and I’m Proud; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 230.

2

Ertl, Franz. Soul-Diktionär. Köln 1987. S. 46. Lee Hildebrands Nachschlagewerk gibt allerdings als Geburtsdatum den 5. Mai 1933 an. Hildebrand, Lee. Stars of Soul and Rhythm & Blues. New York 1994. S. 26.

3

Olsson, B. Memphis Blues. Oliver, Paul (Hg.). Blues Paperbacks. London 1970; zit. Oakley, Devil’s Music, S. 230.

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Einerseits lebten in den USA der 50er und 60er Jahre bereits einige AfroAmerikaner, die es zu großem Reichtum und Ansehen gebracht hatten, anderseits lebten die meisten Schwarzen in drückender Armut und vor allen Dingen in beklemmender Ausgrenzung. Selbst wenn ein schwarzer Amerikaner wohlhabend war, war es ihm im Süden noch lange nicht möglich, in allen Läden einzukaufen, denn allzu oft untersagte ihm ein Schild White Only den Zutritt. Dasselbe galt für öffentliche Brunnen, Wartesäle, Schulen etc., die alle strikte nach den Farben Schwarz / Weiß unterteilt waren. Wenn ein Schwarzer bereits in Einkaufsläden Mühe hatte, Geld auszugeben, wieviel schwieriger muss es für denselben gewesen sein, seine politische Meinung an der Urne zu bekunden? Die Rassentrennung – heute schwer nachvollziehbar – war eine Tatsache in den Südstaaten, die schlecht in das Bild der USA als Garant für Freiheit und Demokratie passte. Diese beiden Begriffe schienen unter dem Aspekt der Segregation nicht auf Amerika zuzutreffen. Präziser wären die Begriffe Weiße Freiheit und Weiße Demokratie gewesen, denn die schwarzen Amerikaner mussten hart für die Gleichberechtigung in den USA kämpfen. Wie dieser Kampf geführt wurde, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Wie manifestierte sich die schwarze Bürgerrechtsbewegung? Dabei werden die wichtigsten Organisationen und deren Anliegen, Ziele und Aktivitäten erläutert. Des Weiteren werden die beiden wichtigsten und prominentesten Figuren in diesem Kampf beleuchtet. Wie vertraten Martin Luther King jr. aus dem Süden und Malcolm X aus dem Norden ihre Anliegen? Dabei soll die afro-amerikanische Musik und deren Einfluss auf die politischen und sozialen Umwälzungen nicht außer acht gelassen werden. Welche Rolle spielte die afro-amerikanische Musik in Bezug auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung?

2. 1 A LLGEMEINE A NALYSE Die schwarze Bürgerrechtsbewegung war kein einheitlicher oder eindimensionaler Kampf. Es gab keine einheitlichen Ziele oder einheitlichen Motive, ebensowenig gab es eine einheitliche Bewegung, welche für die Anliegen der Schwarzen eingetreten wäre. Es gab nicht einmal einen einheitlichen Grund für diesen Kampf. Der einzige gemeinsame Nenner war, dass alle

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Beteiligten für eine Verbesserung der Situation der Afro-Amerikaner eintraten. Die Lösungsvorschläge, die zu dieser Verbesserung führen sollten, waren jedoch je nach Konfession, Bundesstaat oder sozialer Schicht verschieden. Somit wurden verschiedene Werte, Erwartungen und Erfahrungen der Bewegung oder den (Unter-)Bewegungen zugeordnet. Die Teilnehmer der politischen Veranstaltungen forderten oft aufgrund persönlicher Bedürfnisse soziale Veränderungen. Gerade die Unterstützung junger weißer Studenten für die Bewegung wurzelte oft in allgemeiner, generationsbedingter Unzufriedenheit und äußerte sich unter anderem im subkulturellen Umfeld.4 In den zwei bedeutendsten Exponenten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung personifizierten sich zugleich die zwei wichtigsten Erscheinungsformen der Bürgerrechtsbewegung: Martin Luther King jr. trat für gewaltlosen Widerstand und Integration ein, Malcolm X kämpfte – allenfalls mit Gewalt – für Recht und Anerkennung der Schwarzen. Die Ausgangslage dieser beiden Persönlichkeiten hätte unterschiedlicher nicht sein können. Martin Luther King jr. stammte aus einer angesehenen, wohlhabenden Priesterfamilie in Atlanta, Georgia. Er wuchs in einer intakten Familie auf, genoss eine vorzügliche Schulbildung, die mit einem Universitätsabschluss und Doktorehren gekrönt wurde. Malcolm X hingegen wuchs im Norden der USA in schlechten Verhältnissen auf, die mit häufigem Wohnortwechsel verbunden waren, und bildete sich hauptsächlich im Selbststudium. Es darf demnach nicht erstaunen, dass die Interessen, Ziele und Methoden dieser beiden Exponenten zunächst diametral entgegengesetzt erscheinen.5 Anhand der Forderungen dieser beiden Persönlichkeiten lassen sich auch die unterschiedlichen Probleme erkennen, mit denen sie konfrontiert waren. Die Schwarzen im Süden forderten die rechtliche Gleichstellung, die Schwarzen im Norden kämpften für die faktische Gleichstellung. Die

4

Fendrich, James Max. Ideal Citizens – The Legacy of the Civil Rights Movement. Albany (N.Y.) 1993. S. XX.

5

Genauere Angaben zu den jeweiligen Lebensläufen folgen in den Kapiteln 2. 2 und 2. 3. Vgl. King, Martin Luther sen. Die Kraft der Schwachen – Geschichte der Familie King. (Originalausgab: Daddy King: An Autobiography. Martin Luther King, Sr. with Claytan Riley. New York 1980) Stuttgart 1982. / Haley (Hg.), Malcolm X.

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Afro-Amerikaner erhielten im Norden nämlich offiziell die rechtliche Gleichstellung, waren aber ständig mit einer versteckten Diskriminierung konfrontiert. Dies musste beispielsweise der aus Los Angeles stammende schwarze Blues-Musiker Big Jay McNeely in einem Café in Long Beach (Santa Monica, CA) erfahren, wo er wegen seiner Hautfarbe kurz nach Betreten des Lokals wieder hinausgewiesen wurde. Er erinnerte sich mit einem traurigen Lächeln daran und bemerkte dazu, dass es im Süden wenigstens Schilder gab, die darauf hinwiesen.6 Durch diese Diskrepanz ergaben sich zwangsläufig unterschiedliche Forderungen, welche von unterschiedlichen Gruppen und Organisationen erhoben und mit unterschiedlichen Mitteln verfochten wurden. Obwohl die Problematik sich nicht ausschließlich in Nord und Süd aufsplitterte und z.T. Aktivitäten und Lösungsvorschläge regional und personell übergreifend waren, zeichneten sich dennoch zwei Hauptströmungen ab: der gewaltlose Widerstand des Südens und der militante Kampf des Nordens.

2. 1. 1 Gewaltloser Widerstand des Südens Die Geburtsstunde der schwarzen Bürgerrechtsbewegung fiel auf den 1. Dezember 1955.7 An diesem Tag weigerte sich die 42-jährige schwarze Näherin Rosa Parks in Montgomery, Alabama, in einem Bus einen Sitzplatz, der ausschließlich Weißen vorbehalten war, zu verlassen und sich in den für Schwarze erlaubten hinteren Teil zurückzuziehen. Sie wurde deswegen aufgrund der lokalen Rassentrennungsverordnung festgenommen. Damit war sie die fünfte Person, die in jenem Jahr in Montgomery wegen Verletzung der Sitzordnung in Bussen verhaftet wurde. Es wurde schon vor diesem Ereignis beraten, ob und wie ein Busboykott durchführbar sei, aber erst anlässlich dieser Verhaftung wurden konkrete Schritte in die Wege geleitet. Der Busboykott dauerte zwölf Monate, dann fällte der Oberste Ge-

6

Whitcomb, Ian. Erinnerungen an Rhythm and Blues. In: Haydon / Marks (Hg.), Schwarze Rhythmen, S. 105.

7

Obschon es bereits vorher Proteste verschiedener Art und an verschiedenen Orten gegeben hatte, wird dieses Datum generell als Ausgangspunkt der Bürgerrechtsbewegung genannt.

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richtshof die Entscheidung, dass die Gesetze des Staates Alabama sowie entsprechende lokale Verordnungen über die Rassentrennung in Bussen verfassungswidrig seien.8 Mit diesem Busboykott und dem ersten Sieg der Bürgerrechtsbewegung wurde gleichsam das Aktionsfeld von den Gerichtssälen auf die Strasse verlagert. Die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP)9 erreichte nämlich bereits am 17. Mai 1954 einen für den Boykott wichtigen Sieg am Obersten Gerichtshof der USA. Dieser erklärte die Rassentrennung im Schulwesen im Fall Brown Versus Board of Education of Topeka10 für verfassungswidrig, weil die Rassentrennung der Schulen keine Chancengleichheit bot. Da die Weisungen des Obersten Gerichts von den örtlichen Behörden jedoch nicht oder nur zögerlich befolgt wurden, mussten andere Wege gefunden werden, um Gleichberechtigung zu erlangen. Mit dem Busboykott von Montgomery begannen sich bewusst konsequent gewaltlose Direkte Aktionen (Direct Actions) zu entwickeln: Demonstrationen, Boykotte und bewusste Verletzungen der Rassentrennungsordnungen wie z.B. die Freedom Rides11 oder Sit-Ins12. Mit der Strategie der Direkten Aktionen wurde ein Weg gefunden, der zum Ziel zu führen schien.13 Die entscheidenden Träger dieser Aktivitäten waren, neben einer Unmenge kleinerer, oft nur kommunal arbeitender Gruppen, die Organisationen Congress Of Racial Equality (CORE), Southern Christian Leadership

8

Demny, Oliver. Die Wut des Panthers. Münster 1994. S. 24. / Presler, Gerd. Martin Luther King. Hamburg 1984. S. 44.

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Diese Organisationen werden im Folgenden genauer besprochen. Vgl. auch Anhang.

10 Im Mai 1954 hatte der Oberste Gerichtshof der USA entschieden, dass die Rassentrennung (Segregation) verfassungswidrig und darum von den Bundesstaaten aufzuheben sei. Vgl. auch: Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 121. 11 Freiheitsfahrten – Weiße und Schwarze fuhren entgegen den Bräuchen der Südstaaten in öffentlichen Verkehrsmitteln zusammen, um für die Rechte der Schwarzen zu demonstrieren. 12 Mit den Sit-Ins wollten Schwarze das Recht, in Restaurants und Warenhäusern bedient zu werden, ersitzen. 13 Demny, Wut des Panthers, S. 23-38.

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Conference (SCLC) und Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC).14 Im Folgenden werden die vier Organisationen NAACP, CORE, SCLC und SNCC kurz vorgestellt.

a) National Association for the Advancement of Colored People Die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) definiert sich als Organisation, welche danach trachtet, die rassistische Diskriminierung und Segregation in allen öffentlichen Aspekten des amerikanischen Lebens zu beenden. Sie tritt für gleiches Recht für alle ein und zieht, wenn nötig, des öftern Fälle bis vor das Oberste Gericht. Zur NAACP gehören nicht nur schwarze Mitglieder. Sie ist eine gemischtrassige Organisation, zu der prominenteste Leute wie Nelson A. Rockefeller, ehemaliger Gouverneur von New York, als auf Lebzeiten gewähltes Mitglied zählen. 1962 haben 400.000 Mitglieder der Organisation angehört. Obwohl die Organisation ihren Namen erst 1910 definiert hat, gilt heute der 12. Februar 1909, das Briefdatum zur ersten Kongresseinberufung, – in Anlehnung an Präsident Abraham Lincolns Geburtstag – als Gründungsdatum.15 Die NAACP ging aus der Initiative des Historikers, Soziologen und Schriftstellers W.E.B. Du Bois hervor. William Edward Burghardt Du Bois (1868 - 1963) wurde in Great Barrington (MA) geboren und starb in seiner Wahlheimat Ghana. Seine Studien führten ihn an die Fisk Universität, später an die Harvard Universität, wo er als erster Afro-Amerikaner die Doktorwürde erlangte. Auch war er zwischendurch dank eines Stipendiums an der Universität Berlin. Durch seine schon anfangs des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Schriften, die sich vehement gegen die Rassentrennung wandten, erlangte er den Status des ersten Bürgerrechtlers. Um sich gegen die Rassendiskriminierung zu wehren, berief Du Bois 1905 eine Gruppe von schwarzen Führern zu den Niagara Falls und gründete mit ihnen eine Organisation zur Verteidigung der Rechte der Schwarzen. Der erste Kongress dieser Niagarabewegung fand 1906 in Harper's Ferry statt. Er forder-

14 Demny, Wut des Panthers, S. 23-38. 15 Hughes, Langston. Fight for Freedom – The Story of the NAACP. New York 1962. S. 11-24.

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te für die afro-amerikanische Bevölkerung Folgendes: gesellschaftliche und politische Rechte, wie sie jedem amerikanischen Staatsbürger zustehen; Beendigung der Rassendiskriminierung; das Recht, Beziehungen zu jeder Person zu unterhalten, die selber dagegen nichts einzuwenden hat; die Auslegung der Gesetze ohne Rücksicht auf Vermögen und Hautfarbe; das Recht auf Ausbildung für alle Kinder. Aus dieser Initiative ging 1909 die National Association for the Advancement of Colored People hervor.16 Erste Hauptziele waren die Abolition der Lynchpraxis, gleiches Recht auf Bildung für alle Kinder sowie gleiche öffentliche Unterstützung für alle, die zu studieren wünschten. Ein weiteres wichtiges Ziel war die Unterstützung und der Schutz der schwarzen Bürger, die an der Urne wählen gehen wollten. Das Wahlrecht war vor allem gegenüber Afro-Amerikanern im Süden stark eingeschränkt, de facto wurde es ihnen sogar oft vorenthalten. Daneben setzte sich die Organisation für gleiche Rechte bezüglich Niederlassungsfreiheit, Reisefreiheit etc. ein. Um diese Ziele zu erreichen, wurden eigene Anwälte und Gelder eingesetzt, die an verschiedenen Institutionen und Gerichten für Gleichberechtigung kämpften.17

b) Congress Of Racial Equality / Southern Christian Leadership Conference / Student Nonviolent Coordinating Committee Es wäre grundlegend falsch, die Bürgerrechtsbewegung als etwas Vorfabriziertes oder Ausgearbeitetes aufzufassen, denn sie entwickelte sich vielmehr in verschiedenen Phasen. Ein wichtiger Aspekt ist zudem die Unterscheidung zwischen der rechtlichen und der kulturellen Komponente im Bestreben um eine Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen. Die rechtliche Komponente wurde von der Organisation NAACP schon längere Zeit verfolgt, während neuere Organisationen wie der Congress Of Racial Equality (CORE), die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) und das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) die kulturelle

16 Hughes, Fight for Freedom, S. 11-24. Vgl. auch: Lewis, David Levering. W.E.B. Du Bois – Biography of a Race. New York 1993. S. 1-10. / Carles / Comolli, Free Jazz, S. 143. 17 Hughes, Fight for Freedom, S. 11-24. Vgl. auch Carles / Comolli, Free Jazz, S. 143.

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Komponente in den Vordergrund rückten. Sie propagierten die afroamerikanische Kultur und traten mit Direkten Aktionen und Massenveranstaltungen für die Abschaffung der Segregation ein.18 Die Organisation CORE wurde 1942 in Chicago von Studenten als eine gemischte integrationistische Organisation gegründet, die das Ziel hatte, sich mittels Manifestationen gegen die rassendiskriminierenden Jim-CrowGesetze19 zu wehren. Mit ihrem Mittel der direkten, doch gewaltlosen Aktionen war sie die Vorläuferin der Bürgerrechtsbewegung. 1947 führte die Organisation CORE den ersten Freedom Ride durch, wobei die Protestierenden in Autobussen durch segregationistische Staaten fuhren und die JimCrow-Gesetze offen missachteten. Die Mitglieder der Organisationen CORE und SNCC kamen hauptsächlich aus der oberen Unterschicht, ihre Eltern stammten aus dem Süden, waren arm und gehörten der Arbeiterklasse an, sie selber besuchten jedoch ein College. Die beiden Organisationen waren engagiert und hofften, mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams die Grenzen orthodoxer Politik, wie sie die NAACP praktizierte, zu durchbrechen. Diese Ziele verfolgte ebenfalls die 1957 von Martin Luther King jr. ins Leben gerufene SCLC, welche ihre Mitglieder vor allem aus den Kirchen des Südens rekrutierte. Die Organisation SNCC wurde 1960 gegründet. Sie ging im wesentlichen aus dem SCLC hervor und sprach hauptsächlich die Jungen an.20

Ideologischer Hintergrund: In der ersten Zeit der Bürgerrechtsbewegung waren die Vertreter des NAACP und der anderen Organisationen ideologisch weit auseinander und

18 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 122. 19 Jim Crow: Bezeichnung für die amerikanischen Neger; der Name entstammt einem alten amerikanischen Volkslied, das um 1835 von den dunkelhäutigen Sklaven während der Arbeit gesungen wurde: „Spring around, turn around Jim Crow.“ Mit dem Begriff Jim Crow wird auch die diskriminierende Haltung Weisser gegenüber Schwarzen bezeichnet, während die Umkehrung dieses Begriffs, Crow Jim, für die diskriminierende Haltung von Schwarzen gegenüber Weissen verwendet wird. 20 Demny, Wut des Panthers, S. 25 / Carles / Comolli, Free Jazz, S. 187.

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kamen erst in den 60er Jahren näher zusammen. Die NAACP wollte nichts mit den Direkten Aktionen zu tun haben. Mit Martin Luther King jr. und anderen Geistlichen gewann der Kampf um Gleichberechtigung allerdings enormen Schwung. Dieser manifestierte sich neben den Direkten Aktionen in der Betonung und Wiederentdeckung der afro-amerikanischen Kultur und der Ausschöpfung des afrikanischen Erbes. Gerade die kulturellen Ressourcen der schwarzen Kirche der Südstaaten lieferten einen enormen Beitrag zur Bürgerrechtsbewegung, welche die Rassenfrage in kirchlicher Terminologie behandelte. Zwar baute die Bewegung auf den Grundbegriffen der USA wie Freiheit, Gleichheit und Demokratie auf, doch gleichzeitig wurden archetypische Forderungen der christlichen Religion wie Vergebung und Versöhnung im öffentlichen Kampf um Gleichberechtigung signifikant. Mit Jesus als moralischem Vorbild konnte der Kampf von Schwarz und Weiß geführt werden, denn das Neue Testament konnte als Basis für Schwarz und Weiß dienen. So utopisch dies erscheinen mochte, Martin Luther King jr. verkörperte genau diese Utopie. Man glaubte ihm und seinen Gefolgsleuten, wenn sie sagten, dass sie sich, Weiße und Schwarze zusammen, als einen Bund von Brüdern und Schwestern sähen und dass sie für einander sterben würden. Man glaubte ihnen, wenn sie „deep in my heart, I do believe that we shall overcome someday“21 sangen.22 Es genügte nicht, Opferbereitschaft und moralische Werte zu predigen. Die Worte mussten gelebt werden. Um eine Veränderung zu erreichen, war es zudem notwendig, eine breite Masse zu mobilisieren, die für dieselben Ziele und Methoden eintrat. Die Aufgabe der Führer der Bewegung bestand demnach darin, die Techniken des gewaltlosen Protests der Direkten Aktion zu lehren. Diesbezüglich wurde ein ideales Vorbild gefunden: Mahatma Gandhi hatte in Indien bewiesen, dass mit gewaltlosem Protest die Unabhängigkeit erreicht werden konnte.23 Der gewaltlose Widerstand wurde zur Haupttaktik im Prozess der Bewegung beider Gruppierungen, sowohl des SCLC wie auch des SNCC, welche eine Brücke zwischen den Generationen bildeten. Für den Prozess ebenso wichtig waren die Wiederentdeckung der schwarzen Geschichte, der schwarzen Kultur und damit die Neuinterpretation der amerikanischen

21 Vgl. Kap. 3. 1 (S. 111ff.). 22 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 123-124. 23 Ebenda.

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Gesellschaft. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung war viel mehr als kollektives Verhalten und die Mobilisierung gewaltlosen Widerstands, sie beinhaltete ebenso eine Aufklärung über die afro-amerikanische Geschichte. Diese wurde in Gruppenstudien aufgearbeitet, auf Flugzetteln der Organisationen verteilt, drang in die Universitäten und verbreitete sich über die PopKultur.24 In der Zeit der 50er- und 60er-Jahre gab es nicht nur organisierte Aktionen. Es wurden mindestens 487 Aktionen alleine zwischen 1955 und 1960 gezählt, wobei der größte Teil durch örtliche Kirchen geleitet wurde oder sogar spontan entstand. Martin Luther King jr. und die SCLC waren nur an 26 Prozent dieser Aktionen beteiligt.25 Die Organisationen SCLC und SNCC hatten allerdings einen erheblichen Einfluss auf die Verflechtung von schwarzen Ambitionen und weißer Partizipation. Die praktische Integration – die Teilnahme von schwarzen und weißen Demonstranten –, die durch das Wirken der Organisationen stattfand, stellte für die Bürgerrechtsbewegung ein wesentliches Element dar. All die vielen weißen Studenten aus dem Norden, die in den Süden reisten, um Seite an Seite mit ihren schwarzen Mitbürgern für Gleichberechtigung zu kämpfen, waren für die Glaubwürdigkeit der Integrationsbestrebungen enorm wichtig. Dadurch, dass weiße Studenten gemeinsam mit schwarzen Studenten an Sit-Ins und Boykotten teilnahmen und manchmal sogar gemeinsam in den Gefängnissen ausharrten, wurde die Forderung nach Gleichberechtigung unterstrichen. Die Organisationen sorgten für die erforderliche Dimension und den ruhigen Verlauf der Proteste, die mit Massentreffen in den Kirchen begannen – um spirituelle Höhe durch Gebet und Gesang zu erreichen – und dann in Sit-Ins, Freedom-Rides oder weiterreichende Aktionen mündeten. Das Hauptverdienst dieser Organisationen war die Innovation der organisierten Massenaktionen, die gerade durch ihre gewaltlose Art alle Gesellschaftsschichten ansprachen.26 Neben den geistlichen Vertretern der Südstaaten spielte Robert ‚Bob‘ Moses, eine herausragende Figur der SNCC, eine signifikante Rolle beim Brückenbau zwischen weißen Studenten aus dem Norden und schwarzen Südstaatlern. Er teilte mit den jungen Weißen nicht nur das Alter, sondern

24 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 123-124. 25 Fendrich, Ideal Citizens, S. 3. 26 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 123-124.

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auch den kulturellen und intellektuellen Hintergrund. Er selbst wuchs in New York City auf, studierte an der Harvard Universität Philosophie und verstand es, mit Zitaten des französischen Schriftstellers und Existentialisten Albert Camus – anstelle von Bibelzitaten – die jungen weißen Intellektuellen anzusprechen. Moses selbst verbrachte einige Zeit in einer pazifistischen Gemeinschaft in Frankreich, wobei er als Philosophiestudent stark mit dem französischen Existentialismus in Kontakt kam. Aus philosophischen Schriften des Existentialismus, angereichert mit Erfahrungen, die er unter Quäkern und Pazifisten machte, formte er ein überzeugendes intellektuelles Modell für die Ziele der Bürgerrechtsbewegung. Seine Anekdoten und Gedanken wurden, wie die Musik und die Freiheitslieder, ein wichtiges Element für die kollektive Identität der Bürgerrechtsbewegung.27 Vor allem in den frühen 60er-Jahren bildete die ausgezeichnete Verflechtung der verschiedenen Organisationen, der verschiedenen Individuen sowie der verschiedenen Stossrichtungen der Bewegung die Basis für eine dynamische Entwicklung im Kampf um Gleichberechtigung. Die späten 60er Jahre hingegen waren von professionellen Führern gekennzeichnet, die mehr und mehr an verschiedenen Stricken zogen und radikalere Positionen einnahmen, was sich in Ausdrücken wie Black Power und Black Separatism widerspiegelte.28 Weshalb die Bewegung an Schwung verlor, kann nicht eindeutig erklärt werden. Es können aber verschiedene Komponenten aufgeführt werden, die dafür verantwortlich waren: Zum einen entfiel mit der Unterzeichnung des Civil Rights Act von 1964, welches die rechtliche Aufhebung der Segregation bewirkte, ein klar formulierbares Ziel. Dies führte jedoch im negativen Sinne dazu, dass der Süden feststellen musste – dem Norden war die Problematik schon lange bewusst –, dass mit der rechtlichen Gleichstellung der Afro-Amerikaner das Rassenproblem noch lange nicht gelöst war.29 Eine weitere Komponente für die Polarisation unterschiedlicher Auffassungen bildete der Vietnamkrieg. Dieser spaltete nicht nur die weißen, sondern auch die schwarzen Amerikaner. Die Organisation NAACP konnte sich, da sie ihr Hauptziel – die rechtliche Gleichstellung – erreicht hatte, mit dem Vietnamkrieg gut abfinden. Diese Haltung stand allerdings in krassem Ge-

27 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 131-132. 28 Ebenda, S. 124-131. 29 Ebenda, S. 132-145.

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gensatz zu Kings Position. Martin Luther King jr. – im Gegensatz zu seinem Vater – war einerseits aus moralischen Gründen gegen den Vietnamkrieg, anderseits verurteilte er ihn aus pragmatischen Gründen, weil mit diesem Krieg spirituelle und materielle Ressourcen – die viel dringender in den USA selbst benötigt worden wären – im Ausland verbraucht wurden.30 Zudem ließ die faktische Gleichstellung von Schwarzen und Weißen auf sich warten. Die Bewegung erreichte zwar eine rechtliche Gleichstellung aller Amerikaner, doch letztlich wurden die Afro-Amerikaner in Schulen, Bussen etc. mehr geduldet als respektiert. Somit erschien die Forderung nach tatsächlicher Integration umso naiver, je mehr die rassentrennenden Gesetze abgeschafft wurden. Dies wiederum gab radikaleren Gruppierungen, welche gegen die Integration, dafür aber für einen autonomen schwarzen Staat eintraten, Auftrieb. Eine letzte wichtige Komponente war die Ermordung von Martin Luther King jr. – wie auch von Malcolm X –, welche mit Bestimmtheit wesentlich dazu beitrug, dass die Bewegung an Zugkraft verlor und sich in weniger bedeutenden Einzelaktionen verzettelte.31

2. 1. 2 Militanter Kampf des Nordens Wie bereits oben erwähnt, war der Norden schon lange mit einer versteckten Rassendiskriminierung vertraut. Die Schwarzen, welche in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen in den Norden geflüchtet waren, wurden oft enttäuscht und lebten mit angestauter Wut oder hoffnungsloser Apathie in den Großstadtghettos. Unter diesen Bedingungen bildeten sich im Norden andere Gruppen als im Süden, welche dementsprechend radikalere Forderungen stellten und radikaler für die faktische Gleichstellung kämpften.

30 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 132-145. 31 Ebenda.

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a) Universal Improvement Association Der Erste Weltkrieg – wie auch der Zweite Weltkrieg – zeigte den AfroAmerikanern die Einzigartigkeit ihrer sozialen Lage. Denn mit Europa lernten sie nicht nur einen neuen Kontinent kennen, sondern auch einen neuen Typus des weißen Menschen. Die Europäer traten den Schwarzen, weil durch die Sklavenfrage unbelastet, anders gegenüber als die Amerikaner. Nie gab es in den USA so viele Rassenunruhen wie während des Ersten Weltkrieges und unmittelbar danach. Der Erste Weltkrieg zeigte nicht nur die rassenbedingte soziale Ungerechtigkeit des amerikanischen Lebens als eine spezifisch amerikanische Erscheinung auf, sondern gab darüber hinaus den Afro-Amerikanern erstmals die Möglichkeit, die soziale Ungerechtigkeit, welche die Schwarzen erlitten, einigermaßen objektiv als Missstand und nicht einfach als ewiges Schicksal zu betrachten. Zu dieser Zeit begann sich der erste breit organisierte Widerstand der Afro-Amerikaner gegen die Missstände zu bilden. Die Rassenunruhen in dieser Zeit waren eine Manifestation dieser Tendenz, ebenso das Auftreten von Gruppen wie der NAACP oder Marcus Garveys Universal Improvement Association (UNIA), welche die Rückkehr der schwarzen Amerikaner nach Afrika propagierte.32 Marcus Garvey gründete die UNIA 1914 in seiner Heimat Jamaika. Zwei Jahre später siedelte er in die USA über und gründete die erste New Yorker Ortsgruppe der UNIA, der bis 1919 weitere 30 folgten. Garvey appellierte an den Rassenstolz der Schwarzen und pries ihre Schönheit und Stärke. Die Schwarzen in den USA sollten sich voller Stolz auf ihre afrikanischen Wurzeln zurückbesinnen und nach Afrika zurückkehren. Er wandte sich an den Völkerbund und nahm in Liberia Verhandlungen auf, um dort eine Kolonie gründen zu können. Seine Anhängerschaft in den schwarzen Ghettos zählte schon bald Millionen, aus denen sich sogar einige paramilitärisch strukturierte Gruppen wie die Afrikanische Legion, das Schwarze Kreuz oder das Panafrikanische Korps etc. bildeten. Die amerikanische Regierung bekämpfte seine Bewegung und warf Garvey schließlich wegen Betrugs für fünf Jahre ins Gefängnis. Nach Verbüßung seiner Haft wurde er sofort von der US-Regierung ausgewiesen. Es gelang ihm nicht mehr, seine Bewegung von Jamaika und England aus zu reaktivieren, doch er erreichte immerhin, den Schwarzen das Bewusstsein ihrer potentiellen Stärke zu ge-

32 Jones, Blues People, S. 154.

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ben und ihr Vertrauen in die schwarze Rasse und Kultur zu festigen. Außerdem bewies Garvey genügend politischen Weitblick, um als erster die Befreiungskämpfe der schwarzen Amerikaner mit den Befreiungskämpfen der Kolonisierten in aller Welt in Verbindung zu bringen. Er schickte nämlich den Führern der farbigen Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Geld und versicherte sie seiner Solidarität.33

b) Nation Of Islam Die Black Muslims, die sich in der Nation Of Islam zusammenschlossen, bildeten eine neue Form von Separatismus – im Gegensatz zum Integrationismus der NAACP – und lösten den Garveyismus der frühen zwanziger Jahre ab. Während des Zweiten Weltkrieges verweigerten die Muslims den Dienst in der Armee. Ihr Führer, Robert Poole, genannt Elijah Muhammad, verbrachte deswegen drei Jahre im Gefängnis. Nach seiner Freilassung wurde er der neue Held vieler Schwarzer, und vielerorts entstanden seine Tempel.34 Gegründet wurde die Nation Of Islam 1930 von Wali Farrad, doch bereits 1934 übernahm Minister Elijah Muhammad die Führung. Diese Organisation war in erster Linie eine religiöse Sekte mit strengen Regeln. Ihre Ideologie basierte auf dem Glauben an die Überlegenheit der schwarzen Rasse und darauf, dass diese von Gott, der schwarz sei, auserwählt worden sei, und die Weißen letztlich mit dem weißen Teufel untergehen würden. Alkohol, Rauchen, Rauschgift, Tanzen, Flirten, Kinobesuche, schuldhafter Verlust des Arbeitsplatzes etc. waren streng verboten. Mit der Weltgemeinschaft des Islam hatte die Organisation allerdings wenig gemeinsam und bezog sich paradoxerweise mehr auf die Bibel als auf den Koran.35 Ihr Ziel war die Bildung eines eigenständigen schwarzen Staates auf dem Boden der USA, mit einer eigenständigen schwarzen Verwaltung. Dieser Staat sollte nach strengen moralischen Vorschriften aufgebaut und mit Fleiß und Tüchtigkeit zum Erfolg geführt werden. Die Black Muslims, wie sich die Mitglieder der Nation Of Islam nannten, entfalteten eine Fülle

33 Haley, Malcolm X, S. 504. / Carles / Comolli, Free Jazz, S. 156-157. 34 Carles / Comolli, Free Jazz, S. 187. 35 Demny, Wut des Panthers, S. 28-30.

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religiöser und sozialer Aktivitäten. Sie unterhielten nicht nur Tempel, sondern auch Restaurants, Läden, Schulen und sogar eine eigene Universität in Chicago.36 Die Nation Of Islam konnte unzählige durch sie geheilte Süchtige und Gefängnisinsassen rekrutieren und besaß Schätzungen zufolge auf ihrem Höhepunkt 75.000 bis 150.000 Mitglieder in 27 verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten. Diese Mitglieder führten einen Viertel bis einen Drittel ihres Einkommens an die Organisation ab. Der prominenteste Führer der Nation Of Islam, bevor er mit dieser Organisation brach, war Malcolm X.37 Ihr bekanntestes Mitglied war der Boxweltmeister Cassius Clay alias Muhammad Ali. Mit der Begründung, der ursprüngliche Name sei von Sklavenhaltern gegeben worden, war die Ablehnung des amerikanischen und die Annahme eines afrikanischen oder arabischen Namens ein häufig anzutreffendes Phänomen unter den Mitgliedern der Nation Of Islam.38

c) Black Panther Party Die Black Panther Party for Self-Defense wurde am 15. Oktober 1966 von Huey P. Newton und Bobby Seale in Oakland, Kalifornien, gegründet. Später kam Leroy Eldridge Cleaver, der wie Malcolm X mit der Nation Of Islam gebrochen hatte, als wichtiges Mitglied hinzu. Zugleich wurden wichtige Mitglieder von der SNCC rekrutiert, denen der gewaltlose Widerstand nicht mehr genügte, wie Stokley Carmichael, der zusammen mit Charles Hamilton 1967 im gleichnamigen Buch die Theorie der Black Power39 verfasst hatte. Die Black Panther Party – der Zusatz for Self-Defense wurde 1968 gestrichen – unterschied sich von anderen Organisationen vor allem durch ihre Aufforderung zur organisierten bewaffneten Selbstverteidigung der Schwarzen gegen Übergriffe der Polizei und Aggressionen weißer Ras-

36 Demny, Wut des Panthers, S. 28-30. 37 Zu Malcolm X und Nation Of Islam vgl. Kapitel 2. 3 (S. 96ff.). 38 Demny, Wut des Panthers, S. 28-30. 39 Carmichael, Stokley / Hamilton, Charles V. Black Power – Die Politik der Befreiung in Amerika. (Originalausgabe: Black Power – The Politics of Liberation in America.) Übersetzt von Ingrid Grüninger. New York 1967. Frankfurt am Main / Hamburg 1969.

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sisten. Mit dieser Aufforderung verband die Partei jedoch auch die Schulung ihrer Mitglieder im Umgang mit Waffen. Dabei war wichtig, dass jedes Mitglied seine gesetzlichen und verfassungsmäßigen Rechte in der Öffentlichkeit kannte und die Waffe nicht als illegales Drohmittel, sondern als mögliches Verteidigungsinstrument sah. Das ideologische Grundgerüst bezog die Black Panther Party aus sozialistisch-kommunistischen, revolutionären Schriften von Mao Tse-tung und Ernesto ‚Che‘ Guevara Serna sowie Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde40. Die wichtigste Grundlage bildeten die Reden und Schriften von Malcolm X.41 Neben der ideologischen, politischen und kulturellen Schulung ihrer Mitglieder organisierte die Black Panther Party Hilfsprogramme, um die materielle Not der schwarzen Bevölkerung zu lindern. So organisierte sie z.B. ein kostenloses Kleidungsprogramm, betrieb kostenlose Gesundheitsstationen oder organisierte kostenlose Frühstücke für Kinder. Dafür wurden Geschäftsleute gebeten, Nahrungsmittel und Geld zu spenden. Im Januar 1969 begann die Partei in Oakland mit einem Frühstück für 20 Kinder. Im Dezember desselben Jahres bekamen schon 30.000 Kinder im ganzen Land diese Mahlzeit, bevor sie in die Schule gingen. Die Regierung stellte später fest, dass die Black Panther Party mehr Kindern zu essen gegeben hatte als staatliche Stellen.42 Mit dem Tragen von Waffen waren die Panther allerdings eine klare Provokation und wurden bald von den Beamten der Bundeskriminalpolizei, dem Federal Bureau of Investigation (FBI), als Staatsfeind Nummer 1 betrachtet. Es gab verdeckte Aktionen des FBI, die Unruhe und Zwietracht unter die Panther säen sollten. Diese Aktionen waren schließlich mitverantwortlich, dass die Black Panther Party sich anfangs 1971 spaltete und de facto auflöste.43

40 Mit Die Verdammten dieser Erde (Originalausgabe: Les damnés de la terre) – mit einem Vorwort von J. P. Sartre – versuchte Frantz Fanon die Notwendigkeit einer gewaltsamen antikolonialen Revolution zu begründen. Dies verschaffte ihm vor allem in den französisch sprechenden Entwicklungsländern Afrikas wachsenden Einfluss auf die jüngeren politischen Gruppen. 41 Demny, Wut des Panthers, S. 37-68. 42 Ebenda, S. 28-30. 43 Ebenda.

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2. 1. 3 Kulturelle Komponenten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Wie schon weiter oben erwähnt, war es für die schwarze Bürgerrechtsbewegung wichtig, das kulturelle Erbe der afro-amerikanischen Tradition neu aufzuarbeiten, zu propagieren und vor allen Dingen damit zu arbeiten. Die kulturellen Komponenten – allen voran die afro-amerikanische Musik – manifestierten sich unterschiedlich und mit unterschiedlicher Betonung. Im Norden, wo nicht legalisierte Gerechtigkeit, sondern wirtschaftliche Verbesserung und faktische Gleichstellung gefordert wurde, zeigte sich der Protest nicht in kirchlichen Gesängen, sondern im Blues und Jazz. So etablierte sich in den fünfziger Jahren beispielsweise der Begriff Cool-Jazz. Dieser Name entsprang der Haltung gegenüber dem Rassenproblem, dem die jungen schwarzen Musiker cool – gelassen und gleichgültig – gegenübertreten wollten, indem sie ihre Wut und Aggression gegenüber der weißen Gesellschaft zu unterdrücken versuchten. In den sechziger Jahren wiederum etablierte sich der Begriff Free-Jazz, der nicht nur musikalische, sondern auch politische, wirtschaftliche und vor allem ideologische Freiheit implizierte.44 Zahlreiche Vertreter verschiedener Gruppierungen, z.B. Malcolm X oder Eldridge Cleaver, nahmen in ihren Reden und Schriften immer wieder Bezug auf die afro-amerikanische Musik, um mit ihr die schwarze Gleichwertigkeit oder sogar Überlegenheit zu beweisen. Im Gegenzug betonten Blues- und Jazzmusiker ihre spezifische soziale Situation, aus der ihre Musik entsprang, und engagierten sich oft auch politisch.45 Der schwarze Musiker Archie Shepp begründet beispielsweise seinen Avantgarde (Free-)Jazz folgendermaßen: „Wenn drei Kinder und eine Kirche in die Luft gesprengt werden, bleibt etwas in deiner kulturellen Erfahrung hängen. Eben das heißt, nach meiner Meinung, Avantgarde.“46 Einen kulturellen Grundpfeiler bildete im Süden die schwarze Kirche, der es in langer Tradition gelang, das afro-amerikanische Erbe zu bewahren und weiterzuentwickeln. Im Gegensatz zur hierarchisch organisierten weißen Kirche war die schwarze Kirche mehr auf die Partizipation aller ange-

44 Carles / Comolli, Free Jazz, S. 15-17. 45 Ebenda, S. 234-235. 46 Shepp, Archie; zit. Carles / Comolli, Free Jazz, S. 234.

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wiesen. Dies drückte sich in ermutigender Emotionalität und Gruppensolidarität aus, wobei Musik und Gesang eine zentrale Rolle spielten. Die Geistlichen waren oft charismatische Figuren, die kraftvolle rhetorische Fähigkeiten entwickelten, wobei sie ihre Zuhörer nicht nur mit Reden, sondern auch mit Gesang überzeugten. Diese Gesänge entwickelten sich manchmal – unter Teilnahme der ganzen Gemeinde – zu tranceähnlichen Tänzen, welche die Kirchenbesucher bisweilen in Ohnmacht fallen ließen.47 Sowohl der Stil der Führung der schwarzen Kirche wie auch die gefühlsbetonte Anteilnahme der Mitglieder standen nicht nur in starkem Gegensatz zur weißen protestantischen Kirche, sondern auch im Gegensatz zu den rational-intellektuellen Strategien der NAACP. Aus der Tradition und der Kultur der schwarzen Kirche ergab sich demgemäß eine neue Form von Protest, denn die schwarzen Prediger hatten in der schwarzen Kirche früh die Gelegenheit, ihr rednerisches Talent zu erlernen, zu üben und schließlich ihre Anliegen mit den Kirchenmitgliedern in Direkte Aktionen umzusetzen. Diese Aktionen wären ohne die schwarze Kirche und ihre spezifische Ausprägung nicht erfolgreich gewesen, wobei Martin Luther King jr. es mit seiner charismatischen Persönlichkeit wie kaum ein zweiter verstand, die emotionale Partizipation der Teilnehmer am Gottesdienst mit politischen Botschaften zu verflechten.48 Zur Veranschaulichung dient folgendes Beispiel:

Der Marsch auf Washington (1963): Wie stark Martin Luther King jr. durch die schwarze Kirche und ihre Gesänge beeinflusst war, verdeutlicht Kings Rede vor dem Weißen Haus anlässlich des Marsches auf Washington. Da King als außergewöhnlicher Redner bekannt war, wurde ihm mehr Improvisationsfreiheit gewährt. King folgte dem vorgegebenen Text nämlich nur bis fast ans Ende, als er plötzlich den Faden verlor, in die alten Muster der schwarzen Kirche zurückfiel und spontan zu einer Predigt ansetzte, in der er die heute berühmte Rede I Have a Dream improvisierte. Eine Rede, die in den Worten des alten Spiri-

47 Stearns, Story vom Jazz, S. 83-91. 48 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 127.

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tuals Free at last, free at last; Thank God Almighty, we are free at last! kulminierte.49 [...]So I say to you, my friends, that even though we must face the difficulties of today and tomorrow, I still have a dream. [...] And when we allow freedom to ring, [...], we will be able to speed up that day when all God’s children – black men and white men, Jews and Gentiles, Catholics and Protestants – will be able to join hands and to sing in the words of the old Negro spiritual, „Free at last, free at last; Thank God Almighty, we are free at last!“

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2. 2 M ARTIN L UTHER K ING JR . – G EWALTLOSER W IDERSTAND UND I NTEGRATION Da Martin Luther King jr. als wichtigster Vertreter der schwarzen Bürgerrechtsbewegung angesehen wird, ist es unerlässlich, diesen Prediger und Philosophen genauer zu betrachten. Hierzu sollen ein kurzer Lebenslauf und Betrachtungen zu prägenden Eindrücken der Kinder- und Jugendjahre sowie zu seiner ideologischen wie politischen Entwicklung dienen. Dies soll allerdings nicht nur mit Blick auf seine sozialen und politischen Leistungen geschehen, sondern auch hinsichtlich der afro-amerikanischen Musik, wobei anhand einiger exemplarischer Beispiele, Erklärungen und längerer Zitate untersucht wird, wie diese Musik sein Denken und Handeln beeinflusste und unterstützte.

2. 2. 1 Kurzer Lebenslauf Martin Luther King jr. wurde am 15. Januar 1929 als zweites Kind in die Priesterfamilie King in Atlanta, Georgia, geboren. 1944 begann er sein Studium am Morehouse College in Atlanta, das damals die einzige Hochschule

49 Eyerman / Jamison, Social Movements, S. 143. 50 King jr., Martin Luther. I Have a Dream. Washington, James Melvin. (Hg). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. S. 219-220.

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für Schwarze war. Mit 17 Jahren entschloss sich King in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Pfarrer zu werden. Er hielt seine erste Predigt in der Ebenezer-Baptistenkirche seines Vaters und wurde 1947 Hilfsprediger in Atlanta. 1948 widmete er sich der Theologie am theologischen CrozerSeminar in Chester und befasste sich erstmals mit Mahatma Gandhis Schriften. King bestand die Diplomprüfung 1951 und erhielt einen Preis sowie ein Stipendium, das ihm erlaubte, an der Universität Boston zu promovieren, wo ihm am 5. Juni 1955 der Titel eines Doktors der Philosophie verliehen wurde. In Boston lernte Martin Luther King jr. seine Frau Coretta Scott aus Marion, Alabama, kennen, die am Antioch College Gesang studierte, um Konzertsängerin zu werden. Sie heirateten am 18. Juni 1953. Der Ehe entsprangen vier Kinder. Am 1. September trat King die Pfarrstelle in Montgomery, Alabama, an und nahm im Busstreik, der am 5. Dezember 1955 begann, eine führende Rolle ein. Dies führte ihn schnell über die üblichen Arbeiten eines Geistlichen hinaus. Am 30. Januar 1956 wurden er und seine Familie erstmals Opfer eines Attentats. 1957 wurde die SCLC gegründet, welche King präsidierte. Mit 30 Jahren unternahm er eine Reise nach Indien, dem Land, wo Gandhi erfolgreich mit gewaltlosem Widerstand sein Volk in die Freiheit geführt hatte. 1960 wurde die SNCC gegründet. Im selben Jahr wurde King verhaftet und dank dem persönlichen Eingreifen John F. Kennedys, welcher im November zum Präsidenten der USA gewählt worden war, wieder freigelassen. An Ostern 1963 begann die Kampagne in Birmingham, Alabama, zur Aufhebung der Rassentrennung, welche am 10. Mai mit einer Übereinkunft zwischen Stadt und Komitee erfolgreich beendet werden konnte. Am 28. August erfolgte der bereits oben erwähnte Marsch auf Washington, bei welchem King seine berühmte Rede I Have a Dream hielt. John F. Kennedy wurde am 22. November erschossen, womit ein wichtiger Verbündeter der Bewegung und Freund der Familie King verloren ging. King erhielt zur Feier der Unterzeichnung der neuen Bürgerrechtsgesetzgebung am 2. Juli 1964 eine Einladung von Präsident Johnson ins Weiße Haus und wurde am 10. Dezember mit dem Friedensnobelpreis geehrt. 1966 startete er eine Kampagne in Chicago gegen Rassendiskriminierung, die am 26. August mit der Übereinkunft von Chicago abgeschlossen wurde. King hielt 1967 mehrere Reden gegen den Krieg in Vietnam und nahm an einem Friedensmarsch in New York teil. Am 4. April 1968 wurde

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King erschossen und am 9. April in Atlanta beerdigt. In den Vereinigten Staaten wurde der Geburtstag von Martin Luther King jr. durch Gesetz zum nationalen Feiertag erklärt und 1986 erstmals gefeiert.51

2. 2. 2 Prägende Eindrücke der Kinder- und Jugendjahre Martin Luther King jr. wuchs in einer Pfarrfamilie auf, die in einem eigenen Haus wohnte, erhebliches gesellschaftliches Ansehen genoss und finanziell gut gestellt war. Er verbrachte mit seiner älteren Schwester Christine und seinem jüngeren Bruder Alfred Daniel eine Jugend in großer Geborgenheit. Mit vier Jahren schon nahm er am Leben der Gemeinde seines Vaters teil und sang Kirchenlieder, wobei ihn seine Mutter am Klavier begleitete. Sein Lieblingslied I Want To Be Like Jesus gelang ihm dabei besonders eindrucksvoll. Trotz des Schutzes, den sein Elternhaus ihm gab, blieben ihm schlimme und niederdrückende Erfahrungen nicht erspart. King musste als kleiner Junge beispielsweise die Freundschaft zu zwei weißen Kindern aus der Nachbarschaft aufgeben, da deren Eltern diese Freundschaft nicht gerne sahen, obwohl sie nicht grundsätzlich dagegen waren. Als der kleine King seine Mutter um eine Erklärung bat, verhielt sich diese, wie sich King in Stride Towards Freedom erinnert, folgendermaßen: My mother took me on her lap and began by telling me about slavery and how it had ended with the Civil War. She tried to explain the divided system of the South – the segregated schools, restaurants, theaters, housing; the white and colored signs on drinking fountains, waiting rooms, lavatories – as a social condition rather than a natural order. Then she said the words that almost every Negro hears before he can yet understand the injustice that makes them necessary: „You are as good as anyone.“

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51 Presler, Martin Luther King, S. 149-150. 52 King, Jr., Martin Luther. Stride Towards Freedom. Washington, James Melvin. (Hg). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. S. 420.

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Doch schon sein Vater, Martin Luther King sen., verabscheute dieses System und akzeptierte es sein Leben lang nicht. Als einflussreicher Geistlicher suchte er immer wieder Wege, die Situation der Afro-Amerikaner zu verbessern oder sich im Kleinen gegen die Diskriminierung seitens Weißer zu wehren. An der Seite seines Vaters machte King Erfahrungen, wie dieser sich gegen Ungerechtigkeiten auflehnte, und kommentiert dazu: With this heritage, it is not surprising that I had also learned to abhor segregation, considering it both rationally inexplicable and morally unjustifiable. [...] I could never adjust to the separate waiting rooms, separate eating places, separate rest rooms, partly because the separate was always unequal, and partly because the very idea of separation did something to my sense of dignity and self-respect.

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King machte, wie unzählige seiner Kollegen auch, allzu häufig die Erfahrung, was es bedeutete, ein Schwarzer zu sein. So arbeitete er beispielsweise als junger Student im Warenlager einer Matratzenfabrik als Hilfsarbeiter und bemerkte, dass die schwarzen Kräfte bei gleicher Arbeit schlechter bezahlt wurden als die weißen. Obwohl er auch erfreuliche Erfahrungen machen durfte – er wurde z.B. in einer von Weißen dominierten Klasse zum Klassensprecher ernannt –, stieß er im Alltag immer wieder an die Schranken und Grenzen, welche zwischen den Rassen bestanden.54 Die Schule bereitete dem Pfarrerssohn keine Mühe. Überdurchschnittlich begabt, übersprang er die neunte und die zwölfte Klasse der Booker T. Washington-Schule. Ursprünglich wollte King Arzt werden, um anderen Menschen helfen zu können. Doch schließlich siegte die Berufung zum Seelsorger, und er entschloss sich zum Theologie- und Philosophiestudium. Eine wichtige theoretische Schrift für King – auf deren Argumentation die Direkten Aktionen fußten – war Henry David Thoreaus Essay on Civil Disobedience55, bei der er erkannte, dass jemand, der ein ungerechtes System passiv akzeptiert, genauso an diesem mitschuldig ist.56

53 King, Jr., Martin Luther. Stride Towards Freedom, S. 421. 54 Presler, Martin Luther King, S. 32-44. 55 Thoreau, Henry David (12.7.1817-6.5.1862): Amerikanischer Schriftsteller und Philosoph. Seine Essays verbinden exakte Naturbeobachtungen mit mystischen Meditationen. Als Sozialkritiker forderte er zum Widerstand gegen kapitalistischen Materialismus und dessen staatliche Institutionen aus menschlicher

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Zudem faszinierte King Walter Rauschenbuschs Werk Christianity and the Social Crisis57 von 1907, das ihn nachhaltig beeindruckte, obwohl er nicht mit allem hundertprozentig einverstanden war. Durch dieses Werk gewann King die Überzeugung, dass eine Religion am Ende ist, wenn sie sich nicht um das soziale und wirtschaftliche Wohl aller kümmert: I was immediately influenced by the social gospel. [...] The gospel at its best deals with the whole man, not only his soul but his body, not only his spiritual well-being, but his material well-being. Any religion that professes to be concerned about the souls of men and is not concerned about the slums that damn them, the economic conditions that strangle them and the social conditions that cripple them is a spiritually moribund religion awaiting burial.

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Diese Überzeugung lenkte sein Interesse auf die Fragen des menschlichen Zusammenlebens und führte King zu politisch-philosophischen Schriften von Platon, Aristoteles, Rousseau, Hobbes, Mill und Locke. Mit zwanzig Jahren las er auch Karl Marx, fand aber keinen Zugang zum Kommunismus. Ihn stieß ab, dass in diesem für Gott kein Platz war und der Mensch kaum mehr als ein Rad im Getriebe des Staates ohne persönlichen Wert darstellte. Am Crozer-Seminar hörte er in den Vorlesungen von A.J. Muste erstmals Grundgedanken des Pazifismus, die ihn tief bewegten, glaubte aber nicht an die Ausführbarkeit dieser Ideen. Wie die meisten Studenten glaubte er, dass der Krieg, wenn er auch niemals etwas Positives sein kann, doch die Ausbreitung und Vermehrung des Bösen verhindern könne. Ein Krieg, so furchtbar er sei, sei immer noch besser als ein dauerndes Ausge-

Selbstverantwortlichkeit auf und setzte sich auch für die Sklavenbefreiung ein. Als rousseauischer Naturapostel beeinflusste er europäisches und indisches Denken (z.B. Gandhi). 56 King, Jr., Freedom, S. 429. 57 Rauschenbusch, Walter (4.10.1861-25.7.1918): Amerikanischer Theologe. Als Professor für Kirchengeschichte am Baptistischen Theologischen Seminar in Rochester lehrte er Jesus als Gründer einer neuen Gesellschaft zu verstehen und wurde zum Führer der Bewegung Social Gospel. 58 King, Jr., Martin Luther. Pilgrimage to Nonviolence. Washington, James Melvin (Hg.). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. S. 37-38.

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liefertsein an ein totalitäres System wie den Nationalsozialismus, den Faschismus oder den Kommunismus. Zu dieser Zeit zweifelte er noch daran, dass die Macht der Liebe soziale Probleme lösen könne. Doch das intensive Studium von Mahatma Gandhis Schriften überzeugte ihn, und er erkannte, dass die christliche Doktrin der Liebe vereint mit Gandhis Methode des gewaltlosen Widerstands die Probleme der Südstaaten Amerikas lösen könnte. As I delved deeper into the philosophy of Gandhi my skepticism concerning the power of love gradually diminished, and I came to see for the first time that the Christian doctrine of love operating through the Gandhian method of nonviolence was one of the most potent weapons available to oppressed people in their struggle for 59

freedom.

2. 2. 3 Politische und ideologische Entwicklung Martin Luther King jr. entwickelte sein theoretisches Konzept zum Kampf für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller – weißer und schwarzer – Amerikaner während seiner Studienjahre. Sein theoretisches Wissen allein hätte aber nicht genügt, um diesen Kampf in die Praxis umzusetzen. Es war seine tiefe religiöse Überzeugung und die Macht des Gebets, die ihn befähigte, all die Pein und Mühsal auf sich zu nehmen. Zudem fanden er und seine gewaltlosen Mitstreiter während der Demonstrationen Kraft in der Musik und in den Gesängen – für King waren die Freiheitslieder die Seele der Bewegung –, welche die Angst vor dem Gefängnis, die Gefahr der beißenden Hunde und die Wunden von den Knüppeln der Polizisten vergessen ließen. Martin Luther King jr. erklärte dies in Why We Can’t Wait folgendermaßen: An important part of the mass meetings were the freedom songs. In a sense the freedom songs are the soul of the movement. They are more than just incantations of clever phrases designed to invigorate a campaign; they are as old as the history of the Negro in America. They are adaptations of the songs the slaves sang – the sorrow songs, the shouts for joy, the battle hymns and the anthems of our movement. I

59 King, Pilgrimage, S. 38.

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have heard people talk of their beat and rhythm, but we in the movement are as inspired by their words. „Woke Up This Morning with My Mind Stayed on Freedom“ is a sentence that needs no music to make its point. We sing the freedom songs today for the same reason the slaves sang them, because we too are in bondage and the songs add hope to our determination that „We Shall Overcome, Black and White Together, We Shall Overcome Someday“. I have stood in a meeting with hundreds of youngsters and joined in while they sang „Ain’t Gonna Let Nobody Turn Me ’Round.“ It is not just a song; it is a resolve. A few minutes later, I have seen those same youngsters refuse to turn around from the onrush of a police dog, refuse to turn around before [...] men armed with power hoses. These songs bind us together, give us courage together, help us to march together.

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Für den neugewählten Pfarrer King in Montgomery war die Berufung zum Schwarzenführer keinesfalls von Anfang an ersichtlich. Vielmehr stellte ihn das Schicksal, in Form der Weigerung Rosa Parks, ihren Sitzplatz einem Weißen zu überlassen, vor die entscheidende Frage, ob er den Vorsitz der Montgomery Improvement Association (MIA), des Bürgerausschusses zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Rassen, übernehmen wolle oder nicht. Das war der Augenblick, in dem eine bedeutende Entwicklung von der Entscheidung eines einzelnen Menschen abhing. Berufung nennt das Alte Testament diesen Moment zwischen Ja und Nein. Der Angesprochene ist durchaus nicht entschlossen zuzugreifen. Zumeist hält er sich für ungeeignet und zögert. So auch hier: King hatte viele Gründe, das Amt abzulehnen. Erst vor wenigen Wochen war seine Tochter Yolanda geboren worden. Schon oft hatte die weiße Reaktion – White Backlash – die Führer schwarzer Protestaktionen verprügelt oder getötet. Martin Luther King jr. nahm seine Berufung an und ließ sich zum Vorsitzenden des MIA wählen. Damit begann nicht nur Kings politisches Engagement im Busstreik in Montgomery, sondern ein religiös-philosophisch motiviertes Engagement, das ihn zum Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung werden ließ und welches das politische und soziale Leben der USA nachhaltig veränderte.61

60 King, Martin Luther, Jr. Why We Can’t Wait. Washington, James Melvin (Hg.). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. S. 535-536. 61 Presler, Martin Luther King, S. 44-56.

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Die Angst vor einer gewalttätigen Reaktion der Weißen war begründet, und Kings Theorien der Gewaltlosigkeit wurden mit einem ersten Bombenattentat auf sein Haus am 30. Januar 1956 schon bald auf die Probe gestellt. Er bestand die Probe und verkündete der aufgebrachten Menge, auf der zerstörten Veranda seines Hauses stehend, dass der Gewalt nur mit Gewaltlosigkeit begegnet werden könne, dass Hass nicht mit Hass, sondern mit Liebe vergolten werden müsse. Der Busstreik wurde weiterhin aufrecht erhalten. Es wurden andere Transportmittel organisiert, Gerichtsverhandlungen geführt, und die Schwarzen gingen weiterhin zu Fuß und sangen: „Wir benutzen keinen Bus.“62 Der Busstreik dauerte über ein Jahr. Am 13. November 1956 bestätigte das Oberste Gericht des Staates Alabama die Entscheidung, dass die Gesetze, welche die Segregation in den Bussen anordneten, verfassungswidrig seien. Doch dauerte es noch bis am 20. Dezember, bis das Urteil rechtskräftig und dem Bürgermeister von Montgomery zugestellt wurde. Bis dahin ging der Busstreik noch weiter, und die Schwarzen übten sich weiterhin darin, ruhig, besonnen und gewaltlos auf die Provokationen zu reagieren. Gleichzeitig wurde dafür gesorgt, dass die Botschaft über das ganze Land verbreitet wurde, und für den 5. Dezember, den Jahrestag des Streikbeginns, wurde ein großes Konzert in New York organisiert. Duke Ellington spielte mit seiner Band, Harry Belafonte sang und Kings Gattin Coretta trug Spirituals vor: Walk Together Chillun, Don’t You Get Weary, Keep Your Hand on the Plow oder King Jesus.63 Das Spiritual Vorwärts, Kinder, werdet nicht müde hatte eine mehrfache Bedeutung an diesem Abend. Einerseits zeigte es ganz Amerika, dass die Schwarzen in Montgomery ein Jahr lang, anstatt den Bus zu nehmen, zu Fuß gegangen waren. Anderseits war es unter anderem dieses Spiritual, das den Busstreikenden das Durchhaltevermögen verlieh. Coretta Scott King umschreibt dies so: Ein Jahr lang sind wir lieber in Würde gelaufen als in Erniedrigung gefahren. Auf unserem Weg zur Arbeit sangen wir ein Lied, das uns moralische Kraft gab[...]:

62 Presler, Martin Luther King, S. 53. 63 Ebenda, S. 55.

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Walk together chillun, don’t you get weary Walk together chillun, don’t you get weary Dere’s a great camp meetin’ in the promise’ land.

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Den Erfolg des Busstreiks drückte eine alte Dame so aus, dass „früher ihre Seele müde und ihre Füße ausgeruht waren, und nun ihre Füße müde, dafür ihre Seele ausgeruht sei.“65 Dieser Erfolg, den Martin Luther King jr. in Montgomery errungen hatte, bestätigte ihn im Glauben, dass der Kampf durch gewaltlosen Widerstand auch in den USA sinnvoll sei und die Schwarzen zum Ziel führen würde. Er formuliert dies folgendermaßen: The experience in Montgomery did more to clarify my thinking in regard to the question of nonviolence than all of the books that I have read. As the days unfolded, I became more and more convinced of the power of nonviolence. Living through the actual experience of the protest, nonviolence became more than a method to which I gave intellectual assent; it became a commitment to a way of life. Many issues I had not cleared up intellectually concerning nonviolence were now solved in the sphere of practical action.

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Der Sieg von Montgomery war allerdings erst eine Etappe zur Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß. In der Folge leistete King viel Arbeit in verschiedenen Organisationen.67 Durch seine Arbeit rückte er immer mehr ins öffentliche Leben. Er bekam internationale Aufmerksamkeit – am 18. Februar 1957 erschien über ihn in der Zeitschrift Time eine Titelgeschichte –, und er kam je länger je mehr mit hohen Persönlichkeiten des politischen Lebens zusammen. So wurde er vom Staatschef von Ghana, Kwame Nkrumah, zur Feier des Unabhängigkeitstags seines Landes nach Accra eingeladen, an der ihn Richard Nixon, der damalige Vizepräsident, aufgrund des Time-Fotos erkannte, und auf ihn zuging und ihn begrüßte. Seine Heimreise führte ihn über Nigeria, Rom – mit einem Besuch beim Papst –, Genf, Paris und London. Auf eine Einladung der Gandhi Peace Foundation begab er sich 1959 nach Indien auf die Spuren Mahatma Gandhis, wo er mehrere

64 King, Coretta Scott. Mein Leben mit Martin Luther King. Stuttgart 1970. S. 120. 65 Ebenda. 66 King. Pilgrimage, S. 38. 67 Vgl. Kapitel 2. 1 (S. 66ff.).

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Vorträge hielt und mit dem damaligen Premierminister Jawaharlal Nehru und dessen Tochter Indira Gandhi anregende Gespräche führte. Während King im Ausland also auf große Sympathie stieß, wurde er in den USA ambivalent bewertet. Einerseits erhielt er unzählige Ehrendoktortitel, anderseits bekam er immer wieder Drohungen, musste des öftern für seine Überzeugung ins Gefängnis oder geriet durch Attentate in Todesangst.68 Nicht alle Aktionen wie der Marsch auf Washington waren von Erfolg gekrönt. In Albani, Georgia, musste 1962 eine bittere Niederlage eingesteckt werden, als erfolglos protestiert wurde und an einem Tag die Demonstranten sich sogar zu Gewalttätigkeiten provozieren ließen. Aus Fehlern wurde gelernt, und weitere Protestaktionen wurden sorgfältiger vorbereitet. Im Frühjahr 1963 musste in Birmingham trotz detaillierter Vorbereitungen gegen harten Widerstand gekämpft werden. Dies erforderte von King ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft. Doch trotz friedlichen Protesten war schließlich das Eingreifen der Nationalgarde gegen die Aggressionen weißer Rassenfanatiker nötig.69 Nach jahrelangem Kampf und unzähligen Rückschlägen und Demütigungen konnte Martin Luther King jr. mit seiner Familie und seinen Freunden anlässlich der Friedensnobelpreisverleihung die weltweite, offizielle Anerkennung seiner Forderungen und der seiner schwarzen Brüder und Schwestern feiern. In schwierigen Zeiten ermunterten ihn oft die alten Spirituals und gaben ihm Kraft weiterzukämpfen. Aber auch vor freudigen Ereignissen sang er mit Freunden die Lieder seiner Vorfahren. So auch am Vorabend der Friedensnobelpreisverleihung. Coretta Scott King beschreibt dies wie folgt: [...]Nie zuvor waren so viele von uns derart zwanglos versammelt gewesen. Stets hatte es sich sonst um Zusammenkünfte, Entscheidungen, Notfälle, Krisen und Nöte gehandelt. Martin und andere waren oft im Gefängnis gesessen. Manch einer war geprügelt worden. In Kirchen und Wohnhäuser waren Bomben geworfen worden. Nun hatten wir allen Ernst abgestreift und waren glücklich und vergnügt. Nach dem Abendessen bildeten Martin, Andy Young, Ralph Abernathy, Wyatt Walker und Bernard Lee ein Quintett und sangen Freiheitslieder in wunderbarer Harmonie. Sie taten dies häufig, um den Ernst von Konferenzen und Besprechungen aufzulockern.

68 Presler, Martin Luther King, S. 57-69. 69 Ebenda, S. 69-90.

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In dieser Nacht aber klangen die Worte des vertrauten Liedes lauter den je. Wir sangen „O Freedom", „Ain’t Gonna Let Nobody Turn Me Around", „Were You There When They Crucified My Lord?" und „Balm in Gilead", ein Lied, das mein Mann oft zitierte, wenn er einer Aufmunterung bedurfte: Somtimes I feel discouraged And think my work’s in vain But then the Holy Spirit Revives my soul again. There is a Balm in Gilead To make the wounded whole, There is a Balm in Gilead 70

To heal the sinsick soul.

Obwohl King mit der Unterzeichnung der Bürgerrechtsgesetzgebung und dem Friedensnobelpreis vieles erreicht hatte, wusste er, dass es erstens nicht nur sein persönliches Verdienst, sondern das aller Beteiligten war. Zweitens wusste er, dass die allgemeine Lage der Schwarzen noch nicht optimal war. Es gab unzählige Probleme, die mit der offiziellen Aufhebung der Segregation nicht gelöst waren. Das soziale Elend der schwarzen Bevölkerung war unübersehbar. Dies verdeutlichten vor allem die Ghettos im Norden der USA. So versuchte King mit der gleichen Methode der Gewaltlosigkeit im Norden des Landes für die Verbesserung der Situation der Schwarzen zu kämpfen. Dort allerdings war ihm weniger Erfolg beschieden. Für viele Schwarze aus dem Norden galt King nicht als Führer, sondern als berühmter Mann, der von ihren Alltagsproblemen nichts verstand. Trotzdem gelang es beispielsweise in Chicago, 50.000 Menschen für eine Demonstration am 10. Juli 1966 zu mobilisieren. Die Gospelsängerin Mahalia Jackson71 sang, dann trug King die Forderungen vor und führte die Demonstranten zum Rathaus. Bürgermeister Richard Daley war nicht anwesend und das Gebäude verschlossen. Am kommenden Vormittag legte eine Abordnung Vorschläge für bessere Schulen, bessere Arbeitsverhältnisse, bessere Wohnraumversorgung vor. Daley lehnte sie rundweg ab. In der

70 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 13-14. 71 Zu Mahalia Jackson vgl. Kapitel 4 (S. 160/S. 172).

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darauffolgenden Nacht erschütterten schwere Unruhen Chicago, die tagelang anhielten. Es kam zu Plünderungen von Geschäften. Am 26. August trafen sich King und seine Mitarbeiter erneut mit den Oberen der Stadt. Die Verwaltung unterschrieb dabei ein Abkommen, in welchem sie sich verpflichtete, Schwarzen zu menschenwürdigen Wohnungen zu verhelfen und die Ghettos aufzulösen.72 Dies war allerdings ein bitterer Sieg, da das Prinzip der Gewaltlosigkeit missachtet worden war und damit die schwache Stellung Kings im Norden enthüllt wurde. Als eine weitere Enttäuschung musste die Tatsache gewertet werden, dass der neugewählte Präsident des SNCC, Stokely Carmichael, sich von der bisherigen Linie der Gewaltlosigkeit lossagte und zu den Black Panthers wechselte. Der Vietnam-Krieg war eine zusätzliche Belastung für die Bürgerrechtsbewegung, denn er spaltete die Schwarzen in zwei Lager. Schon 1965 hatte King sich öffentlich, gegen den Willen seines Vaters, zum Krieg im Fernen Osten geäußert und seine Beendigung gefordert. Seine Gründe waren die logische Konsequenz seiner Philosophie der Gewaltlosigkeit, und obwohl seine Ausführungen stichhaltig waren, stieß er damit in der Öffentlichkeit, sowohl bei Schwarzen wie Weißen, auf Unverständnis. 1966 traten die Folgen des Vietnam-Krieges deutlicher zutage. Die innenpolitischen Schäden waren nun unübersehbar. Der Krieg verschlang Unsummen an Geldern, die dann bei den Programmen zur Bekämpfung der Armut fehlten. Es gab Schätzungen, nach denen jeder getötete Vietkong 500.000 Dollar kostete. Für einen Bedürftigen in den USA hingegen standen nur 53 Dollar zur Verfügung. Zudem wurden in diesem Krieg doppelt so viele Schwarze wie Weiße verletzt oder getötet. Mit seiner Haltung galt King bei vielen als „vaterlandsloser Geselle“, als „Verräter“, als „Feigling“ oder als „Kommunist“. Trotz dieser Anschuldigungen blieb er seinen Grundsätzen treu, doch damit verlor er einige seiner engsten Mitarbeiter, welche warnten, dass sich die Beziehungen zum Weißen Haus verschlechtern würden. Diese Warnung war begründet, denn Mittel wurden gestrichen und King wurde zur Persona non grata erklärt.73 Infolge Kürzungen bei den Sozialprogrammen der Regierung kam es im Sommer 1967 in den Ghettos und Slums mehrerer großer Städte zu Eskala-

72 Presler, Martin Luther King, S. 115-118. 73 Ebenda, S. 119-121.

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tionen der Gewalt. King entwarf darauf einen Plan, die verzweifelte Lage der Bevölkerung vor die Entscheidungsgremien der Nation zu bringen. Ein Marsch der Armen nach Washington sollte Nord und Süd zusammenführen. Nicht nur Schwarze, sondern alle Armen – Indianer, Puertoricaner, Mexikaner und selbst die armen Weißen – müssten sich daran beteiligen. Nach Verhandlungen mit verschiedenen einflussreichen Persönlichkeiten aus dem Süden und Norden wurde das Datum für diesen Marsch auf den April 1968 gelegt.74 Coretta Scott King schreibt, dass am 4. April 1968 eine Versammlung in Memphis, Tennessee, auf Kings Programm gestanden hätte. Sie verweist darauf, dass Kings zuletzt ausgesprochener Wunsch war, dass ihm das Spiritual Precious Lord Take My Hand gesungen werde: Nachdem sich Martin angezogen hatte, trat er auf den kleinen Balkon zur Strasse hin, von dem man auf eine heruntergekommene Pension etwa siebzig Meter entfernt blickte. Ben Branch, der abends auf der Versammlung spielen sollte, stand unter dem Balkon, und Martin rief hinunter: „Vergiss nicht ‚Precious Lord Take My Hand‘ heute Abend für mich zu singen. Sing es schön.“ Lachend versprach es Branch. [...] Es war fast Zeit zu gehen. Ralph eilte in sein Zimmer, um etwas Rasierwasser zu benutzen. In diesem Augenblick ertönte der Schuss. Er soll wie ein Feuerwerkskörper geklungen haben[...]

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Als Kings Tod bekannt wurde, gab es in über hundertdreißig Städten Krawalle, Plünderungen, Brandstiftungen. Vierunddreißig Schwarze und fünf Weiße starben. Am schlimmsten traf es die Hauptstadt der USA, wo ganze Straßenzüge in Schutt und Asche sanken. Die Trauerfeier für Martin Luther King jr. fand am Dienstag, 9. April, in Atlanta statt. 150.000 Menschen waren zugegen, als ein Maultiergespann den Wagen mit dem einfachen Holzsarg auf Kings letztem Marsch durch die Stadt zog, um den Toten zur Familiengruft zu führen. Mahalia Jackson sang Precious Lord Take My Hand.76

74 Presler, King, S. 121-123. 75 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 252-253. Martin Luther King jr. wurde auf dem Balkon des Lorraine Motels (Memphis, Tennessee) um 18.01 Uhr erschossen. Das Attentat ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. 76 Presler, Martin Luther King, S. 133.

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2. 3 M ALCOLM X – K AMPF A NERKENNUNG

UM

R ECHT

UND

Malcolm X wirkte weniger direkt auf das politische und wirtschaftliche Establishment als Martin Luther King jr., doch hatte er nachhaltigen Einfluss auf die schwarze Gesellschaft. Vor allem Jugendliche und Unterprivilegierte im Norden verehrten Malcolm X, der sich trotz zahlreicher Ehrentitel nicht von ihnen entfernte, als großes Vorbild und Vordenker und tun dies auch heute noch. Und wie bei King gibt es auch im Leben von Malcolm X enge Bezüge zur afro-amerikanischen Musik.

2. 3. 1 Kurzer Lebenslauf Malcolm X wurde am 19. Mai 1925 als Malcolm Little in Omaha, Nebraska, geboren. Mit 20 Jahren, im Februar 1946, wurde er im Bundesstaat Massachusetts zu fast 10 Jahren Gefängnis wegen Einbruchs verurteilt, wovon er sechseinhalb Jahre absaß. Zwischen 1948 und 1949, während seiner Haft, konvertierte er zum Islam. Im August 1952 wurde er aus der Haft entlassen. 1953 wurde er – zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits in Malcolm X umbenennen lassen – zum Hilfsgeistlichen der Nation Of Islam’s Temple Number 1 in Detroit ernannt und im Juni 1953 zum Geistlichen im Tempel von Harlem, New York. 1958 heiratete er Betty Jean Sanders, eine Schwester des Tempels in New York, mit der er sechs Kinder hatte. Mit 34 Jahren unternahm er seine erste Reise in den Mittleren Osten und nach Afrika. Vom Dezember 1963 bis im Februar 1964 wurde er wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Oberhaupt Elijah Muhammad der Nation Of Islam immer mehr innerhalb dieser Organisation isoliert, was dazu führte, dass er am 8. März 1964 die Gründung seiner eigenen Muslim Mosque, Inc. verkündete. Seine zweite Reise in den Mittleren Osten und nach Afrika fand im April und Mai desselben Jahres statt. Zu dieser Zeit nahm er einmal mehr einen neuen Namen an, nämlich El-Hajj Malik El-Shabazz. Im Juni dieses Jahres war das erste öffentliche Treffen der nicht-religiösen Organization of Afro-American Unity (OAAU) und vom Juli bis im November reiste Malcolm X nochmals nach Afrika. Er nahm mit seiner neuen, gemäßigteren

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Haltung an der Gipfelkonferenz der Organisation of African Unity in Kairo teil, auf der er dafür warb, dass die afrikanischen Staaten das USamerikanische Rassenproblem vor die UNO bringen sollten. Damit war er zwar nicht erfolgreich, aber es wurde eine gemäßigte Resolution verabschiedet, welche die Diskriminierung in den USA verurteilte. Am 14. Februar 1965 fiel sein Haus einem Feueranschlag zum Opfer; am 21. Februar wurde Malcolm X in New York City während einer Rede ermordet.77

2. 3. 2 Prägende Eindrücke der Kinder- und Jugendjahre Bereits der Beginn von Malcolm X’ Autobiographie – die Drohungen weißer Rassenfanatiker gegenüber Malcolm X’ Eltern – lässt auf seine ideologische und politische Haltung schließen, welche mit verschiedenen Zitaten aus dieser Autobiographie in der Folge verdeutlicht werden soll. When my mother was pregnant with me, she told me later, a party of hooded Ku Klux Klan riders galloped up to our home in Omaha, Nebraska, one night. Surrounding the house, brandishing their shotguns and rifles, they shouted for my father to come out. My mother went to the front door and opened it. Standing where they could see her pregnant condition, she told them that she was alone with her three small children, and that my father was away, preaching, in Milwaukee. The Klansmen shouted threats and warnings at her that we had better get out of town because „the good Christian white people“ were not going to stand for my father’s „spreading trouble“ among the „good“ Negroes of Omaha with the „back to Africa“ preachings of Marcus Garvey.

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Malcolms Vater, Reverend Earl Little, war ein baptistischer Prediger, der als begeisterter Organisator in Marcus Garveys UNIA für die Reinheit der schwarzen Rasse eintrat und die Schwarzen dazu aufrief, in ihre angestammte afrikanische Heimat zurückzukehren.79 Es war also kein Wunder, wenn Malcolms Vater bei den Weißen unbeliebt war. Nach Malcolms

77 Perry, Bruce (Hg.). Malcolm X – Last Speeches. New York 19925. S. 21./ Demny, Wut des Panthers, S. 28-30. 78 Malcolm X, Autobiography, S. 75. 79 Vgl. Kapitel 2. 1 (S. 66ff.).

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Vermutung wurde der Vater aufgrund seiner Überzeugung und seiner Aktivitäten durch weiße Rassenfanatiker getötet. Dies war ein wichtiges Erlebnis in Malcolms Leben. Er erfuhr, dass der Schädel seines Vaters auf einer Seite eingeschlagen war. Unter den Schwarzen in Lansing (Nebraska), dem damaligen Wohnort von Malcolm X, gingen Gerüchte um, der Vater sei zuerst tätlich angegriffen und dann auf die Schienen geworfen und von einer Straßenbahn überfahren worden. Sein Körper war fast in zwei Hälften zerteilt. Zu dieser grässlichen Erfahrung hinzu kam die Reaktion der Lebensversicherung, die sich weigerte, das Geld der Witwe auszuzahlen, mit der Begründung, Malcolms Vater habe Selbstmord begangen.80 Malcolm X wurde in ein Erziehungsheim gebracht, nachdem der Mutter wegen Geistesgestörtheit das Erziehungsrecht entzogen worden war. Die Chancen auf Bildung und Beruf waren nicht nur im segregierten Süden, sondern auch im liberalen Norden der USA keinesfalls für Schwarze und Weiße dieselben. Dies musste Malcolm X – obwohl einer der besten Schüler – von einem Lehrer im Erziehungsheim folgendermaßen erfahren: Auf die Frage des Lehrers, was Malcolm X einmal werden möchte, antwortete Malcolm naiv: Rechtsanwalt. Die Reaktion des Lehrers, der Malcolm X’ Wunsch für unrealistisch hielt, war gerade durch ihre Aufrichtigkeit niederschmetternd. Sie lautete: Malcolm, one of life’s first needs is for us to be realistic. Don’t misunderstand me, now. We all here like you, you know that. But you’ve got to be realistic about being a nigger. A lawyer – that’s no realistic goal for a nigger. You need to think about something you can be. You’re good with your hands – making things. Everybody admires your carpentry shop work. Why don’t you plan on carpentry? People like 81

you as a person – you’d get all kinds of work.

Die Ironie des Schicksals ließ ihn rund 20 Jahre später mehrere Vorträge vor dem Forum der Harvard Law School halten.82 Dieses Gespräch bedeutete für Malcolm X einen entscheidenden Einschnitt in seinem Leben. Er entschloss sich, nach dem achten Schuljahr nach Boston zu seiner Halbschwester Ella zu ziehen, welche ihn unterstütz-

80 Malcolm X, Autobiography, S. 75-85. 81 Ebenda, S. 111. 82 Vgl. Malcolm X. Speeches at Harvard. Epps, Archie (Hg.). New York 1991.

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te und bei sich aufnahm. In Boston sah er zum ersten Mal gemischtrassige Paare, die öffentlich in Bars und Strassen zusammen waren. Bald schon hatte er selbst eine blonde, weiße Freundin, die er an einer Tanzveranstaltung kennenlernte. Damals galt eine weiße Freundin als Prestigeobjekt, das mehr Wert als ein teures Auto besaß. Er war stolz auf sie und zeigte sie all seinen Freunden der Bostoner Halbwelt, welche ihn um sie beneideten. Später bereute er diese Liebschaft, welche ihm nur die Verlogenheit und Doppelmoral der Weißen verdeutlichte. Gemäß Malcolm X geschah es nämlich häufig, dass die Weißen schwarze Männer wie Frauen als bloße Sexobjekte betrachteten.83 In Boston arbeitete er als Schuhputzer im Roseland, einem angesehenen Tanztheater. Dort lernte er berühmte Jazzmusiker kennen, denen er eine große Verehrung entgegenbrachte. Diese hatten es zudem als AfroAmerikaner dank ihrer Musik geschafft, nicht nur bei den Schwarzen, sondern auch bei den Weißen zu einer gewissen Ehre – oder zumindest Verehrung – zu gelangen. Malcolm X’ Aufregung war unermesslich, als er das erste Mal in der Braddock-Bar in Harlem, New York, all die illustren Stars wie Billie Holiday oder Ella Fitzgerald erblickte.84 Malcolm X verstand schon früh die Kraft des Wortes einzusetzen. Kaum eine Begebenheit veranschaulicht dies besser als die folgende: Der junge Malcolm X arbeitete als Sandwichverkäufer im Zug zwischen Boston und New York, als ein betrunkener weißer Südstaatensoldat ihm laut ins Gesicht sagte, er werde ihn verprügeln. Malcolm X wehrte sich, indem er den betrunkenen Soldaten auslachte und ihn mit Witz und Redegewandtheit dazu brachte, sich vor allen Reisenden auszuziehen, bis er nur noch mit seiner Hose bekleidet dastand. Der ganze Wagen lachte den Südstaatler aus. Malcolm X vergaß nie, dass er diesen Weißen mit seinem Verstand härter getroffen hatte, als er es mit der Faust je hätte schaffen können.85 Bis Malcolm X als brillanter Redner berühmt wurde, mussten noch einige Jahre verstreichen. Zunächst kämpfte er sich als drogensüchtiger Kleinkrimineller und Glücksspieler durch die Strassen Harlems. Es waren überaus lehrreiche Jahre, die aber – für Malcolm X vielleicht glücklicherweise – durch eine Auseinandersetzung mit einem angesehenen Verbrecher

83 Malcolm X, Autobiography, S. 114-158. 84 Ebenda. Vgl. auch Kapitel 4. 2 (S. 155ff.). 85 Malcolm X, Autobiography, S. 152.

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der Harlemer Unterwelt endete. Malcolm X musste die Stadt verlassen und kehrte nach Boston zurück. Am entscheidenden Abend – kurz bevor die Auseinandersetzung ihren Höhepunkt erreichte – traf er noch ein letztes Mal die berühmte Sängerin Billie Holiday im Onyx-Club, die für ihn ein Lied sang, von dem sie wusste, dass es ihm immer sehr gefallen hatte: „You Don’t Know What Love Is“ – „until you face each dawn with sleepless eyes [...] until you’ve lost a love you hate to lose[...]“86. Niemand konnte die Leiden der Afro-Amerikaner gemäß Malcolm X so ausdrücken wie Billie Holiday. Er formuliert dies so: That was the last time I ever saw Lady Day [Billie Holiday]. She’s dead; dope and heartbreak stopped that heart as big as a barn and that sound and style that no one successfully copies. Lady Day sang with the soul of Negroes from the centuries of sorrow and oppression. What a shame that proud, fine, black woman never lived where the true greatness of the black race was appreciated!

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2. 3. 3 Politische und ideologische Entwicklung Die politische und ideologische Entwicklung von Malcolm X begann im Gefängnis. Dort wurde er von einem Mitgefangenen und seinen eigenen Familienangehörigen zum Islam bekehrt, und er begann einen engen Kontakt mit dem Oberhaupt der Nation Of Islam, Elijah Muhammad, aufzubauen, der zugleich sein Vorbild wurde. Ebenfalls im Gefängnis begann Malcolm X sich hauptsächlich im Selbststudium jene Bildung anzueignen, die er als Jugendlicher verpasst hatte. Dabei kam ihm der Debattierklub im Gefängnis mit seinen Mitgefangenen und Lehrern äußerst gelegen. Dort konnte er sein erlerntes Wissen anwenden und seine ideologische Haltung an Streitgesprächen schärfen. Seine ideologische Haltung entsprang der Tradition eines Marcus Garvey, der an den Rassenstolz der Schwarzen appellierte und ihre Schönheit und Stärke pries. Seine Vorbehalte und seine Kritik gegenüber den Weißen wurden immer stärker. Er warf ihnen vor, teuflisch zu sein: zu lange hätten die Weißen andere Rassen ausgerottet (Indianer), versklavt (Afrikaner) oder sonst unterdrückt (Kolonialismus). Daraus resul-

86 Malcolm X, Autobiography, S. 204. 87 Ebenda.

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tierte für Malcolm X, dass der weißen Gewalt nur mit Gegengewalt begegnet werden könne, was schließlich nichts anderes als Selbstverteidigung bedeute. Diese Haltung setzte er, auf freiem Fuß, in politisches Engagement um, indem er einer der eifrigsten Verfechter der Nation Of Islam wurde. Gerade dank seiner eigenen Erfahrungen am untersten Ende der sozialen Hierarchie, seiner eigenen früheren Drogensucht und seiner Gefängniserfahrung konnte Malcolm X eine ungeheure Zahl Schwarzer für die Ideen der Nation Of Islam mobilisieren. Er konnte mit seinen Reden, aus denen vielleicht zu häufig der Aufruf zu Hass und Rache herausgehört wurde, bald eine große Anhängerschaft, die oft aus dem schwarzen Ghetto stammte, um sich scharen. Damit erhielt er eine dementsprechend große Resonanz in der Presse sowie am Rundfunk und Fernsehen, was ihn bald als Gegenpol zu Martin Luther King jr. erscheinen ließ. Malcolm X sträubte sich gegen den heuchlerischen Integrationswillen einiger bessergestellter Schwarzer, denen er unterstellte, bloß ein paar Krümel mehr vom reich gedeckten Tisch der Weißen ergattern zu wollen. Für ihn war der Marsch auf Washington eine „Farce on Washington“.88 Die Veranstaltung, die ursprünglich eine wütende Rebellion hätte entzünden sollen, verkam gemäß Malcolm X zu einem High-Society-Picknick, das modisch und schick sowohl Weiße wie Schwarze zierte, die das Glück hatten, rechtzeitig, wenn möglich mit Einladung, hinzukommen. Malcolm X strebte keine Integration an. Die von King geforderte Integration taxierte er als herablassende Toleranz oder bloße Akzeptanz der Weißen. Malcolm X strebte vielmehr eine schwarze Gesellschaft an, die sich selber zu helfen weiß, ohne von den weißen Wertvorstellungen abhängig zu sein.89 Obwohl er für eine eigenständige schwarze Gesellschaft plädierte und sich gegen die weiße Gesellschaft zur Wehr setzte, darf er nicht als Prediger des Hasses angesehen werden, zu welchem ihn die öffentliche beziehungsweise veröffentlichte Meinung so gerne stempelte. James Baldwin entgegnete darauf, dass das, was Malcolm X so fremdartig und gefährlich mache, nicht der Hass gegen die Weißen, sondern die Liebe zu den Schwarzen war. Dass er das Entsetzliche des Daseins als Schwarzer begriff

88 Malcolm X, Autobiography, S. 284. (Diese Angaben beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe von 1999.) 89 Malcolm X, Autobiography, S. 284-287.

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und auch die Ursachen dafür. Und dass er entschlossen war, Herzen und Hirne zu bearbeiten, bis sie endlich ihre Lage erkennen würden, um sie zu ändern.90 Eine letzte Phase stellte die Loslösung Malcolm X’ von der Nation Of Islam dar. Einerseits war der Bruch durch die Pilgerfahrt nach Mekka bedingt, denn Malcolm X erlebte dabei erstmals die Weltgemeinschaft des Islam, die keine Trennung zwischen Weißen und Schwarzen forderte, anderseits wurde er von Elijah Muhammad selbst aus der Organisation ausgeschlossen. Der offizielle Ausschluss erfolgte aufgrund einer Aussage Malcolm X’ zur Ermordung John F. Kennedys, die von der Öffentlichkeit missverständlich aufgefasst und als Beleidigung Kennedys gewertet wurde. Dies war bei dessen großer Beliebtheit – auch bei Schwarzen – selbst für die Nation Of Islam nicht tolerierbar. Nach Malcolms Ansicht waren es jedoch andere Gründe – nämlich Meinungsverschiedenheiten mit Elijah Muhammad –, die ihn als führendes Mitglied der Organisation inakzeptabel gemacht hatten. Seine ideologische und politische Haltung änderte sich jedoch nicht durch den Ausschluss aus der Nation Of Islam, sondern durch seine verschiedenen Reisen in den Mittleren Osten und nach Afrika, die ihn mit der Weltgemeinschaft des Islams zusammenführten. Dank diesen Reisen rückte er von seiner militanten Position ab und nahm eine viel konziliantere Haltung ein, die ihn kurz vor seinem Tod in die ideologische Nähe Kings führte. Dementsprechend führte er nicht mehr einen Kampf gegen die Unterdrückung der Weißen, sondern setzte sich vielmehr für die Stärkung aller Schwarzen auf der ganzen Welt ein.91 So schrieb er in einem Brief92 aus dem Heiligen Land, dass er dort in der islamischen Welt vom selben Teller gegessen, aus dem selben Glas getrunken und im selben Bett (oder auf dem selben Teppich) geschlafen und

90 Baldwin, James. Sie nannten ihn Malcolm X – Ein Drehbuch. (Originalausgabe: Baldwin, James. One Day, When I Was Lost. New York 1972). Übersetzt von Susanna Brenner-Rademacher. Hamburg 1993. S. 1. 91 Vor allem seine letzten Reden, wie There’s a Worldwide Revolution Going On, February 15, 1965 oder Not Just an American Problem, But a World Problem, February 16, 1965 verdeutlichen dies treffend. Vgl. Perry (Hg.), Malcolm X – Last speeches. 92 Den hier erwähnten Brief hat Malcolm X in seiner Autobiographie aus dem Gedächnis wiedergegeben. Vgl. Malcolm X, Autobiography, S. 420.

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zum selben Gott gebetet hatte wie seine muslimischen Glaubensbrüder mit ihren blauen Augen, blonden Haaren und ihrer weißen Haut. In den Worten und Taten der weißen Muslime war dieselbe Aufrichtigkeit zu spüren, wie er sie unter den schwarzen Muslimen aus Nigeria, dem Sudan und Ghana empfand. Alle waren wahrhaftig gleich, weil der Glaube an den einen Gott alles Weiße, sprich Negative, aus ihrem Geist, ihrem Verhalten und ihrer Gesinnung entfernt hatte.93 Daher kommt er zu folgendem Schluss: I could see from this, that perhaps if white Americans could accept the Oneness of God, then perhaps, too, they could accept in reality the Oneness of Man – and cease 94

to measure, and hinder, and harm others in terms of their ‚differences‘ in color.

Die Haltung von Malcolm X scheint sich vielfach geändert zu haben. Es gab jedoch immer eine Konstante in seinem Denken und Fühlen: die Wertschätzung der Schwarzen. Die Schwarzen waren und sind für Malcolm immer mehr wert, als die Weißen glaubten und vielleicht immer noch glauben. Die Schwarzen waren und sind aber auch mehr wert, als sie sich selbst oft fühlten und vielleicht immer noch fühlen. Dieses Wertgefühl drückte sich für ihn vor allem in der afro-amerikanischen Musik aus und gab ihm Kraft für seinen Kampf für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Durch diese Einsicht flocht Malcolm X die schwarze Musik und deren Eigenarten immer wieder als Argument zur Überzeugung seiner Zuhörerschaft, vor allem der schwarzen Zuhörerschaft, in seine Reden ein. Er erkannte deutlich, wie wichtig die afro-amerikanische Musik für seinen Kampf war, und setzte sie entsprechend ein. Im folgenden längeren Auszug aus dem Vortrag, den Malcolm X am 28. Juni 1964 anlässlich der Gründungsveranstaltung der Organization of Afro-American Unity (OAAU) hielt, wird deutlich, wie er auf die afroamerikanische Musik Bezug nimmt. Aufgrund der musikalischen Fähigkeiten der Schwarzen – wobei er das Improvisationstalent95 besonders hervorhebt – ist Malcolm X auch von der Fähigkeit der Schwarzen zur Selbstorganisation überzeugt. Die Schwarzen brauchen die Weißen nicht. Eine afro-

93 Malcolm X, Autobiography, S. 420. 94 Ebenda. 95 Vgl. Kapitel 1. 1 (S. 39).

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amerikanische Gesellschaft ist vielleicht anders als eine weiße organisiert, dies heißt jedoch nicht, dass sie nicht funktionieren würde. Am Beispiel dieser Rede lässt sich ebenfalls zeigen, wie Malcolm X sich immer wieder bemühte, kulturelle Befreiung und politische Befreiung nebeneinanderzustellen: Die schöpferischen Kräfte der schwarzen Amerikaner seien noch wenig erprobt, zu ihrer Entfaltung bedürfe es der Unterstützung seitens der politischen Kräfte. Es lässt sich auch die formale Anlehnung an die Predigten der schwarzen Kirchen zeigen: Skandierungen, Wiederholungen, Frage und Antwort, Zäsuren für den Beifall des Auditoriums; schließlich ist ersichtlich, dass die Anspielung auf den Himmel auf Erden direkt den Mechanismus religiöser Reflexe anvisiert. [...], brothers and sisters, you’d be surprised what will come out of the bosom of this black man. I’ve seen it happen. I’ve seen black musicians when they’d be jamming at a jam session with white musicians – a whole lot of difference. The white musician can jam if he’s got some sheet music in front of him. He can jam on something that he’s heard jammed before. If he’s heard it, then he duplicate it or he can imitate it or he can read it. But that black musician, he picks up his horn and starts blowing some sounds that he never thought of before. He improvises, he creates, it comes from within. It’s soul, it’s that soul music. It’s the only area on the American scene where black man has been free to create. And he has mastered it. He has shown that he can come up with something that nobody ever thought of on his horn. Well, likewise he can do the same thing if given intellectual independence. He can come up with a new philosophy. He can come up with a philosophy that nobody has heard of yet. He can invent a society, a social system, an economic system, a political system, that is different from anything that exists or has ever existed anywhere on this earth. He will improvise; he’ll bring it from within himself. And this is what you and I want. You and I want to create an organization that will give us so much power we can sit down and do as we please. Once we can sit down and think as we please, speak as we please and do as we please, we will show people what pleases us. And what pleases us won’t always please them. So you’ve got to get some power before you can be yourself. Do you understand that? You’ve got to get some power before you can be yourself. Once you get power and you be yourself, why, you’re gone, you’ve

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got it and gone. You create a new society and make some heaven right here on this earth.

96

2. 4 M ARTIN L UTHER K ING

JR . VS .

M ALCOLM X

Eine Ironie des Schicksals – in der Öffentlichkeit wurden Martin Luther King jr. und Malcolm X immer als Opponenten betrachtet – liegt darin, dass Attallah Shabazz und Yolanda King, die Töchter der beiden, 1983 gemeinsam in New York eine Theatergruppe formierten. Das Schauspiel Stepping Into Tomorrow sollte die Stimmen ihrer Väter in Schulen, Kirchen und Kommunen tragen. Der scheinbare Widerspruch der unterschiedlichen Wortführer wurde von den beiden Töchtern klar dementiert. Die Liebe und Achtung, welche die beiden Opponenten der Bürgerrechtsbewegung für einander gehabt hatten, wird von Yolanda King folgendermaßen bezeugt: When my father was in jail, Malcolm sent him a telegram. When Malcolm was killed, daddy sent Attallah’s mother a telegram. Nobody knows about that. All they hear is, [...], they [Malcolm X and King] are completely opposed to each other, 97

which was not the case.

Martin Luther King jr. und Malcolm X, so verschieden sie auf den ersten Blick erscheinen, hatten nämlich ein gemeinsames Ziel: die Verbesserung der Situation der Schwarzen in Amerika. Doch ihre Wege, die zu diesem Ziel führen sollten, waren grundverschieden und müssen heute aus ihrem persönlichen Umfeld heraus erklärt werden. King war der Theoretiker, der seine Theorien in die Praxis umsetzte, während Malcolm X der Praktiker war, der die Praxis in Theorien fassen konnte. Sie arbeiteten nicht für die-

96 Malcolm X. The Founding Rally of the OAAU (New York, June 28, 1964). Breitman, Georg (Hg.). By Any Means Necessary – Speeches, Interviews and a Letter by Malcolm X. New York 19714. S. 63-64. 97 People Weekly. The Daughters of Malcolm X and Martin Luther King Team Up to Bring a Play of Hope to Kids. Vol. 20, No. 10. September 5, 1983; zit. Baldwin, Lewis V. Malcolm X and Martin Luther King, Jr. and What They Thought About Each Other, S. 34. Garrow, David J. (Hg.). Martin Luther King, Jr. and the Civil Rights Movement. Vol. I. Brooklin, New York 1989.

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selben Organisationen und waren oft unterschiedlicher Meinung bezüglich Liebe und Hass, Gewaltlosigkeit und Gewalt, Integration und Separatismus und vielem mehr. Trotz ideologischer und philosophischer Differenzen stellt sich heute die Frage, ob es einen gemeinsamen Nenner dieser beiden Exponenten im Kampf um eine Verbesserung der Situation der Schwarzen gab. Zur einzigen, äußerst kurzen Begegnung der beiden von Angesicht zu Angesicht kam es auf die Initiative von Malcolm X. Martin Luther King jr. hielt am 26. März 1964 in Washington D.C. einen Vortrag und Malcolm X überraschte ihn beim Verlassen des Gebäudes auf dem Flur. Die Szene wird folgendermaßen beschrieben: „Well, Malcolm, good to see you,“ King said. „Good to see you,“ Malcolm grinned. Reporters crowded around. Flash bulbs flared. „Now you’re going to get investigated“, Malcolm teased, and then they parted.

98

Die Neckerei Malcolms war berechtigt, denn King war zu diesem Zeitpunkt kurz vor der Einladung ins Weiße Haus, während Malcolm X selbst vom F.B.I. überwacht wurde. Sonst hatten sie sich nie getroffen, obwohl Malcolm X sich seit 1957 verschiedene Male bemüht hatte, King zu kontaktieren. King vermied es immer, in Zusammenhang mit Malcolm X – und damit mit dessen Philosophie der Selbstverteidigung – gebracht zu werden. Das hieß allerdings nicht, dass King generell keine Achtung vor Malcolms Arbeit gehabt hätte: im Gegenteil. Er bekundete große Achtung vor der Arbeit von Malcolm X und den Black Muslims zur Bekämpfung des Drogenund Alkoholmissbrauchs, obwohl King sich natürlich nicht mit der einhergehenden Philosophie einverstanden erklärte. Zudem hatte King je länger desto mehr Verständnis für Malcolm X’ Ansichten. King sah, dass im Norden mit Gewaltlosigkeit wenig erreicht werden konnte und realisierte, dass sich nach der Unterzeichnung der Bürgerrechtsgesetzgebung im Süden substantiell wenig ändern würde. Gerade die gemäßigten Weißen – Moderate

98 Goldman, Peter. The Death and Life of Malcolm X. New York 1973; zit. Baldwin, Lewis V., Malcolm X and Martin Luther King, Jr., S. 19.

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Whites99 – enttäuschten King und er näherte sich gegen Ende seines Lebens immer mehr an die Position von Malcolm X an. Dieser seinerseits streifte seine militante Haltung ab. Vor allem aufgrund seiner Reisen in den Nahen Osten und nach Afrika nahm er eine konziliantere Haltung gegenüber den Weißen allgemein ein. Malcom X widersetzte sich in der Folge gegen das Weiße (= das Negative), und nicht mehr gegen den Weißen. Das wiederum brachte ihn zur Philosophie von King, der nicht den Bösen, sondern das Böse bekämpfen wollte. Dies sei gemäß King nicht mit Gewalt möglich, denn Gewalt erzeuge bloß Gegengewalt und lösche somit das Böse nicht aus.100 Zudem erkannten und anerkannten sie beide die Wichtigkeit des anderen je länger je mehr. Malcolm X bekundete tiefe Bewunderung für den Mut der gewaltlosen Protestaktionen und den damit verbundenen Erfolg Kings. King seinerseits erkannte, dass ohne Malcolm X und dessen gewalttätige Alternative die Protestmärsche, Freedom Rides, Sit-Ins etc. wohl kaum die gleiche Wirkung erzielt hätten. King folgerte daraus und drohte, dass wenn die friedlichen Demonstrationen keinen Erfolg hätten, sich viele Schwarze auf einen bewaffneten Kampf einlassen würden: I’m grateful to God that, through the Negro church, the dimension of nonviolence entered our struggle. If this philosophy had not emerged, I am convinced that by now many streets of the South would be flowing with floods of blood. And I am further convinced that if our white brothers dismiss us as „rabble-rousers“ and „outside agitators“ those of us who are working through the channels of nonviolent direct action and refuse to support our nonviolent efforts, millions of Negroes, out of frustration and despair, will seek solace and security in black nationalist ideologies, a development that will lead inevitably to a frightening racial nightmare.

101

Malcolm X seinerseits war sich dieser Möglichkeit klar bewusst und versuchte King während der Proteste in Selma anfangs 1965, die auf äußerst

99 King, Martin Luther, Jr. Letter from Birmingham City Jail (1963). Washington, James Melvin. (Hg). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. S. 295. 100 Vgl. King, Matin Luther, Jr. An Experiment in Love. Washington, James Melvin. (Hg). A Testament of Hope: the Essential Writings and Speeches of Martin Luther King, Jr. New York 1986. / Malcolm X, Autobiography. 101 King, Jr., Letter, S. 297.

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harten Widerstand stießen, durch seine Anwesenheit zu helfen. Coretta Scott King erinnert sich an Malcolm X’ Worte und deren Aufrichtigkeit: Dr. King soll wissen, dass ich nicht nach Selma kam, um ihm seine Arbeit zu erschweren. Ich kam wirklich in der Absicht, sie ihm leichter zu machen. Wenn die Weißen begreifen, welches die Alternative ist, vielleicht hören sie Dr. King dann 102

bereitwilliger an.

Ohne Malcolm X hätte die gewaltlose Rebellion von Martin Luther King jr. kaum den Erfolg verzeichnen können, den sie zweifellos hatte. Lewis V. Baldwin kommt in seinem Aufsatz Malcolm X and Martin Luther King, Jr. and What They Thought About Each Other auf überzeugende Weise zum Schluss, dass beide, King und Malcolm X, einander gebraucht hatten, dass sie geholfen hatten, einander zu schaffen.103 Die beiden Hauptfiguren der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die auf den ersten Blick konträr erscheinen, haben sich also ergänzt. Mit dieser Einsicht steht die Frage nach den Gemeinsamkeiten allerdings immer noch offen. Der schwarze Schriftsteller James Baldwin behauptet, dass zum Zeitpunkt, da ein jeder seinem Tod nahe war, persönlich und ideologisch praktisch keine Differenzen mehr zwischen ihnen bestanden, dass sie sich also auf ihrem Weg einander näherten und nicht voneinander entfernten.104 Der Tod war denn auch die offenkundigste Gemeinsamkeit der beiden Exponenten. Beide wurden erschossen. Doch nicht nur der Tod als solcher stellte eine Gemeinsamkeit der beiden dar, sondern auch die Bereitschaft zum Tod. Die Bereitschaft, für die Verbesserung der Situation der Schwarzen zu sterben, zeichnete beide von Anfang an aus. Eine weitere Gemeinsamkeit bestand im Wunsch beider, dass die Schwarzen ein neues, eigenständiges Selbstwertgefühl entwickeln sollten. Sie sollten stolz auf sich selbst und ihre schwarzen Brüder und Schwestern

102 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 205. 103 Baldwin, Lewis V. Malcolm X and Martin Luther King, Jr. and What They Thought About Each Other, Garrow, David J. (Hg.). Martin Luther King, Jr. and the Civil Rights Movement. Vol. I. Brooklin, New York 1989. S. 34. 104 Baldwin, James. Malcolm and Martin. Esquire, LXXVII (April 1972). zit. Baldwin, Lewis V. Malcolm X and Martin Luther King, Jr. S. 34.

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sein und sich gegenüber der weißen Rasse nicht minderwertig fühlen. Sowohl Martin Luther King jr. wie auch Malcolm X verwiesen dabei auf das gemeinsame kulturelle Erbe. Dies formuliert Coretta Scott King wie folgt: Einigen Punkten von Malcolm X’ Programm stimmte Martin allerdings entschieden zu. Zum Beispiel teilte er mit Malcolm den brennenden Wunsch, der schwarze Amerikaner möge seinen Rassenstolz und sein Selbstwertgefühl – in einer physischen, kulturellen und geistigen Wiedergeburt – geltend machen. Wie die Nationalisten war auch er fest davon überzeugt, dass schwarz schön sei – „black is beautiful" – und dass in vielerlei Hinsicht die Wertskala der Schwarzen jener der Weißen, die uns zu versklaven suchten, weit überlegen sei. Und auch Martin fühlte sich unseren afrika105

nischen Brüdern und unserem gemeinsamen Erbe eng verbunden.

Nichts widerspiegelte dieses gemeinsame Erbe so gut wie die afroamerikanische Musik. In dieser fanden beide, Martin Luther King jr. und Malcolm X, Kraft und Überzeugung, die ihnen half, ihre Ziele zu verfolgen. King betonte immer wieder, wie wichtig die Spirituals für ihn privat und für die Bewegung im Allgemeinen seien. Nicht grundlos sprach King von einer „Armee, die sang, aber nicht mordete“ – „[...]army that would sing but not slay“106 –, wenn er von den gewaltlosen Demonstranten sprach. Ebenso hob Malcolm X die afro-amerikanische Musik und deren Vertreter hervor, flocht dieses Erbe in seine Reden ein und überzeugte damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Zuhörer, dass dieses Erbe Beweis genug für schwarze Eigenständigkeit, Grund genug für kulturelle, soziale wie auch politische Gleichberechtigung und Selbstachtung sei. Zusammenfassend gesagt, manifestierte sich die schwarze Bürgerrechtsbewegung in der Tradition der zwei Gruppierungen, welche sich anfangs des 19. Jahrhunderts abzeichneten: die Integrationisten, welche sich auf W.E.B. Du Bois bezogen, und die Separationisten, welche aus den Überlegungen und Forderungen von Marcus Garvey hervorgingen. Mit Rev. Martin Luther King jr. kam jedoch vor allem im Süden das neue Element der gewaltlosen Direkten Aktionen hinzu, welche hauptsächlich dem Denken und Handeln Mahatma Gandhis entsprangen und mit Hilfe der Tradition der schwarzen Kirche auf die USA übertragen und durchgeführt

105 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 205. 106 King, Why We Can’t Wait, S. 536.

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werden konnten. Die Bürgerrechtsbewegung war insofern erfolgreich, als zahlreiche Bundesgerichtsbeschlüsse zugunsten der Bürgerrechtler gefällt und rassentrennende Gesetze aufgehoben wurden, wobei der größte Erfolg die Unterzeichnung des Civil Rights Act von 1964 darstellte. Damit waren die Probleme der schwarzen Amerikaner allerdings noch nicht gelöst, und die ursprüngliche Position von Malcolm X und des Nordens im Allgemeinen trat stärker ins Zentrum. Dieser forderte – wenn nötig mit Gewalt – nicht nur die rechtliche, sondern auch die wirtschaftliche und soziale Gleichstellung und Anerkennung der Schwarzen. In Bezug auf die Bürgerrechtsbewegung spielte die afro-amerikanische Musik eine doppelte Rolle. Einerseits wirkten der weltliche Blues und Jazz auf Malcolm X’ Reden stimulierend, gaben ihm Kraft und dienten ihm als Beweis für die Größe des afro-amerikanischen Volkes. Anderseits bezogen Rev. Martin Luther King jr. und seine Mitstreiter durch die kirchlichen Spirituals in unmittelbarer Weise den Glauben, die Geduld und die Ausdauer, welche sie während des gewaltlosen Widerstands benötigten.

3. Interpretation ausgewählter Liedtexte

Sowohl Martin Luther King jr. wie auch Malcolm X verwiesen immer wieder im Bestreben, die Situation der Afro-Amerikaner zu verbessern, auf deren Musik und Liedtexte. Weshalb? Was sagen diese Texte aus? Wie können sie interpretiert werden? Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen, wobei einerseits die Texte der Spirituals, anderseits die Bluestexte anhand einiger ausgewählter Textbeispiele auf ihre Aussagekraft hin untersucht werden. Dabei soll sich das Augenmerk vor allem auf deren soziopolitischen Gehalt in Bezug auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung richten.

3. 1 D AS S PIRITUAL Der Name Spiritual stammt von der Aufforderung des heiligen Paulus im Brief an die Epheser 5, 19, das Wort Christi durch Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder – Spiritual Songs – zu verbreiten. Die Spirituals entstanden allerdings außerhalb der ursprünglichen Kirchentradition und wurden erst später als Negro-Spirituals in traditionellen Kirchen und Konzerthallen aufgeführt. Mittlerweile haben sie klassische Komponisten wie Antonín Dvořák und Virgil Thomson beeinflusst und werden heute in Schulen und Chören auf der ganzen Welt gesungen.1 Was kann über die Texte der Spirituals ausgesagt werden? James Weldon und J. Rosamond Johnson verweisen zunächst darauf, dass die engli-

1

Oliver (Hg.), The New Grove, S. 1. Vgl. auch Kapitel 1. 2 (S. 46ff.).

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sche Sprache der Afro-Amerikaner früher äußerst limitiert war und deshalb oft mangelhaft erscheint. Viele Zeilen sind oft mehr als banal, unlogisch oder wirken durch unnötige Repetitionen langweilig. Häufig werden sie nur durch ihre Naivität gerettet. Trotzdem erscheint in den Spirituals eine Poesie, die erstaunen lässt, dies vor allem, wenn man bedenkt, dass die AfroAmerikaner zwangsläufig – durch die oben geschilderten Umstände – ungebildet waren und anfänglich in einer fremden Sprache dichteten. Oft sind Redewendungen aus der Bibel in den Texten enthalten, da die Bibel die Hauptquelle der Inspiration darstellt. Die vielen biblischen Geschichten bieten den Spirituals eine breite Basis für ihre bildhafte Ausdruckskraft. Der Stil ist konzentriert und prägnant, und mit jeder Zeile wird ein neues Bild gezeichnet. Die Geschichten erscheinen immer dramatisch, und die Bilder sind lebendig koloriert.2 Um mit den Herren zu kommunizieren, mussten die Sklaven deren Sprache erlernen. Der afro-amerikanische Dialekt ist aber ein Resultat der Sklaverei: Die Afrikaner legten ihre Sprache ab und erlernten ein phonetisch und grammatisch vereinfachtes Englisch. Dieses neue Englisch zeichnet sich dadurch aus, dass die harten und schwierig auszusprechenden Laute sowie Silben von zweitrangiger Bedeutung eliminiert worden sind. Dies ist bisweilen in der Schreibweise ersichtlich. Interessanterweise erhalten die Spirituals gerade durch dieses Idiom Ausdruckskraft und Charme.3 Woran liegt es, dass die Spirituals als religiöse Lieder so erfrischend und vielfältig wirken? Ein Grund mag sein, dass sie zwar generell gesprochen religiös sind, im engeren Sinne jedoch kaum als religiöse Lieder bezeichnet werden können. In den Spirituals drücken die Afro-Amerikaner ihre religiösen Hoffnungen und Ängste, ihr Vertrauen und ihre Zweifel und vieles mehr aus. In den Texten manifestieren sich auch theologische und ethische Ansichten sowie Ermahnungen und Warnungen. Wenn die Bibel auch das Grundgerüst darstellt, so werden beinahe alle Aspekte des Lebens – ausgenommen Sex – in den Spirituals behandelt, wobei die außerordentliche emotionale Spannweite – von zu Tode betrübt bis zu himmelhoch jauchzend – als Hauptmerkmal auffällt. In vielen Liedern wird mit Vorstellungen und Träumen gespielt. Es werden Visionen der Verzweiflung sowie Prophezeiungen des zukünftigen Sieges vorgetragen. Gleichfalls werden

2

Johnson / Johnson, Negro Spirituals (Bd. I), S. 38-50.

3

Ebenda.

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allgemeine Lebensweisheiten und philosophische Erkenntnisse besungen und ausgedrückt, welche in den langen Jahren der Sklaverei gereift sind. Die Spirituals sind somit auch Ausdruck der afro-amerikanischen Geschichte und Tradition.4 Hier das Spiritual Oh Freedom als Beispiel: Oh Freedom! Oh Freedom! Oh Freedom, I love thee! And before I’ll be a slave, I’ll be buried in my grave, 5

And go home to my Lord and be free.

Nicht alle Spirituals verweisen so eindeutig wie Oh Freedom auf den Freiheitsdrang, der oft mit dem religiösen Gesang ausgedrückt wurde. Texte dieser Art wurden unterschiedlich interpretiert: Einerseits waren die weißen Sklavenhalter froh, wenn sich ihre schwarzen Sklaven in religiöse Gesänge flüchteten und ihre Freiheit nicht auf Erden, sondern im transzendenten Himmel suchten. Anderseits fürchteten und verboten gewisse weiße Herrscher diese Gesänge, weil sie eben nicht nur harmlose religiöse Lieder waren, sondern die Sklaven – und später die segregierten und diskriminierten Afro-Amerikaner – zu Kampf und zivilem Ungehorsam aufrufen konnten. Die Spirituals vermittelten den Sklaven nicht nur das Gefühl der Zusammengehörigkeit, sondern auch ein Selbstwertgefühl. Dies geschah vor allem durch den Bezug der Spirituals auf die Bibel. Sie gab – sowohl das Alte wie auch das Neue Testament – mit der Gewissheit auf Erlösung Kraft, auch in einem Jammertal die Lebensfreude zu bewahren.6 Der schwarze Theologe James H. Cone betont in seinem Werk The Spirituals and the Blues, dass in den Spirituals keinesfalls nur Probleme behandelt werden. Die Spirituals beinhalten auch freudige Erfahrungen und drücken eine Hingabe zum Leben und dessen Möglichkeiten in einer ästhetischen Form aus. Die Spirituals sind ein Ausdruck des Lebens in Rhythmus und Bewegung. Dabei besteht der beste Zugang zur Interpretation im Empfinden und Fühlen der Lieder, weniger im rationalen Analysieren der-

4

Johnson / Johnson, Negro Spirituals (Bd. II), S. 12-13.

5

Cone, Spirituals and Blues, S. 29.

6

Wirz, Sklaverei, S. 156.

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selben. Um die Spirituals zu erfassen, muss man sich in das historische und kulturelle Milieu einfühlen, das diese Musik geprägt hat. Die Spirituals können nicht allein durch den Text erfasst werden, sondern müssen im Zusammenhang mit der schwarzen Geschichte betrachtet werden.7 Anderseits machen die Spirituals sowohl den Sängern als auch den Zuhörern die Erfahrungen und die Geschichte der Afro-Afrikaner als rechtlose Sklaven bewusst. Dabei können spirituelle Begriffe wie Gott, Himmel, Teufel, Hölle etc. als Synonyme für verschiedene weltliche Bedeutungen interpretiert werden. Gott oder Jesus beispielsweise darf durchaus als Befreier oder einziger wahrer Herr – entgegen dem weltlichen Sklavenhalter – verstanden werden. Der Himmel kann konkret auch als das für Schwarze freie Gebiet der Nordstaaten oder Kanadas angesehen werden. Analog dazu stellt der Teufel den weißen Herrscher und die Hölle das Skavendasein auf den Plantagen dar. Unter diesem Aspekt muss auch der Tod vor allem als Befreiung aufgefasst werden; der Tod, der die Seele aus dem Gefängnis des Körpers und damit von der weltlichen Knechtschaft befreit.8 Durch die Untergrund-Eisenbahn – eine von einzelnen Quäkern und anderen Abolitionisten aufgebaute Organisation, die unter Missachtung lokaler Gesetze durch konspirative Kontakte und ein Netz von Niederlassungen, entflohenen Sklaven in den Norden zu fliehen half – erhält ein Spiritual wie Weary Traveller9 eine neue, zutiefst weltliche Bedeutung. Darin wird nämlich der erschöpfte Reisende auf seinem himmlischen Weg ermuntert, nicht aufzugeben und auf Jesus zu vertrauen. Wenn er aber sein Ziel erreicht hat, dann soll er mit Himmelsposaunen von seiner Reise berichten. Inwiefern dieses und ähnliche Spirituals dazu beitrugen, Sklaven zur Flucht zu ermuntern, lässt sich nicht feststellen. Doch es ist zu beachten, dass trotz schärfster Gegenmaßnahmen der Südstaaten bis 1855 durch die Untergrund-Eisenbahn insgesamt an die 60.000 Sklaven den Weg in den freien Norden fanden.10 Nach diesen Vorbemerkungen – obwohl vor allem auf die Zeit vor der Aufhebung der Sklavenwirtschaft bezogen – werden nun einige ausgewählte Spirituals in Bezug auf die Bürgerrechtsbewegung betrachtet. Da sich die

7

Cone, Spirituals and Blues, S. 31.

8

Ebenda, S. 32.

9

Johnson / Johnson, Negro Spirituals (Bd. I), S. 184-187.

10 Wirz, Sklaverei, S. 167.

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allgemeine Lebenssituation der segregierten Afro-Amerikaner im Gegensatz zu der der versklavten Neger nicht wesentlich verbessert hat, können spirituelle Begriffe – z.B. Himmel oder Hölle – immer noch ähnliche Bedeutungen wie zur Zeit der Sklaverei tragen. Da die Spirituals als Volkslieder betrachtet werden müssen, sind die Texte nicht immer eindeutig. Es existieren verschiedene Textvarianten, die im Verlauf der Entwicklung des Spirituals entstanden sind. Die Grundaussage bleibt jedoch dieselbe.

3. 1. 1 Go Tell It on the Mountain (Trad.) Refrain: Go tell it on the mountain Over the hill and everywhere Go tell it on the mountain That Jesus Christ is born 1. Strophe:

2. Strophe:

When I was a seeker

He made me a watchman

I sought both night and day

Upon the city wall

I asked the Lord to help me

And if I am a Christian

And he showed me the way

I am the least of all

3. Strophe

4. Strophe

When I was a sinner

It was in a lowly manger

I sinned both night and day

That Jesus Christ was born

I asked my Lord to help me

The Lord sent down an angel

And he taught me to pray

That bright and glorious morn

11

Das Spiritual Go Tell It on the Mountain verkündet die freudige Geburt Jesu Christi und ist eher die Ausnahme als die Regel. Die Kreuzigung und die

11 Volkslied (Originaltext und Musik). Go Tell It on the Mountain; zit. Bursch, Peter. Gitarrenbuch. Bonn-Bad Godesberg 1975. S. 97.

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Auferstehung wurden nämlich noch und noch besungen, die Geburt hingegen fand wenig Beachtung. Es gibt nur wenige Christmas-Spirituals. Diese Tatsache ist schwierig zu erklären. Da im Süden der USA Weihnachten nicht als geruhsames Fest, sondern sehr weltlich – mit viel Alkohol und Feuerwerk – gefeiert wurde, war Weihnachten einer der wenigen relativ freien Momente im Leben eines Sklaven, was mit exzessiven sinnlichen Freuden gefeiert wurde. Zudem wurde Jesus – wenn auch von niederer Herkunft – in Freiheit geboren. Dies erschwerte den Sklaven die Identifikation mit ihm und sprach erst die segregierten schwarzen Amerikaner direkt an.12 Was bedeutete Jesus Christus für die versklavten oder segregierten Schwarzen im weißen Amerika? Jesus wurde als Sohn Gottes und als König angesehen, der die Macht besaß, den ungerechterweise Leidenden Trost zu spenden. James H. Cone weist zu Recht darauf hin, dass für die Schwarzen Jesus kaum Gegenstand theologischer Kontroversen war. Er galt als Ausgestoßener vielmehr als Subjekt ihrer eigenen leidvollen Erfahrungen und ihrer täglich erlebten Realität. Jesus wurde von den Schwarzen als göttlich und menschlich aufgefasst, ohne dass sie die Frage stellten, wie Gott Mensch werden konnte oder ob er bloß als Mensch in Erscheinung trat. Jesus war nicht ein Gedanke in ihren Köpfen, der in seiner Beziehung zu Gott analysiert werden musste, sondern er war eine Erfahrung. Er war als geschichtliche Gestalt gegenwärtig, er war Bewegung und Veränderung, er befreite und führte in die Freiheit. Obwohl göttlich, war er zutiefst menschlich. Die Sprituals erzählten von seinem Leben, seinen Qualen und seinem Tod auf Erden. Sein Leiden war real, und er starb den Tod eines natürlichen Menschen. Die Schwarzen waren von der Passionsgeschichte Jesu zutiefst bewegt, auch sie wurden grundlos geschlagen und gestoßen, ohne jemals die Gelegenheit zu haben, sich zu verteidigen, wurden grundlos erhängt, wie Jesus grundlos gekreuzigt wurde.13 An dem Spiritual Crucifixion lässt sich leicht erkennen, wie die Lyriker die Kreuzigung mit ihrem eigenen Pathos durchdringen. Einerseits ist Jesus der Held, der ohne ein Wort zu murmeln („An’ He never said a mumblin’ word“14) sein Leiden auf sich nimmt. Anderseits wird die Szene – als sol-

12 Johnson / Johnson, Negro Spirituals (Bd. II), S. 14-15. 13 Cone, Spirituals and Blues, S. 43-52. 14 Johnson / Johnson, Negro Spirituals (Bd.I), S. 40-41.

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che schon dramatisch genug – so beschrieben, dass sie geradesogut die Beschreibung einer Lynchjustiz weißer Fanatiker abgeben könnte. Zu beachten ist hierbei, dass Jesus in diesem Spiritual nicht an ein Kreuz, sondern an einen Baum genagelt wird: Dey crucified my Lord, An’ He never said a mumblin’ word, Dey crucified my Lord, An’ He never said a mumblin’ word Not a word - not a word - not a word. Dey nailed Him to de tree, An’ He never said a mumblin’ word, (Rep.) Dey pierced Him in de side, An’ He never said a mumblin’ word, (Rep.) De blood came twinklin’ An’ He never said a mumblin’ word, (Rep.) He bowed His head an’ died, An’ He never said a mumblin’ word, 15

(Rep.)

Gerade die Passionsgeschichte bot den Afro-Amerikanern die Möglichkeit, ihre eigene Leidensgeschichte durch Gesänge auszudrücken. Gemäß den Spirituals wurde die Bedeutung von Jesu Geburt, Leben, Tod und Auferstehung in seiner Identität mit dem Armen, Blinden oder Kranken gefunden. Jesus kam allerdings nicht nur, um mit diesen zu leiden, sondern auch, um sie zu befreien, um ihnen Frieden und Gerechtigkeit zu bringen. Deshalb

15 Johnson / Johnson, Negro Spirituals (Bd.I), S. 40-41.

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wollten die diskriminierten Schwarzen Jesu Geburt, wie im Spiritual Go Tell It on the Mountain, überall verkünden.16 Zur Identifikation der Schwarzen mit Jesus ist eine Bemerkung von Malcolm X interessant, die er während einer Bibelstunde im Gefängnis von Charlestown machte. Der Kurs wurde von einem großen, blonden, blauäugigen Studenten des theologischen Seminars der Harvard Universität geleitet. Als er auf Paulus zu sprechen kam, behauptete Malcolm X, dass Paulus eine schwarze Hautfarbe gehabt haben müsse, da er Hebräer gewesen sei und die ursprünglichen Hebräer seinen schwarz gewesen. Da der Dozent dies nicht verneinte, fragte Malcolm forsch, welche Hautfarbe denn Jesus – der auch Hebräer gewesen sei – gehabt habe? Schließlich rang sich der Dozent zu einem Kompromiss durch und erklärte, Jesus sei braun gewesen.17 Es ist anzunehmen, dass Malcolm X nicht der erste Schwarze war, der diesen Gedanken hatte. Welche Hautfarbe Jesus gehabt hat, ist jedoch von untergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger ist, dass sich die AfroAmerikaner mit ihm als Menschen identifizierten, in ihm den göttlichen Befreier sahen und dies in Spirituals wie Go Tell It on the Mountain besangen. Nicht nur während der Sklaverei, sondern auch während der Bürgerrechtsbewegung musste dieses Lied den Suchenden ansprechen, denjenigen, der sich mit der Situation im segregierten Amerika nicht abfinden konnte. Dabei stellt sich natürlich die Frage, was gesucht wurde. Was es auch war, Jesus fand den Weg, zeigte die Lösung. Für Jesus gab es keine soziale Hierarchie, keine sozialen, kulturellen oder rassischen Schranken, er verweist auf ein friedliches Zusammenleben von Weiß und Schwarz, kurz, auf die Integration. Wie dieses Ziel erreicht werden soll, beantwortet Jesus auch: mit Liebe und Vergebung. Gerade Bilder wie solche von friedlich marschierenden Bürgerrechtlern beweisen, dass mit der Erduldung der polizeilichen Repression durch Wasserwerfer, Schlagstöcke und beißende Hunde ein Kampf im Sinne Jesu geführt werden kann: indem nicht zurückgeschlagen, sondern die andere Wange auch noch hingehalten wird. Genau wie die Bürgerrechtler für öffentliche Ruhestörung in Haft genommen und ins Gefängnis gebracht wurden, wurde Jesus wegen Aufwiegelei und öf-

16 Cone, Spirituals and Blues, S. 43-52. 17 Malcolm X, Autobiography, S. 265.

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fentlichen Ärgernisses ins Gefängnis geführt und schließlich – nicht gelyncht –, sondern durch das Kreuz hingerichtet. Selbst für den unbedeutendsten aller Christen ist es wichtig, den christlichen Weg zu gehen und auf diese Art für Selbstbestimmung und Integration zu kämpfen. Dabei zählt nicht die ruhmreiche Anerkennung durch die Allgemeinheit – z.B. ein Friedensnobelpreis –, sondern das bescheidene Verdienst eines jeden einzelnen, der sich in der Bürgerrechtsbewegung auf irgend eine Art nützlich macht. Dies betont Martin Luther King jr. in Why We Can’t Wait mehrmals. So wurden oft Freiwillige, die nicht selbst an Direkten Aktionen teilnehmen konnten, für anderweitige Aufgaben, z.B. Telephondienst etc., eingesetzt. Es spielt dabei keine Rolle, woher man stammt oder wo man geboren wurde. Jesus selbst wurde auch als Zimmermannssohn in einem Stall geboren und lag in einer Futterkrippe. Die vierte Strophe von Go Tell It on the Mountain verweist nochmals deutlich darauf, dass die Herkunft oder die soziale Stellung völlig nebensächlich sind. Vielmehr weist sie darauf hin, dass Gott, der Herr, an jenem strahlenden, glorreichen Morgen einen Engel auf die Erde sandte, um den Unterdrückten beizustehen.

3. 1. 2 Go Down Moses (Trad.) 1. Version: Refrain: Go down Moses Way down in Egypt’s land Tell ol’ Pharao Let my people go

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1. Strophe

2. Strophe

When Israel was in Egypt’s land

No more shall they in bandage toil

Let my people go

Let my people go

Oppressed so hard, they could not stand

Let them come out with Egypt’s spoil

Let my people go

Let my people go

3. Strophe

4. Strophe

Oh, Moses, the cloud shall deave the way

Your foes shall not before you stand

Let my people go

Let my people go

A fire by night, a shade by day

And you’re possess fair Ca naan’s land

Let my people go

18

Let my people go

2. Version Refrain: Go down Moses Way down in Egypt’s land, Tell ole Pharaoh, To let my people go 1. Strophe

2. Strophe

When Israel was in Egypt’s land

‚Thus spoke the Lord‘ bold Mo ses said

Let my people go

Let my people go

Oppressed so hard they could not stand

If not I’ll smite your first born dead

Let my people go

19

Let my people go

18 Volkslied (Originaltext und Musik). Go Down Moses; zit. Bursch, Gitarrenbuch; S. 98.

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Giles Oakley verweist in The Devil’s Music deutlich darauf, dass Spirituals wie Go Down Moses einen Überlebensdrang, eine Zuversicht und ganz allgemein einen unbeugsamen Geist ausstrahlen. Es ermöglichte den Sklaven, indem sie mit langgezogenen Seufzern ihr Leid eines unterdrückten Volkes besangen, die Qualen auszuhalten.20 Aber auch Coretta Scott King beruft sich 1956 anlässlich der Feier zum einjährigen Busstreik von Montgomery, lange nach der Aufhebung der Sklaverei, auf dieses Spiritual: Ich erzählte die Geschichte der Bewegung und flocht die Spirituals und Freiheitslieder in die Erzählung ein, die ich geschrieben hatte. Ich sprach kurz davon, dass viele Menschen im Laufe der Jahrhunderte unterdrückt worden seien und dass Gott ihnen immer Befreier geschickt habe, so wie er den Kindern Israels Moses gesandt habe. Ich sagte: „Heute spricht Gott noch immer zu den modernen Pharaonen ‚Let My People Go‘.“

21

Moses ist in den Spirituals eine der wichtigsten und meist besungenen Personen des Alten Testaments. Dies ist nicht verwunderlich, denn schließlich führte dieser Prophet die unterdrückten Kinder Israels aus der ägyptischen Gefangenschaft durch Meer und Wüste in die Freiheit. Moses gab mit Gottes Hilfe den Israeliten Kraft und Mut, sich vom Pharao und den ägyptischen Herren zu lösen, obwohl es keinerlei Sicherheit gab, dass es in Freiheit besser sein würde als unter dem ägyptischen Joch. Viele Zweifler dachten, es wäre besser, den Ägyptern zu dienen, als in der Wildnis zugrunde zu gehen. Moses jedoch konnte sein Volk überzeugen, Gott zu vertrauen, der ihm versprochen hatte, sein Volk in die Freiheit zu führen. Gott hielt sein Versprechen und führte durch Moses ein unterdrücktes Volk in die Freiheit. Analog zum biblischen Exodus vertrau-

19 Volkslied (Originaltext und Musik). Go Down Moses; zit. Johnson / Johnson, Negro Spirituals (Bd. I), S. 51-53. 20 Oakley, Devil’s Music, S. 18. 21 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 120.

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ten die Afro-Amerikaner Gott, dass er auch sie in die Freiheit führen werde. Durch die Spirituals bekräftigten sie diesen Glauben.22 Daneben konnten die Sklaven gerade Go Down Moses durchaus als konkrete Aufforderung verstehen, die Flucht zu wagen und – eventuell mit Hilfe der Untergrund-Eisenbahn – in das gelobte Land, nicht in das biblische Kanaan, aber nach Kanada oder in den Norden der USA, zu fliehen. Dass die Flucht vor dem Herrscher kein Zuckerschlecken ist, sagt schon die Bibel. Durst, Hunger und viele andere Qualen müssen in Kauf genommen werden. Von irgendwoher wird Wasser und Nahrung kommen, auch wenn nicht unbedingt, wie in der Bibel beschrieben, Brot vom Himmel regnen oder Wasser aus dem Felsen sprudeln sollte.23 Go Down Moses drückt aber immer auch den Wunsch nach einem starken Führer für die unterdrückten Sklaven aus. Ein Führer, der die Kraft besitzt, wie Moses zum Pharao – dem Unterdrücker – zu gehen und ihn mit Gottes Hilfe zur Freilassung des Volkes zu überzeugen: wenn nötig mit Wunderzeichen wie der im Exodus beschriebenen Beulenpest, dem Hagel oder der Heuschreckenpest bis zum Tod der Erstgeborenen. Mit Go Down Moses wird der Wunsch nach einem Führer ausgedrückt, der die Unterdrücker zu besiegen imstande ist und sein Volk durch das Meer und die Wüste in eine bessere Zukunft führen kann.24 Mit Martin Luther King jr. lassen sich Parallelen zu einem Führer wie Moses für die segregierten Schwarzen in Amerika ziehen. Sah nicht auch King auf seine Weise den brennenden Dornbusch und empfing er nicht Gottes Botschaft, sein Volk aus der Segregation zu führen? Führte nicht auch er sein Volk auf zahllosen Freiheitsmärschen durch ein Meer des Hasses und eine Wüste der Feindseligkeit? Führte er nicht mit Gottes Hilfe sein Volk auf dem Marsch auf Washington bis vor das Weiße Haus, in dem schließlich die Gesetze zur Aufhebung der Segregation unterzeichnet wurden? Gerd Presler beantwortet diese Fragen zum Schluss seiner Martin Luther King Monographie, indem er feststellt:

22 Cone, Spirituals and Blues, S. 34ff. / Hamp, Vinzenz / Stenzel, Meinrad / Kürzinger, Josef (Hg.). Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Würzburg 19596. Exodus, 14:12-14. 23 Hamp (Hg.), Heilige Schrift, Exodus 16-17. 24 Ebenda, Exodus 9-10 / 14: 26-31.

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Die Unerschrockenheit, die Martin Luther King auszeichnete und die ihn vor Hunderttausenden von Menschen, vor Präsidenten und Senatoren, Staatsoberhäuptern und führenden Wissenschaftlern dieser Welt, vor Fernsehkameras und Rundfunkmikrofonen sprechen ließ, gab ihm niemand von Geburt an mit. Er musste erst den quälenden Sklavengeist ablegen. Aber als das gelang, trat er wie Moses vor die vielen Pharaonen dieser Welt und forderte Gerechtigkeit für sein Volk. ‚Geh hin, Mose, 25

geh nach Ägyptenland, sag Alt-Pharao: Lass mein Volk frei.‘

Konkret wurde 1961 allerdings der damals amtierende amerikanische Präsident John F. Kennedy mit Moses verglichen. Go Down Moses wurde im Kampf gegen die Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln in Albany (Georgia) zugunsten eines zeitgenössischen Textes abgeändert und folgendermaßen gesungen: Go down Kennedy Way down to Albany Tell old Pritchett

26 27

To let my people go

In der Tat trat John F. Kennedy immer wieder für die Verbesserung der Stellung der Schwarzen in den USA ein, wie er dies – beispielsweise am 12. April 1959 anlässlich einer Versammlung des United Negro College Fund28 – versprochen hatte. Zum einen half er den Bürgerrechtlern im Hintergrund, indem er sich diskret für deren Führer einsetzte. Zum anderen setzte er sich tatkräftig für die Umsetzung von Bundesgerichtsentscheiden ein. So entsandte er beispielsweise 1962 Bundestruppen und die Nationalgarde, um die Rassenkrawalle unter Kontrolle zu bringen, die im Zusammenhang mit der Zulassung und dem Zutritt des Schwarzen James H. Me-

25 Presler, Martin Luther King, S. 146. 26 Pritchett war der Sheriff von Albany. 27 Glazer, Nathan. Commentary. Vol. 38, Dez. 1964; zit. Plessner, Monika. Onkel Tom verbrennt seine Hütte. Frankfurt am Main 1973. S. 253. 28 Kennedy, John F. Der Weg zum Frieden. Allan Nevins (Hg.). (Originalausgabe: The Strategy of Peace. New York 1960.) Übersetzt von Karl Mönch und Ulrich Kayser-Eichberg. Düsseldorf 1961. S. 256-261.

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redith zur Universität im Staate Mississippi aufgeflammt waren.29 Präsident Kennedy trat auch immer wieder über die Medien vor das amerikanische Volk, forderte alle auf, die Rassenfrage zu lösen, und rief zu Desegregation und Integration auf. So erklärte er beispielsweise bei einer Pressekonferenz am 8. Mai 1963, nach Beendigung der Unruhen in Birmingham, Alabama, dass er nichts unversucht lasse, um Menschenrechte zu schützen und die Gesetze der USA zu verteidigen.30 Der neue Text des alten Spirituals darf allerdings nicht nur als konkrete Aufforderung an John F. Kennedy verstanden werden. Vielmehr wird damit verdeutlicht, dass die Spirituals nicht nur als traditionsträchtiges Erbe aufgefasst, sondern neu gelebt und verändert wurden. Durch diese Revitalisierung erhielten sie eine neue Ausdruckkraft, die es ermöglichte, Jung und Alt anzusprechen und alle im Kampf für eine Verbesserung ihrer Situation zu stärken. So vielfältig die Interpretationsmöglichkeiten sind, Go Down Moses verweist zunächst auf den Exodus, wie er in der Bibel beschrieben wird. Damit wurden hauptsächlich zwei Gruppen in ihrer Überzeugung bestärkt. Durch das Singen des Spirituals Go Down Moses wurden Martin Luther King jr. und seine Mitstreiter einerseits darin bestärkt, dass ihr Volk eine Führung brauchte, die es mit Gottvertrauen und Liebe verstand, den Exodus vorzubereiten, das Volk zu einen und gegen die Pharaonen des 20. Jahrhunderts anzutreten. Andererseits wurden die Afro-Amerikaner durch dieses Spriritual – selbst wenn sie Analphabeten waren – an die Bibel erinnert und so aufgefordert, für ihre Freiheit Leid, Pein und lange Märsche auf sich zu nehmen.

29 Kennedy, John F. Glanz und Bürde. Allan Nevins (Hg.). (Originalausgabe: The Burden and the Glory. New York 1964.) Übersetzt von Dr. Hans Lamm. Düsseldorf / Wien, 1964. S. 208. 30 Ebenda, S. 221.

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3. 1. 3 We Shall Overcome (Horton / Hamilton / Carawan / Seeger)

1. Strophe We shall overcome We shall overcome We shall overcome some day O - oh deep in my heart I do believe That we shall overcome some day

2. Strophe:

Black and white together

3. Strophe:

We’ll walk hand in hand

4. Strophe:

We shall live in peace

5. Strophe:

We shall all be free

6. Strophe:

We are not afraid...today

7. Strophe:

We shall overcome

31

We Shall Overcome bedarf keiner langen Erklärung, denn der Text ist klar und deutlich: Die Rassentrennung und Rassendiskriminierung muss überwunden werden. Schwarze und Weiße sollen zusammen in Frieden und Freiheit leben und – Hand in Hand – ohne Angst auf dieses Ziel zuschreiten. Einige Betrachtungen zu We Shall Overcome sollen an dieser Stelle jedoch aufgeführt werden. Dieses Lied, welches in starker Anlehnung an die Tradition der Spirituals entstand, wurde nämlich zur eigentlichen Hymne der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und bekräftigte mit Text und Melodie Schwarze und Weiße im Glauben an den Erfolg des gewaltlosen Widerstands. Wichtige Redner – z.B. der ehemalige Präsident Lyndon B. Johnson – flochten diesen Text in ihre Äusserungen im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung ein. Zudem gibt es unzählige Beispiele, von de-

31 Carawan, Guy / Hamilton, Frank / Horton, Zilphia / Seeger, Pete (Originaltext und Musik). We Shall Overcome; zit. Bursch, Gitarrenbuch, S. 98.

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nen im Folgenden einige aufgezeigt werden, welche bezeugen, dass das Singen von We Shall Overcome viele Bürgerrechtler moralisch unterstützte. Im Mai 1961, als in Montgomery, Alabama, Freedom Rides veranstaltet wurden, fanden sich an einem Abend in der First Baptist Church 1200 Weiße und Schwarze zu einem Gottesdienst unter der Führung von Martin Luther King jr. zusammen. Dabei kam es zu Beschimpfungen und Drohungen seitens mehrerer tausend militanter weißer Segregationisten, welche die Kirche belagerten. Sie warfen auf King eine Tränengasbombe – die ihn nur knapp verfehlte – und drohten, die Kirche in Brand zu stecken. Erst mit Hilfe der Nationalgarde konnten die Kirchenbesucher am frühen Morgen die Kirche verlassen. Während sie die Nacht hindurch in der Kirche ausharrten, sangen sie We Shall Overcome.32 Im Frühjahr 1963 standen die Führer der Bürgerrechtsbewegung in Birmingham vor einer aussichtslosen Situation, denn es war nicht genug Geld für die zur Freilassung gefangengenommener Bürgerrechtler benötigten Kautionen vorhanden. King stand vor folgender Entscheidung: Entweder blieb er auf freiem Fuß und behielt somit die Möglichkeit, durch seine Kontakte Geldmittel aufzutreiben, oder er nahm selbst als Vorbild an den Protestmärschen teil und riskierte damit, selbst verhaftet zu werden. Er entschied sich für das Gefängnis. Nachdem er dies den vierundzwanzig Anwesenden im Konferenzraum mitgeteilt hatte, bat er seinen Freund und Mitstreiter Ralph Abernathy, mit ihm zu gehen. Dieser sagte darauf, dass er schon immer mit King im Gefängnis gewesen sei und ihn nun nicht im Stich lassen könne. Darauf sangen die Anwesenden We Shall Overcome. Wie zu erwarten war, wurden beide festgenommen und in Einzelhaft gehalten. Damit entfiel die Möglichkeit, Familienangehörige, Freunde oder Anwälte zu kontaktieren. Für Martin Luther King jr. stellten diese Stunden die bis anhin längsten, verwirrendsten und zermürbendsten seines Lebens dar. Seine Gebete und Gesänge wurden schließlich erhört. Auf die Bitte von Coretta Scott King schalteten sich John und Robert F. Kennedy für King ein und er gelangte wieder auf freien Fuß.33 King war für den weiteren Verlauf der Demonstrationen unentbehrlich. Das Organisationskomitee entschied, auch schwarze Schulkinder – ein umstrittenes Vorhaben – in die Demonstrationen einzubeziehen. Am Donnerstag, 2. Mai 1963 zogen die ersten Kinder-Demonstrationszüge nach einem

32 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 161. 33 King, Jr., Why We Can’t Wait, S. 543-544.

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von King gehaltenen Gottesdienst in die Innenstadt und sangen das Lied We Shall Overcome. Alle wurden verhaftet. Welle um Welle marschierte singend los, um das gleiche Schicksal zu erleiden. 959 Protestierende wurden verhaftet und in Gefängnisse gebracht.34 Es wurden im Fernsehen Bilder von Kindern gezeigt, die durch die Polizei mit Wasserwerfern zur Beendigung der Demonstrationen gezwungen wurden. King beschreibt eine andere, weniger brutale, dafür umso eindrücklichere Szene, indem er die Stimme eines demonstrierenden Mädchens mit dem Klang einer Himmelstrompete vergleicht: One of the most ringing replies came from a child of no more than eight who walked with her mother one day in a demonstration. An amused policeman leaned down to her and said with mock gruffness: „What do you want?“ The child looked into his eyes, unafraid, and gave her answer. „F’eedom,“ she said. She could not even pronounce the word, but no Gabriel trumpet could have sounded a truer note.

35

Im selben Jahr fand der legendäre Marsch auf Washington statt. Dieser Anlass widerspiegelt den Geist von We Shall Overcome vielleicht am besten, denn da marschierten und sangen Schwarze und Weiße zusammen, um für Gleichberechtigung zu demonstrieren. Friedlich marschierten Schwarze und Weiße, Reiche und Arme, Junge und Alte, Hand in Hand auf das Lincoln-Denkmal zu, um für eine Verbesserung der Situation zwischen Weiß und Schwarz zu singen. We Shall Overcome wurde nicht nur während großen Kundgebungen gesungen, sondern ebenfalls im kleinen Rahmen vor wichtigen Entscheidungen oder Ereignissen. Das Lied bedeutete nicht nur Ermunterung in schwierigen Situationen, sondern auch Lobgesang für errungene Siege. So wurde We Shall Overcome anlässlich einer Predigt von Martin Luther King sen. im Rahmen der Friedensnobelpreis-Verleihung an seinen Sohn in Stockholm gesungen. Wieder zurück in der Heimatstadt Atlanta, wurde ein Bankett mit 1500 schwarzen und weißen Teilnehmern zu Ehren von Martin Luther King jr. gegeben. Die Hymne der Bürgerrechtsbewegung stellte für

34 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 184. 35 King, Jr., Why We Can’t Wait, S. 546-547.

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einmal nicht Aufmunterung zu einem Protestmarsch dar, sondern frohen Gesang über die errungene Überwindung der Rassenschranken. Coretta Scott King beschreibt den Anlass so: Neger und Weiße aller Schichten waren gekommen. Richter und führende Industrielle saßen am gleichen Tisch mit Köchen und Gepäckträgern, alle absichtlich gemischt. Das Publikum war etwa zu fünfundsechzig Prozent weiß und zu fünfunddreißig Prozent schwarz. Es schien, als sei ganz Atlanta da – und völlig integriert. Zehn Jahre, fünf Jahre, ja noch ein Jahr zuvor wäre solch ein Anblick in einer Stadt des Südens undenkbar gewesen. [...] Am Ende der Festlichkeiten, nach all den schönen Huldigungen, fassten wir uns bei den Händen und sangen „We Shall Over36

come“.

Es ist nicht erstaunlich, dass sich Martin Luther King jr. im Kampf um Integration auf die Spirituals bezog, denn sie stellen das eigentliche Erbe der schwarzen Kirche dar. Die Texte drücken Glaube und Hoffnung auf eine bessere Welt aus und beziehen sich im weiteren wie auch im engeren Sinn auf die Bibel. Das Neue Testament bildet einerseits das Grundgerüst von Kings Philosophie des gewaltlosen Widerstands. Anderseits beschreibt das Alte Testament mit der ägyptischen Unterdrückung der Israeliten eine klare Analogie zur Situation der Afro-Amerikaner und zeigt mit Moses als Führer die Möglichkeit eines Exodus aus der Unterdrückung in die Freiheit auf. Damit ist allerdings die Theorie noch nicht in die Praxis übergeführt. Doch die Spirituals oder Freiheitslieder, wie sie in der Bürgerrechtsbewegung genannt wurden, bilden eine Verbindung von Theorie und Praxis. Zum einen können Spirituals komplexe Gedanken und biblische Geschichten in einfache Worte fassen und so allen zugänglich machen. Zum anderen geben Lieder wie We Shall Overcome den friedlichen Demonstranten auf Protestmärschen Mut, Hoffnung und Glaube, nicht vom Weg der Gewaltlosigkeit abzukommen, und führen somit nicht durch Gewalt, sondern durch Gesang zum Ziel.

36 King, Coretta Scott, Mein Leben mit Martin Luther King, S. 21.

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3. 2 D ER B LUES Der Blues ist das weltliche Gegenstück zum religiösen Spiritual. Im Blues ist nicht die Bibel, sondern die eigene alltägliche Erfahrung Quelle der Inspiration. Die profanen Probleme des täglichen Lebens sind Themen des Blues. So sind – ob positiv oder negativ – Geld und Arbeit, Glücksspiel und Gefängnis, Tanzen und Trinken sowie Liebe und Sex immer wiederkehrende Themen. Der Blues scheut nicht davor zurück, von moralischen Verfehlungen zu singen. Er drückt Angst, Wut und Trauer, teilweise auch sozialen Protest aus. Da allerdings bezüglich des sozialen Protests kontroverse Auffassungen bestehen, stellt sich gerade im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung die Frage, ob und wie sich dieser manifestiert. Bevor auf diese Frage eingegangen wird, werden zunächst den Texten des Blues einige vorangehende allgemeine Betrachtungen gewidmet. Samuel Charters, selbst Jazzmusiker und Autor verschiedener musikwissenschaftlicher Bücher über den frühen Jazz und den traditionellen Blues, hebt die Vitalität und Energie der Poesie des Blues hervor. Die Intensität und Direktheit der Reflexion der alltäglichen Realität verleiht dem Blues die prägnante Ausdruckskraft. Der Blues drückt sich oft nur in einigen wenigen Zeilen aus, doch innerhalb dieser wenigen Zeilen ist die emotionale Aussage stark und lebendig und die Gedanken sind in sich geschlossen.37 Konventionelle Moralvorstellungen werden im Blues wenig beachtet. Die Haltung gegenüber Ehe und Treue ist beispielsweise im Gegensatz zu anderen Volksliedern der amerikanischen Gesellschaft nicht sehr kritisch. So wird im Blues mit einer vollständigen Ehrlichkeit die Realität von Promiskuität mit einem resignierten Schulterzucken akzeptiert. Untreue ist in den Texten eine allgemeine Erfahrung, doch heißt dies nicht, dass sie dadurch weniger schmerzhaft wird. Der Blues überzeugt gerade damit, dass er negative Aspekte des Lebens aufzugreifen und zu verarbeiten vermag, an die sich andere Lieder – z.B. die Spirituals – nicht heranwagen.38 Da im Blues sexuelle Tabus nicht beachtet werden, erscheint er im Gegensatz zu den Spirituals oft minderwertig oder schmutzig. Anderseits, so hebt Charters hervor, kann gerade die offene Thematisierung der sexuellen

37 Charters, Poetry of the Blues, S. 14. 38 Ebenda, S. 62.

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Liebe, die oft mit schillernden Metaphern – z.B. die Schlange als Phallussymbol – ausgedrückt wird, als poetische Stärke gewertet werden. So verweist er beispielsweise auf die folgenden Zeilen: Um - um, black snake crawling in my room Um - um, black snake crawling in my room Yes, some pretty mama better get this black snake soon

39

Im Gegensatz zum Weißen Samuel Charters, der vor allem die lyrische Stärke in den erotischen Textstücken sieht, gewinnt der Schwarze James H. Cone diesen eine tiefergehende Komponente ab. Gerade weil die AfroAmerikaner unter härtesten Bedingungen die Unterdrückung überlebt haben, können sie sowohl körperliche wie spirituelle Freuden – welche gemäß Cone keinesfalls getrennt werden dürfen – umso mehr schätzen. Erst wenn man am Rande des Lebens gelebt hat, kann das Fühlen und Spüren des Lebens und dessen Schönheit durch Liebe und Sex mit anderen geteilt werden. Leute, die nie die physische Unterdrückung erlebt haben, können kaum die Kraft der körperlichen Liebe erkennen.40 Ebenso betont Cone, dass es eine klare Unterscheidung zwischen Geist und Körper, göttlich und menschlich, sakral und säkular, wie sie in der westlichen Kultur vorherrscht, für die Schwarzen nicht gibt. Er hebt hervor, dass für die Afro-Amerikaner der menschliche Körper etwas Geheiligtes ist, der durchaus eine geistige Funktion besitzt und Ausdruck reiner Liebe sein kann. Der Blues verwirft die abendländische Unterscheidung zwischen Seele und Körper und besingt mit Erotismen den körperlichen Ausdruck der schwarzen Seele.41 Der schwarze Schriftsteller James Baldwin formuliert diese Gedanken in seinem Aufsatz The Fire Next Time so: The word „sensual“ is not intended to bring to mind quivering dusky maidens or priapic black studs. I am referring to something much simpler and much less fanciful. To be sensual, I think, is to respect and rejoice in the force of life, of life itself,

39 Charters, Poetry of the Blues, S. 80. 40 Cone, Spirituals and Blues, S. 114-115. 41 Ebenda.

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and to be present in all that one does, from the effort of loving to the breaking of bread.

42

Unter diesem Aspekt sollen auch die folgenden Zeilen verstanden werden, welche mittels Metaphern Treulosigkeit beklagen: Peach Orchard Mama, you swore nobod’d pick your fruit but me Peach Orchard Mama, you swore nobod’d pick your fruit but me 43

I found three kid men shaking down your peaches free

Der Schmerz der Trennung und der Einsamkeit ist ein ebenso häufiges Thema wie der Schmerz der Promiskuität und Untreue. Der oft unfreiwillige Wohnortswechsel, die Suche nach besserer Arbeit, die Flucht vor Gefängnis oder Lynchjustiz oder der Kriegsdienst während den beiden Weltkriegen lässt die Trennung als immer wiederkehrendes Thema im Blues erscheinen. So besingt einer der ältesten Bluesverse in einfachen Zeilen die Frustration, welche durch Einsamkeit und Heimatlosigkeit ausgelöst wird: Feeling tomorrow, like I feel today Feeling tomorrow, like I feel today 44

I’ll pack my suitcase, make my get away

Viele Männer, aber auch Frauen, mussten oder wollten weg- oder weiterziehen und ließen ihre Geliebten als trauernde Verlassene zurück. Die Erfahrung, welche die Bluessängerin Ma Rainey beschrieben hat, wird immer wieder besungen: My man left this morning just about half past four My man left this morning just about half past four He left a note on the pillow saying he couldn’t use me no more I grabbed my pillow, turned it over in my bed I grabbed my pillow, turned it over in my bed I cried about my daddy until my cheeks turned cherry red

42 Baldwin, Fire Next Time, S. 53. 43 Cone, Spirituals and Blues, S. 117. 44 Charters, Poetry of the Blues, S. 68.

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It’s awful hard to take it, it was such a bitter pill It’s awful hard to take it, it was such a bitter pill 45

If the blues don’t kill me that man’s meanness will

Durch die ständige Wanderschaft entstanden unzählige Songs, die mit den Namen von spezifischen Überlandstrassen, z.B. Highway 49, Highway 51, Route 66 etc., betitelt wurden. Zum Teil standen diese Namen für vergangene Reisen und die damit verbundenen Erfahrungen, zum Teil waren sie Symbol für eine verheißungsvolle Zukunft. Ein Leben als herumziehender Bluessänger – im Gegensatz zu den heutigen Trampern – war keinesfalls romantisch, sondern in der Regel einsam, beschwerlich und gefährlich. So sind folgende Zeilen nicht erstaunlich: I says I’m leaving in the morning, I’m going to travel 61 by myself I says I’m leaving in the morning, I’m going to travel 61 by myself 46

So’s I get killed on my journey no one will know my death

Durch das ständige Herumziehen der Bluesmusiker kommen Züge und Greyhound-Busse als immer wiederkehrendes Motiv in den Bluestexten vor. Der früh verstorbene Robert Johnson sang beispielsweise in Me and the Devil: You can bury my body, down by the highway side Lord, my old evil spirit can catch a Greyhound bus and ride

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Durch den häufigen Gebrauch erhielten die Pfiffe und das Rattern der Züge, welche allesamt zu ähnlichen Aussagen verwendet wurden, traditionellen Charakter. So war es der grelle Pfiff einer Lokomotive, der einen an den Verlust des oder der Geliebten erinnerte, das Rattern der Räder, das einem bewusst werden ließen, dass man zu den Entwurzelten gehörte. Die Züge mussten auch als Sündenböcke für die eigene missliche Lage herhalten. So

45 Charters, Poetry of the Blues, S. 68-69. 46 Ebenda, S. 70. 47 Ebenda, S. 71.

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beklagte sich beispielsweise Charlie McCoy: „That Lonesome Train Took My Baby Away“48. Anderseits, so betont Cone, stellen gerade die Züge und Busse Symbole der Bewegung dar und lassen damit auf eine bessere Zukunft für die AfroAmerikaner hoffen. Diese Hoffnung wird einerseits mit der historischen Erfahrung begründet, dass trotz extremen Bedingungen die AfroAmerikaner überlebt haben, und anderseits dadurch, dass Bewegung und Veränderung zwangsläufig zum Besseren führen müssen, da es schlimmer nicht mehr werden kann.49 Doch wie soll sich die Situation verbessern? Soll der einzelne Schwarze die individuelle Verbesserung anstreben und beispielsweise in den goldenen Westen oder Norden abwandern und in Großstädten wie Los Angeles, Chicago oder New York eine bessere Zukunft suchen? Oder soll er mittels sozialen Protests eine allgemeine Verbesserung der Lebenssituation der Afro-Amerikaner anstreben? Charters findet im Blues nur wenig sozialen Protest. Vielmehr erkennt er den Ausdruck der Trennung zweier rassischer Gruppen und betont, dass der Blues ohne diese Trennungslinie zwischen Schwarzen und Weißen nie entstanden wäre. Der Blues ist eine Musikform, welche die afroamerikanische Gesellschaft widerspiegelt. Obwohl der soziale Protest vielleicht nicht offenkundig ist, so ist der Blues ein Ausdruck der AfroAmerikaner im weißen Amerika und damit sind rebellische Untertöne fast zwangsläufig vorhanden.50 Cone hingegen sieht sehr wohl sozialen Protest im Blues. Allerdings gesteht er ein, dass der Blues die weiße Gesellschaft nicht offen kritisiert. Er wehrt sich jedoch vehement gegen die Behauptung, die Blues-Sänger hätten die Diskriminierung offen hingenommen, da der Protest im Blues nicht offenkundig sei. Dies ist in der Tat eine allzu einfache Erklärung, die einer genaueren Betrachtung kaum standhält. Denn es wäre den BluesInterpreten kaum möglich gewesen, Lieder mit klarem, sozialem Protest vor weißem Publikum aufzuführen, geschweige denn, diese Lieder in den Studios der Weißen aufzunehmen. Die Afro-Amerikaner hatten schlicht die notwendige politische Macht nicht, den Protest zu verbalisieren, denn

48 Charters, Poetry of the Blues. S. 71. 49 Cone, Spirituals and the Blues, S. 124. 50 Charters, Poetry of the Blues, S. 9-10.

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schon bei kleinsten Vergehen drohte ihnen Freiheitsentzug oder gar Lynchjustiz. Doch der Blues schaffte Identität und vermittelte Freiheit, wenn auch bloß musikalische Freiheit, und stellte eine Möglichkeit zu passivem Widerstand gegenüber weißen Wertvorstellungen dar.51 Ob direkter oder indirekter Protest im Blues vorhanden ist, ist schließlich von geringer Bedeutung. Der Blues erhält nämlich gerade durch die pointierte Beschreibung der eigenen Lebenserfahrung von Freude und Schmerz – ohne Anklage zu erheben – und durch ehrliche Trauer – ohne Mitleid zu erwecken, sondern Gefühle zu vermitteln – eine universale, zeitlose Bedeutung. Damit erhebt er sich zu wahrer Kunst und durchbricht Rassenschranken. Unter diesem Aspekt gewinnt der Blues auch an Bedeutung für die Bürgerrechtsbewegung, welche zum Ziel gehabt hat, die Grenzen der Rassendiskriminierung aufzuheben. Die vorhergehenden Ausführungen sollen anhand drei ausgewählter Bluestexte im Folgenden genauer erörtert werden. Im Unterschied zu den Spirituals, welche Allgemeingut sind, stellen diese Bluestexte Erzeugnisse einzelner Bluesmusiker dar und sind somit rechtlich geschützt. Da jedoch vielfach Kompositionen von verschiedenen Interpreten in ähnlicher Form vorgetragen und aufgenommen wurden, besitzen auch die Bluestexte volkstümlichen Charakter und repräsentieren einen allgemeingültigen Wert.

3. 2. 1 I Just Want to Make Love to You (Willie Dixon) I don’t want you be no slave I don’t want you work all day I don’t want ’cause I’m sad and blue I just wanna make love to you Oh baby, love to you Oh baby, love to you Oh baby, love to you I don’t want you cook my bread I don’t want you make my bed

51 Cone, Spirituals and the Blues, S. 118-122.

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I don’t want your money too I just wanna make love to you Oh baby, love to you Oh baby, love to you Oh baby, love to you But I could tell by the way that you switch and walk See by the way that you baby talk I know by the way that you treat your man I could love you baby till I cry of shame I don’t want you wash my clothes I don’t want you clean the hall I don’t want ’cause I’m sad and blue I just want to make love to you Oh baby, love to you Oh baby, love to you Oh baby, love to you

52

Der Komponist, Sänger und Bassist Willie Dixon (1915-1992) wurde in Vicksburg, Mississippi, geboren. Er inspirierte unzählige Musiker und schrieb Songs für beispielsweise Muddy Waters, Howlin’ Wolf, Bo Diddley, Chuck Berry und viele weitere. Schon als Jugendlichem gelang es ihm, in seiner Heimat Kompositionen an Bands zu verkaufen, doch sein bedeutendstes Betätigungsfeld wurde Chicago. Dort arbeitete er während der fünfziger Jahre als Komponist, Arrangeur und Studiomusiker für die bekannte, bluesorientierte Plattenfirma Chess Records. Während der sechziger Jahre war er unter anderem für die musikalische Leitung des American Folk-Blues Festival in Europa verantwortlich, das vom Veranstalter Horst Lippmann ins Leben gerufen worden war. Ende der sechziger, anfangs der siebziger Jahre trat er wieder selber auf und veröffentlichte I am the blues, ein Album, das seine bekanntesten Songs enthielt. Während der siebziger

52 Dixon, Willie. I Just Want to Make Love to You.; zit. The Rolling Stones. Concise 2. Essex 1995. No. 35.

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Jahre wurde ihm bewusst, wieviel Geld ihm aufgrund ungerechter Verträge entgangen war, und er begann für seine Kompositionsrechte und die damit verbundenen Tantiemenzahlungen erfolgreich zu kämpfen. Mit zunehmendem Alter erhielt Willie Dixon grosse Anerkennung einer breiten Öffentlichkeit, was ihm 1992 sogar einen Auftritt an der Inaugurationsfeier des amerikanischen Präsidenten George Bush sen. bescherte.53 Präsidenten hatten jedoch nicht immer ein offenes Ohr für BluesMusiker. Alan Lomax, der mit seinem Vater das Archive of American Folk Song in der Library of Congress gründete und unzählige Anthologien und Aufnahmen von Volksliedern veröffentlichte, gibt in The Land Where the Blues Began folgendes Beispiel: Muddy Waters und seine Band – mit Willie Dixon am Bass – war bei seinem Auftritt am Poor People’s March on Washington afrikanischer als jede Jazzband. Mit unkonventionellen Harmonien und vertrackten Polyrhythmen gelang es ihr wie keiner anderen Band, das Lebensgefühl in den Ghettos des mittleren Westens und des tiefen Südens auszudrücken. Die Politiker und die Administration Nixon hörten diesen Musikern und ihren Anliegen kaum zu, dafür fühlten sich unzählige andere Hörer angesprochen und durch den Blues verstanden.54 I Just Want to Make Love to You aus dem Jahre 1959 zeigt sehr deutlich, dass – im Gegensatz zu den Spirituals – Sex im Blues keinesfalls ausgeklammert wird. Doch der Titel I Just Want to Make Love to You führt nicht, wie man zunächst annehmen könnte, zu einer bloßen Huldigung an die körperlichen Liebe, sondern gebraucht diese, um den Kontrast zu den täglichen Strapazen etwa einer schwarzen Hausangestellten im Dienst ihrer weißen Herrin aufzuzeigen. Die Komposition verliert damit auch ihre durch den Titel suggerierten sexistischen Züge. Gerade die erste Zeile I don’t want you be no slave verweist klar auf das afro-amerikanische Erbe, ohne welches diese Zeile kaum hätte entstehen können. Dabei ist die Anspielung auf das Heer der Mägde und Knechte im Dienst besserer oder schlechterer Arbeitgeber unübersehbar. Für viele Schwarze bedeutete eine Anstellung in einem weißen Haushalt oft einen relativ hohen finanziellen Erwerb und damit eine Erhöhung des Lebensstandards sowie der sozialen Stellung. Das

53 Bogdanov, Vladimir / Erlewine, Michael / Woodstra, Chris / Koda, Cub. All Music Guide to the Blues, San Francisco 1996. S. 72. / Oliver, The New Grove, S. 146. 54 Lomax, Land Where the Blues Began, S. 420-422.

I NTERPRETATION AUSGEWÄHLTER L IEDTEXTE | 137

gleiche galt während der Sklavenzeit, wie oben dargelegt, als die Sklaven noch in Feld- und Haussklaven unterteilt waren. Doch auch mit einer besseren Anstellung in einem weißen Haushalt lebte der oder die Schwarze in hoher Abhängigkeit.55 Unter diesem Aspekt richtet sich I Just Want to Make Love to You gerade gegen diese Abhängigkeit und beinhaltet damit auch verdeckten Protest.

3. 2. 2 Around and Around (Chuck Berry) I said the joint was rockin’ Goin’ around and around Yeah reelin’ and rockin’ What a crazy sound And they never stopped rockin’ ’Til the moon went down Well it sounds so sweet I had to take my chance Rose out of my seat I just had to dance Started moving my feet And clapping my hands I said the joint was rockin’ Goin’ around and around Yeah reelin’ and rockin’ What a crazy sound And they never stopped rockin’ ’Til the moon went down Yeah at twelve o’clock Yeah the place was packed Front doors was locked Yeah the place was packed

55 Vgl. Kapitel 1. 3 (S. 56ff).

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And when the police knocked Those doors flew back But they kept on rockin’ Goin’ around and around Yeah reelin’ and rockin’ What a crazy sound And they never stopped rockin’ ’Til the moon went down

56

Chuck Berry wurde am 18. Oktober 1926 in St. Louis, Missouri, geboren und gilt heute als eine der bedeutendsten und einflussreichsten schwarzen Persönlichkeiten in der Geschichte des Rhythm & Blues und des Rock & Roll. Er ist sowohl beim schwarzen Publikum wie bei weißen Jugendlichen äußerst erfolgreich, und ihm ist es gelungen, weiße und schwarze Künstler gleichermaßen zu beeinflussen. Mit sechs Jahren sang er im lokalen Kirchenchor und formierte als Jugendlicher seine erste Band. 1955 reiste er nach Chicago, um dort mit Muddy Waters zu spielen. In Chicago erhielt er bald selbst einen Plattenvertrag. Damit begann eine Karriere, die ihn zum musikalischen Rebellen und ersten Rock & Roll-Poeten werden ließ.57 Das 1958 veröffentlichte Around and Around widerspiegelt deutlich, wie die Parties der Afro-Amerikaner ausgesehen haben müssen, nämlich wild und fröhlich. Alle tanzten und tranken und hatten eine gute Zeit. Alles wiegte sich im Takt und drehte sich im Kreis. Die Musik klang verrückt und das Fest dauerte bis in die frühen Morgenstunden, bis der Mond unterging. Beschreibungen solcher Szenen sind bereits aus der Sklavenzeit bekannt. Damals „stahlen“ sich die Afro-Amerikaner „zu Jesus“, wie es im alten Spiriutal Steal Away to Jesus heißt. Sie trafen sich im Geheimen, sei es in Wäldern, in Sümpfen oder in einer Sklavenhütte, wo sie dann nächtelang beteten, sangen und tanzten. Nach Möglichkeit sollten die Sklavenaufseher dies nicht erfahren, doch konnten Einzelne ihre Gefühle nicht unter-

56 Berry, Chuck. Around and Around; zit.The Rolling Stones. Concise 2. Essex 1995. No. 4. 57 Helander, Brock. The Rock Who’s Who. New York 1982. S. 38.

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drücken und bekundeten ihren Schmerz oder ihre Freude in lauten Gesängen, wieder andere fielen sogar in Ohnmacht.58 Dank der Emanzipation nach dem Sezessionskrieg durften die AfroAmerikaner singen und tanzen wie sie wollten, dies jedoch auch nicht überall und zu jeder Zeit. Gerade im Süden gab es Quartiere, die für Schwarze bestimmt waren und – inoffiziell – nicht von Weißen frequentiert werden durften. Anderseits durften sich Schwarze – im Süden z.T. offiziell verboten – nach Sonnenuntergang auf Strassen und öffentlichen Plätzen nicht mehr blicken lassen, geschweige denn ihre Parties feiern. So traf man sich in entlegenen Hütten, an Miet-Parties59 oder im schwarzen Quartier. Das bunte Treiben in den schwarzen Bars und Clubs in Harlem war allgemein bekannt, und so wurde Harlem teilweise gerade wegen der dort überbordenden Emotionalität auch von Weißen besucht. Doch im allgemeinen waren schwarze Quartiere und deren Clubs den Polizeikräften ein Dorn im Auge, und so kam es regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Ordnungshütern und Tanzfreudigen.60 Wie wichtig diese Zusammenkünfte für die Schwarzen und ihre Identität waren, beschreibt James Baldwin in The Fire Next Time. Diese Parties gewährten gemäß Baldwin eine Art Freiheit für alle. Die gemeinsam erlittene Unterdrückung und die besonderen, nur den Schwarzen auferlegten Risiken verbanden alle: Zuhälter, Huren, Ganoven, Gemeindemitglieder und Kinder. Mit Hilfe afro-amerikanischer Musik konnten sie dieser Situation an gemeinsamen Parties entfliehen und die Weißen vergessen. Denn im Jazz, und besonders im Blues, lag etwas Herbes und Ironisches, etwas Strenges und Doppelsinniges. An den Parties konnten sich die Schwarzen mittels der Musik so geben, wie sie waren, und damit ein Gefühl der Freiheit erlangen.61 Dies alles soll in Around and Around ausgedrückt werden. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit soll vermittelt werden und ein Gefühl, dass diese Art zu leben und zu feiern nichts Falsches oder Minderwertiges darstellt, auch wenn sie der calvinistischen Lehre der amerikanischen Gründerväter entgegengesetzt ist. Dabei sind der schweißtreibende Rhythmus und der

58 Wirz, Sklaverei, S. 155. 59 Vgl. Kapitel 1. 3 (S. 56ff.). 60 Lomax, Land Where the Blues Began , S. 3-12. / Malcolm X, Autobiography. 61 Baldwin, Fire Next Time, S. 51-52. Vgl. Kapitel 1. 3 (S. 56ff.).

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aufpeitschende Gesang ebenso wichtig wie der Text selbst. Er soll zu Tanz und zu Lebensfreude aufrufen, doch kann er – vor allem in weißen Ohren – ebenso gut als Kriegsgeschrei gedeutet werden. Vor allem in der letzten Strophe ist zudem ein versteckter Protest enthalten, denn trotz der Polizei wird – zumindest im Song – weitergetanzt und weitergefeiert. Ob dies der Realität entspricht, ist zweifelhaft, doch der Aufruf zum Kampf für das Recht zum Tanzen und Feiern ist zumindest latent vorhanden und somit ansatzweise auch ein Aufruf zum Kampf für Gleichberechtigung.

3. 2. 3 You Gotta Move (Fred McDowell) You gotta move, you gotta move You gotta move, child, you gotta move Oh when the Lord gets ready You gotta move You may be high, you may be low You may be rich child, you may be poor But when the Lord gets ready You gotta move You see that woman that walks the street You see that policeman out on his beat But when the Lord gets ready You gotta move You gotta move, you gotta move You gotta move, child, you gotta move Oh when the Lord gets ready 62

You gotta move

Fred McDowell (1904-1972) wurde in Rossville, Tennessee, geboren. Er begann mit vierzehn Jahren Gitarre zu spielen. Seine Spezialität war das

62 McDowell, Fred (Originaltext und Musik). You Gotta Move; zit. The Rolling Stones. Complete, Essex 1981. No. 169.

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Slide-Gitarren-Spiel, wobei die Saiten nicht mit den Fingern, sondern mit einem Glas- oder Metallröhrchen gedrückt werden. Darin entwickelte er eine persönliche Technik und kreierte seinen eigenen Stil. Nach dem Tod seiner Eltern begann er als Jugendlicher auf der Suche nach Arbeit von einem Ort zum anderen zu ziehen, bis er sich schließlich in Como, Mississippi, niederließ. Sein Gesang und sein Gitarrenspiel blieben lange einem großen Publikum verborgen, bis ihn Alan Lomax auf einer Studienreise durch den Süden der USA 1959 entdeckte. Vor allem Chris Strachwitz machte Fred McDowell in der Folge einem breiten Publikum bekannt, indem er für McDowell Aufnahmen machte, diese veröffentlichte und Konzerte für ihn organisierte. In seinen letzten paar Lebensjahren genoss McDowell großen Ruhm und spielte sowohl in den USA wie auch in Europa an verschiedenen Veranstaltungen und Festivals.63 Alan Lomax, der selbst verschiedene Aufnahmen von Fred McDowell machte, bezeichnet diesen Sänger und Gitarristen als musikalischen Vater von Blues-Interpreten wie Muddy Waters, Chuck Berry oder Willie Dixon. Fred McDowell war der typische Vertreter des Delta-Blues, dessen Stil von traditionellen Hymnen und Texten sowie persönlicher Inspiration geprägt war. Er spielte, wann immer ihn jemand hören wollte. Zwar zog er als Wanderarbeiter lange Zeit von Farm zu Farm, arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, doch an den Wochenenden spielte er an Tanzveranstaltungen sowie Kirchenanlässen und teilte mit seinem Gesang Freud und Leid seiner schwarzen Brüder und Schwestern.64 Der 1964 in Berkeley, Kalifornien, aufgenommene Song You Gotta Move verdeutlicht, dass der Blues und die Spirituals die gleichen Wurzeln besitzen, wobei der Blues persönlicher ist. Wenn Gott bereit ist, wenn Gott will, musst du dich bewegen, verändern oder du musst – move im übertragenen Sinn – sterben. Ob du zur Ober- oder zur Unterschicht gehörst, ob du reich oder arm bist, wenn Gott will, musst du gehen. Somit sind rassische oder soziale Schranken aufgehoben. Dies wird zwar zunächst nur in Erinnerung gerufen, doch mit der ständigen Repetition bekommt der Song einen auffordernden, ja ermahnenden Charakter. Es darf nie vergessen werden, dass alle Menschen schließlich gleich sind. Sie sollten damit auch gleiche Rechte und Pflichten haben. Sie sollten vor dem Gesetz – und in Bezug auf

63 Bogdanov, Music Guide to the Blues, S. 185-186. 64 Lomax, Land Where the Blues Began, S. 328.

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die Bürgerrechtsbewegung – an der Urne, in den Schulen, den Geschäften und öffentlichen Gebäuden gleichberechtigt sein. Denkt man an die Freiheitsmärsche während der Bürgerrechtsbewegung, bekommt die Aufforderung You Gotta Move noch eine konkretere Note. Du musst dich bewegen, musst marschieren, um damit etwas zu verändern. Dies ist allerdings mit Gefahr verbunden. You see that woman that walks the street, You see that policeman out on his beat verweist auf die Gefahr, dass eine friedlich marschierende Frau von der Polizei geschlagen und abgeführt werden kann. Bilder vom brutalen Vorgehen der Polizei gegen friedlich marschierende Demonstranten während der Bürgerrechtsbewegung wurden am Fernsehen oft genug gezeigt. Der Polizist auf Streife ist in der stärkeren Position. Er kann die Frau mit oder ohne Grund bedrohen, kann seine gesetzlich bedingte Autorität missbrauchen. Doch schließlich werden beide sterben, werden beide, wenn vielleicht auch nicht vor dem weltlichen Richter, so doch vor Gott, gleich sein. Auch wenn Gefahr droht, muss man – musst du – weitermarschieren und für diese Gleichheit einstehen. Wiederum ist der Protest oder der Aufruf zum Widerstand verdeckt. Es wird nichts und niemand angeklagt und nichts bedauert. Es wird bloß aufgezeigt. Dies allerdings mit einer Schärfe, welche ein Anklagen oder Beklagen hinfällig werden lässt. Der Glaube an die göttliche Gerechtigkeit genügt. Damit ist es Fred McDowell auch gelungen, an moralische Werte zu erinnern, ohne Moralist zu sein, und so im Sinne der afrikanischen Musiker – z.B. der Jali oder Dagbon-Trommler65 – zu wirken. Sicherlich beinhalten bei weitem nicht alle Bluessongs versteckten Protest oder unterschwellige Sozialkritik, doch es wäre falsch, den Blues generell als leichte Unterhaltungsmusik abzutun. Vielmehr stellt der Blues ein tief in der afro-amerikanischen Tradition verankertes Lebensgefühl dar, das sowohl in der Musik, wie auch in den Texten reflektiert wird. Dadurch ist es ihm gelungen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schwarzen zu stärken und ihnen Selbstbewusstsein, Vertrauen und Kraft zu geben, um die Diskriminierung zu ertragen und den Kampf gegen diese zu führen. Die Texte des Blues bestechen mit einer kindlichen Naivität, einer subtilen Beschreibung und einem ungebrochenen Lebenswillen. Eine direkte Anklage oder bloßes apathisches Selbstmitleid lässt sich jedoch nicht finden. Gerade dadurch erhebt sich der Blues zur Kunst, welche schließlich auch von ei-

65 Vgl. Kapitel 1. 1 (S. 41ff.).

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nem weißen Publikum gehört wird und damit neues soziales Bewusstsein zu schaffen vermag. Samuel Charters formulierte dies 1963 folgendermaßen: There will be social change [...] in the United States, and if the blues simply mirrored the protest of the moment they would finally have little more than a historical interest[...] Instead, as the Negro in America has struggled to find a life on the other side of the racial line he has turned to the blues as the expression of his personal and immediate experience, and in their directness and in their concern with what the singers call the „[...]true feeling“ the blues express a larger human reality. In the honesty of their emotion is an insistent reminder that on either side of the racial line live only other men and women, who find the same moments of pain and joy in the experience of life.

66

Der Blues ist also das weltliche Gegenstück zum religiösen Spiritual. Die Wurzeln sind die gleichen, doch mit dem Blues wird die andere Seite der Medaille beleuchtet. Es wird nicht auf die Bibel Bezug genommen, sondern auf die alltägliche eigene Erfahrung. Nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben – die Erlösung von Unterdrückung – wird besungen, im Blues wird die alltägliche Hoffnungslosigkeit, der Schmerz der Unterdrückung geschildert. Der Blues erscheint dadurch oft als negativ, während das Spiritual als positiv empfunden wird. Der Beweggrund für den Gesang bleibt allerdings bei beiden der gleiche: Das Leben sollte besser sein, die aktuelle Situation sollte sich zum Besseren verändern. Der Blues bemüht sich, diese Veränderung herbeizuführen, indem er sich gewissermaßen am Negativen abstößt, während das Spiritual versucht, sich zum Positiven hochzuziehen. Bildlich gesprochen will der Blues die einengende Mauer der Segregation überwinden, indem er den harten Boden der Realität gebraucht, um über diese Mauer zu springen, während das Spiritual sich am Glauben hochzuziehen hofft, um so die gleiche Mauer zu überwinden und die gewünschte Anerkennung in Gleichheit und Freiheit zu erlangen. Dieses uralte Verlangen, das sich in der Musik seit Generationen manifestierte, zeigte sich mit der Bürgerrechtsbewegung erstmals auch politisch und inspirierte so durch das gesungene Wort die politische Tat.

66 Charters, Poetry of the Blues, S. 110.

4. Bedeutung der afro-amerikanischen Musik in der Gesellschaft

Ein Musiker ist Musiker, nicht Politiker. Trotzdem übt er Einfluss auf soziale und politische Veränderungen in der Gesellschaft aus, zum einen, indem er Strömungen in seiner Musik aufnimmt und reflektiert, zum anderen, indem er mit Wort und Tat eine politische oder soziale Haltung verkörpert. Diese Haltung wiederum wird von der Gesellschaft wahrgenommen und reflektiert, womit sich Musiker und Gesellschaft gegenseitig stimulieren. Wie sich diese Interaktion manifestiert, ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Wie reagierte die Gesellschaft auf die Musik und die Musiker? Wie äußerte sich der Musiker als Staatsbürger zum Rassenproblem in den USA, wie stellte er sich dazu? Wie wirkte er auf sozio-politische Veränderungen ein?

4. 1 D ER M USIKER

ALS

S TAATSBÜRGER

Der amerikanische Präsident Thomas Jefferson betrachtete in seinen 1785 erschienenen Notes on the State of Virginia die Vernunft der Schwarzen gegenüber derjenigen der Weißen als weit unterlegen, doch er attestierte immerhin, dass die musikalischen Begabungen der Afro-Amerikaner gegenüber denjenigen der Weißen besser seien.1 Dieses Urteil – besser Vorurteil – widerspiegelt kaum die Realität, doch schimmert tendenziell die

1

Jefferson, Thomas. Notes on the State of Virginia. Peden, v. W. (Hg.). N.Y. 1972, S. 138ff; zit. Wirz, Sklaverei, S. 134.

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Grundeinstellung vieler Weißer – und auch Schwarzer – durch. Seit dieser Äußerung Jeffersons kamen die Schwarzen als Musiker unbestreitbar durch außerordentliche Fähigkeiten in der Gesellschaft zu hoher Anerkennung, doch es stellt sich die Frage, ob dieselben schwarzen Musiker auch als Staatsbürger anerkannt wurden. Anderseits wurde den weißen Musikern häufig unterstellt, sie könnten keine afro-amerikanische Musik spielen, da sie weiß seien. Damit wird ein weiteres Vorurteil ausgesprochen, das die Vorurteile gegenüber Schwarzen indirekt nur bekräftigt. Es stellen sich hiermit die Fragen, wie schwarze und weiße Musiker mit dieser Situation umgingen und inwiefern es ihnen gelang, diese Vorurteile abzubauen. Inwiefern wurden die Musiker nicht nur als Helden oder Märtyrer2, sondern als Staatsbürger anerkannt, die für ihre Rechte eintraten?

4. 1. 1 Die Perzeption des afro-amerikanischen Musikers Es ist ein bekanntes Phänomen, dass ein berühmter Musiker von der Gesellschaft oft entweder verschmäht oder dann vergöttert wird. Selten wird er als Mensch und Bürger wahrgenommen, der seiner beruflichen Tätigkeit – Musik spielen – nachkommt. Dieses Phänomen wird durch die Omnipräsenz der Medien und durch den Tonträger als Wirtschaftsfaktor zusätzlich verstärkt. Musik kann aber auch in anderer Form Ausdruck finden, beispielsweise in der Kirche, in der sie als gemeinschaftsförderndes Element erlebt wird. Oder Musiker, die sonst anderen Erwerbstätigkeiten nachgehen, spielen an Tanzveranstaltungen oder sonstigen gesellschaftlichen Anlässen und werden mit der Zeit so bekannt, dass sie als professionelle Musiker leben können. Dies ist gerade anhand verschiedener bekannter schwarzer Musiker ersichtlich. So liegen beispielsweise die Wurzeln von Mahalia Jackson3 in der schwarzen Kirche, wo sie zuerst als Vorsängerin bekannt und erst später von einer breiten Öffentlichkeit beachtet und berühmt wurde. Bluesmusiker zogen oft jahrelang nur mit beschränktem Er-

2

Vgl. Kapitel 4. 2 (S. 156ff.).

3

Jackson, Mahalia / McLeod Wylie, Evan. Mein Leben. – Mahalia Jackson erzählt – zusammen mit Evan McLeod Wylie – die Geschichte ihres Lebens. (Originalausgabe: Movin’ On Up. New York 1969.) Übersetzt von Annemarie Österle. Zürich 1969.

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folg umher und spielten bei allen möglichen Gelegenheiten, bis sie schließlich entdeckt wurden. Der Musiker und dessen Einfluss muss somit von zwei Seiten betrachtet werden: der Musiker als Alltagserscheinung sowie der Musiker als Berühmtheit. Alan Lomax untersuchte in intensiver Feldarbeit die afro-amerikanische Musik als Alltagserscheinung. Als Lomax in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts unzählige schwarze Volkslieder aufzunehmen begann – die Aufnahmegeräte waren damals noch schwer und unhandlich –, hatte er anfänglich aus verschiedenen Gründen große Mühe. Den weißen Behörden in den Südstaaten missfiel es, dass ein Weißer mit Schwarzen – Niggern in ihren Augen – Kontakt suchte und sogar deren Lieder aufnahm. Die Schwarzen wiederum waren mit gutem Grund skeptisch und offenbarten nur nach und nach – wenn überhaupt –, was sie fühlten und wie sie zum Problem der Segregation standen. Mit der Zeit gelang es Lomax jedoch, das Vertrauen der Schwarzen zu gewinnen und die Fragen so zu stellen, dass sie ihre Gefühle und Gedanken offen darlegten. So gelang es ihm, nicht nur Lieder, sondern mit den Liedern auch die Lebensgeschichten der segregierten Schwarzen aufzuzeichnen. Mit der Auswertung dieser Aufzeichnungen – die Geschichten von einzelnen Schwarzen als Oral History zusammengefasst – veröffentlichte er Ergebnisse und Erkenntnisse aus einer Welt, die Weißen bis anhin verschlossen war und die schwarze Intellektuelle zu vergessen suchten.4 Einzig die schwarzen Schriftsteller wie beispielsweise Richard Wright oder James Baldwin behielten diese orale Tradition in Erinnerung. So knüpfte Richard Wright in der Novelle Down by the Riverside dialektisch an das Spiritual mit dem gleichnamigen Titel an und verknüpfte Inhalt von Lied und Erzählung zu wechselseitigen Metaphern. Zudem spielte Wright in fast allen Erzählungen der Frühzeit in ähnlicher Weise mit der Poesie der schwarzen, unbekannten Barden. Er hob die herbe Gefühlskraft der Gesänge seines Volkes kritisch ins Bewusstsein und erreichte damit, dass sie – auch wenn sie teilweise abgelehnt wurden – präsent blieben.5 Noch klarer lehnte sich James Baldwin an die mündliche Überlieferung an und tradierte das Erbe der Spirituals und des Blues auf literarischer Ebene. So betitelte er seinen ersten Roman Go Tell It on the Mountain, der

4

Lomax, Land Where the Blues Began, S. IX-XV.

5

Plessner, Onkel Tom, S. 155-156.

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1953 erschien, nach dem gleichnamigen Spiritual. Geschickt verband er darin die Problematik der Schwarzen aus dem Süden mit der Problematik der Schwarzen aus dem Norden. Ebenso auf dieses Erbe verweisend, betitelte er seinen 1983 erschienenen Gedichtband Jimmy’s Blues. Baldwin beschrieb darin mit bitterer Ironie die Situation der Schwarzen nach der Unterzeichnung des Civil Rights Act. Der Wert dieses afro-amerikanischen Erbes wurde ihm allerdings erst im freiwilligen Exil in Europa bewusst, wo seine Hautfarbe eine andere Bedeutung besaß. Erst dort, wie er in der Einleitung von Nobody Knows My Name bekennt, lernte er beispielsweise die Bluessängerin Bessie Smith schätzen und begann durch sie seine eigene Geschichte – schwarze Geschichte – zu reflektieren.6 In Zusammenarbeit mit der Fisk Universität erhoffte Alan Lomax einerseits besseren Zugang zu den schwarzen Musikern zu bekommen und andererseits die schwarzen Intellektuellen dazu zu bewegen, ihre Vorurteile gegenüber ihrer angestammten Kultur zu überwinden. Die gemischtrassige Forschergruppe war insofern erfolgreich, als sie tatsächlich näher an die schwarze Welt der Südstaaten herankam. Lomax blieb jedoch unbefriedigt, da seiner Ansicht nach auch die Fisk Universität die dynamische Kreativität der schwarzen Arbeiterklasse in den Südstaaten nicht so zu beschreiben vermochte, wie sie sich in der Musik und den Liedtexten offenbarte. Erst nach weiteren Forschungen im Delta und durch seine Arbeit an einer Weltanthologie von primitiver Musik und Volksmusik konnte er die Ergebnisse klarer definieren und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Eines der Hauptergebnisse ist, wie Lomax in seinem Vorwort zu The Land Where the Blues Began betont, dass die afrikanische und auch die ursprüngliche afro-amerikanische Tradition mündlich und nicht schriftlich überliefert wurde. Eine negative Folge dieser mündlichen Überlieferung war, dass die Schwarzen von den Weißen als ignorant betrachtet wurden und dass die schwarzen Intellektuellen – durch die Universitäten an westliche Maßstäbe angepasst – sich von ihren Ahnen entfernten. Eine positive Folge davon war, dass die Spirituals und der Blues als Zeugnisse der afrikanischen Wurzeln in den Boden der Neuen Welt gepflanzt wurden und somit einerseits dem Afro-Amerikaner Ausdruck und Identität verliehen, andererseits das

6

Baldwin, James. Go Tell It on the Mountain. London 19644. / Jimmy’s Blues. London 1983. / Nobody Knows My Name. New York 1961. Vgl. auch Kapitel 5.1 (S. 157).

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afro-amerikanische Erbe der Welt – ohne schriftliche Zeugnisse – zugänglich machte.7 Alan Lomax traf auf seiner Studienreise in den vierziger Jahren unzählige Barden, die ihm in Liedern ihre Geschichten, Schicksalsschläge oder allgemeine Ereignisse erzählten. So hörte er mehrere Straßenmusiker, wie sie von der Überschwemmung des Mississippi im Jahre 1927 sangen, als während Wochen Tausende schwarzer Arbeiter mit Gewehren gezwungen wurden, die Deiche zu reparieren. Er hörte, wie sie vom großen Sturm sangen, der am 16. März 1942 fast ganz Tupelo, Mississippi, verwüstete. Er vernahm, wie sie als Analphabeten für andere Analphabeten mit Hilfe von Liedern Bibelstellen zitierten und afrikanische oder afro-amerikanische Fabeln vermittelten. Oft wurden – wie am folgenden Beispiel der gesunkenen Titanic – die Fakten auf eigene Weise interpretiert. Die Version vom blinden Charles Haffner jr. verdeutlicht dessen kritische Position zum Unglück des unsinkbaren Luxusdampfers der Weißen, indem er diese Tragödie aus der Sicht des schwarzen Schiffsjungen Po Shine erzählt: It was on the fifth of May When the great Titanic went down. Po Shine was on the bottom of the deck. The captain and his mate was havin a little chat. Po Shine ran up to the top of the deck, Say, „Captain, captain, the water is now Coming in the boiler room door.“ He say, „Go back, Po Shine, and pump the water back; We got one hundred and fifty-two pumps to keep the water back.“ Po Shine dashed his black ass overboard and began to swim. The captain say, „Come back, Po Shine, and save po me. I’ll make you just as rich as any son-of-a-bitch can be.“ Po Shine looked back over his shoulder and said, „What good is money to me, in the middle of the sea?“ Went right ahead. Just then a millionaire girl walked from the bottom of the deck. She say, „Come back, Po Shine, and save po me.

7

Lomax, Land Where the Blues Began, S. IX-XV.

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I might turn your wife, it’s true.“ He looked back over his shoulder and said, „Honey, you’re purty-lookin jelly roll, it’s true,“ He said, „There are a thousand In New York as good as you.“ He swim right ahead. Just then a whale, he jumped up and grinned. Po Shine looked back Over his shoulder again at him – Jumped up and walked the water Like Christ did in Galilee. When the Titanic went down, Po Shine was down in Harlem, Almost damn drunk. The Devil was laying across his bed. He got up and walked to the door And looked out and he said, „They been a long time comin, But they welcome to Hell.“

8

Alan Lomax gelang es auch, die ursprüngliche Form der Spirituals aufzunehmen. Dies war insofern kein einfaches Unterfangen, als von Beginn bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die ursprüngliche – mündlich überlieferte – Form im Zuge des Fortschritts durch eine neue – schriftlich konzipierte – Form verdrängt zu werden schien. Die Kirche blieb aber immer ein Hort, in dem die Gläubigen, vor allem die Frauen, in sozialer Harmonie sich die Sorgen von der Seele sangen und dabei oft in einen Trancezustand fielen. Dieses Sich-die-Sorgen-von-der-Seele-Singen wurde im Süden mit Shouting, Jubilating oder auch Getting happy bezeichnet und half über die Alltagsprobleme hinwegzukommen. Reverend Savage der Mt. Ararat Baptist Church in Lula, Mississippi, formuliert dies so:

8

Haffner, Charles, Jr.; zit. Lomax, Land Where the Blues Began, S. 53-54.

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Church is as safe on water as it is in fire. In fact, the church is the safest place I know. I’ve read a lot of insurance policies, but I’ve never read one that’ll guarantee you resurrection.

9

Die Zeiten waren unsicher. Nie wussten die Schwarzen, was sie am nächsten Tag erwarten würde. Ebenso wenig wussten sie, wann und wieviel Lohn sie für die geleistete Arbeit erhalten würden, denn die weißen Arbeitgeber brauchten sich nicht an die Abmachungen zu halten. Dies würde im Himmel anders werden, und so hielt Reverend Savage in feurigen Worten eine Predigt, die er mit Payday in Heaven betitelte: I see the angel coming with the payroll on his shoulder, „Servant, come on home anyhow, I know you been mocked down there, I know you been cryin on the way.“ But here come Gabriel With one foot on the sea, and one on dry land. He’s got your pardon in his right hand, Sayin „I’m coming quickly and reward every man. If you’ve been lonesome down here, Jesus gonna take you by the hand up in glory!“ Small payday here, large payday in the mornin. They don’t lynch over there, They don’t talk about you over there, No hearse’s rollin over there. Every day will be Sunday, Every month will be Jubilee. In a few more rising suns Payday gonna come, chillun, 10

Payday gonna come.

Darauf forderte er die Gemeinde auf, das alte Spiritual zu singen, das ihm von der Großmutter beigebracht worden war. Dieses Spiritual bezog sich

9

Savage, Reverend. Payday in Heaven; zit. Lomax, Land Where the Blues Began, S. 72.

10 Ebenda, S. 73-74.

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auf die Figur Daniels, der – wie in der Bibel beschrieben – in der Löwengrube dieselben Qualen erlitten hatte wie die Schwarzen diese immer noch erdulden mussten. Der Priester versicherte der Gemeinde, so wie Daniel erlöst worden war, würden auch sie erlöst werden.11 Während Alan Lomax unbekannte afro-amerikanische Musik und Musiker sozialwissenschaftlich untersucht und seine Ergebnisse einer interessierten weißen Öffentlichkeit vermittelt, stellt Alan Pomerance 1988 in Repeal of the Blues dar, wie bekannte schwarze Entertainer aus Film, Theater und Musik dieses afro-amerikanische Erbe einer breiten Öffentlichkeit präsentierten. Pomerance erklärt, dass die schwarzen Entertainer – wie Bessie Smith, Billie Holiday, Harry Belafonte und viele mehr – durch ihr Auftreten in einer weißen Öffentlichkeit in gewissem Sinne die Bürgerrechtsbewegung vorbereitet hätten. Durch ihr Auftreten nahm die weiße Öffentlichkeit die Schwarzen nämlich gewissermaßen in ihren Bekanntenkreis auf. Der schwarze Entertainer als Star lebte in einem sozialen Umfeld, das ihm ermöglichte, Einfluss auf die Haltung der Weißen gegenüber den Schwarzen auszuüben.12 Die Veränderung bezüglich der Akzeptanz von Schwarzen und Weißen füreinander wertet Alan Pomerance als wichtigstes Ergebnis seiner Aufzeichnungen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert ist es normal, dass schwarze Entertainer zu den bestbezahlten und geachtetsten Persönlichkeiten der Unterhaltungsindustrie gehören. Dies ist für Pomerance einer der stichhaltigsten Beweise dafür, dass die Wertschätzung zwischen Schwarzen und Weißen sich grundlegend geändert hat. Es erscheint heute normal, wenn die weiße Schauspielerin Elisabeth Taylor den schwarzen Musiker Michael Jackson zur Gratulation umarmt oder der schwarze Sänger Lionel Ritchie als musikalische Hauptattraktion für die Abschlusszeremonie der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles gewählt wird. Obwohl es immer noch rassenbedingte Konflikte gibt, ist dies ein Zeichen, dass sich die Situation wesentlich verbessert hat.13

11 Lomax, Land Where the Blues Began, S. 74-75. 12 Pomerance, Repeal, VII-X. 13 Ebenda, S. 247-251.

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4. 1. 2 Die integrative Kraft der afro-amerikanischen Musik Mit den Ausführungen von Alan Pomerance ist allerdings noch nicht erklärt, weshalb sich die Situation verbesserte. Auch die schwarzen Stars wurden nämlich nicht von vornherein als Bürger mit gleichen Rechten respektiert. Mit der Frage, wie sich dieser Prozess – musikalisch betrachtet – vollzog, befassen sich der schwarze Samuel A. Floyd jr. in The Power of Black Music sowie der weiße Gene Lees in seiner Aufsatzsammlung Cats of Any Color, wobei beide unabhängig voneinander zu ähnlichen Resultaten kommen. Die integrative Kraft der afro-amerikanischen Musik bestand nicht so sehr darin, dass sie in ihren afrikanischen Ursprüngen gefangen blieb und das schwarze Afrika zelebrierte, sondern dass sie weiße Elemente aus Europa in sich aufnahm und so das schwarze Afrika mit dem weißen Europa musikalisch verband. Diese Verbindung manifestierte sich 1958 im Album George Gershwin’s Porgy and Bess von Miles Davis, einem Höhepunkt schwarz-weißer Zusammenarbeit, und zwar aus verschiedenen Gründen: Zum einen entstand das Album des schwarzen Trompeters Miles Davis in enger Zusammenarbeit mit dem weißen Komponisten und Arrangeur Gil Evans. Zum anderen ist Gershwins Porgy and Bess in sich bereits eine Verbindung von weißer mit schwarzer Kultur. George Gershwin befasste sich als weißer Musiker während den frühen dreißiger Jahren in intensiver Feldarbeit in Südcarolina mit der afro-amerikanischen Musik, bevor er sein Werk aufgrund dieser Ergebnisse komponierte. Die Vorlage bildete der Roman Porgy von Edwin DuBose Heyward, dessen Handlung in Catfish Row spielt, einer Schwarzensiedlung am Meer in Charleston, Südcarolina. Porgy wurde schliesslich von George’s Bruder Ira Gershwin und Heyward zum Libretto der Jazzoper Porgy and Bess verarbeitet. Miles Davis’ und Gil Evans’ Interpretation von Porgy and Bess wiederum wurde von einem europäischen Kammerorchester und einer afro-amerikanischen Band instrumentiert und aufgenommen. Somit entstand in mehrfacher Hinsicht eine Interaktion der verschiedenen Kulturen.14 Während der fünfziger Jahre erspielten sich verschiedene weiße und schwarze Jazzmusiker wie Dave Brubeck und Miles Davis die Gunst weißer und schwarzer Studenten und wurden mehr und mehr auch von einer

14 Floyd, Power of Black Music, S. 164-165.

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breiten Öffentlichkeit geschätzt. Zugleich erhielt die afro-amerikanische Musik durch die Verbindung von Spirituals und Jazz eine weitere Komponente, welche verschiedene Schichten und Gruppierungen einander näher brachte. Zum einen verbanden James Brown, Ray Charles und Aretha Franklin Spirituals und Rhythm’n’Blues zur Soul-Music, zum anderen bewiesen Duke Ellington und Mahalia Jackson 1958 mit der Aufnahme Black, Brown and Beige, dass Big-Band-Jazz, Spirituals und Orchestermusik nicht in Konkurrenz zueinander stehen müssen, sondern sich zu einem Kunstwerk vereinen können.15 Die stärkste integrative Kraft in den fünfziger und sechziger Jahren bildete jedoch der Rhythm’n’Blues und der Rock’n’Roll. Die Schwarzen Little Richard und Chuck Berry mischten weiße Country-Musik in ihre bluesorientierten Lieder und erreichten damit ein gemischtrassiges Publikum, wie es vor ihnen noch keinem schwarzen Musiker gelungen war. Beide wussten die afro-amerikanische Musik in einem weißen Kleid zu präsentieren. Gleichzeitig verbanden sie die Wünsche der weißen Gesellschaft nach mehr Freizügigkeit bezüglich der herrschenden Sitten und Gebräuche mit den Wünschen der schwarzen Gesellschaft nach Aufhebung der Rassendiskriminierung. Damit wiederum gewannen sie ein gemischtrassiges Publikum, das durch die Musik zusammengeführt wurde.16 In noch stärkerem Masse gelang dies dem König des Rock’n’Roll, Elvis Presley. Seinem Entdecker, Sam Phillips, war schon lange vor Elvis’ Popularität bewusst, dass ein weißer Sänger mit dem Musikgefühl der Schwarzen viel Geld verdienen könnte.17 Tatsächlich erreichte kaum ein Musiker ein größeres Publikum als der in Tupelo, Mississippi, geborene Elvis Presley. Sein Hüftschwung und seine soulige Stimme hätten bei einem Schwarzen kaum viel Aufsehen erregt. Doch als Weißer – von der Gesellschaft nicht mit Vorurteilen belastet – erzielte er mit seinem Auftritt eine Wirkung, die ihn beim weißen wie auch beim schwarzen Publikum zum König des Rock’n’Roll werden ließ.

15 Floyd, Power of Black Music, S. 170-180. 16 Ebenda. 17 Carr, Roy / Farren, Mick. Elvis Presley – The Complete Illustrated Record. London 1982; zit. Posener, Alan / Posener, Maria. Elvis Presley. Reineck bei Hamburg 1993. S. 33.

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Was aus der Retrospektive selbstverständlich scheint, verlangte von den einzelnen Musikern in den fünfziger und sechziger Jahren oft viel Kraft und Selbstvertrauen, denn auf beiden Seiten herrschten Vorurteile. So wurden schwarze Musiker von ihren Fans bisweilen verbal angegriffen, weil sie weiße Musiker engagierten. Miles Davis, der beispielsweise mit den weißen Musikern Chick Corea, Dave Holland und John Scofield – um nur einige wenige zu nennen – zusammenarbeitete, war ebenso mit diesem Problem konfrontiert wie Ella Fitzgeralds Band, die mit dem weißen Gitarristen Herb Ellis zusammenspielte. Oscar Peterson aus Fitzgeralds Band erinnerte sich so: We really became a close-knit unit. Our friendship became even tighter, and we were criticized for having a white person in our group. I would get hate letters in Chicago about Herbie Ellis being in the group – from both races, by the way, just so every-body gets their rightful recognition. I’d get hate letters about, ‚What is that white cat doing in the band? He can’t play nothin’ – he’s white.‘ Whatever that had to do with it, I don’t know.

18

Miles Davis antwortet auf die Frage des schwarzen Art Farmer, weshalb er Weiße auf seiner Tour engagiere: „I don’t care what color they are. As long as they can play the music the way it’s supposed to be played, that’s what it’s all about.“19 Ein gewichtiges Argument gegen die Rassenvorurteile formulierte Dizzy Gillespie in der Mike Wallace Fernsehsendung, als ihn Mike Wallace fragte, ob es wahr wäre, dass nur Schwarze Jazz spielen könnten. Dizzy Gillespie antwortete: No, it’s not true. And if you accept that premise, well then what your’re saying is that maybe black people can only play jazz. And black people, like anyone else, can 20

be anything they want to be.

18 Peterson, Oscar; zit. Lees, Gene. Jazz , Black and White; zit. Lees (Hg.), Cats, S. 188. 19 Lees, Gene. Jazz , Black and White; zit. Lees (Hg.), Cats, S. 189. 20 Gillespie, Dizzy; zit. Lees, Gene. Jazz , Black and White; zit. Lees (Hg.), Cats, S. 188.

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Die Ablehnung von gemischtrassigen Bands zeigte sich nicht nur in verschiedenen Äußerungen des Publikums, sondern machte sich auch in den Auftrittsmöglichkeiten bemerkbar. So musste der weiße Pianist Dave Brubeck 23 bis 25 Konzerte in den Südstaaten und eine Fernsehsendung absagen, da der Bassist Eugene Wright im Quartett schwarz war. Ähnliche Probleme hatte paradoxerweise sogar Ella Fitzgerald. Denn als rein schwarze Band hätte sie ohne Mühe in verschiedenen Fernsehsendungen wie z.B. der Bell-Telephone-Show auftreten können, doch mit dem weißen Herbie Ellis war dies ein Problem.21

4. 2 D ER M USIKER

ALS

H ELD

UND

M ÄRTYRER

Gene Lees, der in Kanada aufgewachsen ist, erklärt in seinem Aufsatz The Prez of Louisville, dass für ihn als Kind alle Schwarzen Götter waren, denn die meisten seiner Idole waren schwarze Musiker. 22 Viele andere mochten diese Haltung gegenüber schwarzen Musikern mit Gene Lees teilen, doch war dies sicherlich nicht die Norm. Für die Großzahl der weißen Bevölkerung war die afro-amerikanische Musik „Teufelsmusik“. Selbst wenn die Musiker als Künstler ernst genommen und geschätzt wurden, so wurden sie noch lange nicht als gleichberechtigt betrachtet und mussten immer wieder unter der Segregation oder der allgemeinen Rassendiskriminierung leiden. Ein besonders tragisches Opfer der Segregation war die Sängerin Bessie Smith, die 1937 in ihrer Heimatstadt Clarksdale, Mississippi, bei einem Autounfall ums Leben kam. Während ihre Freunde in drei verschiedenen Spitälern die Ärzte eindringlich darum baten, sie aufzunehmen, verblutete Bessie Smith im Autowrack, denn ihr wurde die medizinische Hilfe – da sie schwarz war – verweigert.23 Die Musiker, die afro-amerikanische Musik spielten, wurden von der Gesellschaft ebenso gefeiert wie ausgeschlossen. Wie erlebten weiße und schwarze Musiker dieses soziale Spannungsfeld und wie beeinflussten sie

21 Lees, Gene. The Man on the Buffalo Nickel: Dave Brubeck, zit. Lees (Hg.), Cats, S. 57. 22 Lees, Gene. The Prez of Louisville, zit. Lees (Hg.), Cats, S. 3. 23 Lomax, Land Where the Blues Began, S. 61.

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durch ihre Musik die Gesellschaft? Pathetisch gefragt, inwiefern waren sie Helden, inwiefern Märtyrer?

4. 2. 1 Der Einfluss schwarzer Musiker auf die Gesellschaft Billie Holiday galt schon zu Lebzeiten als außerordentliche Sängerin, die wie keine andere mit dem Blues in Verbindung gebracht wurde. Sie wurde nach ihrem Tod – nicht zuletzt durch die Verfilmung ihrer Autobiographie Lady Sings the Blues24 – zu einer Sängerin emporstilisiert, welche wie keine andere darunter gelitten hatte, eine schwarze Frau in einer weißen Gesellschaft zu sein. Sie litt darunter schon in ihrer Kindheit, als sie mit elf Jahren vergewaltigt wurde, aber auch später als junge Erwachsene, als sie einen toten Schwarzen am Baum hängen sah und traumatisiert war. Sie suchte im Alkohol und den Drogen Zuflucht und zerbrach schließlich 1959 mit 44 Jahren daran. Kein Wunder, dass sie – teilweise bereits zu Lebzeiten – von unzähligen Künstlern und einem breiten Publikum als Märtyrerin einer ungerechten Gesellschaftsordnung verehrt wurde.25 Es wäre allerdings zu einfach, Billie Holidays Schicksal allein der Gesellschaft zuzuschreiben. Ella Fitzgerald wurde zur selben Zeit in die selbe Gesellschaft hineingeboren und erlebte eine ähnliche Kindheit. Auch sie wurde höchst wahrscheinlich sexuell missbraucht, verbrachte eine gewisse Zeit in Bordellen und musste Rassismus erleiden. Doch Ella Fitzgerald arbeitete sich zum Luxus von Beverly Hills empor und sang auch zu Beginn der neunziger Jahre noch.26 Dass auch sie mit der Segregation konfrontiert wurde, beweist ein Zwischenfall, der sich im Oktober 1955 in Houston, Texas, ereignete. Ihr Manager, Norman Granz, bestand darauf, dass das Konzert gemischtrassig stattfinden müsse. Die Polizei reagierte darauf mit einer Intrige und brachte Ella Fitzgerald via Presse fälschlicherweise mit Drogen in Verbindung. Dies hinderte sie jedoch nicht daran, ein halbes Jahr später in den exklusivsten Clubs zu spielen. Norman Granz schaffte es, dass sie im Juni 1956 im

24 Holiday, Billie / Dufty, William. Lady Sings the Blues – The Searing Autobiography of an American Musical Legend. London / New York 19922. 25 Nicholson, Stuart. Billie Holiday. London 1995. S. 235. 26 Ebenda, S. 230-231.

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Starlight Roof des Nobelhotels Waldorf-Astoria auftreten konnte. Durch diesen Auftritt öffneten sich ihr Tore zu den renommiertesten Sälen. Einer der Höhepunkte war ihr Auftritt an der Inaugurationsfeier von John F. Kennedy, zu der sie von Frank Sinatra eingeladen worden war. Zu den Gästen gehörten unter anderen Leonard Bernstein, Bette Davis, Nat ‚King‘ Cole, Mahalia Jackson und Harry Belafonte. Präsident Kennedy bezeichnete den Abend als exzellent.27 Stuart Nicholson kommt 1993 in seiner Biographie über Ella Fitzgerald zu folgendem Schluss: Ella’s odyssey has taken her from dire poverty to the luxury of Beverly Hills via dance-halls, dingy night-clubs and segregated accommodation in a country that still totters on the racial divide. In her own unassertive way Ella has defied the traditional expectations of a black person in a predominantly white society. She has endured discrimination with dignity and given herself equally to black and white audiences, who in their turn have taken her into their hearts. [...] ‚It isn’t where you came from, it’s where you’re going that counts,‘ she once said. And if anyone can claim to have got there, embodying the whole American Dream in the process, then it is that enigmatic, self-effacing black lady born out of wedlock nearly eight decades ago in Newport News, Virginia.

28

Während Billie Holiday und Ella Fitzgerald als herausragende Persönlichkeiten – um nur zwei Beispiele anzuführen – die Diskussion über die Rassendiskriminierung passiv anregten, versuchten andere Musiker aktiv auf die Situation aufmerksam zu machen und eine Verbesserung herbeizuführen. Verschiedene Musiker – beispielsweise Miles Davis, Sonny Rollins oder John Coltrane – nahmen bewusst afrikanische Elemente in ihre Musik auf, um damit auf das wertvolle afrikanische Erbe in der afroamerikanischen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Bisweilen gingen sie noch einen Schritt weiter, indem sie die afro-amerikanische Geschichte aufgriffen und sie in ihre Musik integrierten, um sie neu zu beleben. So enthielt John Coltranes Album Live at the Village Vanguard (1961) eine Komposition, die er mit Song of the Underground Railroad betitelte und damit die Sklavenbefreiungsorganisation in Erinnerung rief. Eine weitere

27 Nicholson, Stuart. Ella Fitzgerald. London 1993. S. 152-182. 28 Ebenda, S. 227.

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Komposition, das 1963 entstandene Alabama, sollte an die Rassenunruhen in Birmingham erinnern, bei denen durch einen Bombenanschlag weißer Rassisten vier Kinder in einer Kirche getötet wurden.29 Zu John Coltrane erklärt Miles Davis 1989 in seiner Autobiographie, dass Coltrane in den sechziger Jahren der musikalische Rebell war, den er selbst in den Fünfzigern verkörperte. Trane’s [John Coltrane’s] music and what he was playing during the last two or three years of his life represented, for many blacks, the fire and passion and rage and anger and rebellion and love that they felt, especially among the young black intellectuals and revolutionaries of that time. He was expressing through music what H. Rap Brown and Stokley Carmichael and the Black Panthers and Huey Newton were saying with their words, what the Last Poets and Amiri Baraka [LeRoi Jones] were saying in poetry. He was their torchbearer in jazz, now ahead of me. He played what they felt inside and were expressing through riots – „burn, baby, burn“ – that were taking place everywhere in this country during the 1960s. It was all about revolution for a lot of young black people – Afro hairdos, dashikis, black power, fists raised in the air. Coltrane was their symbol, their pride – their beautiful, black revolutionary 30

pride. I had been it a few years back, now he was it, and that was cool with me.

Neben dem Saxophonisten Sonny Rollins, der 1958 das Album Freedom Suite veröffentlichte, war eine weitere wichtige Figur der Schlagzeuger Max Roach. Er wurde 1960 von der NAACP beauftragt, ein Werk für die Feierlichkeiten des 100-Jahr-Jubiläums der Emancipation Proclamation zu komponieren. Das Resultat, die Suite We Insist! Freedom Now!, wurde das erste Mal 1963 an einer Konferenz der NAACP in Philadelphia aufgeführt. Wie stark sich Max Roach für die Aufhebung der Rassentrennung und die allgemeine Verbesserung der Situation engagierte, verdeutlichen die Interviews mit Charles Fox, welche im Aufsatz „Sit Down and Listen“31 zusammengefasst wurden.

29 Floyd, Power of Black Music, S. 185-189. 30 Davis, Miles. The Autobiography – with Quincy Troupe. New York 1989. S. 285-286. 31 Fox, Charles. Sit Down and Listen – Die Geschichte von Max Roach. In: Haydon / Marks, Schwarze Rhythmen, S. 121-153.

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Max Roach wurde am Rand des Dismal Swamp, des Sumpfs des Schreckens, an der Grenze zwischen Virginia und North Carolina geboren, der Nat Turner und seinen Anhängern nach dem gescheiterten Sklavenaufstand 1831 als Zufluchtsort diente. Max Roach verbrachte seine Kindheit allerdings in New York, denn auch seine Familie verließ den Süden, um im Norden das Glück zu suchen. Seine Mutter, eine leidenschaftliche GospelSängerin, trug neben der Kirche und den Miet-Parties viel zur musikalischen Entwicklung des jungen Roach bei. Als äußerst erfolgreicher Autodidakt erarbeitete er sich eine Schlagzeugtechnik, die ihn schon in jungen Jahren mit den bekanntesten Musikern – wie Charlie Parker oder Dizzy Gillespie – zusammenarbeiten ließ. Seine ersten Bemühungen zur Aufhebung der Segregation zeigten sich darin, dass er 1955 in einem kleinen weißen Klub in Northfolk, Virginia, darauf bestand, dass seine schwarzen Verwandten, die ihn bis dahin noch nie auf der Bühne gesehen hatten, den Klub betreten durften. Schließlich bekamen seine Leute einen guten Tisch und die Rassentrennung wurde in dieser Stadt für kurze Zeit durchbrochen.32 Max Roach gestand, dass er von etwa 1963 bis 1968 auf der Bühne zum Thema Rassendiskriminierung ziemlich viel redete. Dies veranlasste einen Klubbesitzer sogar, ihn nur unter der Bedingung zu engagieren, dass er Schlagzeug spiele, weiter nichts. Doch auch nach 1968 war ihm dieses Thema wichtig und er veröffentlichte 1970 das Album Lift Every Voice and Sing, welches in Zusammenarbeit mit dem J.C. Whites Brooklyn Gospel Choir entstanden war. Dieses Werk beinhaltete Spirituals wie Motherless Child, Let Thy People Go oder Were You There When They Crucified My Lord, welche allesamt eine Widmung – z.B. für Martin Luther King jr., Malcolm X etc. – trugen. Selbst 1981 widmete er sich noch der Bürgerrechtsbewegung, indem er das Album Chattahoochie Red veröffentlichte, dessen Titel sich auf den Fluss Chattahoochie bezieht, der durch Atlanta, Georgia, fließt, und in dem die Leichen von ermordeten schwarzen Teenagern gefunden worden waren. Auf diesem Album ist unter anderem zu hören, wie er mit seinem Quartett die Rede I Have a Dream von Martin Luther King jr. begleitet. Max Roach begründete dies damit, dass King – obwohl er ihn nicht persönlich kenne – für ihn ein ermutigender Mensch sei, man brauche nur eine Rede von ihm anzuhören oder sein Auftreten zu beo-

32 Fox, Sit Down and Listen, S. 121-153.

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bachten oder zu sehen, wie King etwas anpacke. Zudem marschierte Roach bei vielen Märschen mit, zu denen King aufrief.33 Die Gospelsängerin Mahalia Jackson hingegen kannte Martin Luther King jr. persönlich sehr gut und wurde von ihm immer wieder aufgefordert, an Veranstaltungen aufzutreten. Sie war die Hauptsängerin am Marsch auf Washington und King schlug ihr vor, das alte Spiritual I Been ’Buked and I Been Scorned zu singen. So konnte Mahalia Jackson mit ihrem Gesang immer wieder Einfluss auf die schwarze und weiße Gesellschaft nehmen. Sie selbst begründete den Einfluss der Musik – speziell denjenigen der Freiheitslieder – damit, dass die Seele des Menschen die Sprache der Musik oft besser verstehe als das gesprochene Wort.34

4. 2. 2 Der Einfluss weißer Musiker auf die Gesellschaft Dave Brubeck galt Ende der fünfziger und anfangs der sechziger Jahre mit seinem Dave Brubeck Quartet als einer der einflussreichsten weißen Jazzmusiker. Auch in der schwarzen Gesellschaft hatte er Erfolg: Das Quartett wurde einmal in einer schwarzen Zeitschrift als beste Jazzband bewertet. So war es selbstverständlich, dass Brubeck vor gemischtrassigem Publikum oder in den schwarzen Vierteln der Städte spielen wollte, was nicht einfach war. Er erinnert sich beispielsweise an folgende Szene in Atlanta und versucht den Humor der Schwarzen damit zu erklären, dass man angesichts der damaligen Ungerechtigkeiten entweder Humor entwickelte oder zu Grunde ging: We were playing in the Walahage Hotel that catered to the Black clientele in Atlanta. [...] Performers had suites at the hotel, but we weren’t allowed to stay in them because Atlanta was still segregated. Clubs like that used to put ropes down the middle with Whites on one side, Blacks on the other. By the time the night was over, that rope had been climbed many times from both directions. The owner would say, ‚Well, folks, I do have the rope there, and you’re supposed to stay on your side,‘ just to obey the law. I had lots of laughs about integration. Some situations were so ridiculous I couldn’t tell you. But they’ll never leave my mind because we’d get treated

33 Fox, Sit Down and Listen, S. 121-153. 34 Jackson, Geschichte ihres Lebens, S. 159-188.

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sometimes, in that part of town, as Blacks would be treated in the other part of town. You had to have a sense of humor. I think that’s why Blacks have been able to tole35

rate such injustice. It’s either that or you go crazy.

Die Zeiten waren trotz heilendem Humor nicht einfach. Vor allem mit dem schwarzen Bassisten Eugene Wright im Quartett erschwerten sich die Dinge. Vielerorts mussten im Süden Konzerte abgesagt werden oder die Restaurants weigerten sich, die Band zu bedienen. Oft musste Wright in der Küche essen, während die Band im Speisesaal ass. Dies tat er oft, ohne sich zu beklagen. Das Essen in der Küche war in der Regel besser als im Restaurant selbst, und die meist schwarze Küchenmanschaft bot gute Unterhaltung. Das Problem war nicht das Essen, sondern die Ungerechtigkeit.36 Dave Brubeck musste oft Konzerte absagen, da die Veranstalter keine Schwarzen einlassen wollten. Zudem bedeutete ein Konzert im Süden immer auch Gefahr: What I did everywhere was, if they wouldn’t integrate the hall, I wouldn’t play. Many of the halls wouldn’t allow Blacks to come in, so I wouldn’t go on stage. Of course that challenging the system can work two ways. Sometimes they think, ‚Well, if I don’t allow Blacks in, I’ll lose some money.‘ [...] It was a tough decision, and, meanwhile, it wasn’t easy for us. We had police cars in front of the college the whole concert. About that time, Louis Armstrong had a bomb thrown while working down South. It missed the backstage, but that’s what they were aiming at.

37

Dave Brubecks Engagements zu gegenseitiger Toleranz widerspiegelt sich am deutlichsten in der Kantate Gates of Justice, die er 1969 auf Anregung dreier Rabbis komponierte. In Gates of Justice werden Elemente von Texten von Martin Luther King jr. und hebräische Schriften zitiert. Die Musik der Kantate lehnt sich an hebräische Melodien an und enthält Elemente von Spirituals und Blues. Die Idee, diese Kantate zu schreiben, ist dem Wunsch entsprungen, dass schwarze und jüdische Bürger sich ihrer ähnlichen Vergangenheit – der Sklaverei und Unterdrückung – erinnern. Doch Gates of

35 Brubeck, Dave; zit. Hall, Fred M.The Dave Brubeck Story – It’s About Time. Fayetteville (Arkansas) 1996. S. 49-50. 36 Hall, Brubeck Story, S. 73. 37 Brubeck, Dave; zit. Hall, Brubeck Story, S. 162-163.

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Justice fordert schließlich jedermann auf, der Brüderlichkeit aller Völker zu gedenken.38 Nicht nur Jazzmusiker wie Dave Brubeck waren mit der Problematik der Segregation konfrontiert. Die aufstrebende Pop-Kultur, welche durch die afro-amerikanische Musik stark beeinflusst worden war, war ebenfalls in die Auseinandersetzung involviert. Elvis Presley gehörte zu den ersten, die Blues-Songs – wie That’s All Right (Mama) von Arthur ‚Big Boy‘ Crudup – aufnahmen und einer großen Masse zugänglich machten. Elvis Presley betonte immer wieder, wie stark er von schwarzer Musik – Spirituals und Blues – beeinflusst worden war. Obwohl die Eltern zu Hause es nicht gerne sahen, wenn er afro-amerikanische Musik hörte, weil dies sündhafte Musik sei, gefielen ihm auch die richtig schmutzigen Mississippi-Sänger wie Arthur Crudup. So interpretierte er immer wieder Songs von schwarzen Komponisten wie beispielsweise Chuck Berry und Willie Dixon.39 Interessanterweise hatte Elvis von Anfang an eine starke Wirkung auf das schwarze Publikum. Dies zeigte sich daran, dass der Discjockey der WDIA-Radiostation auf Wunsch seiner schwarzen Zuhörerschaft ElvisPlatten spielte, obwohl die Leitung des Senders ein Verbot weißer Musik verhängt hatte.40 Und der schwarze Kolumnist Nat D. Williams schrieb im Pittsburgh Courier über einen kurzen Auftritt von Elvis Presley 1956 bei einer WDIAWohltätigkeitsveranstaltung zugunsten schwarzer Kinder in der Beale Street, dass viele schwarze, braune und beigefarbene Brüder sauer auf Elvis gewesen waren, da sich die farbigen Mädchen wie Wildkatzen über diesen weißen Jungen hergemacht hatten, während sie für den schwarzen Jungen B.B. King aus Memphis kaum einen Kiekser übrig hatten. Und weiter fragte er:

38 Hall, Brubeck Story, S. 133-134. 39 Posener, Alan / Posener, Maria. Elvis Presley. Reineck bei Hamburg 1993. S. 37-38. 40 Ebenda, 50-51.

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[...]But further, Beale Streeters are wondering if these teenage girls’ demonstration over Presley doesn’t reflect a basic integration in attitude and aspiration which has 41

been festering in the minds of most of your folks’ women folk all along. Huhhh?

Das Stichwort ist Integration. Ob sich Elvis Presley bewusst war, dass seine Haltung den Gedanken an Integration nahelegte, darf bezweifelt werden. Doch allein die Tatsache, dass er auf der selben Bühne stand wie der schwarze B.B. King, zeigt, dass der Rock’n’Roll die Segregationslinie nicht kannte. Dies unterstreicht ein Foto, das Elvis Presley Arm in Arm mit B.B. King hinter der Bühne zeigt. Presley soll bei dieser Gelegenheit B.B. King für die Lektionen gedankt haben, die er ihm gegeben hatte.42 Ein weiterer junger Amerikaner aus Duluth, Minnesota, der von der afro-amerikanischen Musik inspiriert wurde und diese mit traditioneller Folkmusik verband, war Bob Dylan. Er war eine der wichtigsten Figuren während der sechziger Jahre und glänzte mit einer Fülle an poetischer Kraft, die sich philosophisch, intellektuell, persönlich und sozialkritisch ausdrückte. Vor allem die Lieder Blowin’ in the Wind und The Times They Are A-Changin’ wurden zu Protestsongs der Jugendlichen. Blowin’ in the Wind auf dem Album Freewheelin’, welches erschien, als die Bürgerrechtsbewegung ihren Höhepunkt erreichte, wurde neben We Shall Overcome zu einer eigentlichen Hymne der Bewegung. Das Lied stellt neun Fragen, worunter verschiedene die wichtigsten sozialen Belange der Zeit ansprechen: Rassismus und soziale Ungerechtigkeit („how many roads must a man walk down, before you call him a man?“), Krieg und Gewalt („how many times must the cannon balls fly, before they’re forever banned?“), falsches Bewusstsein („how many times must a man look up, before he can see the sky?“), politische Apathie („how many times can a man turn his head, pretending he just doesn’t see?“) und die Möglichkeit sozialer Veränderung („how many years can a mountain exist, before it is washed to the sea?“). Alle diese Belange werden mit dem sim-

41 Pittsburgh Courier (Williams, Nat D. ). Maybe It’s the Indigo Avenue’s Blase Blues. 22. Dezember 1956; zit. Guralnick, Peter. Last Train to Memphis: The Rise of Elvis Presley. Boston / New York / Toronto / London 1994. S. 370. 42 Guralnick, Last train, S. 368.

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plen Refrain beantwortet: „The answer, my friend, is blowin’ in the wind, the answer is blowin’ in the wind“.43 Verschiedentlich wurde Bob Dylan kritisiert, dass er viele Fragen stelle, ohne eine Antwort zu bieten. Doch für ihn, so seine Erklärung, sei es weniger wichtig, dass diese Fragen beantwortet, als dass sie gestellt würden. Zudem sei die Antwort – wie er in einem Interview mit der Zeitschrift Sing Out!44 erklärte – im Wind, aber viele Leute müssten erst einmal den Wind finden. Die Antwort sei weder in einem Buch, Film oder einer Fernsehsendung noch in einer Diskussionsgruppe zu finden. Seiner Meinung nach behaupten zu viele Leute, die Antwort zu wissen, aber diesen glaube er nicht. Die Antwort fliege im Wind, wie ein Stückchen Papier, das ab und zu zu Boden falle, doch leider hebe es niemand auf, und so fliege es wieder weiter.45 Ein guter Beleg für Dylans Engagement gegen die Rassendiskriminierung ist die Komposition Oxford Town, ebenfalls auf dem Album Freewheelin’, welche sich klar auf James Meredith bezieht, der nur unter dem Schutz der Nationalgarde 1962 die Universität von Mississippi betreten konnte. Es wäre falsch, Bob Dylan als Vorkämpfer der Bürgerrechtsbewegung zu bezeichnen, doch wusste er die Zeichen der Zeit zu deuten, diese in poetischen Liedern auszudrücken und somit der Bewegung zusätzliche Impulse zu verleihen. Interessanterweise erhielt die afro-amerikanische Musik, vor allem der Blues und der Rhythm’n’Blues, die größte Resonanz durch weiße englische Musiker. Britische Bands wie die Beatles oder die Rolling Stones, griffen Stücke von Chuck Berry, Willie Dixon, Muddy Waters und anderen schwarzen Musikern auf und interpretierten sie neu. Umso mehr staunte John Lennon von den Beatles, als er in die USA kam und sah, dass die Amerikaner von ihren Landsleuten weniger fasziniert waren als er selbst. Die Beatles wurden denn auch selbst – trotz der allgemeinen Beatlesmania – mit negativen Reaktionen konfrontiert, die seit Beginn des Rock’n’Roll in den USA herrschten. Weiße Rassisten und religiöse Fundamentalisten organisierten sich und riefen zur Ächtung der von ih-

43 Hampton, Wayne. Guerrilla Minstrels. Knoxville (Tennessee) 1986. S. 161. 44 Sing Out! 12 (Oct.-Nov. 62), 4; zit. Hampton, Wayne, Guerrilla Minstrels, S. 161. 45 Hampton, Wayne, Guerrilla Minstrels, S. 161.

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nen verachteten Nigger Music auf. Der Alabama White Citizens Council, welcher schon die Bürgerrechtsbewegung bekämpft hatte, bekämpfte auch den Rock’n’Roll mit der Begründung, er ziehe den weißen Mann auf das Niveau des Negers herunter. Mitglieder dieses Councils attackierten und schlugen 1956 den schwarzen Nat ‚King‘ Cole während eines Konzerts in Birmingham. Zehn Jahre später organisierte ein Discjockey in Birmingham eine Veranstaltung, an der Beatles-Schallplatten in einer riesigen Holzmahlmaschine zu Staub zermalmt wurden. Ein weiteres Beispiel für die Feindschaft gegen die Beatles lieferte der Grand Dragon des Ku Klux Klans von South Carolina. Er hielt eine Zeremonie ab, bei der eine BeatlesSchallplatte an ein großes Kreuz geheftet und darauf verbrannt wurde.46 Solche Vorkommnisse entmutigten John Lennon keineswegs, sondern weckten sein politisches Interesse und Engagement. Vor allem die AntiKriegs-Bewegung war ihm ein zentrales Anliegen, doch auch Maoismus und Black Power wurden für ihn wichtige Begriffe. 1971 teilte er sogar die Bühne mit Black Power-Sprechern.47 Stärkstes Ausdrucksmittel blieb für John Lennon die Musik. Mit ihr drückte er Dinge aus, die er sonst nicht in Worte fassen konnte, ähnlich wie dies seine Vorbilder getan hatten. So sagt er 1971 in einer Fernsehsendung, der Mike Douglas Show, über Chuck Berry: Chuck Berry’s lyrics were intelligent. In the fifties, when people were singing about virtually nothing, he was writing social comment, songs with incredible meter to the lyrics, which influenced Dylan, me, and many other people.

48

In noch stärkerem Maß als die Beatles wurden die Rolling Stones von Chuck Berry und anderen schwarzen Musikern beeinflusst. Ihr erstes Album enthält ausschließlich Kompositionen ihrer Idole, und im Verlauf ihrer Karriere nahmen sie über ein Dutzend Lieder von Chuck Berry auf. Sie behielten ihre Musik und damit ihr Image nahe an der afro-amerikanischen

46 Wiener, Jon. Come Together – John Lennon In His Time. Urbana / Chicago 19912. S. 14. 47 Ebenda, S. 18. 48 Lennon, John. The Song I Just Sang: Mike Douglas Show, 14.-18. Feb. 1972; zit. Wiener, Come Together, 204-205.

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Musik und hoben sich so von den Beatles ab, die vor allem mit Pop-Musik und weniger mit Blues identifiziert wurden. Die Rolling Stones waren politisch nie so aktiv wie John Lennon, auch wenn der Sänger Mick Jagger 1970 in der Kopenhagener Zeitung Politiken behauptete, dass die Rolling Stones Geld in das Frühstücksprojekt49 der Black Panther investieren wollten. Vielmehr drückten sie sich in ihrer Musik aus und schrieben beispielsweise den Song Sweet Black Angel, den sie der Bürgerrechtlerin Angela Davis widmeten.50 Die Rolling Stones verschrieben sich dem Blues und dem Rhythm’n’Blues, denn diese Musik drückte wie keine andere ihre eigenen Gefühle aus. Umso erstaunter waren sie, als sie 1964 in den Chess Studios in Chicago ihrem Idol Muddy Waters das erste Mal begegneten, wo er die Decke streichen musste, weil er nicht genügend Platten verkaufte. Der damalige Bassist Bill Wyman erinnert sich diesbezüglich: We were unloading our van and taking the equipment in, [...], when this big black guy comes up and says, ‚Want some help here?‘ [...] And we look around and it’s Muddy Waters. He starts helping us carry in the guitars and all that. It was unbelievable. The awe we all had for something like that. As kids we would have given our right arms just to say hello to them – and here’s the great Muddy Waters helping to 51

carry my guitar into the studio. I mean, it was unreal.

So unwirklich dies für die Rolling Stones war, Muddy Waters war ihnen – der Name Rolling Stones bezieht sich auf den Titel eines seiner Songs – äußerst dankbar, dass sie seiner Musik zu dieser Popularität verhalfen. Er erklärt: When I started out, [...], they called my music ‚nigger music‘. People wouldn’t let that kind of music into the house. The Beatles started, but the Rolling Stones really

49 Vgl. Kapitel 2. 1 (S. 66ff.). 50 Jagger, Mick. Politiken. Kopenhagen 1970 (keine weiteren Angaben vorhanden.); zit. Sandford, Christopher. Mick Jagger – Sein Leben und seine Musik. München 1993. S. 229-250. 51 Wyman, Bill; zit. Bockris, Keith Richards, S. 82.

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made my kind of music acceptable. I really respect them for opening the doors for 52

black music.

Auch Chuck Berry war voll des Lobes für die jungen Engländer, die seine Musik spielten. Keith Richards seinerseits bedankte sich bei Chuck Berry, indem er ihn in den achtziger Jahren im Film Hail! Hail! Rock’n’Roll unter der Mitwirkung des weißen Gitaristen Eric Clapton, John Lennons Sohn Julian und weiteren Musikern hochleben ließ.53 Ebenso bedankten sich die Rolling Stones bei Fred McDowell, indem sie ihn nach Europa einluden, ihn dort festlich bewirteten und ihm 1971 durch ihre Neuinterpretation von You Gotta Move54 zum ersten Mal in seinem Leben zu viel Geld und Anerkennung verhalfen.55

4. 3 R EZEPTION DER AFRO - AMERIKANISCHEN M USIK IN DER Z EITSCHRIFT D OWN B EAT (1955-1964) Gesellschaftliche Strömungen aus Zeitungen und Zeitschriften aufzugreifen und zu interpretieren bedingt, dass man die öffentliche Meinung nicht mit der veröffentlichten Meinung gleichsetzt. Als Indikator für die Bedeutung der afro-amerikanischen Musik in der Gesellschaft ist die Zeitschrift Down Beat56 jedoch hervorragend geeignet. Zum einen widmet sie sich seit den dreißiger Jahren der afro-amerikanischen Musik, insbesondere dem Jazz, zum anderen gilt die Zeitschrift als wegweisend und wird in ganz Amerika aufgelegt. Zudem griff sie in den fünfziger und sechziger Jahren gelegentlich bewusst die Rassenfrage auf, indem sie auf Musiker einging und sie zu diesem Thema befragte. Im Folgenden soll betrachtet werden, wie sich die Problematik von Rassismus und Integration im Down Beat zwischen 1955 und 1964 widerspiegelte.

52 Waters, Muddy; zit. Bockris, Keith Richards, S. 359-365. 53 Bockris, Keith Richards, S. 359-365. 54 Vgl. Kapitel 3. 2. 3 (S. 140ff.). 55 Lomax, Land Where the Blues Began, S. 355. 56 Down Beat – Music from Coast to Coast. Chicago (Illinois) Januar 1955 - Dezember 1964.

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4. 3. 1 Die zweite Hälfte der fünfziger Jahre im Spiegel des Down Beat Down Beat widmete sich dem Thema der Diskriminierung afroamerikanischer Musik erstmals mit dem 1956 erschienenen Artikel von Dave Banks Group Seeks to Remove R&B Discs from Boxes57. Eröffnet wurde der Artikel mit: „White supremacists have chosen rock’n’roll music as their latest target in the continuing fight against desegregation in the south.“58 Im Artikel selbst wurde kritisiert, dass weiße Gruppierungen in New Orleans versuchten, Rock’n’Roll-Platten von den Musikautomaten und den Radio-Stationen zu verbannen, weil diese den Weißen auf das Niveau des Schwarzen herunterziehen würden. Im Artikel wurde weiter ausgeführt, weiße Gruppierungen hätten die NACCP beschuldigt, mit Rock’n’Roll einen Integrationskampf zu führen. Dies sei jedoch widersinnig, denn die Plattenfirmen würden zu hundert Prozent von weißen Besitzern kontrolliert. Der Artikel schloss, indem versichert wurde, dass die Mehrheit der weißen und schwarzen Bürger in New Orleans sich nicht durch die Hasspolitik einiger Weißer den Spaß am Rock’n’Roll nehmen lassen würde. Noch im selben Monat erschien ein weiterer Artikel, der das Thema der Integration in Bezug auf Rock’n’Roll aufgriff. Die Überschrift lautete Rock’n’Roll Helping Race Relations, Platters Contend59 und behandelte die Rassenfrage anhand von Äußerungen der schwarzen A-Cappela-Gruppe The Platters. Die Platters äußerten sich dahingehend, dass der Rock’n’Roll althergebrachte Vorurteile abbauen helfe und weiße Jugendliche zu neuen Ansichten führe. Down Beat zitiert zu Beginn des Artikels einen – der Name wurde nicht aufgeführt – der fünf Platters, der sagt:

57 Banks, Dave. Group Seeks to Remove R&B Discs from Boxes. In: Down Beat, 2. Mai 1956. Vol. 23, 9. S. 7. 58 Ebenda. 59 Gold, Don. Rock’n’Roll Helping Race Relations, Platters Contend. In: Down Beat. 30. Mai 1956. Vol. 23, 11. S. 14.

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ROCK AND ROLL is doing a lot for race relations. It is giving the kids a chance to meet rock and roll artists, and this is helping them find out that so many of the stories that they hear are not true.

60

Billie Holiday sorgte immer wieder für Schlagzeilen. Durch die Veröffentlichung ihrer Autobiographie 1956 wurde sie nicht nur zu einem Mythos hochstilisiert, sondern auch in Verbindung mit der Bürgerrechtsbewegung gebracht. Mit ‚Lady Sings the Blues‘ Is Tough, Revealing Story61 betitelte Down Beat die Buchrezension, die weit mehr war, als eine bloße Besprechung einer Autobiographie einer schwarzen Sängerin. Zum einen legte Nat Hentoff in der Einleitung dar, dass die Autobiographie in Zusammenarbeit mit William Dufty, einem Assistenten des Editors der New Yorker Post, geschrieben worden war. Dieser galt als Experte für Politik, was auf soziopolitische Aspekte in Lady Sings the Blues schließen ließ und die Autobiographie damit an Bedeutung bezüglich der Rassenfrage gewann. Zum anderen wurde dargelegt, wie schwer Billie Holiday unter den ungerechten Segregationsbestimmungen – den Jim-Crow-Gesetzen – gelitten hatte, was aus der Musik herauszuhören sei. Die Rezension endete mit der Feststellung: „It’s not a full portrait, but it will help those who want to understand how her music became what it is – the most hurt and hurting singing in jazz.“62 Billie Holiday blieb eine immer wiederkehrende Figur im Down Beat. Ihr Tod 1959 veranlasste die Zeitschrift, ihr einen zwei Seiten langen Nachruf mit der Überschrift „Requiescat in Pace“63 von Leonard Feather zu widmen. Des Weiteren fand Down Beat heraus, dass ihr Ehemann sich nicht gebührend um eine Grabstätte kümmerte und verhalf Billie Holiday zu einem ihrer würdigen Grab. Noch 1962 schenkte ihr die Zeitschrift mit

60 zit; Gold, Rock’N’Roll. 61 Hentoff, Nat. ‚Lady Sings the Blues‘ Is Tough, Revealing Story. In: Down Beat. 8. August 1956. Vol. 23, 16. S. 9. 62 Ebenda. 63 Feather, Leonard. Requiescat in Pace. In: Down Beat. 20. August 1959. Vol. 26, 17. S. 20-21.

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einem zwei Seiten langen Artikel Billie Holiday – The Voice of Jazz64 Beachtung. Die diskriminierenden Jim-Crow-Gesetze wurden im Down Beat oft indirekt kritisiert, doch mit der Schlagzeile „Jim Crow Shadow Hovers Over Vegas Jazz Efforts“65 vom 5. September 1956 und dem Artikel von John Tynan wurden die Segregationsbestimmungen direkt angegriffen. Zwar wurde der Spielerstadt Las Vegas hoch angerechnet, dass sie sich für den Jazz einsetze, doch wurde beanstandet, dass die schwarzen Musiker strikte durch den Hintereingang zu und von der Bühne gehen mussten. Selbst wenn sie von Gästen auf einen Drink eingeladen wurden, mussten die Musiker diesen wegen der Gesetzesbestimmungen ablehnen. Down Beat zieht daraus folgendes Fazit: If there is one subversive factor that can defeat the laudable drive to bring jazz music to Vegas, it is the ironic contradiction between the inherently democratic art form that is jazz and the social disease of racial discrimination that is all too tragically extant here.

66

Ein weiterer Artikel von John Tynan stellte den Schlagzeuger Art Blakey und seine Band The Jazz Messengers vor und behandelte damit den Jazz als Vermittler zwischen den Völkern. The Jazz Message – Art Blakey Has Embarked On a Jazz Crusade, Here and Abroad67 lautete der Titel und stellte Art Blakey als Jazz-Botschafter in Wort und Musik dar. In diesem Artikel erklärt Art Blakey, dass er Jazz als einziges Kulturgut betrachte, das in den USA entstanden sei und deshalb dem Ausland, z.B. Europa und Afrika, vorgestellt werden müsse. Er sagt wörtlich: Jazz is the most important movement in the world today. [...] No other force brings peoples and cultures together as jazz music does. Why, it’s worth more to this coun-

64 Feather, Leonard. Billie Holiday – The Voice of Jazz. In: Down Beat. 1. Februar 1962. Vol. 29, 3. S. 18-21. 65 Thynan, John. Jim Crow Shadow Hovers Over Vegas Jazz Efforts. In: Down Beat. 5. September 1956. Vol. 23, 18. S. 11. 66 Thynan, John. Jim Crow Shadow Hovers Over Vegas Jazz Efforts. 67 Thynan, John. The Jazz Message. In: Down Beat. 17. Oktober 1957. Vol. 24, 20. S. 15.

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try in foreign aid than as many billions of dollars the government can spend; because it’s American – through and through. The only really American art we can export to other peoples is jazz. [...] Only thing I haven’t figured out yet, [...], is how I’m goin’ to preach to those people over there when we don’t all speak the same language. [...] 68

But who needs words, man – they’ll get the message.

Zu seinem Erstaunen musste Art Blakey erkennen – wie übrigens viele andere schwarze Musiker auch –, dass er in anderen Ländern besser behandelt wurde als in seinem eigenen. Dies ließ ihn in dem 1961 erschienenen Artikel Message Received69 behaupten, dass er in Japan zum ersten Mal wirkliche Freiheit erlebte. Down Beat griff ein weiteres Thema auf, das viele schwarze Musiker bewegte: die Änderung des Namens. Dies wurde am Beispiel von William Evans beziehungsweise Yusef Lateef gezeigt und damit eine weitere Facette der Rassenfrage beleuchtete. Der Artikel Yusef Lateef70 erklärte, dass oft mit dem neuen Namen auch ein neues Leben für den Musiker – musikalisch und weltanschaulich – beginne. Indem William Evans 1949 zum Islam – dem Ahmadiyya Islamic movement – konvertierte, änderte er seinen Namen, aber auch sein Leben. Anders als Malcolm X, der zwar auch seinen Namen änderte, sich aber der Nation Of Islam anschloss, betont Yusef Lateef, dass seine Bewegung den „reinen“ – gemischtrassigen – Islam verfolge: It’s a nonsegregated movement, with missions throughout the world, [...] It is a true Islamic movement, designed to weed out the impurities that have crept into Islam and, as a result, attain peace and beauty. [...] It is the religion of peace and beauty. It shows mankind how to develop morally and elevate itself spiritually.

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68 Blakey, Art; zit. Thynan, Jazz Message, S.15. 69 DeMicheal, Don. Message Received. In: Down Beat. 11. Mai 1961. 28, 10. S. 15-16. 70 Gold, Don. Yusef Lateef. In: Down Beat. 1. Mai 1958. Vol. 25, 9. S. 18. 71 Lateef, Yusef; zit. Gold, Yusef Lateef, S. 19.

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Mahalia Jackson, die an vorderster Front der Bürgerrechtsbewegung sang, wurde 1958 mit A Profile of Mahalia72 von Studs Terkel großzügig portraitiert. Dies gab ihr die Gelegenheit, von den Spirituals, von deren Entstehung und Aussage zu erzählen. Der Artikel nahm nicht direkten Bezug auf die Bürgerrechtsbewegung, doch indirekt verwiesen Mahalia Jacksons Äußerungen klar auf die unbefriedigende Situation in den Südstaaten. Diese Äußerungen entstanden, indem sie erklärte, wie die Spirituals gesungen werden müssten, welche Gefühle sie ausdrückten. Obwohl die Situation nicht so schlimm wie zu den Zeiten der Sklaverei sei – eine neue Hoffnung liege in der Luft –, so wären immer noch die Sorgen aus den Liedern herauszuspüren. So sagt Mahalia Jackson in Bezug auf die Blues-Sängerin Bessie Smith, der sie – wie viele andere – in ihrer Kindheit mit Inbrunst zuhörte, Folgendes: Listening to a song by Bessie, it almost fits into your own plane. You have a troubled mind, you sense it in her. She’s an oppressed woman, a troubled woman. She’s trying to get free from something. It’s like a preachment, even though it’s the blues. More than words, you feel a troubled heart. [...] When I was a little girl, I felt she was having troubles like me. That’s why it was such a comfort for the people of the 73

south to hear her. She expressed something they couldn’t put into words.

In ihrer Kindheit und Jugend hörte Mahalia Jackson Blues und sang diesen auch. Doch dann wurde sie – wie sie sich ausdrückte – gerettet, d.h. zu einer gottesfürchtigen Haltung bekehrt. Von da an sang sie nur noch spirituelle Lieder, was jedoch genauso Ausdruck eines sorgenvollen Lebens sein konnte oder musste wie die Blues-Songs. Von der Art, Spirituals zu singen, behauptet sie: They [Spirituals] can’t be sung exactly as they were sung in the slavery days, because today the Negro people have a new type of hope. They don’t have to hide any more, like the slaves or the Jews in Egypt. [...] Oh yeah, we still have troubles, plenty burdens. So it still has to be from-the-heart singing. [...]

74

72 Terkel, Studs. A Profile of Mahalia. In: Down Beat. 11. Dezember 1958. Vol. 25, 25. S. 13-15. 73 Jackson, Mahalia; zit. Terkel, Profile, S. 14. 74 Ebenda, S. 14.

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Sie hoffte, mit ihrem Gesang den Leuten zu helfen, so wie andere Sängerinnen und Sänger ihr immer geholfen hatten, wenn sie Sorgen hatte. Sie hoffte, dass sie die Leute lehren könne, diese Lieder mit tiefem Gefühl zu singen, dass sie damit die Erinnerung an die Geschichte und die Wurzeln wachhalten könne. Down Beat kam zum Schluss, dass ihr dies gelungen sei, und dass sie als selbstsichere Frau ein Vorbild sei. Ein anderes Vorbild – das des arroganten Rebellen – war Ende der fünfziger Jahre für viele Schwarze der Trompeter Miles Davis. Dieser symbolisierte zu jener Zeit den selbstbewussten Südstaatler, der es im Norden trotz repressiver Umstände zu gesellschaftlicher Anerkennung gebracht hatte. Doch gerade diese Anerkennung machte durch einen Zwischenfall mit der Polizei in New York deutlich, dass er als Schwarzer immer noch nicht gleichgestellt war. The Slugging of Miles75 betitelte die Zeitschrift den Vorfall und stellte sich hinter den Trompeter. Miles Davis hatte für den Radiosender Voice of America am 26. August 1959 im Birdland, einem anerkannten Jazzclub an der 52. Strasse, gespielt. Nach der Aufführung begleitete er eine weiße Dame zum Taxi und stand, nachdem sie mit dem Taxi fortgefahren war, noch eine Weile auf dem Bürgersteig. Einem weißen Polizisten passte dies nicht und er forderte den schwarzen Musiker auf, weiterzugehen. Der widersetzte sich jedoch der Aufforderung, worauf der Polizist zusammen mit einem weiteren Polizisten in Zivil Miles Davis mit äußerster Brutalität zusammenschlug. Der Vorfall wurde durch mehrere Passanten bezeugt, und Miles Davis bekam sein Recht zugestanden. Down Beat benutzte die Gelegenheit, um auf Missstände ähnlicher Art hinzuweisen, und verurteilte die menschenverachtende Gewalt, die einem der wichtigsten zeitgenössischen Musiker Amerikas angetan worden war. Miles Davis erinnert sich in seiner Autobiographie an diesen Vorfall: [...]after that shit made the front pages of the New York papers for a couple of days, everything was quiet. A lot of people forgot about it in a second. But a lot of musicians and people in the know – black and white – didn’t, and thought I was a hero for standing up to the police like I did. [...]

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75 The Slugging of Miles. In: Down Beat. 1. Oktober 1959. Vol 26, 20. S. 11. 76 Davis, Autobiography, S. 240.

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Down Beat vergaß den Vorfall – im Gegensatz zu vielen anderen Zeitungen – nicht ganz so schnell und verfolgte ihn, wenn auch nur in Randbemerkungen, in zwei weiteren Ausgaben vom 18. Februar und 31. März 1960.77

4. 3. 2 Die erste Hälfte der sechziger Jahre im Spiegel des Down Beat Während in den fünfziger Jahren Down Beat vor allem indirekt auf rassenbedingte Missstände hinwies, häufte sich die direkte Kritik der Zeitschrift in den sechziger Jahren, und rassenbedingte Vorurteile wurden stärker thematisiert. Gleich zu Beginn der sechziger Jahre kamen mit dem Artikel The Press of the Tide78 zwei wichtige Vertreter der Musikbranche zu Wort, die beide für mehr Integration plädierten. Zum einen verlangte John Hammond, der Vorsitzende des Music Committee of the Urban League of Greater New York, dass 46 segregierte Lokale in den Südstaaten aufgehoben würden, und rief allgemein zum Kampf für mehr Integration auf. Seine gemischtrassige Organisation kämpfte für Chancengleichheit der Musiker auf dem Arbeitsmarkt sowie im Bildungsbereich. Zum anderen wurde Norman Granz, der zu dieser Zeit Ella Fitzgerald betreute, die Gelegenheit gegeben, auf Rassenvorurteile und Diskriminierung am Fernsehen hinzuweisen und diese zu verurteilen. Mit diesen beiden Exponenten stellte sich Down Beat hinter die Integrationsbestrebungen in der Musikbranche. Noch im selben Monat griff die Zeitschrift mit An Appeal from Dave Brubeck79 von Ralph J. Gleason dieses Thema wiederholt auf. Der Pianist Dave Brubeck beschwerte sich – wie bereits oben erwähnt –, dass er mit seinem schwarzen Bassisten Eugene Wright viele Konzerte wegen der Segregationsbestimmungen in den Südstaaten nicht geben könne. Brubeck sagte, dass er dadurch viel Geld verliere, aber trotzdem nur mit diesem Bassisten auf Tour gehe. Dazu zitiert ihn Down Beat folgendermaßen:

77 Miles Exonerated. In: Down Beat. 18. Februar 1960. Vol. 27, 4. S. 12. / Miles Files. In: Down Beat. 31. März 1960. Vol. 27, 7. S. 13. 78 The Press of the Tide. In: Down Beat. 4. Februar 1960. Vol. 27, 3. S. 12-13. 79 Gleason, Ralph J. An Appeal from Dave Brubeck. In: Down Beat. 18. Februar 1960. Vol. 27, 4. S. 12-13.

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It would be morally, religiously, and politically wrong. Prejudice is indescribable. To me it is the reason we could lose the whole world. [...] We have to realize how many brown-skinned people there are in this world. Prejudice here or anywhere else is setting our world up for one terrible let-down.

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Allein dieser Artikel hätte bereits genügend auf die Missstände hingewiesen. Doch Norman Granz, dem mit The Brubeck Stand einmal mehr eine ganze Seite eingeräumt wurde, meldete sich zu Wort, weil ihm Brubeck zu wenig weit gegangen war. Granz beanstandete, dass Brubeck zu stark die finanziellen Verluste durch den schwarzen Bassisten im sonst weißen Quartett betone und die segregierten Clubs und Konzerthallen zu wenig kritisiere. Granz hob hervor, dass es weniger wichtig sei, ob eine reinrassige oder gemischtrassige Band spiele, sondern dass diese Band vor einem nichtsegregierten Publikum auftreten könne. Granz kommt daher zu folgendem Schluss: Here is the crux of the matter: at no time did I see any guarantee that even if Brubeck had been allowed to appear with the mixed group, would he have been playing before a mixed audience, and the latter, I submit, is far more important than the mixed group. [...] The point is, only by enforceing vigorously the legal rights of everyone in an audience can true integration be achieved and not by holding up as an 81

example the mixing of musicians.

Die Diskussion um die Integration, erhielt mit dem Werk We Insist! Freedom Now! von Max Roach neue Impulse. Zum einen wurde das Album in höchsten Tönen gelobt, zum anderen widmete Down Beat mit dem Artikel The Drummer Most Likely to Succeed82 dem Schlagzeuger Max Roach drei Seiten, in denen seine Kritik an den herrschenden Zuständen nicht zu kurz kam. Zu We Insist! Freedom Now! zieht Don DeMicheal in der Albumbesprechung folgende Bilanz:

80 Brubeck, Dave; zit. Gleason, Ralph J. An Appeal from Dave Brubeck. S. 13. 81 Granz, Norman. A Divergent View by Norman Granz – The Brubeck Stand. In: Down Beat. 21. July 1960. Vol. 27, 15. S. 24. 82 Crawford, Marc. The Drummer Most Likely to Succeed. In: Down Beat. 30. März 1961. Vol. 28, 7. S. 20-21.

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This Album is the most devasting thing of its kind that I’ve heard. Sure, it’s protest. It’s also violent, in part. Some may object to the message it contains – and this is one album definitely with a message – but the sensitive listener cannot deny that it is a vibrant social statement and an artistic triumph.

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Max Roach selbst äußert sich zu seinem Werk, indem er die Umstände betont, die ihn zu We Insist! Freedom Now! motivierten: [...]I will never again play anything that does not have social significance. It is my duty, the purpose of the artist to mirror his times and its effects on his fellow man. We American jazz musicians of African descent have proved beyond all doubt that we’re master musicians of our instruments. Now, what we have to do is employ our skill to tell the dramatic story of our people and what we’ve been through[...] Little Rock, New Orleans[...]sit-in demonstrations[...]courage of our[...]young people[...]how can anyone consider my music independent of what I am? [...]reflection of all I feel[...]music must be fresh, original, technically correct, but must also be vital – have meaning or it’s nothing[...]new ethics needed if man is going to survive in the atomic age[...]no one can stand against change[...]don’t have to like me or my music so long as they understand what motivates it[...]art, real art has to come from within[...]praise for the color of my music, prejudice for the color of my 84

skin[...]funny bit[...] funny if it wasn’t too tragic.

Max Roach blieb nicht der einzige, der von Down Beat zu aktuellen Diskussionen um die Integration befragt wurde. Drei Monate später zeichnete Don DeMicheal ein Interview mit dem Cannonball Adderley Quintet auf, welches mit dem Titel Inside the Cannonball Adderley Quintet85 in voller Länge über zwei Ausgaben hinweg veröffentlicht wurde. Das Gespräch drehte sich im ersten Teil um die Einflüsse, die auf die Musik des Quintetts einwirkten, und um vererbbare musikalische Fähigkeiten. Der zweite Teil galt der Frage, ob schwarze Musiker – weil gefühlvoller – oder weiße Musiker – weil intellektueller – bessere Jazzmusiker seien. Das Cannonball

83 DeMichael, Don. Spotlight Review. In: Down Beat. 30. März 1961. Vol. 28, 7. S. 30. 84 Roach, Max; zit. Crawford, The Drummer Most Likely to Succeed. S. 21. 85 DeMichael, Don. Inside the Cannonball Adderley Quintet, Part 1+2. In: Down Beat. 8. + 22. Juni 1961. Vol. 28, 12. S. 19-22 + Vol. 28, 13. S. 16-18.

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Adderley Quintet, das mit dem englischen Pianisten Victor Feldman in der Band gemischtrassig war, verurteilte diese Vorurteile, doch wurde auch klargestellt, dass diese und andere Vorurteile nicht mit Gesetzen bekämpft werden könnten. Der Bassist Sam Jones bekräftigte, dass die Farbe für ihn keine Rolle spiele, wenn jemand swinge, dann swinge er. Und der Kornettist Nat Adderley erklärte: You can’t take prejudice out of people; you can’t legislate it out; you can’t even explain it. The only thing you can do is go along and follow your own little path and 86

hope that eventually everybody will see the light.

Diese Diskussionsrunde mit dem Cannonball Adderley Quintet war erst der Anfang. Rund ein Jahr später setzte Down Beat dieses Thema auf die Titelseite und widmete ihm mit der Reportage Racial Prejudice in Jazz87 zwei weitere Ausgaben. Der folgende längere Auszug – betreffend Grund, Teilnehmer und Resultat der Diskussionsrunde – bildet den Anfang und den Schluss der Reportage und widerspiegelt die gesamte Problematik der Bürgerrechtsbewegung im Kontext der afro-amerikanischen Musik: The growth of ill feeling – based on racial differences – between Negro and white jazzmen has become distasteful to most, alarming to some. A few self-proclaimed oracles have warned that ill feeling would lead to strict separateness and eventually kill jazz. But these are the few; the many recognize the situation as one that will be resolved with understanding on both sides. – Down Beat invited Abbey Lincoln, Max Roach, Ira Gitler, Don Ellis, Lalo Schifrin and Nat Hentoff to meet with Bill Coss and Don DeMicheal to air the situation. Much of the ensuing conversation revolved around Gitler’s review of Miss Lincoln’s Candid album Straight Ahead. [...] – Abbey Lincoln was at one time a supper-club singer but for some time has devoted her vocalizing to sterner stuff than the material heard in plush establishments. Much of her work, both as lyricist and performer, has dealt with social injustice. – Max Roach not only is one of the most influential drummers in jazz history, but is also a talented composer; many of his compositions have been sung by Miss Lincoln. Roach was the drummer on Miss Lincoln’s album. – Ira Gitler, currently writing a

86 Adderley, Nat; zit. DeMichael, Inside , Part 1, S. 22. 87 Racial Prejudice in Jazz, Part 1 + 2. In: Down Beat. 15. + 29. März 1962. Vol. 29, 6. S. 22-25. + Vol. 29, 7. S. 22-25.

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book dealing with jazz of the ’40s, is a regular Down Beat contributor and record reviewer. – Don Ellis has played with Maynard Ferguson and George Russell, among others. His thoroughly personal trumpet playing has caught the attention of critics and listeners. – Lalo Schifrin, born in Argentina but a resident of the United States for the last two years, is a composer and pianist of great merit and is currently a member of the Dizzy Gillespie Quintet. – Nat Hentoff is one of the most prolific freelance writers in this country and is generally recognized as one of jazz’ best writers. He was a&r man for Miss Lincoln’s album. – Bill Coss, who holds an M.A. in sociology, is associate editor of Down Beat. – Don DeMicheal is editor of Down Beat. [...]

88

[...]DeMicheal: I’d like to see things half and half in jazz[...] Miss Lincoln: Gerry Mulligan – how many Negroes did he have in his big band? Gitler: Clark Terry – Miss Lincoln: Clark was taking the place of somebody else. How many? Now if you wanted to really go to it, we are not the ones who have done this. The black man is so eager to integrate that it makes me sick. He’s eager for anything he can integrate into. It’s the white man who doesn’t want to integrate. Do I want to integrate? Not necessarily. Integrate into what? Why do I necessarily have to want to integrate? I have been refused all this time. Maybe I have decided I like being with my own people. Do you believe you have the right to tell me I must integrate with people who have always abused me and looked at me askance[...]? Roach: I believe this. Integration shouldn’t be – that’s a terrible word, „integration“ – for this reason, integration always seems to mean that we have to all get together[...] Ellis: Well, to integrate into a society, you have to accept its norms. Roach: Yes, but „integrated“, to me, shouldn’t mean racial integration – mental integration is how I prefer it. An integration where everything that’s available at this particular time – 1962 – that’s available to the white man, make it available for the black man. [...] Integration of necessities and luxuries. Hentoff: But there’s more than that. And this is what I hope is going to come out of this increasing Negro militancy, hostility, and disaffiliation. That once this kind of integration is achieved – and it’s a long way off, economically and every other way – that those people who have gotten into the habit of thinking in terms of social dis-

88 Racial Prejudice in Jazz, Part 1. S. 20.

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location, of opposing the society, will go further and question the very economic and social bases of the society aside from prejudice. For example, I’m a unilateral disarmament man. I think this is a psychotic society – on both sides – that we’re rushing into war. I think that there’s what Eisenhower – of all people – called the military-industrial complex that constricts everybody’s opportunity, economic and every other way. And if this kind of direct action against this sort of thing, that has been started by Negroes primarily, goes on farther to question the very core of society, then a lot will have been accomplished for everyone. [...] I’m with people like Lorraine Hansberry and Baldwin who say „integrate into what society?“ They are the ones who don’t agree anymore with many of the white standards of success. Schifrin: The whole thing is not because it’s a white society, it’s because it’s a wrong society. Hentoff: That’s right. Miss Lincoln: But it does happen to be a white society. Schifrin: You should see that in India; it’s a wrong society, too. Hentoff: Or in Liberia. Schifrin: The color of the skin has nothing to do with it. They are all the same colors. But there are the untouchables. Miss Lincoln: But still, in this country, you know. Roach: You’re right. The problem is here that we’re faced with. You can’t go down South with Dizzy [Gillespie]. So you are suddenly made conscious that there is something wrong. Schifrin: Not only this. In some hotels, they don’t let me go to the same floor they go. I ask, „Do you have a room on the same floor?“ „No, we don’t have.“ Roach: Therefore, if you want to rehearse some music you have written, you might break the segregation law and go to jail. Schifrin: No! No! No! I’m talking even about in the North. Some hotels send the other musicians to one floor and they send me to another floor. Hentoff: See, that’s why, in that letter you read to Down Beat, when he said let’s all be Americans[...] I think we ought to question what kind of Americans we are and what kind of Americans we ought to be. Ellis: But when you say „integration“ that doesn’t necessarily mean into a society. It just means you’ve got two opposing things, and you integrate. But not necessarily one comes over here and one goes over there. You read that into what I said. Miss Lincoln: But integration in this country means assimilation for the Negro. Ellis: It doesn’t have to.

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Roach: This is the way it’s inferred. Everybody seems to be [...] who’s worried about assimilation? Gitler: We’re talking about legal rights. Roach: The integration of the economic and social thing. Hentoff: If Negroes equate with the whites in accepting the economic system as it is, in accepting the political system as it is, then I don’t think integration will have done Negroes enough good. Coss: Integration, I would imagine, means not exchanging customs, or not exchanging rights, but just clasping hands. Miss Lincoln: If you clasp hands, though, you would have to exchange. Roach: It means something else to me. It means let’s take these problems and solve them together.

89

Diese Reportage war ein Höhepunkt der Debatte um soziale Gerechtigkeit zwischen Weißen und Schwarzen im Down Beat. Interessanterweise blieb die Diskussion der Gesprächsteilnehmer nicht im musikalischen Bereich stehen, sondern weitete sich zu einer allgemeinen Diskussion über die Gleichberechtigung zwischen Schwarzen und Weißen aus und schnitt die meisten Aspekte an, die zu jener Zeit wesentlich waren. Mit dem Schlusswort von Max Roach forderte die Reportage zur Zusammenarbeit auf. Ausgangspunkt und Beweggrund der Diskussion war und blieb allerdings die afro-amerikanische Musik. Das Thema wurde rund ein Jahr später mit The Need for Racial Unity in Jazz90 noch einmal als Titelreportage aufgegriffen. Die Zusammenstellung der Diskussionspartner war ähnlich, eine Mischung von Musikern und Journalisten, wenn auch die Personen von der ersten Reportage verschieden waren. Das Gespräch verlief im Wesentlichen gleich und brachte keine grundlegend neuen Erkenntnisse. Grundtenor blieb die Forderung nach verstärkter Zusammenarbeit in musikalischen sowie in gesellschaftlichen Bereichen. Down Beat ging mit gutem Beispiel voran und nahm einen schwarzen Mitarbeiter in den Kreis ihrer Journalisten auf. Bis dahin waren nämlich alle Jazzkritiker weiß. Dies änderte sich mit dem Schwarzen LeRoi Jones, der sich in diesem Jahr mit seinem provokativen Aufsatz Jazz and the

89 Racial Prejudice in Jazz, Part 2. S. 25. 90 The Need for Racial Unity in Jazz. In: Down Beat. 11. April 1963. Vol. 30, 8. S. 16-21.

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White Critic91 als neuer Mitarbeiter der Zeitschrift vorstellen konnte und darauf hinwies, dass die wichtigsten Jazzkritiker weiß, die wichtigsten Jazzmusiker schwarz waren. LeRoi Jones etablierte sich als selbstbewusster schwarzer Kritiker, der schwarze Forderungen und Ansichten vehement vertrat. So portraitierte er beispielsweise den Freejazz-Saxophonisten Archie Shepp mit dem Artikel Voice from the Avant Garde: Archie Shepp92 und unterstrich damit seine unabhängige Position. Eine weitere Änderung im Down Beat bestand darin, dass der Jazz an Bedeutung verlor und der Blues dafür mehr Gewicht erhielt. Man besann sich damit auf die Wurzeln der afro-amerikanischen Musik und erkor mit Muddy Waters, Big Joe Williams, Son House und Fred McDowell neue Helden und Märtyrer der afro-amerikanischen Musik.93 Der Einfluss der afro-amerikanischen Musik und deren Interpreten auf die Gesellschaft manifestierte sich also auf vielfältige Weise und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Zum einen wirkte sich der Einfluss ganz unbewusst aus, zum anderen versuchten Musiker bewusst, das Publikum von ihrer Position durch ihre Musik oder ihre Reden und Interviews zu überzeugen. Die Motive dazu waren jedoch nicht immer so uneigennützig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Gerade weißen Musikern wurde immer wieder vorgeworfen, sie raubten afro-amerikanisches Kulturgut, sie würden sich mit fremden Federn schmücken und sich Geld aneignen, das ihnen eigentlich nicht zustehe. Anderseits mussten sich schwarze Musiker den Vorwurf gefallen lassen, ihre politischen und sozialkritischen Bemerkungen der Publizität und Popularität wegen zu machen. Einem Veranstalter kam es sicher gelegen, wenn er das Konzert einem gemischtrassigen Publikum verkaufen konnte und sich nicht auf die weißen Zuhörerinnen und Zuhörer beschränken musste. So betrachtet verloren die feurigen Plädoyers für gemischtrassige Konzertveranstaltungen ihre altruistischen Züge.

91 Jones, LeRoi. Jazz and the White Critic – A Provocative Essay on the Situation of Jazz Criticism. In: Down Beat. 15. August 1963. Vol. 30, 23. S. 16-17. 92 Jones, LeRoi. Voice from the Avant Garde: Archie Shepp. In: Down Beat. 14. Januar 1965. Vol. 32, 1. S. 18-20. 93 Welding, Pete. Muddy Waters – Last King of the South Side? In: Down Beat. 8. Oktober 1964. Vol. 31, 27. S. 18-19. / Welding, Pete. Stringin’ the Blues – The Art of Folk Blues Guitar. In: Down Beat. 1. Juli 1965. Vol. 32, 14. S. 22-25.

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Gleichwohl übte die afro-amerikanische Musik einen erheblichen soziopolitischen Einfluss auf die Gesellschaft aus. Sie überlieferte die afroamerikanische Kultur und wurde damit Sprachrohr für die Hoffnungen und die Sorgen der Afro-Amerikaner. Durch die Forschung, die mit der Gründung des Archive of American Folk Song in der Library of Congress Auftrieb erhielt, gewann die afro-amerikanische Welt mit Hilfe der Musik eine Anerkennung, die ihr bis dahin versagt geblieben war. Des Weiteren sorgten berühmte afro-amerikanische Interpreten aus der amerikanischen Kultur mit ihrer Popularität – ob als Helden oder Märtyrer – für mehr Verständnis und Offenheit gegenüber der afro-amerikanischen Welt in der gesamten amerikanischen Bevölkerung. Weiße Musiker warben im Gegenzug für mehr gegenseitigen Respekt, indem sie die afro-amerikanische Musik aufgriffen und so den Schwarzen Anerkennung zollten, auch wenn sie dafür nicht nur Lob ernteten, sondern auch mit Verachtung konfrontiert wurden. Bewusst oder unbewusst regten die Musiker die Diskussion über die Integration zwischen der schwarzen und weißen Bevölkerung an, was die verschiedenen Berichte, Reportagen und Interviews in der Zeitschrift Down Beat belegen. Die afro-amerikanische Musik, Spirituals, Blues oder wie ihre Ausdrucksformen auch immer benannt wurden, führte die weiße und schwarze Gesellschaft nicht zwangsläufig zusammen. Doch die afro-amerikanische Musik half Vorurteile ab- und Brücken aufzubauen, auf denen sich schwarze und weiße Menschen über die rassenbedingten Gräben hinweg trafen und einander die Hände reichten.

5. Hip-Hop: Moderne Sklavenerzählungen?

Die heutige afro-amerikanische Generation leidet nicht mehr unter der Sklaverei oder der Segregation. Es gibt jedoch immer noch kulturelle und soziale Gräben zwischen schwarzen und weißen Bürgern sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in anderen Ländern wie z.B. Großbritannien. Slave Narratives oder Sklavenerzählungen wie auch afro-amerikanische Musik halfen, Sklaverei und Segregation in den USA zu überwinden, und beeinflussten die amerikanischen Gesellschaft stark. Die heutige Hip-HopKultur resp. die Rap-Musik ist ein neues Phänomen, welches seinen Ursprung in der afro-amerikanischen Kultur hat. In der Rap-Musik gibt es jedoch fast keine Gesangsmelodie mehr. Vielmehr wird zu Musik wortreich geredet, wodurch der Rap eher an Sklavenerzählungen als an Gospel oder Blues erinnert. Die heutige Hip-Hop-Kultur und die Rap-Musik werden zudem oft als vulgär, brutal und ohne moralische Prinzipien – kurz: nihilistisch – stigmatisiert. Ist dies jedoch wirklich wahr? Oder ist es möglich, auch den Hip-Hop und die Rap-Musik zu den Ursprüngen der in der afroamerikanischen Kultur verwurzelten Sklavenerzählungen und -musik zurückzuverfolgen? Und ähnlich wie Slave Narratives oder afroamerikanische Musik im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert: können der Hip-Hop und die Rap-Musik – als moderne afro-amerikanische Slave Narratives betrachtet – helfen, kulturelle Schranken und Rassendiskriminierung zu überwinden?

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5. 1 Z UR B EDEUTUNG DER AFRO - AMERIKANISCHEN M USIK FÜR AFRO - AMERIKANISCHE S CHRIFTSTELLER Die integrierende Rolle, welche Musik für die afro-amerikanische Kultur spielte, wurde von vielen afro-amerikanischen Schriftstellern wie Frederick Douglass, W.E.B. Du Bois, James Baldwin oder Amiri Baraka (früher als LeRoy Jones bekannt) beschrieben. Tatsache ist, dass Musik viel wichtiger als Literatur war (oder immer noch ist). Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer der Gründe war, dass die (orale) Geschichte oder Historiographie der afrikanischen Stämme und der Afro-Amerikaner viel leichter durch Lieder als durch Literatur der nächsten Generation adaptiert und weitergegeben werden konnte. Eine geschriebene Geschichte wurde nie überliefert wie auch Erzählungen nicht niedergeschrieben wurden, nicht einmal, als die Afrikaner frei in Afrika lebten. Diese wurden von einer zur nächsten Generation erzählt. Ein weiterer Grund war, dass es für Sklaven in den Vereinigten Staaten fast unmöglich war, schreiben und lesen zu lernen. Ironischerweise wurde ihnen von den Herren erlaubt, Gospel und Work Songs zu singen, was ihnen half, ihre Geschichten und ihre Geschichte, ihre Hoffnungen und Träume, ihre Wut und Trauer in ihrer eigenen musikalischen und damit in ihrer oralen Weise zu überliefern.1 Frederick Douglass erklärte in seinem Werk Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave (1845), wie wichtig (schwarze) Musik für ihn war. Er hob hervor, dass – vor allen anderen Einflüssen – Sklavenmusik ihm bewusst machte, dass er ein schwarzes Individuum war. Sie gab ihm eine neue erhöhte Wahrnehmung seiner selbst und drängte ihn, Kontrolle über sein eigenes Leben auszuüben. Allerdings war er sich während seiner Zeit als Sklave der Stärke dieser Sklavenlieder nicht bewusst. Erst als freier Mann realisierte er den Einfluss, welche sie auf ihn ausübten, erst dann verstand er ihre tiefere Bedeutung, ihren subversiven Charakter. Er kommentierte: „Every tone was a testimony against slavery, and a prayer and complaint of souls boiling against slavery, and a prayer to God for a

1

Cataliotti, Robert H. The Music in African American Fiction. New York/London 1995. S.4.

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deliverance from chains.”2 Jedoch nicht nur die Sklavenhalter der Südstaaten missinterpretierten die Lieder. Gemäß Frederick Douglass missverstanden auch die Abolitionisten des Nordens den Gesang der Afro-Amerikaner. Beide erkannten die Möglichkeit der Afro-Amerikaner nicht, sich damit zu maskieren und sich miteinander in der eigenen (musikalischen) Sprache zu verständigen.3 Ein weiterer Aspekt der Sklavenmusik wurde in Solomon Northups Erzählung Twelve Years a Slave (1853) betont. Musik und die Fähigkeit, Musik zu spielen, ermöglichte ihm – und wahrscheinlich manchen anderen auch – die physischen und psychischen Entbehrungen und Erniedrigungen der Sklaverei auszuhalten. Dank der Musik konnte er seine Freude und seinen Kummer ausdrücken. Oder wie er selbst schrieb: It [music] was my companion – the friend of my bosom – triumphing loudly when I was joyful, and uttering its soft, melodious consolations when I was sad. Often, at midnight, when sleep had fled afrightened from the cabin, and my soul was disturbed and troubled with the contemplation of my fate, it would sing me a song of peace. On holy Sabbath days, when an hour or two of leisure was allowed, it would accompany me to some quiet place on the bayou bank, and lifting up its voice, dis4

course kindly and pleasantly indeed.

W.E.B. Du Bois behauptete in The Souls of Black Folk (1903) sogar, dass die Afro-Amerikaner den USA gleich viel (oder vielleicht sogar mehr) gaben wie die Weißen. Eines der großen Geschenke war die Musik. Oder in seinen eigenen Worten: Your country? How came it yours? Before the Pilgrims landed we were here. Here we have brought our three gifts and mingled them with yours: a gift of story and

2

Douglass, Frederick. Narrative of the Life of Frederick Douglass, an American Slave. 1845. The Classic Slave Narratives. Ed. Henry Louis Gates, Jr. New York. Mentor. 1987. Zit, Cataliotti, The Music in African American Fiction, S. 5.

3

Cataliotti, The Music in African American Fiction, S. 5.

4

Northup, Solomon: Twelve Years a Slave. 1853. Puttin’ On Ole Massa. (Hg.) Gilbert Osofsky. New York. 1969. Zit., Cataliotti, The Music in African American Fiction, S. 7.

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song – soft, stirring melody in an ill-harmonized and unmelodious land; the gift of sweat and brawn to beat back the wilderness, conquer the soil, and lay the foundations of this vast economic empire two hundred years earlier than your weak hands could have done it; the third, a gift of the Spirit.

5

Jedoch nicht nur frühere Sklaven beschrieben die afro-amerikanische Musik und ihre Lyrik als wichtige Geschichten oder erachteten die Musik als essentiell für sie als Erzähler. Es gibt eine Kontinuität von den frühen Erzählern zu den heutigen afro-amerikanischen Schriftstellern. Das heißt allerdings nicht, dass afro-amerikanische Lieder Protestsongs wären, komponiert und gesungen gegen die weiße Vorherrschaft. Vielmehr gaben Gospel-Songs – welche nicht (nur) transzendental verstanden wurden – allgemein Hoffnung und Vertrauen auf eine bessere Zukunft. Andererseits dienten Work-Songs oder der Blues als ein Ventil für aufgestaute Emotionen. Dazu schreibt Ralph Ellison in seinem Aufsatz Blues People (1963) Folgendes: For the blues are not primarily concerned with civil rights or obvious political protest; they are an art form and thus a transcendence of those conditions created within the Negro community by the denial of social justice. As such they are one of the techniques through which Negroes have survived and kept their courage during that 6

long period when many whites assumed, as some still assume, they were afraid.

Ähnlich wie der frühere Sklave Frederick Douglass wurde sich der hundert Jahre später frei geborene Schriftsteller James Baldwin seiner afroamerikanischen Wurzeln durch afro-amerikanische Musik bewusst, welche ihm half, seine Identität klarer wahrzunehmen und seine Rolle als Schwarzer im weißen Amerika zu akzeptieren.7 In seinem Aufsatz The Discovery of What It Means to Be an American (1959), den er in der Schweiz schrieb steht dazu Folgendes:

5

Du Bois, W.E.B. The Souls of Black Folk. 1903. New York. Penguin Books. 1989. Zit. Cataliotti, The Music in African American Fiction, S. 3.

6

Ellison, Ralph. Blues People. In: Ed. Darwin T. Turner. Shadow and Act. 1964. New York. Vintage. 1972. Zit., Cataliotti, The Music in African American Fiction, S. 124.

7

Cataliotti, The Music in African American Fiction, S. 148.

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There, in that absolutely alabaster landscape, armed with two Bessie Smith records and a typewriter, I began to try to re-create the life that I had first known as a child and from which I had spent so many years in flight. It was Bessie Smith, through her tone and her cadence, who helped me to dig back to the way I myself must have spoken when I was a pickaninny, and to remember the things I had heard and seen and felt. I had buried them very deep. I had never listened to Bessie Smith in America (in the same way that, for years, I would not touch watermelon), but in Europe she helped to reconcile me to being a ‚nigger‘.

8

Man könnte denken, dass mit dem Ende der Segregation in den USA afroamerikanische Musik ihre wichtige Rolle für Afro-Amerikaner verlieren würde. Ähnlich irreführend ist die offensichtliche Änderung der Oberfläche, des Stils der afro-amerikanischen Musik. Sicherlich, die Gospel-Lieder wurden mit den Jahren ausgefeilter, genauso wie die Work-Songs sich zu Blues, Jazz, Soul, Funk oder Hip-Hop entwickelten. Trotzdem behielten sie gemäß Amiri Baraka (LeRoy Jones) ihre innere Essenz über all die Jahre oder Jahrhunderte. Daran ist zu denken, wenn weiter unten der Hip-Hop besprochen wird. Baraka konstatiert in Blues People (1963): Only Negro music, because, perhaps, it drew it’s strength and beauty out of the depth of the black man’s soul, and because to a large extent its traditions could be carried on by the ‚lowest classes‘ of Negroes, has been able to survive the constant and wilful dilutions of the black middle class and the persistent calls to oblivion made by the mainstream of society. Of course, that mainstream wrought very definite and very constant changes upon the form (Baraka’s italics) of the American Negro’s music, but the emotional significance and vitality at its core remain, to this 9

day, unaltered.

Wie wichtig die afro-amerikanische Musik nicht nur für Schriftsteller, sondern auch für Gesellschaftsführer wie Martin Luther King jr. und Malcolm X war, wurde bereits ausführlich behandelt. Die Reden von King und Mal-

8

Baldwin zit. nach Cataliotti, The Music in African American Fiction, S. 148.

9

Baraka, Amari. Blues People. New York. William Morrow. 1967. Zit., Cataliotti, The Music in African American Fiction, S 206. vgl. auch Jones, LeRoi. Blues People – Schwarze und ihre Musik im weissen Amerika. (Originalausgabe: Blues People. 1963.)

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colm X sind insbesondere deshalb für den Hip-Hop wichtig, da sie in die Musik integriert werden konnten und sich viele Hip-Hop-Künstler auf die Wortführer King und Malcolm X in ihren Texten beriefen. Vor allem die Hip-Hop-Band Public Enemy nahm die Ideen von Malcolm X auf und reichten sie durch ihre Songs – der bekannteste ist Fight the Power10 – weiter. Damit erreichten die Ideen von Malcolm X ein größeres Publikum als sich dies Malcolm X je hätte denken können. Wie sie dies taten (und immer noch tun) soll im Folgenden erläutert werden.

5. 2 H IP -H OP IN DER T RADITION S KLAVENERZÄHLUNGEN

DER

Was ist Hip-Hop? Heute ist Hip-Hop eine Kulturerscheinung, die zu den weltweit bekanntesten Richtungen der Populärmusik gehört, welche von den Massenmedien verbreitet wird. Verschiedene Filme – Blockbusters eingeschlossen – zeigen Hip-Hop-Musik und ihre Komponisten und sogar früher verschmähte Graffiti bilden heute einen Teil der hoch geschätzten (und bezahlten) Kunst. Doch was ist deren Ursprung und Entwicklung und was ist deren Bedeutung für die heutige Gesellschaft – und wie kann HipHop mit Sklavenerzählung in Verbindung gebracht werden? Die Erfolgsaufnahme Rapper’s Delight11 von den Sugarhill Gang aus dem Jahre 1979 kann als der Beginn des kommerziellen Erfolgs des HipHops bezeichnet werden. Das „Rappen“ selbst ist eine Gesangsdarbietung bei welcher der Sänger – oder besser: der „Rapper“ – gesprochene oder halbgesprochene Deklamationen – normalerweise rhythmische Verspaare – vorträgt, während dazu eine wiederkehrende Musiksequenz (ab-)gespielt wird. Obwohl Rap ein ziemlich neuer Stil zu sein scheint, wurzelt die Idee des Rappens tief in der afro-amerikanischen Kultur, wie beispielsweise folgende Elemente: Anfeuerungsrufe, afro-amerikanischer Predigerstil, ScatGesang etc. Die heutige Form der Rap-Musik ist Mitte der Siebzigerjahre

10 Vgl. Anhang 11 Vgl.: www.youtube.com/watch?v=diiL9bqvalo, 31. Juli, 2008.

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des 20. Jahrhunderts entstanden, und zwar unter den afro-amerikanischen und afro-karibischen Jugendlichen in New York City.12 In den frühen Tagen mischten die DJ Rhythmen und Klangbruchstücke von verschiedenen Aufnahmen zusammen, um ihr Publikum zum Tanzen zu ermuntern: anfänglich in Parks, auf Strassen und lokalen Parties, später in Clubs. Einige dieser DJ gaben einfache „Raps“ zum Besten und feuerten damit ihr Publikum zum Tanzen an. Sie erzählten auch ihre persönliche Geschichte, indem sie Wörter und Sätze zusammensetzten und Rhythmen und Strophen zusammenreimten. Einige begannen auch wortreiche lyrische Gedichte zu erzählen. In der Folge beschrieben sie nicht nur ihre persönlichen Schicksale, sondern allgemeine soziale Missstände. Aus diesem Grund wurde der Hip-Hop als Äußerungsform für Klassendebatten, Geschlechterkampf und verschiedene andere Themen wichtig, die mit Identität resp. Selbstverständnis assoziiert werden.13 Über die letzten zwanzig bis dreißig Jahre entwickelte sich der Hip-Hop enorm. Rapper und Produzenten entwickelten viele Facetten und Stile, welche verschiedene Dinge auf unterschiedliche Arten zum Ausdruck brachten. Es gab Änderungen bezüglich des lyrischen Fokus, der Sprache, der Körpersprache, des Rhythmus oder der Mode. Zudem tauchten durch die weltweite Ausbreitung des Hip-Hops viele regionale Stile auf.14 Die Bedeutung des Hip-Hops beschränkt sich nicht auf die Texte, sondern erstreckt sich auch auf Videos oder Filme, welche Teil der Hip-HopKultur waren und sind. Durch sie erreichten die Künstler einen noch größeren Einfluss auf ihr Publikum und wurden zu starken Rollenmodellen für viele junge (Afro-)Amerikaner. Gemäß diesen Überlegungen wird in diesem Kapitel die Bedeutung des Hip-Hops analysiert. Wie bereits oben erwähnt begann der Hip-Hop als Veranstaltung. Diese Anlässe fanden in Parks, Strassen, Kellern oder an Schulparties statt, eventuell auch an Tanzabenden oder in Clubs. Der Bezug zwischen Rap und einer Live-Aufführung kann leicht anhand der frühen Rap-Singles wie auch an Schwarzaufnahmen von frühen Aufführungen gezeigt werden. Die Rapper oder DJ versuchten die Leute zum Tanzen zu bringen und interagierten

12 Ramsey, Jr., Guthrie P. Race Music – Black Cultures from Bebop to Hip-Hop. Berkley/Los Angeles/London 2003. S. 165. 13 Ramsey, Race Music, S. 165-166. 14 Ebenda, S. 166.

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daher mit dem Publikum. Diese „Frage-und-Antwort“15-Tradition ist wichtig, um die Texte und ihre Bedeutung für das Publikum zu verstehen, auch wenn die Gedichte nicht so originell und ausgefeilt wie später waren. Dennoch gibt diese interaktive Tradition bereits einen klaren Hinweis für die Wichtigkeit der Rapper als Rollenmodelle. Sie wollten nämlich nicht nur ihr Publikum zum Tanzen animieren, sondern sie wollten auch, dass es ihnen zuhörte.16 Später wurde der Rap studioorientierter. Das Frage-und-AntwortSchema erschien immer noch in den Liedern, aber es wurde mit einem Publikum im Studio produziert. Die Lieder waren strukturierter als zu Beginn und der Fokus war auf den Studioaufnahmen, da die Platten resp. CDs weltweit verkauft werden sollten. Run-D.M.C war die erste Rap-Band, deren Verkaufszahlen den Platin-Status überschritten. Ihre Hitsingle It’s Like That17 von 1983 ist ein gutes Beispiel für die Änderung in der Rap-Musik. Das Lied ist beinahe ein Pop-Song mit Strophe/Refrain-Schema und thematischem Fokus. In der Tat ist It’s Like That ein thematischer Song, welcher von Kummer und Armut in den multikulturell oder afro-amerikanisch dominierten Vororten von großen Städten wie New York handelt. Die Strophe enthält Zeilen wie „Bills fly higher everyday/We receive much lower pay”, gesungen von einem Rapper, während der Refrain von einem Publikum im Studio intoniert wird, welches immer wieder „It’s like that” antwortet.18 Durch die neue Songstruktur verwandelte sich der Hip-Hop von einer ortsabhängigen zu einer beweglichen Kunst. Dadurch wurde sie besser verkäuflich, besser konsumierbar und erreichte auch ein größeres Publikum. Damit wurde der Rapper sowohl als Künstler wie auch als Rollenmodell wichtiger und konnte seine Botschaft einem Millionenpublikum vermitteln. Oft waren das Image und die Botschaft eines Rappers maskulin (oder machistisch), hart, grausam und rebellisch. Sie nannten sich „bad“ (z.B. der

15 Das „Call and Response“-Prinzip oder Frage-Antwort-Muster basiert auf dem Ruf (Call) eines Vorsängers und der darauf folgenden Antwort (Response) des Chors. Vgl. auch Kapitel 1. 1 (S. 33ff.). 16 Dimitriadis, Greg: Performing Identity/Performing Culture – Hip Hop as Text, Pedagogy, and Lived Practice, S. 15-19. 17 www.youtube.com/watch?v=ZpM4G20Ltpk, (31 Juli, 2008), und Anhang. 18 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 19-21.

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Rap von L.L. Cool J I’m bad19), was grundsätzlich schwarz bedeutete, und zwar im Gegensatz zur weiß dominierten Gesellschaft, in welcher ein Farbiger zunächst einmal als schlecht betrachtet wurde, bis er die Chance bekam, zu beweisen, dass er gut war. Ironischerweise bekam der Begriff „bad“ bald die Bedeutung „good“. Viele junge Afro-Amerikaner in den Vororten der Großstädte konnten sich perfekt mit den Rappern identifizieren, welche als starke Männer idealisiert wurden, die gegen ein weißes Wirtschaftssystem kämpften, indem sie Tonträger verkauften und dadurch nicht nur reich, sondern auch akzeptiert wurden. Rapper waren die Kumpel, die es schafften, aus einer von Sex, Drogen und Kriminalität dominierten Gegend in ein nettes weißes Quartier umzuziehen resp. aufzusteigen.20 In den späten achtziger Jahren deklarierte die Formation Public Enemy ihren Standpunkt klar. Sie rappten und erzählten nicht nur über ihre miserable Lebenssituation in den Vorortghettos, sondern machten mehr oder weniger klare politische und soziale Statements zur Unterdrückung von Farbigen im weißen Amerika. Sie standen der Ideologie der Nation Of Islam21 nahe und ihre Alben widerspiegelten schwarz-nationalistische Themen. Liedtitel wie Rebel Without a Pause oder Prophets of Rage bezeugten den Willen für eine schwarze Nation zu kämpfen und die Rap-Gedichte von Public Enemy glichen dem Glauben und den Predigten von W.D. Fard und Elijah Muhammad der Nation Of Islam. Dimitriadis stellt fest, dass „the Nation of Islam became a pronounced force in rap at this time, its blend of militancy and pro-black ideology finding enthusiastic support among many young African Americans.“22 Public Enemy stellte sich eine afroamerikanische Gesellschaft vor, wie dies die Nation Of Islam tat, und hoffte, dass sie mit Hilfe der Rap-Musik und der neuen Technology ihre Botschaft ihrem Publikum kommunizieren kann, damit es dadurch geeint wird.23 Der Hip-Hop begann an der Ostküste der USA und verbreitete sich schnell über ganz Amerika oder gar die Welt. An der Westküste etablierte sich eine neue Art von Rap, der Gangsta Rap genannt wurde. Während

19 www.youtube.com/watch?v=ZpM4G20Ltpk, (31 Juli, 2008). 20 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 21-25. 21 Vgl. Kapitel 2. 1. 2 (S. 78ff.). 22 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 26. 23 Ebenda.

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Public Enemy versuchte, die Afro-Amerikaner gegen das Establishment zu vereinen, entwickelten die neuen Protagonisten das Image eines gewalttätigen Gesetzesbrechers, welcher alleine gegen die Gesellschaft kämpft und seine Probleme durch rohe Gewalt löst. Dieser Typus ist gemäß Dimitriadis tief im amerikanischen Selbstbewusstsein verwurzelt. Dimitriadis erklärt: „[h]e embodies such capitalist values as rugged individualism, rampant materialism, strength through physical force, and male domination, while he rejects the very legal structures defining that culture.”24 Dimitriadis betont, dass der Gangsta mit seinen Texten und seinem Image tief in der (afro-) amerikanischen Kultur verwurzelt ist. Nichtsdestotrotz steht der Gangsta auch für eine romantische Figur oder dient als Aushängeschild für jugendliche Rebellion, dessen Texte sowohl ein schwarzes wie auch ein weißes Publikum ansprechen können.25 Gangsta Rapper interagierten nicht mehr mit dem Publikum wie die früheren Rapper, sondern erzählten ihre Geschichten geradeaus. Sie rappten oder erzählten von ihrem persönlichen Leben in einem afro-amerikanischen oder multikulturellen Quartier, von ihren Problemen mit der Polizei, von ihren Freunden, welche in einem Feuergefecht starben, von ihren Müttern, welche sich nicht um sie kümmerten oder kümmern konnten, da sie drogenabhängig waren, oder von ihren Vätern, welche aus dem einen oder anderen Grund verschwanden. Kurz: Sie rappten oder erzählten von einer Realität in den USA, welche oft von den Medien ignoriert wurde. Rap wurde zu einer Musik, die auf Erzählung basierte. Einige Rapper betrachteten den Rap sogar als den CNN des farbigen Amerika. Dazu erklärte der Rapper Ice Cube: I give information to the people in Atlanta, that the people in Atlanta never even thought about. It’s a form of unite, it does form a unity that we’re startin’ to put to26

gether…[Rap is] a formal source to get our ideas out to wider groups of peers.

So gesehen diente der Gangsta Rapper zwei Zwecken. Erstens war er ein Reporter, der über das tägliche Leben von Leuten informierte, welche meistens von den offiziellen Medien ignoriert wurden. Und zweitens figurierte

24 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 29. 25 Ebenda. 26 Cross B. zit. Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 28.

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er als Rollenmodell für all jene, die in einer ähnlichen Situation waren – oder dies zumindest zu sein glaubten –, und gab ihnen ein bisschen Trost mit seinen Rap-Erzählungen oder sogar die Hoffnung auf ein (wirtschaftlich) besseres Leben, wie dies so viele berühmte Rapper hatten oder zumindest zu haben vorgaben. Weiter unten wird erläutert werden, wie junge (farbige) Amerikaner auf die Rap-Musik reagierten. Zunächst soll jedoch etwas über den Hip-Hop in Filmen wie beispielsweise Do the Right Thing, Boyz N the Hood oder Juice gesagt werden, da die Texte oder Rap-Erzählungen in Kombination mit filmischen Bildern und musikalischen Gesten einen noch größeren Eindruck auf das Publikum erzielen. Das Medium Film war immer schon sehr wichtig für die Wahrnehmung und Reflexion von sozialen Erscheinungen. Dabei wurden die AfroAmerikaner allzu oft als bestialische Vergewaltiger oder dann als augenrollend grinsende Clowns präsentiert. Daher bekämpften viele Aktivisten diese Stereotypen in den Sechzigern und Siebzigern während und nach der Bürgerrechtsbewegung.27 Der afro-amerikanische Filmproduzent und Regisseur Spike Lee ist einer der Bekanntesten, der sich stark für ein anderes Image der Afro-Amerikaner in den Filmen einsetzte. Daher kämpfte er dafür, die Filmrechte für die Verfilmung der Biographie von Malcolm X zu erhalten, mit der Begründung, dass ein Film über Malcolm X von einem Afro-Amerikaner gedreht werden müsse. Spike Lee erhielt die Rechte und drehte den Film in den frühen neunziger Jahren. Doch nicht alle AfroAmerikaner waren mit dem Resultat zufrieden, denn Malcolm X wurde nicht radikal genug dargestellt, nicht so, wie ihn die vielen Hip-Hop-Songs darstellten. Selbst wenn sich über die filmische Darstellung von Malcolm X debattieren lässt, so gibt es keinen Zweifel darüber, dass er durch den Film einem breiten Publikum bekannt wurde. Allerdings kann man kritisch hinterfragen, ob das Publikum sich wirklich ernsthaft mit dem Erbe von Malcolm X auseinandersetzte.28 Bessere Kritik erhielt Spike Lee von der Hip-Hop-Gemeinde für seinen Erfolgsfilm Do the Right Thing (DTRT) aus dem Jahre 1989, welcher in einem Quartier in Brooklyn, New York, spielt. DTRT ist in vieler Hinsicht

27 Ramsey, Race Music, S. 166. 28 Zips, Werner / Kämpfer, Heinz. Nation X: Schwarzer Nationalismus, Black Exodus & Hip Hop. Wien 2001. S. 294-299; Ramsey, Race Music, S. 71.

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wichtig: Vor allem gelingt es Spike Lee unter Verwendung von Rap-Musik viele soziale Themen wie beispielsweise ethnische Identität bildlich darzustellen.29 In DTRT griff Spike Lee die Hip-Hop-Kultur mit Hilfe der Figur Radio Raheem auf. Dieser geht ständig mit einem Ghettoblaster auf seinen Schultern oder in seinen Händen im Quartier umher, wie dies viele Hip-Hopper zu dieser Zeit oder zu Beginn der Hip-Hop-Kultur taten. Vielfach starteten sie damit eine Party oder markierten ihr Revier, indem sie die Lautstärke aufdrehten, wo und wann sie wollten. Radio Raheem hört ständig Fight the Power30 von Public Enemy, womit der Song den ganzen Film hindurch ertönt. Radio Raheem trägt grosse Messingringe an beiden Händen, auf welchen Love und Hate geschrieben steht, womit das Ringen zwischen den beiden Kräften verdeutlicht werden soll. Es ist auch möglich, dass die Ringe die beiden Protagonisten Martin Luther King jr. (love) – für gewaltlosen Widerstand – und Malcolm X (hate) – für Selbstverteidigung im Kampf gegen weisse Unterdrückung gegen Afro-Amerikaner – stehen. Diese Interpretation macht insofern Sinn, da eine andere Figur, der geistig behinderte Smiley, immer mit einem Bild herumgeht, welches Martin Luther King jr. und Malcolm X händeschüttelnd zeigt.31 Obwohl Radio Raheem im Film kaum spricht (er spricht hauptsächlich durch Fight the Power), besitzt er eine wichtige Rolle. Er und sein afroamerikanischer Freund Buggin Out versuchen nämlich gegen den weißen Italo-Amerikaner Sal zu protestieren, da dieser in seiner Pizzeria nur Fotos von weißen Stars aufgehängt hat. Sie tun dies mit einem Sit-In, ähnlich den Kampagnen von Martin Luther King jr. und der Bürgerrechtsbewegung. Das Sit-In schlägt allerdings fehl, da Radio Raheem die Lautstärke seines Ghettoblasters nicht runterdrehen will, als Sal ihn bittet, diese „Jungle Music“ leiser zu stellen. Darauf zertrümmert der Pizzeriabesitzer den Ghettoblaster. Aus dem Streit entsteht ein Handgemenge und aus dem Handgemenge ein Krawall mit vielen Beteiligten und Zuschauern. Weiße Polizisten erscheinen und versuchen die beiden Afro-Amerikaner zu verhaften, wobei Radio Raheem erwürgt wird. Dies ist eine Anspielung auf ein Ereignis von 1983, bei welchem der Hip-Hopper und Graffiti-Künstler Michael

29 Ramsey, Race Music, S. 173. 30 Vgl. oben und Anhang. 31 http://en.wikipedia.org/wiki/Do_the_Right_Thing (18. Juli, 2008).

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Stewart in einer ähnlichen Art wegen Verunstaltung öffentlichen Eigentums verhaftet werden sollte und dabei getötet wurde. 32 Die Menge wird zum wütenden Pöbel und zerstört die Pizzeria. Die Pizzeria beginnt zu brennen, worauf Feuerwehrleute erscheinen und das Gebäude zu löschen beginnen. Doch schon bald richten sie ihre Wasserwerfer gegen die Menge – sehr ähnlich wie Afro-Amerikaner während der Bürgerrechtsbewegung dies erlebten –, was diese noch mehr aufbringt. Nachdem das Gebäude fast ganz zerstört ist, hängt Smiley sein Bild von den Hände schüttelnden King und Malcolm X an die verbliebene Wand. Am nächsten Tag versöhnen sich der Italo-Amerikaner und sein afroamerikanischer Angestellte vorsichtig. Der Film endet mit zwei Zitaten. Das erste Zitat von Martin Luther King jr. besagt, dass Gewalt unter keinen Umständen gerechtfertigt werden kann. Das zweite Zitat von Malcolm X besagt, dass Gewalt „intelligent“ ist, falls sie zur Selbstverteidigung dient.33 Man kann argumentieren, dass die Figur Radio Raheem zu simple sei und dass man in seine Rolle im Film nicht zu viel hineininterpretieren sollte. Andererseits wird Rap im Film hochgradig politisch verwendet. Ramsey argumentiert, dass „[…] this discourse spilled out of the reel world and into the real world, proving that expressive culture has the power to make worlds and worldviews, even as it is shaped by the social world.”34 Des Weiteren erklärt er: The political insurgency of Public Enemy’s lyrics encouraging listeners to stand up to hegemonic forces in society and the dense musical play in the rhythm track that makes use of sampled excerpts from black music history (most prominently James Brown) signify profoundly. If you silence this music, you have effectively silenced the past, present, and future of the community. … The cinematic and, most important to my discussion, the musical construction of this character provides an important commentary on race, class, and gender in American society.

35

Spike Lee konnte Public Enemy mit der Figur Radio Raheem tatsächlich eine sehr prominente Plattform geben. Andere hätten dies nicht getan.

32 http://en.wikipedia.org/wiki/Do_the_Right_Thing (18. Juli, 2008). 33 Ebenda. 34 Ramsey, Race Music, S. 180. 35 Ebenda.

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Chuck D. von Public Enemy erklärte 1988, dass sich die Boston Arena mit dem Argument weigerte, ihre Show zu buchen, Rap-Fans seien ein problematisches Element.36 Doch warum sollten Public Enemy die Erlaubnis nicht erhalten, in der Boston Arena zu spielen? Gemäß Tricia Rose würde die Präsenz einer vorwiegend farbigen Zuhörerschaft in einer 15.000 Plätze zählenden Arena die Angst provozieren, dass die Ballung farbiger Wut vielleicht gegen diejenigen Leute und Institutionen gerichtet werden würde, welche die Beherrschung und Unterdrückung Farbiger unterstützen. Vor allem dann, wenn die Männer auf der Bühne die Angst und den Groll der Farbigen mit ihrer Musik und ihren Texten ausleuchten und bekräftigen.37 Einige Filme sind bekannter als andere, aber alle erwähnten Filme sind wichtig für die Wahrnehmung der Hip-Hop-Kultur durch junge AfroAmerikaner, vor allem auch, weil einige Rapper in Filmen auftraten, wie Ice Cube in Boyz N the Hood (1991) oder Tupac Shakur in Juice (1992), nicht zu vergessen die unzähligen Musikvideos, welche auf MTV oder anderen Fernsehstationen gesendet wurden. Gangsta Rap und Filme wie Boyz N the Hood oder Juice kreierten das Image, die farbigen Jugendlichen seien träge, kriminell, brutal und schiesswütig – oder kurz: nihilistisch. Dies heißt, dass diese Jugend ein Leben ohne Sinn, ohne Hoffnung und vor allem ohne Liebe führe. Vielen Bürgern flösste der Gangsta Rap Angst ein. Sogar die verstorbene C. Dolores Tucker, eine frühere Bürgerrechtsaktivistin, opponierte stark gegen das neue (Selbst-)Bild der jungen Afro-Amerikaner.38 Andererseits verkaufte und verkauft sich der Gangsta Rap immer noch sehr gut. Somit stellt sich die Frage: Was kann Hip-Hop und speziell Gangsta Rap jungen (farbigen) Amerikanern geben? Greg Dimitiadis untersuchte diese Frage, indem er junge AfroAmerikaner im Rahmen eines Forschungsprojekts in einem Gemeinschaftszentrum in einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA befragte. Ein Resultat war, dass viele Jugendliche erklärten, dass sie nur durch Rap-Songs etwas über die afro-amerikanische Geschichte in den USA erfahren wür-

36 Rose, Tricia. Hidden Politics: Discursive and Institutional Policing of Rap Music. In: Perkins, William Eric (Hg.). Droppin’ Science – Critical Essays on Rap Music and Hip Hop Culture. Philadelphia 1996. S. 244-245. 37 Ebenda, S. 245. 38 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 69.

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den. Viele beanstandeten, dass sie in der Schule nur einen Monat – den kürzesten – etwas über die afro-amerikanische Geschichte lernten, und auch nur über Martin Luther King jr. und die Bürgerrechtsbewegung, während Malcolm X oder die Black Panther Party nicht einmal erwähnt würden. Demgemäß sind die Jugendlichen auf Filme wie Spike Lees Malcolm X oder Mario Van Peebles Panther angewiesen. Ob diese Filme allerdings wirklich helfen, über das wahre Leben von Malcolm X und seinen Einfluss auf die (afro-)amerikanische Gesellschaft sowie die Black Panther Party zu informieren, darf hinterfragt werden. Wenigstens hören die Jugendlichen – vielleicht das erste Mal in ihrem Leben –, abgesehen vom gewaltlosen Widerstand der Bürgerrechtsbewegung, von anderen Aspekten des Kampfes der Afro-Amerikaner um Akzeptanz.39 In der Hip-Hop-Kultur vermitteln jedoch nicht nur Filme historische Informationen. Es ist nämlich im Political Rap oder Message Rap nicht unüblich, Samples (sich wiederholende Klangschnipsel) zu verwenden, welche aus Originalreden von Martin Luther King jr., Malcolm X oder Louis Farrakhan stammen. Dazu wird ein stampfender Rhythmus gemischt und gerappt, sodass kein Zweifel an der Zielrichtung des Stücks aufkommt. Obwohl der politische Rap nur ein kleines Segment der Musikindustrie ausmacht, übt er gemäß Ernest Allen jr. einen starken politischen und künstlerischen Einfluss auf die jugendlichen Hörer und die Künstler im Allgemeinen aus.40 Sogar Gangsta-Rapper wie Tupac Shakur lieferten wichtige historische Kommentare zum afro-amerikanischen Kampf um Akzeptanz. Indem er über seine eigene Biographie rappte, konnte Tupac Shakur Jugendlichen vielleicht mehr Informationen als manches Schulbuch geben. So erzählte er beispielsweise im Lied Dear Mama41 des Albums Me Against the World die Geschichte von ihm und seiner Mutter, welche ein berühmtes Mitglied der Black Panther Party war und später von der Droge Crack abhängig wurde. Das heißt natürlich nicht, dass Afro-Amerikaner in der Schule nichts lernen könnten. Sie fühlen sich in den Schulbüchern nur oft nicht genug repräsentiert, weder historisch noch zeitgenössisch. Einige Rapper beklagen sich über diesen Missstand, andere ermutigen die farbige Jugend die Schule

39 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 69. 40 Allen in Perkins S. 259-261. 41 Vgl. Kapitel 5. 3 (S. 204ff.).

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abzuschließen, wie dies beispielsweise Chuck D. von Public Enemy in einem Interview in seinem afro-amerikanischen Slang tut: It’s true, they’re not teaching us our history at school. Those muthafuckas are sayin’, ‚I ain’t supposed to.‘ They don’t give a fuck. But you better get through high school, and whatever they teach, you better do your best to learn it. Spend less time drinkin’ them damn 40’s [bottles of forty-ounce malt liquor], spend less time on the corner and more time in them books.

42

Abgesehen davon, dass sie die afro-amerikanische Geschichte und das Wissen über die afro-amerikanische Tradition weitergeben, reflektieren RapKünstler ihr tägliches Leben und helfen den Zuhörern damit, ihre eigene Identität zu finden. Identitäten werden nämlich auf viele komplexe und widersprüchliche Arten gebildet. Die Erzählung ist eine wichtige davon. Dimitriadis erklärt dies folgendermaßen: Narratives order events and relevant participants in ways that implicate larger meaning-making systems or discourses. These narratives, or stories, are the tools through 43

which we understand ourselves and our relationships to others.

Jedoch nicht nur Erzählungen und Geschichten können uns helfen, uns und unsere Beziehung zu anderen besser zu verstehen. Speziell in der Hip-HopKultur, welche durch Film, Video-Clips und die Medien geprägt ist, spielt der Erzähler eine ebenso wichtige Rolle wie die Erzählung. Er wird zu einem Helden, zu einer gottähnlichen Figur, welche als Projektionsfläche für viele Hoffnungen und Ängste der Zuhörer dient. Je mehr die Erzählungen mit dem wirklichen Leben des Rappers übereinstimmen, desto besser. In dieser Beziehung ist Tupac Shakur ein exzellentes Beispiel. Seine Texte sind sehr direkt und finden den Weg in die Köpfe und Herzen der Zuhörer,

42 Chuck D. zit. Allen, Ernest, Jr. Making the Strong Survive: the Contours and Contradictions of Message Rap In: Perkins, William Eric (Hg.). Droppin’ Science – Critical Essays on Rap Music and Hip Hop Culture. Philadelphia. 1996. S. 181. 43 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 94.

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weil seine Erzählungen den Tatsachen seines Lebens entsprechen und weil die Jugendlichen sich mit dem Erzähler identifizieren können.44

5. 3 T UPAC S HAKUR – E IN MODERNER AFRO - AMERIKANISCHER E RZÄHLER Tupac Amaru Shakur (16.6.1971-13.9.1996) war ein Künstler, dessen Verkaufszahlen zu den höchsten zählten. Gemäß dem Guinness Buch der Rekorde war er der Rap-Künstler, der am meisten Tonträger verkaufte. Er war aber auch ein erfolgreicher Schauspieler und ein prominenter Sozialaktivist. Die meisten Songs von Tupac handeln vom erwachsen Werden und der Bewältigung von Problemen bezüglich Gewalt, Drogen oder Rassismus sowie Konflikten mit dem Gesetz oder anderen Rappern. Tupac Shakur (auch bekannt unter seinen Künstlernamen 2Pac und Makaveli) wurde in Harlem, New York City, geboren. Nicht nur seine Mutter Afeni Shakur war, wie bereits erwähnt, ein aktives Parteimitglied der Black Panther, auch sein Pate Elmer Geronimo Pratt war ein hoher Black Panther. Tupac wuchs in einer Familie auf, in der es normal war, mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Trotzdem konnte er sich mit zwölf Jahren in das berühmte 127th Street Ensemble einschreiben und auch Theaterrollen übernehmen.45 Tupacs Kindheit war nichts Außergewöhnliches für einen AfroAmerikaner. Oft werden farbige Kinder in Patchwork-Familien hineingeboren. Oft wachsen sie nicht mit ihren Vätern auf, andere Familienmitglieder leben weit entfernt von ihnen, sie kämpfen mit dem Gesetz in der einen oder anderen Art, Mütter haben wenig Geld und müssen arbeiten, so dass sie sich nicht um die Kinder kümmern können etc. Vielleicht war Tupacs Fall etwas spezieller, da seine Mutter zur bekannten Black Panther Party gehörte, welche eine ideologische Basis und eine Vision hatte. Abgesehen davon war sein Fall allzu normal.46 1984 zog Tupacs Familie nach Baltimore, Maryland, wo Tupac der Baltimore School for the Arts beitreten konnte, um Drama (unter anderem

44 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 94-102. 45 http://en.wikipedia.org/wiki/Tupac_Shakur, (23. Juli, 2008). 46 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 35-66.

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spielte er in Stücken von Shakespeare), Poetik, Jazz und Ballet zu studieren. 1988 musste er wieder umziehen, dieses Mal nach Marin City, Kalifornien, wo er der Ensemble Theatre Company beitrat, um seine Karriere als Entertainer weiterzuverfolgen. Aufgrund der Crackabhängigkeit seiner Mutter lernte er mit siebzehn Leila Steinberg kennen. Diese half gefährdeten Jugendlichen mit verschiedenen Programmen und offerierte Tupac einen Platz in einem Workshop, damit er seine Emotionen auf eine künstlerische Art ausdrücken konnte. Leila Steinberg wurde seine literarische Mentorin – Tupac las beispielsweise Eileen Southerns Music of Black Americans – und erste Managerin; im Gegenzug beeinflusste Tupac die Entwicklung ihres Workshops enorm. 47 Mit dem Umzug nach Baltimore verlief nach einem für AfroAmerikaner üblichen Muster: Er musste seine Nachbarschaft, seine Freunde, seine bekannte Gegend verlassen und wieder neue Freundschaften schließen und sich an einem neuen Ort etablieren. Und wie viele andere war er gezwungen, einem Programm für schwierige Jugendliche beizutreten. Der einzige Unterschied zu anderen Afro-Amerikanern war, dass er Leila Steinberg kennen lernte, welche sein musikalisches und lyrisches Talent erkannte und unterstützte, welches ihn zum Star machte.48 Tupacs Karriere als professioneller Rapper begann 1990. Sein erstes Soloalbum 2Pacalypse Now handelte von den Problemen junger, farbiger Männer. Es wurde jedoch wegen seiner rohen Sprache und der Beschreibung von Gewalt der Gesetzeshüter und gegen diese öffentlich kritisiert. Sogar der Vizepräsident Dan Quayle prangerte es an. Als Rapper und Schauspieler wurde Tupac schon bald sehr berühmt. Zur selben Zeit kam er mehr und mehr mit dem Gesetz in Konflikt. Dies kulminierte in einer Gefängnisstrafe wegen sexuellen Missbrauchs. 1994, in der Nacht vor dem Urteilsspruch, wurde Tupac in einer Schiesserei zwischen Gangs fünfmal angeschossen, konnte aber im Spital operiert werden und am nächsten Tag vor Gericht erscheinen. Tupac veröffentlichte 1995 das Album Me Against the World, kurz nachdem er seine Gefängnisstrafe angetreten hatte, und ist heute der einzige Künstler, der ein Nummer-1-Album in der Hitparade hatte, während er im Gefängnis war. Nach elf Monaten wurde Tupac dank einer Bürgschaft des CEO der Death Row Records aus dem Gefängnis entlas-

47 http://en.wikipedia.org/wiki/Tupac_Shakur, (23. Juli, 2008). 48 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 35-66.

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sen. Als Gegenleistung musste er drei Alben für das Label produzieren. Im Februar 1996 konnte er All Eyez on Me veröffentlichen. Dieses Doppelalbum verkaufte sich über neun Millionen Mal, aber die Probleme nahmen kein Ende. Es wurde am 7. September 1996 wieder auf Tupac geschossen, worauf er, während seine Mutter an seinem Spitalbett war, am 13. September verstarb.49 Dieser Teil von Tupacs Leben ist sehr verschieden von dem vieler Afro-Amerikaner: Tupac wurde reich und berühmt. Trotzdem war er mit den Problemen mancher seiner farbigen brothers konfrontiert, weil er es nicht schaffte, ein geordnetes Leben zu führen oder zumindest nicht mehr mit dem Gesetz oder anderen Gangs in Konflikt zu kommen. Andererseits bewies er, dass seine Texte wahr waren, und blieb so eine perfekte Identifikationsfigur für viele junge Afro-Amerikaner.50 Als kritischer Kommentar wäre beizufügen, dass es im Showbusiness häufig vorkommt, dass Künstler (zumindest auf Veranlassung ihrer Manager) versuchen, mit Skandalen aller Art – je provokativer, desto besser – im Scheinwerferlicht zu bleiben. Aber selbst wenn man kritisiert, dass Tupac sein skandalöses Leben dazu benutzte, um mehr CDs und Filme zu verkaufen, muss man gestehen: Wenigstens spielte er das Spiel gut und erreichte mit seinen Texten und seiner Musik ein Millionenpublikum. Eines seiner meist verkauften Stücke heisst Dear Mama. Dieser Rap oder eben dieses Gedicht soll im Folgenden analysiert werden.

49 http://en.wikipedia.org/wiki/Tupac_Shakur, (23. Juli, 2008). 50 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 35-66.

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Dear Mama51 [Verse One] When I was younger and my mama had beef Seventeen years old kicked out on the streets Though back at the time, I never thought I’d see her face Ain’t a woman alive that could take my mama’s place 5

Suspended from school; and scared to go home, I was a fool With the big boys, breakin all the rules I shed tears with my baby sister Over the years we was poorer than the other little kids And even though we had different daddy’s, the same drama

10

When things went wrong we’d blame mama I reminisce on the stress I caused, it was hell Huggin on my mama from a jail cell And who’d think in elementary? Heeey! I see the penitentiary, one day

15

And runnin from the police, that’s right Mama catch me, put a whoopin to my backside And even as a crack fiend, mama You always was a black queen, mama I finally understand

20

For a woman it ain’t easy tryin to raise a man You always was committed A poor single mother on welfare, tell me how ya did it There’s no way I can pay you back But the plan is to show you that I understand

25

You are appreciated

[Chorus] Lady... Don’t cha know we love ya? Sweet lady Dear mama Place no one above ya, sweet lady 5

You are appreciated Don’t cha know we love ya?

51 www.lyricsdomain.com/27/2pac/dear_mama.html, July 24, 2008.

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[Verse Two] 1

Now ain’t nobody tell us it was fair No love from my daddy cause the coward wasn’t there He passed away and I didn’t cry, cause my anger Wouldn’t let me feel for a stranger

5

They say I’m wrong and I’m heartless, but all along I was lookin for a father he was gone I hung around with the Thugs, and even though they sold drugs They showed a young brother love I moved out and started really hangin

10

I needed money of my own so I started slangin I ain’t guilty cause, even though I sell rocks It feels good puttin money in your mailbox I love payin rent when the rent’s due I hope ya got the diamond necklace that I sent to you

15

Cause when I was low you was there for me And never left me alone because you cared for me And I could see you comin home after work late You’re in the kitchen tryin to fix us a hot plate Ya just workin with the scraps you was given

20

And mama made miracles every Thanksgivin But now the road got rough, you’re alone You’re tryin to raise two bad kids on your own And there’s no way I can pay you back But my plan is to show you that I understand

25

You are appreciated

[Chorus] Lady... Don’t cha know we love ya? Sweet lady Dear mama Place no one above ya, sweet lady 5

You are appreciated Don’t cha know we love ya?

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[Verse Three] Pour out some liquor and I reminisce, cause through the drama I can always depend on my mama And when it seems that I’m hopeless You say the words that can get me back in focus 5

When I was sick as a little kid To keep me happy there’s no limit to the things you did And all my childhood memories Are full of all the sweet things you did for me And even though I act craaazy

10

I gotta thank the Lord that you made me There are no words that can express how I feel You never kept a secret, always stayed real And I appreciate, how you raised me And all the extra love that you gave me

15

I wish I could take the pain away If you can make it through the night there’s a brighter day Everything will be alright if ya hold on It’s a struggle everyday, gotta roll on And there’s no way I can pay you back

20

But my plan is to show you that I understand You are appreciated

[Chorus] Lady... Don’t cha know we love ya? Sweet lady Dear mama Place no one above ya, sweet lady 5

You are appreciated Don’t cha know we love ya? Sweet lady And dear mama Dear mama Lady [3X]

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Dear Mama besteht aus drei Strophen mit einem Refrain am Ende der Strophe, also eine einfache Songstruktur, welche eigentlich eher bei Pop- als Rap-Songs üblich ist. Besser als Rap-Song erkennbar ist Dear Mama aufgrund der vielen Wörter, die in die Strophe hinein gepackt sind. Es gibt kein starres metrisches System. Gleichwohl gleiten die Wörter geschmeidig – mit einigen Unterbrechungen, rubati und ritardandi – über die Musik, welche den Text unterlegt. Nicht nur am Zeilenende gibt es Reime, sondern über die ganze Strophe können mehrsilbige Reime und Alliterationen ausgemacht werden. In der klassischen Poesie wäre dies unüblich, während dies im Rap sehr erwünscht ist. Verglichen mit anderen Rap-Texten ist die Sprache nicht besonders grob, aber es wird in einem afro-amerikanischen Slang sehr direkt erzählt. Das Video, welches den Song veranschaulicht, verstärkt den Text sehr. Tupacs Mutter Afeni Shakur selbst spricht am Anfang des Videos über die Umstände, in welchen sie ihren Sohn gebar. Selbstverständlich folgt das Video der bildhaften Sprache. Und zusätzlich werden Poster der Black Panther Party gezeigt, welche Afeni Shakurs wirkliches Leben widerspiegeln. In der ersten Strophe spricht der Erzähler von seiner schwierigen Kindheit und davon, dass er der Mutter noch mehr Probleme machte, als sie ohnehin schon hatte. Er und seine Halbschwester – nicht eine „echte“ Schwester – beschuldigten ihre arme Mutter für alles Schlechte, was ihnen widerfuhr. Andererseits war es die Mutter, welche an seiner Seite war, als er Schwierigkeiten in der Schule oder mit der Polizei hatte. Erst im Nachhinein realisiert der Erzähler, wie schwierig es für die Mutter sein musste, welche von Drogen und der Sozialfürsorge abhängig war, ihn aufzuziehen. Überdies ist er sich erst jetzt bewusst, dass er der Mutter nie wird zurückgeben können, was sie ihm gab. Unglücklicherweise bleibt ihm nur, ihr zu sagen, dass er sie mehr als irgendeine andere Person schätzt und liebt. In der ersten Strophe wird nicht nur Tupacs Kindheit beschrieben, denn es können sich viele Hörer in der einen oder anderen Art mit der Erzählung identifizieren. Wenn man die Kindheit vieler Afro-Amerikaner bedenkt, dann reflektiert die Strophe, wie bereits weiter oben bemerkt, ihre Situation nur allzu gut und gibt ihnen Trost, indem sie ihnen darlegt, dass sie nicht die einzigen sind, welche ein Kindheit ähnlich derer Tupacs verbrachten. In der zweiten Strophe wird erklärt, weshalb der Erzähler zum Verbrecher wird. Es war nicht Gier oder Respektlosigkeit gegenüber dem Besitz anderer. Vielmehr war es das Fehlen der väterlichen Liebe. Weil der Vater

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abgehauen war, nie da war, fühlte der Erzähler auch nur Wut, aber keine Trauer, als der Vater starb. Nebenbei bemerkt: Knaben dürfen nicht weinen, wodurch ihre Trauer oft zu Wut und Destruktion mutiert. Sein Vater erschien dem Erzähler als Fremder, zu welchem er keine Beziehung besaß. Die einzige männliche Beziehung, die er kannte, war die Beziehung zu seinen Freunden, den kriminellen Strolchen. Diese gaben ihm die männliche Zuneigung, welche er vorher nicht kannte. Ein weiterer Grund, weshalb der Erzähler zum Dieb wurde, war seine Absicht, der Mutter bei der Bezahlung der Rechnungen zu helfen. Eine besondere Freude bereitete ihm die Vorstellung, dass die Mutter ein Halsband erhält, ohne zu wissen, dass es von ihm ist. Natürlich würde sie wissen wollen, woher er das viele Geld habe, wenn sie es wüsste. Und er würde ihre Fragen diesbezüglich bestimmt nicht beantworten wollen. Doch die bloße Vorstellung von der Freude auf dem Gesicht seiner Mutter beim Anblick des Halsbandes – sein Vater hatte ihr sicherlich nie Juwelen geschenkt – war es wert, von der Polizei eventuell erwischt zu werden. Wahrscheinlich ist sich der Erzähler nicht einmal bewusst, dass die Mutter lieber einen anständigen Jungen als ein teures Halsband gehabt hätte. Aber eben: Wie könnte der Junge jemals all das Gute zurückbezahlen, welches er von der Mutter erhielt? Die afro-amerikanischen Jugendlichen – männliche und weibliche –, welche vom Wissenschaftler Dimitriadis befragt wurden, teilten ähnliche Erfahrungen bezüglich familiären und freundschaftlichen Beziehungen. Ihre Familienangehörigen lebten weit weg voneinander und sie würden ihre Kameraden kaum „Freunde“ nennen. Die befreundeten Jugendlichen waren eher Leute, mit denen sie herumhängten, zusammen Partys hatten oder sonst was machten.52 Für Afro-Amerikaner ist es also einfach, sich mit dem Erzähler zu identifizieren. Aber auch Weiße – reich oder arm – können die Abwesenheit von Freundschaft und Liebe spüren, wodurch die Erzählung universal wird. Und dadurch, dass sie universal ist, kann Dear Mama sogar als Vermittlerin zwischen Weißen und Farbigen dienen. Zumindest kann die zweite Strophe dazu anregen, sich zu überlegen, warum – oder besser: wie Jugendliche zu Kriminellen werden. In der dritten Strophe erzählt der Rapper nicht mehr von all dem Elend in seinem Leben, sondern erinnert sich an die positiven Momente. Er schaut

52 Dimitriadis, Performing Identity/Performing Culture, S. 35-66.

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nicht im Zorn zurück, sondern ist dankbar für all das Gute, das er unter schwierigsten Umständen erhielt. Der Erzähler bietet seiner Mutter Hoffnung und Liebe an und wiederholt einmal mehr, dass er sie verstehe, schätze und liebe. Es wird oft behauptet, Rap-Songs würden herzlosen Sex und brutale Verbrechen glorifizieren. Es wird behauptet, der nihilistische Erzähler plappere vulgär zu einer nihilistischen Jugend, wobei alle zusammen weder Liebe noch Hoffnung kennen würden. Einige Songs sind vielleicht nihilistisch. Trotzdem: Kann Dear Mama – vor allem, wenn man den Refrain betrachtet – als nihilistisch bezeichnet werden? Nein. Vielmehr wird über das Fehlen von Liebe sowie über die Suche nach Liebe gesprochen. Und zudem: Es wird auch von der Entdeckung einer großen Liebe gesprochen, einer Liebe, die unter den Sorgen der Armut und des Rassismus zugeschüttet war. Trotz der direkten Sprache und dem Slang zeigt die Erzählung eine große Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn und eines Sohnes zu seiner Mutter. Und letztlich gibt die Erzählung Hoffnung, dass einmal eine bessere Zeit, ein besserer Ort kommen möge – irgendwann, irgendwo. Noch einmal: Es ist für Afro-Amerikaner sehr leicht, sich mit dem Erzähler zu identifizieren, vor allem für Afro-Amerikaner, die ein ähnliches Leben führen. Letztlich könnten sich jedoch alle mit dieser Erzählung identifizieren, denn: Wie viele Jugendliche – Söhne und Töchter – würden nicht gerne ihre Liebe für ihre Mütter (oder Väter) in einer ähnlichen Form ausdrücken? Wie viele Erwachsene – Mütter und Väter – würden nicht gerne dieselben Worte im Refrain zu hören bekommen? Genau aufgrund der universalen Botschaft erreichte und erreicht dieses Lied immer noch so viele Leute, genau aufgrund der universalen Botschaft kann dieser Rap als Mediator zwischen den Rassen fungieren, kann er als Brücke zwischen den Kulturen dienen.

5. 4 D IE B EZIEHUNG VON H IP -H OP S KLAVENERZÄHLUNGEN

ZU

Man kann sich fragen, ob es überhaupt eine Beziehung zwischen der traditionellen Sklavenerzählungen und modernen Rap-Songs gibt. Doch das besprochene Dear Mama eignet sich als Beispiel gut dafür, diese Beziehung zu verdeutlichen. Betrachtet man die klassischen Sklavenerzählungen, so

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schreibt der Erzähler oft über eine unglückliche Kindheit, in der er von Sklavenhaltern missbraucht wurde und von den Eltern oder zumindest dem Vater getrennt aufwuchs. Der Erzähler musste oft umziehen und wieder an einem anderen Ort leben. Dies ist mehr oder weniger auch Tupac Shakurs Fall. Er war zwar kein Sklave, wuchs aber in Armut und ohne Vater auf. Er war zwar nicht mit Sklavenhaltern, dafür aber mit Polizisten konfrontiert, welche wahrscheinlich ihm gegenüber auch respektlos waren. Eine weitere Ähnlichkeit zu klassischen Sklavenerzählungen oder Erzählern ist die Tatsache, dass die meisten Erzähler spezifische Fähigkeiten hatten, welche durch ihre weißen Helfer entdeckt und gefördert wurden. In Tupacs Fall unterstützte Leila Steinberg Tupac enorm und gab ihm zwar nicht Freiheit, wie dies früher weiße Förderer taten, aber sie gab ihm Sicherheit und Unterstützung, damit er sein Talent als Rap-Künstler nützen und seine Karriere als Künstler entwickeln konnte. Und wie viele Sklavenerzähler wurde auch Tupac berühmt und in der Gesellschaft auf die eine oder andere Art respektiert. Und wie es heute eine Frederick Douglass Family Foundation oder W.E.B. Du Bois Foundation gibt, gründete Tupacs Mutter Afeni Shakur die Tupac Amaru Shakur Foundation, um das Gedenken an ihren Sohn lebendig zu halten und der jüngeren Generation bei der Entwicklung ihrer Talente zu helfen. Man kann argumentieren, dass Tupacs Lieder nicht eine detaillierte Beschreibung seines Lebens geben, wie dies bei den Sklavenerzählern der Fall war. Doch können Tupacs Lieder kaum von seinem Leben getrennt werden, welches in den Medien sehr gut dokumentiert wurde. Wichtiger ist wahrscheinlich der große Einfluss, den die Songs auf die Hörer ausübten. Ähnlich wie die Sklavenlieder oder Sklavenerzählungen, welche einen großen Einfluss auf die Zuhörerschaft ausübten und den Afro-Amerikanern halfen, ihr Selbstwertgefühl zu steigern, oder ihnen Trost spendeten, so konnte Tupacs Dear Mama das Selbstwertgefühl einer neuen Generation anheben. Und in ähnlicher Weise wie Sklavenerzählungen den Weissen halfen, Farbige besser zu verstehen und die Ungerechtigkeit, die ihnen gegenüber ausgeübt wurde, zu erkennen, so können Rap-Songs vielleicht helfen, die Sorgen der heutigen Afro-Amerikaner besser zu verstehen. Natürlich sind Rap-Songs näher bei den afro-amerikanischen Liedern als bei der Literatur. Aber mit Sicherheit sind die Rap-Songs tief in der afro-amerikanischen Tradition verwurzelt und dienen als Quelle für die orale Überlieferung in der afro-amerikanischen Gesellschaft. Manchmal wer-

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den in Rap-Songs persönliche Geschichten erzählt wie in Tupacs Dear Mama, manchmal wird versucht, mit dem Publikum in einem Ruf-undAntwort-Schema zu interagieren wie in Run D.M.C.s It’s Like Tat oder es wird sogar versucht, das Publikum sozial und politisch zu beeinflussen wie in Public Enemys Fight the Power. Zudem – wie bereits oben gezeigt – beeinflusste die afro-amerikanische Musik die afro-amerikanischen Schriftsteller immer enorm. Heutzutage ist die Einwirkung der Rap-Songs auf Schriftsteller vielleicht nicht mehr so ausgeprägt wie früher, doch Filmemacher wie Spike Lee, welche Geschichten mit ihren Filmen erzählen, werden immer noch sehr von der afro-amerikanischen Musik beeinflusst. Gleich wie der Blues oder Jazz beeinflusst der Hip-Hop nicht nur die (farbige und weiße) amerikanische Gesellschaft, indem sie eine gemischtfarbige kulturelle Form wurde, sondern auch viele andere Gesellschaften auf der ganzen Welt. Tony Mitchells Aufsatzsammlung Global Noise – Rap and Hip-Hop Outside the USA zeigt auf eloquente Weise, wie afroamerikanischer Hip-Hop von europäischen, arabischen, russischen oder asiatischen Kulturen adaptiert und mit der jeweiligen Kultur verschmolzen wird. Dies führt zur grossen Hoffnung, dass Hip-Hop, indem er sich über die ganze Welt verbreitet, vielleicht auch dazu beitragen kann, dass sich die Welt verändert und rassische sowie kulturelle Schranken überwunden werden können.

5. 5 H IP -H OP – N EUE H OFFNUNG Um die eingangs gestellten Fragen zu beantworten, kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Hip-Hop-Kultur sowie die Rap-Musik überhaupt nicht nihilistisch sind. Auf den ersten Blick erscheinen die Texte wegen der Umgangssprache zwar oft sehr unanständig, vulgär und brutal. Doch bei genauerem Betrachten beinhalten sie oft eine tiefere Bedeutung. Und in der Tat sind die Hip-Hop-Kultur und die Rap-Musik tief in der afroamerikanischen Tradition verwurzelt und führen die Historiographie und die mündliche Überlieferung der ehemaligen Sklaven in diesem Sinne weiter. Hip-Hop-Künstler erzählen Geschichten der heutigen Afro-Amerikaner oder die Geschichte und die Ideen von Martin Luther King jr., Malcolm X sowie andere afro-amerikanische Führer. Manchmal manifestieren sie sogar ihre eigene Vision eines anderen, besseren Lebens. Dies heißt jedoch nicht,

212 | M USIK DER F REIHEIT

dass alle Künstler sensible Intellektuelle sind oder großartige Visionen besitzen – einige von ihnen sind vielleicht tatsächlich bloß grob und gemein – , aber hinter der groben Sprache und dem ungehobelten Aussehen verbirgt sich auch oft ein wunderbares Gedicht und ein feiner Mensch. Es ist schwierig zu sagen, ob Hip-Hop und Rap helfen können, rassische, kulturelle oder soziale Schranken zu überwinden. Jedoch helfen die Rap-Erzählungen sicherlich den Afro-Amerikanern ihre Situation besser zu verstehen, indem sie ihre Geschichte und ihren Alltag in den USA reflektieren, vor allem wenn man die Tatsache bedenkt, dass es unter den AfroAmerikanern immer noch mehr Illiteraten gibt als bei anderen ethnischen Gruppen. Zudem verstehen die weißen Amerikaner die Afro-Amerikaner vielleicht besser, wenn sie ihre Erzählungen anhören, Erzählungen, welche manchmal spezifisch afro-amerikanische, manchmal universale Freuden und Sorgen ausdrücken. Bedenkt man dies, besteht die Hoffnung, dass HipHop vielleicht hilft, rassische, kulturelle und soziale Schranken zu überwinden und zu mehr gegenseitigem Verständnis und Toleranz zu führen.

II. Kunst für mehr Identität und Solidarität Eine Analyse der Bedeutung und Möglichkeiten der Kunst in der Gesellschaft unter sozio-philosophischen Aspekten

6. Die Bedeutung der Kunst in der Antike

Kann Kunst als eine Brücke zwischen verschiedenen Kulturen dienen? Kann Kunst das gegenseitige Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen fördern? So stellten sich die Philosophen der Antike die Frage nicht. Doch gingen sie der Frage nach, ob Kunst gut oder schlecht für den Menschen resp. die Gesellschaft sei. Dieser Aspekt soll im folgenden Kapitel aufgegriffen und auf die ursprüngliche Fragestellung ausgeweitet beziehungsweise auf sie hin interpretiert werden. Um das Spektrum der Diskussion auszubreiten, wird erstens die Position Platons untersucht, welche kritisch ist gegenüber der Kunst und deren Nutzen sowohl für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Zweitens werden die Argumente von Aristoteles betrachtet, welcher sich gegen die Position Platons stellt. Und drittens werden vermittelnde Positionen von Plotin, Seneca und Augustinus vorgestellt.

6. 1 P LATON : A MBIVALENZ DER K UNST

BEZÜGLICH DES

W ERTS

Platons Auffassung bezüglich des Werts der Kunst muss auf den ersten Blick negativ erscheinen. So wird in der Politeia wie in anderen Werken scheinbar klar zum Ausdruck gebracht, dass die Kunst erstens schlecht für den Menschen ist, da sie nicht die Erkenntnis resp. den Verstand fördert, sondern diesen eher durch die Evokation von Gefühlen verblendet. Zweitens ist die Kunst schädlich für die Gesellschaft resp. den Staat, da die Aufgaben der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft durch die Kunst nicht mehr seriös ausgeführt werden. Daraus müsste auf den ersten Blick auch zwingend resultieren, dass die Kunst keinen Beitrag zum gegenseitigen Ver-

216 | K UNST FÜR MEHR I DENTITÄT UND S OLIDARITÄT

ständnis unterschiedlicher Kulturen, Gesellschaften und Lebenswelten liefern kann. Bei genauerer Betrachtung müssen Platons Aussagen allerdings etwas differenzierter bewertet werden. Platon äußert sich erstmals im Frühdialog Ion zur Kunst. Dabei geht es in erster Linie um die dichterische Inspiration. Dichter werden von göttlicher Inspiration getrieben. Die Muse küsst erst den Dichter mit ihrer Begeisterung und durch die Dichter auch die Hörer. Durch den Kuss der Muse, der in gewissem Sinne aller (schönen) Kunst vorangeht, ist diese Art menschlicher Kunst – im Gegensatz zur praktischen Handwerkskunst oder der Kunst, einen Staat zu lenken, – nicht kontrollierbar. Damit impliziert Platon auch, dass die Inspiration der Dichter nichts mit Wissen oder Vernunft zu tun hat und dementsprechend die Dichtkunst weder Wissen noch Vernunft enthalten oder fördern kann, was als eine Spitze gegen die damals gängige Auffassung von Homer als Erzieher gewertet werden muss.1 Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.

2

Platon erklärt mit diesen Worten, dass ein Dichter während seiner Inspiration nicht vernünftig ist. Vielmehr ist er in diesem Augenblick ein Begeisterter und Besessener. Dies heißt jedoch erstens nicht, dass er im Allgemeinen nicht der Vernunft teilhaftig sein kann, und zweitens muss das Resultierende aus diesem Begeistertsein oder dieser Besessenheit nicht zwangsläufig falsch sein. Vielmehr sagt Platon auch, dass die Dichter wahr reden.3 Für Platon ist dementsprechend nicht das Gesagte per se falsch. Aber es ist nicht ein vernünftiger Dichter, der das Gesagte mittels Verstand erschafft. Der Dichter ist eher ein Medium, der Göttliches transportiert und dadurch eben in gewissem Sinne Heiliges spricht. Oder in Platons Worten: „Näm-

1

Timmermann, Jens: in: Betzler/Nida-Rümelin, Ästhetik und Kunstphilosophie, S. 632-633.

2

Platon, Ion, 534b.

3

Ebenda.

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lich nicht durch Kunst bringen sie dieses hervor, sondern durch göttliche Kraft.“4 In diesem Sinne ist Platons Ion also nicht eine Schrift gegen die Dichtkunst, sondern sie hebt lediglich hervor, dass gute Dichtkunst oder Vortragskunst nichts mit Vernunft zu tun hat, sondern mit einer Fähigkeit, Göttliches zu vermitteln.5 Im Protagoras äußert sich Platon zur Musik. Zwar wird nicht explizit auf die Musik und deren Qualität eingegangen, doch sie wird indirekt negativ bewertet, da sie vor allem bei ungebildeten und gemeinen Menschen zu finden ist. Bei diesen ist sie sozusagen Lückenbüßerin für die Unfähigkeit bei einer Zusammenkunft einer Gruppe, ein sinnvolles Gespräch zu führen. Gebildete und edle Menschen hingegen können sich gut ohne Tänzerinnen, Flötenspielerinnen oder Dichter unterhalten.6 Wiederum muss dies nicht zwingend eine negative Bewertung der Kunst sein, sondern deutet vielmehr darauf hin, dass Kunst missbraucht werden oder der Erkenntnisfindung hinderlich sein kann, aber nicht muss. Bezüglich der Fragestellung der Arbeit kann diese Äußerung sogar positiv interpretiert werden, da die Musik dazu beiträgt, dass Menschen auch gemeinsame Stunden miteinander verbringen können, ohne intelligente Gespräche miteinander führen zu müssen. Gerade wenn die Gespräche durch verschiedene Muttersprachen erschwert werden oder in einer Fremdsprache geführt werden müssen, kann die Musik als Katalysator für die – allenfalls auch nonverbale – Kommunikation dienen. Wie im ersten Teil dieser Arbeit ausgeführt wurde, war die Musik für die aus unterschiedlichen afrikanischen Stämmen kommenden Sklaven oft die einzige gemeinsame Grundlage in der neuen Heimat.

4

Platon, Ion, 534c und 534e; auch Christopher Janaway hebt dies hervor: Janaway, Images of Excellence, S. 30ff.

5

Janaway, Images of Excellence, S. 34. Janaway stütz seine Argumentation unter anderem auch auf die Aussage des englischen Dichters Shelley. Dem hält Meike Aissen-Crewett allerdings entgegen, dass diese Aussage Platons nicht wörtlich genommen werden sollte, sondern ironisch aufgefasst werden muss. Weshalb sie zu diesem Schluss kommt, führt sie allerdings nicht weiter aus. AissenCrewett, Platos Theorie der bildenden Kunst, S. 175.

6

Platon, Protagoras, 347c-e; vgl. auch Janaway, Images of Excellence, S. 24.

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Der Gedanke, dass Musik nützlich sein kann, findet im Timaios durch Platon selbst Unterstützung, der in der Musik nicht nur Sinnesgenuss, sondern in der Harmonie unterschiedlicher Töne eine Abbildung göttlicher Harmonie erkennt. Für Platon spricht die Musik sowohl Sinne wie auch Intellekt – Herz wie auch Verstand – an: „Dem Unverständigen gewährt sie Sinnengenuss, den Verständigen aber intellektuelles Vergnügen durch die Nachahmung der göttliche Harmonie, die in sterblichen Bewegungen erfolgt.“7 Musik – Harmonie und Rhythmus – ist für Platon geradezu ein Hilfsmittel, um ein inneres Gleichgewicht zu finden: Die Harmonie aber, welche den Umläufen unserer Seele verwandte Bewegungen besitzt, ist demjenigen, welcher sich mit Vernunft den Musen hingibt, nicht zu vernunftloser Lust – worin jetzt ihr Nutzen zu liegen scheint – sondern als Bundesgenosse gegen den in uns entstandenen ungeordneten Umlauf der Seele zum Zwecke seiner ordentlichen Einrichtung und Übereinstimmung mit sich selbst von den Musen gegeben. Auch der Rhythmus wurde, da sich unser innerer Zustand zur Maßlosigkeit und bei den meisten zur Anmutlosigkeit entwickelte, als Helfer zum gleichen 8

Zweck von eben denselben gewährt.

Im Gorgias wird die Redekunst erörtert. Es werden zunächst verschiedene Künste besprochen, verglichen und gegeneinander abgewogen. Daraus geht hervor, dass die Redekunst nicht Wissen vermittelt, sondern lediglich Glauben schafft. Die Redekunst hat also nichts mit Überzeugen zu tun, sondern mit Überreden. Oder anders ausgedrückt: Die Redekunst kann ebenso gut verführen. Denn es werden – ähnlich wie bei der Kochkunst – vor allem die Sinne angesprochen, nicht der Verstand.9 Die Redekunst ist gerade in einer Gemeinschaft gefährlich, da sie zu Ungerechtem und Bösem führen kann. Oder wie Sokrates sich ausdrückt, ist die Redekunst von „einem Teile der Staatskunst das Schattenbild.“10 Nur mit Erkenntnis kann etwas Gutes für den Staat ausgerichtet werden. Ohne wahre Erkenntnis ist die Redekunst bloße Schmeichelei. Dies ist insbeson-

7

Platon, Timaios, 80c.

8

Ebenda, 47d, e.

9

Platon, Gorgias, 449b-463c.

10 Ebenda, 463d.

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dere gefährlich, wenn Mächtige die Redekunst beherrschen, ohne wahre Erkenntnis zu besitzen, und so der Gesellschaft schaden.11 Die Redekunst ist also nicht eine wertvolle Kunst, die Wissen und Erkenntnis vermitteln kann, sondern wird letztlich mit einer Aufführung in einem Theater verglichen, bei der es lediglich darum geht, dem Publikum zu schmeicheln, dessen Sinne anzusprechen, nicht logisch zu überzeugen, sondern zu überreden, und somit eine Sache – ob gut oder schlecht, sei dahingestellt – glauben zu machen. Erst in Verbindung mit dem Guten (der platonischen Idee des Guten) kann die Redekunst allenfalls positiv sein. So zeigt sich auch im Gorgias die Ambivalenz Platons gegenüber der Kunst. Er anerkennt zwar die Kraft der Kunst, macht aber sogleich auf die Gefahr des Missbrauchs aufmerksam. Damit nehmen die Ausführungen im Gorgias die Gedanken Platons zur Mimesis12 vorweg. Die Argumentation gegen die Kunst wird am ausführlichsten in der Politeia geführt. Im dritten Buch wird die Kunst vor allem in Bezug auf die Erziehung betrachtet. Die Argumentation erhält jedoch auch allgemeinen Charakter. Zunächst wird darauf aufmerksam gemacht, dass Dichtung als Mimesis, als Nachahmung von Handlungen aufgefasst werden muss, welche die Seele des Dichters wie des Zuhörers vergiften oder heilen kann, je nachdem, was der Inhalt der Dichtung ist. Daher soll angemessene Dichtung möglichst wenig Nachahmung enthalten und nur moralisch akzeptable Inhalte vermitteln.13 So wird letztlich gefolgert: [...]solche Künstler müssen wir suchen, welche eine glückliche Gabe besitzen, der Natur des Schönen und Anständigen überall nachzuspüren, damit unsere Jünglinge, wie in einer gesunden Gegend wohnend, von allen Seiten gefördert werden, woher ihnen nur gleichsam eine milde, aus heilsamer Gegend Gesundheit herwehende Luft irgend etwas von schönen Werken für das Gesicht oder Gehör zuführen möge und so unvermerkt gleich von Kindheit an sie zur Ähnlichkeit, Freundschaft und Überein14

stimmung mit der schönen Rede anleiten.

11 Platon, Gorgias, 476a. 12 Auf den Begriff Mimesis wird weiter unten ausführlicher eingegangen. 13 Erler, Platon, S. 97. 14 Platon, Politeia, 401c.

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Ähnliche Gefahren sieht Platon auch bezüglich der Musik. Die Musik kann verweichlichen, aber auch zu größerer Wissbegierde führen. Wenn ein Mensch resp. das zu erziehende Kind allzu oft und allzu süßliche Musik hört, werden der Mut und die Kampfkraft des Menschen zuerst zwar geschmeidig gemacht, so dass er seine Kraft nicht wie ein Tier mit roher Gewalt missbraucht. Falls aber zu viel Musik in die Ohren dringt, schmilzt die Kraft durch die Musik dahin, so dass der Mensch den Anforderungen des Lebens nicht mehr gerecht werden kann und bloß von einer emotionalen Hingabe zur anderen schlingert. Deshalb folgert Platon, dass die beste Erziehung aus der richtigen Mischung von Gymnastik und Musik resultiert.15 Die Musik kann zwar verweichlichen, andererseits werden gemäß Platon Milde und Wissbegierde gefördert. Somit erscheint zumindest die Musik als Vermittlerin zwischen unterschiedlichen Kulturen möglich, da einerseits durch die Musik allfällige Aggressionen gegenüber einer anderen Kultur abgebaut werden können und andererseits die Wissbegierde für eine andere Kultur unter Umständen gestärkt wird. Gemäß den Untersuchungen von Meike Aissen-Crewett bezüglich der bildenden Kunst kommt bei Platon der Kunst eine besondere Erkenntnisweise zu. Zwar ist Kunst nicht eine reine Wissenschaft, eine reine Wissensvermittlerin, doch ist sie im Zusammenhang mit handwerklichem Geschick eine mögliche Form der Wissensvermittlerin. Kunst ist somit eine Form der Wissenschaft, die sich in verschiedenen Ausprägungen aus dem Handeln ergibt.16 Der große Unterschied besteht nun gemäß Platon – so wie Meike Aissen-Crewett ihn interpretiert – darin, ob ein Künstler lediglich imitiert oder ob er ein genuines Bild herzustellen vermag, das die wahre Natur des Gegenstandes enthüllt. Im zweiten Fall erfüllt der Künstler eine nützliche erzieherische Funktion, indem Erkenntnis hervorgelockt wird.17 Um wahre Kunst zu erschaffen, bedarf es der Fähigkeit, Kunst mit Tugend zu vereinen. Wenn ein Künstler entsprechend dem Wesen der Dinge, also ihrem Ideal, Bilder herstellt, sind sie wahre Bilder, nämlich Bilder der Wahrheit. Die vom Künstler hergestellten Bilder befähigen diesen, in imaginärer Form Wahrheiten zur Darstellung zu bringen, die ansonsten dem

15 Platon, Politeia, 410b-412a. 16 Aissen-Crewett, Platos Theorie der bildenden Kunst, S. 54-55. 17 Ebenda, S. 58.

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menschlichen Verständnis nicht zugänglich wären. Wenn jedoch lediglich die persönliche Sichtweise transportiert wird resp. Dinge – also nicht Ideen – nachgeahmt werden, dann dient dies nicht der Wahrheitsvermittlung oder Wahrheitsfindung. Vielmehr wird dadurch eine falsche und artifizielle Welt von Trugbildern geschaffen. Und dies ist abzulehnen.18 Der wahre Künstler muss also gemäß Platon ein Idealbild im Geiste haben, welches durch das Kunstwerk widerspiegelt wird. Ansonsten ist es kein künstlerisches Bild, sondern bloß ein minderwertiges Artefakt. Dies wird am Beispiel des Tischlers verdeutlicht. Ein Tischler stellt einen Tisch oder ein Bettgestell her, ein Ding, welches ein Abbild des Ideals eines Tisches resp. Bettgestells ist. Wenn ein Maler jedoch einen Tisch oder ein Bettgestell malt, so malt er in gewissem Sinne das Abbild eines Abbildes eines Ideals. Oder anders gesprochen: ein Handwerker konstruiert Seiendes aufgrund der Vorstellung des Seins, während ein Künstler nur noch die Erscheinung des Seienden nachahmt.19 Im Umkehrschluss lässt sich auch sagen, dass wenn ein Maler ein Idealbild eines Tisches in seinem Geist sieht und dieses Idealbild dann zeichnet, kann ein Tischler letztlich eine neue Art eines Tisches gemäß der Zeichnung des Malers – heute würde man Designer sagen – herstellen. In diesem Fall wäre die Zeichnung wahre Kunst. In Bezug auf die Fragestellung dieser Arbeit heißt das: Wenn ein Künstler ein Ideal des Dialogs unterschiedlicher Kulturen vor Augen hat und dieses Ideal in eine (wahre) künstlerische Form bringt, dann könnte dieses Kunstwerk den Dialog der Kulturen fördern. Ebenfalls wesentlich für Platon ist, dass das Gute und das Schöne eine Einheit bilden müssen, dass die Ethik nicht von der Ästhetik getrennt werden darf. Denn nur wenn die Ästhetik mit der Ethik in Einklang ist, wird der Charakter des Menschen zum Guten hin geformt und wird das Kunstwerk der Gemeinschaft von Nutzen sein.20 Somit würde Platon einen hervorragenden Künstler von der Gemeinschaft ausschließen wollen, selbst

18 Aissen-Crewett, Platos Theorie der bildenden Kunst, S. 60-70; vgl auch: Janaway, Images of Excellence, S. 106ff. 19 Platon, Politeia, 595c-597d. 20 Aissen-Crewett, Platos Theorie der bildenden Kunst, S. 16ff; vgl auch: Janaway, Images of Excellence, S. 80ff.

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wenn er das Volk noch so gut unterhalten könnte, falls dieser den ethischen Anforderungen nicht genügen würde.21 In der Politeia – und noch dezidierter in den Nomoi – spricht Platon also eindeutig von Zensur gegenüber der Kunst, was zweifellos zu diskutieren gibt, selbst wenn man Platons Forderungen bezüglich guter Kunst ansonsten zustimmen kann. Wer entscheidet, welche Kunst ethisch korrekt ist, also dem Charakter des Einzelnen wie auch dem Staat dient? Neben all der mahnenden Vorsicht und Kritik Platons gegenüber der Kunst, so Michael Hauskeller, gesteht er ihr auch Positives zu: Die Kunst kann nämlich die Idee des Schönen vermitteln. Sie kann als eine Art Brücke von sinnlich Schönem zur Idee des Schönen führen. Zwar kann sie nicht Wahrheit oder Erkenntnis herbeiführen, aber gerade die Erfahrung von Schönheit lässt einen Menschen nach der ewigen Wahrheit der Ideen streben. Denn nur die Schönheit in allen Erscheinungen weckt unsere Liebe und was immer wir liebend begehren, erscheint uns als etwas Schönes. Wäre die sinnliche Welt ohne Schönheit, wären wir ihr gegenüber gleichgültig. Für die ewigen Wahrheiten gilt analog: Wären die Ideen frei von Schönheit, gäbe es keinen Anlass, sie erkennen zu wollen.22 Die sinnliche Schönheit ist natürlich – wie könnte es anders sein? – auch Gefahr zugleich. Bleibt der Mensch nämlich im sinnlich Schönen verhaftet, vernachlässigt er die Schönheit der Seele und erst recht die Gerechtigkeit, die Besonnenheit und die übrigen Tugenden, durch welche die Seelen erst schön werden. Zu streben ist also nach der Idee des Schönen selbst, die mit der Idee des Guten zusammenfällt – wie Platon im Symposion darlegt – und somit höchste Wahrheit darstellt.23 Gerade weil nach Platon die Schönheit der Kunst die Seele des Menschen blenden kann, von der echten Schönheit, der Idee des Schönen, weglocken kann, muss die Kunst eine erzieherische, seelenbildnerische Funktion übernehmen. Denn letztlich gibt es für den Menschen nur eine einzige wahre Kunst, nämlich die Kunst des rechten Lebens.24

21 Platon, Politeia, 398a-b. 22 Hauskeller, Was ist Kunst?, S. 12; vgl. auch: Platon, Phaidros, 250d. 23 Platon: Symposion (Das Gastmahl), 210e-211c; vgl auch: Hauskeller, Was ist Kunst?, S. 13 24 Hauskeller, Was ist Kunst?, S. 14

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Die Kunst zu zensurieren erscheint, wie oben erwähnt, problematisch. Hilfreich wäre es aber vielleicht, die Kunst im platonischen und damit erzieherischen Sinne zu fördern. Dies könnte der Kunst helfen, den Dialog der Kulturen günstig zu beeinflussen. In den Nomoi wird nochmals ausführlich auf die Kunst eingegangen. Dabei wird erläutert, dass nicht die Lust, sondern die Richtigkeit das Kriterium für den Wert eines Kunstwerks ist. Die große Gefahr ist, dass selbst rechtschaffene Menschen von der Kunst zur Befriedigung der animalischen Lust verführt und nicht zum tugendhaften Leben geführt werden. Dementsprechend müssen Sänger – oder Künstler allgemein – gut ausgebildet sein, um „junge Leute durch ihren Zaubergesang für die Tugend zu gewinnen.“25 Auch das Problem der Nachahmung wird nochmals eingehend thematisiert. Es können drei Gefahren der Nachahmung unterschieden werden. Zum einen können verwerfliche Handlungen in der Kunst nachgeahmt werden. Damit werden schlechte Vorbilder geschaffen, die fast zwangsläufig vom Pfad der Tugend wegführen. Zum zweiten wird – wie oben bereits erwähnt – die Gefahr diskutiert, dass Kunst in der bloßen Nachahmung verharrt, somit – selbst in guter Absicht – bloß Schattenbilder des Seienden wirft, und so den Blick auf das Sein, die Ideen, versperrt. Ein dritter Punkt ist der, dass das Leben als solches bereits als sinnliche Nachahmung der Idee des Lebens aufgefasst werden kann. Wenn die Kunst also das (sinnliche) Leben oder Teile davon nachahmt, so ist Kunst nichts anderes als Nachahmung des Lebens und somit Nachahmung der Nachahmung. Nach Platon besteht der Ernst des Lebens darin, die Ideen zu erkennen und ihnen nachzueifern, also den Sinn und Kern des Seins nachzuahmen. Die Philosophie ist ernsthaft um die Erkenntnis der Wahrheit bemüht, ihre Vermittlung hingegen bloß Spiel und daher von Kunst kaum zu unterscheiden. Kunst ist nur Spiel. Vom Künstler wird die Kunst allerdings ernst betrieben, da er in ihr seinen Existenzsinn sieht. In den Nomoi wird das als positiver Aspekt der Kunst gewertet. Platon geht nämlich davon aus, dass nur Gott resp. Göttliches eigentlichen Ernst an sich hat. Das Leben der Menschen aber ist bloßes Spiel, allerdings von ihnen mit Ernst betrieben. In Analogie zum Verhältnis Kunst und Leben heißt dies, dass in der Kunst – die ja als Spiel aufgefasst werden muss – erfahren respektive gelernt wer-

25 Platon, Nomoi (Gesetze), 671a; vgl auch: Huber-Abrahamowicz, Das Problem der Kunst bei Platon, S. 103-114.

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den kann, dass das Leben der Menschen im Verhältnis zu Gott nur ein Spiel ist, das allerdings ernst – wie die Kunst auch – betrieben werden muss. Zum Eigentlichsten des Menschseins gehört also die Erkenntnis der Abhängigkeit alles Menschlichen von Göttlichem, und gerade diese Erkenntnis vollzieht sich in der Kunst, kann sich in der Kunst manifestieren. Und indem die größte existentielle Erkenntnis des Menschen sich in ihr vollzieht, besitzt sie selbst existentiellen Vollzugscharakter und damit Wert.26 In den Nomoi wird nochmals ausführlich die Daseinsberechtigung der Kunst resp. deren Zensur diskutiert. Es kristallisieren sich zwei Lösungsansätze heraus. Zum einen besteht die Lösung darin, dass die Kunst in die Philosophie überführt wird, was uns Platon mittels seiner Dialoge vorführt, welche die Wahrheitssuche im Gespräch nachahmen. Zum anderen wird gefordert, dass sich die Kunst in den Kult integriert. Erst die kultische Kunst, die das Verhältnis des Menschen zu den Göttern reflektiert, hat die Möglichkeit, wahrhaft gut zu sein. Die Kunst kann aber niemals selbst Wahrheit oder Erkenntnis darstellen oder vermitteln. Sie kann lediglich das Bild des Wahrheitssuchenden widerspiegeln und damit die Menschen anspornen, Erkenntnis und Wahrheit zu suchen.27 Dies wird auch durch das Höhlengleichnis28 ausgedrückt, wenn man dieses dahingehend interpretiert, dass die Schatten, welche an die Wände geworfen werden, von Künstlern produziert werden, um die Gefesselten in der Höhle anzuspornen, die Höhle zu verlassen, um die Wahrheit – die Ideen – zu schauen. Nicht nur Platon zeigt anhand seiner Dialoge, dass Erkenntnisforschung und Vermittlung auch in der Kunstform des Gesprächs stattfinden können. Selbst Sokrates als Protagonist in den Dialogen greift oftmals zu Formen der Kunst, insbesondere in seinen Gleichnissen wie beispielsweise dem Sonnengleichnis29 oder dem angesprochenen Höhlengleichnis. Diese Gleichnisse sind genau genommen (Lehr-)Geschichten, die durch geschickte Komposition von Bildern und Dramaturgie Wissen und Erkenntnis ver-

26 Platon, Nomoi (Gesetze), 803b-d; vgl auch: Huber-Abrahamowicz, Das Problem der Kunst bei Platon, S. 115-126. 27 Platon: Nomoi (Gesetze), 800a-801a; vgl auch: Huber-Abrahamowicz, Das Problem der Kunst bei Platon, S. 133-136. 28 Platon, Politeia (Der Staat), 514a-521b. 29 Ebenda, 506b-509b.

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anschaulichen und vermitteln sollen. Somit steckt gleich zweimal Kunst in Platons Ausführungen: die Dialoge selbst und innerhalb der Dialoge die Gleichnisse. Damit wird das Paradoxon deutlich, das sich aus Platons Kunstkritik ergibt. Er scheint die Kunst auf den ersten Blick verdammen zu wollen, auf den zweiten Blick bedient er sich ständig der (Dicht-)Kunst. Ein weiteres Paradoxon ist, dass Platon in jungen Jahren sich durchaus an Dichtung und vor allem an der Tragödie versucht haben soll. Erst durch die Kritik von Sokrates soll er seine früheren Gedichte und Tragödien verbrannt haben. Diese Paradoxa lösen sich erst auf, wenn man Platons Dialoge als neue, geläuterte Art der Dichtung mit dem Protagonisten Sokrates auffasst, wenn man annimmt, dass er die traditionellen dramatischen Texte durch eine neue – Wahrheit vermittelnde – Kunst zu ersetzen versucht.30 Platons Dialoge müssen also im Sinne von Theaterstücken mit philosophischem Anspruch aufgefasst werden. Sie sind Abbilder echter Dialoge, die der Wahrheitsfindung dienen. Mit dieser Art des Reflektierens versucht er die Forderung nach dem guten Dichter – moralisch gut, nach Wahrheit und Erkenntnis strebend – zu erfüllen. Demgemäß kann für die gute Kunst – und somit auch für eine Kunst als Brücke zwischen den Kulturen – die Forderung gestellt werden, dass die Künstler Philosophen oder die Philosophen Künstler sein müssen.

6. 2 A RISTOTELES : U NTERSCHIEDLICHER N UTZEN DER K UNST Aristoteles, selbst Schüler von Platon, bleibt nicht im Fahrwasser seines Lehrers und setzt sich dezidiert für die Kunst ein. Dies lässt sich unschwer daran erkennen, dass er mit der Poetik der Dichtkunst ein eigenes Werk widmet, in dem er die Kunst, insbesondere die Tragödie, gegenüber Platon verteidigt und ihr verschiedene positive Seiten zugesteht. Die Dichter gehören nach ihm gar zu den besten Lehrern des Volkes, wobei starke emotionale Wirkungen herbeizuführen ihre Aufgabe ist. So kann man aus der Kunst

30 Erler, Platon, S. 17 und S. 100; Huber-Abrahamowicz, Das Problem der Kunst bei Platon, S. 127-136.

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durchaus lernen, allerdings – so Otfried Höffe – „weniger in einem intellektuellen als in einem affektiven Sinn.“31

6. 2. 1 Kunst als Förderin des Lernens Worin besteht nun das Positive in der Kunst? Zum einen führt Aristoteles den Begriff Katharsis32 in die Kunstdiskussion ein, auf den weiter unten genauer eingegangen wird, zum anderen sieht Aristoteles im Gegensatz zu Platon die Mimesis nicht als etwas Verwerfliches an.33 Vielmehr erachtet er den Nachahmungstrieb des Menschen als essentiell, um Wissen zu tradieren und Fähigkeiten zu erarbeiten, was vor allem an Kindern leicht zu beobachten ist. Die Dichtung, welche das Leben nachahmt, kann althergebrachte Weisheiten tradieren und so dem Kunstinteressierten dank seiner Lust am Lernen zu Erkenntnis verhelfen.34 An dieser Stelle sollen zwei längere Zitate aus der Poetik von Aristoteles die unterschiedlichen Positionen zu Platon verdeutlichen. Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Masse zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.

35

Nicht nur die Nachahmung als solche erscheint Aristoteles wichtig, sondern auch die Möglichkeit, durch Kunst den Menschen Neues zu zeigen, und

31 Höffe, Otfried. Aristoteles. München, 1996. S. 66. 32 Katharsis bezeichnet die von Affekten reinigende Wirkung der Kunst. 33 Vgl. auch Döring, Die Kunstlehre des Aristoteles. 34 Höffe, Aristoteles, S. 68. 35 Aristoteles, Poetik (4), S. 11.

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damit allenfalls deren Wissbegierde bezüglich des neu Gesehenen zu wecken: Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen [...] Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z.B. dass diese Gestalt den und den darstelle. (Wenn man indes den dargestellten Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Erkennen nicht als Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft)

36

Die sinnlich-gegenständliche Welt gilt Aristoteles also, im Gegensatz zu Platon, nicht mehr nur als flüchtiges und daher seinsvermindertes Abbild einer von ihr getrennten, eigenständigen Ideenwelt. Die Ideen, das heißt die Formen der Wirklichkeit, existieren bei Aristoteles nunmehr allein in der Wirklichkeit und verlieren demgemäß ihre transzendente Realität.37 In Bezug auf den Dialog der Kulturen können mittels Kunst als Nachahmerin des Lebens fremde Lebenswelten gezeigt werden, es kann somit das Verständnis für fremde Kulturen gefördert oder zumindest ein Interesse an diesen geweckt werden. Nicht nur als Nachahmerin ist für Aristoteles die Kunst wertvoll. Vielmehr sieht er ihren Wert auch in der Abstraktionsmöglichkeit von allgemeinen Tatsachen und deren spezifische Ausführung durch die Kunst sowie die Möglichkeit, neue Aspekte aufzuzeigen. Für Aristoteles ist die Dichtung sogar philosophischer als die Geschichtsschreibung, da diese im Speziellen verhaftet bleibt, während die Dichtung durch modellhafte Darstellungen einzelne Facetten des Lebens besser wiederzugeben vermag.38 Dies wird anhand von Homers Trojanischem Krieg dargelegt, bei dem es dem Dichter nicht so sehr darum geht, was ein gewisser Odysseus oder ein gewisser Achill getan haben, sondern dass Menschen einer bestimmten Art in Situationen bestimmter Art auf bestimmte Weise handeln. Den Dichter interessiert nicht das Besondere als solches, sondern das Allgemeine, das im Besonderen zum Ausdruck kommt, und er veranschaulicht dies, in-

36 Aristoteles, Poetik (4), S. 11-13. 37 Hauskeller, Was ist Kunst?, S. 15. 38 Höffe, Aristoteles, S. 68.

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dem er aus der Fülle der Erscheinungen die wiederkehrenden Muster herausfiltert.39 Um dieses Allgemeine zu vermitteln, ist es dem Dichter gestattet, die Dinge in seinem Sinne umzuschreiben. Ebenfalls aus diesem Grund darf der Maler Dinge abbilden – ob absichtlich oder irrtümlich –, die es so in der Realität gar nicht gibt. Wichtig ist, dass er die Regeln der Kunst nicht verletzt.40 In der Poetik fordert Aristoteles denn auch konkret, dass die Tragödie Erkenntnisfähigkeit – die Möglichkeit, etwas zu erkennen – besitzen müsse, wobei er unter Erkenntnisfähigkeit das versteht, „womit sie [die Handelnden] in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben.“41 Gemäß Aristoteles erhält der Dichter seinen Stoff oder eben das, was er als zu Erkennendes vermitteln möchte, aus drei verschieden Quellen 42: • aus der mündlichen oder schriftlichen Überlieferung • aus dem wirklichen Leben • aus der Überzeugung, wie die Dinge sein sollten Punkt eins und zwei passen zur Fragestellung der Arbeit, da gerade dieses Nachahmen des Lebens eine geeignete Quelle ist, sich durch die Kunst, welche eine (fremde) Kultur widerspiegelt, einen Einblick in diese (fremde) Kultur – und deren Geschichte – zu verschaffen oder sich dann der eigenen Kultur bewusster zu werden. Punkt drei erinnert daran, dass mittels der Kunst auch (neue) Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens dargestellt werden können, die erst in hypothetischer Form existieren und wegweisend für neue – reale – Lebensformen sein können. Vielleicht bestes Beispiel dafür ist Utopia von Thomas Morus, ein Werk, das mittels Dichtung neue soziale Formen aufzeigt, die noch nicht gelebt worden sind und durchaus utopisch sein dürfen.

39 Hauskeller, Was ist Kunst?, S. 16. 40 Ebenda, S. 16-17. 41 Aristoteles, Poetik (6), S. 21. 42 Höffe, Aristoteles, S. 68.

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6. 2. 2 Kunst als Förderin des Gemeinwesens Aristoteles widmet sich nicht nur in der Poetik der Kunst, sondern auch in der Politik. In diesem Werk analysiert er die bestmögliche Staatsform und wie sie realistischerweise umgesetzt werden kann. Dabei werden als regulatives Moment die Gesetze erörtert. Gesetze allein können aber eine Gesellschaft nicht freundschaftlich einen resp. gegenseitigen Respekt oder gegenseitiges Verstehen schaffen. Gesetze können höchstens reglementieren und dadurch möglichst gerecht organisieren. Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft braucht es deshalb ein weiteres, vielleicht das wichtigste Element: die Freundschaft.43 Denn eine Polis besteht gemäß Aristoteles nicht nur, weil der einzelne Mensch auf andere Menschen angewiesen ist, sondern weil er für ein gutes Leben mit anderen in einer Gemeinschaft leben will. Er schreibt: „Und so gibt es in den Staaten Verschwägerungen und Brüderschaften und Opferfeste und Formen des geselligen Lebens. Das ist das Werk der Freundschaft. Denn der Wille, zusammenzuleben, ist Freundschaft.“44 Das gesellige Zusammensein wird sicherlich durch die Musik und den Tanz gefördert. Daher ist Musik und Tanz und allenfalls auch das Schauspiel für den Zusammenhalt einer Gesellschaft dienlich. Nun fragt sich natürlich, wie die Gesellschaft definiert wird. Sind das einfach die Bürger eines Staates, oder sind das auch Außenseiter einer Gesellschaft, die durch das gesellige Zusammensein bei beispielsweise Tanz und Musik in die Gesellschaft integriert werden können? Wenn das Zweite der Fall ist, kommt der Kunst eine integrative Rolle zu. Ausführlich widmet sich Aristoteles im achten Buch der Politik der Kunst, genau genommen der Musik, als Förderin des Gemeinwesens. Dies aufgrund der Erkenntnis, dass die Erziehung ein wesentliches Element eines guten Staates bildet, da ein guter Staat notgedrungen aus guten Bürgern, die loyal gegenüber dem Staat sind, bestehen muss. Daher ist gemäß Aristoteles die Erziehung auch nicht nur Privatsache, sondern Aufgabe des Staates.45

43 Höffe, Aristoteles, S. 243. 44 Aristoteles, Politik III, 1281a36-39. 45 Aristoteles, Politik VIII, 1337a14-18. (vgl. Anmerkungen S. 540ff.)

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Die Erziehung lässt sich im Wesentlichen in zwei Komponenten unterteilen. Zum einen dient die Erziehung zur Erlernung praktischer Fähigkeiten, zum anderen soll sie die Tugend fördern und den Charakter formen. Hier setzt die Musik ein.46 Es werden zwei Fragen aufgeworfen: 1. Was ist die Leistung der Musik? 2. Wozu wird sie gespielt? Diese Fragen werden mit drei Möglichkeiten beantwortet: (a) Als Spiel und Erholung neben Schlafen, Trinken und Tanz, (b) zur Beförderung der Tugend, so dass die Musik die Seele bildet wie die Gymnastik den Körper, und (c) als ein Stück der intellektuellen Bildung.47 Weiter unten werden die Fragen allerdings unter folgenden drei – abweichenden – Gesichtspunkten beantwortet: Die Musik dient (a) zur ethischen Erziehung, (b) zur Reinigung und (c) zur Erholung.48 Dass die Musik zur Erholung taugt, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Wichtig erscheint, dass die Musik eine größere Bereicherung darstellt, wenn das Spielen in der Jugend erlernt wurde, als wenn man die Musik, ohne sie – zumindest ansatzweise – spielen zu können, als Erwachsener genießt.49 Zudem besitzt sie zur Kultivierung des Geistes ihren eigenen Rang. So bietet die Musik auch die Möglichkeit den Geist zu schulen. Um seine Gedanken zu erklären, sie zu veranschaulichen greift Aristoteles nämlich selbst immer wieder auf Aspekte der Musik zurück. Er erklärt beispielsweise in der Diskussion über die beste Staatsform im vierten Buch seiner Politik: Vor allem scheinen zwei [Verfassungen] voranzustehen …, nämlich die Demokratie und die Oligarchie. Die Aristokratie wird als eine besondere Form der Oligarchie gerechnet und die sogenannte Politie als eine Demokratie, …Ähnlich verhält es sich auch … mit den musikalischen Harmonien; auch da werden zwei Arten angesetzt, die dorische und die phrygische, und die andern werden gesammelt als dorischer und phrygischer Typ benannt. Vor allem aber pflegt man bei den Verfassungen so vorzugehen. Richtiger und besser ist es jedoch, so einzuteilen wie wir es tun, indem wir eine oder zwei gut eingerichtete Verfassungen annehmen und die andern als Abwei-

46 Aristoteles, Politik VIII, 1339a11-26ff. (vgl. Anmerkungen S. 540ff.) 47 Ebenda, 1337b27-32. (vgl. Anmerkungen S. 545.) 48 Ebenda, 1341b36-1342a15. (vgl. Anmerkungen S. 551.) 49 Ebenda, 1339bff.

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chungen von der gut gemischten Harmonie bzw. vom vollkommenen Staate auffassen, die oligarchischen als allzu straff und despotisch, die demokratischen als allzu locker und weichlich.

50

In Bezug auf die Formung des Charakters wird zunächst das Argument entkräftet – wiederum eine Spitze gegen Platon –, dass die Musik den Charakter verweichlicht. Sicher lässt sich nicht leugnen, dass ein tapferer Kämpfer sich der Gymnastik zuwenden muss. Doch bemerkt Aristoteles, dass körperliche Ertüchtigung allein noch lange keine Tapferkeit oder Standhaftigkeit garantiert. Vielmehr muss die körperliche Kraft sinnvoll eingesetzt werden. Die Musik resp. die Erziehung in der Musik vermag die antrainierte Kraft ruhig zu steuern und gewinnbringend auf ein Ziel zu lenken. Aristoteles veranschaulicht dies mit dem Bild des Königs der Tiere und folgert, dass die Tapferkeit eben keineswegs der Wildheit folgt, „sondern vielmehr einem ruhigen und löwenhaften Charakter.“51 Als weiteren Grund, weshalb die Musik zur Formung des Charakters beiträgt, führt Aristoteles an, dass durch das Musizieren ein Gespür für das Richtige und Schöne geschult wird. Ebenso sollen Emotionen wie sich freuen, lieben und hassen richtig beurteilt und kontrolliert werden können. Und diese Kontrolle der Emotionen kann mittels der Musik geübt werden, da die unterschiedlichen Melodien, Harmonien und Rhythmen die unterschiedlichen Emotionen widerspiegeln.52 Zur Reinigung53 dient die Musik, weil sie ein Ventil darstellt, das vor allem jungen Menschen ermöglicht, angestaute Emotionen loszuwerden. Ähnlich wie man Kleinkindern Klappern gibt, damit sie im Hause nichts zerschlagen, so Aristoteles, hilft die Musik jungen Menschen, sich zu beruhigen und sich darauf wieder den ernsten Dingen zu widmen. Es ist allerdings darauf zu achten, dass das Musizieren nicht die anderen Tätigkeiten hemmt.54 Zudem können gewisse Rhythmen und Harmonien eine stimulierende oder dann eine beruhigende, heilende Wirkung besitzen. Deshalb ist genau

50 Aristoteles, Politik IV, 1290a. 51 Aristoteles, Politik VIII, 1338b. 52 Ebenda, 1340a. 53 Der Begriff Katharsis wird weiter unten genauer erläutert. 54 Aristoteles, Politik VIII, 1340b.

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darauf zu achten, welche Rhythmen und Harmonien wann und wie verwendet werden. Die Musik kann also, wie in der Poetik genauer ausgeführt wird, bei allen Menschen kathartisch wirken.55 In dieser Funktion zeigt sich das Vereinende der Musik: Alle Menschen können sich an Musik erfreuen. Geschmäcker sind verschieden. So auch in der Musik. Und trotz unterschiedlicher Präferenzen können Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildung ganz allgemein an Musik Gefallen finden. Dies wiederum kann dahingehend interpretiert werden, dass Musik verschiedene Kulturen zusammenführen und einen kann. Die Musik dient also in gewissem Sinne auch einem Menschen verbindenden Element, da alle, ob reich oder arm, sich der Musik erfreuen können. Wenn man diesen Gedanken weiterführt, folgt daraus auch, dass die Musik nicht nur verschiedene soziale Schichten vereinen kann, sondern – gerade weil sie allumfassende Emotionen anspricht – auch Menschen unterschiedlicher Kulturen anzusprechen und damit zu vereinen vermag. Die reinigende Wirkung der Musik kann unter folgendem Aspekt betrachtet werden: Wenn bedacht wird, dass Ängste, die vielleicht ganz allgemeiner Natur sind, sich in einem multikulturellen Umfeld jedoch gegen eine oder mehrere andersartige Kulturen richten, dass das Fremde somit die Projektionsfläche für diese Ängste darstellt, kann Musik dahingehend wirken, diese Emotionen zu neutralisieren. Musik wäre demzufolge ein Mittel, um Stress oder negative Emotionen wie Ängste, Unsicherheiten, Hass, Argwohn abzubauen und so zumindest eine durch Ängste negative Wahrnehmung einer anderen Kultur unter Umständen zu entschärfen. Dies könnte dazu führen, dass die fremde Kultur eher objektiv und nicht mit einer den Blick trübenden Brille negativer Emotionen gesehen wird. Die Musik soll – so Aristoteles – den Menschen zur Tugend führen, so dass er Gutes von Schlechtem oder Falschem unterscheiden und letztlich auch seine Handlungen danach ausrichten kann. Hier drängen sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten auf. Zum einen kann argumentiert werden, dass dadurch die Fähigkeit geschult wird, gute von schlechten Kulturen unterscheiden zu können. Dieser Ansatz würde genau in die entgegengesetzte Richtung der These resp. Fragestellung der Arbeit führen. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass die unterschiedlichen Kulturen nicht generell besser oder schlechter sind, sondern einfach anders (und hier-

55 Aristoteles, Politik VIII, 1341b.

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für plädiere ich), wird dieser Aspekt hinfällig. Vielmehr führt die Fähigkeit, ausgewogen differenzieren zu können, zur Fähigkeit, allfällige Vor- oder Nachteile einer fremden Kultur erkennen, analysieren und gewichten zu können. So würde sich ein differenzierteres Bild einer fremden Kultur zeigen und bestenfalls würden sich neue (positive) Aspekte des (Zusammen-) Lebens eröffnen. Oder um beim Beispiel der Musik zu bleiben: Wenn man das genaue Hinhören trainiert, um die Musik harmonischer zu gestalten, um falsche Töne leichter zu erkennen, um besser auf andere Mitspielende einzugehen etc., dann ist man vielleicht auch eher in der Lage, bei fremden Kulturen hinzuhören ohne bloß Dissonanzen, sondern einfach andere (neue) Harmonien wahrzunehmen, fremd Klingendes nicht einfach zu verurteilen, sondern sich auf neue Melodien, Harmonien und Rhythmen einzulassen. Nun zum Begriff Katharsis. Der Begriff Katharsis wird von Aristoteles für die Kunst verwendet, besitzt seinen Ursprung aber im kultischreligiösen sowie im medizinischen Bereich. Im kultisch-religiösen Bereich wird dem Menschen eine Reinigung von einer Sünde durch gewisse Zeremonien geboten. Die Sünde ist generell gesprochen etwas, das dem Menschen widerfahren ist oder das er getan hat und wovon er glaubt, dass dieses Widerfahrene oder diese Handlung Gott oder einer Gottheit missfällt. Um sich von der Sünde zu befreien, muss sich der Mensch einer kultischreligiösen Zeremonie unterziehen, welche eine reinigende, also kathartische Funktion besitzt. Im medizinischen Bereich wird der Begriff Katharsis durch die Schule des Hippokrates geprägt, wobei es vereinfachend darum geht, dass die körperliche Heilung durch das Ausscheiden von üblen Säften bewirkt wird, was einer Reinigung des Körpers gleichkommt.56 Der Begriff umfasst also eine seelische wie auch eine körperliche Reinigung, was ihn für die neuzeitliche Psychologie interessant macht, welche sich wiederum mit der heilenden Wirkung von Kunst befasst.57 Doch zurück zu Aristoteles:

56 Döring, Die Kunstlehre des Aristoteles, S. 251ff. 57 Hierzu vgl. speziell: Leuzinger, Paul. Katharsis – Zur Vorgeschichte eines therapeutischen Mechanismus und seiner Weiterentwicklung bei J. Breuer und in S. Freuds Psychoanalyse; Beiträge zur psychologischen Forschung. Opladen 1997.

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Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und 58

hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.

In der Kunstdiskussion von enormer Wichtigkeit entpuppte sich Aristoteles These der Katharsis, die in der Poetik näher ausgeführt wird. Dezidiert widerspricht er Platon, indem er der Kunst, gerade weil sie Affekte wie „Mitleid“ und „Furcht“ hervorzurufen vermag, eine beim Zuschauer mit Lust verbundene reinigende Wirkung zugesteht. Für Platon führt die Kunst den Zuschauer weg von der Vernunft, weil sie durch dargestellte Leidenschaften die Menschen dazu ermuntert, sich den Emotionen hinzugeben. Für Aristoteles hingegen ist es unsinnig, jegliche affektive Regung unterdrücken zu wollen. Vielmehr ist es wichtig, diese in vernünftige Bahnen zu lenken, denn eine starke Erregung am rechten Ort zur rechten Zeit kann sehr wohl moralischen Wert haben und insofern auch mit der Vernunft übereinstimmen. Und gemäß Aristoteles kann die Kunst hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.59 Denn es geht nicht primär darum, Affekte zu erregen. Ziel der Kunst ist es, einen emotionalen Überschuss im Menschen abzubauen. Es besteht nämlich bei der Unterdrückung der Affekte die Gefahr, dass sie früher oder später explosionsartig ausbrechen. Daher ist es wichtig, dass sich der Mensch mit Hilfe der Kunst von diesem Überschuss an Affekten befreien resp. den rechten Umgang mit diesen Affekten trainieren kann. Somit würde die Kunst als „Ablassventil der Affekte“ fungieren.60 Gerade der afro-amerikanischen Musik wurde immer wieder vorgeworfen, dass sie „Teufelsmusik“ sei, zu Sex und Gewalt auffordere und daher für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft schlecht sei. Doch mit Berufung auf die kathartische Funktion der Musik darf behauptet werden, dass gerade durch die Wildheit der afro-amerikanischen Musik die Hörer von ihren Aggressionen – z.B. gegen die Sklavenhalter oder sonstigen Unterdrücker – gereinigt wurden, dass durch die klagenden Klänge die Traurig-

58 Aristoteles, Poetik (6), S. 19. 59 Hauskeller, Was ist Kunst?, S. 17-18. 60 Ebenda, S. 19.

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keit gemildert und das zermürbende Schicksal leichter ertragen werden konnte.

6. 3 Z WISCHEN DEN P OSITIONEN P LATONS A RISTOTELES

UND

Wie gezeigt vertreten Platon und Aristoteles unterschiedliche, wenn nicht gar entgegengesetzte Positionen bezüglich der Kunst und deren Nutzen. Zwischen diesen Polen breitet sich im weiteren Verlauf der Geistesgeschichte ein Spannungsfeld aus, das den Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um die Kunst bildet.

6. 3. 1 Plotin: Vermittler zwischen Platon und Aristoteles Der Neuplatoniker Plotin ist ein erster Exponent, der einen neuen Aspekt zur Kunstdiskussion beiträgt, indem er auf die Ideenlehre und den Mimesisgedanken Platons zurückgreift, diese aber anders als Platon in Bezug zur Kunst interpretiert. Gestützt auf Platons Ideenlehre ist für Plotin die Kunst selbst als eine Idee aufzufassen, wobei der Künstler Vermittler einer Idee ist, indem er ein Kunstwerk schafft. Der Künstler – in Anlehnung an den Mimesisgedanken Platons – ahmt demgemäß nicht die Natur nach, sondern die resp. eine Idee der Kunst. Somit ist das Kunstwerk nicht die höchste Form, vielmehr ist sie eine niedrigere Form oder eben bloß eine mehr oder weniger gute Abbildung des Originals, nämlich der Idee, aber immerhin vermag diese Abbildung eine Ahnung der Idee zu vermitteln. Plotin erörtert dies anhand eines Steinhauers und des bearbeiteten Steins:

…, we say that the form that the artist originated in the stone was more beautiful and excellent in art than in the artist, and the form that is in art is not itself that which comes to the stone and enters into it: no, it remains fixed in art and there comes from it to the stone another form, lesser than it and inferior to it in beauty, through the agency of the artist: nor does the form which comes from the form in art enter the stone pure and unalloyed, as art wishes, but it is achieved in the stone to the extent that the stone accepts the effect of art. The form in the stone is

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beautiful and pure, but in art it is more beautiful and purer and nobler and superior by far and truer than those in the stone. That is because the more the form extends in matter, the weaker she grows and the less true in comparison with the form that remains in one matter, which it does not leave, for the form that is transferred from subject to subject – that subject to another subject – is wakened and its beauty and the truth in it diminish.61 Die Verknüpfung der Ideenlehre Platons mit dessen Mimesisgedanken eröffnet einen völlig neuen Zugang zur Kunst, der in die Nähe von Aristoteles führt, aber vor allem neue Kunstauffassungen eröffnet, ohne ältere Auffassungen zu negieren. Zum einen rückt Kunst damit nämlich in die Nähe des Göttlichen, wobei die Idee der Kunst Teil der Idee des Guten ist. Somit lässt sich erklären, dass Kunst in einer sakralen Form selbst von Platon gutgeheißen wird. Zum anderen nimmt Plotins Kunstauffassung die positiven Aspekte des Nachahmens von Aristoteles auf oder widerspricht ihnen zumindest nicht. Zudem impliziert Plotins Aussage, dass Kunstwerke Träger von Ideen verschiedener Art sein können. Demnach kann der Künstler durch seine Kunstwerke nicht nur Ideen im platonischen Sinn vermitteln, sondern auch neue Ideen und Gedanken im herkömmlichen Sinne. Wenn dem Künstler neue Formen des Lebens oder Zusammenlebens vorschweben, kann er diese mittels Kunstwerken veranschaulichen und sie anderen Menschen unter Umständen besser erklären, als wenn er dies in rational analytischer Weise versuchen würde. Damit wären nicht nur die Künstler und deren Reputation gerettet, dies würde auch erklären, weshalb Platon sinnvollerweise seine Erklärungen öfters mittels Bildern und Parabeln zu veranschaulichen versuchte. Und der Kunst als Vermittlerin zwischen den Kulturen eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, die Idee einer Kultur, oder zumindest Teile davon, abzubilden und zu vermitteln. Dies wiederum würde ein besseres Verständnis einer fremden sowie der eigenen Kultur ermöglichen.

61 Plotin, Enneades IV-V, V8 Theologia IV.

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6. 3. 2 Seneca: Kunst in Analogie zum schöpferischen Akt Gottes Ähnlich wie Plotin versucht auch Seneca die Positionen von Platon und Aristoteles zu verbinden. So ist für Seneca die Kunst als schöpferischer Akt in Analogie zum schöpferischen Akt Gottes zu verstehen, wobei die Vernunft in Analogie zu Gott steht, die zu formende Materie in Analogie zur Materie der Natur. Der Mensch kann allerdings nur mit Hilfe Gottes schöpferisch tätig sein. Die Kunst als solche hat also keinen großen Wert, wenn sie nicht in dieser Analogie gesehen wird.62 Deutlich ablehnender äußert sich Seneca weiter unten im 88. Brief an Lucilius. Die Kunst darf höchstens als eine Vorstufe zur Tugend betrachtet werden. Wenn ein Künstler oder eben Kunstvermittler mit seiner Kunst nicht auch Tugend vermittelt, dann ist diese Kunst bloß Ablenkung. Und wenn der Künstler Tugend vermittelt, ist er eigentlich ein Philosoph.63 Und im Gegensatz zu Aristoteles fordert er: Zur Musik gehe ich über: Du lehrst mich, wie miteinander die hohen und tiefen Töne zusammenklingen, wie der Saiten, obwohl sie verschiedene Töne hervorbringen, Harmonie entsteht: kümmere dich lieber, wie meine Seele mit mir in Einklang stehe und nicht meine Entschlüsse einen Missklang bilden. Du zeigst mir, welche Tonarten zur Klage geeignet sind: zeige lieber, wie ich im Unglück nicht mir entfahren lasse einen Klagelaut.

64

Seneca anerkennt somit die Möglichkeit sowohl der Analogie oder das Sichtbarwerden verschiedener Gemütszustände in Bezug zur jeweiligen Musik sowie allenfalls eine kathartische Funktion gewisser Tonarten, die für die Klage geeignet sind. Doch im Gegensatz zu Aristoteles sieht er darin keinen Nutzen.

62 Seneca, Siebentes Buch, 65, 1ff. 63 Seneca, Elftes Buch, 88ff. 64 Ebenda, 88, 9

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6. 3. 3 Augustinus: Kunst muss zu Gott führen Das Theater – insbesondere die Tragödie – wurde von Augustinus kritisch beurteilt. Im Gegensatz zu Aristoteles sah er im Schauspiel nicht die Möglichkeit, von schlechten Affekten gereinigt zu werden. Allerdings war er für kurze Zeit vom Theater hingerissen. So gestand er im dritten Buch seiner Bekenntnisse: Nun war ich auch hingerissen vom Theater und seinen Schauspielen, die reich waren an Bildern, die mein eigenes Elend widerspiegelten, und an Zunder für mein eigenes Feuer der Leidenschaft. Wie kommt es denn nur, dass der Mensch hier Schmerz empfinden will, wenn er jammervollen, tragischen Geschehnissen zuschaut, obschon es ihm doch widerstrebt, sie an sich selbst erdulden zu müssen?

65

Seine Kritik zielt darauf ab, dass das Theater zwar Mitleid zu wecken vermag, was an und für sich gut ist, aber den Protagonisten nicht geholfen werden könne, die Protagonisten nicht von ihrem Leid befreit werden können. Diese Situation erscheint ihm paradox, da der Mensch sich nicht am Leid eines anderen erfreuen sollte. Am Ende eines Theaterbesuchs sei die Freude aber am größten, wenn viel mit den Protagonisten mitgelitten werden konnte.66 Augustinus kommt zum Schluss, dass die Pflicht der Nächstenliebe zwar die Fähigkeit verlangt, mit einem anderen Menschen Mitleid zu haben resp. mitleiden zu können. Dies aber nur unter der Bedingung, dass dieses Mitleiden ein Ansporn dazu ist, dem leidenden Menschen Linderung zu verschaffen oder dessen Leid zu beheben. Wer nämlich gerne mitleidet, braucht andere, die leiden. Dies ist verwerflich, denn man sollte sich am Glück der anderen erfreuen, und nicht durch das Leiden eines anderen Freude empfinden, selbst wenn diese Freude sich in Mitleid ausdrückt oder von Mitleid herrührt. Da das Theater aber genau darauf abzielt, Mitleid zu wecken, um letztlich Vergnügen zu bereiten, ist es abzulehnen.67

65 Augustinus, Aurelius: Bekenntnisse, Drittes Buch II. 2. ; Flasch, Kurt/Mojsisch (Hg.), Stuttgart 1989; S. 72. 66 Augustinus, Bekenntnisse, Drittes Buch II. 2. ; S. 72ff. 67 Ebenda; vgl. dazu auch Kapitel 8 (S. 267).

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Selbst wenn diese Argumentation einleuchtet, muss doch darauf hingewiesen werden, dass gerade die Bibel nicht ein Buch logischer Argumentationen ist, sondern ein Buch hoch emotionaler Geschichten. Und Jesus lehrte nicht mit stringenter Logik, sondern mit einleuchtenden Parabeln. Und während des Gottesdienstes wird das Abendmahl – wie von Platon bezüglich der Kunst im Dienst des Kults gefordert – immer wieder neu inszeniert, um den Gläubigen vor Augen zu führen, dass Jesus seinen Jüngern – und letztlich allen Menschen – Leib und Blut hingab.68 Musik spielt für Augustinus eine bedeutende Rolle, was sich in seinem Werk De musica niederschlägt. Darin versucht er Erkenntnisse der Antike aufzugreifen und in den christlichen Glauben überzuführen, wobei die Musik zwischen Grammatik, Arithmetik und Philosophie stehend diskutiert wird. Die Diskussion geht vom ästhetischen Urteil aus und gelangt schließlich zur metaphysischen Erkenntnis. Konkret geht Augustinus von sprachtheoretischen Überlegungen aus, leitet zur Analyse des Rhythmus über und deutet schließlich das mathematische Wesen der Musik metaphysisch. De musica ist insofern einzigartig in der Geschichte sowohl der Musik wie auch der Philosophie, da zum einen die Metrik als Bestandteil in die Musiktheorie einbezogen wird und anderseits, da Augustinus äußerst stringent den Weg von mathematischer Logik resp. von zahlhaften Strukturen des sinnlich Wahrnehmbaren – vor allem in Bezug auf rhythmische Metren – bis hin zur Erkenntnis des Göttlichen aufzeigt.69 Der grundlegende Gedanke in Augustinus Ausführungen besteht darin, dass Spuren der Vernunft im sinnlich Wahrnehmbaren als Schönheit wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung des Schönen ist nämlich auf die numerische Logik des Gesangs – insbesondere dessen Rhythmen – zurückzuführen, sodass die ästhetische Schönheit Ausdruck der Vernunft ist, also eigentlich (mathematische) Vernunft als sinnliche Schönheit wahrgenommen wird. Die mathematischen Wissenschaften führen wiederum zu einer Erkenntnis des Göttlichen, da sich das Göttliche in der Ordnung der Schöpfung ausdrückt, welche durch Vernunft rational erkannt und durch Musik sinnlich wahrgenommen werden kann.70

68 Vgl. dazu auch Kapitel 7 (S. 244ff.). 69 Augustinus, Aurelius: De Musica Bücher I und VI, S. VIIff. 70 Ebenda, S. XI.

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Augustinus Untersuchungsmethode, die vom jeweils Nächstliegenden zum diesem zugrundeliegenden Höheren schreitet, gelangt, nachdem sie körperliche, körperlich-seelische sowie rein seelische Zahlen entdeckt und geordnet hat, zur Frage nach der ewigen Gleichheit. Da die Gleichheit im Körperlichen, d.h. im Räumlichen und Zeitlichen, ungewiss und vergänglich ist, muss sie entweder im Seelischen oder aber in einem höheren Bereich gesucht werden. Da die auf Zahlen gegründeten Wahrheiten durch sich selbst, also ohne Lehre, erkannt werden können, müssen sie unveränderlich und damit überpersonal sein und daher auch jenseits des Menschen existieren, nämlich in Gott. Der Wahrheit-Suchende wendet sich also gemäss Augustinus innerlich Gott zu.71 Die Musik kann somit zu Gott führen und ist daher wertvoll. Allerdings nur, so führt Augustinus nach den Maßstäben des Christentums aus, wenn sie mit Vernunft genossen wird. Falls der Mensch sich der Musik übermäßig und in unreflektierter Weise hingibt, also nicht nach der unveränderlichen Gleichheit sucht, sondern bloß ästhetische Regeln lernt und nachahmt, führt dies von Gott weg. Die Musik stellt dann für Augustinus eine Art Hochmut dar, weil die Seele sich nicht um das ihr Übergeordnete kümmert, sondern mit sich selbst zufrieden ist, statt sich auf Gott zu richten.72 Einmal mehr zeigt sich also die Ambivalenz in der Bewertung der Kunst – hier am Beispiel der Musik. Es wird auch im Christentum auf die Gefahr hingewiesen, sich im bloß sinnlichen der Kunst zu verlieren, genauso wie minutiös aufgezeigt wird, dass das Göttliche in der Musik sinnlich zum Ausdruck kommt. Durch dieses transzendente Moment in der Musik wird gleichfalls auch auf das Universelle in der Musik verwiesen, was wiederum als weiteres Argument für den interkulturellen und überreligiösen Wert der Musik interpretiert werden kann. Denn Augustinus Ausführungen lassen sich anhand afrikanischer sowie indischer oder europäischer Rhythmen veranschaulichen, sodass letztlich jede Musik – unabhängig ihrer Provenienz – zu Gott, zum Göttlichen, zum Guten führen kann. Und dies wäre ein weiteres Indiz, dass die Kunst als Brücke zwischen den Kulturen dienen kann. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Platon die Kunst im Prinzip als hindernd für den Einzelnen und vor allem auch für die Gemeinschaft

71 Augustinus, De Musica Bücher I und VI , S. XXVIff. 72 Ebenda, S. XXVIIff.

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erachtet, da sie vom Wesentlichen, nämlich der vernünftigen Suche nach der Wahrheit und dem Guten ablenkt. Demgegenüber steht Aristoteles, der in der Kunst sehr wohl einen Nutzen sieht. Zum einen, weil die Kunst von schlechten Emotionen reinigen kann, und zum anderen, weil durch Kunst Wissen und neue Ideen vermittelt werden können. Die vermittelnden Positionen gehen dahin, dass die Kunst zum Guten resp. zu Gott führen muss, wenn sie für den einzelnen wie auch für das Gemeinwesen von Nutzen sein soll, was die Frage nach einer Zensur aufwirft und dem damit verbundenen Dilemma, dass sich die Kunst nicht frei entfalten und gerade deshalb ihr Potential nicht ausschöpfen kann.

7. Identität durch Kunst

Im Folgenden soll anhand von John Deweys Ausführungen aufgezeigt werden, inwiefern Kunst etwas zum besseren gegenseitigen Verständnis der Kulturen leisten kann. John Dewey leistete dazu mit seinem Werk „Kunst als Erfahrung“1, das aus einer Vortragsreihe zum Thema „Philosophie der Kunst“ an der Harvard Universität in den 1930er Jahren hervorgegangen war, einen wesentlichen Beitrag, indem er zeigte, wie und warum die Kunst für das gegenseitige Verständnis der Kulturen nützlich sein kann. Seine Ausführungen sollen mit der Thematik der afro-amerikanischen Musik und der Bürgerrechtsbewegung in Verbindung gebracht werden, um anhand dieser Konkretisierung aufzeigen zu können, inwiefern Kunst als Brücke zwischen den Kulturen funktionieren kann.

7. 1 D IFFERENZEN

UND KLASSISCHER UND

A NALOGIEN ZWISCHEN A LLTAGSKUNST

Dem Titel des Werks entsprechend erachtet Dewey die Erfahrung, aus der heraus ein Kunstwerk entstanden ist und die anhand des Kunstwerks gemacht werden kann, als wichtigstes Element einer Theorie über Kunst. Dies wurde in der Vergangenheit und wird auch heute noch viel zu wenig beachtet. Bei ästhetischen Theorien wird oftmals die Kunst in einen Sonderbereich verwiesen, in dem sie allem normalen menschlichen Leben fern zu

1

Dewey, John. Kunst als Erfahrung. Frankfurt am Main 1980. (Originaltitel: Art as Experience. New York 1958.)

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sein scheint. Doch gerade weil die Kunstwerke oft in irgendeiner Form als klassisch oder etabliert gelten und unter rein ästhetischen Kriterien betrachtet werden, muss zunächst wieder zwischen den Kunstwerken als verfeinerten und vertieften Formen der Erfahrung und den alltäglichen Geschehnissen, Betätigungen und Leiden, die die menschliche Erfahrung ausmachen, eine Verbindung hergestellt werden. Denn die Ästhetik eines Kunstwerks ist bloß die Oberfläche der ihm zugrundeliegenden Erfahrung. Ästhetische Qualität erhält das Kunstwerk erst, wenn es in einem Menschen eine Erfahrung bewirkt.2 Gospel und Blues entstanden durch eine unmittelbare Erfahrung, die sich in Text, Melodie, Rhythmik und Dynamik widerspiegelte, welche gerade aufgrund ihrer Unmittelbarkeit zunächst kaum von einem breiten Publikum als ästhetisch empfunden, sondern als „Negermusik“ verachtet wurde. Erst nach und nach fand ein breites Publikum Zugang zu diesem Musikgenre, was jedoch zur Folge hatte, dass viele Afro-Amerikaner diese Form als nicht mehr genügend unmittelbar empfanden. Daher wurde nach neuen – unmittelbareren – Ausdrucksformen gesucht, welche im Jazz und später im Hip-Hop gefunden wurden. Und diese neuen Formen brauchten ihrerseits wieder eine gewisse – wenn auch kürzere – Zeit, bis sie von einem breiteren Publikum akzeptiert wurden. Kunst wird meistens auf einen Sockel gestellt und glorifiziert. Das „Geistige“ oder „Ideelle“ wird betont, wobei das Kunstwerk eine Aura ausstrahlen soll, eine Aura, die aus einem Gemisch aus Ehrfurcht und Unwirklichkeit besteht. Die „Materie“ wird jedoch verschmäht und Kunst wie moderne Tanzmusik oder Filme werden resp. wurden verachtet resp. nicht als Kunst betrachtet.3 Eine andere Vorstellung von Aura hat Walter Benjamin, der darin nicht die Emporhebung der Kunst auf einen Sockel sieht, sondern die Aura als etwas dem Kunstwerk Immanentes empfindet, und in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“4 den Verlust ebendieser Aura durch die Reproduzierbarkeit von Musik oder Bildern beklagt.

2

Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 9ff.

3

Ebenda, S. 12ff.

4

Benjamin, Walter. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 2006.

I DENTITÄT DURCH K UNST

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Dieser Verlust ist in doppelter Weise beim Gospel und Blues erkennbar. Zum einen sind Gospel und Blues heute anerkannte Kunstformen, die in altehrwürdigen Konzertsälen aufgeführt werden oder sogar in Werbespots Verwendung finden. Dadurch verliert die Musik an Ausdruckskraft, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Gospel wirken kann, wenn er in einer afroamerikanischen Kirche als Bestandteil der Zeremonie gesungen wird, oder wie der Blues wirken konnte resp. kann, wenn er an einer Samstagabendparty unter afro-amerikanischen Plantagenarbeitern gespielt wird. Andererseits wurden durch die Musikindustrie sowohl der Gospel wie der Blues auf unzähligen Tonträgern unzählige Male reproduziert, was sicherlich einen Verlust der Unmittelbarkeit einer Erfahrung darstellt, oder Benjamins Worten folgend, die Aura – oder zumindest einen Teil der Aura – des Gospels und des Blues verloren gingen. Doch Kunst muss nicht zwangsläufig als etwas Abgehobenes oder Entrücktes betrachtet werden. Völker aus anderen Kulturkreisen zeigen, dass auch all das Gegenstand tiefster Verehrung sein kann, was das unmittelbare Daseinsgefühl steigert, beispielsweise Tätowierungen, schwingende Federn oder Schmuckgegenstände. Aber auch Haushaltsgeräte, Einrichtungen für Zelt und Haus, Teppiche, Bogen und Speere waren mit so viel Freude und Sorgfalt gearbeitet, dass ihnen heute private Sammler nachjagen und diese alltäglichen Dinge Ehrenplätze in Kunstmuseen erhalten. Diese Gegenstände wurden oder werden nicht als Kunstwerke erschaffen, sondern dienen zur Verschönerung und Erleichterung des Alltags und sind heute Zeugen ebendieses Alltags oder – weiter gefasst – dieser Kultur.5 Ebenso standen Schauspielkunst, Musik, Malerei und Architektur ursprünglich – beispielsweise bei den alten Griechen – in keiner besonderen Beziehung zu Theater, Konzertsaal oder Museum. Vielmehr waren sie Bestandteile des bedeutungsreichen Lebens einer geordneten Gemeinschaft. So standen beispielsweise „Musik und Gesang in engstem Zusammenhang mit den Riten und Zeremonien, bei denen die Bedeutung des gemeinschaftlichen Lebens ihren Höhepunkt erfuhr“.6 Dies zeigt sich auch in der Geschichte der afro-amerikanischen Musik. Wie weiter oben beschrieben war die afrikanische Musik nicht zweckfreie

5

Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 13.

6

Ebenda, S. 14.

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Unterhaltung, sondern diente zu religiösen Zwecken oder dazu, die Geschichte eines Herrschers oder Stammes zu tradieren.7 Wegen dieser engen Verknüpfung von Alltagsleben und Kunst ist es für Dewey auch nicht erstaunlich, wenn Platon die Kunst als bloße Nachahmung verdammt und gar für Zensur eintritt, um das Gemeinwohl zu schützen. Platons Behauptung, ein Wechsel von der dorischen zur lydischen Tonart wäre der sichere Vorbote des Zerfalls des Gemeinwesens, mag übertrieben sein, doch es widerspiegelt für Dewey die Tatsache, dass die Musik ein integrierender Bestandteil des Geistes und der Institutionen der Gemeinschaft war.8 Auch als der Gospel und der Blues populär wurden, sah man in der Blues-Tonleiter den Verfall althergebrachter Werte. Es wurde nicht nur verbal gegen die neue (Teufels-)Musik vorgegangen, sondern es wurden in den fünfziger und sechziger Jahre auch Schallplatten öffentlich verbrannt, die von Afro-Amerikanern waren oder Weißen stammten, welche wie beispielsweise Elvis oder die Beatles afro-amerikanische Musik interpretierten oder Elemente dieser Musik in ihre eigene integrierten. Platons Skepsis gegenüber der lydischen Tonart wie auch die Verbrennung von afro-amerikanischer Musik können als Indiz genommen werden, dass Kunst sozial relevant ist. Gleichzeitig dient dieser Ansatz als erster Hinweis, dass das Leben oder die Kultur in der Kunst widerspiegelt wird und somit also die Möglichkeit besteht, dass durch die Kunst Kultur vermittelt wird. Das heißt allerdings nicht, dass dies automatisch geschieht. Wenn die Kunst auf einen Sockel gestellt wird, so dient dies häufig nicht dazu, Erfahrungen anderen weiterzugeben, die der Künstler machte oder vermitteln wollte. Kunststätten dienen gemäß Dewey oftmals nationalen Interessen, beispielsweise um die Größe und den Ruhm eines Landes in einem (nationalen) Museum zur Schau zu stellen. Ob dies eigene oder erbeutete Werke sind, spielt keine wesentliche Rolle. Auch Staatsopern oder städtische Symphonieorchester können als Prestigeobjekte betrachtet werden. Dieses Zur-Schau-Stellen von Kunst bleibt aber nicht bei nationalem und städtischem Dünkel stehen, sondern kann auch bei Privatpersonen beobachtet werden. Ob diese sich mit wertvoller Kunst eindecken, um Feingefühl zu suggerieren oder um den Status in der Gesellschaft zu manifestie-

7

Vgl. Kapitel 1. 1. 2 (S. 40ff.).

8

Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 14. Vgl. auch Kapitel 6. 2 (S.222ff).

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ren, oder ob sie sich als Mäzene betätigen, um sich den Ruf von Wohltätern zu erkaufen, spielt eine untergeordnete Rolle. Wesentlich bleibt, dass die Kunst in diesen Fällen weder Erfahrung vermitteln will, noch Erfahrung über Kunst gemacht wird.9 Doch wie kann Kunst Kultur vermitteln? Das Verständnis für die Kunst und ihre Rolle in der Kultur werden kaum dadurch gefördert, indem Lobeshymnen auf die Kunst angestimmt werden, auch dadurch nicht, dass man sich zunächst ausschließlich mit den als große Kunst anerkannten Werken befasst. Vielmehr muss man gemäß Dewey auf das Gewöhnliche oder den Alltag des Lebens zurückgehen, um die ästhetischen Eigenschaften zu entdecken, die solcher Art von Erfahrung innewohnen. Erst wenn die Kunstwerke nicht mehr verherrlicht werden, kann anerkannte Kunst wieder dazu dienen, die im Kunstwerk charakteristischen Werte – alltägliche Freuden oder Leiden – zu vermitteln.10 Gemäß Dewey ist dies dadurch möglich, dass die grundlegenden Elemente des Lebens in allen Kulturen die gleichen sind. Nämlich das Streben nach Harmonie, das Sich-in-Einklang-Bringen mit der Umwelt, welches nie vollständig gelingt, aber immer angestrebt wird. Dann und wann ist das Leben von Brüchen und Disharmonien geprägt, um durch eigenes Dazutun oder Glück wiederum zu einem fragilen Gleichgewicht zu gelangen. Dieser anhaltende Rhythmus, der die Wechselbeziehung zwischen den Lebwesen und ihrer Umwelt kennzeichnet, kann ästhetisch ausgedrückt werden. Während der Künstler sein Kunstwerk erschafft, verarbeitet er diese Spannung von Harmonie und Disharmonie und drückt sie mit ebendiesem Kunstwerk aus, welches als Träger der Erfahrung des Künstlers fungiert und diese weitergibt.11 Gerade beim Gospel, Blues und Jazz ist evident, dass die Ursprünglichkeit, welche diese Musikformen hatten, heute nicht mehr in der gleichen Form vorhanden ist oder zumindest nicht unmittelbar erfahren werden kann. Doch wenn bewusst auf die Ursprünge geachtet wird, dann sind die Klagegesänge der Plantagenarbeiter immer noch hör- und fühlbar. Auch die Hoffnung auf ein besseres Leben und die Ängste und der Kummer des alltäglichen Lebens sind bei genauem Hinhören in den Gospels immer noch

9

Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 15ff.

10 Ebenda, S. 18. 11 Ebenda, S. 20ff.

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erfahrbar. Viel unmittelbarer erfahrbar sind die aktuellen Leiden und die heutigen Hoffnungen der zeitgenössischen afro-amerikanischen Künstler im Hip-Hop – gerade weil er (noch) nicht etabliert ist, (noch) nicht auf einem Sockel in einem Tempel der Kunst steht.

7. 2 D IFFERENZEN UND A NALOGIEN K UNST UND W ISSENSCHAFT

ZWISCHEN

Es darf kritisiert werden, dass ein Künstler für seine Kunst weniger analytische oder intellektuelle Kraft aufwendet und daher weniger bewirkt als ein Wissenschaftler oder Philosoph. Dem hält Dewey allerdings entgegen: „Selbst die reinste „Vernunft“ kann weder einen absoluten Vorrang noch eine in sich ruhende Sicherheit erzielen.“12 Vielmehr muss sie auf die Phantasie zurückgreifen, auf die Vergegenständlichung der Ideen in einer an Gefühlen reichen Sinnenhaftigkeit. Oder anders formuliert: Selbst der „größte Philosoph“ muss, um bei seinen Denkprozessen zu Schlüssen zu gelangen, auswählen und verwerfen, während seine Vorstellungskraft aktiv ist.13 Auch Personen, die als „Denker“ oder „Wissenschaftler“ betrachtet werden, arbeiten – so Dewey – nicht in dem Masse mit bewusstem Willen und Verstand. Sie müssen sich, wie auch der Künstler, auf ein unklares Ziel hin bewegen, tappen oft im Dunkeln und sind sich nicht sicher, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist. Dabei lassen sie sich auch von ihren Gefühlen lenken. Der Unterschied besteht nur in der Art des Materials, an das sich die zum Gefühl gewordene Vorstellung knüpft. In Deweys Worten: Diejenigen, die man als Künstler bezeichnet, machen die direkt erfahrenen Eigenschaften der Dinge zu ihrem Gegenstand; „intellektuelle“ Fragesteller befassen sich mit diesen Eigenschaften um einen Schritt versetzt – mit Hilfe von Symbolen, die Eigenschaften darstellen, doch als unmittelbar Seiendes keine spezielle Bedeutung 14

haben.

12 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 45 13 Ebenda. Vgl. auch Kapitel 8 (S. 267ff). 14 Ebenda, S. 89.

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Bei den Arbeitsprozessen der Künstler – ob nun Maler, Musiker oder Dichter – lassen sich ähnliche Verfahren nachweisen – z.B. eine zündende Idee, die anfänglich als Skizze vorliegt und später in langwieriger Arbeit sich zu einem fertigen Werk entwickelt – wie bei einem Wissenschaftler, der forscht und von einer Idee durch Forschung zu einem gesicherten Resultat kommt.15 Zu berücksichtigen ist zudem, dass Afro-Amerikaner sich früher meistens nicht intellektuell betätigen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten. Ihnen war der Zugang zu Schulen und Universitäten anfänglich aus rassistischen, später aus finanziellen Gründen verwehrt. Somit waren sie auf die Musik angewiesen, um sich ausdrücken und mitteilen zu können, um Ideen zu entwickeln und Botschaften zu übermitteln. Doch selbst wenn sie sich intellektuell hätten betätigen können: Wäre dies ein Vorteil gewesen? Der Hauptunterschied zwischen einem Intellektuellen und einem Künstler ist nämlich, dass ein Künstler nicht mittels Argumentation und Intellekt überzeugen will, sondern mittels Suggestion und Gefühl, dass er das Herz und nicht den Verstand anspricht. Dies ist insbesondere deshalb von Belang, da eine (gefühlte) Erfahrung verarbeitet und im besten Fall weitergegeben wird. Dewey macht auf die Besonderheit der künstlerischen Verarbeitung von Gefühlen folgendermaßen aufmerksam: Es ist normal, dass bei Kummer Tränen vergossen werden, bei Wut lautstark oder gar destruktiv dem Affekt freier Lauf gelassen wird, bei Freude gelacht oder vergnügt geplaudert wird. Der Künstler hingegen trägt diese Gefühle mit sich herum und formt sie in ein Kunstwerk um, speichert diese Gefühle gewissermaßen und macht sie somit anderen in Form von Kunst zugänglich und teilt sie bestenfalls mit diesen.16 Gerade der Blues, der mit Trauer übersetzt werden kann, sicher aber schwermütige Musik verkörpert, erweist sich als aufgestautes Gefühl, das künstlerisch ausgedrückt wird. Auch der Jazz mit seinen Disharmonien, eigenwilligen Melodien und wilden Rhythmen drückt eine angestaute Wut aus und verweist damit nicht bloß auf ein momentanes Gefühl, sondern auf eine Lebenssituation, die oft von Demütigung und Unterdrückung geprägt ist. Diese Musikformen sind nicht nur Ausdruck eines einzelnen, sondern

15 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 89ff. 16 Ebenda, S. 94-95.

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widerspiegeln das Gefühl eines Kollektivs. Diese kollektive Wut wiederum muss nicht bedeuten, dass Afro-Amerikaner mit ihrer Musik zur Revolte aufrufen. Die Musik kann eine kathartische Funktion im aristotelischen Sinne übernehmen, sodass die Pein besser zu ertragen ist. Der oben genannte Ansatz geht von einem individuellem Kunstschaffen und einer individuellen Kunstrezeption aus. Doch kann Kunst auch in und durch die Allgemeinheit erschaffen und von ihr rezipiert werden. Gerade bei sogenannt primitiven Völkern kann beispielsweise Wehklagen eine zeremonielle Form annehmen, die fern von dessen ursprünglicher Bedeutung ist. In dieser zeremoniellen Form wird Kunst zu einem sozial verbindenden Element und kann als Ausdruck einer Gemeinschaft angesehen werden. Doch auch Kunstwerke, die ursprünglich individuell waren und deren sich eine Gemeinschaft erst später auf breiter Ebene erfreut, sind Zeichen für ein vereintes Kollektivleben oder zumindest Ausdruck eines kollektiven Empfindens. Breit rezipierte Kunstwerke können eine Gemeinschaft fördern und stärken. In Deweys Worten: Die Neuschaffung des Erfahrungsmaterials im Ausdrucksakt ist kein isolierter Vorgang, der sich auf den Künstler und eine zufällige Person beschränkt, der das Werk gerade gefällt. In dem Masse, in dem Kunst ihr Amt ausübt, ist sie ein Neuschaffen der Erfahrung der Gemeinschaft in Richtung auf eine stärkere Ordnung und Ein17

heit.

7. 3 D IE A USDRUCKSFÄHIGKEIT

DER

K UNST

Doch was ist eigentlich ein Kunstobjekt? Für Platon ist es bloße Nachahmung einer Nachahmung einer Idee. Dem hält Dewey entgegen, dass ein Kunstobjekt eben mehr ist als eine bloße Kopie eines Gegenstandes, weil es mehr ausdrückt. So soll der Maler Henri Matisse gesagt haben, dass die Kamera eine Wohltat für den Maler sei, da sie ihn von aller augenscheinlichen Notwendigkeit befreie, die Dinge zu kopieren. Vielmehr wolle er etwas über das Wesen der eigenen Erfahrung der Welt mitteilen. Und Vincent Van Gogh soll seinem Bruder geschrieben haben, wie sehr ihm daran

17 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 97.

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gelegen sei, durch das Malen der Landschaft in Südfrankreich zugleich etwas von tiefster Traurigkeit auszudrücken.18 Was der Künstler mit seinem Werk ausdrückt, ist allerdings mehr als eine individuelle Äußerung eines Gefühls, da dieses Werk eine universelle oder zumindest eine überindividuelle Empfindung wiedergibt. Diese Ausdrucksfähigkeit eines Kunstgegenstandes ist darauf zurückzuführen, dass „er eine tiefgreifende und vollständige gegenseitige Durchdringung der Materialien des Erlebens und des Handelns darstellt.“19 Das heißt, dass die Ausdruckskraft mehr ist als ein oberflächliches sinnliches Reproduzieren, dass sie tiefstes Empfinden des Künstlers ausdrückt, welches wiederum vom Rezipienten mit- oder nachempfunden wird. So wird die Erfahrung des Künstlers weitergeben und erweitert den Erfahrungshorizont des Rezipienten.20 Damit ist allerdings nicht gesagt, dass es die Absicht des Künstlers ist, anderen eine Mitteilung zu machen. Ein Künstler, der bewusst auf andere einwirken möchte, wirkt eher unbeholfen oder gilt als Moralist und wird dementsprechend als Künstler wenig ernst genommen. Ein Künstler arbeitet und erschafft in erster Linie für sich, da er dem Werk verpflichtet ist und nicht dem Publikum. Doch da die Objekte der Kunst expressiv sind, teilen sie etwas mit. Häufig zeichnet sich die Qualität eines Kunstwerks dadurch aus, wie stark und über welche Zeitspanne ein Kunstwerk vom Publikum rezipiert wird. Was durch das Werk ausgedrückt wird, sollte etwas sein, nach dessen Ausdruck der Rezipient selbst schon immer gesucht und getrachtet hat. Dadurch werden „Kunstwerke die einzig möglichen Mittel zur vollständigen und ungehinderten Kommunikation von Mensch zu Mensch in einer Welt voller Klüfte und Mauern, welche die Gemeinsamkeit der Erfahrung einschränken.“21 Der afro-amerikanische Musiker wollte sich mit seiner Musik nicht bei den Weißen anbiedern. Vielmehr versuchte er sich auszudrücken, versuchte seine tiefsten Empfindungen auszudrücken, die universell waren und dadurch auch ein weißes Publikum ansprechen konnten. Anderseits konnte das weiße Publikum die afro-amerikanische Musik nur aufnehmen, da sie

18 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 98-102. 19 Ebenda, S. 121. 20 Ebenda, S. 121-122. 21 Ebenda, S. 121-124.

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überindividuelle Gefühle – Angst, Wut, Trauer, Hoffnung etc. – auszudrücken vermochte und immer noch auszudrücken vermag. Da Kunstwerke expressiv sind, so Dewey, bedeuten sie Sprache oder viele verschiedene Sprachen, denn jede Kunstform besitzt ihr eigenes Medium, welches zu einer bestimmten Kommunikationsart passt. Und jedes dieser Medien sagt etwas aus, das mittels Sprache nicht oder nur unvollständig ausgedrückt werden kann. Ob nun Malerei, Architektur, Musik oder eine andere Kunstform, jede besitzt ihr eigenes Idiom, durch das etwas vermittelt wird, was in einer anderen Kunstform nicht vermittelt werden könnte.22 Es bestehen der Sprecher (Künstler), das Gesprochene (Kunstwerk) sowie der Angesprochene (Kunstrezipient), wobei das Kunstwerk das Bindeglied zwischen dem Künstler und dem Kunstrezipienten darstellt. Wenn dies nicht der Fall wäre, könnte man nicht von Kunst sprechen. Selbst wenn ein Künstler nicht für ein Publikum Kunstwerke erschafft, werden diese erst zu Kunst, wenn ein Publikum auf die Kunstwerke eingeht.23 Dabei ist einerseits wichtig, was gesagt wird, anderseits, wie es gesagt wird. Somit stellt sich auch die Frage nach der Substanz und der Form eines Kunstwerks. Dabei gibt es viele unterschiedliche Auffassungen, welche Form für welchen Inhalt angemessen ist oder ob nicht immer wieder neue Formen gefunden werden müssen, um bestimmte Inhalte vermitteln zu können. In Bezug auf die Erfahrung spielt es allerdings keine Rolle, welchen Weg das Kunstwerk auch immer verfolgt – „gerade weil es eine abgerundete, intensive Erfahrung darstellt, hält es die Kraft lebendig, die gewöhnliche Welt in ihrer ganzen Fülle zu erfahren. Dies tut es, indem es die Rohmaterialien jener Erfahrung auf einen durch Form geordneten Stoff reduziert.“24 Wenn also die Erfahrung das Essentielle oder eben die Substanz ist, dann kann auch behauptet werden, dass die Kunst die Form dieser Erfahrung ist. Mit den Worten Deweys kann Kunst definiert werden als „das Wirken jener Kräfte, die die Erfahrung eines Ereignisses, eines Objekts,

22 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 125. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 155.

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einer Szene oder Situation zu ihrer eigenen, integralen Erfüllung bringen.“25 Die afro-amerikanische Musik entwickelte sich nicht nur ausgehend von der afrikanischen Musik zu einer afro-amerikanischen Musik, sondern auch vom simplen Blues oder Gospel zu ausgeklügeltem Jazz, Funk oder heutigem Hip-Hop. Diese starke Entwicklung entspricht dem geschilderten Vorgang: Es mussten jeweils neue Formen gefunden werden, um die aktuelle Situation adäquat auszudrücken. So genügte der alte Blues nicht mehr, um Wut und Trauer in der heutigen Zeit auszudrücken, und es wurde im Hip-Hop eine Form gefunden, welche die aktuellen Hoffnungen und Sorgen besser reflektieren kann.

7. 4 D IE V ERMITTLUNG K UNST

VON

E RFAHRUNG

DURCH

Kunstwerke besitzen für unterschiedliche Zeiten und Kulturkreise eine unterschiedliche oder intensivere Bedeutung für die Rezipienten der jeweiligen Zeit oder den jeweiligen Kulturkreis. So macht Dewey geltend, dass der Parthenon für die Athener vor zweitausend und mehr Jahren mehr bedeutete als für Betrachter von heute, dass Dantes Göttliche Komödie zur Zeit Dantes eine andere Wirkung erzielte als heute.26 Es könnten noch unzählige weitere Beispiele angeführt werden, einleuchtend scheint dies auf alle Fälle. Anderseits zeigen die Beispiele aber auch, dass es für heutige Rezipienten dank Kunstwerken – falls sie sich mit ihnen abgeben oder sogar angesprochen fühlen – möglich sein kann, mehr über die jeweilige Zeit und die jeweilige Kultur zu erfahren. So kann Höhlenmalerei einerseits als frühe Form von Kunst betrachtet werden, andererseits kann sie auch als Ausdruck des Lebens und der Kultur der damaligen Menschen verstanden werden, genauso wie Tänze oder Gesänge nicht nur unter dem Aspekt der Kunst gesehen werden können, sondern als Ausdruck des Rhythmus des Lebens: des Säens und Erntens, des Todes und der Auferstehung der Vegetation. Man muss nicht bis zu den Höhlenbewohnern zurückgehen, auch bei den alten Griechen waren Repro-

25 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 159. 26 Ebenda, S. 130.

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duktion und Wahrnehmung der Ordnung natürlicher Wandlungen so eng beieinander, dass es zwischen Kunst und Wissenschaft keinen Unterschied gab – beides nannte man techné. Auch die Philosophie in Versform kann als denkerisches Streben verstanden werden, das in Versform gefasst wurde und somit als Kunst wie auch als Wissenschaft aufgefasst werden kann.27 Die Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst erfolgte später. Während die Wissenschaft durch Analyse Dinge voneinander trennt, um sie verstehen zu können, die in der Wahrnehmung und dem Gefühl nach zusammengehören, versucht die Kunst, diese Wahrnehmung und Empfindung als Ganzes zu erfassen und in komprimierter Form auszudrücken.28 Wichtig ist Dewey die Organisation der Energien, die ein Kunstwerk beinhalten muss, um Erfahrung zu transportieren und wirken zu lassen. Dabei spielt der Rhythmus eine zentrale Rolle, wobei nicht einfach der Rhythmus in der Musik oder der Poesie gemeint ist, sondern auch der Rhythmus, der in Prosa, Bildern oder Architektur vorhanden ist. Der Rhythmus ist als funktionale Anordnung wiederkehrender Elemente zu verstehen und nicht als gleichförmiges Tick-Tack.29 Selbst wenn, wie bei den Gospel-Hymnen, ein klarer Rhythmus festgestellt werden kann, der mit einer physikalisch messbaren Zeiteinheit korrespondiert, heißt dies nicht, dass dieser Rhythmus im Gesamtkunstwerk nicht seinen Sinn besitzt. Rhythmen gewinnen in verschiedenen Kontexten eine Variationswirkung, wie sie eine an sich anreichernde Erinnerung mit sich bringt. So kann ein wiederkehrender Rhythmus eine gewollte Wirkung erzeugen, z.B. wenn ein Künstler damit eine Vorstellung von unerbittlichem Schicksal vermitteln will. Die Wirkung beruht nicht auf einer simplen quantitativen Addition. Vielmehr gewinnt eine wiederholt gespielte Phrase an Kraft, weil die neuen Zusammenhänge, in denen sie wiederkehrt, mit mehr Nachdruck und Präzision neuen Wert ergeben.30 Wenn man die Rhythmen des „Wilden“ betrachtet, so zeigt sich, dass diese viel komplexer als diejenigen des „Zivilisierten“ sind. Diese Rhythmen müssen nämlich als Faktoren in einem größeren Ganzen gesehen werden, z.B. in Verbindung mit Tanz und Gesang. Aber auch für sich alleine

27 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 172-173. 28 Ebenda, S. 186. 29 Ebenda, S. 188-189. 30 Ebenda, S. 192.

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betrachtet sind diese Rhythmen nicht einfach Wiederholungen, sondern werden subtil variiert und durchlaufen „eine Entwicklung, ein Aufsteigen zu höheren Graden von Erregtheit, vielleicht sogar bis zur Raserei, eine Entwicklung, die mit relativ langsamen und ruhigen Bewegungen begonnen hat.“31 Dadurch wird auch eine Kraft oder Energie vermittelt. Kraft und Energie sind auf den ersten Blick seltsame Begriffe in Verbindung mit Kunst – im Gegensatz zu beispielsweise Arbeit oder Sport. Doch Kraft ist ein zentraler Faktor der Kunst, wenn man Kraft als Energie zu bewegen und aufzurühren, zu beruhigen und zu besänftigen versteht, d.h. als Kraft, Emotionen zu erzeugen. Auch kann Kunst gemäß dem englischen Schriftsteller und Dramatiker John Galsworthy als „imaginativer Ausdruck von Energie“ definiert werden, der „durch technische Konkretion von Gefühl und Perzeption dazu führt, das Individuum mit dem Universum dadurch zu versöhnen, dass er in ihm eine nicht subjektgebundene Emotion hervorruft.“32 Dabei – so Dewey – „meint „Versöhnung“ das Erreichen eines Zieles in einer unmittelbaren und nicht reflektierten Form, das Erreichen von Perioden harmonischer Kooperation von Mensch und Welt in Erfahrung, die vollendet sind.“33 Wenn Kunst als Kraft verstanden wird, die nicht subjektgebundene Emotionen hervorrufen kann, dann ist es ihr auch möglich, kulturübergreifende Emotionen zu wecken und damit das Verbindende der Kulturen im Menschen anzusprechen und damit wiederum Brücken über kulturelle Gegensätze zu schlagen. Ebenso darf die besänftigende Kraft der Kunst nicht unterschätzt werden. Ob diese Kraft nun durch besondere Feinfühligkeit des Kunstwerks oder durch die Kraft der Katharsis gemäß Aristoteles hervorgerufen wird, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass die Kunst behilflich sein kann, Aggressionen und Ängste gegenüber anderen Kulturen zu vermindern. Nun: Wie kann Kunst erfahren werden? Dewey definiert dies so: „Erfahrung ist ein Produkt, man könnte fast sagen: ein Nebenprodukt einer kontinuierlichen und sich steigernden Interaktion eines organischen Sub-

31 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 193. 32 Galsworthy, John zit. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 216. 33 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 216.

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jekts mit der Welt.“34 Dass diese Interaktion nicht einmalig und auch nicht privat sein muss, zeigt die Architektur besonders deutlich. Sie bringt dauernde Werte des menschlichen Gemeinschaftswesen zum Ausdruck und repräsentiert Erinnerungen, Hoffnungen oder Ängste, ob als religiöse Stätten, moderne zweckgebundene Bauten oder Privathäuser. Dadurch repräsentiert die Architektur sowohl Geschichte als auch Zukunftserwartung der jeweiligen Kultur.35 Gerade auch die Ursprünge der Kunst weisen den gesellschaftlichen Charakter der Kunst aus. So stand Kunst anfänglich meistens im Dienst der Religion, ob als Fresken oder Bilder resp. Klänge oder Gesänge, um den Glauben zu inspirieren und die Frömmigkeit neu zu beleben. Ein Außenstehender kann selbst Gebete als Poesie resp. heilige Bücher als Prosa betrachten und sich von ihnen ergriffen fühlen.36 Deweys Bemerkung, dass Gebete als Poesie resp. heilige Bücher als Prosa betrachtet werden können, ist insofern interessant, als die Gospelmusik genau diesen Aspekt aufgriff und verstärkte. Aus dem Alten wie dem Neuen Testament – wie im ersten Teil gezeigt – wurden „Geschichten“ aufgegriffen und auf die eigene Lebenssituation übertragen. Dadurch wurden diese „Geschichten“ greifbarer, der Gesang emotionaler und damit auch kraftvoller. Dies wiederum führte dazu, dass das weiße Publikum auf die Gospelgesänge aufmerksam wurde. Ein anderer Gedanke in Deweys Ausführungen zu Kunst und Religion ist der, dass, selbst wenn die heutige Kunst nicht mehr im Dienst der Religion steht, sie als Religionsersatz betrachtet werden kann, welche Hoffnung und Trost spendet. Zudem wird Kunst oft in Gesellschaft genossen, sei dies bei einem Museums-, Theater-, Kino-, Konzertbesuch etc. Bisweilen erreicht die Kunst heute gar ein Millionenpublikum und stiftet ein Gemeinsamkeitsgefühl in früher nie dagewesenem Ausmaß. Der gesellschaftliche Charakter der Kunst besteht gemäß Dewey darin, dass die Ausdrucksweisen, die die Kunst konstituieren, Kommunikation in ihrer reinen und makellosen Form sind. „Kunst durchdringt Grenzlinien,

34 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 257. 35 Ebenda, S. 258. 36 Ebenda, S. 259.

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die Menschen voneinander trennen und die in gewöhnlicher Verbindung undurchlässig sind.“37 Dieses Universelle der Kunst ist auf den ersten Blick nicht offensichtlich. Zum einen sind die Kunstformen der jeweiligen Kulturkreise zum Teil unterschiedlich, zum anderen sind sowohl Künstler wie auch Rezipienten Individuen mit subjektiven Vorlieben und Interessen. Dadurch besitzen auch alle Kunstwerke ihren eigenen Charakter und werden unterschiedlich rezipiert. Doch allen Individuen ist eines gemeinsam: Sie besitzen die gleichen Hände, Organe, Dimensionen, Sinne, Neigungen, Leidenschaften; „sie nähren sich von den gleichen Lebensmitteln, werden durch die gleichen Waffen verletzt, sind den gleichen Krankheiten unterworfen, werden durch die gleich Medizin geheilt, erleiden Hitze und Kälte auf Grund der gleichen klimatischen Schwankungen.“38 So muss der Liebeskummer, den ein Blues ausdrückt, nicht spezifisch afro-amerikanisch sein, sondern kann sehr gut von einem weißen Publikum nachempfunden werden. Auch das Gefühl, nicht akzeptiert oder nicht verstanden zu werden, welches im Blues immer wieder vorkommt, können gerade Jugendliche unterschiedlicher Herkunft sehr wohl nachempfinden, kämpfen sie doch selbst um Akzeptanz und Anerkennung in der Welt der Erwachsenen. So ist es nicht erstaunlich, dass die Jugend- und Popkultur der fünfziger und sechziger Jahre mit Elvis oder den Beatles sich von afroamerikanischer Musik inspirieren ließ. Doch auch der Gospel, der die Hoffnung auf ein besseres Leben an einen besseren Ort in einer besseren Zeit ausdrückt, kann dankbar von einem weißen Publikum aufgenommen werden. Um zu verdeutlichen, dass Kunst als Brücke zwischen unterschiedlichen Kulturen fungieren kann, hier ein längeres Zitat von Dewey: Künstlerische Kommunikation setzt sich über Schranken hinweg, die den Menschen vom Mitmenschen trennen. Da Kunst die universalste Form der Sprache ist, und da sie [...] dadurch konstituiert ist, dass sie mit der Öffentlichkeit Gemeinsamkeiten aufweist, ist sie auch die universalste und freiste Form der Kommunikation. Jede intensive Erfahrung der Freundschaft und Zuneigung vervollkommnet sich selbst im Künstlerischen. Der Sinn von Gemeinschaft, erzeugt durch ein Kunstwerk, vermag

37 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 286. 38 Ebenda, S. 287-288.

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eine ausgesprochen religiöse Qualität zu gewinnen. Die Vereinigung der Menschen untereinander ist der Ursprung der feierlichen Riten, die von Urzeiten an bis in die Gegenwart hinein die Krisen der Geburt, des Todes und der Hochzeit in Erinnerung gehalten haben. Kunst ist die Ausweitung der Macht von Riten und Zeremonien, um Menschen durch eine Kunstfeier, an der alle teilhaben, im Hinblick auf alle Ereignisse und Situationen des Lebens zu verbinden. Diese Aufgabe ist der Lohn und das Siegel der Kunst. Dass die Kunst Menschen und Natur vereint, ist eine vertraute Tatsache. Die Kunst macht den Menschen auch bewusst, dass sie untereinander eine Einheit bilden, eine Einheit im Hinblick auf ihren Ursprung und ihre Bestimmung.

39

Selbst wenn der Kunst attestiert wird, dass sie grenzübergreifend kommunizieren kann oder sogar die universalste Kommunikationsform ist, besteht immer noch die Frage, was denn genau kommuniziert wird. Hier setzt auch die Kritik vieler Philosophen – wie beispielsweise Platons – ein. Die Kunst mag einen vielleicht zu geistiger Tätigkeit führen, kann aber nie rationales Erkennen ersetzen. Doch ein Kunstwerk kann unmittelbare Erfahrung konzentrieren, erweitern und eben vermitteln. Und anders als analytisches Denken, welches das Ganze in Teile zerlegt und untersucht, versucht die Kunst unterschiedliche Splitter in ihrer Verschiedenheit zu einem Ganzen zusammenzufügen, so dass letztlich die einzelnen Elemente in der unmittelbaren Ganzheit der ästhetischen Erfahrung aufgehen, wodurch Wahrheit nicht als rationale Analyse, sondern als ästhetische Erfahrung vermittelt und erkannt wird.40 So können verworrene Szenen des Lebens in der ästhetischen Erfahrung einsichtiger gemacht werden: „[...]nicht jedoch wie Reflexion und Wissenschaft durch Reduktion auf begriffliche Form die Dinge einsichtiger machen, sondern indem sie ihre Bedeutungen als Gegenstand einer geklärten, zusammenhängenden und intensivierten oder „leidenschaftlichen“ Erfahrung darstellen.“41 Der Dichter T.S. Eliot ging sogar noch weiter, indem er sagte, dass „die wahrste Philosophie das beste Material für den größten Poeten abgibt.“42 Dies kann so gedeutet werden, dass die Tätigkeit des Dichters darin besteht, philosophischen Inhalt durch Hinzufügung von sinnlichen und emotionalen

39 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 318. 40 Ebenda, S. 320-312. 41 Ebenda, S. 339. 42 Eliot, Thomas Stearns zit. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 370.

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Qualitäten lebensfähiger zu machen. Dewey versteht Eliot so, dass zuerst eine wahrste Philosophie besteht, die dann in Kunst überführt wird, was unweigerlich die Frage aufwirft, ob es eine „wahrste Philosophie“ geben kann, und wenn, ja, wie diese dann wäre. Man kann Eliot allerdings auch so verstehen, dass große Kunst dadurch entsteht, indem ein ansonsten für die Philosophie übliches Thema künstlerisch verarbeitet wird, die Grundlage der Kunst also philosophische Gedanken bilden. Mit anderen Worten, dass große philosophische Themen – wie das Gute, das Böse, Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe, Glück, Leben, Tod etc. – künstlerisch verarbeitet werden, dabei nicht analysiert, sondern als ästhetische Erfahrung weitergegeben und dadurch wiederum verständlich gemacht werden.43 Somit kann Kunst Wahrheit – zumindest die Wahrheit des Künstlers – ausdrücken und verständlich machen. Sie kann aber auch Ideen und Ideale enthüllen oder entwickeln, alte Ideale zerstören und neue postulieren. Die Kunst kann oder soll – wie Dewey fordert – auch Vorurteile beseitigen, damit Wahrheit oder Wahrheiten besser gesehen werden können. Doch dies soll nicht (nur) über intellektuelle Analyse geschehen, sondern eben durch ästhetische Erfahrung.44 Gerade die Geschichte der Afro-Amerikaner widerspiegelt diese Gedanken trefflich: Die literarischen Texte ehemaliger Sklaven wie auch die Texte der Gospel- und Blueslieder kreisen immer wieder um die Themen der Aufklärung von Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. Zugegebenermaßen werden diese Begriffe nicht in einem philosophischen, abstrakten Sinne gebraucht, sondern werden viel konkreter in eine künstlerische Form gegossen. Doch gerade damit können sie uns auch heute noch unmittelbar berühren und wirken dadurch überzeugender. Es war auch aufgrund der Kunst – nicht rationaler Analyse – möglich, die alten Rechtfertigungen der Sklaverei oder später der Segregation zu hinterfragen, und auf neue Ansichten hinzuweisen, welche keine Unterscheidung zwischen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe zuließen.

43 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 370. 44 Ebenda, S. 373-376.

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7. 5 D IE K UNST

IN DER

G EMEINSCHAFT

Die Ideen oder Ideale, die in der afro-amerikanischen Musik verkörpert werden, waren nicht nur dahingehend von Bedeutung, da sie ein weißes Publikum durch Kunst von ihrer Richtigkeit überzeugen, sondern auch deshalb, weil die Kunst den Afro-Amerikanern Selbstwertgefühl vermitteln, weil sie die afro-amerikanische Kultur entwickeln und vorantreiben konnte. Die Kunst war zentral für das Selbstverständnis und den Zusammenhalt der afro-amerikanischen Gemeinschaft, weil sie Ideen und Gefühle, die alle miteinander teilten, ausdrücken konnte. Um diesen Gedanken allgemeiner zu formulieren, wird an dieser Stelle ein längeres Zitat von Dewey angeführt: Kunst ist eine Eigenschaft, die eine Erfahrung durchdringt; sie ist nicht [...] die Erfahrung selbst. Ästhetische Erfahrung ist immer mehr als ästhetisch. In ihr wird ein organisches Ganzes von Stoffen und Bedeutungen, die nicht in sich selbst ästhetisch sind, ästhetisch, sobald sie in eine geordnete, rhythmische Bewegung auf Vollendung hin eintreten. Das Material selbst ist in hohem Maß menschlich. [...] Indem das Material ästhetischer Erfahrung menschlich ist – menschlich in Verbindung mit der Natur, von der es ein Teil ist – ist es sozial. Ästhetische Erfahrung ist eine Manifestation, eine Urkunde und Feier des Lebens einer Zivilisation, ein Mittel, ihre Entwicklung voranzutreiben, und auch das abschließende Urteil über die Qualität einer Zivilisation. Denn während sie von Individuen hervorgebracht wird, die an ihr Gefallen finden, sind diese Individuen das, was sie in ihrem Erfahrungsgehalt sind, aufgrund der Kulturen, an denen sie teilhaben.

45

Es gibt in einer Zivilisation flüchtige und dauernde Elemente, welche mit der Zeit den Geist dieser Zivilisation ausmachen, wobei die Kunst die große konsolidierende Kraft ist. Religion und Gesetze können die Gesellschaft regeln oder ihr zumindest Regeln auferlegen. Doch die Kunst bewirkt, dass diese Gesetze, Regeln und Ideen in der Gesellschaft widerspiegelt werden und in die Gesellschaft eingehen und dient damit als Medium, welches Gesetze, Regeln und Ideen in die Gesellschaft überführt und in ihr tradiert. Das ist beispielsweise an alten Kulturen wie der der Ägypter, Griechen oder Römer zu erkennen und nachzuvollziehen, welche mit ihren Bauten, Zere-

45 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 377.

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monien, Gesängen und Schauspielen nicht Kunst um der Kunst willen schufen, sondern mit Kunst ihr Zusammenleben ästhetisch ausdrückten.46 Doch auch Naturvölker oder sogenannt primitive Kulturen zeugen davon, dass Kunst im Dienste der Gesellschaft stand und gemeinschaftsbildend wirkte und erst mit der Zeit zu den sogenannt schönen Künsten mutierte. So verlassen sich heute Anthropologen beispielsweise auf das Muster, das auf eine Keule geschnitzt oder auf eine Schale gemalt ist, um deren Herkunft zu bestimmen. Riten, Zeremonien, Legenden verbanden die Lebenden und Toten, sie waren ästhetisch und gleichzeitig mehr als ästhetisch, denn die Trauerriten drückten mehr als Kummer aus, Kriegs- und Erntetanz waren mehr als ein Sammeln von Energie für zu vollbringende Aufgaben; Magie war mehr als ein Weg, die Naturkräfte zu beherrschen etc. Jede dieser Tätigkeiten vereinigte das Praktische, Soziale und Erzieherische in einem integrierten Ganzen. Durch Kunst wurden soziale Werte in die Erfahrung eingeführt, wurde offensichtlich Wichtiges mit dem substantiellen Leben der Gemeinschaft verbunden. Kunst war in den Menschen präsent. „Kunst war in ihnen, denn diese Tätigkeiten entsprachen den Bedürfnissen und Bedingungen der intensivsten, breitwillig erfassten und am längsten erinnerten Erfahrung. Aber sie waren mehr als nur Kunst, obwohl der ästhetische Zug allgegenwärtig war.“47 Einmal mehr zeigt die Geschichte der afro-amerikanischen Musik, wie stark dies der Fall sein kann. Musik wurde von der Gemeinschaft gelebt, wurde von ihr in unterschiedlichsten Formen weiterentwickelt und beinhaltete anfänglich vor allem erzieherische und sozio-politische Zwecke. Später – als die Schwarzen in den USA als Sklaven lebten – wurde sie als Instrument für das Weiterreichen der Tradition gebraucht, um noch später mit der europäischen Musik und Religion eine Symbiose einzugehen und wiederum erzieherische und sozio-politische Aufgaben zu übernehmen.

7. 5. 1 Zensur und Instrumentalisierung der Kunst Unter dem Aspekt, dass Kunst sehr wohl die Gemeinschaft formen kann, ist es auch nicht erstaunlich, dass Platon Homer und Hesiod kritisierte, da sie

46 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 377-378. 47 Ebenda, S. 379.

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eben moralische Lehrer des Volkes waren. Die Kritik Platons war also ähnlich geartet wie die spätere Kritik gegen Teile christlicher Schriften wegen ihres moralischen Einflusses. Ebenso kann unter diesem Aspekt Platons Forderung nach einer Zensur der Dichtung und Musik verstanden werden, da die Künste eben sozialen oder gar politischen Einfluss ausüben konnten resp. können.48 Diese Zensur wurde erst im zweiten Konzil von Nizäa 787 n. Chr. verwirklicht, indem Folgendes angeordnet wurde: Die Substanz religiöser Szenen bleibt nicht der Initiative der Künstler überlassen; sie leitet sich von den Prinzipien her, die von der katholischen Kirche und der Tradition 49

niedergelegt wurden. [...] Allein die Ausführung der Kunst ist Aufgabe des Klerus.

Dass die katholische Kirche sich für eine Zensur der Kunst ausspricht, ist nicht erstaunlich, hatte doch bereits Augustinus gefordert, dass die Kunst im Dienst der Kirche sein sollte.50 So können beispielsweise die Liturgien und Sakramente so betrachtet werden, dass in ihnen die Künste wieder mit dem menschlichen Leben in Verbindung gebracht werden und somit eben im Dienst der Kirche stehen. Im Gottesdienst vereinigten sich Plastik, Malerei, Musik und Literatur, wobei diese mehr als bloße Kunst waren. Gerade aufgrund ihres ästhetischen Zuges wurden die religiösen Unterweisungen bereitwilliger aufgenommen, drangen tiefer ins Bewusstsein und wirkten länger. Selbst die Rituale und Zeremonien wie Abendmahl, Taufe etc. können als kleine Theaterstücke betrachtet werden, um dem Volk die theoretische Botschaft anschaulicher und verständlicher zu machen. Die religiösen Unterweisungen wurden durch die Beteiligung der Kunst von Doktrinen in lebendige Erfahrung verwandelt.51 Dies geschah in gewissem Sinne neu in der afro-amerikanischen Form des Gottesdienstes, welche afrikanische und abendländisch-christliche Elemente vereinte, was sich in der Gospel Musik zeigte. Gerade der Gospel – allerdings ohne Zensur oder Instrumentalisierung – konnte christliche

48 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 379. Vgl. auch Kapitel 6 (S. 215ff.). 49 Lippmann, Walter: A Preface to Morals, S. 98. Zit. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 380. 50 Vgl. Kapitel 6. 3. 3 (S. 238ff.). 51 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 380.

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Werte anschaulicher und damit eingängiger machen, was die Gemeinschaft förderte, und gleichzeitig ließen sich die christlichen Werte mit den eigenen afro-amerikanischen Ideen und Idealen verbinden.

7. 5. 2 Emotionales Verstehen durch Kunst Sicherlich gibt es in unterschiedlichen Religionen verschiedene Kunstausprägungen, so wie in jeder Kultur die Kunst aus einem religiösen Rahmen austritt und früher oder später sich wieder freier gestaltet. Diese unterschiedlichen Kunstausprägungen sind es, die Menschen von unterschiedlichen Kulturkreisen am jeweils anderen Kulturkreis über die ästhetische Erfahrung teilhaben lassen. Auch wenn wir Kunst mit Hilfe von „Rasse, Milieu und Zeit“52 verstehen könnten, so wäre dieses Verstehen ein intellektuelles und machte deshalb eine ästhetische Erfahrung nicht überflüssig. In Deweys Worten: Gerade weil die Kunst, vom Standpunkt des Einflusses einer kollektiven Kultur auf Schöpfung und Genuss der Kunstwerke gesprochen, eine tiefsitzende Haltung der Anpassung, eine unter der Oberfläche liegende Idee und ein Ideal allgemeinen menschlichen Verhaltens ausdrückt, ist die für eine Zivilisation charakteristische Kunst das Mittel, mitfühlend in die elementarsten Bereiche der Erfahrung ferner und fremder Zivilisationen einzudringen.

53

Dieses Mitgefühl ist ein eigentlicher Schlüsselbegriff für das gegenseitige Verständnis der Kulturen. Es entsteht dadurch mehr als ein rationales, nämlich ein emotionales Verständnis der anderen Kultur. Darauf soll allerdings im nächsten Kapitel noch präziser eingegangen werden. Dies bedingt natürlich, dass wir uns auf Neues einlassen. Die Kunst kann dazu lediglich auffordern und für das (kulturell) Neue werben. Falls der Rezipient sich auf dieses Neue einlässt, können Kunstwerke eine Verbreiterung und Vertiefung der eigenen Erfahrung bewirken. Doch wenn man nicht zu der in der Kunst einer anderen Zivilisation ausgedrückten

52 Taine, Hippolyte; zit. Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 383. 53 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 384.

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Haltung gelangt, sind deren Produkte oft einfach wunderlich, starr und unbeholfen oder grotesk – oder dann schön, aber fremd und unverständlich.54 Auch auf künstlerischer Ebene wurde gerade im Westen immer wieder auf andere Kulturen und deren Kunstwerke Bezug genommen. Oft blieb dieses Bezugnehmen auf bloße Imitation – also nicht Nachahmung im platonischen Sinne – beschränkt. Doch in den besten Fällen konnten Elemente einer anderen Kultur in die westliche Kunst adaptiert und aufgenommen werden, was zu einer erweiterten und umfassenderen Erfahrung – und dadurch zu einem besseren Verstehen – beider Kulturkreise führte.55 Gerade eine künstlerische Verschmelzung von verschiedenen Kulturkreisen zeugt von einem tieferen Verständnis der anderen Kultur. Doch wir müssen uns auf diese fremde Kunst einlassen, das bloße Betrachten oder Zuhören genügt nicht. Mit Deweys Worten: Zu einem gewissen Grad werden wir selbst Künstler, wenn wir diese Integration vornehmen, und indem wir sie sich ereignen lassen, wird unsere eigene Erfahrung neu orientiert. Barrieren werden geschleift, einschränkende Vorurteile schwinden dahin, wenn wir in den Geist der Negerkunst oder der polynesischen Kunst eindringen. Diese unmerkliche Verschmelzung ist weit wirksamer als die durch Nachdenken bewirkte Veränderung, weil sie direkt in das Verhalten übergeht.

56

Wenn nun die Kunst der einen Kultur sich mit der Kunst einer anderen Kultur verbindet, ergibt dies eine neue Kunst, die ihrerseits wiederum als Brücke zwischen den beiden Kulturen fungieren kann. Dies ist einerseits durch die Verbindung afrikanischer mit abendländischer Musik geschehen, andererseits in der Popkultur, als sich afro-amerikanische Musik mit der westlichen Volksmusik zu einer neuen musikalischen Form verband, welche zweifellos das Interesse und das Verständnis für die jeweilige andere Kultur förderte. Wenn Kunst mit Sprache verglichen wird, fällt auf, dass im täglichen Leben Sprache als das üblichste Kommunikationsmittel verwendet wird und dadurch eigentlich prädestiniert wäre, gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Doch zwischen unterschiedlichen Kulturen ist Sprache nur in der

54 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 384. 55 Ebenda, S. 385. 56 Ebenda, S. 386.

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Übersetzung tauglich, und daher eher trennend. Musik als universale Sprache verbindet. Gemäß Dewey: Besonders die Macht der Musik, unterschiedliche Individuen in gemeinsamer Hingabe, Ausdauer und Begeisterung zu vereinigen, eine Macht, die in gleicher Weise in der Religion wie bei der Kriegführung verwendet wird, bezeugt die relative Uni57

versalität der Sprache der Kunst.

Interessant ist auch die Art, wie die afrikanischen Völker zu den Rhythmen tanzten und wie heute zu moderner Musik – insbesondere Hip-Hop – getanzt wird. Für einen Außenstehenden sieht es der Form nach – man denke an die ekstatischen Bewegungen – sehr ähnlich aus. Kunst und deren Kraft, Kultur zu vermitteln oder zu tradieren, darf nicht als eine Art äsopische Fabeln missverstanden werden. Denn die Kunst vermittelt und tradiert nicht mit der Absicht zu belehren. Sie urteilt und verurteilt nicht, sondern zeigt durch die imaginative Kraft neue Möglichkeiten auf, die zu den herrschenden Realitäten kontrastieren. Oder dann wirkt Kunst wie das Leben selbst durch ihr Sein, indem sie Leben reflektiert. Und falls Kunst moralisch ist, ist sie dies gerade wegen ihrer Indifferenz gegenüber Lob und Tadel.58 Weder Gospel noch Blues wirken anklagend. Der Weiße wird gerade nicht angeklagt. Vielmehr zeigt die Musik Schicksale und Lebenssituationen auf, ohne jemanden an den Pranger zu stellen. Dadurch war und ist es der afro-amerikanischen Musik möglich, ein weißes Publikum anzusprechen und eine Brücke zum gegenseitigen Verständnis zu errichten. Zusammenfassend kann gemäß diesen Ausführungen Kunst als Brücke zwischen den Kulturen dienen, da sie ästhetische Erfahrung und Ideen sowie Ideale weitergeben kann. Dadurch schafft die Kunst einerseits Identität in der eigenen Gesellschaft und andererseits wirbt sie in einer anderen Gesellschaft um Verständnis und Anerkennung, indem sie Vorurteile abzubauen und Verbindendes aufzuzeigen vermag – nicht mit analytisch rationaler Logik, sondern mittels ästhetischer Erfahrung.

57 Dewey, Kunst als Erfahrung, S. 387. 59 Ebenda, S. 399-402.

8. Solidarität durch Kunst

Um die These zu stützen, dass Kunst als Brücke zwischen den Kulturen fungieren kann, sollen in diesem Teil anhand der Ausführungen von Richard Rorty weitere Argumente verfolgt und mittels der afroamerikanischen Musik exemplifiziert werden. Die Ausführungen zielen darauf, dass Kunst Solidarität schaffen kann.

8. 1. W AHRHEIT

ALS EINE

F RAGE

DES

V OKABULARS

Richard Rorty geht davon aus, dass Wahrheit nicht gefunden, sondern gemacht wird. Dies beispielsweise in der Französischen Revolution, bei der quasi über Nacht „das ganze Vokabular sozialer Beziehungen und das ganze Spektrum sozialer Institutionen“1 ausgewechselt wurde. Die Menschen begannen von der Möglichkeit neuer Lebensformen zu träumen, die nicht mehr auf göttlichem Willen basierten oder nach dem Wesen des Menschen suchten. Die Dichter der Romantik fassten die Kunst nicht mehr als Imitation, sondern als Selbsterschaffung des Künstlers auf. Damit verlangten sie auch, dass die Kunst eine Position in der Kultur erhalte, die bis anhin von der Religion oder Philosophie und während der Aufklärung von der Wissenschaft reklamiert worden war.2 Diese beiden Tendenzen, die damals erst in Ansätzen erkennbar waren, sind heute gemäß Rorty vereint und nehmen in unserer Kultur eine Hegemonialstellung ein. Denn die meisten Intellektuellen unserer Zeit fragen

1

Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 21.

2

Ebenda.

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nicht, was der Sinn des Lebens oder der Gemeinschaft ist, sondern, wie man dem eigenen Leben oder dem Leben der Gemeinschaft einen Sinn geben kann. Als Mittel zur Sinnstiftung – nicht Sinnsuche – wird dabei die Politik oder die Kunst genannt, aber nicht mehr die Religion, Philosophie oder Wissenschaft.3 Dies hat zur Folge, dass es heute gemäß Rorty zwei Arten von Philosophen gibt: die einen, die immer noch nach der Wahrheit suchen und die Wissenschaften bevorzugen, welche Wahrheiten finden, und die anderen, die annehmen, dass Wahrheiten erschaffen werden. Diese Philosophen fühlen sich näher den politischen Utopisten und den innovativen Künstlern. Für die wissenschaftstreuen Philosophen gibt es Wahrheit weder in der Politik noch in der Kunst, für die wissenschaftsskeptischen Philosophen können heute nur noch Politik oder Kunst moralische Unterweisung und geistigen Trost spenden.4 Die Aussage, dass Kunst als sinnstiftendes Mittel moralische Unterweisung geben und geistigen Trost spenden kann, ist für diese Arbeit von zentraler Bedeutung und stützt die These, dass Kunst als Vermittlerin zwischen den Kulturen fungieren kann. Doch zunächst soll auf die Ausführungen Rortys genauer eingegangen werden. Rorty unterscheidet drei Bereiche von Kontingenz: die Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwesens. Die Kontingenz der Sprache wird damit begründet, dass die Welt nicht wahr oder falsch sein könne, sondern nur deren Beschreibung. Was also eine Änderung der gefundenen Wahrheit über die Welt zu sein scheint, ist genau genommen eine Änderung des Vokabulars über ein und dieselbe Welt. Denn die Welt spricht nicht, wir sprechen. Und mit dieser Änderung des Vokabulars zur Beschreibung der Welt erschaffen wir Wahrheit, wir finden sie nicht.5 Damit wird aber nicht behauptet, dass es Wahrheit nicht gibt, vielmehr wird darauf verwiesen, dass es sinnvoller und dienlicher ist, Wahrheit nicht als eine tiefe Angelegenheit, ein Thema von philosophischem Interesse zu sehen. Für Rorty ist die „Natur der Wahrheit“ oder „Natur des Menschen“ oder „Natur Gottes“ ein wenig lohnendes Thema, so wie für ihn die Argumentation um Wahrheiten im Prinzip ein Wettkampf zwischen alten und

3

Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 21.

4

Ebenda, S. 22.

5

Ebenda, S. 21-31.

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neuen Vokabularen ist. Darum möchte er auch nicht neue Wahrheiten finden oder alte Wahrheiten mit Argumenten widerlegen, sondern sein neues Vokabular möglichst attraktiv machen.6

8. 1. 1 Kontingenz der Sprache In einem ersten Schritt versucht Rorty aufzuzeigen, dass Sprache kontingent sei. Er geht davon aus, dass Sprache entgegen gängigen Überzeugungen nicht ein Medium ist, das zwischen dem Selbst und der Welt, zwischen dem Bewusstsein und der Wirklichkeit vermittelt. Sprache ist nicht etwas Fixes, das uns hilft, Gott, die Natur, die Wirklichkeit oder sonst etwas begreiflich zu machen. Vielmehr ändert sich Sprache: Neue Vokabulare verdrängen ältere oder aus zwei Vokabularen entsteht ein drittes neues. Oftmals kann ein altes Vokabular neue Ansichten gar nicht ausdrücken. Dann ist ein neues Vokabular nötig, um neue Ansichten zu formulieren. Beispielsweise kann Galileis Weltbild nicht mit einem aristotelischen Vokabular erklärt werden, es braucht neue Begriffe oder eben ein neues Vokabular. Mit Phantasie kann Sprache erschaffen werden, die an bestimmte Ideen geknüpft ist und damit geeignet, diese Ideen zu vermitteln. Auch ist es nicht die Sprache, die über das gegenseitige Verstehen oder Nichtverstehen zweier Menschen entscheidet. Denn auch Menschen mit vorerst völlig unterschiedlichen Vokabularen können sich von Äußerung zu Äußerung einander annähern und – möglicherweise – ein neues drittes Vokabular erschaffen.7 Dies kann hervorragend anhand der Sprachentwicklung der afrikanischen Sklaven exemplifiziert werden. Weil sie aus unterschiedlichen Stämmen in eine neue (Sklaven-)Gemeinschaft gezwungen wurden, mussten sie die Sprache der weißen Herren annehmen oder eine eigene Sprache finden. Ihre Sprache war aber nie die exakt gleiche Sprache wie die der Herren, sondern eine neue – der Slang –, die wir heute vor allem durch die Musik, also den Gospel und noch stärker den Jazz und Blues kennen. Einzige gemeinsame Sprache der schwarzen Sklaven war die Musik, d.h. die

6

Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 21-31.

7

Ebenda, S. 31-41.

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Sprache der Rhythmen und Melodien, welche stammesübergreifend einen kommunikativen Austausch ermöglichten. Wenn die Sprache kein Medium ist, dann kann auch davon ausgegangen werden, dass sie keinen Zweck hat, auch nicht den, Gott oder die Natur besser auszudrücken. Dadurch erscheint die Sprache als zufällige Sedimente von Metaphern, die sich aufeinanderschichten. Man könnte sagen, dass sich die Sprache zufällig entwickelt, weil sich neuen Ideen entwickeln, die ausgedrückt werden wollen. So entstanden Begriffe oder Metaphern wie Ousia durch Aristoteles, Agape durch Paulus oder Gravitas durch Newton, die ein neues Denken, neue Ideen ausdrücken sollten.8 Ebenso entstanden die neuen Begriffe oder Metaphern Gospel, Blues, Jazz, Rhythm&Blues, Funk, Soul, Hip-Hop. Sie bedeuten weit mehr als Begriffe für eine bestimmte Musikrichtung, sie drücken gleichzeitig eine Geisteshaltung oder einen Lebensinhalt aus, drücken eine eigene Art von Trauer und Wut oder Hoffnung und Freude aus. Wenn neue Begriffe oder Metaphern verwendet werden, heißt das nicht, dass sie auch verstanden werden. Da sie nicht paraphrasiert werden können, wie Rorty ausführt, werden sie entweder angenommen oder eben nicht. Um neue Metaphern zu verwenden, braucht es Phantasie, ob es nun darum geht, die äußere Welt zu beschreiben, wie dies Newton getan hat, oder eine innere Welt, wie dies die romantischen Dichter getan haben. Wenn Dichter als Wortschöpfer bezeichnet werden können, die Sprache neu erfinden, dann können sie auch als Visionäre betrachtet werden, die als Vorkämpfer für neue Ideen bezeichnet werden müssen.9 Wahrheit kann also nicht mittels Sprache dargestellt werden, sondern sie wird durch Sprache – also von Menschen – erschaffen. Oder wie Rorty sich ausdrückt: „Da Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen ist, da die Existenz von Sätzen abhängig von Vokabularen ist und da Vokabulare von Menschen gemacht werden, gilt dasselbe für Wahrheiten.“10 Und wenn Wahrheit durch Sprache geschaffen wird, welche wiederum durch Vokabulare geschaffen wird, so heißt dies eben auch, dass Wahrheit und Sprache kontingent sind. Sie sind nichts Gottgegebenes. Das wiederum bedeutet, dass unser Bewusstsein und unsere Gemeinschaft einerseits Pro-

8

Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 41-43.

9

Ebenda, S. 43-48.

10 Ebenda, S. 49.

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dukte von Zeit und Zufall sind, andererseits bedeutet dies auch die große Chance, unser Bewusstsein und unsere Gesellschaft gestalten zu können.11 Wiederum kann hierzu die Entwicklung der Afro-Amerikaner und ihrer Musik als interessantes Beispiel dienen. Die Begriffe Gospel, Jazz, Blues etc. sind sehr zufällig geschaffen worden, denn die Afrikaner kamen unfreiwillig nach Amerika, konnten allerdings einen Teil ihrer Musikkultur retten und in Verbindung mit der abendländischen Musik neu gestalten. Dadurch ergaben sich neue Begriffe, welche auch neue Wahrheiten ausdrückten, etwa die Wahrheit, dass ein schwarzer Mensch, ursprünglich aus Afrika, der Sklave eines weißen Menschen, ursprünglich aus Europa, ist oder war. Durch die neue Musik wurde gleichzeitig eine innere und eine äußere Welt beschrieben. Sie beschrieb äußere Lebensumstände wie auch innere Ängste oder Schmerzen und innere Hoffnungen und Freuden. Und durch diese Beschreibungen mit Hilfe von Musik und Poesie wurden ein neues Bewusstsein und eine neue (afro-amerikanische) Gesellschaft (mit-) gestaltet.

8. 1. 2 Die Kontingenz des Selbst In einem zweiten Schritt erläutert Rorty, dass auch das Selbst kontingent sei. Er geht davon aus, dass jeder Dichter mit seinen Werken über seinen Tod hinaus wirken wolle. Auch wenn ihm dies nicht bewusst ist, die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Vergänglichkeit nicht unbedingt vor Augen des Dichters steht, so schreibt er doch in der Regel in der Hoffnung, dass sein Werk bedeutsam ist und er durch sein Werk über seinen Tod hinaus bestehen bleiben wird. Doch auch das Geschriebene kann diese Angst nicht verdrängen, da eine weitere Angst besteht, nämlich dass das Werk letztlich nicht signifikant genug ist, nicht einmalig genug ist, nicht als etwas Singuläres bestehen bleibt.12 Dieser Ansatz ist insofern interessant, als es für einen Philosophen ursprünglich darum ging, Wahrheit zu finden, zu erkennen und zu formulieren, während Dichter Dichtung – also mögliche Wahrheiten – erschaffen. Rorty spricht hier von einer „Spannung zwischen dem Streben nach Er-

11 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 50-51. 12 Ebenda, S. 52-53.

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schaffung des Selbst durch Erkenntnis von Kontingenz und dem Streben nach Universalität durch Überschreitung von Kontingenz.“13 Früher versuchten die Priester und dann die griechischen Philosophen, später die empirischen Wissenschafter und noch später die deutschen Idealisten, das Wesen der Wirklichkeit zu ergründen, während die Dichter eben bloß zufällige Erscheinungen statt wesentliche Realität beschrieben. Früher wurde das menschliche Ziel darin gesehen, die Erkenntnis der Wahrheit zu besitzen, während die Dichter an dieser Wahrheit kein Interesse hatten, uns sogar von der Suche nach der Wahrheit ablenkten.14 Erst seit Friedrich Nietzsche besteht die Vorstellung, dass man die Wahrheit nicht erkennen muss, dass es gar keine wahre Welt gibt, dass wir uns durch Selbsterkenntnis selbst erschaffen können. Der Prozess der Selbsterkenntnis und somit die Konfrontation mit der eigenen Kontingenz, das Zurückverfolgen unserer Ursachen bis zu ihren Ursprüngen ist für Nietzsche identisch mit dem Prozess der Erfindung einer neuen Sprache. Wir können also nicht auf etwas Vorgegebenes zurückgreifen, sondern müssen unsere eigene Geschichte in den eigenen Worten schreiben. Deshalb bekommen die Dichter bei Nietzsche einen höheren Stellenwert als die Philosophen, da diese gewissermaßen dazu verdammt sind, darauf zu beharren, dass es eine Wahrheit gibt, die gefunden werden muss, während der starke Dichter die Kontingenz wirklich zu schätzen weiß und für sein Schaffen gebrauchen kann. Der Philosoph ist gewissermassen dazu verdammt, der Kontingenz zu entrinnen, während der Dichter sie anerkennt und sich zu Eigen macht.15 Blues-Poeten waren nicht daran interessiert, absolute Wahrheiten zu finden. Sie wollten ihre singuläre Situation beschreiben und wurden sich dadurch ihrer speziellen Situation bewusst. Die Wahrheit der afroamerikanischen Lebenssituation wurde dadurch auch anderen bewusst, welche diesen Blues hörten, wie beispielsweise dem schwarzen Schriftsteller James Baldwin, der sich erst in der Schweiz durch afro-amerikanische Musik seiner Herkunft und damit seiner Identität – seiner Wahrheit – richtig bewusst wurde.16

13 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 56. 14 Ebenda, S. 57-58; vgl. auch Kapitel 6 (S. 215ff.). 15 Ebenda, S. 58-62. 16 Vgl. Kapitel 5 (S. 185ff.).

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Sich auf Siegmund Freud beziehend, führt Rorty weiter aus, dass nicht nur der starke Dichter wie bei Nietzsche die Fähigkeit besitzt, eine singuläre Wahrheit zu schaffen, sondern dass jeder Mensch, der sich in Worte fasst, sich neu definiert und erschafft. So ist jedes Leben die Ausarbeitung einer komplexen idiosynkratischen Phantasievorstellung und der Tod setzt dieser Ausarbeitung kein Ende, weil sie gar nicht vollendet werden kann, weil es nämlich nichts zu vollenden gibt. Es muss keine Wahrheit gesucht und gefunden werden. Die Aufgabe besteht darin, ein Beziehungsnetz zu weben, das sich mit jedem Tag vergrößert. In Rortys Worten besteht Freuds Nutzen in seiner Fähigkeit, „uns weg vom Allgemeinen, hin zum Konkreten zu bewegen, weg von dem Versuch, notwendige Wahrheiten, unauslöschliche Überzeugungen zu finden, hin zu den idiosynkratischen Kontingenzen unserer je individuellen Vergangenheit, zu der zufallsblinden Prägung, die sich zeigt in allem, was wir tun, zu lenken.“17 Somit besteht der Unterschied von „Phantasievorstellung“ und „Dichtung“ oder „Philosophie“ darin, dass die Phantasievorstellung nicht auf sozial fruchtbaren Boden fällt, sondern von der Gesellschaft als bloße Phantasterei aufgefasst, als lächerlich oder gar abscheulich empfunden wird, während Dichtung und Philosophie von der Gesellschaft ästimiert werden. Und dieses Auf-fruchtbaren-Boden-Fallen ist zufällig. Somit tritt der Fortschritt in Philosophie, Wissenschaft, Politik oder eben auch Kunst ein, wenn Privates mit Gesellschaftlichem zusammenfällt und fruchtbar wird.18 Der Gospel fiel früher auf fruchtbaren Boden als der Blues oder Jazz, da er erstens in der Gemeinschaft gesungen wurde, also von Anfang an nichts Singuläres darstellte. Zweitens war es einfacher, den Gospel einem breiten (weißen) Publikum schmackhaft zu machen, da der biblische Bezug – für Schwarze wie auch Weiße – gleichermaßen vorhanden war. Doch gerade für den Blues und den Jazz, welche anfänglich als „Teufelsmusik“ verschrien wurden, war es schwieriger, ein breites Publikum zu finden. Trotzdem waren und blieben die Musikstücke authentische Werke, welche idiosynkratische Wahrheiten schufen, welche individuelle Vergangenheiten widerspiegelten, die so bis anhin nicht bekannt waren. Selbst wenn diese Musik von anderen als „Teufelsmusik“ oder „Katzengejammer“ aufgefasst wurde, so blieb sie nicht nur die Musik, sondern auch die Wahrheit und

17 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 69. 18 Ebenda, S. 74-75.

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damit die Identität und damit die Stärke jedes Einzelnen, später sogar die Stärke der afro-amerikanischen Gemeinschaft.

8. 1. 3 Die Kontingenz eines liberalen Gemeinwesens Gemäß Rorty sollten Personen nicht in Vernunft und Leidenschaft gespalten werden. Wer dies akzeptiert, muss folgern, dass auch die traditionelle Unterscheidung zwischen „rationaler Überzeugung“ und „Überzeugung, die durch Ursachen statt durch Gründe bewirkt ist“19 aufgegeben oder nur eingeschränkt gebraucht werden sollte. Mit anderen Worten: Es zählt am Ende „das Auswechseln von Vokabularen, nicht von Überzeugungen [...], das Auswechseln von Wahrheitswert-Kandidaten, nicht die Festlegung eines Wahrheitswertes.“20 Wenn also davon ausgegangen wird, dass Vernunft und Leidenschaft nicht getrennt werden können, dann sollten in einer liberalen Gesellschaft nicht die „Logik“ herrschen und die „Rhetorik“ geächtet werden, sondern es sollte jede Überzeugung erlaubt sein, sofern es „um Worte im Gegensatz zu Werken, um Überzeugungskraft im Gegensatz zu Gewalt geht.“21 Dann muss eine Wahrheit nicht gefunden, sondern es muss um eine Wahrheit gerungen werden. Ähnlich wie in Darwins Evolutionstheorie die Evolution immer wieder neue Arten hervorbringt, wird es immer wieder neue Wahrheiten geben.22 Eine liberale Gesellschaft kann und soll sich entwickeln und neue Überzeugungen und Wahrheiten benennen können und sollte sich nicht darauf versteifen, die absolute Wahrheit zu finden. Rorty postuliert daher: „Eine Gesellschaft ist dann liberal, wenn sie sich damit zufrieden gibt, das „wahr“ zu nennen, was sich als Ergebnis solcher Kämpfe herausstellt.“23 Veränderungen in der Gesellschaft geschehen also nicht durch das Finden von verborgenen Wahrheiten, sondern indem die Phantasie durch

19 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 89. 20 Ebenda, S. 90. 21 Ebenda, S. 96. 22 Rorty, Richard. Hoffnung statt Erkenntnis – Eine Einführung in die pragmatische Philosophie, Wien, 1994; S. 31. 23 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 96.

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Kunst und politische Utopie angeregt und dadurch Neues „wahr“ genannt wird. Die Kultur einer Gesellschaft sollte nicht „vernünftig“ sein oder „verwissenschaftlicht“, sondern „poetisiert“ werden. Somit würde eine Kultur auch nicht aufgrund ihrer philosophischen Grundlage beurteilt werden, sondern aufgrund ihrer „starken Dichter“24 oder überhaupt ihrer künstlerischen Kraft.25 Für Rorty ist es nicht wesentlich, Wahrheiten zu entdecken oder zu definieren, ihm geht es darum, Werkzeuge zu schaffen, die neue Möglichkeiten eröffnen. Er argumentiert, dass das Christentum nicht gewusst habe, dass Linderung der Grausamkeit sein Zweck sei, Newton nicht gewusst habe, dass sein Zweck die moderne Technologie sei; die romantischen Dichter nicht gewusst hätten, dass ihr Zweck ein Beitrag zur Entwicklung des ethischen Bewusstseins sei, das sich für die Kultur des politischen Liberalismus eigne. Somit werden diese Pioniere nicht als Entdecker, sondern als Werkzeugmacher betrachtet, denen nicht klar war, wozu ihre Werkzeuge dienen würden. Doch wurden wir, unser Bewusstsein, unsere Kultur, unsere Lebensform damit verändert.26 Die afro-amerikanische Kultur konnte sich durch ihre Musik etablieren. Afro-amerikanische Musiker fanden in der amerikanischen Gesellschaft weit früher Beachtung als afro-amerikanische Wissenschaftler oder Philosophen. Selbst die schwarzen Prediger, welche schon früh zu Bildung gelangten und später auch der Priester und Philosoph Martin Luther King jr. gebrauchten Sprache oft in poetischer Weise, benutzten Rhythmus und Dynamik, um mit ihren Reden ihre Ansichten und Überzeugungen mitzuteilen. Ebenso verwiesen Malcolm X und Schriftsteller wie beispielsweise James Baldwin immer wieder auf die Musik in der afro-amerikanischen Tradition und schöpften aus ihr, um ihre Gedanken zu formulieren. Dies heißt allerdings nicht, dass Dichter oder Blues-Poeten wissen, was ihre Werke in der Zukunft bewirken werden. Von einigen wenigen27 abgesehen komponierte kaum ein afro-amerikanischer Musiker Songs, um damit bewusst auf die

24 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 98. Rorty bezieht sich auf hier auf Harold Bloom. 25 Ebenda, S. 97-98. 26 Ebenda, S. 102. 27 Vgl. dazu Kapitel 4 (S. 146ff.).

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Ungerechtigkeit der Sklaverei oder der Segregation aufmerksam zu machen. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zogen gemäß Rorty den falschen Schluss, dass der Liberalismus intellektuell bankrott sei und seine philosophischen Grundlagen verloren habe. Ebensowenig sei die liberale Gesellschaft moralisch bankrott oder habe ihren sozialen Zusammenhang verloren. Er kann Adorno und Horkheimer nicht zustimmen, welche darlegten, dass die Aufklärung Kräfte freigesetzt habe, welche sich letztlich gegen die Aufklärung selbst gerichtet hätten. Rorty verweist darauf, dass die Geschichte dies nicht bestätigt hat, anerkennt jedoch die Kraft der Worte Adornos und Horkheimers und zieht daraus folgenden Schluss: [...]die Begriffe, die von den Begründern einer neuen Form kulturellen Lebens benutzt wurden, werden weitgehend aus dem Vokabular der Kultur ausgeliehen sein, die man abzulösen hofft. Erst wenn die neue Form alt und ihrerseits zum Ziel von Angriffen der Avantgarde geworden ist, wird die Begrifflichkeit jener vordem neuen 28

Kultur Form annehmen.

Interessanterweise war Adorno ein vehementer Gegner des Jazz. Und gerade der Blues, Jazz, Funk, Soul oder Hip-Hop sind gute Beispiele, dass oftmals die neue Avantgarde sich gegen die alten Musiker stemmte, um aus deren Musikvorgaben einen neuen Stil zu kreieren und zu etablieren oder in Rortys Worten ein neues Vokabular zu schaffen. Und heute zeigt sich, dass die afro-amerikanische Musik die Gesellschaft nicht zersetzte, sondern vielmehr durch sie etwas Neues entstand, das die Gesellschaft wiederum auf seine Art zusammenhält. Des Weiteren äußert sich Rorty zu Jürgen Habermas und seiner Theorie der „herrschaftsfreien Kommunikation“. Habermas Gedanken, dass die gesellschaftlichen Änderungen durch den Prozess der „herrschaftsfreien Kommunikation“ anzustreben sind, nimmt Rorty dankend auf. Allerdings hält er Habermas entgegen, dass dieser zu stark auf die Vernunft und die vernünftige Kommunikation baut, während Rorty sich selbst für eine Poetisierung der Kultur stark macht. Im Gegensatz zu Habermas zweifelt Rorty daran, dass die Vernunft der „Name einer heilenden, versöhnenden, einen-

28 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 103.

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den Macht – der Quelle der Solidarität sei.“29 Vielmehr sieht Rorty in Anlehnung an Dewey in der Kunst die treibende Kraft, die nicht an eine Rationalität gebunden ist, sondern auch die Leidenschaft der Menschen mit einbezieht und so gesellschaftliche Änderungen herbeiführt. Der Anspruch von Habermas auf eine gesellschaftlich angestrebte allgemeine Geltung soll also zugunsten einer poetisierten Kultur aufgegeben werden, die sich durch Kontingenzen entwickelt.30 Das eine schließt das andere nicht zwingend aus. In Bezug auf die afroamerikanische Musik scheint es jedoch tatsächlich richtig zu sein, dass diese Musik nicht die Vernunft des Menschen angesprochen hat, sondern eben die Emotionen und damit gesellschaftlich mehr verändern konnte als alles vernünftige Argumentieren für mehr Toleranz und Solidarität.

8. 2 D URCH K UNST

ZU NEUEN

Ü BERZEUGUNGEN

Im zweiten Teil von Kontingenz, Ironie und Solidarität führt Rorty den Begriff „Ironikerin“ ein, wobei er die weibliche Form gebraucht, um sich von der traditionellen Ironiekonzeption – sich durch Ironie der Wahrheit zu näheren – zu distanzieren. Mit Ironikerin bezeichnet er vereinfachend gesagt eine Person, welche Zweifel und Distanz gegenüber ihrem aktuellen abschliessenden oder letzten Vokabular hat. Die glaubt, dass dieses Vokabular weder eine Verifizierung noch eine Falsifizierung der Zweifel erlaubt. Sie glaubt jedoch nicht, bei philosophischen Überlegungen der Realität durch ihr Vokabular näher zu sein oder Kontakt zu einer Macht ausserhalb ihrer selbst zu haben, sondern durch philosophische Überlegungen lediglich altes durch neues Vokabular ersetzt.31 Die Ironikerin unterscheidet sich vom Metaphysiker dadurch, dass sie logische Argumente zwar als nützliche Darlegungstechniken ansieht, um Menschen dazu zu bringen, ihre Gewohnheiten zu ändern, ohne dass man dies zugeben muss. Die Ironikerin versucht jedoch nicht durch logische Ar-

29 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 121-122. 30 Ebenda, S. 122. 31 Ebenda, S. 127-128.

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gumente zu überzeugen, sondern hofft, durch die Neubeschreibung von Objekt- oder Ereignisreihen anderen ihre Sichtweise näherzubringen.32 Das heißt nicht, dass man gar nicht argumentieren darf. Martin Luther King jr. argumentierte auch, das ist richtig. Doch gerade seine berühmteste Rede I Have a Dream33 zeigt, dass nicht so sehr die logischen Argumente überzeugten, sondern mehr die Art und Weise, wie die Rede gehalten wurde, nämlich einem Gedicht ähnlich, das seine Wurzeln in der Tradition des Gospelgesangs hat. Mit anderen Worten gelang es Martin Luther King jr. durch die Neubeschreibung alter Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit seine Sichtweise der weissen Bevölkerung Amerikas und der Welt näherzubringen. Rorty erscheint die Vorstellung lächerlich, liberale Gesellschaften würden durch philosophische Überzeugungen zusammengehalten. Für ihn werden Gesellschaften vielmehr durch gemeinsame Vokabulare und Hoffnungen zusammengehalten.34 Er argumentiert so, dass die Metaphysik – verstanden als Suche nach Theorien, welche die reale Essenz erfassen – versucht, der Behauptung Sinn zu geben, Menschen seien mehr als ein mittelpunktloses Gewebe aus Überzeugungen und Wünschen. Wenn diese Suche mit dem dazugehörigen Vokabular und den dazugehörigen Argumenten aufgegeben würde, dann würde nicht nur die menschliche Natur, sondern auch die menschliche Solidarität als eine exzentrische, dubiose Vorstellung erscheinen. Es muss also in den Augen liberaler Metaphysiker ein Grundvokabular respektive Ur-Vokabular oder trivialer gesagt einen Urgrund, eine letzte Wahrheit geben, damit die liberale Gesellschaft zusammengehalten wird.35 Weiter führt Rorty aus, dass man, wenn man Fragen wie beispielsweise „Warum soll man nicht grausam sein?“, „Warum soll man freundlich sein?“ nicht beantworten möchte, als herzlos und unsolidarisch gilt. Dies führt dazu, dass diese Fragen immer wieder gestellt werden, obwohl sie nicht befriedigend beantwortet werden können. Damit bleibt aber auch die Philosophie unbefriedigend und perpetuiert falsche Erwartungshaltungen. Rorty würde es begrüßen, wenn diese Haltung aufgegeben werden könnte,

32 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 134-135. 33 Vgl. Kapitel 2. 1 (S. 66). 34 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 147-148. 35 Ebenda, S. 151.

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da die logische Argumentation in die Sackgasse führt. Vielmehr plädiert er dafür, dass Solidarität nicht begründet wird, sondern in kleinen Schritten für Solidarität sensibilisiert wird. Er plädiert also dafür, dass nicht Theorie mit sozialer Hoffnung und Literatur mit privater Perfektion assoziiert wird – sondern genau umgekehrt. Um nämlich für Solidarität zu sensibilisieren ist Kunst – für Rorty speziell die Literatur und die Ethnographie – das wirksamere Instrument. Denn das Leiden, der Schmerz, die Grausamkeit, welche Opfer erfahren haben, können liberale Romanschreiber, Dichter und Journalisten besser wiedergeben; sie können den Opfern besser eine Stimme geben als liberale Theoretiker. Dadurch, dass das Leiden, der Schmerz, die Grausamkeit nachgefühlt werden, kann Solidarität entstehen, wo Argumente nicht überzeugen oder wieder hinterfragt werden.36 Zum Teil wurde und wird Rortys Forderung bereits umgesetzt. Zwar wurden weder Gospel noch Blues von Weißen speziell unterstützt, um Solidarität zwischen Weißen und Schwarzen zu schaffen. Doch die Slave Narratives wurden von Abolitionisten im 18. und 19. Jahrhundert tatsächlich bewusst gefördert, um die Sklavenbefreiung voranzutreiben und um die Akzeptanz und Integration entflohener Sklaven bei der weißen Bevölkerung im Norden zu festigen. Und auch gewisse (weiße) Plattenlabels hatten eine sehr liberale Haltung, auch wenn afro-amerikanische Musiker selbstverständlich aus kommerziellen Gründen unter Vertrag genommen wurden. Am Beispiel von Leila Steinberg und Tupac Shakur kann man auch sehen, dass Weiße Schwarze unterstützten, indem sie ihr musikalisches Talent förderten, was die Integration ermöglichte oder stärkte. 37 Rorty glaubt anhand von Proust als Künstler und Heidegger als Philosophen zeigen zu können, warum das Verfassen von Theorien weniger taugt als das Schreiben von Romanen, obwohl Proust wie Heidegger dachten, „wenn die Erinnerung wiederfinden könne, was uns geschaffen hat, dann sei dieses Wiederfinden soviel wie: werden, was man war.“38 Proust erreichte nämlich, dass für seine Leser das Lesen ein emotionales Erlebnis wird, eine Erfahrung, die sie mit ihren bisherigen Erfahrungen verweben können, um sich damit selbst neu zu erschaffen, um sich ein neues Selbstbild zu geben. Dies gelang Proust, gerade weil er keine öffentlichen Ambi-

36 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 160-161. 37 Vgl. Kapitel 5. 3 (S. 201ff.). 38 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 196.

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tionen hegte, sondern erzählte und damit Figuren erschuf, mit denen sich die Leser identifizieren konnten. Heidegger hingegen glaubte, er kenne Worte, die für alle im modernen Europa Bedeutung haben oder zumindest haben sollten. Gemäß Rorty konnte Heidegger nicht glauben, dass Worte wie „Aristoteles“, „Parmenides“ oder „Descartes“, die ihm so viel bedeuteten, sehr privat bleiben, wenn der Leser diese Namen nicht bereits kennt und mit ihnen vertraut ist.39 Der Vorzug eines Romans ist in Rortys Augen gerade darin zu sehen, dass die Figuren im Roman zeitgebunden sind, dass nicht versucht wird – im Gegensatz zu Theorien –, allgemein gültige Formeln zu finden, die schwer fassbar sind. Die Figuren im Roman bleiben relativ und kontingent und spiegeln somit das Leben oder Visionen besser.40 Dadurch werden Romane auch zum besseren Medium als Theorien.41 Auch an dieser Stelle sollten die Slave Narratives erwähnt werden, die genau dadurch überzeugten, indem sie Einzelschicksale aufzeigten und nicht abstrakte Freiheits- oder Gleichheitstheorien predigten. Durch die Slave Narratives konnte der interessierte (weiße) Leser sich an eine (schwarze) Person mit ihrer spezifischen Lebensgeschichte halten, konnte sich in diese Person hineinversetzen und das Leid und die Demütigung, welche sie erfahren hatte, nachvollziehen und dadurch diese Person als Menschen und nicht (nur) als Schwarzen wahrnehmen. Diese neue Wahrnehmung ist auch durch die Poesie eines Blues oder durch das besprochene Hip-Hop Stück Dear Mama möglich. Kunst kann sich ganz allgemein den Menschen besser nähern als abstrakte Theorien, da an Bekanntes und Emotionales angeknüpft wird.

8. 3 W ENIGER G RAUSAMKEIT

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Rorty unterteilt Bücher, die uns helfen, weniger grausam zu werden, in zwei Gruppen: Zur „ersten gehören Bücher, die uns darin unterstützen, die Wirkungen sozialer Verhaltensweisen und Institutionen auf andere zu se-

39 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 196-197. 40 Vgl. dazu auch Aristoteles Argumentation im Kapitel 6. 2. 1 (S. 226ff.). 41 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 180.

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hen; die zweite Gruppe bilden Bücher, die uns helfen, die Wirkungen unserer privaten Idiosynkrasien auf andere zu sehen.“42 Typisch für die erste Gruppe sind für Rorty beispielsweise Bücher über Sklaverei, Armut und Vorurteile. Das können Reportagen von Journalisten oder Regierungskommissionen, aber auch Romane wie Uncle Tom’s Cabin sein.43 Den Nutzen dieser Bücher sieht Rorty darin, dass sie uns helfen zu sehen, wie soziale Verhaltensweisen, die wir für selbstverständlich hielten, uns grausam gemacht haben.44 Die zweite Gruppe von Büchern handelt gemäß Rorty davon, in welcher Weise Menschen besonderer Art grausam zu anderen Menschen besonderer Art sind. Dazu gibt es verschiedene Bücher, wobei für Rorty die nützlichsten die Romane sind, die [...]die Blindheit von Personen einer bestimmten Art gegenüber den Leiden von Personen einer anderen Art darstellen. [...] Vor allem zeigen solche Bücher, wie unser Streben nach Autonomie, unser zwanghafter privater Ehrgeiz, eine bestimmte Perfektion zu erreichen, uns abstumpfen gegen den Schmerz und die Demütigung, die wir verursachen. Das sind die Bücher, die den Konflikt zwischen Pflichten, die man gegen sich selbst, und Pflichten, die man gegen andere hat, dramatisch zuspitzen.

45

Das Dilemma ist, dass Bücher, die das Vermeiden von sozialer oder individueller Grausamkeit thematisieren, oft als Werke mit „moralischer Botschaft“ – im Gegensatz zu Büchern mit „ästhetischem Ziel“ – etikettiert werden. Dadurch wird ein Gegensatz geschaffen, den es so nicht zwingend gibt. Wenn diese Unterscheidung vorgenommen wird, dann wird in der Regel auch vorausgesetzt, dass es einerseits ein Gewissen und andererseits ästhetischen Geschmack gibt und dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat oder haben kann. Und dies führt dann wiederum dazu, dass „Ästheten“ das Gefühl haben können, dass es in der menschlichen Gesellschaft nicht auf allgemeines Glück sondern auf Selbstverwirklichung ankomme.

42 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 229. 43 Vgl. auch Kapitel 1. 2 (S. 46ff.) 44 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 229. 45 Ebenda, S. 230.

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Es führt aber auch dazu, dass für „Moralisten“ alles, was nicht direkt der Menschheit dienlich ist, bloß zu müßigem Zeitvertreib taugt.46 Dies kann ein Grund sein, dass der Gospel viel eher von den Weißen als Musik anerkannt wurde als der Blues oder Jazz. Die Musik des Gospels enthält zwar auch afrikanische Elemente, die dem Weißen anfänglich fremd waren. Aber zumindest wurden im Gospel christliche Werte besungen und ausgedrückt. Dies ließ ihn lange vor dem Blues akzeptabel werden. Weiße Abolitionisten (und in diesem Sinne auch Moralisten) erkannten im Gospel vielleicht nicht die künstlerische Qualität, doch immerhin wurde er zum Gottesdienst und zur moralischen Kontemplation als tauglich anerkannt. Heute gibt es Hörer, die den Blues schätzen, den Gospel hingegen ablehnen, gerade weil er moralische Werte zu vermitteln versucht. Beide Musikstile können jedoch moralischen und künstlerischen Wert besitzen. Gemäß Rorty sollte man nicht fragen: „Will dieses Buch Wahrheit oder Schönheit erreichen?“, „Will es richtiges Verhalten oder Vergnügen fördern?“ Es sollte vielmehr gefragt werden: „Welchem Zweck dient dieses Buch?“47 Für Rorty gibt es zwei Arten von Zwecken. Er unterscheidet „zwischen dem Bereich von Zwecken, die man jetzt innerhalb eines vertrauten, weitverbreiteten abschließenden Vokabulars bestimmen kann, und dem Zweck, ein neues abschließendes Vokabular auszuarbeiten.“48 Dabei ist ihm der zweite Zweck wichtig. Es sollte neues Vokabular geschaffen werden. Dieses neue Vokabular wird in privates und öffentliches abschließendes Vokabular unterteilt. Privates Vokabular wird eingesetzt, um Fragen wie: „Was werde ich sein?“, „Was kann ich werden?“, „Was bin ich gewesen?“ zu beantworten. Das öffentliche Vokabular geht Fragen nach wie „Welche Art von Menschen muss ich wahrnehmen, und was an diesen Menschen muss ich bemerken?“. Für die meisten Menschen bleiben diese Fragen getrennt. Rorty hingegen plädiert dafür, dass beide Fragetypen Beachtung finden, dass also das eine wie das andere Vokabular wichtig ist.49 Dass beide Vokabulare wichtig sind, lässt sich anhand des ersten Teils dieser Arbeit zeigen. Denn sowohl der Gospel, der eher öffentliches Voka-

46 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 230-231. 47 Ebenda, S. 232. 48 Ebenda. 49 Ebenda.

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bular aufwies, als auch der Blues und Jazz, die privates Vokabular bevorzugten, waren durch ihre unterschiedlichen Stile und Texte für das akzeptiert Werden und die schrittweise Integration der Afro-Amerikaner wichtig. Ebenso waren Martin Luther King jr. in der Tradition des Gospels und Malcolm X in der Tradition des Blues und Jazz für die Aufhebung der Segregation unentbehrlich. Im Folgenden soll anhand von Rortys Ausführungen gezeigt werden, dass Bücher helfen können, Grausamkeit zu vermeiden, ohne uns auf soziale Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Diese Bücher beeinflussen einzig dadurch, dass sie vor der Tendenz zur Grausamkeit warnen, die dem Streben nach Autonomie inhärent ist. Rorty geht von den Schriftstellern Vladimir Nabokov und George Orwell aus, die sich nicht mit Selbsterschaffung wie beispielsweise Proust, sondern mit Grausamkeit beschäftigt haben und damit, wie sie Grausamkeit durch Literatur vermindern können. Diese Schriftsteller äußerten sich zur Frage, inwiefern Bücher auf die Leserschaft wirken, ganz unterschiedlich. Nabokov vertrat die Auffassung, dass der Stil einziges Kriterium sei, während Orwell der Meinung war, dass Kunst um der Kunst willen ein Nimbus sei, dass ohne Mitgefühl und Anteilnahme nichts vermittelt werden könne.50 Im Zentrum der Diskussion steht Charles Dickens Roman Bleak House, der anerkanntermaßen mitverantwortlich war – mehr als die meisten Sozialkritiker seiner Zeit –, dass in England das Rechtssystem revidiert wurde, dass also soziale Veränderungen stattgefunden haben. Der Streitpunkt ist lediglich der, ob Dickens dies gelang, indem er selbst Mitgefühl hatte, oder ob er einfach durch guten Stil Anteilnahme erzeugen konnte. Rorty möchte beides gelten lassen, dass also Anteilnahme und Stil nicht konkurrieren.51 Wenn man beim ästhetischen Gefühl bleibt, das entscheidend ist, dann kann man Nabokov folgen, der das Detail dem Allgemeinen als überlegen betrachtet, dass also Kleinigkeiten im Leben – ästhetisch betrachtet – wichtiger sind und zu höheren Formen des Bewusstseins führen als abstrakte Theorien. Ästhetische Hochgefühle und nicht Ideen im platonischen Sinn können uns in die höchste Form des Bewusstseins versetzten. Dies in Rortys Worten ausgedrückt: „Nicht die Mathematik, sondern die Kunst durch-

50 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 234ff. 51 Ebenda, S. 238ff.

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bricht die Mauern der Zeit und gelangt in eine Welt jenseits der Kontingenz.“52 Dementsprechend meint Nabokov auch, dass „gut sein“ nicht etwas abstrakt Theoretisches sei, sondern etwas irrational Konkretes, das leichter durch Einbildungskraft als durch den Intellekt begriffen werden könne. Güte, Solidarität, Altruismus, heroisches Handeln etc. werden nicht intellektuell erarbeitet oder verstanden, sondern durch eine sehr spezifische Kette von Assoziationen mit hochgradig idiosynkratischen Erinnerungen möglich gemacht.53 Dies ist genau die Umkehrung des Platonismus: „Platon meinte, dass „das Erkennen des Guten“ vom Begreifen einer allgemeinen Idee abhänge, in Wirklichkeit aber ist das Erkennen des Guten gerade das Fühlen dessen, was anderen Menschen wichtig, was ihr Bild des Guten ist.“54 Wenn ein Künstler also das moralisch Gute durch ästhetisches Hochgefühl vermitteln könnte, dann wäre dies die beste Form, um zu helfen, Grausamkeit und Leid zu vermeiden. Doch den einwandfreien Künstler gibt es nicht. Nabokov wusste sehr gut, dass (künstlerische) Ekstase, die nach Autonomie schreit, sich oft mit Solidarität nicht vereinen lässt oder sich gegenseitig sogar ausschließt. So hat denn auch künstlerische Begabung nichts mit Mitleid oder Freundlichkeit zu tun. Auch kann der Künstler nicht „Welten schaffen“, sondern nur seine eigenen Beziehungen zu dieser Welt ordnen.55 Wiederum kann anhand der Gospel- und Bluessänger gezeigt werden, dass diese Künstler diesen Ausführungen entsprechen. Während die Gospelsänger eher noch Solidarität und das Vermeiden von Grausamkeit aufgrund der religiösen Gesänge im Auge hatten, fühlten sich die Blues-, Jazz-, Soul-, Funk- und auch die Hip-Hop-Sänger vor allen Dingen ihrer Musik verpflichtet. Gerade der Hip-Hop zeigt, dass die Sänger vor allem an ihrer Selbstverwirklichung, ihrer Berühmtheit und ihrem Reichtum interessiert sind. Dabei sprechen sie durch ihren Stil und durch das Ordnen ihrer eigenen Beziehung zur Welt ein Publikum an, welches seinerseits wiederum die eigene Beziehung zur Welt durch die Songs reflektiert findet. Aller-

52 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 245. 53 Ebenda, S. 248-49. 54 Ebenda, S. 258. 55 Ebenda, S. 273.

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dings heißt dies nicht, dass ein Hip-Hop-Künstler beim Texten nicht auch an sein Publikum denkt oder sogar Werte wie Solidarität etc. vermitteln will. Nur: Dies muss nicht sein. Trotzdem können diese Künstler auch unbewusst solche Werte vermitteln. Bezüglich möglicher Grausamkeiten, die von Menschen begangen werden, verweist Rorty darauf, dass das Verüben von Grausamkeit – ebenso wenig wie das Erweisen von Güte und Wohltaten – nichts mit intellektuellen Gaben wie Intelligenz, Urteilskraft, Neugier, Phantasie oder Sinn für Schönheit zu tun hat. Intellektuelle Gaben sind bezüglich Güte oder Grausamkeit genauso formbar wie der sexuelle Instinkt. Er führt dies anhand der Werke George Orwells aus – insbesondere des (anti-)utopischen Romans 1984. Mit der Romanfigur O’Brien kann Orwell verdeutlichen, dass eben auch Intellektuelle, die durchaus nicht unkultivierte Barbaren sind, foltern können – allenfalls für einen höheren Zweck, beispielsweise das Wohl des (anti-)utopischen Staates in 1984. Und Rorty kommt zum Schluss: „Nicht irgendwelche großen, notwendigen Wahrheiten über die menschliche Natur und ihre Beziehung zu Wahrheit und Gerechtigkeit werden darüber bestimmen, welcher Art unsere zukünftigen Führer sind, sondern allein eine Menge kleiner kontingenter Tatsachen.“56 Es ist interessant, dass Rorty hier mit George Orwells Roman argumentiert. Man hätte bestimmt auch konkrete historische Figuren aus der Vergangenheit aufführen können, die totalitäre Regime mit größter Brutalität errichteten oder für diese willig arbeiteten, die durchaus intellektuelle Gaben besaßen. Doch gerade die Tatsache, dass Rorty einen utopischen Roman für seine Argumentation gebraucht, zeigt, dass Literatur – oder allgemeiner Kunst – zur Erörterung von Ideen und Argumenten taugt. Immer wieder wurden rationale Argumente angeführt, um die Sklaverei oder die Segregation zu rechtfertigen, welche widerlegt werden mussten. Doch ließen sie sich nicht alleine mit Gegenargumenten widerlegen, vielmehr war es notwendig, auch emotional von der Unrichtigkeit von Sklaverei und Segregation zu überzeugen. Und dies konnte unter anderem mit Kunst geschehen – oder mit Argumenten, welche sich auf Kunst stützten.

56 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 304.

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8. 4 M EHR S OLIDARITÄT

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Was macht Solidarität aus? Warum ist der Mensch solidarisch oder warum sollte er es zumindest sein? Rorty folgend bedeutet Solidarität im traditionellen philosophischen Verständnis, dass in uns allen etwas ist – das eigentlich Menschliche –, das uns das Eigene im Anderen und das Andere im Eigenen wahrnehmen lässt. Wenn diese Komponente fehlt, dann fehlt in einem Individuum dieses spezielle Etwas und somit ist dieses Individuum nicht mehr wirklich menschlich. Rorty argumentiert, dass diese Komponente nicht zwangsläufig im Menschen vorhanden sein muss und bestreitet, dass Ideen wie „Essenz“, „Wesen“ und „Grundlage“ des Menschen existieren. Er besteht darauf, dass diese Solidarität kontingent ist, dass Handlungen und Einstellungen nicht einfach menschlich oder unmenschlich sind, sondern relativ zu historischen Bedingungen. Es hängt also von einem kurzzeitigen Konsens ab, welche Einstellungen normal und welche Handlungsweisen gerecht oder ungerecht sind. Somit entsteht gemäß Rorty Solidarität durch das wechselseitige Erkennen der Menschlichkeit, die uns allen gemeinsam ist.57 Wie aber erkennt man Gemeinsamkeiten, wie entsteht Solidarität? Solidarität entsteht, wenn andere Menschen nicht mehr als „sie“, sondern als „wir“ wahrgenommen werden. Wir, das ist einer von uns. Natürlich kann man verschiedene Gruppen einander entgegensetzen: z.B. Griechen vs. Barbaren, Christen vs. Andersgläubige oder Atheisten, Männer vs. Frauen, Menschen vs. Tiere oder Maschinen, Inländer vs. Ausländer etc. Es ist für einen (weißen) Amerikaner daher einfacher, mit einem schwarzen Amerikaner solidarisch zu sein, wenn dieser in erster Linie als Amerikaner und nicht als Schwarzer wahrgenommen wird.58 Den Kreis, der als „Wir“ betrachtet wird, versucht das Christentum dadurch zu vergrößern, indem gesagt wird, dass „Wir“ alle Kinder Gottes sind. Mit der Säkularisierung der Gesellschaft taugt dieses Argument allerdings nicht mehr. Gemäß Kant sollen wir uns anderen verpflichtet fühlen, weil sie vernünftige Wesen sind. Aber wer nicht die kantische Sprache

57 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 305-306. 58 Ebenda, S. 307-308.

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spricht, dem leuchtet dies vielleicht nicht ein oder er fragt sich, ob andere genug vernünftig sind, um sich mit ihnen zu solidarisieren.59 Gemäß Rorty sollte man sich „Solidarität also nicht als das Wiedererkennen eines Kern-Selbst, des wesentlichen Menschlichen in allen Menschen, vorstellen. Sie ist zu denken als die Fähigkeit, mehr und mehr zu sehen, dass traditionelle Unterschiede (zwischen Stämmen, Religionen, Rassen, Gebräuchen und dergleichen) vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und Demütigung – es ist die Fähigkeit, auch Menschen, die himmelweit verschieden von uns sind, doch zu „uns“ zu zählen.“60 Der afro-amerikanischen Musik gelang es zu bewirken, dass weiße Menschen schwarze Menschen auch zum „Wir“ zählten, indem sie das Mitgefühl sensibilisierte und zu zeigen vermochte, dass schwarze genauso wie weiße Menschen Trauer, Wut, Freude, Glück etc. fühlen können. Vor allem auch durch die künstlerische Verbindung von afrikanischen und abendländischen Elementen und Stilen wurde das Publikum vergrößert, was wiederum zur Folge hatte, dass der Kreis, der als „Wir“ betrachtet wurde, sich vergrößerte. Die Kunst konnte also in doppeltem Sinne für ein größeres „Wir“ sensibilisieren. Rorty zufolge war es Kants Verdienst, dass sich demokratische Institutionen und ein kosmopolitisches Bewusstsein etablieren konnte. Doch er wollte dies über die Einsicht in die Vernunft und die moralische Pflicht und nicht über die Gefühle des Mitleids gegenüber Schmerz und der Reue über Grausamkeit erreichen. Bei ihm scheinen Gefühle von Mitleid und Wohlwollen ziemlich unzuverlässige, zweitklassige Beweggründe für Solidarität zu sein und Moralität wird zu einem Verhalten, das von der Fähigkeit, Schmerz und Demütigung bei anderen zu bemerken und sich mit ihnen zu identifizieren, sehr verschieden ist.61 Gemäß Rorty sollten wir Solidarität als etwas sehen, das gemacht, nicht vorgefunden wird. Wir sollten Solidarität als historischen Prozess begreifen. Wir sollten unsere Ähnlichkeiten mit anderen zu sehen versuchen und Solidarität nicht als etwas zu erkennen versuchen, das schon besteht, sondern als Ansporn, Ähnlichkeiten im anderen zu entdecken. Wir sollten also

59 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 309. 60 Ebenda, S. 310. 61 Ebenda, S. 310-311.

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nicht eine moralische Pflicht mittels unseres Verstandes erkennen, sondern Mitgefühl für die anderen entwickeln. Er fordert, dass wir die Parole „Wir haben moralische Verpflichtungen gegenüber Menschen als solchen“ als ein Mittel betrachten, das uns daran erinnert, „dass wir immer weiter daran arbeiten müssen, unser Verständnis des „Wir“ so weit auszudehnen, wie wir nur können.“62 Ein Sensibilisieren für Solidarität durch Kunst ist auch daher effektiver, da Bewesserwissertum vermieden wird, da nicht belehrt wird, dass Gleichberechtigung oder Demokratie oder sonstige liberale Werte per se besser sind, sondern weil anhand von Geschichten und Gedichten, Klängen und Rhythmen, Bildern und Skulpturen diese Werte aufgezeigt werden. Rorty formuliert dies so: Es ist meines Erachtens aus vielen Gründen ratsam, den noch verbliebenen Rationalismus, den wir von der Aufklärung übernommen haben, über Bord zu werfen. [...] Einer dieser praktischen Gründe besteht darin, dass die Lossagung von der rationalistischen Rhetorik dem Westen die Möglichkeit gäbe, dem Nichtwesten nicht in der Rolle einer Person zu begegnen, die von einer universellen menschlichen Fähigkeit besseren Gebrauch zu machen beansprucht, sondern in der Rolle des Erzählers einer 63

lehrreichen Geschichte.

Selbst wenn man sich von der rationalen Argumentation nicht ganz verabschieden möchte, so gibt es gute Gründe, die Kunst als Mittel zur Sensibilisierung für Ideen oder Ideale wie Solidarität zu akzeptieren. Damit ist die Kunst auch als Brücke zwischen den Kulturen geeignet, um für Verständnis und Solidarität zwischen unterschiedlichen Kulturen zu werben. Zusammenfassend zielt die ausgeführte Argumentation dieses Kapitels darauf, dass es Wahrheit nicht gibt, sondern dass sie gemacht wird. Somit wird die Wahrheit für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft immer wieder neu erschaffen. Kunst hat gegenüber der rationalen Argumentation, welche oft zu allgemeingültigen Theorien führt, den Vorteil, dass sie gerade durch die Konkretisierung und Spezifizierung und somit ästhetischen Er-

62 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 316. (sich auf Wilfrid Sellars beziehend) 63 Rorty, Richard: Philosophie als Kulturpolitik. Frankfurt am Main 2008. S. 106ff.

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fahrungen andere überzeugen kann. Ihr gelingt es – indem sie den Rezipienten mitfühlen lässt – Grausamkeiten aufzuzeigen und zu vermindern sowie Solidarität zu fördern. Damit kann Kunst auch als Brücke zwischen den Kulturen fungieren.

Schlusswort

Die afro-amerikanische Musik beeinflusste die schwarze Bürgerrechtsbewegung in mehrfacher Hinsicht. Erstens stellte sie eine klare Verbindung zu Afrika dar und prägte damit die schwarze Bürgerrechtsbewegung in zweifacher Hinsicht: einerseits, indem sie ein historisches Bewusstsein tradierte, anderseits, indem sie zeitgenössische Situationen reflektierte. Die soziale Funktion des Musikers der afro-amerikanischen Musik war nicht wesentlich anders als seine angestammte Funktion in Afrika. Allerdings ergaben sich aus der Entwicklung während der Sklaverei im neuen Kontinent zwei musikalische Hauptlinien, welche sich zum einen in den Spirituals, zum anderen im Blues manifestierten. Die Linie der Spirituals entwickelte sich über die Gemeinde und deren Priester in der Kirche, während sich die Linie des Blues auf den Feldern und nach der Emanzipation über herumziehende Sänger herauskristallisierte. Diese Hauptlinien widerspiegelten auch die sich bildenden zwei sozialen Schichten in der schwarzen Bevölkerung der USA. Die schwarze Mittelschicht identifizierte sich vor allem mit den Spirituals, während sich die schwarze Unterschicht vor allem am Blues orientierte. Diese beiden Hauptströmungen erfuhren schließlich durch die Abwanderung großer Bevölkerungsgruppen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus den Südstaaten in den Norden der USA eine weitere Diversifikation. Im fortschrittlichen Norden entwickelte sich der Blues und Jazz zu härteren Formen, während im Süden an den traditionellen Formen des Blues und der Spirituals festgehalten wurde. Mit dem Blues und seinen Interpreten lebte die Tradition der umherziehenden Musiker Afrikas fort. Gleichzeitig bildete der Blues ein identitätsstiftendes Medium, das gemeinsame Gedanken und Gefühle aufgriff und weitervermittelte. Dadurch eta-

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blierte sich ein Sprachrohr der Afro-Amerikaner in der Musik. Auf ähnliche Weise übten die Spirituals diese Funktion auf religiöser Ebene aus. Zudem wurde durch die afro-amerikanische Musik in der Kirche, in der die feurigen Reden der Priester in emotionalen Gesängen kulminierten, der Grundstein für die Bürgerrechtsbewegung gelegt. Rev. Martin Luther King jr. entstammte dieser Tradition der schwarzen Kirche in den USA und erkannte die Kraft der afro-amerikanischen Musik, mit der sich sein Traum von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für Schwarz und Weiß verwirklichen ließ. Durch die Gesänge erhielten die gewaltlosen Direkten Aktionen der Bürgerrechtler, welche das zentrale Element der Bürgerrechtsbewegung darstellten, die benötigte Kraft im geduldigen Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit. Weniger geduldig zeigte sich Malcolm X, der als Gegenpol zu Martin Luther King jr. nicht nur die rechtliche, sondern auch die wirtschaftliche und soziale Gleichstellung forderte. Doch auch Malcolm X berief sich auf die afro-amerikanische Musik. Allerdings favorisierte er nicht die Spirituals, sondern den raueren Blues und Jazz. Diese Musikformen widerspiegelten zum einen sein eigenes Leben, zum anderen das Leben unzähliger schwarzer „Brüder“ und „Schwestern“, wie er seine farbigen Mitmenschen zu nennen pflegte. Die afro-amerikanische Musik diente ihm auch als Beweis für die Größe des afro-amerikanischen Volkes, welches die ungerechte Behandlung durch die weißen Amerikaner nicht mehr länger hinnehmen dürfe. Die afro-amerikanische Musik spielte somit eine doppelte Rolle in Bezug auf die beiden Exponenten der Bürgerrechtsbewegung. Einerseits wirkte sie stimulierend auf die Reden und das Handeln der beiden charismatischen Führer, andererseits diente sie Martin Luther King jr. wie auch Malcolm X als Zeugnis für das Schicksal und die Kraft des afroamerikanischen Volks. Parallelen zu diesem Schicksal zeigten sich in der Bibel und manifestierten sich in den Spirituals. Beispielsweise anhand der Israeliten in Ägypten zeichneten sich Parallelen zur Situation der Afro-Amerikaner ab, wobei Moses als Retter und Führer besungen wurde. Parallelen zum Schicksal der diskrimierten Afro-Amerikaner konnten auch in der Gestalt von Jesus erkannt werden, der ungerechterweise gekreuzigt worden war und damit Trost und Hoffnung spendete.

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Der Blues reflektierte das Schicksal der Afro-Amerikaner hingegen durch die alltäglichen eigenen Erfahrungen. Diese Erfahrungen waren schmerzlich, und so tönte der Blues im Gegensatz zu den positiv klingenden Spirituals oft negativ. Nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben, sondern die alltägliche Hoffnungslosigkeit und der Schmerz der Unterdrückung wurden im Blues besungen. Damit bildete der Blues das weltliche Gegenstück zu den religiösen Spirituals, obwohl die Wurzeln dieselben waren. Ebenfalls blieb der Beweggrund – die schwarze Erfahrung im weißen Amerika – für den Gesang der gleiche, welcher für ein besseres Leben plädierte und damit Worte und Taten der Bürgerrechtsbewegung inspirierte. Umgekehrt inspirierte die Bürgerrechtsbewegung die Musiker, was sich wiederum in der afro-amerikanischen Musik niederschlug. Die Musik und ihre Interpreten übten in mehrfacher Hinsicht Einfluss auf die Gesellschaft aus und beeinflussten damit auch die Bürgerrechtsbewegung. Zum Teil wirkte sich dieser Einfluss durch die Vorbildfunktion der Musiker ganz unbewusst aus, zum Teil versuchten die Musiker bewusst, wenn auch nicht immer selbstlos, das Publikum von ihrer Position durch ihre Musik, Reden und Interviews zu überzeugen. Dabei zeichnete sich ein Unterschied zwischen den unbekannten und den berühmten Musikern ab. Während die unbekannten Musiker oft unter schwierigen Umständen in ihrem begrenzten Umkreis wirkten, indem sie die afro-amerikanische Kultur pflegten, übten die berühmten Interpreten der afro-amerikanischen Musik durch ihre Helden- oder Märtyrerrolle einen größeren Einfluss auf die gesamte Gesellschaft aus. Dabei war die gegenseitige Inspiration weißer und schwarzer Musiker wichtig, welche durch ihre Nichtbeachtung der rassenbedingten Grenzen neue Wege aufzeigten, die Diskussion um die Integration belebten und Brücken zwischen Weißen und Schwarzen bauten. Obschon sich befriedigende Resultate eruieren lassen, lässt sich auch in der Retrospektive nicht in genauem Masse definieren, inwiefern die afroamerikanische Musik die Bürgerrechtsbewegung beeinflusste. Sicher ist allerdings, dass die schwarze Gesellschaft aus ihrer Musik Kraft und Trost für den Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit gewann, und dass die weiße Gesellschaft ihrerseits mit Hilfe der afro-amerikanische Musik ihre schwarzen Mitbürger mehr achtete und respektierte. Dies wiederum brachte die Bürgerrechtsbewegung ihren Zielen näher.

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Die Problematik um rassenbedingte, soziale Ungerechtigkeiten in den USA ist mit der Unterzeichnung des Civil Rights Act 1964 keineswegs abgeschlossen. Ebenso unterliegt die zeitgenössische afro-amerikanische Musik einem ständigen Wandel und reflektiert soziale Strömungen und wirtschaftliche oder politische Repressalien immer wieder neu, besonders deutlich der Hip-Hop. Dabei zeigt sich, dass weder der Hip-Hop noch die RapMusik – entgegen anderslautenden Statements – nihilistisch sind. Vielmehr ist die Hip-Hop-Kultur tief in der afro-amerikanischen Tradition verwurzelt und führt trotz der oft vulgären Umgangssprache die mündliche Überlieferung der ehemaligen Sklaven in diesem Sinne weiter. Hip-Hop-Künstler greifen aktuelle Themen oder Probleme auf, um diese in komprimierter Form zu reflektieren. Auch übermitteln sie Gedanken und Reden der Exponenten der Bürgerrechtsbewegung und geben dadurch in gewissem Sinne eine Geschichtslektion, welche so sonst nie zu hören wäre. Zudem skizzieren sie Zukunftsvisionen einer besseren Welt und geben damit unzähligen Menschen neue Hoffnung. Die zeitgenössische afro-amerikanische Musik unterliegt einem ständigen Wandel und reflektiert soziale Strömungen und wirtschaftliche oder politische Repressalien immer wieder neu. Doch eine Konstante bleibt: Der Schwarze, so unfrei er auch immer in der weißen Gesellschaft gewesen sein mag, fand immer Freiheit in seiner Musik, seiner Musik der Freiheit. Es ist schwierig zu sagen, ob der Hip-Hop und Rap helfen können, rassische, kulturelle oder soziale Schranken zu überwinden. Jedoch helfen die Rap-Erzählungen den Afro-Amerikanern ihre Situation besser zu verstehen, indem sie ihre Geschichte und ihren Alltag in den USA reflektieren, umso mehr, als es unter den Afro-Amerikanern immer noch mehr Illiteraten gibt als bei anderen ethnischen Gruppen. Zudem verstehen die weißen Amerikaner die Afro-Amerikaner vielleicht besser, wenn sie ihre Erzählungen anhören, Erzählung, welche manchmal spezifisch afro-amerikanische, manchmal universale Freuden und Sorgen ausdrücken. Bedenkt man dies, besteht die Hoffnung, dass der Hip-Hop hilft, rassische, kulturelle und soziale Schranken zu überwinden und zu mehr gegenseitigem Verständnis und Toleranz zu führen. Dem kann mit Platon entgegengehalten werden, dass Kunst für das Wohl des Einzelnen wie auch der Gesellschaft hindernd ist, da sie von der vernünftigen Suche nach der Wahrheit und dem Guten ablenkt. In der Tat wurde und wird der afro-amerikanischen Musik vorgeworfen, die guten Sit-

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ten zu untergraben sowie zur Gewalt aufzurufen. Dies muss jedoch nicht der Fall sein. Vielmehr kann die Kunst gemäß Aristoteles von schlechten Emotionen reinigen sowie neues Wissen und neue Ideen vermitteln. Ideen und Ideale können gemäss John Dewey durch ästhetische Erfahrung vermittelt werden. Dadurch schafft Kunst einerseits Identität in der eigenen Gesellschaft und andererseits wirbt sie in einer anderen Gesellschaft um Verständnis und Anerkennung. Dies erreicht sie, indem sie Vorurteile abzubauen und Verbindendes aufzuzeigen vermag – nicht mit analytisch rationaler Logik, sondern mit ästhetischer Erfahrung. Dies macht auch Sinn, wenn man wie Richard Rorty davon ausgeht, dass es die Wahrheit als solche nicht gibt, sondern wenn diese für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft immer wieder neu erschaffen wird. Die Kunst hat gegenüber der rationalen Argumentation, welche zu allgemeingültigen Theorien führt, den Vorteil, dass sie gerade durch die Konkretisierung und Spezifizierung und somit durch ästhetische Erfahrung andere emotional überzeugen kann. Der Kunst kann es so auch gelingen, Grausamkeiten aufzuzeigen und zu vermindern sowie Solidarität zu fördern, indem sie den Rezipienten mitfühlen lässt. Es lässt sich die Frage stellen, ob die Kunst nicht so beeinflusst werden müsste, dass nur die in diesem Sinne gute Kunst geschaffen und rezipiert werden sollte. Damit müsste aber auch entschieden werden, welche Kunst gute (oder überhaupt) Kunst ist. Gerade die afro-amerikanische Musik zeigt diesbezüglich, wie schwierig es ist, eine richtige Auswahl zu treffen, da wie dargelegt die afro-amerikanische Musik anfänglich als Teufelsmusik verachtet oder sogar zensuriert wurde, bevor sie Anerkennung fand. Darum sollte Kunst, auch wenn sie nicht als solche (an-)erkannt wird, nicht unterbunden werden. Auch die gezielte Förderung der Kunst ist problematisch, da sich dabei die künstlerische Kreativität kaum genügend entfalten könnte. Man stelle sich einen Weißen vor, der einen Schwarzen ermuntert hätte, doch bitte eine eigene Musik zu entwickeln. Es wäre dadurch kaum Gospel entstanden, sicherlich nicht Blues. Zu überlegen wäre aber, ob Kunst, die anerkanntermaßen für gegenseitige Toleranz und Achtung resp. für gegenseitiges Verständnis und Respekt steht, zu fördern sei. Dies ist bei gewissen Slave Narratives geschehen und hat tatsächlich die Rassenfrage positiv beeinflusst. Bei dieser Überlegung stellt sich einzig die Frage, ob immer die richtige Kunst für den richtigen Zweck erkannt werden würde. Zumindest scheint es jedoch angebracht zu sein, diesen Gedanken aufzugreifen und zu

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prüfen. Letztlich darf sicherlich festgehalten werden, dass es förderlich ist, wenn die Kunst sich in Freiheit entfalten kann, um als Brücke zwischen den Kulturen zu dienen.

Anhang

Public Enemy – Fight the Power 1 1989 the number another summer (get down) Sound of the funky drummer Music hittin’ your heart cause I know you got sould (Brothers and sisters, hey) Listen if you’re missin’ y’all Swingin’ while I’m singin’ Givin’ whatcha gettin’ Knowin’ what I know While the Black bands sweatin’ And the rhythm rhymes rollin’ Got to give us what we want Gotta give us what we need Our freedom of speech is freedom or death We got to fight the powers that be Lemme hear you say Fight the power Chorus As the rhythm designed to bounce What counts is that the rhymes Designed to fill your mind

1

www.elyrics.net/read/p/public-enemy-lyrics/fight-the-power-lyrics.html, 26, 2008.

July

A NHANG

Now that you’ve realized the prides arrived We got to pump the stuff to make us tough from the heart It’s a start, a work of art To revolutionize make a change nothin’s strange People, people we are the same No we’re not the same Cause we don’t know the game What we need is awareness, we can’t get careless You say what is this? My beloved lets get down to business Mental self defensive fitness (Yo) bum rush the show You gotta go for what you know Make everybody see, in order to fight the powers that be Lemme hear you say... Fight the Power Chorus Elvis was a hero to most But he never meant shit to me you see Straight up racist that sucker was Simple and plain Mother fuck him and John Wayne Cause I’m Black and I’m proud I’m ready and hyped plus I’m amped Most of my heroes don’t appear on no stamps Sample a look back you look and find Nothing but rednecks for 400 years if you check Don’t worry be happy Was a number one jam Damn if I say it you can slap me right here (Get it) lets get this party started right Right on, c’mon What we got to say Power to the people no delay

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To make everybody see In order to fight the powers that be (Fight the Power)

Run D.M.C. – It’s Like That 2 [Run] Unemployment at a record high People coming, people going, people born to die Don’t ask me, because I don’t know why But it’s like that, and that’s the way it is [D.M.C.] People in the world try to make ends meet You try to ride car, train, bus, or feet I said you got to work hard to want to compete It’s like that, and that’s the way it is Huh! [Run & D.M.C. alternate lines for the remainder of the song] Money is the key to end all your woes Your ups and your downs, your highs and your lows Won’t you tell me last time that love bought you clothes? It’s like that, and that’s the way it is Bills fly higher every day We receive much lower pay I’d rather stay young, go out and play It’s like that, and that’s the way it is Huh!

2

www.lyricsdomain.com/18/run_dmc/its_like_that.html, August 28, 2008.

A NHANG

War’s going on across the sea Street soldiers killing the elderly What ever happened to unity? It’s like that, and that that’s the way it is Disillusion is the word That’s used by me when I’m not heard I just go through life with my glasses blurred It’s like that, and that’s the way it is Huh! You can see a lot in this lifespan Like a bum eating out of a garbage can You notice one time he was your man It’s like that (what?) and that’s the way it is You should’ve gone to school, you could’ve learned a trade But you laid in bed where the bums have laid Now all the time you’re crying that you’re underpaid It’s like that (what?) and that’s the way it is Huh! One thing I know is that life is short So listen up homeboy, give this a thought The next time someone’s teaching why don’t you get taught? It’s like that (what?) and that’s the way it is If you really think about it times aren’t that bad The one that stretches for success will make you glad Stop playing start praying, you won’t be sad It’s like that (what?) and that’s the way it is Huh! When you feel you fail sometimes it hurts For a meaning in life is why you search Take the boys on the train, drive to school on the church It’s like that, and that’s the way it is

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Here’s another point in life you should not miss Do not be a fool who’s prejudice Because we’re all written down on the same list It’s like that (what?) and that’s the way it is Huh! (Repeat 4x) You know it’s like that, and that’s the way it is Because it’s like that, and that’s the way it is

Abkürzungen

CORE: Congress Of Racial Equality. FBI: Federal Bureau of Investigation. MIA: Montgomery Improvement Association. NAACP: National Association for the Advancement of Colored People. NOI: Nation Of Islam. OAAU: Organization of Afro-American Unity. SCLC: Southern Christian Leadership Conference. SNCC: Student Nonviolent Coordinating Committee. UNIA: Universal Improvement Association. UNO: United Nations Organisation. USA: United States of America.

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Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Juni 2011, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9

Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.) Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns 2010, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-793-6

Sabine Hess, Nikola Langreiter, Elisabeth Timm (Hg.) Intersektionalität revisited Empirische, theoretische und methodische Erkundungen August 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1437-4

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Kultur und soziale Praxis Claudia Schirrmeister Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur 2010, 230 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1563-0

Doris Weidemann, Jinfu Tan Fit für Studium und Praktikum in China Ein interkulturelles Trainingsprogramm 2010, 188 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1465-7

Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht August 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3

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Kultur und soziale Praxis Aida Bosch Konsum und Exklusion Eine Kultursoziologie der Dinge 2010, 504 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1326-1

Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft 2010, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1456-5

Nesrin Z. Calagan Türkische Presse in Deutschland Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1328-5

Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.) Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität 2010, 136 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1375-9

Kathrin Düsener Integration durch Engagement? Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach Inklusion 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1188-5

Özkan Ezli (Hg.) Kultur als Ereignis Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration 2010, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1386-5

Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lassalle, Jay Rowell (Hg.) Das Europa der Europäer Über die Wahrnehmungen eines politischen Raums März 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1626-2

Jörg Gertel Globalisierte Nahrungskrisen Bruchzone Kairo 2010, 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1114-4

IPSE – Identités Politiques Sociétés Espaces (Hg.) Doing Identity in Luxemburg Subjektive Aneignungen – institutionelle Zuschreibungen – sozio-kulturelle Milieus 2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1448-0

Silja Klepp Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer Juni 2011, ca. 384 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1722-1

Arne Weidemann, Jürgen Straub, Steffi Nothnagel (Hg.) Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch 2010, 572 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1150-2

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